Nicht unter »Generalverdacht«, aber unter kritischem Blick

Nicht unter »Generalverdacht«, aber unter kritischem Blick

Was Sozialwissenschaftler im Detail am Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus interessieren könnte

von Albert Fuchs

Der vorliegende Entwurf eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramms zum Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus entstand in Aufarbeitung des vergeblichen Versuchs, einen entsprechenden Beitrag für W&F zu akquirieren. Darin sollte aus gegebenem Anlaß die einschlägige Forschungslage dargestellt werden. Der Versuch scheiterte mangels relevanter, empirisch fundierter Erkenntnisse. Vor diesem Hintergrund werden zentrale Forschungsdesiderate skizziert: eine hinlängliche Begriffsklärung, die Erarbeitung eines geeigneten Untersuchungsinstrumentariums, die Bestimmung der Prävalenz und Entwicklung rechtsextremistischer Vorkommnisse, Vernetzungen, und Orientierungsmuster im Bereich der Bundeswehr, die Prüfung spezifischer Erklärungsansätze sowie die Bewertung und Entwicklung geeigneter Auseinandersetzungsstrategien. Zum Abschluss werden einige Bedingungen der Realisierung des skizzierten Programms zur Diskussion gestellt.

Die Nachricht vom Auftritt des bundesweit bekannten, einschlägig vorbestraften Neonazis Manfred Roeder als Vortragsredner im Rahmen der »Offiziersweiterbildung« an der Führungsakademie der Bundeswehr (z.B. Der Spiegel vom 08.12.97, S. 16) führte Ende 97/Anfang 98 zu einem mächtigen Rauschen des Themas Bundeswehr und Rechtsextremismus durch den deutschen Blätterwald. Nach einigem Hin und Her reagierte die politische Klasse mit der (erstmaligen) Konstituierung des Verteidigungsausschusses des Bundestags als Untersuchungsausschuss (vgl. Wissenschaft und Frieden, 1998). Im Juni 98 legte dieser Verteidigungs-Untersuchungsauschuss einen voluminösen Abschlussbericht vor; die AusschussvertreterInnnen von Bündnis 90/Die Grünen unterbreiteten zur gleichen Zeit einen Minderheitenbericht. Seither herrscht praktisch wieder »Schweigen im Wald«.

Ist mit den besagten Berichten dem Aufklärungsbedarf der Gesellschaft zu dem heiklen Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus Genüge getan? Hat sich das Problem aufgrund der Arbeit des Untersuchungsausschusses vielleicht sogar erledigt? Letzteres mit Sicherheit nicht, ersteres höchstwahrscheinlich auch nicht. Nach wie vor stellen die meisten Behauptungen und Erklärungen zu diesem Thema, die mit dem Anspruch gesicherter Erkenntnis angeboten werden, letztlich nur subjektive Einschätzungen und Vermutungen dar und dürften dementsprechend vor allem die jeweilige politische Interessenlage widerspiegeln. Einen Ausweg aus dieser Verquickung von Fakt, Fiktion und Interesse bietet nur solide empirische Forschung.

Was aber könnte und sollte Sozialwissenschaftler am Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus im Detail interessieren? In der öffentlichen Diskussion des vergangenen Jahres wurden vor allem zwei politisch brisante Fragenkomplexe ventiliert: die Frage der Entwicklung rechtsextremer Vorfälle und Orientierungen in der »Armee der Einheit« und die Frage der Bedeutung der Neuformierung der Bundeswehr für diese Entwicklung. Doch bevor man sich an die Klärung solcher Fragen machen kann, ist einige Vorarbeit zu leisten, und außer diesen beiden gibt es andere substantielle Fragen, die die intrinsische Neugier von Sozialwissenschaftlern stimulieren können. Das beginnt mit der Begriffsbestimmung.

Probleme der Begriffsbestimmung

Der Rechtsextremismusbegriff ist weder in der öffentlichen noch in der wissenschaftlichen Diskussion so weit normiert, dass man hinlängliche Übereinstimmung der Diskussionteilnehmer im Begriffsverständnis voraussetzen kann. Aus methodisch-forschungstechnischen, theoretischen und auch politisch-praktischen Gründen ist es daher unabdingbar, sich zunächst eingehend mit der Definitionsproblematik auseinanderzusetzen (vgl. Druwe & Mantino, 1996). Hier sei nur hingewiesen auf einige konzeptionelle Entscheidungspunkte, die man im analytischen Vorfeld zu passieren hat.

Auf einer ersten Ebene geht es um die Frage der Untersuchungseinheit. Hier steht ein institutionsbezogener, sich an den auf der gesellschaftlich-politischen Bühne zu beobachtenden organisatorischen Verfestigungen (Parteien, Verbände, Subkulturen . . .) orientierender Ansatz einem individuumbezogenen Ansatz gegenüber. Soweit man diesen Ansatz zugrundelegt, mag man sich mit manifestem Verhalten (Wahlverhalten, Mitgliedschaften, Protestverhalten . . .) begnügen oder aber Orientierungen (Einstellungen und Einstellungsmuster) einbeziehen. Auf der Einstellungs-Ebene steht zur Diskussion, wie die rechtsextreme Orientierung genauer zu konzipieren ist: als Verbindung einer Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit mit Gewaltakzeptanz und Gewaltbereitschaft, wie es vor allem Heitmeyer (z.B. 1992, S. 10) propagiert, oder als Kombination diverser Komponenten einer Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit mit bestimmten formalen oder strukturellen Merkmalen des Denkens (wie Rigidität, Intoleranz gegen Mehrdeutigkeit . . .), wie es Forscher vertreten, die der Totalitarismustheorie nahezustehen scheinen (z.B. Backes, 1998). Wie immer man sich auf dieser dritten Ebene entscheidet, auf einer vierten ist darüber zu befinden, was die Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit im einzelnen beinhalten soll. In der Literatur zu findende diesbezügliche »Angebote« sind in Abbildung 1 dargestellt.

Zum Rechtsextremismuskonzept
Abb. 1: Entscheidungsalternativen zum Rechtsextremismuskonzept

Für alle Optionen in dem skizzierten Entscheidungsraum gibt es mehr oder weniger überzeugende Argumente, die zu sichten und zu bewerten sind, um zu einem fundierten Rahmenkonzept zu gelangen. Die angesprochenen Alternativen schließen sich allerdings nicht gegenseitig aus, sondern sind eher komplementär; insofern sollte man diesen Entscheidungsraum vor allem als einen durch empirische Forschung zu füllenden Suchraum betrachten. Eine besonders diffizile konzeptuelle Vorfrage scheint mir zu sein, wie man den alten und neuen militärpolitischen Traditionalismus in der Bundeswehrführung einordnen soll: als rechtsextremistische Orientierungsvariante eigener Art oder als (potentiellen) Bestimmungsfaktor der ansonsten zu konstatierenden rechtsextremistischen Vorkommnisse und Tendenzen (vgl. Bald, 1998a, 1998b).

Mit ähnlichen analytischen Unsicherheiten ist die sogenannte Traditionspflege behaftet, die durch Erlasse und Dienstvorschriften vorgesehene normative, vor allem aber die faktisch vorzufindende und von den Vorgesetzten geduldete. Schließlich ist zu prüfen, ob für das gegebene Problemfeld nicht Spezifikationen der in Abbildung 1 aufgeführten Komponenten der Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit angezeigt sind, z.B eine Spezifikation der Komponente Geschichtsrevisionismus unter dem Gesichtspunkt „Wie hältst du's mit der Wehrmacht?“ (Vogel, 1990).

Untersuchungsinstrumentarium

Nach hinlänglicher Klärung der Definitionsfrage kann man sich an die Entwicklung eines geeigneten Untersuchungsinstrumentariums machen. Angesichts der angedeuteten konzeptuellen Probleme ist auch bei diesem Schritt mit einigem Arbeitsaufwand zu rechnen. Zudem sind die meisten der vorliegenden Instrumente in messtheoretischer Hinsicht eher anspruchslos; beispielsweise begnügt man sich vielfach mit einem oder zwei Items als Indikatoren von Konstrukten mit erheblichem Bedeutungsüberschuss. Man wird sich also bei diesem Schritt kaum auf die Prüfung und Zusammenstellung vorliegender Skalen beschränken können, sondern eigene Konstruktionsarbeit leisten müssen. Der durchgehend gesehene Syndrom-Charakter des rechtsextremen Denkens könnte in methodischer Hinsicht eine besondere Herausforderung darstellen.

Eine besondere methodische Herausforderung ergibt sich auch daraus, dass es sich bei vielen Bundeswehrangehörigen um eine der »politischen Korrektheit« ihrer Äußerungen und Stellungnahmen wohl bewußte Klientel handeln dürfte. Die üblichen Einstellungsskalen erscheinen folglich aufgrund ihrer Transparenz wenig geeignet für eine Anwendung im vorliegenden Problemfeld; zumindest sollte ihre Eignung nicht einfach unterstellt, sondern zunächst geprüft werden.

Ein weitere methodische Herausforderung ergibt sich daraus, dass nicht jedes rechtsextremistisch motivierte »besondere Vorkommnis« (MAD-Terminologie) jedem anderen im Hinblick auf seinen Rechtsextremismusgehalt gleichwertig ist und damit auch nicht gleich aufschlussreich für den Zustand der Truppe. Man benötigt demnach zur Erfassung des Rechtsextremismusgehalts der »besonderen Vorkommnisse« eine Skala von der Art von Thurstones (1927) Metrik für die Schwere von Verbrechen. Erst in Verbindung mit metrischer Information dieser Art können Häufigkeitsangaben validen Aufschluss geben über die Rechtsextremismusbelastung der Bundeswehr. Die simple Unterscheidung von Propagandadelikten und Fällen von Bedrohung und Gewaltanwendung ist bestenfalls ein erster Schritt in diese Richtung.

Ein solcher quantifizierender Ansatz könnte auch dazu beitragen, manches konzeptuelle Abgrenzungsproblem wie im Falle fragwürdiger Traditionspflege zumindest zu entschärfen. Zum andern könnte eine derartige Standardmetrik zur indirekten Erfassung rechtsextremistischer Einstellungen Verwendung finden und damit die Schwierigkeiten beheben helfen, die dem Versuch anhaften, mit leicht durchschaubaren Instrumenten der herkömmlichen Machart die Einstellungen von Bundeswehrangehörigen zu erfassen. Dabei würde man sich den spätestens mit der Arbeit von Hovland & Sherif (1952) nachgewiesenen Einfluss von Einstellungen auf Beurteilungsleistungen diagnostisch bzw. forschungsstrategisch zunutze machen.

Zur Sache

Nach der skizzierten, m.E. unabdingbaren Vorarbeit kann man die Bearbeitung der eigentlichen Fragen zur Sache aufnehmen. Ich sehe drei umschriebene, wenngleich interdependente Komplexe: 1. Prävalenz und Entwicklung der besonderen Vorkommnisse, rechtsextremistischer Orientierungsmuster und einschlägiger Assoziationen und Vernetzungen im Bereich der Bundeswehr; 2. spezifische Erklärungsansätze; 3. Wirkungen offiziöser Strategien gegen Rechtsextremismus in der Bundeswehr.

