Herausforderungen eines dritten Nuklearzeitalters

Herausforderungen eines dritten Nuklearzeitalters

Fachtagung der Universität Duisburg-Essen und International Students/Young Pugwash, Berlin, 31. Oktober – 2. November 2022

Nuklearwaffen spielen nach wie vor eine zentrale Rolle in der internationalen Politik. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 und russische Nukleardrohungen in der Folge dessen haben die Risiken einer nuklearen Konfrontation wieder deutlich ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch schon zuvor befand sich die globale nukleare Ordnung in einem kritischen Zustand: Während regionale Proliferationskrisen im Nahen und Mittleren Osten sowie Ostasien andauern und Kernwaffenarsenale in einigen Staaten weiter anwachsen, zeigen sich etablierte Rüstungskontrollmechanismen zunehmend geschwächt oder werden unterlaufen. Zugleich hat sich der geopolitische Kontext verändert: War das erste nukleare Zeitalter noch durch die gegenseitige Abschreckungsbeziehung der beiden Supermächte und das zweite durch das Anwachsen der Anzahl von Kernwaffenstaaten geprägt, so zeichnet sich das sogenannte »dritte nukleare Zeitalter« durch eine neue Komplexität aus. Es verbindet alte mit neuen Herausforderungen, die sich aus der Vielzahl relevanter Akteure, multipolaren Rüstungswettläufen und neuen Technologien ergeben.

Die internationale Fachkonferenz »New Age, New Thinking: Challenges of a Third Nuclear Age« (hier kurz: 3NA-Konferenz), die vom 31. Oktober bis 2. November 2022 in Berlin stattfand, widmete sich eben diesen Herausforderungen des dritten Nuklearzeitalters für nukleare Risikominimierung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. Organisiert wurde die Konferenz vom Netzwerk International Students/Young Pugwash (ISYP) und der Universität Duisburg-Essen, mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung, Pugwash Conferences on Science and World Affairs und der Deutschen Stiftung Friedensforschung sowie in Zusammenarbeit mit dem Bulletin of the Atomic Scientists und dem Third Nuclear Age Project der University of Leicester.

Die 3NA-Konferenz brachte knapp 40 internationale Wissenschaftler*innen aus 15 verschiedenen Ländern in Berlin zusammen, um Herausforderungen des dritten nuklearen Zeitalters und mögliche Handlungsansätze zu diskutieren. Ziel der Konferenz war nicht nur die Stärkung internationaler Forschungskapazitäten. Vor allem sollte fortgeschrittenen Studierenden und jungen Forschenden ein Raum gegeben werden, um sich untereinander, aber auch mit etablierten Wissenschaftler*innen zu vernetzen und gemeinsam neue Denkansätze zu entwickeln.

Ein zentraler Baustein des Gesamtkonzepts der 3NA-Konferenz war Diversität: Die Teilnehmenden brachten unterschiedliche nationale bzw. geographische Perspektiven sowie unterschiedliche disziplinäre Sichtweisen in die Diskussion ein. Eine Mischung aus sozial-, wirtschafts-, ingenieurs- und naturwissenschaftlichen Hintergründen trug zu einer Multidisziplinarität bei, die es erlaubte, die komplexen Hintergründe nuklearer Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle und Abrüstung im dritten Nuklearzeitalter ganzheitlich aufzuarbeiten. Schließlich wirken technologische Faktoren immer in sozialen Strukturen und werden durch kognitive Faktoren, wie Wissens- oder Überzeugungsstrukturen oder gegenseitige Wahrnehmungsmuster geprägt. So wurde kritische Reflexion angeregt und deterministischen Analysen entgegengewirkt, etwa durch Einbezug kritischer Perspektiven, bspw. der feministischen Kritik an technostrategischer Sprache oder der bewussten Dekonstruktion von zugrundeliegenden Machtasymmetrien, die auf Nuklearpolitik einwirken.

Die Tagung begann mit einer Podiumsdiskussion, die sich mit dem Zustand des gegenwärtigen Nuklearregimes befasste. Die Sprecher*innen setzten jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, beschäftigten sich im Kern aber mit den Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine für globale nukleare Ordnungsbildung. Besonderes Augenmerk galt dabei der Frage nach den normativen Grundlagen der nuklearen Ordnung und der Rolle von Vertrauen in antagonistischen Beziehungen. Zwar blieb offen, wann und wie angesichts des erheblichen Vertrauensverlustes durch Russlands Invasion bilaterale Rüstungskontrollgespräche zwischen Russland und den USA wieder aufgenommen und multilaterale Vertragsregime wie der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) gestärkt werden können. Mehrere Teilnehmenden unterstrichen jedoch, dass Vertrauensbeziehungen auch unterhalb der Ebene zwischenstaatlicher Diplomatie gepflegt werden können – und ergo Wissenschaftler*innen, Studierende oder Techniker*innen eine aktive Rolle dabei einnehmen können.

Die beiden anschließenden Panels des ersten Konferenztages widmeten sich jeweils politischen und technologischen Herausforderungen der nuklearen Nichtverbreitung, darunter regionale (Un-)Sicherheitsperzeptionen, die unzureichende Institutionalisierung globaler Verantwortungsrahmen oder technologische Entwicklungen im Bereich der Reaktortechnologie. Aber auch neue Forschungsansätze und deren Potentiale wurden diskutiert, etwa die Sentimentanalyse oder neue Reaktorkonzepte und deren Bedeutung für Proliferationsresistenz. Im Kern lassen sich die Ergebnisse auf einen recht simplen Nenner bringen, der den Mehrwert einer multidisziplinären Perspektive unterstreicht: So wurde etwa festgehalten, dass neue Reaktortechnologien nicht automatisch das Proliferationsrisiko erhöhen, wenn regionaler Dialog und politischer Wille zur Zusammenarbeit vorhanden sind, um eine Regulierung von Kerntechnik und Spaltmaterial zu erwirken. Zum Abschluss des ersten Konferenztages resümierte die Podiumsdiskussion die Problematik nuklearer Nichtverbreitung im dritten Nuklearzeitalter. Letztlich gelte es, eine Balance zu finden zwischen der Sensibilisierung über Proliferationsrisiken und präventivem Handeln. Hervorgehoben wurden positive Effekte der sich diversifizierenden Akteurslandschaft im dritten Nuklearzeitalter, bspw. das Potenzial von »Open Source Intelligence« oder Handelsanalysen für ein tieferes Verständnis von Proliferationsmustern oder der stärkere Einbezug privater Akteure, wie Finanzinstitutionen, angesichts ihrer Rolle in Proliferationsnetzwerken. Als zentraler Baustein kristallisierte sich außerdem die Notwendigkeit heraus, das vorherrschende Narrativ anzufechten und die Kontrollierbarkeit von Nuklearwaffen und die Unvermeidbarkeit nuklearer Proliferation zu hinterfragen.

Am Abend rundete ein Empfang im Auswärtigen Amt in Kooperation mit dem Referat für nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nonproliferation sowie dem »Jungen Nuklearen Netzwerk«, einem unabhängigen und überparteilichen Verein junger Forschender, den ersten Tag der 3NA-Konferenz ab. Der Empfang ermöglichte es den Teilnehmenden, sich weiter zu vernetzen und die diskutierten Erkenntnisse mit Einsichten aus der ordnungspolitischen Praxis zu ergänzen. Einmal mehr stand hierbei die Frage nach den zukünftigen Konturen der nuklearen Ordnung im Mittelpunkt. Kritisch diskutiert wurde, dass die Diskussion zu stark auf Großmächte konzentriert sei und andere Weltregionen aus dem Blick gerieten. Dabei könnten Erfahrungen aus anderen Regionen wertvolle Einsichten liefern, bspw. der Wandel antagonistischer Beziehungen hin zu Vertrauen im Fall von Brasilien und Argentinien.

Der zweite Konferenztag begann mit der Präsentation breiter angelegter Perspektiven. Teilnehmende erörterten die Bedeutung multiplexer Akteurskonstellationen oder von Quantentechnologien für das dritte Nuklearzeitalter, diskutierten über Herausforderungen für Abschreckungspolitik, die unterschiedliche »Domänen« umfasst, oder formulierten eine feministische Kritik an der technostrategischen Sprache an der Schnittstelle von Cyber- und Nuklearpolitik. Zwei weitere Panels befassten sich mit den technologischen, aber auch ethischen Herausforderungen, mit Blick auf die Entwicklung neuer Trägersysteme wie Hyperschallgleiter, für Rüstungsdynamiken, der Vereinbarkeit von strategischer Stabilität und humanitärem Völkerrecht sowie den Herausforderungen und Grenzen der Nutzung künstlicher Intelligenz für militärische Anwendungen. Den Abschluss der Konferenz bildete eine Podiumsdiskussion zu der Frage, wie und ob angesichts der während der beiden Tage diskutierten technologischen und politischen Herausforderungen, die Risiken nuklearer Eskalation minimiert und effektive Mechanismen nuklearer Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung etabliert werden können. Zwar herrschte bei einigen Teilnehmenden Skepsis mit Blick auf die Frage, inwiefern es in der gegenwärtigen Lage gelingen kann, den Zustand der Unordnung zu überwinden. Einig waren sich die Teilnehmenden aber darin, dass das Bemühen um nukleare Ordnungsbildung letztlich alternativlos ist und Wissenschaft wichtige Impulse liefern kann. Da die Erfolgsaussichten für eine Wiedereinsetzung bilateraler Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland derzeit gering sind, sollten die Bemühungen verstärkt werden, konkrete Abkommen zur Risikominimierung, bspw. mit China, auszuhandeln. Diese müssten neue Technologien unbedingt einschließen. Festgehalten wurde aber auch die wichtige Rolle nichtstaatlicher Akteure, etwa im Bereich der politischen Aufklärungsarbeit über Nuklearwaffen, inklusive der Sensibilisierung für Proliferations- und Eskalationsrisiken aufgrund von kognitiven Prägungen sowie politischen und technischen Interpretationen. Die Beiträge der Studierenden und jungen Forschenden lieferten dafür eine reichhaltige Palette konkreter Vorschläge.

Damit diese auch in den öffentlichen Diskurs einfließen, endete die Konferenz mit einer besonderen Gelegenheit für die Teilnehmenden: Die 3NA-Konferenz wurde durch eine Schreibwerkstatt mit John Mecklin, dem Chefredakteur des renommierten Bulletin of the Atomic Scientists, abgerundet. Er ermutigte die jungen Forschenden, ihre Konferenzbeiträge für eine mögliche Veröffentlichung im Bulletin zu überarbeiten. Tatsächlich ist geplant, mehrere der Vorträge mit dem Bulletin zu veröffentlichen, um neues Denken und Forschung auch dort weiterzutragen.

Die 3NA-Konferenz markierte den Auftakt neuer Denk- und Forschungsprozesse und förderte den internationalen, interdisziplinären und intergenerationellen Austausch. Der Komplexität des dritten Nuklearzeitalters wurde mit Diversität, Fachkompetenz, und Multidiziplinarität begegnet. Zu den Erkenntnissen gehören auch offene Diskussionspunkte und Forschungslücken, etwa zum Konzept von Sicherheit und Stabilität im dritten nuklearen Zeitalter, zur Rolle von Vertrauen oder zum Umgang mit autoritären Staaten.

Elisabeth Suh und Carmen Wunderlich

Zeitenwende« – Ein Dechiffrierungsversuch

»Zeitenwende« – Ein Dechiffrierungsversuch

Sicherheitspolitische Konferenz, Evangelische Akademie Loccum, 26.-27. Oktober 2022.

Als unmittelbare Reaktion auf den Ukraine-Krieg wurde – beginnend mit der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz – Ende Februar 2022 ein verteidigungspolitischer Reformprozess angestoßen, der unter dem Schlagwort »Zeitenwende« diskutiert wird und der in Umfang und Zielsetzung eine sicherheitspolitische Zäsur markiert. Die »Zeitenwende« ist nicht unumstritten. Es konkurrieren unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen hinsichtlich Reichweite, Dauer, Gegenstand, Auslöser und Intensität der Reformbemühungen.

Ende Oktober 2022 war es das Ziel dieser Loccumer Tagung, ein erstes Zwischenfazit zu diesen verteidigungspolitischen Reform­anstrengungen zu ziehen. Besonders im Fokus stand dabei die Frage, welche Auswirkung die »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder haben wird und wie sich das etablierte Arrangement der bisherigen deutschen Außen-, Bündnis-, Friedens- und Entwicklungspolitik verändern könnte. In diesem Lichte geht der vorliegende Tagungsbericht im Folgenden auf drei zentrale Frage ein, die intensiv diskutiert wurden:

(1) An den Rand gedrängt?

  • Welche Auswirkungen hat »Zeitenwende« für die zivile Konfliktbearbeitung und die Entwicklungszusammenarbeit?

In der Debatte über die Auswirkung der »Zeitenwende« auf benachbarte Politikfelder – insbesondere der zivilen Konfliktbearbeitung, der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit – wurde die Beobachtung unterstrichen, dass derzeit alle außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Debatten vom Militärischen geprägt seien. Die Diskutierenden, die der thematischen Ausrichtung dieses Parts der Tagung entsprechend vorangig aus der Entwicklungshilfe, der Friedensforschung und der zivilen Konfliktbearbeitung kamen, erwarten vorerst hierbei keine Änderung. Zwar würde in vielen politischen Wortbeiträgen derzeit die Notwendigkeit eines umfassenden Sicherheitsbegriffs betont, der über die rein militärische Gefahrenabwehr hinausgehe. Allerdings sei dieser breite Ansatz trotz aller Rhetorik weder mit ausreichenden Mitteln noch mit neuen politischen Initiativen unterlegt. Vielmehr zeichneten sich gar finanzielle Kürzungen ab. Auch wenn die ursprünglich für die Haushaltsberatung vorgesehenen drastischen Kürzungen des Entwicklungshilfeetats zurückgenommen wurden und weitere 1,7 Mrd. Euro aus der Krisenreserve des Finanzministeriums bereitgestellt wurden, sinken im kommenden Jahr (2023) die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit dennoch um neun Prozent im Vergleich zum laufenden Haushaltsjahr – so die Beobachtung der Diskutant*innen.

Zwar gab es großes Verständnis für die verstärkte finanzielle Unterstützung der Bundeswehr, um sicherzustellen, dass diese die Aufgaben, die ihr von Gesellschaft und Politik zugewiesen wurden, erfüllen kann. Dennoch wurde auf der Konferenz kritisch angemerkt, dass die Regierung und das Parlament 100 Mrd. Euro Sondervermögen an die Streitkräfte gegeben hätten, ohne eine breite Debatte zu führen, was von der Bundeswehr in Zukunft eigentlich erwartet würde und was sie in den kommenden Jahren zu leisten habe. Es sei insbesondere dieses aktionistische und überstürzte Vorgehen, das den Eindruck bei den Akteuren der Entwicklungshilfe und der zivilen Konfliktbearbeitung nähre, an den Rand gedrängt worden zu sein.

Zwar sei durch die Gestaltung des Sondervermögens als Sonderneuverschuldung aktuell eine direkte Konkurrenzsituation um finanzielle Ressourcen vermieden worden. Mittelfristig könnte sich diese jedoch einstellen und zu harten politischen Verteilungskämpfen führen, so die auf der Tagung geäußerte Befürchtung. Zum einen, weil die 100 Mrd. Euro Sondervermögen aller

Wahrscheinlichkeit nach nicht ausreichen werden, um das im NATO-Rahmen vereinbarte 2 %-Ziel zu erreichen. Zum anderen, weil auch der Bedarf an humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung aufgrund von Klimawandel, den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, der aktuellen Nahrungsmittelkrise sowie der Zunahme des globalen Gewaltgeschehens der letzten zehn Jahre stark angestiegen sei.

(2) Blick über den Tellerrand

  • Welche Perspektiven und Fragen entstehen durch die »Zeitenwende« bei europäischen Nachbarstaaten und Bündnispartnern?

Im Sinne eines Blicks über den sprichwörtlichen »Tellerrand« widmete sich die Loccumer Tagung auch der Frage, wie europäische Nachbarländer die deutsche »Zeitenwende« wahrnehmen. Die Diskussion, an der Expert*innen aus verschiedenen europäischen Ländern teilnahmen, ergab, dass die aktuellen verteidigungspolitischen Reformbemühungen Deutschlands in Europa überwiegend positiv aufgenommen werden und weitestgehend begrüßt werden. Selbst kleine europäische Staaten, die in der derzeitigen Konfrontation mit Russland geografisch eher randständig sind, wie beispielsweise Portugal, haben die »Zeitenwende« wie auch die Debatte, die hierzulande dazu geführt wird, sehr genau verfolgt.