  1. 1. Der Komplex Prävalenz und Entwicklung rechtsextremistischer Vorfälle und Orientierungen im Bereich der Bundeswehr steht in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund, und die beiden Teilkomplexe werden als zwei Seiten einer Medaille gehandelt. Aus forschungsstrategischer Perspektive sind Prävalenzfragen jedoch Entwicklungsfragen vorgeordnet, d.h. um zu wissenschaftlich vertretbaren Aussagen über Entwicklungsverläufe zu gelangen, muss man zumindest über zwei (unter vergleichbaren Bedingungen gewonnene) Prävalenzbefunde im Querschnitt verfügen. Im übrigen lässt sich der Komplex Prävalenz und Entwicklung zwar analytisch von dem Komplex Erklärungen trennen, kann aber forschungstrategisch und forschungspraktisch kaum anders als in Wechselwirkung mit der Bearbeitung dieses Komplexes bearbeitet werden.
  2. 2. Die von der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung diskutierten allgemeinen Erklärungsansätze (vgl. Eckert, Willems & Würtz, 1996; Stöss, 1994; Winkler, 1996) scheinen mir im Falle der Bundeswehr von nachgeordneter Bedeutung zu sein. Im Vordergrund stehen hier Ansätze, die in der politischen Diskussion ventiliert werden. Von seiten der für die deutsche Militär- und Sicherheitspolitik Verantwortlichen – einschließlich der Wehrbeauftragten des Bundestags – bemüht man meist eine etwas naiv anmutende »Spiegeltheorie«. Danach kommen in der Bundeswehr als Teil der deutschen Gesellschaft rechtsextremistische Orientierungen und Verhaltensweisen in Art und Ausmaß zur Geltung, wie sie auch in der Gesamtgesellschaft vorhanden sind. Der instrumentelle – genauer: defensive – Charakter dieser These liegt auf der Hand; schlichtweg ignoriert wird dabei, dass sich ein Großteil der Wehrpflichtigen gemäß Art. 4 Abs. 3 GG für den Zivildienst statt für den Dienst mit der Waffe entscheidet. Zudem legen die Befunde einschlägiger Einstellungsuntersuchungen, so spärlich diese auch sind, einen selektionstheoretischen Ansatz nahe (vgl. Bonnemann & Hofmann-Broll, 1997; Gessenharter, Fröchling & Krupp, 1978; Kohr, Lippert, Meyer & Sauter, 1993; Seifert, 1994).

Das besagt zunächst (nur), dass die Institution Bundeswehr vor allem für Leute attraktiv ist, die politisch eher rechts orientiert sind, national und machtpolitisch denken. Ob darüber hinaus seitens der militärischen Vorgesetzten auch eine aktive Selektion betrieben wird dergestalt, dass Leute der besagten Orientierung „die größten Chancen auf gute Beurteilungen, schnelle Beförderung und steile Karriere“ haben (Vogt, 1998, S. 53), mag ein Insider wohlbegründet vermuten und auch durch kasuistische Evidenz erhärten können; Mechanismen und Tragweite dieser aktiven Selektion aber bleiben genauer zu erforschen. Schließlich ist zu klären, ob die Attraktivität der Bundeswehr für rechts Orientierte und das Gewicht der unterstellten aktiven Selektion mit der Umstrukturierung der Bundeswehr in der ersten Hälfte der 90er Jahre zugenommen haben.

Diese zuletzt charakterisierte Variante der Selektionsthese geht unmerklich über in einen Erklärungsansatz, den man als »Induktionsthese« bezeichnen kann. Dieser These zufolge schafft die Bundeswehrführung selber die Bedingungen für rechtsextremistische Skandale und Orientierungen, sind diese im besonderen ein Ergebnis der Neuformierung und Neustrukturierung der Streitkräfte, ist das rechtsextreme Gedankengut geradezu ein Entwicklungsprodukt der »Kampfspiele« der Soldaten der Krisenreaktionskräfte, d.h. ihrer Vorbereitungsübungen im Inland.

Für Sozialwissenschaftler dürfte es wiederum eine interessante Herausforderung darstellen, die konkurrierenden Erklärungsansätze empirisch gegeneinander zu testen. Mit den skizzierten Ansätzen ist allerdings nur ein grober Rahmen abgesteckt. Dem Minderheitenbericht der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen im 1. Untersuchungsausschuss des Verteidigungsausschusses sind interessante weitere Hypothesen zu entnehmen (u.a. zur Rolle des Führungsstils des Verteidigungsministers, zum aktuellen Status der Inneren Führung und zur herrschenden Praxis der Politischen Bildung, zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege . . .), die geeignet erscheinen, das Bild wesentlich zu differenzieren und zwischen den globalen Erklärungsansätzen zu vermitteln (Bündnis 90/Die Grünen, 1998; vgl. auch Wette, 1998).

Bei aller notwendigen Konzentration auf die spezifische Erklärungsproblematik sollte man schließlich den (möglichen) Zusammenhang diverser Formen von Rechtsextremismus in der Bundeswehr mit der einschlägigen politischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung seit der Epochenwende, die Gessenharter & Fröchling (1998) eine „Neuvermessung des politisch-ideologischen Raumes“ erforderlich erscheinen lässt, nicht außer Acht lassen. Ob und in welchem Ausmaß dieser »distale Faktor« von Bedeutung ist, kann ebenso wenig a priori entschieden werden wie in den anderen Fällen.

3. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus kann sich nicht auf Fragen der Verbreitung und Entwicklung von rechtsextremistischen Vorkommnissen, Orientierungen und Zusammenschlüssen und auf die Klärung der Ursachen dafür beschränken; es geht auch um angemessene Strategien gegen eine Unterwanderung der Bundeswehr von rechts bzw. um die Angemessenheit der von den politisch Verantwortlichen entworfenen und realisierten Gegenstrategien. Aus der Perspektive des »concerned scientist« ist dieses Forschungsinteresse dem wissenschaftlichen Interesse i.e.S. sogar übergeordnet.

Eine indirekte Evaluierung von Strategien der Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen Tendenzen in der Bundeswehr ergibt sich aus der geforderten Ursachenforschung. Sollte sich beispielsweise die These der aktiven Selektion oder gar die Induktionsthese empirisch bewähren, wären damit die diversen pädagogischen, dienst-, disziplinar- und strafrechtlichen Maßnahmen, mit denen die Bundeswehrführung Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in der Truppe entgegenwirken will (vgl. Bagger, 1997), weitgehend diskreditiert. Denn ein solcher Befund würde bedeuten, dass man mit einem Feuerwerk von besonderen Maßnahmen verhindern bzw. beheben will, was man durch die sogenannte Normalisierung der deutschen Militärpolitik befördert. Eine derartige Inkongruenz von latentem und manifestem »Lehrplan« in Sachen Rechtsextremismus könnte aber im Sinne der Leitidee Staatsbürger in Uniform nur kontraproduktiv sein

Eine direktere Evaluierung erfordert der politische Umgang der Bundeswehrführung mit der Problematik – von der Weigerung, die Bundeswehr für sozialwissenschaftliche Untersuchungen »von außen« zu öffnen, über diverse Formen eventueller Problemverleugnung (»Einzelfallthese«, »Spiegeltheorie« . . .) bis zur Diffamierung und politischen Bekämpfung derjenigen, die das Problem immer wieder aufgreifen, die »besonderen Vorkommnisse« an die Öffentlichkeit bringen oder andere Formen der Auseinandersetzung fordern. Auch in dieser Evaluationshinsicht verdient die Frage nach dem Verhältnis von latentem und manifestem Lehrplan besondere Aufmerksamkeit.

Drittens stehen die Auswirkungen der expliziten und offiziösen Versuche, die Gefahr einer »Rechtsdrehung« der Bundeswehr zu bannen, zur Diskussion. Das oben angesprochene Papier des »Arbeitskreises Rechtsextremismus« der Bundeswehrführung (Bagger, 1997) enthält einen auf den ersten Blick beeindruckenden Katalog von Maßnahmen und Zielsetzungen. Aufzuzeigen wäre jedoch, wie das alles mit Prinzipien der Inneren Führung zusammenhängt und mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform in Einklang steht. Das wiederum hat zur Voraussetzung dass diese normativen Vorstellungen soweit geklärt werden, dass sie – wenn man ernsthaft empirische Evidenz zur Effektivität bestimmter Interventionen gewinnen will – »operationalisierbar« sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch in diesem Zusammenhang die Frage, ob die avisierten Maßnahmen sich nicht als kontraproduktiv herausstellen.

Schließlich sollte die skizzierte deskriptive Forschung auch dazu führen, Strategien der Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen Tendenzen in den Streitkräften zu entwickeln, die sich am Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und den Prinzipien der Inneren Führung orientieren und zu deren Weiterentwicklung unter der Perspektive einer transnationalen Verwendung der Bundeswehr beitragen.

Fazit

Es ist kaum zu verstehen, warum die politisch Verantwortlichen angesichts der Verquickung von Fakt, Fiktion und Interesse in Sachen Bundeswehr und Rechtsextremismus nicht längst den skizzierten Ausweg solider empirischer Forschung gesucht und statt dessen relevante Forschungsvorhaben selbst von Angehörigen von Forschungseinrichtungen der Bundeswehr anscheinend eher behindert als unterstützt haben. Dieser obstruktiven Handlungsweise liegt bestenfalls die Befürchtung zugrunde, ein wissenschaftlicher Diskurs zum Thema Bundeswehr und Rechtsextremismus werde ein entsprechendes Problem erst produzieren. Schlimmstenfalls möchte man eigene politische Ziele befördern, indem man dieses Problemfeld wissenschaftlich unbeackert läßt. Vielleicht glaubt man aber auch nur, es sich irgendwie schuldig zu sein, die Probleme ohne Unterstützung »von außen« zu bewältigen. Sich aus diesen und anderen Mehrdeutigkeiten befreien und in Sachen Bundeswehr und Rechtsextremismus Glaubwürdigkeit gewinnen können die politisch Verantwortlichen m.E. nur, indem sie ihre Obstruktion aufgeben. Nach dem Regierungswechsel sollte das leichter fallen, da die nun Verantwortlichen mit einer Neuorientierung nicht eigenes früheres Verhalten in Frage zu stellen brauchen.

Andererseits ist es kaum realistisch, diesbezüglich besondere Erwartungen zu hegen und auf den großen Auftrag – mit einem alle Kasernentore öffnenden Empfehlungsschreiben der Bundeswehrführung und mit großzügig bemessenen Forschungsmitteln – zu spekulieren; dafür ist die Bundeswehrführung vermutlich selbst zu sehr in die Problematik verstrickt. Man muss also eine möglichst autonome Arbeitsmotivation entwickeln. Im vorausgehenden wurde demgemäß zu erläutern versucht, dass eine sozialwissenschaftliche Bearbeitung des Problemfeldes Bundeswehr und Rechtsextremismus in disziplinärer Perspektive sehr reizvoll sein könnte. Die eigentliche Aufgabe ist damit jedoch erst grob skizziert. Um weiterzukommen, sollte man ein entsprechendes Forschungsprogramm interdisziplinär und soweit möglich modular konzipieren und mit den verfügbaren Mitteln in Angriff nehmen.

Damit man die trotz bestenfalls bedingter und eingeschränkter Kooperationsbereitschaft der Bundeswehrführung gegebenen Mittel und Möglichkeiten überhaupt wahrzunehmen vermag, muss man sich wahrscheinlich auch mit Blockaden bei sich selbst auseinandersetzen. Um eine »fundierte Position« in Sachen Bundeswehr und Rechtsextremismus zu erarbeiten, muss man als zivilistischer Wissenschaftler oder zivilistische Wissenschaftlerin, denke ich, sowohl Blockaden aufgrund der Angst vor einer missdeutbaren Nähe zum Militärischen überwinden als auch Blockaden aufgrund des Bedürfnisses nach einer illusionären Distanz.

Literaturverzeichnis

Backes, U. (1998): Rechtsextremismus in Deutschland. Ideologien, Organisation und Strategien. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9-10/98, S. 27-35.

Bagger, H. (1997): Statement des Generalinspekteurs der Bundeswehr anläßlich der Pressekonferenz am 19.11.1997 zum Thema »Ergebnisse des Arbeitskreises Rechtsextremismus«. Bonn, Bundesministerium der Verteidigung.

Bald, D. (1998a): Ein Gespenst geht um in Deutschland. Der Traditionalismus in der Bundeswehr. Wissenschaft und Frieden, 16 (1), S. 48-51.

Bald, D. (1998b): Neotraditionalismus und Extremismus – eine Gefährdung für die Bundeswehr. In R. Mutz, B. Schoch & F. Solms (Hrsg.), Friedensgutachten 1998 (S. 277-288). Münster, Lit.

Bonnemann, A.U. & Hofmann-Broll, U. (1997): Studierende und Politik: Wo stehen die Studierenden der Bundeswehruniversitäten? Sicherheit und Frieden, 15, S. 145-162.

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Druwe, U. & Mantino, S. (1996): »Rechtsextremismus«, Methodologische Bemerkungen zu einem politikwissenschaftlichen Begriff. In J.W. Falter, G. Jaschke & J.R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (S. 66-80). Opladen, Westdeutscher Verlag.

Eckert, R., Willems, H. & Würtz, S. (1996): Erklärungsmuster fremdenfeindlicher Gewalt im empirischen Test. In J.W. Falter, G. Jaschke & J.R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (S. 152-167). Opladen, Westdeutscher Verlag.

Gessenharter, W. & Fröchling, H. (Hrsg.) (1998): Rechtsextremismus und Neue Rechte in Deutschland. Neuvermessung eines politisch-ideologischen Raumes?. Opladen, Leske & Budrich.

Gessenharter, W., Fröchling, H. & Krupp, B. (1978): Rechtsextremismus als normativ-praktisches Forschungsproblem. Eine empirische Analyse der Einstellungen von studierenden Offizieren der Hochschule der Bundeswehr Hamburg sowie von militärischen und zivilen Vergleichsgruppen. Weinheim, Beltz.

Heitmeyer, W. (1992): Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Weinheim/München, Juventa.

Hovland, C.I. & Sherif, M. (1952): Judgmental phenomena and scales of attitude measurement: item displacement in Thurstone scales. Journal of Abnormal and Social Psychology, 47, S. 822-832.

Kohr, H.-U., Lippert, E., Meyer, G.-M. & Sauter, J. (1993): Jugend, Bundeswehr und deutsche Einheit. Berichte 62. München, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr.

Seifert, R. (1994): Disziplin, Wertewandel, Subjektivität. Ein Beitrag zum Verständnis soldatischer Identität in den 90er Jahren. Berichte 61. München, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr.

Stöss, R. (1994): Forschungs- und Erklärungsansätze – ein Überblick. In W. Kowalsky & W. Schroeder (Hrsg.), Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz (S. 23-66). Opladen, Westdeutscher Verlag.

Thurstone, L.L. (1927): Method of paired comparisons for social values. Journal of Abnormal and Social Psychology, 21, S. 384-400.

Vogel, W. (1990): Wie hältst du's mit der Wehrmacht? Truppenpraxis, 34, S. 268-271.

Vogt, W. (1998): Augen auf statt »Rechts um«! – Interview mit Wolfgang Vogt. Wissenschaft und Frieden, 16 (1), S. 52-55.

Wette, W. (1998): Wehrmachtstraditionen und Bundeswehr. Deutsche Machtphantasien im Zeichen der Neuen Militärpolitik und des Rechtsradikalismus. In J. Klotz (Hrsg.), Vorbild Wehrmacht? (S. 126-154). Köln, Papy Rossa.

Winkler, J.R. (1996): Bausteine einer allgemeinen Theorie des Rechtsextremismus. Zur Stellung und Integration von Persönlichkeits- und Umweltfaktoren. In J.W. Falter, G. Jaschke & J.R. Winkler (Hrsg.): Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (S. 25-48). Opladen, Westdeutscher Verlag.

Wissenschaft und Frieden (1998). Rechtsextreme und Bundeswehr. Verteidigungsausschuss tagt als Untersuchungsausschuss. Wissenschaft und Frieden, 16 (1), S. 56-58.

Eine ausführliche Version des vorliegenden Beitrags, die vor allem auch politisch-normative Überlegungen zur Begründung des skizzierten Programms einschließt, erscheint als Arbeitspapier des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK).

PD Dr. Albert Fuchs ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F und lehrt Kognitions- und Sozialpsychologie an der RU Bochum und der PH Erfurt.

Augen auf statt »Rechts um«!

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Rechtsextremistische Skandale in der Bundeswehr – wohin driften die Streitkräfte? Interview mit Wolfgang Vogt

von Dr. Wolfgang Vogt und Tobias Pflüger

Tobias Pflüger interviewte für W&F Dr. Wolfgang Vogt, Dipl.-Soziologe, ziviler Dozent und Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung und des Vorstandes von W&F zum Fall Roeder an der Führungsakademie und zu den rechtsextremistischen Umtrieben in der Bundeswehr.

W&F: Wie ist zur Zeit das Klima an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, nachdem der Ruf der Einrichtung durch den Roeder-Skandal so grundsätzlich ramponiert ist?

W. V.: Es herrscht – soweit ich dies ausmachen kann – in weiten Bereichen ein Klima der tiefen Betroffenheit, der Scham und teilweise auch der blanken Wut über die skandalöse Einladung und Unterstützung von Roeder durch den Stabs- und Organisationsbereich der Führungsakademie. Viele Dozenten – insbesondere meine zivilen wissenschaftlichen KollegInnen aus dem Fachbereich Sozialwissenschaften – sind vor allem deshalb so empört über diesen Vorgang, weil ihre jahrelange, oft mühevolle Arbeit für mehr Pluralität, Offenheit, Zivilcourage und Reflektivität an der Führungsakademie durch das unverantwortliche Handeln eines Obristen aus dem Organisationsstab des damaligen Kommandeurs konterkariert worden ist.

W&F: War es verwunderlich, daß jemand wie Manfred Roeder von der Führungsakademie der Bundeswehr eingeladen wurde?

W. V.: Wenn mir vorher jemand gesagt hätte, daß eine solche Einladung an der Akademie möglich wäre, hätte ich das für absurd gehalten und als üble Unterstellung zurückgewiesen. Ich habe mich persönlich gefragt, wie das passieren konnte bzw. weshalb es erst durch die Presse aufgedeckt worden ist. Warum habe ich selbst erst durch die Presse von dem Skandal erfahren? Als ziviler wissenschaftlicher Dozent für Friedens- und Konfliktforschung bekommt man normalerweise nicht mit, was im Führungskreis und Organisationsstab der Führungsakademie im Detail vor sich geht. Die dort ablaufenden bürokratischen Routineprozesse und militärischen Verwaltungsrituale sind normalerweise auch nicht so erregend oder bedeutsam, daß sie mehr als ein nebensächliches Interesse seitens der wissenschaftlichen DozentInnen finden. Die Organisationsbereiche sind eine Welt für sich, die in relativer Distanz zu den Fachbereichen und Dozenten vorwiegend administrative Aufgaben und keine direkten Lehr- und Forschungsaufgaben wahrnehmen. In diesem Administrativbereich hat der Gastvortrag von Roeder auf Einladung des damals amtierenden Chefs des Stabes stattgefunden. Normalerweise gibt es ein Verfahren für die Einladung von Gastreferenten, das die Einschaltung verschiedener Ebenen und Bereiche vorsieht. Offenkundig erfolgte die Einladung an den vorbestraften Neonazi Roeder, jedoch ohne irgendeine Prüfung und damit außerhalb der üblichen Prozeduren.

W&F: Ist die Einladung Ihrer Einschätzung nach aus rechtsextremistischen Motiven erfolgt?

W. V.: Meine persönliche Einschätzung ist, daß die Einladung nicht aufgrund einer rechtsextremen Gesinnung stattgefunden hat, sondern wohl eher fachliches Unvermögen, intellektuelle Begrenztheit und politische Blindheit die Regie geführt haben. Es liegt aber nicht nur individuelles Versagen vor, sondern der Skandal ist letztlich auf strukturelle Ursachen zurückzuführen, die zum einen in militärspezifischen Strukturmerkmalen und zum anderen in Fehlentwicklungen innerhalb der Bundeswehr liegen.

W&F: War den Verantwortlichen an der Führungsakademie tatsächlich nicht bekannt, wen sie da eingeladen haben? Wer wußte von der Einladung?

W. V.: Wer von der Einladung gewußt hat und was über Roeder bekannt war, das müßte durch die laufenden Untersuchungen herausgefunden werden. Mir scheint jedoch eine unentschuldbare Fahrlässigkeit bei dem/den Verantwortlichen für diese unsägliche Veranstaltung vorgelegen zu haben. Für mich ist die entscheidende Frage, wie jemand in der Bundeswehr zum Oberst befördert und auf eine wichtige (G 3-) Organisationsstelle an der höchsten Ausbildungsstätte der Bundeswehr gesetzt werden kann, dem der landauf und landab bekannte neofaschistische Gewalttäter angeblich nicht bekannt gewesen sein soll. Spätestens bei dem abgesprochenen Vortragsthema (»Übersiedlung von Rußlanddeutschen in den Raum Königsberg«) hätten bei einem halbwegs politisch-demokratisch gebildeten Stabsoffizier sämtliche Lichter aufgehen müssen. Welch ein Abgrund an politisch-demokratischer Nicht-Aufgeklärtheit bei einem Repräsentanten des höheren Offizierkorps! Hier sind für meine Begriffe politische Maßnahmen geboten, die weit über die erforderlichen rechtlichen Disziplinarverfahren hinaus reichen. Nicht ausreichend sind die eingeleiteten Einzelfallbearbeitungen im Stile medienwirksamer, aber unzureichender Symptombehandlung. Notwendig sind vielmehr kritische Aufklärungen und Aufarbeitungen im Sinne einer wirkungsvollen und nachhaltigen Ursachenbeseitigung.