Auf der Tagung wurde herausgearbeitet, dass in den Nachbarländern vor allem drei zentrale Forderungen an Deutschland formuliert werden: Die Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik solle dauerhaft, berechenbar und europäisch sein.

Im europäischen Ausland gäbe es einige Zweifel an der Dauerhaftigkeit der »Zeitenwende«, so die Einschätzung der Diskutierenden. Häufig würde diese als „verspätete Hausaufgabe“ wahrgenommen, die im Grunde schon 2014 mit der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn in der Ostukraine hätte angestoßen werden sollen – so wie dies viele andere europäische Staaten getan haben. In puncto Dauerhaftigkeit sei besonders fraglich, ob Deutschland tatsächlich einen tiefgründigen außen- und sicherheitspolitischen Mentalitätswandel vollziehe oder ob die jetzige »Zeitenwende« ein eher vorübergehendes Phänomen sei und nur in begrenztem Ausmaß zu Änderungen führe. Schließlich habe man in den vergangenen Jahrzehnten aus Deutschland häufig vergleichbare »Wende-Rhetorik« gehört (»Energiewende«, »Verkehrswende«, »Agrarwende« etc.), die zwar einen großen gesellschaftspolitischen Diskurs und viel mediales Getöse losgetreten, das Versprechen eines substanziellen Politikschwenks jedoch kaum eingelöst habe. Daher bestehe begründeter Zweifel, ob die »Zeitenwende« der Verteidigungspolitik nicht ein ähnliches Schicksal ereile.

Neben dem Aspekt der Dauerhaftigkeit sei Berechenbarkeit eine weitere zentrale Forderung, die häufig von außenpolitischen Expert*innen aus europäischen Nachbarländern zu hören sei. Wichtig sei, dass Deutschland im Zuge der derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen keine unvorhersehbaren Politikwechsel vollziehe und sich daher mit Bündnispartnern abstimme, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die »Zeitenwende« aber auch Folgevorhaben, wie die jüngst verkündete Initiative zur europäischen Luftverteidigung (»European Sky Shield«), seien für zahlreiche Bündnispartner überraschend gekommen. In diesem Lichte sei eine enge Kommunikation notwendig, um zu vermeiden, dass Nachbarländer von verteidigungspolitischen Vorhaben überrumpelt würden.

Unmittelbar mit dem Aspekt der Berechenbarkeit sei die Forderung nach einer stärkeren Europäisierung der deutschen »Zeitenwende« verbunden. In der Wahrnehmung vieler europäischer Bündnispartner betreibe Deutschland seine derzeitigen verteidigungspolitischen Reformanstrengungen vorrangig als ein nationales Projekt, so die Bewertung der Diskussionsteilnehmenden auf der Loccumer Konferenz. Auch wenn viele europäische Bündnispartner sich schon ab 2014 auf eine neue militärische Lage eingestellt haben, markiere der Februar 2022 doch für ganz Europa eine »Zeitenwende«. In fast allen Nachbarländern gäbe es eine verteidigungspolitische Neuausrichtung mit zum Teil tiefen historischen Einschnitten – wie beispielsweise dem Abschied von der Bündnisneutralität und der Hinwendung zur NATO in Finnland und Schweden.

Es sei daher sinnvoll, wenn Deutschland die verteidigungspolitische »Zeitenwende« als einen gesamteuropäischen Prozess begreifen würde. Zwar habe Berlin insbesondere in Skandinavien und Osteuropa aufgrund seiner zögernden Haltung im Ukraine-Krieg viel Vertrauen verspielt und erfahre derzeit außen- und sicherheitspolitisch einen erheblichen Ansehensverlust. Dennoch bleibe Deutschland de facto eine wichtige Führungsmacht in Europa – allein schon aufgrund seiner schieren Größe. Der Wunsch, dass Berlin diese Führungsrolle übernehmen und vor allem eingebettet in europäische Kontexte und Prozesse transparent ausgestalten soll, bleibe aber trotz aller deutschen Zögerlichkeit weiterhin in europäischen Nachbarländern bestehen.

(3) Bevölkerung mitnehmen

  • Wie kann ein breiter gesellschaftlicher Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik sinnvoll bewerkstelligt werden?

Der Bedeutungszuwachs fürs Militärische, der mit der »Zeitenwende« einhergeht, hat auch Auswirkungen auf den Nexus »Bundeswehr-Gesellschaft-Politik« und erfordert einen breiten Dialog über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik. Auf der Tagung wurde intensiv diskutiert, wie sich dies bewerkstelligen lässt. An diesem Diskussionsstrang wirkten vor allem Akteure mit, die in der Vergangenheit – entweder von Forschungsseite oder aus der Perspektive der politischen Praxis – die Beteiligungsprozesse im Auswärtigen Amt intensiv begleitet haben.

Während partizipative Prozesse mit Bürger*innen in vielen Politikfeldern bereits seit einiger Zeit zum normalen Repertoire gehörten und im Grunde auf allen Ebenen stattfänden – von der Kommunal- bis zur Bundespolitik – hinke das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik als ein Bereich, der traditionell überwiegend von exekutivem Handeln geprägt ist, hier hinterher. Spätestens seit 2014 könne jedoch beobachtet werden, so die Diskutierenden in diesem Teil der Tagung, dass es zunehmend Versuche von Seiten der politischen Eliten gäbe, stärker mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen.

Zu nennen sei hier beispielsweise der Review Prozess über die Bemühungen einer Reform des Auswärtigen Amts (2014) oder die Leitlinien über Zivile Konfliktbearbeitung (2017). Zuletzt gab es 2022 im Rahmen der Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie, die derzeit federführend im Auswärtigen Amt geschrieben wird, einen intensiven Beteiligungsprozess, bei dem eine ganze Palette unterschiedlicher Partizipationsformate zur Anwendung kam (Town Hall Meetings, vertiefende Bürger*innendialoge und Szenarien-Workshops).

In klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Gremien, die im außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsfindungsprozess ebenfalls eine relevante Rolle spielen, bestehe der gemeinsame Kern all dieser Beteiligungsprozesse darin, dass der Fokus auf »normalen« Bürger*innen liege, die über Losverfahren und mithilfe methodischer Auswahlprozesse in der Zusammensetzung ein möglichst repräsentatives Abbild der deutschen Bevölkerung darstellen sollen und somit hinsichtlich zentraler Kriterien wie Bildungsniveau, Wohnort, Herkunft, Alter, etc. möglichst divers zusammengesetzt sind.

Impulse zu außenpolitischen Sachthemen zum Teil in klarer Absetzung von Fach- und Expert*innen-Debatten direkt aus der Bevölkerung zu beziehen, sei ein zentraler Mehrwert dieser Beteiligungsformen, so die Einschätzung der Diskutierenden. Die bisherige Erfahrung mit Bürger*innenbeteiligung im Feld der Außen- und Sicherheitspolitik zeige aber, dass bei diesen Formaten noch einige Hürden bestehen. Denn um sinnvoll über außen- und sicherheitspolitische Fragen diskutieren zu können, bedürfe es sehr viel Wissens und viel Verständnisses über komplexe Zusammenhänge. Trotz dem allgemein großen öffentlichen Interesse an und der hohen medialen Aufmerksamkeit auf diese Fragen, haben in Deutschland die allermeisten Bürger*innen in ihrem Alltag kaum praktische Berührungspunkte mit Außenpolitik und sind von sicherheitspolitischen Prozessen in der Regel nur mittelbar betroffen. Dies unterscheide die Außen- und Sicherheitspolitik deutlich von anderen Themenfeldern, wie bspw. der Bildungs- oder der Verkehrspolitik.

Bezüglich partizipativer Formate befinde sich deshalb die deutsche Außenpolitik weiterhin in einer Probier- und Sondierungsphase. In den partizipativen Formaten würde noch viel Aufwand darauf verwendet, zu erklären, was eigentlich internationale Politik sei und welche Rolle Deutschland darin spiele. Gleichzeitig würde von den außenpolitischen Entscheidungsträger*innen durchaus die Erfahrung gemacht, dass die Prozesse der Bürger*innenbeteiligung interessante und durchaus ernstzunehmende Impulse für auswärtiges Handeln liefern würden. Klar sei aber auch, dass diese Formate Gegensätzlichkeiten zwischen außenpolitischen Eliten und Sichtweisen der Bevölkerung in besonderer Deutlichkeit zutage treten lassen. Mit Bezug auf das Loccumer Tagungsthema werde beispielsweise deutlich, dass das Konzept der militärischen Führungsrolle in Europa von den Bürger*innen mehrheitlich nicht favorisiert werde. Zwar empfehlen diese Formate regelmäßig, dass sich Deutschland international stärker engagieren solle, der Fokus liege aber deutlich auf einem kooperativen, zivilen und dezidiert nicht-militärischen Ansatz.

Mit dieser Herausforderung für die Gestaltung der »Zeitenwende« kamen die Tage gemeinsamer Diskussion zu einem gemischten vorläufigen Fazit: Die »Zeitenwende« sein ein langwieriges Vorhaben zu dem bestenfalls die ersten Schritte gegangen sein und in dessen weiteren Verlauf noch erhebliche politische Sprengkraft schlummere. Neben der eigentlichen Umsetzung der verteidigungspolitischen Reform, stelle vor allem die gesellschaftspolitische wie auch die europäische Einbettung vermutlich die größte Herausforderung der kommenden Jahre dar.

Thomas Müller-Färber

Defensive Verteidigung

Defensive Verteidigung

Orientierungshilfen aus den 1980ern

von Lukas Mengelkamp

Ideen und Konzepte über defensive Verteidigung aus den 1980er Jahren könnten heute Orientierung bieten, wie insbesondere die territoriale Integrität der ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten zu garantieren ist, ohne dabei das bestehende Sicherheitsdilemma mit Russland noch weiter zu verschärfen, die Rolle von Nuklearwaffen aufzuwerten und das Wettrüsten auf Dauer zu stellen. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über den Entstehungskontext, die Genese und Aktualität dieser militärischen Konzepte.

Als in den 1980ern der Streit um die »Nachrüstung« tobte, wurde den Gegner*innen der Stationierung von US-amerikanischen Pershing-II Mittelstreckenraketen und landgestützten Marschflugkörpern häufig vorgehalten, ihre Alternativvorschläge seien illusionär, naiv und utopisch. Unilaterale Abrüstung oder »soziale Verteidigung«, das heißt gewaltfreier Widerstand, würden die Abschreckung untergraben und Westeuropa der Sowjetunion ausliefern. Dem wurde aus den Friedensbewegungen entgegengehalten, dass die Rüstung der NATO ebenso wenig in der Lage sei, den Konflikt mit der Sowjetunion langfristig einzuhegen oder gar zu lösen. Die heutige Debatte scheint entlang ähnlicher Gegensätze zu verlaufen: Aufrüstung gegen Abrüstung. Betrachtet man die Debatten der 1980er Jahre über Alternativen zur NATO-Strategie jedoch genauer, fällt auf, dass diese weitaus differenzierter waren als in Rückblicken häufig dargestellt. So standen sich nicht schlicht »Aufrüster*innen« und »Abrüster*innen« gegenüber. Das Feld der Unterstützer*innen des NATO-Doppelbeschlusses war vielmehr aufgeteilt in jene, die darin tatsächlich eine Erweiterung der Fähigkeiten zur nuklearen Kriegsführung sahen, und jene, deren Anliegen die Sicherung der Abschreckung in Europa war. Auf Seiten der Kritiker*innen des Doppelbeschlusses befanden sich neben Befürworter*innen von allgemeiner Abrüstung auch prinzipielle Unterstützer*innen der Abschreckung, die jedoch die Nachrüstung für unnötig oder gar gefährlich hielten. Hinzu kamen Friedensforscher*innen und Militäranalyst*innen, die sich für militärisch defensive konventionelle Alternativen stark machten.1

Die NATO-Strategie der »Flexible Response«

Im Jahr 1967 löste innerhalb der NATO die Strategie der »Flexible Response« (Flexible Antwort) die noch aus den 1950er Jahren stammende »Massive Retaliation«-Doktrin (Massive Vergeltung) ab, die auch auf rein konventionelle Angriffe des Warschauer Paktes mit einem massiven nuklearen Angriff auf die Sowjetunion geantwortet hätte. Da der Warschauer Pakt in Europa zumindest zahlenmäßig auf der konventionellen Ebene überlegen war und die Sowjetunion im Laufe der 1960er Jahre die Fähigkeit erworben hatte, auch das US-amerikanische Festland mit Interkontinentalraketen anzugreifen, schien die Androhung eines allgemeinen Nuklearschlages im Falle eines Krieges in Europa nicht mehr glaubwürdig. Für die NATO ergab sich daraus ein Dilemma: Während die europäischen NATO-Mitglieder sicherstellen wollten, dass jeder Krieg auf die strategische nukleare Ebene eskalieren würde, so dass keine Partei jemals ein Interesse daran entwickeln könnte, schien es aus US-amerikanischer Sicht geboten, einen Krieg nach Möglichkeit auf Europa zu begrenzen. Dies erforderte zum einen die Stärkung des konventionellen Elements der NATO-Verteidigung und zum anderen flexiblere und auf Europa »begrenzte« nukleare Optionen, wobei hier die Bandbreite von reiner Demonstration des Willens zum Einsatz von Nuklearwaffen bis hin zur vollständigen Integration »taktischer« Nuklearwaffen in die reguläre Kriegsführung reichte. Aus europäischer Sicht war die Unterscheidung zwischen dem globalen und »begrenzten« Nuklearkrieg jedoch Makulatur, würden beide doch zur vollständigen Zerstörung Europas führen.

Die Strategie der Flexible Response war ein politisch-militärischer Kompromiss, welcher diesen amerikanisch-europäischen Gegensatz überbrücken sollte. Die Strategie war offen genug formuliert, so dass beide Seiten ihre jeweiligen Präferenzen in sie hineininterpretieren konnten. Während dieser Kompromiss auf der politischen Ebene bis in die 1980er Jahre relativ gut funktionierte, ergaben sich auf der militärischen Ebene große Probleme bei der Umsetzung, die letztlich auch wieder auf die politische Ebene durchschlagen sollten. Die konkrete Umsetzung der Flexible Response musste allein aufgrund ihres Kompromisscharakters schwerfallen, denn was auf politischer Ebene Spielraum für die unterschiedlichen Interessen beiderseits des Atlantiks erkaufte, erschwerte Planungs- und Anschaffungsprozesse auf militärischer Ebene. So konnte sich die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der NATO erst im Oktober 1986 – nach fast 20 Jahren Beratungen – auf Richtlinien für die Planung des Nuklearwaffeneinsatzes im Rahmen der Flexible Response einigen. Bereits Anfang der 1970er Jahre hatte innerhalb der NATO eine Diskussion da­rüber begonnen, ob die Flexible Response eine Modernisierung der so genannten »Theater Nuclear Forces« (TNF), der nuklearen Gefechtsfeldwaffen, erforderlich machen würde. Ein Großteil der ca. 7.000 in Westeuropa stationierten taktischen Nuklearwaffen stammte noch aus den 1950er Jahren und damit aus der Ära der Massiven Vergeltung. Darunter fand sich eine Vielzahl an nuklearer Munition für Artillerie und Kurzstreckenraketen. In der Debatte über die Modernisierung der TNF bildete sich eine widersprüchliche transatlantische Koalition aus Experten*innen heraus, die für die Einführung moderner Mittelstreckenwaffen warben, insbesondere die damals noch in Entwicklung befindlichen Marschflugkörper. Während in der Argumentation von US-Experten wie Albert Wohlstetter Überlegungen über die Begrenzbarkeit und Führbarkeit eines Nuklearkrieges Pate standen, ging es aus westeuropäischer und deutscher Sicht insbesondere darum, jene Waffen zu ersetzen, die aufgrund ihrer kurzen Reichweite nur Ziele auf dem Territorium der Bundesrepublik, der DDR oder der Tschechoslowakei angreifen konnten. Zudem war damit auch die Hoffnung verbunden, dass Mittelstreckenwaffen Europa an das strategische Arsenal der USA »koppeln« würden. Mit ihrer Hilfe konnte man von Europa aus die Sowjetunion bedrohen. Damit war auch automatisch die interkontinentale Dimension der Abschreckung berührt. Mit der Aufstellung der SS-20 Mittelstreckenraketen in der Sowjetunion ab Ende der 1970er Jahre intensivierte sich die Debatte über die TNF-Modernisierung schließlich massiv und kam mit dem NATO-Doppelbeschluss 1979 auch in der breiteren Öffentlichkeit an. Die Widersprüchlichkeit der nuklearen Abschreckung im Allgemeinen und der Flexible Response im Besonderen rückte so ins Scheinwerferlicht. Die Vielzahl an unterschiedlichen politischen Deutungsangeboten zur Flexible Response geriet jetzt von einem politischen Vor- zu einem Nachteil. Zum ersten Mal verlangten Bürger*innen millionenfach Auskunft darüber, wann und wie die NATO denn gedenke, die Nuklearwaffen einzusetzen – also genau den Punkt, über den man sich bis dahin selbst innerhalb der NATO gerade nicht einig war. Angesichts der massiven Kritik an der nuklearen Komponente der geltenden Strategie wuchs allenthalben das Interesse an konventionellen Alternativen.