W&F: Ist die Bundeswehr von ihren Strukturen her rechtslastig?

W. V.: Wie jede Armee zieht auch die Bundeswehr tendenziell eher jene Gruppe von Menschen verstärkt an, die den Merkmalen militärischer Organisationen – Befehl und Gehorsam, Sicherheit und Ordnung, Rangordnung und Dienstgrad, Uniform und Disziplin (also den sogenannten »Sekundärtugenden«) – mehr verbunden sind als solche, die eher nach Individualität und Kreativität, Pluralität und Reflexivität streben. Verkürzt gesagt, Streitkräfte rekrutieren durch ihr funktionsbedingtes »Anreizsystem« eher Konservative als Progressive, eher »Rechte« als »Linke«, eher Anpassungstypen als Entfaltungstypen, eher Mitmacher als Bedenkenträger. Alle bekannten empirischen Untersuchungen über die politischen und gesellschaftspolitischen Einstellungen und Haltungen von Soldaten – insbesondere von Unteroffizieren und Offizieren – belegen, daß es in allen Streitkräften eine im Vergleich zur Bevölkerung deutlich rechtsverschobene Verteilung im Einstellungsspektrum gibt. Links von der Mitte existiert eine auffällige Ausdünnung. Insgesamt ist eine geringere Einstellungspluralität und Meinungsvielfalt im Vergleich zum gesamtgesellschaftlichen Verteilungsspektrum auszumachen. Diese Einschränkung der Vielfalt führt zu einem Verlust an kritisch-reflexiver Kontrolle. Bei den Diskussionen in den Kasernen, Kantinen und Kasinos ist man »unter seinesgleichen« und schneller einer Meinung. Erheblich unterrepräsentiert in der Bundeswehr und anderen Armeen sind vor allem die kritischen Geister, die unbequemen Querdenker, die individuellen Unangepaßten, die autonomen Kreativen, die konsequenten Nachfrager und die visionären Frühmerker.

W&F: Wie wirken sich die spezifischen Strukturmerkmale der Streitkräfte auf die Soldaten und deren Prägungen, Einstellungen und Haltungen aus?

W. V.: Der strukturell bedingte Rechtsdrall, der schon durch die relativ einseitige Rekrutierung des Personals zustande kommt (Friedensbewegte verweigern den Wehrdienst, »Linke« meiden den Eintritt in die Armee, »Grüne« halten (noch) kritische Distanz zum Militär) wird noch nachhaltig durch die militärischen Sozialisationsprozesse und durch die vorherrschende Beförderungspraxis verstärkt. Auch moderne Armeen verfügen über ein differenziertes System militärischer Mechanismen, das durch Musterungs-, Einkleidungs-, Gehorsams-, Kontroll- und Sanktionsverfahren aus Zivilisten einsatz- und kampffähige Soldaten macht. Wer diesen militärischen Ritualen und Mechanismen am besten entspricht, hat die größten Chancen auf gute Beurteilungen, schnelle Beförderung und steile Karriere. So ist es nicht verwunderlich, daß die am schnellsten und am höchsten Beförderten in der Regel auch die am besten an die militärischen Regeln Angepaßten sind. Auf diese Weise nimmt die Pluralität der Ansichten und Haltungen in der Tendenz desto mehr ab, je höher die Stufe des erreichten Ranges ist. Die größten Chancen auf die höchsten Posten haben diejenigen, die sich durch besondere Systemanpassung plus Apparattreue ausgezeichnet haben.

W&F: Gibt es Zusammenhänge oder Verbindungen zwischen stark ausgeprägten konservativen bzw. technokratischen Einstellungen in der Bundeswehr und rechstextremistischen Gesinnungen und Gruppierungen in der Gesellschaft?

W. V.: Wenn starken konservativen Effekten und Tendenzen in der Armee (personal-)politisch nicht bewußt entgegengesteuert wird, ist dieses auf Dauer fatal für die Entwicklung und Orientierung eines Unteroffizier- und Offizierkorps. Dann entstehen am rechten Rand der Streitkräfte ultrakonservative Milieus, die von Rechtsextremen als Kontaktfelder und Resonanzböden genutzt werden können. Hier entstehen Grauzonen im Übergang zum Rechtsextremismus. Es gibt Informationskanäle und Beziehungsgeflechte zu »alten« Kameraden und »rechten« Bekannten, die ihrerseits im Dunstkreis rechtsextremer Kreise angesiedelt sind. Deshalb ist es so wichtig, sehr klare und harte Trennungslinien zwischen rechts-konservativen und rechts-extremistischen Haltungen und Gruppierungen zu ziehen. Es muß mit allen politischen und rechtsstaatlichen Mitteln verhindert werden, daß dem wiedererstarkenden Rechtsextremismus über diese Einfallstore und Gesinnungsbrücken eine zunehmende Einschleusung ihrer Ideologien und Propaganda in die Bundeswehr gelingt.

W&F: Was ist von der These zu halten, daß die Begriffe der »Inneren Führung« und des »Staatsbürgers in Uniform« seit der Veränderung des Auftrages der Bundeswehr zu reinen Schlagwörtern geworden sind?

W. V.: Durch die Militarisierung der Sicherheitspolitik – das Militär ist wieder ein »normales« Instrument zur Fortsetzung der Politik mit anderen (Gewalt-)Mitteln geworden – hat sich auch der Charakter der Bundeswehr grundlegend geändert. Die Bundeswehr hat nicht mehr – wie zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes – ausschließlich eine defensive Abhalte- und Abschreckungsfunktion, sondern ihr erweitertes Aufgabenspektrum sieht bekannterweise auch offensive Kampfeinsätze im Rahmen von »out-of-area-Missionen« vor. Mit der Aufstellung von sog. Krisenreaktionskräften (KRK) und Kommandospezialkräften (KSK) sind Offensiv- und Interventionspotentiale geschaffen worden – obwohl die Verfassung eigentlich nur die Aufstellung von Streitkräften ausschließlich zur Verteidigung vorsieht. Diese grundlegende Aufgabenveränderung der Bundeswehr hat zu einer Veränderung der Ausbildungsschwerpunkte und zu einer Wandlung des Selbstverständnisses vom Soldaten in den Streitkräften geführt.

W&F: Und wie hat sich die Aufgabenveränderung auf die Ausbildung und das Selbstverständnis in der Bundeswehr ausgewirkt?

W. V.: Im Zuge dieser Umstrukturierungen hat die ursprüngliche Konzeption der Inneren Führung einen drastischen Bedeutungsverlust erfahren. Sie hat in der Praxis längst nicht mehr die übergeordnete Funktion eines sinnstiftenden Reformkonzepts, als das es nach wie vor in vollmundigen Bekundungen der politischen Leitung und der militärischen Führung ausgegeben wird. Spätestens seit dem Amtsantritt des früheren Verteidigungsministers Manfred Wörner ist ein schleichender Verfall der Inneren Führung und der Idee vom Staatsbürger in Uniform zu beobachten, der sich seit Beginn der 90er Jahre beschleunigt hat. Inzwischen ist die Innere Führung zu einer Art technokratischer Managementmethode mutiert, die mehr dem Zweck der Kampfkraftsteigerung als der demokratisch-politischen Bildung und Förderung von »Staatsbügern in Uniform« dient.

W&F: Hat die Innere Führung, die ja ehemals als Reformwerk angelegt war, im Alltag der Bundeswehr überhaupt noch eine Bedeutung?

W. V.: Die Innere Führung und die Politische Bildung haben – wie etwa auch die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages feststellt – in der Truppenpraxis ihre zentrale Leit- und Wertfunktion im Sinne einer umfassenden Entfaltung und Bildung der individuellen Persönlichkeit der Soldaten als demokratisch eingestellte »Staatsbürger in Uniform« weitgehend verloren. Ihre Prinzipien und Normen sind im Truppenalltag oft nicht mehr die zentralen Bezugspunkte für alles militärische Verhalten. Die Ausbildung von »Kämpfern«, die Vermittlung von sog. »soldatischen Tugenden« (Disziplin, Gehorsam, Kameradschaft etc.) und die Einübung militärischer Techniken und Verfahren (»Handwerkszeug«) ist im Zuge der Funktionsveränderung der Streitkräfte mehr und mehr in den Vordergrund getreten. Das zeigt u.a. die Zunahme entsprechender Themen und Artikel in den einschlägigen militärischen Fachzeitschriften. Das ursprüngliche Reformkonzept ist tendenziell zu einem peripheren Ausbildungsfach geworden. Es wird eher als eine Managementtechnik begriffen und gelehrt denn als »Reformphilosophie« und »Organisationskultur« begriffen und gelebt. General Graf von Baudissin, der »Erfinder« der Inneren Führung und des Leitbilds vom Staatsbürger in Uniform würde »sich im Grabe umdrehen«, wenn er erleben würde, daß die Vorstellungen seiner damaligen Erz-Kontrahenten – der sog. »Traditionalisten« (Karst, Wagemann u.a.) – durch die Neuausrichtung der Streitkräfte mehr und mehr Gewicht bekommen und sich durchgesetzt haben.

W&F: Inwieweit ist eine sozialwissenschaftliche Untersuchung über Bundeswehr und Rechstextremismus notwendig und sinnvoll?

W. V.: Eine solche Untersuchung ist meiner Auffassung nach nicht nur erforderlich, sondern längst überfällig, denn niemand hat ein hinreichend klares und repräsentatives Bild über die Mentalitäten, Entwicklungen und Tendenzen in der Bundeswehr. Die im Militär üblichen Melde- und Informationsverfahren reichen nicht aus, um der Leitung und Führung der Streitkräfte ein hinreichend umfassendes und verläßliches Bild über das Denken und Handeln in den weit verzweigten Truppenteilen zu ermöglichen. Auf den langen Dienst- und Berichtswegen von unten nach oben werden – wie in allen großen Organisationen üblich – oft geschönte Informationen befördert. Bei angekündigten und intensiv vorbereiteten Truppenbesuchen wird in aller Regel eine perfekte Show abgezogen, die mehr von den tatsächlichen Zuständen und Problemen vor Ort verbirgt als aufzeigt. Und bei den kurzen – oft sehr formalisiert ablaufenden – Gesprächen und Zusammentreffen mit höheren Vorgesetzten oder Politikern ist auch nicht viel mehr zu erfahren als das, was nach den Regeln der »political correctness« gesagt und gehört werden soll. Ich halte es für unerläßlich, daß die Verhältnisse und Entwicklungen in der Bundeswehr mit geeigneten Methoden von außen untersucht werden.

W&F: Wie müßte eine solche Untersuchung angelegt und durchgeführt werden?

W. V.:Eine solche Untersuchung sollte nicht nur mögliche rechtsextremistische Tendenzen zum Analysegegenstand haben, sondern breiter angelegt sein. Sie sollte eine kritische Bestandsaufnahme über die Entwicklung und den Stand der Inneren Führung in der Bundeswehr zum Thema haben. Deshalb hielte ich es für angemessener, eine Enquete-Kommission von unabhängigen Experten mit der Untersuchung der Zustände in der Bundeswehr zu beauftragen. Aufzudecken wären Risikokonstellationen, die durch das Zusammenwirken von strukturellen Bedingungen, institutionellen Regelungen und personellen Konstellationen systematisch dazu führen, daß dem Rechtsextremismus Raum und Klima zur Entfaltung bereitet wird. Die demokratische Gesellschaft hat einen legitimen Anspruch zu wissen, was in der Institution vor sich geht, die mit dem massivsten Gewaltmonopol ausgestattet ist.

W&F: Macht eine solche Untersuchung Sinn, wenn sie vom »Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr« durchgeführt wird, oder ist es sinnvoll, eine solche Untersuchung nach »außen« zu geben?

W. V.: Eine solche Studie macht nur Sinn, wenn sie von »außen« – z.B. durch die unabhängige Forschungsgruppe von Prof. Wilhelm Heitmeyer aus Bielefeld – durchgeführt wird. Dieses renommierte Forschungsteam hat in den letzten Jahren einschlägige Untersuchungen über Rechtsextremismus und Gewalt vorgelegt, die durch ihre professionelle Qualität ausgewiesen sind. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SOWI) scheint mir dagegen nicht geeignet, da es durch die in den letzten Jahren politisch verordneten »Reformen« nachhaltig an Unabhängigkeit vom dienstlichen Auftraggeber verloren hat. Das SOWI wurde nicht nur an die Akademie für Kommunikation (ehemals Psychologische Verteidigung) angegliedert und in seinen ursprünglichen Kompetenzen stark beschnitten, sondern auch anstelle der zivilen wissenschaftlichen Leitung mit einer militärischen Führung versehen. Ein in die militärische Hierarchie eingebundener, wissenschaftlich nicht einschlägig ausgewiesener Oberst wurde als SOWI-Leiter eingesetzt. Unter diesen strukturellen und personellen Bedingungen läßt sich leicht vorstellen, welche politisch genehmen Ergebnisse eine interne Untersuchung durch das SOWI aller Voraussicht nach erbringen würde. Die rechtsextremen Skandale in der Bundeswehr sind aber ein gesellschaftspolitisch zu ernstes Problem, als daß man ihre Untersuchung militärinternen und hierarchieverpflichteten Instanzen überlassen oder übertragen sollte. Es bedarf der kritischen, unabhängigen und professionellen Expertise von außen.

W&F: Wie sind die bisherigen Reaktionen und Maßnahmen der Bundeswehrführung zu beurteilen?

W. V.: Das vermag ich im Detail nicht zu beurteilen, weil mir dazu nicht alle inzwischen getroffenen Maßnahmen hinreichend bekannt sind. Aber eine Reihe der offensichtlichen Strategien scheinen mir wenig geeignet, die Skandale politisch und praktisch angemessen zu bewältigen und in ihren Ursachen wirkungsvoll zu behandeln. So wurden durch die sog. Einzelfallthese die Skandale seitens der Bundeswehrführung nicht nur verharmlost, sondern durch eine Personalisierung auch auf eine ungebührliche Weise entpolitisiert. Durch die Abschirmung der Bundeswehr gegen eine empirische Untersuchung wurde der Verdacht genährt, daß man etwas zu verbergen hätte. Und durch die teilweise heftig vorgetragene Presseschelte (»Dreckschleuder«, »Trittbrettfahrer« etc.) wurde – nach dem fragwürdigen Motto »Angriff ist die beste Selbstverteidigung« – der durchsichtige Versuch unternommen, die kritischen Blicke von den eigentlichen Problemen abzulenken. Schließlich scheinen mir auch demonstrative Truppenbesuche im Kampfanzug nicht sonderlich geeignet, um das angeknackste Vertrauen in die Bundeswehr (und ihre Leitung) wiederherzustellen.

W&F: Was wären angemessene Reaktionen auf den Roeder-Skandal?

W. V.: Der Skandal und die ihn bedingenden Umstände bestärken mich in meiner seit Jahren intern immer wieder zum Ausdruck gebrachten Einschätzung, daß die Führungsakademie einer einschneidenden Reform bedarf. Es geht dabei um eine Reduzierung überholter militärischer Organisations- und Disziplinierungsstrukturen zugunsten einer Stärkung akademischer Qualifizierungs- und Professionalisierungsstrukturen, damit die Akademie endlich auf ein »post-universitäres« Hochschulniveau gebracht wird. Die »höchste militärische Ausbildungsstätte« – wie sie gerne in Festreden führender Politiker und Militärs bezeichnet wird – müßte endlich durch eine generelle Anhebung der wissenschaftlichen Qualität in der Lehre, durch eine professionellere Besetzung der Dozenturen und durch eine angemessene Ausstattung mit Ressourcen für eine qualifizierte Forschung so grunderneuert werden, daß die schmückende Bezeichnung »Akademie« nicht nur in großen Buchstaben auf einer eindrucksvollen Bronzetafel am Eingang zu lesen ist, sondern der darin enthaltene Anspruch auch durchgängig in Lehre und Forschung praktiziert wird. Es bedarf einer Durchlüftung und Entstaubung vieler Traditionsecken, -wände und -räume in der Akademie und der Einrichtung von Innovationszentren für die Optimierung der Inneren Führung und der Politischen Bildung. Darüber hinaus geht es um die Mobilisierung von Ideen und Visionen zur Zivilisierung der Sicherheitspolitik.

W&F: Und wie müßte auf die Serie der rechtsextremistischen Vorfälle in der Bundeswehr reagiert werden?

W. V.: Neben einer rückhaltlosen Aufklärung der rechtsextremistischen Vorfälle in der Bundeswehr und der Hintergründe der Roeder-Affäre an der Führungsakademie durch die zuständigen Stellen im Verteidigungsministerium und durch den Parlamentarischen Untersuchungsausschuß ist eine disziplinare Prüfung bzw. Bestrafung derjenigen Vorgesetzten und Soldaten vorzunehmen, die in irgendeiner schuldhaften oder fahrlässigen Weise in die rechtsradikalen Vorfälle verwickelt sind.

Die straf- oder disziplinarrechtliche Verfolgung der »Einzelfälle«, die durch ihre große Zahl und zeitliche Häufung in der Tat längst zu einer Serie rechtsextremistischer Vorfälle geworden sind, ist eine notwendige, aber bei weitem nicht hinreichende Maßnahme. Es bedarf eines ganzen Bündels von Reformen, die der Verteidigungsminister endlich entwickeln und durchsetzen müßte. Damit die Ursachen beseitigt werden, die letztlich zu den rechtsextremistischen Vorfällen in den Streitkräften geführt haben, müßten folgende Reformschritte erfolgen:

  • Die Reaktivierung des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform und der Ausbau des Konzeptes der Inneren Führung zu einer umfassenden demokratischen Organisationskultur im ursprünglichen Sinne der Vorstellungen des Reformgenerals Wolf Graf von Baudissins;
  • die Aktivierung, Pluralisierung und Demokratisierung der politischen, historischen und demokratischen Bildung u.a. durch eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den Bundes- und Landeszentralen der politischen Bildung und den Truppenteilen und Organisationseinheiten der Bundeswehr;
  • die Einstellung von Werbekampagnen für die Bundeswehr, die mit Hinweisen auf Abenteuerlust, Technikfaszination und Sekundärtugenden eine fragwürdige Rekrutierungspolitik betreiben und damit besonders jene rechtsextremen Kreise ansprechen, über deren Wirken und Auftreten in der Bundeswehr man sich dann verwundert zeigt;
  • die grundlegende Überarbeitung der personalpolitischen Auswahl- und Beförderungskriterien, damit die Einstellungen und Befähigungen von Vorgesetzten zur Anerkennung und Umsetzung der Grundsätze der Inneren Führung wesentlich stärkere Berücksichtigung in der Beförderungspraxis finden und die vorbildliche Befolgung dieser Prinzipien mit einem karriererelevanten Anreiz versehen wird; und schließlich
  • die Einsetzung einer Enquete-Kommission von unabhängigen Experten aller politisch-demokratischen Schattierungen mit dem Ziel einer generellen Bestandsaufnahme über »Geist und Klima« in der Bundeswehr.

Noch ein Wort zum Abschluß: So wichtig die Aufklärung und Abstellung rechtsextremistischer Vorgänge in der Bundeswehr ist, sollte das aber nicht verhindern, wieder intensiver über die wesentlichen Fragen nachzudenken: wie das Militärische in der Politik abgebaut, wie die Streitkräfte weiter reduziert und wie die Abrüstung vorangebracht werden kann. Am Ende unseres Jahrhundert geht es vor allem um die politische Umsetzung der Vision einer Zivilisierung, d.h. um präventive Gewaltreduzierung, zivile Konfliktregulierung und nachhaltige Friedensgestaltung.

Rechtsextreme und Bundeswehr

Rechtsextreme und Bundeswehr

Verteidigungsausschuß tagt als Untersuchungsausschuß / Bundestagsanfragen SPD und Bündnis 90/Die Grünen

von SPD – Bündnis 90/Die Grünen

Auf Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen hat sich der Verteidigungsausschuß des Bundestages nach den Vorfällen in der Führungsakademie der Bundeswehr als Untersuchungsausschuß konstituiert. Grundlage der Arbeit ist ein Antrag der SPD. Obwohl die Anträge der SPD und der Grünen in weiten Bereichen übereinstimmen, konnten sich beide Parteien nicht auf einen gemeinsamen Antrag einigen. Dabei gibt es eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung in den Komplexen

  • »Innere Führung« und politische Bildung
  • Praxis der Traditionspflege
  • Verhältnis Armee – Gesellschaft

Der wesentlich umfangreichere Antrag der Grünen geht in einigen Bereichen über diese Gemeinsamkeit hinaus. Er fragt auch

  • nach Umfang und Hinlänglichkeiten der Frühwarn- und Verhinderungsmechanismen, nach wissenschaftlichen Analysen und MAD-Aktivitäten
  • nach den Kriterien bei der Auswahl des Nachwuchses und
  • nach dem Reformbedarf der Streitkräfte.

Wir dokumentieren im folgenden die beiden Anträge im Wortlaut

Antrag der SPD Fraktion

Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß nach Artikel 45a,<0> <>Abs.<0> <>2 des Grundgesetzes

Der Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß wolle beschließen:

Der Verteidigungsausschuß konstituiert sich zur parlamentarischen Untersuchung von rechtsextremistischen Vorkommnissen an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und an anderen Standorten der Bundeswehr als Untersuchungsausschuß nach Art.<0> <>45a, Abs.<0> <>2GG.