Die Suche nach konventionellen Alternativen

In historischen Rückblicken auf die 1980er Jahre wird das Thema konventioneller Alternativen häufig auf die »AirLand Battle«-Doktrin der US Army und das NATO-Konzept des »Deep Strike« (Tiefer Schlag) reduziert. Die AirLand Battle-Doktrin war Ausdruck der »Wiederentdeckung« der operativen Ebene in der US Army im Laufe der 1970er Jahre. Erstmals fanden hier NATO-Streitkräftestruktur und -Doktrin zueinander: Die großen und schweren Panzerverbände sollten nicht nur wie bisher im Rahmen der Vorneverteidigung eine grenznahe Linie so lang wie möglich gegen die Streitkräfte des Warschauer Paktes halten, sondern Bewegungskrieg führen. Vorgesehen waren Gegenstöße bis auf das Territorium der DDR und der Tschechoslowakei, um die zahlenmäßig überlegenen gegnerischen Streitkräfte an ihren verletzlichen Flanken und im rückwärtigen Raum bedrohen zu können. Während die erste Welle des Warschauer Paktes so besiegt werden sollte, würden tiefe präzise Schläge mit konventioneller Langstreckenmunition auf die Verkehrsadern in Ostmitteleuropa es der zweiten Welle unmöglich machen, rechtzeitig das Schlachtfeld zu erreichen. Doch die angedachte Konventionalisierung der Verteidigung, die die in der Bevölkerung unbeliebte nukleare Komponente zurückdrängen sollte, stieß auf bereits bekannte Probleme und Widerstände. Gleich stand wieder die Kritik im Raum, die Strategie würde einen Krieg in Europa nicht abschrecken, sondern vielmehr wahrscheinlicher machen, da er wieder als führbar gelten könne. Der angedachte Bewegungskrieg würde die NATO-Mitglieder dazu nötigen, ihre konventionellen Streitkräfte massiv auszubauen. Vielen Beobachter*innen erschien dies aus politischen, wirtschaftlichen und auch demographischen Gründen kaum durchführbar. Nicht zuletzt wurde dem Konzept vorgehalten, dass auch begrenzte Vorstöße auf das Territorium des Warschauer Paktes in Moskau als Beginn einer großangelegten strategischen Gegenoffensive wahrgenommen werden und damit der Einsatz von Nuklearwaffen ausgelöst werden könnte. Darüber hinaus schien es fraglich, ob konventionelle Waffen tatsächlich in der Lage sein würden, die Verkehrsadern in ganz Ostmitteleuropa lahm zu legen. So lange nicht massive Vorräte an präzisen Bomben, Raketen und Marsch­flugkörpern angelegt würden – mit entsprechenden Kosten – würde man zur Blockierung der zweiten Welle im Zweifel doch wieder auf nukleare Mittelstreckensysteme angewiesen sein (Unterseher 1987).

Den Konzepten von AirLand Battle und Deep Strike, die man auch als offensive Varianten der Konventionalisierung bezeichnen könnte, setzten einige Kritiker*innen defensive Alternativen entgegen. Bereits 1970 hatte Carl Friedrich von Weizsäcker die Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« veröffentlicht, die erstmals die katastrophalen Folgen auch eines »begrenzten« Einsatzes von Nuklearwaffen in Europa wissenschaftlich aufarbeitete (Weizsäcker 1971). In Reaktion darauf begann Horst Afheldt, ein Mitarbeiter Weizsäckers am »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, rein konventionelle und defensive Verteidigungsmodelle zu entwickeln (Afheldt 1976).

Diese zielten darauf ab einerseits die sowjetischen Panzerverbände aufzuhalten und gleichzeitig keine lukrativen Ziele für taktische Nuklearwaffen zu bieten. Konkret schlug Afheldt dazu den Aufbau eines Netzwerks aus »Technokommandos« vor, kleinen Infanterieeinheiten, die mit modernen Panzerabwehrwaffen ausgestattet, aus vorbereiteten versteckten Stellungen sowjetische Verbände angreifen sollten. Außerdem sollten diese Infanterieeinheiten zusätzlich durch Artillerie unterstützt werden. In den 1980er Jahren nahm die »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« (SAS), die maßgeblich vom Soziologen Lutz Unterseher geleitet und inhaltlich geprägt wurde, die Netzwerkidee auf. Sie reagierte aber auch auf die bestehende Kritik an Afheldts Konzept, dem man vorhielt, »monokulturell« und durch den kombinierten Einsatz von Infanterie, Panzern und Luftstreitkräften überwindbar zu sein. In Untersehers Vorstellung sollte das »Netz« aus Infanterie und Artillerie durch vergleichsweise kleine mobile gepanzerte Kräfte ergänzt werden. Sie sollten an den Orten unterstützend eingreifen, wo das Netz allein einen Angreifer nicht hätte aufhalten können. Entscheidend war jedoch, dass die mobilen Kräfte über keinen großen eigenen logistischen Apparat verfügen würden und stattdessen zur Versorgung auf das Netz angewiesen blieben. Die mobilen Kräfte sollten wie eine „Spinne in ihrem Netz“ agieren können, außerhalb davon aber nicht in der Lage sein zu manövrieren (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989, S. 153ff.). Insgesamt würde das Konzept, so die Hoffnung, ein unilaterales »Ausklinken« aus dem Wettrüsten ermöglichen, ohne dabei Abstriche an der eigenen Sicherheit machen zu müssen. Unterseher führte dazu den Begriff »Vertrauensbildende Verteidigung« ein: Einerseits Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Verteidigung ohne Nuklearwaffen, da diese zerstören würden, was man hoffte zu verteidigen. Andererseits die Herstellung von Zuversicht auf der Gegenseite, dass keine Absicht bestand, selbst offensive Operationen durchzuführen, da man dazu auch kaum in der Lage war (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989).

»Differenzierende Abschreckung« oder defensive Verteidigung?

Das Dilemma der Flexible Response, ein politischer Kompromiss zu sein, der sich militärisch nicht umsetzen ließ, führte bereits unter Zeitgenossen dazu, sie als Mythos zu bezeichnen. Da dies im allgemeinen politischen Bewusstsein in Westeuropa und insbesondere in der Bundesrepublik immer offensichtlicher wurde, begann sich Interesse an defensiven Alternativen bis in die Bundesregierung und Bundeswehr zu bilden.

Die Unterzeichnung des INF-Vertrages 1987 ließ die westeuropäischen Regierungen zum Teil ratlos und verärgert zurück: Die »Nachrüstung«, für die sie jahrelang gegen massiven Widerstand in den eigenen Bevölkerungen gekämpft hatten, wurde rückgängig gemacht, ohne dass das konventionelle Ungleichgewicht in Europa adressiert worden wäre. Gleichzeitig ließ die Debatte in den USA über die Militärstrategie der Zukunft auch in etablierten sicherheitspolitischen Kreisen immer stärkere Zweifel an der Flexible Response aufkommen. Im Januar 1988 wurde ein von der US-Regierung in Auftrag gegebener Expert*innenbericht veröffentlicht, der unter dem Titel »Discriminate Deterrence« (Differenzierende Abschreckung) für eine Konventionalisierung der NATO-Strategie eintrat (Iklé und Wohlstetter 1988). Die Nuklearwaffen in Westeuropa sollten weitestgehend abgezogen werden, die verbleibenden modernisiert und wie »normale« Waffen in die Verteidigungsplanung integriert werden. Der Bericht rief in ganz Westeuropa und über das gesamte politische Spektrum hinweg Ablehnung und sogar Empörung hervor. Argumente, die vor kurzem eher aus den Friedensbewegungen zu hören gewesen waren, wurden nun auch von Befürworter*innen der »Nachrüstung« aufgegriffen. Der Verteidigungsexperte der FAZ, Karl Feldmeyer, interpretierte den Bericht als eine Absage an die Flexible Response. An die Stelle der Abschreckungs- würde eine Kriegsführungsstrategie treten. Der erzkonservative Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, geißelte den Bericht bei einem Besuch in Washington als Versuch, einen Krieg auf Europa zu begrenzen und die USA von Westeuropa sicherheitspolitisch abzukoppeln. Gleicher Ansicht waren auch Verteidigungsminister Manfred Wörner und sein Staatssekretär Lothar Rühl, die beide öffentlich Stellung gegen den Bericht bezogen (vgl. zu den Stellungnahmen: Armes 1988, S. 252ff.). Auch wenn sich die neue US-Regierung unter George H. W. Bush angesichts der massiven Kritik aus Westeuropa von dem Bericht distanzierte, legte die Kontroverse doch offen, wie wenig die Strategie der Flexible Response noch in der Lage war, die unterschiedlichen Interessen, Verteidigungskonzeptionen und Wahrnehmungen der internationalen Lage im Bündnis zu integrieren.

Der Rezeptionsprozess der defensiven Alternativen begann sich nun auch in der Sache auf beiden Seiten des Atlantiks zu intensivieren. Die Weißbücher des Verteidigungsministeriums von 1983 und 1985 wie auch der Verteidigungsausschuss des Bundestags hatten diese lediglich zur Kenntnis genommen und auch dies war wohl eher dem öffentlichen Druck als genuinem Interesse geschuldet. Am Ende des Jahrzehnts setzte sich in der Bundesrepublik mit General a.D. Gerd Schmückle aber ein Schwergewicht des sicherheitspolitischen Establishments öffentlich für defensive Alternativen ein. Zusammen mit Albrecht von Müller, einem Mitarbeiter Horst Afheldts, legte Schmückle im Mai 1988 der Bundesregierung ein Abrüstungsprogramm vor, das die defensive Restrukturierung der Streitkräfte in Ost und West forderte. Im Januar 1989 veranstaltete das der US-amerikanischen Friedensbewegung nahestehende »Institute for Defense and Disarmament Studies« (IDDS) zusammen mit der Pentagon-nahen RAND Corporation einen Workshop zur defensiven Neustrukturierung der NATO-Verteidigung in Europa, auf dem Lutz Unterseher die Ideen der »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« vorstellte. Mit RAND war die Debatte über defensive Alternativen nun selbst im intellektuellen Geburtsort der Nuklearstrategie angekommen. Durch den Mauerfall 1989 und den anschließenden Zerfall der Sowjetunion entfiel jedoch das nukleare Dilemma der NATO. Dadurch endete auch die breite Debatte über verteidigungspolitische Alternativen, die in den frühen 1980er Jahren maßgeblich unter dem Druck der Friedensbewegungen begonnen hatte.

Defensive Verteidigung – ein Modell mit Zukunft?

Die heutige Debatte über die zukünftige Verteidigungspolitik in der Bundesrepublik erscheint oft als prinzipieller Gegensatz zwischen jenen, die für das Sondervermögen und eine dauerhafte Erhöhung des Wehretats eintreten, und jenen, die darin lediglich eine Verschwendung von Kapital sehen, welches besser für die Bekämpfung des Klimawandels und den Erhalt des Sozialstaats eingesetzt werden sollte (siehe bspw. »Der Appell« von 2022). Relativ selten wird allerdings die Frage nach dem »wie« der Verteidigung gestellt und wenn, bleibt es häufig bei einer im Allgemeinen verharrenden Gegenüberstellung von Abschreckung und Diplomatie. So heißt es bspw. in dem Aufruf »Der Appell« vom März 2022: „Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfflugzeugen und bewaffnungsfähigen Drohnen als Abschreckung unter atomaren Militärblöcken ist sinnlos.“ (Dieren u.a. 2022) Vor dem Hintergrund der dargestellten Debatten über die Nuklearstrategie der NATO im Ost-West-Konflikt könnte man diesen Satz durchaus als ein Eintreten für eine Strategie der Massiven Vergeltung lesen. Mindestens aber scheint hier ein dichotomes Denken auf, das nur die Alternativen von nuklearer Abschreckung, mit ihren bekannten Paradoxien und Gefahren, und allgemeiner Abrüstung kennt. Umgekehrt haben Befürworter*innen des Sondervermögens und eines langfristig gesteigerten Verteidigungshaushalts bisher selbst keine konkreten Konzepte vorgelegt, wie sie sich die zukünftige Verteidigung etwa des Baltikums vorstellen.

Die zukünftige Verteidigung muss zwei Anforderungen gerecht werden: Sie muss Krisenstabilität gewährleisten, also nicht zur (unbeabsichtigten) Eskalation beitragen und gleichzeitig glaubwürdig in der Lage sein, einen gezielten Angriff, vergleichbar dem auf die Ukraine, abwehren zu können. Für die erste Anforderung stellt sich jedoch unter anderem im Baltikum ein Dilemma: Der begrenzte Raum, die geografische Lage und die Siedlungsdichte schließen eine Rückkehr zu überkommenen, panzerlastigen Konzepten konventioneller Verteidigung aus. Diese würden zu hohen Truppenkonzentrationen auf engem Raum führen, die sich als Ziele für taktische Nuklearwaffen geradezu anbieten. Schweren Verbänden bliebe, um den Raum zu gewinnen, der nötig ist, um ihre militärischen Stärken auszuspielen, nur der Ausbruch in Richtung Belarus und Russland selbst. Auch muss dahingestellt bleiben, ob »tiefe Schläge« im Sinne von »Deep Strike«-Konzepten, selbst wenn sie nur konventionell durchgeführt würden, nicht auch Kommando- und Kontroll-Einrichtungen der russländischen Nuklearstreitkräfte beeinträchtigen würden. Eine Eskalation auf die nukleare Ebene wäre nicht auszuschließen. Im Falle einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland würde damit auf beiden Seiten massiver Druck herrschen, als erster anzugreifen (Präemption), um einem tatsächlichen oder nur vermuteten Angriff des Gegners zuvorzukommen.

Defensive Verteidigungskonzepte nach dem Prinzip der »Spinne im Netz« könnten hier einen Ausweg weisen. Durch die Netzstruktur würden lohnende Ziele für Nuklearwaffen vermieden werden. Mobile gepanzerte Elemente könnten auf Größen begrenzt bleiben, die den geographischen Bedingungen im Baltikum Rechnung tragen. Ebenso würde die Notwendigkeit für präemptive tiefe Schläge ins Hinterland entfallen. Die Anforderung der Krisenstabilität würde also erfüllt werden. Gleichzeitig aber bliebe die zweite zentrale Anforderung durch eine Spezialisierung auf defensive Kräfte erfüllt: Die erfolgreiche Abwehr eines gezielten Angriffs. Unter diesen Bedingungen könnte ein solches Konzept dann langfristig auch Rüstungskontrolle ermöglichen.

Anmerkung

1) Ebenso existente nicht-militärische Verteidigungskonzepte sollen mit diesem Beitrag nicht absichtlich übersehen werden. Der Schwerpunkt liegt mithin aufgrund der gebotenen Kürze des Beitrags auf der Erörterung militärischer Konzepte. Eine Darstellung der »Sozialen Verteidigung« u.a. Konzepte muss an anderer Stelle erfolgen.

Literatur

Afheldt, H. (1976): Verteidigung und Frieden – Politik mit militärischen Mitteln. München: Hanser.

Armes, K. (1988): Discriminate deterrence: Western European comment. The Atlantic Community Quarterly, 26(3), S. 247-269.

Dieren, J. u.a. (2022): Der Appell – HET BONHE – Nein zum Krieg! – Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz! Veröffentlicht als Homepage, März 2022.

Iklé, F.; Wohlstetter, A. (1988): Discriminate deterrence. Report of the commission on integrated long-term strategy. Washington, DC.: Department of Defense.

Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (Hrsg.) (1989): Vertrauensbildende Verteidigung – Reform deutscher Sicherheitspolitik. Gerlingen: Bleicher Verlag.

Unterseher, L. (1987): Bewegung, Bewegung! Zur Kritik eingefahrener Vorstellungen vom Krieg. Sicherheit und Frieden 5(2), S. 90-97.

Weizsäcker, C. F. v. (Hrsg.) (1971): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung. München: Hanser.

Lukas Mengelkamp, M.A., wohnhaft in Darmstadt, ist Historiker und promoviert an der Universität Marburg über die Geschichte der Kritik nuklearer Abschreckung in den 1970er und 1980er Jahren.

Hijacking einer Revolution

Hijacking einer Revolution

von Damon Taleghani

„Debattieren können wir nach der Revolution“ – so der Tenor vieler Angehöriger der iranischen Diaspora im »Globalen Norden«. Jetzt ginge es erst einmal um Einheit, »etehad«, alles andere würde den gemeinsamem Kampf gegen die Islamische Republik nur unnötig schwächen. So dominieren von Beginn an auch eher solche Protagonist_innen die Medienberichterstattung, die einen vermeintlich objektiven Menschenrechtsaktivismus für sich beanspruchen. Da hat niemand Zeit für Debatten, im Gegenteil, zu viel Kritik ist tendenziell verdächtig. Verhindert werden aber kritische Auseinandersetzungen darüber, wofür hier eigentlich genau gekämpft und sich solidarisiert wird. Die Islamische Republik mordet unterdessen wie immer unbekümmert weiter.

Die Liste an bürgerlichen »Revolutions«-Influencer_innen ist lang, ihre Kontakte zu Regierungsparteien oder Organisationen wie der Deutschen Atlantischen Gesellschaft oder dem Pahlavi-nahen »Iran Transition Council« zahlreich. Die sozialen und politischen Positionen dieser Charaktere stehen dabei in krassem Gegensatz zu denen der oftmals ethnischen Minderheiten angehörenden Arbeiter_innen und mehrheitlich jungen Arbeitslosen, die in den ärmsten Provinzen Irans unter Einsatz ihres Lebens auf die Straße gehen, um für ein anderes Leben zu kämpfen.

Dieses »andere Leben« schließt auch Veränderungen der Besitzverhältnisse und des Wirtschaftssystems in Iran mit ein. Für diese grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen kämpften und starben Linke auch schon unter der Diktatur der Pahlavis und in den 1980ern, als die Islamische Republik Linke aller Parteien massakrierte. Diese historischen und sozialen Realitäten muss ein prokapitalistische »Iran-Bewegung« zwangsläufig relativieren oder verschweigen, weil sie sonst auch grundlegende Fragen zur Rolle Deutschlands im globalen Kapitalismus beantworten müsste. Weil das unangenehm wäre, hält nun ein „menschenrechtlicher Ausnahmezustand“, der in Wahrheit seit Jahrzehnten herrscht, als Legitimation für jede nur denkbare politische Allianz her, auch mit Politiker_innen von CDU und FDP, die sich jetzt unter dem linksradikalen PKK-Slogan »Jin Jiyan Azadi« ablichten lassen.

All diese selbsternannten deutschen Vertreter_innen der »Women, Life, Freedom«-Bewegung eint, dass sie die Bundesregierung oder wahlweise die Europäische Union als mögliche Befreier der Bevölkerungen Irans betrachten. Historische Beispiele für eine Befreiung und Demokratisierung irgendeines Landes in Westasien (oder der Erde) durch EU oder BRD gibt es natürlich keine – im Gegenteil, Deutschland ist weiterhin Irans Wirtschaftspartner Nr. 1 in der EU.

Aber ein gewisser »Iranischer Exzeptionalismus« – also im Grunde ein ganz alltäglicher Nationalismus, ein nationalistisches Überlegenheitsgefühl, gemischt mit politischem Opportunismus – dient als Grundlage für die Annahme, dass die geopolitische Realität für »uns« nicht gilt. Dieses nationale Selbstbild basiert, wie jeder andere Nationalismus auch, auf mächtigen Märchen, die gerade in den vergangenen Wochen wieder im Rückbezug auf die ehemals herrschende Pahlavi-Familie erzählt werden. So wie die Erzählung von der »jahrtausendealten Zivilisation der Perser«. In Wirklichkeit werden hier unzählige ethnisch, religiös und territorial völlig unterschiedliche Dynastien und widersprüchliche historische Fragmente zu einer National­erzählung verwoben, deren Hauptziel die »Einheit« der Nation, also die Unterwerfung aller ausgebeuteten Ethnien und Klassen durch ein Staatsprojekt, das äußerlich seine Form verändert, aber in seiner Essenz stets nationalistisch, kapitalistisch und auch militaristisch bleibt.

Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wird historisch wie aktuell immer als erstes aus den Forderungskatalogen gestrichen, wenn Menschen gegen ihre Unterdrückung protestieren. So war es 1921 und nach der iranischen Revolution 1979.

Ende letzten Jahres forderte Düzen Tekkal vom Bundestag in einer Petition mit über 63.000 Unterschriften, dass Exil-Iraner_innen vom deutschen Verfassungsschutz »beschützt«, also wohl auch beobachtet werden sollen.

Vielleicht zeigt dieses Beispiel, was im Kleinen passiert, wenn Linke in Deutschland nicht ihre Stimmen gegen das »Hijacking« einer Bewegung der Entrechteten und Ausgebeuteten durch Eliten und ihre Helfershelfer_innen erheben und sich gegenseitig bilden. Gerade weil wir gewisse Freiheitsrechte und Ressourcen zur Verfügung haben, tragen wir auch die Verantwortung, uns kollektiv mit den geopolitischen Interessen der Staaten auseinanderzusetzen, in denen wir leben, von der BRD bis in die USA. Dafür ist es unerheblich, ob man Teil der iranischen Diaspora ist oder nicht. Wer »Freiheit« nicht nur für die besitzende Klasse fordert, ist hier gefragt.

Damon Taleghani ist Autor und Künstler.
Zur ausführlicheren Fassung dieses Kommentars: wissenschaft-und-frieden.de/blog

Mehr Abrüstung wagen!

Mehr Abrüstung wagen!

von Sabina Galic

Die neue Bundesregierung hat sich für die nächsten Jahre viel vorgenommen. Im Koalitionsvertrag finden sich unter dem selbsterklärten Ziel »mehr Fortschritt wagen«, notwendige Impulse u.a. zum Klimaschutz, einer feministischen Außenpolitik und allem voran Ziele zur Stärkung internationaler Abrüstungsinitiativen.

Die Ankündigung der Bundesregierung, an der ersten Staatenkonferenz zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Wien als Beobachterin teilzunehmen, ist gewiss ein wichtiger Schritt für zukünftige Abrüstungsbemühungen. Der Vertrag zum Verbot von Atomwaffen ist im Januar 2021 in Kraft getreten und 59 Staaten sind bereits beigetreten, 86 haben unterzeichnet.

Deutschland wird nach Norwegen der zweite NATO-Staat und das erste Land sein, in dem Atomwaffen stationiert sind, das die Staatenkonferenz beobachtet. Zudem haben die NATO-Partnerstaaten Finnland, Schweiz und Schweden ebenfalls ihren Beobachtungsstatus bei der Konferenz angekündigt. Der Widerstand gegen den AVV sinkt innerhalb der NATO bereits spürbar.

Dies ist auch ein Erfolg für den UN-Atomwaffenverbotsvertrag sowie für die Staaten, die sich bereits entschlossen für Abrüstung einsetzen. Auf der Konferenz wird es nun konkreter um die Umsetzung des Vertrages gehen. Außerdem werden Vertragsstaaten über nationale Maßnahmen beraten, sowie Schritte bezüglich der Anerkennung von Opfern der Atomwaffentests und -einsätze, Umwelthilfe und der internationalen Kooperation beschließen. Insgesamt bietet der AVV somit einen völkerrechtlichen Rahmen für eine vollständige nukleare Abrüstung. Deutschland hat mit seinem Beobachtungsstatus die Chance, das Verfahren zu verfolgen, Stellungnahmen abzugeben und somit auch Unterstützung für den Vertrag zu signalisieren.

Nichtsdestotrotz scheint die neue Bundesregierung hinsichtlich ihrer Abrüstungsbemühungen in ihrem eigenen Widerspruch gefangen zu sein. Laut Koalitionsvertrag will sie sich zwar einerseits für eine atomwaffenfreie Welt einsetzen, andererseits weiterhin an der nuklearen Abschreckung sowie an der nuklearen Teilhabe festhalten. Obwohl der Beobachtungsstatus bei der Staatenkonferenz eine willkommene Annäherung an das Verbot von Atomwaffen signalisiert, verkündete Verteidigungsministerin Lambrecht gleichzeitig die Beschaffung eines Nachfolgesystems für atomwaffenfähige Tornadoflugzeuge.

Des Weiteren bekennt sich die neue Bundesregierung insbesondere zu einer Aufrechterhaltung eines »glaubwürdigen Abschreckungspotentials«. Die Stationierung von neuen US-Atomwaffen in Büchel ist dafür bereits vorgesehen. Jedoch sind diese laut Expert*innenmeinung militärisch kaum nutzbar und daher auch nicht glaubwürdig. Zudem erfordert die Modernisierung und Instandhaltung dieser Waffensysteme Milliarden­investitionen, jedoch bieten sie gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts wie etwa Cyberangriffe, Klimakrise und Pandemien überhaupt keine Sicherheit. Diese nukleare Aufrüstung passt auch nicht mit Deutschlands Ziel zusammen, eine atomwaffenfreie Welt zu erreichen. Bei der UN-Vollversammlung stimmte Deutschland 2021 zudem erneut gegen den UN-Atomwaffenverbotsvertrag. Ein weiterer (Fort-)Schritt der Bundesregierung sollte somit auch darin liegen, bei dieser jährlichen Abstimmung in Zukunft eine andere Position einzunehmen, da der Atomwaffenverbotsvertrag momentan die einzige echte Abrüstungsinitiative darstellt.

In Anbetracht der Tatsache, dass internationale Rüstungskontrollverträge bereits gekündigt wurden und weitere Gespräche über die Abrüstung von Atomwaffen durch die Spannungen zwischen Russland und der NATO ohnehin immer schwieriger werden, sollte auch keine zusätzliche nukleare Aufrüstung erfolgen, die die Konflikte nur weiter befeuern.

Die Bundesregierung sollte vielmehr Deutschlands Rolle in der nuklearen Teilhabe der NATO dringend überdenken, denn der sogenannte nukleare Schutzschirm bietet keinen Schutz. Der Atomwaffenverbotsvertrag bietet hingegen einen Weg zur Abschaffung aller Atomwaffen – und nur dadurch können wir uns selbst und die Welt vor einem Atomkrieg schützen. Deswegen sollte die Bundesregierung dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten, die Beschaffung neuer Atomwaffen-Trägerflugzeuge stoppen und sich für den Abzug aller US-Atombomben aus Deutschland einsetzen.

Die neue Bundesregierung lässt im Koalitionsvertrag insgesamt Spielraum für einen Paradigmenwechsel in der künftigen Außen- und Sicherheitspolitik, auch wenn einige Stellen sich bisher widersprechen oder vage bleiben. Die Frage ist nur: Wie viel Fortschritt wird sie darin wagen?

Sabina Galic ist Vorstandsmitglied bei ICAN Deutschland und Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdientsgegnerInnen

Rot, gelb oder grün für Frieden?


Rot, gelb oder grün für Frieden?

von Ginger Schmitz

Als Mitte Oktober die Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP begannen, waren die Erwartungen hoch. Nach Jahren gefühlter friedenspolitischer Stagnation erhofften sich viele, dass Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung nun endlich wieder aus ihrem Nischendasein herausgeholt werden würden. Besonders die am Aufbau der heutigen friedenspolitischen Infrastruktur beteiligten Parteien der rot-grünen Bundesregierung von 1998 standen dabei unter Beobachtung, bezeichnen sie sich doch selbst, im Fall der SPD, als Friedenspartei oder haben, im Fall der Grünen, das friedenspolitisch weitreichendste Programm vorgelegt. In beiden Wahlkampfprogrammen finden sich mit der Entwicklung Ziviler Planziele für die Leitlinien »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« und mit der Einführung einer »Friedensverträglichkeitsprüfung« Vorschläge, die grundlegendere friedenspolitische Veränderungen ermöglichen könnten.

Gleichzeitig konnte man nach Veröffentlichung des Sondierungspapiers eine gewisse Ernüchterung feststellen. Zivile Konfliktbearbeitung, Krisenprävention, Frieden, werden allesamt kaum berücksichtigt. Es bestätigte sich wieder einmal der Eindruck, dass friedenspolitische Themen im öffentlichen Diskurs wie auch in den Sondierungen keine Rolle spielten. Das verwundert zwar nicht, ernüchtert aber nichtsdestotrotz.

Wir sind nicht alleine auf der Welt. Der Klimawandel, Fragen der globalen Gesundheit und Digitalisierung betreffen uns alle. Das hat sich in diesem Wahlkampf wieder mit voller, disruptiver Wucht gezeigt. Die zukünftige Bundesregierung muss Antworten darauf finden, wie sich dadurch ausgelöste Transformationsprozesse konstruktiv, ausgleichend und im Sinne eines friedlichen Miteinanders gestalten lassen können. Und das nicht aus ministerialer Zuständigkeitslogik heraus, sondern kohärent. Das vorhandene Instrumentarium der Zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung muss zu diesem Zweck zukunfts­orientiert ausgebaut und gefördert, aber auch die Rahmenbedingungen verbessert und Grundlagen geschaffen werden.

Deutsche Außenpolitik im Verständnis von nach außen gerichteter und nach außen wirksamer Politik wird sich unter einer rot-grün-gelben Regierung verändern. Die Frage ist nur, wie sie dann aussehen wird. An welchen Werten richtet sich Außenpolitik zukünftig aus? Welchen Stellenwert werden zivile Konfliktbearbeitung und Frieden einnehmen? Frieden muss in dieser bestenfalls zukunftsorientierten und lernenden Außenpolitik ein Fixpunkt sein.

Die 2017 verabschiedeten Leitlinien bilden hierfür eigentlich die strategische Grundlage. In den Wahlprogrammen der Koalitionär*innen werden sie aber nur partiell erwähnt. In der letzten Legislaturperiode des Bundestages haben sie über den engagierten, aber kleinen Unterausschuss Zivile Krisenprävention hinaus keine wahrnehmbare Rolle gespielt. Der im Frühjahr 2021 veröffentlichte Umsetzungsbericht zu den Leitlinien wurde im Parlament noch nicht einmal debattiert. Das muss sich ändern! Friedenspolitik muss von der künftigen Bundesregierung aber auch vom Parlament breit getragen werden. Das Parlament muss seiner Verantwortung gerecht werden.

Diese Verantwortung kann sich nicht darauf beschränken, lediglich über Mandatsverlängerungen zu debattieren. Wir brauchen vielmehr jährliche frie­dens­politi­sche Grundsatzdebatten über die Gestaltung der »Verantwortung Deutschlands« in der Welt.

Im Sondierungspapier wurde ein neues Grundlagendokument angekündigt: eine »Nationale Sicherheitsstrategie«. Bevor neue Strukturen und neue Strategien geschaffen werden, sollten aber zunächst die Leitlinien konsequent umgesetzt werden. Ein Umsetzungsplan mit konkreten Planzielen sowie die Einführung einer Friedensverträglichkeitsprüfung könnte die Leitlinien aus ihrer Wahrnehmungs­lücke herausführen. Statt mehr Papier und mehr Strategiedokumenten braucht es eine neue Form außenpolitischer Zusammenarbeit, die Etablierung einer konstruktiven Fehlerkultur, offenen Dialog und gemeinsames Lernen.

Zu Beginn der Sondierungen war viel die Rede davon, dass die beteiligten Parteien nicht das Trennende sondern das Verbindende in den Mittelpunkt der Gespräche stellen und in den Sondierungen eine gemeinsame Erzählung entwickeln wollten.

Diese Erzählung, dieses gemeinsame Narrativ sollte Frieden sein. Und eine friedenspolitisch kohärent gestaltete Zukunftspolitik könnte letztlich das verbindende Element sein. Für Wirtschaft, Klima, soziale Gerechtigkeit. Für alle Farben der Ampel – und für grünes Licht für Frieden.

Ginger Schmitz ist Geschäftsführerin der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Mitglied des Beirats Zivile Krisenprävention und Friedensförderung.

Deutschlands Verantwortung im UN-Sicherheitsrat


Deutschlands Verantwortung im UN-Sicherheitsrat

von Lisa Heemann und Patrick Rosenow

Bild Lisa Heemann
Bild Patrick Rosenow

Seit dem 1. Januar 2019 sitzt Deutschland für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das wichtigste Gremium der Weltorganisation mit fünf ständigen und zehn nichtständigen Mitgliedstaaten ist für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit hauptverantwortlich zuständig und steht vor enormen Herausforderungen. Nicht nur die Krisen und Konflikte in Syrien, der Ukraine oder in Venezuela sorgen für eine starke Konfrontation innerhalb des Rates. Einige Mitgliedstaaten stellen sogar die bisherige multilaterale und regelbasierte Weltordnung grundsätzlich infrage – diesbezüglich ist der Sicherheitsrat aufgrund seines Regelwerks aber nahezu handlungsunfähig.

Die Erwartungen der UN-Mitgliedstaaten an die Bundesrepublik sind sehr hoch: Mit 184 von 193 Stimmen erzielte Deutschland im letzten Jahr in der UN-Generalversammlung ein sehr hohes Wahlergebnis. Deutschland wird als »Brückenbauer« gehandelt – zwischen den USA auf der einen und China und Russland auf der anderen Seite, z.B. im Syrien- und Ukraine-Konflikt oder bei den Spannungen zwischen den USA und Iran.

In der Mehrzahl seiner Sitzungen befasst sich der Rat mit »Alltagsgeschäften«, wie der Verlängerung von Friedensmissionen oder Sanktionen. Die Themen Abrüstung, Krisenprävention, Klimawandel und Menschenrechte sollten jedoch stärker in seinen Fokus rücken– dies sind auch für die Bundesrepublik relevante Themen. Der Vorsitz des Sicherheitsrates rotiert im monatlichen Wechsel, und der Vorsitz bestimmt maßgeblich die Agenda. Deutschland und Frankreich werden zum ersten Mal im März (Frankreich) und April (Deutschland) dieses Jahres im Rat eine Art »Doppelpräsidentschaft« führen. Sie hegen den Anspruch, mit einer starken und gemeinsamen europäischen Stimme zu sprechen, allerdings fällt in diese Zeit voraussichtlich der »Brexit«, der Ausstieg des ständigen Sicherheitsratsmitgliedes Großbritannien aus der Europäischen Union. Dies könnte die Zusammenarbeit erheblich erschweren.

Bei alledem darf nicht vergessen werden: Der Sicherheitsrat muss auf aktuelle Krisen und Konflikte sehr kurzfristig reagieren können. Gerade dann muss Deutschland bei Abstimmungen eine klare Position beziehen – entweder für oder gegen etwas – und darf sich nicht, wie im Fall Libyen 2011, mit einer Enthaltung aus der Affäre ziehen. Die Bundesregierung ist gefordert, sich auf solche Situationen vorzubereiten, indem sie die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen für eine kohärente Außenpolitik zur Verfügung stellt.

Aufgrund der komplexen Gemengelage sollte die Bundesregierung überlegen, die Entscheidungsstrukturen und Weisungen durch das Auswärtige Amt gegenüber der Ständigen Vertretung in New York zu vereinfachen. Mehr Handlungsfreiraum für den Ständigen Vertreter im Sicherheitsrat könnte sowohl die Sichtbarkeit der Bundesrepublik als Brückenbauer erhöhen als auch bei Konfliktthemen ein konstruktives Verhandlungsklima in einem polarisierten Rat fördern.

Die deutsche Öffentlichkeit zeigt großes Interesse an außenpolitischen Themen, lehnt aber mehrheitlich ein stärkeres militärisches Engagement ab. Das Beharren auf völkerrechtlichen Regeln und die Angst vor Abenteuern mit unkalkulierbaren Risiken sind groß. Letzteres gilt allerdings nicht für Einsätze mit Mandat des UN-Sicherheitsrats. Wenn die Diskussion über Blauhelm-Einsätze zusammen mit der über die strategischen außenpolitischen Interessen und die Werte Deutschlands geführt würde, wäre Deutschland besser auf die fordernde Mitarbeit im Sicherheitsrat vorbereitet. Aus diesem Grund muss die deutsche Öffentlichkeit immer wieder über die Möglichkeiten und Grenzen der Vereinen Nationen und des Sicherheitsrats informiert werden.

Eine Reform des Sicherheitsrats, seiner Zusammensetzung ebenso wie des Vetorechts, bleibt hingegen bis auf Weiteres unrealistisch und damit auch der Anspruch Deutschlands auf einen ständigen Sitz im Rat. Europa ist – gemessen an der Weltbevölkerung – in dem Gremium ohnehin schon deutlich überrepräsentiert. Die fünf ständigen Mitglieder sind überdies zu keiner Reform bereit, und die möglichen Kandidaten für einen ständigen Sitz sind sich untereinander auch nicht einig. Deutschland sollte daher seine Ressourcen besser auf die kontinuierliche Reform der Arbeitsmethoden und ihre Transparenz konzentrieren sowie sich für konstruktive Debatten im Rat einsetzen.

Dr. Lisa Heemann ist Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN).
Patrick Rosenow ist leitender Redakteur der Zeitschrift VEREINTE NATIONEN, die von der DGVN herausgegeben wird.

»Neue Verantwortung«


»Neue Verantwortung«

Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne

von Werner Ruf

Seit Erscheinen des programmatischen Papiers »Neue Macht – Neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik und des German Marshall Fund im September 2013 und der unmittelbar darauf folgenden Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014 scheint der Begriff »Verantwortung« zum Mantra des deutschen außen- (und militär-) politischen Diskurses geworden zu sein. Unterstrichen wird dies durch den jüngst von Wolfgang Ischinger und Dirk Messner (2017) herausgegebenen Prachtband »Deutschlands NEUE Verantwortung«, in dem die Autor*innen aus der außenpolitischen Elite zwölf Empfehlungen formulieren, wie denn nun diese »Verantwortung« in praktische Politik umzusetzen sei.

Ursprünglich beschränkte sich die North Atlantic Treaty Organization, wie ihr Name sagt, auf den Nordatlantischen Raum und die Territorien ihrer zur Zeit des Kalten Krieges 16 Mitgliedstaaten. Mittlerweile hat sich das Bündnis auf 29 Staaten vergrößert. Nahezu alle Neumitglieder waren zuvor Mitglieder der Warschauer Vertragsorganisation oder lagen im sowjetischen Einflussbereich. Allein die mit diesem Prozess verbundene Veränderung der geostrategischen Verhältnisse in Europa wirft zwei entscheidende Fragen auf. Erstens, müssen die Erweiterung und das Vorrücken von NATO-Truppen weit nach Osten von Russland nicht zwangsläufig als Bedrohung verstanden werden und sich damit per se destabilisierend auf ganz Europa auswirken? Zu Recht vertreten Parlamentarier*innen der Partei Die LINKE die Gegenposition, die NATO sei aufzulösen und durch ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit in Europa zu ersetzen (Neu 2017). So wären in der Tat Frieden und Sicherheit auf dem Kontinent nachhaltiger herstellbar als durch den Aufbau einer militärischen Drohkulisse. Die Charta von Paris, das Schlussdokument des Gipfeltreffens der »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) vom November 1990, hätte dafür eine solide Ausgangsbasis geliefert.

Die »Non-Article 5 Crisis Response Operations«

Zweitens hat die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges offiziell den Anspruch aufgegeben, ein Verteidigungsbündnis zu sein; dies wird belegt durch den im »Strategischen Konzept« von 1999 formulierten Anspruch, hinfort als Weltpolizist tätig zu werden und jede regionale Beschränkung ihrer Zuständigkeit aufzugeben. Zeitgleich mit ihrem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien legte die NATO auf ihrem 50. »Geburtstagsgipfel« 1999 in Washington ihre neuen Aufgaben fest, darunter die »Non-Article 5 Crisis Response Operations« (NA5CRO), die dann als »Joint Allied Doctrine [Gemeinsame Alliierte Doktrin] 3.4(A)« formell beschlossen wurden (NATO 2000).

Unter Verweis auf die schon seit längerer Zeit von den USA entwickelten Konzepte des »Counter Terrorism« (Terrorismusbekämpfung) und der »Counter Insurgency« (Aufstandsbekämpfung) werden in dem Dokument selbst Streiks und friedliche Demonstrationen zu Gründen für eine Intervention gezählt; außerdem gehört die Unterstützung von bewaffneten oppositionellen Gruppen offiziell zum Instrumentarium von NA5CRO (NATO 2000). Im Gewand einer Doktrin wird hier eine politische Leitlinie für das eigene Handeln formuliert. Damit wird den übrigen Mitgliedern des Internationalen Systems mitgeteilt, womit sie gegebenenfalls zu rechnen haben. Wann, ob und in welchem Umfang die Doktrin angewandt wird, bleibt dabei im Ermessen der politischen Entscheider*innen, wie das beispielsweise auch für die Eisenhower-, die Carter- oder die Hallstein-Doktrin galt. Kurzum: Mit der NA5CRO-Doktrin kehrt das Faustrecht in die internationalen Beziehungen zurück.

Die Anmaßung, Nicht-Artikel-5-Interventionen weltweit und ggf. ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats durchzuführen, macht die von Samir Amin (2017) aufgestellte These plausibel, dass die NATO inzwischen zum Instrument für die militärische Kontrolle des Planeten im Interesse des herrschenden kapitalistischen Systems geworden sei: „[… die USA] posieren als der unangefochtene Führer der Triade [gemeint sind die kapitalistischen Mächte USA, EU und Japan; W.R.], indem sie ihr Militär und die NATO, die sie beherrschen, zur ‚sichtbaren Faust‘ machen, die zur Aufgabe hat, die neue imperialistische Ordnung allen möglichen Widerständigen aufzuzwingen“. Mit dieser Doktrin werden die Grundpfeiler der Charta der Vereinten Nationen zerstört, wie sie in Art. 2.4 und 2.7 (Gewaltverbot, Interventionsverbot) festgelegt sind.

Die Nicht-Artikel 5-Konstruktion impliziert auch, dass die NATO nicht geschlossen handeln muss, wenn sie die NA5CRO-Doktrin bemüht oder umsetzt. Beispielsweise beteiligten sich am Krieg gegen Libyen 2011 – der ja kein Verteidigungsfall nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen war und der auch kein Mandat zur Wiederherstellung des Friedens aufgrund eines Friedensbruchs durch Libyen nach Art. 39 enthalten konnte – trotz Führung durch das NATO-Oberkommando nur die Hälfte (14 vom damals 28) der Mitgliedstaaten. Die Überschreitung des damaligen UN-Mandats (Einrichtung einer Flugverbotszone nach Res. 1973 des UN-Sicherheitsrats) bedeutet, dass wieder Kriege außerhalb der Grundsätze des Völkerrechts und der einschlägigen Bestimmungen der UN-Charta geführt werden: Die Angriffe wurden ohne direkte Berufung auf die NA5CRO-Doktrin, aber gemäß den in dieser Doktrin verankerten beliebigen Kriterien durchgeführt, die allein von den angreifenden Mächten festgelegt werden.

Jüngstes und eklatantestes Beispiel ist der völkerrechtswidrige Angriff der USA, Frankreichs und Großbritanniens auf Syrien am 13. April 2018 mit der Begründung, Syrien für den unterstellten Einsatz von chemischen Waffen gegen die Zivilbevölkerung zu »bestrafen«, während zeitgleich die Inspekteure der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beauftragten »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« im Anflug auf Damaskus waren, um zu untersuchen, ob solche Waffen tatsächlich eingesetzt wurden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Doktrin als Türöffner für die Etablierung eines Gewohnheitsrechts, das den Mächtigen als Grundlage für die Bildung beliebiger »Koalitionen der Willigen« für allfällige Angriffe dient. (Siehe dazu die von den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages (2018) erstellte Stellungnahme auf S. 54.)

Die NATO (und wohl auch ihre führenden Mitgliedstaaten) scheinen inzwischen zum Instrument des Gestaltungswillens der kapitalistischen Länder zur Durchsetzung ihrer Interessen geworden zu sein. Deshalb entspricht der Wille zum Verbleib in diesem Bündnis auch den Zielen, die die Bundesrepublik Deutschland bereits unmittelbar nach dem Kollaps der Sowjetunion und der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« des damaligen Verteidigungsministers Volker Rühe (1992) festgelegt hatte. Der Zugang zu Rohstoffen und die Sicherung der Seewege wurden dort als vitales Interesse Deutschlands definiert. Multilaterale Interventionen sind in diesem Sinne nicht nur militärisch effizienter, sie suggerieren auch ein höheres Maß an Legitimität.

Deutschland als »Rahmennation«

Unter dem sperrigen Begriff »Rahmennation« verbirgt sich ein langfristiges Planungskonzept, das 2017 vom Bundesverteidigungsministerium ausgearbeitet wurde.1 Es verfolgt laut einer Studie der Stiftung Wissenschaft (SWP) und Politik ein doppeltes Ziel: „Die Bundeswehr soll explizit, neben den Armeen Großbritanniens und Frankreichs, zu einem Rückgrat europäischer Verteidigungsfähigkeit innerhalb der Nato werden. Zugleich soll sie vor allem durch das vieldiskutierte Rahmennationen-Konzept (Framework Nations Concept, FNC) direkt und indirekt zur Entwicklung verbündeter Streitkräfte beitragen – mithin zur Handlungsfähigkeit Europas in der Nato.“ (Glatz/Zapfe 2017, S. 1)

Der Studie zufolge richtet sich die Bundeswehr „strukturell auf hochintensive Operationen zur Bündnisverteidigung aus“ (S. 2). Die sich daraus ergebenden Aufrüstungsziele sollen bis 2032 voll erreicht sein. Als „Rahmennation“ soll die Bundeswehr „Verantwortung für die Entwicklung der Streitkräfte verbündeter Nationen übernehmen. Damit hat dieses Konzept das Potential, Struktur und Charakter europäischer Streitkräfte in der Nato nachhaltig zu verändern.“ (S. 4) Die wesentlichen Steuerungsgruppen der NATO und der am »Rahmenkonzept« mitwirkenden (europäischen) Verteidigungsminister sollen unter deutschem Vorsitz tagen; Berlin soll diese Treffen vor- und nachbereiten. Für die Ostsee soll es ein „deutsch dominiertes Marine-Kommando“ geben; „Deutschland würde somit, für die meisten der kleinen Anlehnungspartner wie für die Nato insgesamt, in den meisten denkbaren Szenarien der Bündnisverteidigung zur unverzichtbaren Nation.“ (S. 5f.)

Immerhin benennt die SWP-Studie die Gefahr, dass bei einigen Verbündeten die Befürchtung aufkommen könnte, hier entstehe eine „deutsch kommandierte europäische Armee“ (S. 6). Anstatt auf solche Ängste einzugehen, wird mit der Finanzkraft Deutschlands argumentiert, das mit der 2015 von der damaligen Großen Koalition eingeleiteten »Trendwende Finanzen« schon 2021 einen Bundeswehrhaushalt von 42,4 Mrd. Euro (gegenüber derzeit 37 Mrd.) vorsehe. (Inzwischen fordert Verteidigungsministerin von der Leyen sogar weitere 12 Mrd. Euro.) Der beabsichtigte Aufbau „europäischer Streitkräfte in der NATO“ (S. 7) trage „wesentlich zur Handlungsfähigkeit der EU bei“ und könne „als Säule einer stärkeren europäischen Verteidigungs-Identität in der Nato […] gerade angesichts der Erschütterungen im trans-atlantischen Verhältnis eine Bedeutung über die Allianz hinaus gewinnen“ (S. 8).

Deutlicher kann die Deutschland zugedachte und offenbar von den NATO-Gremien tolerierte, wenn nicht sogar gewollte, Führungsrolle nicht formuliert werden. Deutschland reklamiert damit eine doppelte, sich gegenseitig verstärkende Führungsfunktion, da es nun sowohl im Namen der NATO wie im Namen der EU auftreten kann.

Mithilfe des Konzepts der »Rahmennation« macht sich Deutschland für die NATO zunehmend unentbehrlich. So erhält Deutschland für den NATO-Aufmarsch im Osten ein neu einzurichtendes Logistik-Zentrum, um die Verlegung von großen Truppenkontingenten und Material an die Ostgrenzen des Bündnisses zu koordinieren. Verteidigungsministerin von der Leyen kommentierte dies mit den Worten: „Deutschland hat angeboten, Rahmennation zu sein, und dafür sind die anderen dankbar.“ (Drewes 2018). Das Kommando-Zentrum soll wohl in Ulm eingerichtet werden.