Gegenstand der Untersuchungen

soll dabei sein:

1. die gegenwärtige innere Lage der Bundeswehr anhand

1.1 der geistigen Orientierung der Vorgesetzten und ihrer Bindung an die freiheitlich demokratische Grundordnung und an das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, u. a. am Beispiel der Einladung eines Rechtsterroristen und seines Vortrages an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und seiner weiteren Kontakte zur Bundeswehr und in diesem Zusammenhang:

1.1.1. Materiallieferungen der Bundeswehr und Nutzung von Bundeswehrliegenschaften durch verfassungsfeindliche Organisationen, u. a. am Beispiel des »Deutsch-Russischen Gemeinschaftswerkes«.

1.1.2. die damit in Verbindung stehenden Vorgänge zwischen anderen Bundesbehörden und Dienststellen des Bundesministers der Verteidigung und den Nachrichtendiensten.

1.2. des Menschenbildes, des Führungsverhaltens und des Stellenwertes der Aus- und Weiterbildung, u. a. an den Beispielen der ausländerfeindlichen Vorfälle in Detmold, der Video-Skandale in Hammelburg und Schneeberg sowie der rechtsextremistischen Vorfälle in Altenstadt/Schongau, Landsberg und Varel;

2. die Rahmenbedingungen für die Innere Führung und die politische Bildung,

2.1. ob angepaßtes Verhalten in der Führungshierarchie immer mehr die Zivil- bzw. Militärcourage ersetzt;

2.2. ob der erweiterte Auftrag der Bundeswehr und ob beispielsweise die Einsätze in Kambodscha, Somalia und Bosnien das Verständnis von Innerer Führung verändert haben;

2.3. ob Wehrbeschwerde und Wehrdisziplinarordnung noch strikt nach ihrem Wesensgehalt und vor allem nach dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform angewendet werden.

3. die Konsequenzen, die aus den Berichten des/der Wehrbeauftragten zu rechtsextremistischem Verhalten von Soldaten, zur Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Innere Führung und die politische Bildung und zu unzulässigen Formen der Traditionspflege gezogen wurden.

4. die Realität des Traditionsverhaltens,

4.1. die Formen der Traditionspflege, u.a. am Beispiel des Traditionsraumes beim Jagdbombergeschwader 33 in Büchel;

4.2. ob die Traditionspflege und das Traditionsverhalten noch mit dem Traditionserlaß von 1982 übereinstimmen.

5. ob und zu welchem Zeitpunkt die Bundesregierung über die rechtsextremistischen Vorfälle informiert war und was sie unternommen bzw. unterlassen hat, um diesem Sachverhalt zuvorzukommen bzw. abzuhelfen.

6. die Verantwortung des Bundesministeriums der Verteidigung für die vorgenannten Fälle und das Führungsverhalten des Ministers und die Auswirkungen seiner Personalentscheidungen auf das Vertrauen der Angehörigen der Bundeswehr.

Antrag der Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen

Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß nach Art. 45a, Abs. 2 GG

Der Verteidigungsausschuß wolle beschließen:

Der Verteidigungsausschuß konstituiert sich zur parlamentarischen Untersuchung von gewalttätigen, rechtsextremen, nationalautoritären oder fremdenfeindlichen Vorkommnissen, die an Standorten und Einrichtungen der Bundeswehr sowie im Verantwortungsbereich des Bundesministers der Verteidigung oder unter Beteiligung von Bundeswehrangehörigen stattgefunden haben, als Untersuchungsausschuß nach Art 45a Abs. 2GG.

Gegenstand der Untersuchung

soll dabei sein:

I. Umfang und Charakter der Vorkommnisse, insbesondere

1. ob Zusammenhänge zwischen den Vorfällen mit rechtsextremem, gewalttätigem, fremdenfeindlichem oder nationalautoritärem Hintergrund zu erkennen sind und ggf. welche und ob daraus auf eine gezielte Durchdringung bzw. Ausnutzung der Bundeswehr oder auf die Herausbildung subkultureller Netzwerke oder Gruppen in der Bundeswehr durch Personen oder Organisationen rechtsextremen, fremdenfeindlichen oder nationalautoritären Hintergrundes zu schließen ist;

2. ob und in welchem Umfang Liegenschaften des Bundesministeriums der Verteidigung bei Vorfällen oder durch Personen und Organisationen mit rechtsextremem, gewalttätigem, fremdenfeindlichem oder nationalautoritärem Hintergrund genutzt wurden;

3. ob und in welchem Umfang Erkenntnisse der zuständigen Verfassungsschutzorgane, der Polizei, des Militärischen Abschirmdienstes, des BND, der Stabsabteilungen des BMVg und aus öffentlich zugänglichen Quellen zu Frage I.1 vorliegen, und seitens der staatlichen Organe bewertet werden;

4. ob, wie, in welchem Umfang und mit welcher Zielsetzung seitens des BMVg eine Auswertung dieser Erkenntnisse erfolgt sowie welche Maßnahmen diesbezüglich eingeleitet wurden und werden.

II. Die Praxis der Traditionspflege in den Streitkräften, insbesondere

1. ob und welchem Umfang diese der Erlaßlage entspricht;

2. ob und welche Erkenntnisse der zuständigen Stabsabteilungen des BMVg (z.B. Fü S I, Fü H I, Fü L I, Fü M I) und aus öffentlich zugänglichen Quellen zu Frage II.1 vorliegen und wie diese dort bewertet werden;

3. ob, wie, in welchem Umfang und mit welcher Zielstellung seitens des BMVg eine Auswertung dieser Erkenntnisse erfolgt und welche konkreten Maßnahmen diesbezüglich eingeleitet wurden bzw. werden;

4. die Praxis und Formen der Traditionspflege in den drei Teilstreitkräften an ausgewählten Beispielen und im Hinblick auf soldatische Vorbilder;

5. Umfang und Charakter von sowie Gründe und Begründungen für Patenschaften und Aktivitäten zwischen Einheiten, Verbänden und Einrichtungen der Bundeswehr mit Traditionsverbänden oder Organisationen der ehemaligen Wehrmacht;

6. ob, in welchem Umfang und mit welchen Themen und Vorbildern bei der Aus- und Weiterbildung von Soldaten und Vorgesetzten Traditionsbezug auf die Wehrmacht genommen wird;

7. die Auswirkungen, welche die Praxis von Traditionspflege, Traditionsverhalten und Vorbildauswahl auf das Verständnis der Soldaten aller Dienstgrade von zulässigen und unzulässigen Formen von Traditionspflege und -verhalten haben.

III. Die Rahmenbedingungen und das Umfeld, welches die Bundeswehr für o.g. Vorkommnisse vorgibt, insbesondere

1. welche Konsequenzen und Ergebnisse der bundeswehrinternen Auseinandersetzung zwischen »Traditionalisten« und »Funktionalisten« auf der einen sowie »Reformern« auf der anderen Seite festzustellen sind und welche Auswirkungen diese auf Verhalten und Sozialisation insbesondere des Führungspersonals haben;

2. ob, in welchem Umfang und welche Mängel bei Konzeption und Umsetzung der Inneren Führung die o.g. Vorkommnisse begünstigt und unzulänglich verhindert haben;

3. ob, in welchem Umfang und welche Mängel bei der Ausbildung, Erziehung und politischen Bildung sowie der Vermittlung von Traditionsverständnis die o.g. Vorkommnisse begünstigt oder unzulänglich verhindert haben; dies schließt die Frage ein, ob und in welchem Umfang o.g. Vorkommnisse durch Vorgesetzte toleriert, gefördert oder gar herbeigeführt wurden;

4. ob und in welchem Umfang Bürokratisierung und Aufgabenüberfrachtung dazu beigetragen haben, daß die o.g. Vorkommnisse begünstigt oder unzulänglich verhindert wurden;

5. ob und in welchem Umfang die politische Leitung und/oder die militärische Führung der Bundeswehr die Erziehung zum »Staatsbürger in Uniform« und das Verständnis von »Innerer Führung« sowie das Soldatenbild im Kontext der Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr (Auslandseinsätze, Aufbau der KRK und des KSK) »Ausbildungserfordernissen« hintangestellt und dadurch dazu beigetragen haben, daß die o.g. Vorkommnisse begünstigt oder unzulänglich verhindert wurden;

6. ob und in welchem Umfang die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung der Bundeswehr zu einer Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Konzeption der Inneren Führung sowie des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform beigetragen haben;

7. ob und in welchem Umfang sich der Stellenwert des Menschenbildes des Grundgesetzes in der Aus- und Weiterbildung der Führer verändert hat;

8. ob und welche Erklärungsansätze für die rechtsextremen, gewalttätigen, fremdenfeindlichen und nationalautoritären Vorkommnisse im Zuständigkeitsbereich des BMVg erarbeitet wurden und welche Schlußfolgerungen daraus gezogen wurden;

9. ob und in welchem Umfang die Handhabung der Wehrdisziplinarordnung und der Wehrbeschwerdeordnung auf Mängel in der Ausbildung schließen läßt;

10. ob und in welchem Umfang Zivilcourage zur Offenlegung o.g. Vorkommnisse in der Bundeswehr gefördert wird und inwieweit Reaktionen vorgesetzter Stellen auf die Offenlegung solcher Vorkommnisse geeignet sind zivil-couragiertes Verhalten zu unterbinden;

11. wie und mit welchen Weisungen mitbestimmungsgesetzliche Regelungen des novellierten Soldatenbeteiligungsgesetzes (SBG neu) in den Gesamtstreitkräften und in den einzelnen Teilstreitkräften umgesetzt, durchgesetzt oder konterkariert wurden?

IV. Umfang und Hinlänglichkeit der Frühwarn- und Verhinderungsmechanismen für o.g. Vorkommnisse im Verantwortungsbereich des BMVg, insbesondere

1. ob und welche Untersuchungen dem BMVg über die geistige und politische Orientierung der Soldaten, von Vorgesetzten und Führern sowie von ausscheidenden bzw. ausgeschiedenen Offizieren vorliegen und zu welchen Aussagen diese ggf. bezüglich der Orientierung auf die freiheitlich demokratische Grundordnung, die Prinzipien der Inneren Führung und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform sowie bzgl. eines ggf. bestehenden Nachsteuerungsbedarfes kommen;

2. ob und in welchem Umfang das Bundesministerium der Verteidigung die Möglichkeiten

  • der Führungsstäbe Fü S I, Fü H I, Fü L I, Fü M I
  • des Zentrums für Innere Führung
  • des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr
  • der Akademie für Information und Kommunikation
  • des Fachbereiches Sozialwissenschaften der Führungsakademie
  • der sozialwissenschaftlichen Fachbereiche der Bundeswehr-Hochschulen

zur Früherkennung, Prävention und Verhinderung o.g. Vorkommnisse genutzt bzw. nicht genutzt hat;

3. ob und in welchem Umfang der MAD und/oder ggf. andere dienstliche Stellen bei der Früherkennung, der Erkenntnisgewinnung und der Prävention von rechtsextremen, fremdenfeindlichen, gewalttätigen oder nationalautoritären Tendenzen bei Bundeswehrsoldaten tätig geworden sind und das BMVg inwieweit gewonnene Informationen zur Prävention und Verhinderung o.g. Vorkommnisse genutzt bzw. nicht genutzt hat;

4. ob und welche Vorkehrungen das BMVg getroffen hat, um sich bei der Anwerbung und Rekrutierung neuer Soldaten vor Rechtsextremisten und für fremdenfeindliche, rechtsradikale, gewalttätige und nationalautoritäre Positionen bzw. Handlungen anfällige Personenkreisen zu schützen sowie Frühwarnung zu erhalten, wenn Soldaten ein extremes, sogenanntes atavistisches (Stichworte: Jünger, Rambo), soldatisches Selbstverständnis zeigen;

5. welche qualitativen Kriterien für die Auswahl des rekrutierenden Personals von wem bzw. welchen Stellen festgelegt wurden;

6. welche Schlüsse im Einzelnen das BMVg aus den Berichten der jeweiligen Wehrbeauftragten gezogen und welche Maßnahmen zur Abhilfe es mit welchen Ergebnissen und Überprüfungen geschaffen hat?

V. Der Reformbedarf im Verantwortungsbereich des Bundesministers der Verteidigung nach Art, Umfang und Qualität, insbesondere in den Bereichen

1. Weiterentwicklung und Umsetzung des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform;

2. Weiterentwicklung und Umsetzung des Konzeptes der »Inneren Führung«, incl. deren sozialwissenschaftliche Grundlegung und die Rolle der Wissenschaft dabei;

3. Bildungs- und Erziehungskonzept,

4. Traditionsbezug, sowie

5. Auswahlverfahren für Unteroffiziere, Offiziere und insbesondere Stabsoffiziere und Generalstabsoffiziere sowie deren jeweilige Ausbildung.

VI. Exemplarische Vorfälle von gewalttätigen, rechtsextremen, nationalautoritären bzw. fremdenfeindlichen Vorkommnissen oder fragwürdigen Formen der Traditionspflege wie z.B. in Altenstadt, Hammelburg, Schneeberg, Hamburg (Auftritt M. Roeder an der Führungsakademie), Hamburg-Neuengamme, Landsberg, Detmold, Magdeburg und andernorts.

VII. Die Verantwortung der politischen und militärischen Führung für derlei Vorkommnisse sowie für Faktoren, die solche Vorkommnisse in der Bundeswehr begünstigen oder nicht verhindern.

Sich an Auschwitz erinnern

Sich an Auschwitz erinnern

Gedanken eines Überlebenden

von Yaacov Ben-Chanan

Was Auschwitz – der Name steht im folgenden für alle Vernichtungsstätten im Hitlerreich – so einzigartig und so furchtbar machte, war der dort angestellte Versuch, den Menschen im Juden zu zerstören. Der Mensch sollte zur Laus gemacht werden. Und mit einem Gas gegen Läuse tötete man ihn dann auch. Nicht Hunger, nicht Zwangsarbeit, nicht Angst vor dem Tod war typisch für Auschwitz – es war dieser systematische Seelenmord.

Was konnten wir so tief Beschädigten mit der Freiheit anfangen, die 1945 endlich kam? Viele, die keinerlei Lebenskraft mehr hatten, sind in den ersten Wochen und Monaten nach der Befreiung einfach erloschen. Wir anderen, die diese erste Gefahrenzone durchstehen konnten, haben versucht, aus dem neu geschenkten Leben etwas zu machen. Den einen gelang es, andere blieben auf der Strecke, noch andere – nicht wenige! – haben sich, Jahrzehnte nach der Befreiung aus dem Lager, noch das Leben genommen.

Aber auch wenn man, allmählich und mit Hilfe vieler anderer Menschen, das Leben in den Griff bekam: aus dem Bannkreis von Auschwitz kam man damit nicht heraus. Denn unter all der äußeren Normalität, hinter aller bürgerlichen Ordnung und wirtschaftlichen Sicherheit, die man erreichen konnte, wenn man es nur richtig hatte anpacken können, blieben die eigentlichen Beschädigungen unberührt. Eines hatte mit dem anderen nichts zu tun. Die meisten von uns verblieben, der eine mehr, der andere weniger, in einem Doppelleben: ein Teil war hier, der andere immer noch in Auschwitz.

Das heißt aber: eine Gesundung im vollen Sinn war nicht möglich. Wer Auschwitz in sich weiterträgt, muß sich immerzu anstrengen, um die beiden Teile, die sein Selbst ausmachen, den Alltagsteil und den Auschwitzteil, soweit zusammenzuhalten, daß er sich selbst nicht zerreißt, nicht verrückt wird. Viel Kraft fließt dabei nutzlos ab; sie muß zur Balance des bestehenden Zustands verwendet werden, ohne daß man sie produktiv einsetzen kann.

Die gestörte Integrität des Menschen, der zu diesem Doppelleben gezwungen ist, weil die Erinnerung an Auschwitz ihn nicht losläßt, zeigt sich in vielen Störungen der Gesundheit von Körper und Seele, die ja ein Ganzes sind. Vor allem anderen steht die Angst; durch ein Objekt, durch menschliche Gesichter, durch Stimmen oder Geräusche ausgelöste und spontane Angst, die aus dem eigenen Inneren kommt. Die Angst geht in die Träume ein, Bilder von real Erlebtem und auch ganz verzerrte Angstbilder stören den Schlaf. Am Tage löst die Angst Konzentrationsstörungen aus, rasche Ermüdbarkeit und anhaltende innere Unruhe. Andauernde Angst und schlechter Schlaf bewirken wiederum körperliche Erkrankungen: Herzgefäßverkrampfungen, Muskelverspannungen, Rückenschäden, chronische Kopfschmerzen.

Das ist, für sehr viele Juden und Jüdinnen, bis heute die nach außen unsichtbare Innenseite des Lebens nach der Befreiung. Im Alter wird das keineswegs immer besser, es „wächst sich nicht aus“. Im Gegenteil: so lange ein Mensch jung und vital ist, hat er die Kraft, die er zum Verdrängen von quälenden Gefühlen oder Erinnerungen braucht. Mit den biologisch bedingten Rückbildungsprozessen im höheren Lebensalter aber läßt diese Energie normalerweise nach. Dann kann die Auschwitzseite des jüdischen Doppellebens die Übermacht gewinnen, und ein neues, Krankheitsbild entsteht, mit gesteigerter Angst und vertiefter Depression, mit erhöhter Selbstmordgefahr.

Ein Ausbruch aus dem Doppelleben könnte nur gelingen, wenn der aus Auschwitz gekommene und doch immer noch dort festgehaltene Mensch darüber sprechen könnte. Doch dazu würde ein außerordentlich großes Maß an Vertrauen zu einem Gesprächspartner gehören. Gerade die Fähigkeit, zu vertrauen, sich gar einem anderen anzuvertrauen, wurde jedoch in Auschwitz tief beschädigt, wenn nicht zerstört. So bleibt, auch in jeder Liebe oder Freundschaft, eine unsichtbare, aber spürbare Wand. Sie hält den Auschwitz-Menschen in einer unaufhebbaren Einsamkeit. Die Partner können nicht deuten, warum der geliebte Mensch sich so verhält; sie sehen nur die Symptome, nicht die Ursachen. Die eigenen Kinder können nicht deuten, was mit dem Vater oder der Mutter oder mit beiden los ist, sie spüren nur, daß da eine tiefe Störung ist, und diese ver-stört auch sie. Mit solchen Eltern kann man sich nicht streiten, nicht aggressiv gegen sie sein, d.h. aber: wichtige Reifungsprozesse nicht durchmachen. So beschädigt das Doppelleben des Nach-Auschwitz-Menschen alle Beteiligten – mehr oder weniger, ich wiederhole es immer wieder! – aber immer in einem Maße, das volle Freiheit fast unmöglich macht und oft nur ein eher seltenes und kurzes Glück erlaubt.

Wir Juden müssen alles daran setzen, Auschwitz hinter uns zu lassen, Auschwitz zu vergessen. Wir müssen die Herrschaft von Auschwitz über unsere Seelen zumindest so weit eingrenzen, daß es unser Leben und Denken so wenig wie möglich bestimmt. Wir müssen Auschwitz seelisch und intellektuell in den Griff bekommen, anstatt daß es uns im Griff behält und fortfährt, uns zu zerstören. Seelisch bekommen wir Auschwitz – wenn überhaupt – nur in den Griff, indem wir therapeutisch bearbeiten, was wir erlebt haben. Intellektuell bekommen wir es in den Griff, indem wir Auschwitz relativieren, d.h. einordnen in den geschichtlichen Zusammenhang, in den es gehört, und ihm damit seine mythologische Gewalt nehmen. Dazu gehört vor allem, daß wir, wenn wir aus einer assimilierten Tradition kommen, wie die meisten von uns, hinter die Barriere von Auschwitz zurückgehen und uns unser gesamtes jüdisches Erbe, 3000 Jahre einer großartigen Kultur, wieder anzueignen beginnen. Geistig aufrecht gehen kann nur, wer sich von einer langen und großen geistigen Tradition gehalten weiß.

Sich von Auschwitz her als Jude zu definieren, bedeutet, sich vom Tode her, vom ganz und gar Sinnlosen her zu definieren. Alles, was wir denken, träumen und als Juden tun, steht dann unter dem einzigen Motto: „Nie wieder Auschwitz!“ Der Wunsch ist natürlich berechtigt, aber er darf uns nicht beherrschen.

Verharren wir vor dieser ungeheuren Barriere der Erinnerung, verstellen wir uns nicht nur den Blick auf das Ganze unserer jüdischen Geschichte und Kultur, auf Freude und Glück des Jüdischsein. Auch die psychischen Konsequenzen sind dann verheerend. Das Verharren bei der Erinnerung an Auschwitz macht uns nicht nur krank, es macht uns auch friedensunfähig. Wir können dann auch politisch keinen Frieden finden, vor allem in Israel mit den Menschen, die dort mit uns auf dem gleichen Mutterboden wohnen und ein Recht auf ihn haben, wie wir auch. Wenn wir nicht in diesem Sinne Auschwitz zu vergessen lernen, bleibt uns nur die Alternative zwischen der totalen Assimilierung an die Umwelt und damit dem Untergang als Juden und einer ständigen Instrumentalisierung von Auschwitz, mit der wir auf andere bedrohlich werden und unsere Isolierung verewigen.

Dr. Yaacov Ben-Chanan ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität/GHS Kassel.

Die Mitläufer

Die Mitläufer

Die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Demokratie von heute

von Nadine Hauer

Wie das Kaninchen vor der Schlange erstarren die deutsche und österreichische Gesellschaft vor der zunehmenden Gewalttätigkeit rechtsextremer Jugendlicher. Wie ist es möglich, daß nun die Enkel der NS-Generation längst Vergangenes aufgreifen, wo sich doch ihre Eltern als 68-er so massiv mit dieser Generation auseinandergesetzt haben?