Der in allen einschlägigen Papieren als Ausgangsbasis für die neuen strategischen Überlegungen unterstellte Abstieg der USA wird genutzt, um eine wachsende deutsche »Verantwortung« und die Stärkung der EU als »europäischen Pfeiler« der NATO zu begründen. Da die EU im derzeitigen militärischen Kräfteverhältnis ohne Rückgriff auf die enormen Arsenale der USA (noch) nicht auskommt, ist der Verbleib der USA im Bündnis jedoch Voraussetzung für die zukünftige Macht­entfaltung der EU und Deutschlands. Die im Rahmen einer »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« eingeleiteten Maßnahmen zur weiteren Militarisierung Europas (unter deutsch-französischer Führung) sind Teil dieser Doppelstrategie, die zwar den Zusammenhalt im Bündnis betont, zugleich aber auf die Stärkung des Einflusses der Europäer im Bündnis zielt (vgl. dazu Wagner 2018).

Deutschland und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU

Der auf den ersten Blick eher nichtssagende Begriff PESCO (Permanent Structural Cooperation) bzw. »Ständige Strukturierte Zusammenarbeit« geht zurück auf den Lissabon-Vertrag der EU, in dem PESCO festgeschrieben ist. Konkrete Ziele dieser Zusammenarbeit sind gemeinsame Rüstungsprojekte und der Aufbau EU-weiter Einheiten und Fähigkeiten, also die Stärkung der »battle groups«, vor allem aber der Autonomie der EU in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen (Wagner 2018).

Unter Verweis auf Art. 42 Ziff. 6 dieses Vertrags benennen die SWP-Autorinnen Beckmann und Kempin (2017) in einem weiteren Planungspapier als Kriterien für PESCO die Zusammenarbeit der Staaten, die 1. „anspruchsvollere Kriterien“ erfüllten, 2. „Missionen mit höchsten Anforderungen“ durchführen könnten und 3. „untereinander weitergehende Verpflichtungen“ eingingen. Sie begrüßen und fordern die Realisierung der von der NATO 2014 beschlossenen Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts bis zum Jahr 2024 und betrachten die Einhaltung dieses Ziels geradezu als Aufnahmekriterium für PESCO. 20 % der Wehretats sollen in die Beschaffung von Fähigkeiten fließen. Gleichzeitig soll PESCO der erste Schritt zu einer europäischen – im Fernziel von der NATO unabhängigen – „Verteidigungsunion“ (S. 2) sein. Im Einzelnen soll 1. die Finanzierung der seit 2004 bestehenden »battle groups« ausgeweitet werden, 2. das bisher bestehende Einstimmigkeitsprinzip bei Militäreinsätzen durch ein Mehrheitsprinzip ersetzt werden und 3. durch diese Maßnahmen der „deutsch-französische Motor auf EU-Ebene […] am Laufen“ (S. 4) gehalten werden.

So fügt sich zusammen, was aus Sicht der Bundesregierung(en) zur deutschen militärpolitischen Emanzipation gehört: Die geplante Erhöhung der Ausgaben auf zwei Prozent des BSP sichert die Führungsrolle der stärksten Wirtschaftsmacht der EU. Damit wird – Stichwort »Rahmennation« – gleichzeitig die Rolle Deutschlands in der NATO gestärkt. Begünstigt wird diese Entwicklung durch den Austritt Großbritanniens aus der EU, hatte London doch immer versucht, den militärischen Aufstieg Deutschlands in der EU zu bremsen. Damit wird eine weitere Ebene eines »Europas unterschiedlicher Geschwindigkeiten« geschaffen, in dem die PESCO-Staaten ein militärisches Eigenleben führen.

Es kann nicht verblüffen, dass im Kontext dieser Debatte auch die Forderung nach einer deutschen Verfügungsgewalt über Atomwaffen auf die Tagesordnung kommt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lancierte in ihrer Rubrik »Fremde Federn« im November 2017 einen Beitrag des deutschen Politologen Maximilian Terhalle, der an der London School of Economis and Political Science lehrt. Er plädiert „für eine europäische Atommacht“: „Zur glaubwürdigen Stärkung der Nato und zur eigenen strategischen Sicherheit muss Berlin deshalb jetzt Verantwortung zeigen, indem es die Aufstellung einer europäischen Atommacht zu seiner Priorität macht. … Deutschland [muss] hierin mit Nachdruck Mitentscheidungsrechte für sich verhandeln.“ Und in dem eingangs bereits erwähnten, programmatisch die deutsche Außenpolitik behandelnden Band »Deutschlands NEUE Verantwortung« (Ischinger/Messner 2017) schreibt Jan Techau (S. 25): „Was tut ein Land, das vielleicht sogar gezwungen ist, die Frage eigener Atomwaffen zu diskutieren? Wie soll nukleare Erpressbarkeit verhindert werden, falls der amerikanische Nuklearschirm eines Tages wegfällt […]? Ist genug Vertrauen im europäischen politischen Markt, um sich ganz auf Frankreich und Großbritannien zu verlassen?“ Dieser Sprachregelung folgend räsonieren unter der Zwischenüberschrift „(Nukleare) Abschreckung: effektiv drohen für den Frieden“ Claudia Major (Stiftung Wissenschaft und Politik) und Christian Mölling (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) im selben Band über die „Neue Verantwortung in der Verteidigungspolitik“. Sie stellen fest: „Moderne Abschreckung muss die nukleare und konventionelle Dimension anpassen […] Militärische Abschreckung sollte nicht ersetzt, sondern erweitert werden.“(S. 261) Spätestens diese Feststellung macht klar, dass im deutschen sicherheitspolitischen Establishment die Debatte über die Nuklearisierung der deutschen Verteidigungspolitik auf der Tagesordnung angekommen ist.

Solche Überlegungen sind keineswegs aus der Luft gegriffen, verfügen in Europa doch bisher nur Frankreich und England über eigene Atomwaffen. Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU dürfte der deutsche Griff nach einer Mitverfügung über Atomwaffen im Rahmen des Führungsteams Deutschland-Frankreich leichter werden,2 denn die mit PESCO vorgesehene engere Zusammenarbeit im Rüstungsbereich wird sich auf alle Bereiche erstrecken und hat beispielsweise mit der Fusion von Krauss-Maffei-Wegmann und Nexter im Panzerbau schon begonnen.3 Der gemeinsame Flugzeugbau bei EADS ist auf gutem Wege. Die französische Nuklearfirma AREVA und Siemens-Nuclear arbeiten seit vielen Jahren eng zusammen. Von der »atomaren Teilhabe« Deutschlands innerhalb der NATO könnte sich Deutschland auf dem Umweg der Schaffung einer europäischen Atommacht endlich einen direkteren Zugriff auf diese grauenhafte Massenvernichtungswaffe sichern.

Macht statt Verantwortung?

Das Ziel, bis 2024 zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für den Militärhaushalt zur Verfügung zu stellen, bedeutet ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm. Für Deutschland hieße das, dass dieser Etat von derzeit 34 Mrd. US$ auf 70 Mrd. steigen könnte, je nach Entwicklung des BSP sogar auf bis zu 80 Mrd. US$. Der deutsche Rüstungshaushalt würde dann den russischen weit übertreffen, sollte dieser bei den derzeit 66,3 Mrd. US$ verharren. Dies ist nicht unwahrscheinlich, ist doch der russische Militärhaushalt im vergangenen Jahr gegenüber 2016 um 20 % gesunken. Demgegenüber rüstet die NATO insgesamt gewaltig auf und erreichte 2017 900 Mrd. US$ -das sind 52 % der weltweiten Rüstungsausgaben (Zahlen nach SIPRI 2018). Deutschland allein würde dann hinter den USA und China mit seinen Rüstungsausgaben Platz drei in der Welt erreichen.

Doch das Zwei-Prozent-Ziel ist weit mehr als eine gigantische Erhöhung des Rüstungshaushalt, es ist ein hoch ambitioniertes politisches Projekt. Durch die Militarisierung der EU und die wirtschaftliche wie politische Führungsposition, die Deutschland dort einnimmt, übernähme Deutschland letztlich auch die militärische Führung. Damit gewänne es ein noch viel größeres Gewicht in der NATO. Genau hier dürfte der Grund liegen, warum die NATO niemals in Frage gestellt wird: Der Niedergang der USA und die europäische Hochrüstung unter deutscher Führung eröffnen mittelfristig eine geradezu glänzende Perspektive, nämlich die Rolle der EU-Führungsmacht mit dem wachsenden Einfluss in der NATO zu vereinen, schließlich ist Deutschland bereits jetzt zweitgrößter Truppensteller des transatlantischen Bündnisses. In dem Maße, in dem die EU zu einer neuen militärischen Großmacht transformiert wird, bestimmt Deutschland zunehmend über deren immer wieder eingeforderte Autonomie wie über ihr Verhältnis zur NATO. So wird »Verantwortung« zum Großmachtanspruch.

Anmerkungen

1) Es handelt sich um das so genannte Bühler-Papier, das von Generalleutnant Erhard Bühler, Leiter der Abteilung Planung im BMVg, im März 2017 verfasst wurde (Glatz/Zapfe 2017, S. 1).

2) Bereits 1987 hatte der damalige französische Präsident François Mitterrand im Zusammenhang mit der Aufstellung einer deutsch-französischen Brigade Konsultationen über den Einsatz von Atomwaffen angeboten (Loth 1987, S. 289).

3) Auf die Vorteile, die sich hieraus für den Rüstungsexport ergeben, für den es beispielsweise in Frankreich keine Beschränkungen gibt, kann hier nicht eingegangen werden.

Literatur

Amin, S.: Revolution from North to South. Monthly Review, Heft 3/2017.

Beckmann, R.; Kempin, R.: EU-Verteidigungspolitik braucht Strategie. SWP-Aktuell 60, August 2017.

Bundesminister der Verteidigung Volker Rühe (1992): Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, 26.11.1992.

Drewes, D. (2018). Deutschland bekommt ein neues NATO-Kommando. Sächsische Zeitung, 15.2.2018.

Gauck, J. (2014): Eröffnung der 50. Münchener Sicherheitskonferenz – Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen“. 31.1.2014; bundespraesident.de.

Glatz, R.L.; Zapfe, M. (2017): Ambitionierte Rahmennation – Deutschland in der Nato. Die Fähigkeitsplanung der Bundeswehr und das »Framework Nations Concept«. SWP-Aktuell 62, August 2017.

Ischinger, W.; Messner, D. (Hrsg.) (2017): Deutschlands NEUE Verantwortung – Die Zukunft der deutschen und europäischen Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. Berlin: Econ. Siehe dazu auch deutschlands-verant­wortung.de.

Loth, Wilfried (2014): Europas Einigung – eine unvollendete Geschichte. Frankfurt/New York: campus, S. 289.

Major, C.; Mölling, C. (2017): Neue Verantwortung in der Verteidigungspolitik – die Agenda für die neue Regierung. In: Ischinger/Messner, op.cit, S. 259-263.

NATO (2000): Allied Joint Doctrine for Non-­Article 5 Crisis Response Operations, AJP-3.4(A). Ratification Draft.

Neu, A. (2017): NATO – Auflösung ist einfacher als Transformation. WeltTrends Nr. 132, S. 44-47.

Stockholm International Peace Research Institute/SIPRI (2018): Global military spending remains high at $1.7 trillion. Press release, 2.5.2018.

Solty, I. (2015): Die Mär von der reaktiven Zäsur. W&F 4-2015, S. 8f.

Stiftung Wissenschaft und Politik; The German Marshall Fund of the United States (2013): Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch. Berlin und Washinton.

Techau, J. (2017): Außenpolitik als moralische Zerreißprobe. In: Ischinger/Messner, op.cit., S. 22-25.

Terhalle, M. (2017): Für eine Europäische Atommacht. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2017, S. 8.

Treffen der Staats- und Regierungschefs, der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) (1990): Charta von Paris für ein neues Europa. Paris, 19.-21.11.1990; osce.org.

Wagner, J. (2018): Trump oder Brexit? Ursachen und Ausprägungen des EU-Rüstungsschubs. W&F 1-2018, S. 28-31.

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Völkerrechtliche Implikationen des amerikanisch-britisch-französischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien. WD 2 – 3000 – 048/18. Siehe Auszüge auf S. 54 dieser W&F-Ausgabe.

Prof. em. Dr. Werner Ruf war von 1982 bis 2003 Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Er ist Mitglied im W&F-Beirat.

Deutsch-französische Achse schwächelt

Deutsch-französische Achse schwächelt

Quo vadis Europa?

von Hans-Georg Ehrhart

Dominiert Deutschland Europa? Hat die Griechenlandkrise das Bild vom »hässlichen Deutschen« wieder reaktiviert? Was soll aus Europa werden und aus seiner Hauptstütze, der deutsch-französischen Achse? Die Erweiterung der EU auf 28 Mitgliedsländer hat die Bedeutung der deutsch-französischen Achse zweifellos relativiert. Hinzu kommt das derzeitige ökonomische Ungleichgewicht zwischen beiden Ländern. Gleichwohl ist die bilaterale Zusammenarbeit immer noch von Bedeutung, denn ohne eine Verständigung zwischen Paris und Berlin geht, so die Überzeugung unseres Autors, in der EU nichts voran, weder in der Wirtschafts- und Finanz- noch in der Sicherheitspolitik.

Laut Präsident François Hollande bilden Deutschland und Frankreich das „Herz Europas“ und tragen außerordentliche Verantwortung für dessen wirtschaftliche, finanzpolitische, soziale und politische Integration (Hollande 2012, S.3). Für Deutschland wiederum ist die „engste Partnerschaft mit Frankreich in einem geeinten Europa“ eine der Grundkoordinaten seiner Außenpolitik (Steinmeier 2015, S.8). Diese positive Grundhaltung verhindert aber nicht, dass es unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft Europas und Interessengegensätze gibt, die es mühsam zu überwinden gilt. Den diversen Problemen liegen unterschiedliche politische Denkansätze und »Kulturen« zugrunde, die es beiden Seiten schwer machen, einen Kompromiss zu finden.

Unterschiedliche wirtschaftspolitische Ansätze

In der Wirtschafts- und Finanzpolitik verfolgt Deutschland einen liberalen Ansatz, der auf einer starken Exportindustrie, offenen Märkten und einer hohen Wettbewerbsfähigkeit basiert. Das damit verbundene europapolitische Problem formuliert Außenminister Steinmeier, wenn er mahnt, „ein fatales strategisches Dilemma zu verhindern, in dem Deutschland sich vor die Wahl gestellt sähe zwischen seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit in der Globalisierung einerseits und der Zukunft der europäischen Integration – vor allem dem Zusammenhalt der Wirtschafts- und Währungsunion – andererseits“ (Steinmeier 2015, S.11). In Frankreich hingegen spielen der vorsorgende Staat und die Binnennachfrage traditionell eine größere Rolle. Das trug dazu bei, dass das Land seit Jahren ein sehr hohes Haushalts- und Staatsdefizit aufweist.

Deutschland hatte 1997 extra den Stabilitätspakt durchgesetzt, um die Währungsunion wetterfest gegen gegen eine schuldenbasierte Staatsfinanzierung zu machen. Dem 750 Mrd. schweren Hilfspaket für Griechenland stimmte Berlin 2010 erst zu, nachdem der damalige französische Präsident Sarkozy gedroht hatte, den Euro zu verlassen (Traynor/Tremlett 2010). 2012 wurde der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) eingeführt, er vergibt aber nur rückzahlbare Kredite und ist nicht für Finanztransfers zuständig. Während Berlin die Einführung von Eurobonds, also gemeinsamen Staatsanleihen, vehement ablehnt, sieht Paris darin die Krönung seiner Europapolitik. Schon seit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in den 1950er Jahren versucht Frankreich, die deutsche Wirtschaftskraft zu »europäisieren« und für seine Vorstellung von Europa nutzbar zu machen.

Der deutsche Finanzminister Schäuble ist zwar durchaus für eine Fiskalunion, aber nur, sofern diese die effektive Kontrolle ihrer Mitglieder ermöglicht und Regelverstöße verlässlich sanktioniert, etwa durch einen mit entsprechenden Kompetenzen ausgestatteten Europäischen Währungsfonds (Schäuble 2010). Frankreich denkt eher an einen gemeinsamen Haushalt und eine gemeinsame Haftung, will sich auf der anderen Seite aber in seine nationale Politik nicht viel reinreden lassen. Dementsprechend schlug Präsident Hollande nach dem qualvollen Griechenlandkompromiss, der Mitte August 2015 zum dritten Rettungspaket führte, die Bildung einer europäischen Wirtschaftsregierung für die Eurozone mit eigenem Haushalt und Parlament vor. Zur Not könne eine „Avantgarde“ aus interessierten Staaten vorangehen (Gamelin 2015a, S.6).

Nach einem gemeinsamen Arbeitspapier, über das die Wochenzeitung DIE ZEIT berichtete (2.6.2015), streben Paris und Berlin nun eine engere Währungsunion mit häufigeren Gipfeltreffen, mehr Kompetenzen für die Gruppe der Finanzminister und ihres Präsidenten, der so etwas wie der von Paris vorgeschlagene europäische Finanzminister werden könnte, sowie eine Beteiligung des Europaparlaments an. Sie wollen also vor allem die zwischenstaatliche Zusammenarbeit stärken, was dem bevorzugten französischen und mittlerweile auch von Kanzlerin Merkel goutierten Ansatz entspräche. In diese Richtung geht auch die (nicht zuletzt mit Blick auf das mit Austritt aus der EU drohende Großbritannien formulierte) Idee Schäubles, die EU zurückzubauen, indem der Europäischen Kommission die Aufsicht über Haushalte, Binnenmarkt und Wettbewerbsrecht entzogen und einer unabhängigen Behörde übertragen wird (Gamelin 2015b, S.4).

Unterschiedliche sicherheitspolitische Kulturen

Die Zeiten, in denen die Kommission als künftige europäische Regierung angesehen wurde, sind ohnehin vorbei. CDU und SPD nahmen bereits vor Jahren Abschied von der – übrigens von Paris nie geteilten – Vision der Vereinigten Staaten von Europa. Das hindert beide Parteien aber nicht daran, für eine Europäische Armee zu plädieren (Ehrhart 2014, S.92). Allerdings lassen sie offen, was sie darunter verstehen. Wenn der europäische Bundesstaat kein Ziel mehr ist, wie soll eine Europäische Armee politisch geführt werden? Paris denkt gar nicht daran, seine verteidigungspolitische Souveränität aufzugeben – mehr Koordinierung und Zusammenarbeit in Teilbereichen ja, mehr aber nicht. In offiziellen Äußerungen wird zwar gerne von der Notwendigkeit einer »europäischen Verteidigung« gesprochen, jedoch nicht im Sinne einer integrierten Armee.

Das französische (und britische) Hauptinteresse an der seit 1999 im Rahmen der EU im Aufbau befindlichen »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) liegt in verbesserten militärischen Kapazitäten. Hauptadressat dieses Anliegens ist Deutschland, das mehr für Rüstung und Verteidigung ausgeben und sich international militärisch mehr engagieren soll. Während Deutschland nur 1,4 Prozent seines Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgibt, sind es bei Frankreich zwei Prozent (darin enthalten sind allerdings auch die Kosten für die französische Nuklearstreitmacht). Weil Deutschland nicht so richtig mitzog, schloss Frankreich mit Großbritannien 2010 weit reichende militärpolitische Verträge ab, ohne Berlin zu konsultieren oder die GSVP zu erwähnen.

Ein Grund für die manchmal unterschiedlichen Positionen liegt in den immer noch verschiedenen sicherheitspolitischen Kulturen. Bereits das von Paris initiierte Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 1954 schließlich am französischen Widerstand. Damit war auch die geplante Europäische Politische Gemeinschaft gescheitert. Einerseits wollte Paris damals Sicherheit und Kontrolle durch Integration der Bundesrepublik, andererseits wollte es seine außen- und sicherheitspolitische Handlungsfreiheit bewahren – Frankreich sah sich als Weltmacht, befand sich im Indochinakrieg. Die 1952 gegründete EGKS, die die Kontrolle über die damals rüstungswirtschaftlich relevante Schwerindustrie ermöglichte, und die 1954 gegründete Westeuropäische Union (WEU), die umfangreiche rüstungskontrollpolitische Beschränkungen für die Bundesrepublik vorsah, reichten dem NATO-Gründungsmitglied Frankreich als Rückversicherung aber schließlich aus.

EGKS und WEU sind mittlerweile Geschichte. Zahlreiche bilaterale Initiativen haben inzwischen die Welt erblickt: Sie reichen vom Elysée-Vertrag – bis heute die wichtigste vertragliche Grundlage für die bilateralen Beziehungen -, der deutsch-französischen Brigade und dem Eurokorps bis zum Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat. Selbst auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung, die Frankreich als Garant für das Überleben der Nation und als Ausdruck eines besonderen Status betrachtet, bot Frankreich 1986 und 1996 Deutschland Konsultationen an. Deutschland zeigte aber kein Interesse, weil es eher auf die »nukleare Teilhabe« an US-Atomwaffen im Rahmen der NATO setzt. Zudem gilt bei aller Kooperationsbereitschaft die Aussage von Charles de Gaulle, dass sich die Verfügung über Atomwaffen nicht teilen lasse.

Doch steht dieses Thema für Frankreich längst nicht mehr auf der Agenda. Die sicherheitspolitischen Herausforderungen haben sich geändert. Im Mittelpunkt stehen nun vor allem Terrorismus und gescheiterte Staaten. Als ehemalige Kolonialmacht und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats ist Frankreich viel interventionsfreudiger als Deutschland und hat in den letzten Jahren in Libyen, Mali, der Zentralafrikanischen Republik und im Nahen Osten interveniert. Während Deutschland traditionell eher nach Osten blickt, liegt für Frankreich die zentrale Problemzone in Afrika. Im Ukrainekonflikt versucht Berlin, Paris über das »Normandieformat« (Deutschland, Frankreich, Russland und Ukraine) einzubinden. Zugleich folgt es dem französischen Drängen, sich auch militärisch mehr in Afrika zu engagieren, indem es Teile der deutsch-französischen Brigade in Mali einsetzt. Die Zusammenarbeit bei der weltraumgestützten Aufklärung ist ein weiterer Kooperationsbereich, wie auch das Vorhaben, eine bewaffnungsfähige Drohne zu entwickeln.

Fehlende gemeinsame Vision

Nach dem Abschluss des Vertrages von Lissabon, durch den die Europäische Union institutionell reformiert wurde, bedürfte es »nur« eines Beschlusses der EU-Staats- und Regierungschefs, um eine gemeinsame Verteidigungspolitik einzuführen, die dann zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte. Doch solange die beiden Hauptprotagonisten nicht an einem Strang ziehen, wird eine Außen- und Sicherheitspolitik Europas aus einem Guss Zukunftsmusik bleiben. Ähnlich sieht es in der Wirtschafts- und Währungspolitik aus. Es braucht eine gemeinsame Vision um voranzukommen. Diese fehlt aber offensichtlich. Was ist also zu tun?

Frankreich müsste in beiden Fällen seinen nationalen Souveränitätsanspruch reduzieren, Deutschland müsste für andere mehr ins Risiko gehen. Durch die eigene Bereitschaft, Souveränität und Risiko zu teilen, könnte die schwächelnde deutsch-französische Achse Vorbild sein und mit anderen interessierten Partnern das Friedensprojekt EU voranbringen, statt in Kleinmütigkeit zu verharren. In unserer globalisierten Welt wäre dies einem Europa mit schwachen Institutionen oder gar einer Renationalisierung Europas allemal vorzuziehen.

Literatur

DIE ZEIT: Merkel strebt radikale Euroreform an. 2. Juni 2015.

Hans-Georg Ehrhart (2014): Europäische Armee – eher Chimäre als Vision! In: Ines-Jacqeline Werkner, Janet Kursawe und Margret Johannsen (Hrsg.) (2014): Friedensgutachten 2014. Berlin: LIT, S.87-99.

Cerstin Gammelin (2015a): Friedenstaube nach Berlin. Süddeutsche Zeitung, 21.7.2015.

Cerstin Gammelin (2015b): EU, eine Nummer kleiner. Süddeutsche Zeitung, 31.7.2015.

François Hollande (2012): Rede anlässlich des 50. Jahrestages der Rede von General de Gaulle an die deutsche Jugend. In: Ministère des Affaires Ètrangères et Européennes: Bulletin d'actualités. 24.9.2015, S.1-4.

Wolfgang Schäuble im Interview mit Bild: Pleite-Ländern notfalls den Euro wegnehmen. 15.3.2015.

Frank-Walter Steinmeier (2015): »Krise, Ordnung, Europa« – Zur außenpolitischen Verortung und Verantwortung Deutschlands. In: Auswärtiges Amt Projektteam „Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken“: Review Krise – Ordnung – Europa.

Ian Traynor and Giles Tremlett: Nicolas Sarkozy Threatened to Pull Out of Euro Over Greece. The Guardian, 14 May 2010.

Dr. Hans-Georg Ehrhart ist Mitglied der Geschäftsleitung des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und Leiter des Zentrums für Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien am IFSH (ZEUS).

Zivile Aggression

Zivile Aggression

Die Ukraine, die deutsche Außenpolitik und die Friedensbewegung

von Velten Schäfer

Die deutsche Ukrainepolitik seit 2011 lässt sich in drei Phasen einteilen: die Förderung der Opposition bis zur Legitimierung der Platzbesetzer in der heißen Phase des Umsturzes, dann eine kurze Phase des diplomatischen Versagens, in der die Bundesregierung nichts für einen friedlichen Übergang von der alten zur neuen Regierung tat, und schließlich eine dritte Phase, die bis heute anhält, in der die Bundesregierung versucht, die allzu zerstörerischen Dynamiken des von ihr selbst angefachten Konflikts zu bremsen. Die Friedensbewegung muss sich damit auseinandersetzen, dass zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit, zum Instrument aggressiven außenpolitischen Handelns uminterpretiert, zu einer gewalttätigen Eskalation von Konflikten beitragen kann.

Im Verlauf des Jahres 2014 bekam man Angst beim Verfolgen der Nachrichten. Könnte es misslingen, den Ukraine-Konflikt einzuhegen? Erinnerte nicht schon dessen Herd auf der Krim an das »Great Game« des 19. Jahrhunderts? Zugleich traten reihenweise Politiker/innen auf, um »mehr Verantwortung« für Deutschland zu fordern. Ganz neu war dies ebenso wenig wie der entsprechende rhetorische Mix aus geopolitischem Determinismus – ein Land von der Größe, Kraft und Lage Deutschlands könne gar nicht anders, als eine »aktivere Rolle« einzunehmen – und der Anrufung einer »Werte«-Mission. Es fiel aber auf, dass »Verantwortung« von Regierungskreisen, mächtigen Multiplikatoren und selbst Teilen der Opposition immer expliziter auch als kriegerische Gewalt buchstabiert wurde.

So bestand das zurückhaltendste Postulat in Bundespräsident Joachim Gaucks viel zitierter Rede zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2014 in dem Halbsatz, zum „äußersten Fall“ dürfe „weder aus Prinzip ‚nein' noch reflexhaft ‚ja'“ gesagt werden. Wagner (2015) weist darauf hin, dass diese Rede keine persönliche Meinung darstellte, sondern „bis hin zu wortgleichen Formulierungen“ auf das vom Auswärtigen Amt finanzierte Projekt »Neue Macht, neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie des German Marshall Fund zurückgeht, an dem ausgesuchte Mitglieder der politischen, diplomatischen und publizistischen Elite mitgewirkt hatten. Und als etwas später die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung zu einer außenpolitischen Konferenz lud, nannte es deren Vorstand Ralf Fücks eine „Regression“ deutscher Außenpolitik, dass man sich seit dem Kosovokrieg nur noch zögerlich an militärischen Operationen beteilige. Dem offiziellen Tagungsbericht (Arndt 2014) ist zu entnehmen, dass dies allgemein geteilt wurde – wie auch der Aufruf, die Bundesrepublik müsse „ihren gesamten außenpolitischen Werkzeugkasten sehr viel engagierter nutzen“.

Gaucks Vortrag ließ aufhorchen – weit über den Kreis seiner üblichen Gegner/innen hinaus. In der kritischen Politologie ist schon von einem »Gauckismus« die Rede: Pfeifer und Spandler (2014) beschreiben so ein neues „Amalgam aus geopolitischen Prämissen und protestantisch geprägter Moral“; Wagner (2015) sieht in diesem Zusammenhang die Renaissance eines „Militärchauvinismus“ mehr oder minder traditioneller Bauart heraufziehen. Inwiefern aber entspricht dieser neuen Rhetorik wirklich auch eine neue Politik? Was ist eigentlich drin in jenem »außenpolitischen Werkzeugkasten« und wie benutzt Deutschland diese Instrumente? Was kann daraus für eine kritische Öffentlichkeit, für die Friedensbewegung gefolgert werden? Diesen Fragen versucht der folgende Text am Beispiel des deutschen Agierens im Ukrainekonflikt nachzugehen, das sich im Groben in drei Phasen zu unterteilen lassen scheint.

Öl ins Feuer

Eine erste Phase beginnt Jahre vor dem Winter 2013/2014. Um 2011 leitet Viktor Janukowitsch – 2010 in einer als korrekt eingestuften Wahl Präsident der Ukraine geworden – eine außenpolitische Kursänderung ein. Neben den weiter laufenden Verhandlungen über eine EU-Assoziierung vollzieht der stark von der russischsprachigen Minderheit im Osten des Landes getragene Präsident eine deutliche Annäherung an Moskau; schon kurz nach seinem Amtsantritt unterzeichnet er einen langfristigen Vertrag über die russische Flotte auf der Krim. Was dann geschieht, beschreibt die DAAD-Stipendiatin Iryna Solonenko (2013), die in Frankfurt (Oder) im Umfeld des von der Böll-Stiftung geförderten Promotionskollegs »Externe Demokratieförderung und Zivilgesellschaft im post-sozialistischen Europa« arbeitete, affirmativ-beratend: Die EU setzt auf die (west-) ukrainische Opposition.

Man habe, so Solonenko, um 2011 „eingesehen, dass in Ländern wie der Ukraine für die erfolgreiche Implementierung von Reformen interner Druck und innenpolitische Nachfrage mindestens so wichtig sind wie Anreize und Sanktionen von außen“. In diesem Sinne habe Brüssel ab 2011 im Kontext der „Aufstände in der arabischen Welt“ seine Politik der „Partnerschaft mit der Gesellschaft“ intensiviert und u.a. die „Fazilität für Zivilgesellschaft, die reformorientierte NGOs unterstützen soll“, sowie den »Europäischen Fonds für Demokratie« eingerichtet. Von 2011 bis 2013 habe allein die »Fazilität« 37 Millionen Euro in die »Zivilgesellschaft« der östlichen Nachbarstaaten gepumpt. Ab 2011 hätten „mehr und mehr NGOs ihre Kapazitäten dafür“ eingesetzt, „dass die Ukraine diese wichtige Chance nicht endgültig verpasst“. Es häuften sich die Anzeichen, schreibt Solonenko wenige Monate vor den Maidan-Ereignissen, „dass sich eine Form systematischeren Drucks auf politische Entscheidungsträger entwickelt“.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es greift viel zu kurz, den »Maidan« nur auf diese Politik der »pro-westlichen Landschaftspflege« zurückzuführen und ihn pauschal als extern finanzierten Staatsstreich einzustufen. Solche Bewegungen lassen sich weder einfach von außen »aufbauen« noch sind sie punktgenau zu steuern. Sie haben erhebliche Eigendynamiken, »der Westen« ist für viele Akteure aus verschiedenen Gründen politisch und ökonomisch attraktiv. Die unterstützten Organisationen und Strömungen sind weder einfach Einflussagenten noch steht bei ihnen die Außenpolitik notwendigerweise an erster Stelle; oft kümmern sie sich um reale soziale Probleme. Dennoch ist die »Maidan«-Bewegung bereits in der Entstehung nicht ohne das Kräftefeld denkbar, das von außen aufgebaut wurde, und schon gar nicht ihr »Sieg« ohne den dann demonstrativen Schulterschluss westlicher Regierungen mit einer Bewegung, die sich über Wochen auf einem zentralen Platz verbarrikadierte und schon frühzeitig durch zunehmende Militanz zu der dramatischen Zuspitzung beitrug.

Während diese Politik einer Einbindung der »Zivilgesellschaft« nach dem Lehrbuch jüngerer »Soft Power«-Strategien (Nye 2004, Maaß 2015) ein EU-Projekt war und ist, tat sich Berlin besonders darin hervor, die Platzbesetzer in der heißen Phase zu legitimieren und den Konflikt so weiter anzuheizen. Als sich Anfang Dezember 2013 mit dem damaligen Außenamtschef Guido Westerwelle (FDP) der offizielle außenpolitische Repräsentant jenes Landes dort zeigte, das im Osten Europas als EU-Hauptmacht gilt, war die Entscheidung de facto gefallen. Keine westliche Regierung ging so weit in ihrer Einmischung wie die deutsche. Mehrfach wurde mit dem tatsächlich chancenlosen Ex-Sportstar Vitali Klitschko sogar der kommende Präsident präsentiert. Sollte einmal die Vorgeschichte eines neuen Krimkriegs geschrieben werden müssen, verdient Westerwelle ein Kapital darin.

Diplomatisches Versagen

In der ersten Phase des Konflikts betrieb Berlin also eine ausgesprochen offensive Politik gegen eine korrupte, aber legitime Regierung, die einen unliebsamen außenpolitischen Kurs einschlagen wollte. Die deutsche Politik, die auf einen Regimewechsel zielte, schien aufzugehen und wurde von Westerwelles Amtsnachfolger Frank-Walter Steinmeier (SPD) fortgesetzt. Die Ernte sollte im »Kiewer Vertrag« vom Nachmittag des 21. Februar 2014 eingefahren werden.

Das Abkommen zwischen Präsident Viktor Janukowitsch, dem späteren Ministerpräsidenten Arsenij Jazeniuk, der nationalistischen Partei Swoboda sowie Berlins Favoriten Klitschko wurde von Steinmeier, dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski sowie einem hohen Beamten aus Paris gegengezeichnet. Es sah die Außerkraftsetzung der Janukowitsch-Verfassung von 2010, die Wiedereinsetzung der Juschtschenko-Verfassung von 2004, die Erarbeitung einer neuen Verfassung, eine internationale Untersuchung der Todesschüsse auf dem Maidan sowie vorgezogene Präsidentschaftswahlen vor. Doch noch am selben Abend fand der Sturm auf den Präsidentenpalast statt. Steinmeier, Sikorski und der französische Emissär hatten zwar beim so genannten Maidan-Rat für das Abkommen geworben, für seine Umsetzung aber nichts getan. Kaum war Steinmeier in Berlin aus dem Flugzeug gestiegen, standen die Zeichen auf Eskalation.

Damit begann eine zweite Phase des Konflikts, die nur wenige Wochen andauerte und spätestens Mitte März endete, als auf Rathausdächern im Osten der Ukraine russische Fahnen auftauchten und das vom Westen nicht anerkannte Krim-Referendum stattfand. In dieser Zeit, am besten am Morgen nach dem Putsch in Kiew, hätte man Druck auf die neuen Machthaber aufbauen müssen, um eine Übergangsregierung der nationalen Versöhnung zu schaffen und Teile des Abkommens zu retten. Wäre etwas derartiges gelungen, hätte Russland keine Handhabe gehabt, derart massiv in einem Konflikt zu intervenieren.

Bekanntlich kam es anders: Die »westlichen« Staaten, besonders auch Deutschland, behandelten die zunächst kaum rechtmäßige Regierung, an der extreme Nationalisten auf sicherheitsrelevanten Posten beteiligt waren, wie einen normalen Partner. In Berlin wurde sogar gedrängt, man müsse das EU-Assoziierungsabkommen nun schnell abschließen. Als Russlands Präsident Wladimir Putin wenig später die Angliederung der Krim feierte, war gerade dies sein zentrales und populäres Argument: Der Westen habe so „unprofessionell“ gehandelt, dass man sich in vitalen Sicherheitsfragen nicht auf ihn verlassen könne.

Der Autor weiß nicht, wie in diesen entscheidenden Tagen im Auswärtigen Amt diskutiert wurde. Von deeskalierenden diplomatischen Initiativen allerdings wurde nichts bekannt. Einem Brief Steinmeiers an die SPD-Basis zufolge unterschätzte man die mit Händen zu greifende Dynamik des Konflikts in Berlin geradezu grotesk: „Die Welt ist aus den Fugen. Niemand hätte im vergangenen Jahr die Krisendynamik erahnen können, die unsere Außenpolitik heute auf eine harte Probe stellt“, heißt es darin im September 2014. Dabei hatte Moskau bereits nach der einseitigen Legitimierung des Kosovo gegen das russische Veto im UN-Sicherheitsrat zu verstehen gegeben, man fühle sich nun gleichfalls nicht mehr an die Unverletzlichkeit von Grenzen gebunden.

Moderation ohne Akzente

Das Handeln Deutschlands in dieser entscheidenden Phase war von diplomatischer Kopflosigkeit geprägt. Dass Berlin das Februarabkommen, das einen friedlichen Übergang hätte bringen können, ohne Weiteres fallen ließ, wurde zum Wendepunkt. Danach spitzte sich der Konflikt mit dem Krim-Referendum, dem Massaker von Odessa sowie den aus Russland (wohl nicht nur regierungsseitig) unterstützten Sezessionsbewegungen zunächst dramatisch zu.

In dieser dritten, andauernden Phase traten die USA offen auf den Plan. Nun wird zunehmend mit dem klassischen Instrumentarium von »Hard Power« – hier Sanktionen, militärische Drohgebärden und teils Waffenlieferungen, dort massive Hilfe für die Sezessionisten – gearbeitet. Und nun (erst) veränderte sich Berlins Haltung spürbar: Die Bundesregierung, die erst forsch auf Eskalation gesetzt und dann eine europäische Lösung verspielt hatte, nimmt jetzt die Rolle einer Bremserin und Moderatorin ein. Im einsetzenden Wirtschaftskrieg trat Berlin eher zögerlich auf; zugleich versuchte man nicht ganz ohne Erfolg, die Falken aus Übersee und der östlichen EU zu bremsen. Das – wenn auch stets prekäre – Einfrieren des Konflikts um die »Volksrepubliken« von Lugansk und Donezk (»Minsker Abkommen« vom September 2014 und Februar 2015) ist durchaus auch ein deutscher Erfolg.

Allerdings setzt Berlin ganz im Gegensatz zur Rhetorik der »Verantwortung« keinerlei Akzente. So wird (zumindest nicht nachvollziehbar) bei ukrainischen Verletzungen der »Minsk-Abkommen« kein Druck auf die Regierung in Kiew ausgeübt, während vermeintlich oder tatsächlich von Moskau ausgehendes Zuwiderhandeln skandalisiert und sanktioniert wird. Obgleich das Völkerrecht kein Dekalog ist und, wie der Hamburger Rechtsprofessor Reinhard Merkel (2014) lesenswert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dargelegt hat, auch anders ausgelegt werden kann, beharrt Berlin darauf, die »völkerrechtswidrige Annexion« der Krim durch den »Aggressor« Russland sowie die Verletzung der »territorialen Unversehrtheit« der Ukraine zu brandmarken. Wenn damit eine »Rückgabe« der Krim gemeint ist, so ist das utopisch, nicht nur gegenüber der Regierung Putin, sondern gegenüber allen Folgeregierungen. Eine Normalisierung der Ukraine scheint ohne eine – wie auch immer konstruierte – Berücksichtigung des Status quo auf der Krim undenkbar. Womöglich könnte eine solche Perspektive Moskau dazu bewegen, auf eine Überführung der »Volksrepubliken« in Autonomieregionen innerhalb der Ukraine hinzuwirken. Allerdings gewinnen auch diese an Eigendynamik. Ob der Kreml, wenn er wollte, die Sezessionsbewegung dort noch einfach zurückpfeifen könnte, scheint offen.

»Smart Power« und der Abschied von Galtung

Inwiefern finden sich nun in diesem Handeln Anzeichen einer »gauckistischen« Wende? Marschiert ein neuer »Militärchauvinismus«? Gibt es, wie Albrecht von Lucke (2014) zur Gauck-Rede anmerkt, einen „Wechsel von einer Kultur der Zurückhaltung zu einer ‚Kultur der Kriegsfähigkeit' (Josef Joffe)“ und einen „Wechsel von einer Kultur der Werte zu einer Kultur der Interessen“? Wäre, wie Spandler und Pfeifer (2014) schreiben, dem zunehmend waffenstarrenden Diskurs eine Revitalisierung des „Friedensmachtkonzepts“ entgegenzusetzen? Ich meine, dass sich aus der Analyse des deutschen Agierens im Ukrainekonflikt für die Friedensbewegung etwas ganz anderes ergibt: nämlich die Folgerung, dass solche Gegenüberstellungen nicht mehr greifen und daher weitreichende, nicht unproblematische Diskussionen anstehen.

Zumindest muss beim »Interesse« differenziert werden. Das Agieren Berlins mag im strategischen Interesse einer Treue zur NATO liegen, die in diesem Konflikt ihr 1990 errungenes Monopol auf das Leben-Machen und Sterben-Lassen von Staaten verteidigt. Deutschlands ökonomisches Interesse wird aber grob verletzt, was sich im defensiven Verhalten der Kapitalverbände manifestiert, das traditionellen Imperialismustheorien geradezu Hohn spricht. Offenbar kann eine Interessen und Kompromisse abwägende Politik dem Frieden dienlicher sein als eine gesinnungsethische, auf »Werten« basierende. Nicht umsonst erwiesen sich gerade gewisse Teile der Grünen als besonders aggressiv. Schon weil Werthaltungen subjektiv sind, ist die Gegenüberstellung von »Werten« und »Interessen« prekär. Zu den erhellenden Passagen jener Gauck-Rede gehört die Feststellung, dass viele zwischen »Werten« und geostrategischen Interessen des »Westens« keinen Widerspruch sehen. »Wir« sind nun mal die Guten.

Der Konflikt zeigt ferner, dass auch eine normative Gegenüberstellung »friedlicher« und »kriegerischer« Mittel erodiert. Auch mit zivilen Mitteln lässt sich ausgesprochen aggressiv auftreten. Um das Argument zuzuspitzen: In zeitgenössischen Konzepten von »Smart Power«, die »harte« und »weiche» Macht flexibel verzahnen, besteht zwischen Künstlerstipendium, NGO-Förderung, Warenboykott und Bombenangriff ein nur gradueller Unterschied. Das wirklich neue, gefährliche, im Ukrainekonflikt offensiv genutzte Instrument im »Werkzeugkasten« stammt nicht aus der militaristischen Rumpelkammer, sondern aus dem Repertoire der »Soft Power«: Es ist die »Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft« in als »Störer« identifizierten Ländern. Diese ist erstens geeignet, unkontrollierbare innere Spannungen zu fördern, die erhebliche innere wie äußere Eskalationsgefahren bergen. Eine solche Politik gezielter Verzahnung von Regierungshandeln und gesellschaftlichem Engagement kann zudem im Sinne ihrer erklärten Ziele kontraproduktiv sein: Sie bringt etwa das Eintreten für Minderheitenrechte in den permanenten Verdacht, Teil einer externen Regimewechselstrategie zu sein. Sie trägt zu einer zusätzlichen Politisierung selbst harmloser Anliegen bei und kann in den Zielländern Repression noch verschärfen. Um in Zukunft Menschenrechts- oder Gewerkschaftsinitiativen zu stützen, müssten neue Rahmen gefunden werden. Als Feature des Regierungshandelns von Staaten oder Staatenbündnissen ist dieses Instrumentarium nachhaltig kontaminiert.

Für die Friedensbewegung ist von Bedeutung, dass dieser zivilgesellschaftliche Interventionismus formal auf Praxen transnationaler Vernetzung sozialer Bewegungen fußt, die nun in internationales Regierungshandeln übersetzt werden. Es ist kein Zufall, dass etwa in Deutschland entsprechende Agenden von Rot-Grün aufgesetzt wurden; 2004 entstand etwa das im Wortsinn absurde Institut eines »Regierungskoordinators« für die »zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft«.

Auf die feindliche Übernahme von Grassroots-Politiken kann die Friedensbewegung auf zwei Arten reagieren: Sie kann, wozu nicht nur Teile der Grünen sondern auch der Linkspartei zu neigen scheinen, die Selektivität dieses Interventionismus skandalisieren: Druck wird nur dort gemacht, wo es passt. Das ist dann nichts anderes als die Forderung nach noch mehr, wenn auch (zunächst) ziviler, Intervention. Die Alternative wäre eine anti-interventionistische Neuaufstellung, die freilich kategorial sein müsste, um zu mobilisieren. Überprüft werden müsste dann die traditionelle Neigung der Linken zu »idealistischen« Auffassungen internationaler Politik. Kommt nicht das Hoffen auf die Verrechtlichung und Institutionalisierung derselben dem Reiten eines toten Pferdes gleich, seit nicht nur der »Westen« Völkerrecht und Vereinte Nationen nur noch als eine Option betrachtet, sondern auch Russland seinen durch Schwäche begründeten internationalen Legalismus der 1990er und frühen 2000er Jahre aufgibt?

Entwickelt werden müsste ein »kritischer Realismus«, der die Welt als Kräftemessen betrachtet, ohne – wie »Realisten« à la Christian Hacke und neuerdings Herfried Münkler – in den Generalstab einzurücken oder sich nach Art des »Antiimperialismus« mit allen zu verbünden, die die Dominanzmächte ärgern. Nicht zurückschrecken dürfte man in diesem Sinne vor einer Neufassung des »positiven« Friedensbegriffs nach Johan Galtung, der nicht nur die Abwesenheit von Krieg zwischen den Staaten umfasst, sondern auch soziale Gerechtigkeit in denselben. Diese einst progressive Begrifflichkeit ist heute Basis jener Praktiken des »Demokratieexports«, die binnen 15 Jahren fast den ganzen arabischen Raum in einen Albtraum verwandelt haben. Stark gemacht werden müssten ihr gegenüber einst als konservativ verstandene Prinzipien wie die Nicht-Einmischung in die Politik souveräner Staaten. Die Abwesenheit von Krieg ist angesichts der vergangenen Jahrzehnte vielleicht bereits ein lohnendes Ziel.

Der Nachteil einer solchen Wendung bestünde u.a. darin, dass sich etwa im politologischen Diskurs kaum Anschlussstellen fänden. Zugleich steht allerdings eine Großzahl der Bundesbürger dem Interventionismus kritisch gegenüber. Der vorliegende Text will trotz seiner pointierten Form kein Manifest darstellen. Er will aber aufzeigen, zwischen welchen Polen diskutiert werden könnte, wenn nicht sogar müsste.

Literatur

Torsten Arndt: Deutsche Außenpolitik – Auf dem Weg zu mehr Verantwortung? Tagungsbericht vom 30.6.2014 auf boell.de.

Joachim Gauck: Deutschlands Rolle in der Welt – Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Rede des Bundespräsidenten zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz vom 31. Januar 2014.

Albrecht von Lucke: Der nützliche Herr Gauck. Deutsche Blätter für deutsche und internationale Politik 3'14.

Reinhard Merkel: Die Krim und das Völkerrecht – Kühle Ironie der Geschichte. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.4. 2014.

Kurt-Jürgen Maaß (Hrsg.). (2015): Kultur und Außenpolitik – Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos.

Joseph S. Nye (2004): Soft Power – The Means to Success in World Politics. New York: Public Affairs.

Hanna Pfeifer und Kilian Spandler: Komplexität aufbauen statt abbauen – Wider eine Politik der neuen deutschen Verantwortung. Huffington Post, 16.10.2014.

Iryna Solonenko: Eher Partner als Geber – die EU und die ukrainische Zivilgesellschaft. Bundeszentrale für politische Bildung, 15.3.2013.

Frank-Walter Steinmeier (2014): [Brief] An die Mitglieder der SPD, 8. September 2014. Der Brief ist dokumentiert als Anhang zu Velten Schäfer: In Steinmeiers Welt – An allem ist nur Russland schuld: Deutschlands Außenminister erklärt seiner Partei den Ukraine-Konflikt. neues deutschland, 12.9.2014, online bei ag-friedensforschung.de.

Jürgen Wagner (2015): Deutschlands (neue) Großmachtambitionen – Von der »Kultur (militärischer) Zurückhaltung« zur »Kultur der Kriegsfähigkeit«. IMI-Studie 02/2015.

Velten Schäfer ist innenpolitischer Redakteur der Tageszeitung »neues deutschland«.