Ganz abgesehen davon, daß von einer tiefgreifenden »Vergangenheitsbewältigung« nicht die Rede sein kann, sind auch die 68er, deren Zahl im Vergleich zur Gesamtbevölkerung auch nur sehr klein war, einem gravierenden Irrtum aufgesessen: auch sie waren überzeugt, es genüge,<14> <18>gegen<14> <>Faschismus, Nationalsozialismus und jegliche Form von Diktatur zu sein und man wäre damit schon automatisch demokratisch (und wir haben ja keine andere Alternative zur Diktatur als die Demokratie). Auch kann von einer wirklichen Auseinandersetzung der 68-er mit der NS-Generation ebenfalls nicht die Rede sein – sie blieb in Anklagen und Vorwürfen stecken.

1989 habe ich ein wissenschaftliches Projekt abgeschlossen, das ich unter der Leitung des Wiener Tiefenpsychologen Hans Strotzka (er ist im Juni 1994 gestorben) durchgeführt habe. Grundlage dieser »Mitläufer«-Studie war eine Lücke in der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. Während man sich nämlich sowohl in Deutschland als auch – mit Verzögerung – in Österreich mit den »Kindern« der Opfer der NS-Zeit mehr oder weniger auseinandergesetzt und damit nun auch mit den Nachkommen der Täter begonnen hatte, wurden die Auswirkungen auf die nachfolgende(n) Generation(en) der Mitläufer bisher nicht untersucht, obwohl diese Gruppe als weitaus größter Teil der Bevölkerung die Tragfähigkeit jedes Systems – auch der Demokratie – ausmacht. Es ist kaum vorstellbar, daß die NS-Zeit bei 80 bis 90 Prozent der Gesellschaft keine Spuren hinterlassen hat, auch wenn sie davon selbstverständlich weniger betroffen waren als die Opfer und weniger aktiv als die offensichtlichen Täter.

Tiefgreifende Erfahrungen, die eine Gesellschaft als ganzes betroffen haben, in die also jede(r) einzelne aktiv oder passiv einbezogen war, hinterlassen allgemeine Spuren. Ist diese Erfahrung schwer zu bewältigen, schwer zu verarbeiten, wird sie zu einem gesellschaftlichen Tabu. Auch Tabus lösen eine Reihe von Normen und Ritualen aus, die den Zweck haben, an diese Tabus nicht zu rühren. Das kann eine »Natur«-Katastrophe, die ein ganzes Land betroffen hat (z. B. Tschernobyl), ebenso sein wie eine politische. Zu solchen kollektiven Erfahrungen gehören in den meisten europäischen Ländern Faschismus oder Nationalsozialismus, gehört in den USA der Vietnamkrieg und in den ehemaligen Ostblockstaaten der Stalinismus.

Ich beschränke mich hier auf die wissenschaftlichen Ergebnisse und auf das Resumée meiner Studie, für die ich 150 Tiefeninterviews in Österreich und Deutschland durchgeführt habe. Meine These, daß die tägliche Kommunikation in Familie und Gesellschaft ebenso verläuft wie die Kommunikation über ein individuelles oder gesellschaftliches Tabu, hier also über die NS-Zeit – nämlich gestört oder verzerrt – wurde bestätigt. Wodurch eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im persönlichen Bereich ebenso unmöglich wurde wie in der gesamten Gesellschaft und in der hohen Politik.

Grundlage für die These und die Auswertung der Tiefeninterviews waren zwei von mir entwickelte Modelle: der »Tabu«-Kreis und fünf grundsätzliche Kommunikationstypen. Wenn es ein Tabu gibt, so löst die Angst davor, das Tabu könnte angesprochen werden, einen ähnlichen unbewußten Mechanismus aus wie der vorauseilende Gehorsam. Man versucht Themen, Begriffen und Wörtern auszuweichen, die mit dem Tabu zusammenhängen oder damit zu tun haben könnten; diesen Teil habe ich das »Tabu-Vorfeld« oder die »Schutzzone« genannt, weil dahinter ja die unbewußte Absicht steht, sich selbst davor zu schützen, mit dem Tabu konfrontiert zu werden. Je stärker ein Tabu – individuell oder gesellschaftlich – wirkt, desto dichter muß die »Schutzzone« sein; die Kommunikation über das Tabu-Thema unterbleibt, verläuft verzerrt oder unterschwellig. Allerdings bleiben auch andere Themen, die dem Tabu als subjektiv nahe empfunden werden, ausgespart oder werden ebenfalls verzerrt vermittelt.

Das betrifft in vielen Fällen – und darin liegt die besondere Tragik des Tabus – auch die Grundlagen zur persönlichen und gesellschaftlichen Orientierung (vor allem Jugendlicher), schließlich also das gesellschaftliche »Klima«, die politische Kultur eines Landes. (Im Unterschied zu einem Familien-Tabu, das durch Hilfe von außen aufgelöst, relativiert oder zumindest abgeschwächt werden kann, ist das bei einem gesellschaftlichen Tabu kaum möglich, weil alle in Frage kommenden »Helfer« an diesem Tabu teilhaben). In die »Schutzzone« fallen nämlich auch Werte und Vorstellungen, die zur persönlichen und gesellschaftlichen Orientierung wichtig wären. Nimmt man Kindern und Jugendlichen aber die Möglichkeit, sich an vermittelten Wertvorstellungen zu reiben, sie in Frage zu stellen, so nimmt man ihnen die Möglichkeit, für sich eine persönliche und gesellschaftliche Orientierung zu finden. Die Folge ist eine »Des-Orientierung« aufgrund mangelnder Wertvorstellungen (»Sinnlosigkeit«).

Schon von Werten zu sprechen, gilt heute als fragwürdig, weil von vornherein als übermäßig konservativ bis reaktionär. Begriffe wie Loyalität, Verantwortung, Leistung, Disziplin, Pflicht, Heimat, Kameradschaft, Autorität, Aggression oder Macht – um nur einige aufzuzählen – lösen vor allem bei allen jenen, die als fortschrittlich gelten wollen, aber auch bei vielen Jugendlichen, negative Assoziationen aus; die Bedeutung dieser Werte auch für eine demokratische Gesellschaft wird nicht vermittelt. Ganz abgesehen davon, daß diese Werte und Begriffe – wie immer man dazu steht – Bestandteile unseres Alltags sind und durch Abwehr oder Verdrängung nicht aus dem gesellschaftlichen Leben verschwinden. Allerdings sind sie durch den Nationalsozialismus so stark in Mißkredit geraten, daß sie auch heute noch nicht ohne Unbehagen ausgesprochen werden können. Dieses Unbehagen ist auch der Grund dafür, daß die 68-er Bewegung in ihrer Auseinandersetzung mit der NS-Generation in Ansätzen steckengeblieben ist. Dazu gehörte auch, daß diese Auseinandersetzung nur mit den Vätern, nicht aber mit den Müttern versucht wurde; als ob die Mütter während der NS-Zeit nicht vorhanden und nur die Soldaten an der Front das NS-Regime repräsentiert hätten – ein weiteres Tabu übrigens, das ebenfalls bis heute nicht aufgelöst wurde.

Durch diese fehlende »Werte«-Auseinandersetzung wurde/wird Kindern und Jugendlichen einerseits die Chance genommen, zu begreifen, was über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg hinaus den Nationalsozialismus bis in die kleinsten Einzelheiten des Tages ausgemacht hat, andererseits aber auch, engagiert – pro oder contra – Stellung zu beziehen, weil man sie »anrennen« läßt. Daß neuere Umfragen zu beweisen versuchen, die heutige Jugend wäre nicht mehr autoritätshörig, sondern aufmüpfig, zwar nicht politisch interessiert, aber vor allem in Umweltfragen engagiert, sei bereit, sich für andere einzusetzen, halte ich für ein durch Wunschfragen manipuliertes Ergebnis. Denn selbstverständlich haben die meisten Jugendlichen schon in der Familie, später in der Schule, an der Universität und allerspätestens am Arbeitsplatz die allgemein üblichen Kommunikationsregeln gelernt. Daher antworten sie, was gesellschaftlich »in« ist, verneinen, was »man« nicht sagt, denkt oder tut, sehen sich so, wie sie (oder die Gesellschaft) sie sehen möchte. Waum sollten Jugendliche schließlich anders werden als die Gesellschaft, in der sie von klein auf leben und sozialisiert werden, mit der sie heranwachsen, in die sie sich integrieren und in der sie erfolgreich sein wollen?

Neben dem »Tabu«-Kreis aus den 150 Tiefeninterviews habe ich daraus fünf Kommunikationstypen entwickelt, die ich in Kurzform wiedergeben möchte:

  • MA=Monologisch-Autoritär (vorherrschend bei Männern)
  • EA=Emotional-Autoritär (vorherrschend bei Frauen)
  • UDN=Unterschwellig-Diffus-„Nebel« (häufig bei Frauen)
  • FR=Formal-Rationalisierend (häufig bei Männdern)
  • DO=Dialogisch-Offen (selten)

Ich beschränke mich hier nun auf jene Kommunikationsform, die sich als häufigste (in Deutschland etwa 50 Prozent, in Österreich weit darüber) und als typisch für Mitläufer herausgestellt hat: UDN, also »Unterschwellig-Diffus«-Nebel. Schlagwortartig skizziert ist dafür bezeichnend: keine Orientierung möglich, weil unklar, mehrdeutig; alles stimmt und stimmt auch nicht; Andeutungen, Halb-Erklärungen, Halb-Zugeständnisse bei Gegenargumenten; die (zustimmende oder ablehnende) Interpretation bleibt den anderen überlassen und hängt wesentlich von der jeweiligen (guten oder schlechten) Beziehung ab; autoritär in passiver, unterschwelliger Form; hat »nichts getan«, »nichts gesehen«, »nichts gewußt« und »konnte auch nichts tun, nichts sehen und nichts wissen«; bezieht nicht Stellung, was meistens nicht bedeutet, daß er/sie keine Meinung hat, sondern daß diese Meinung kaschiert oder verschleiert wird – weil man befürchtet, die Meinung könnte möglicherweise unopportun sein und beim anderen eine unerwünschte Reaktion hervorrufen oder in irgendeiner Form schaden, was auch für Nachfragen gilt. UDN kann aber auch bedeuten, daß es dabei so etwas wie ein latentes »Unrechtsbewußtsein«, ein »schlechtes Gewissen« (Scham) gibt, weil die Diskrepanz zwischen Grundeinstellung und Verhalten nicht gelöst wurde. Typisch für UDN ist auch »man« statt »ich« oder »wir«, als Alternative gilt nur »weder-noch«. Gesellschaftlich typisch für UDN ist »Anrennen-Lassen«, wie es Franz Kafka in seinem »Prozeß« als negativen Höhepunkt beschrieben hat. Diese Form der Kommunikation hat verhindert, den Nationalsozialismus in seinem (Un-)Wesen im Alltag zu erfassen und zu zeigen, wie stark jede(r) einzelne, gewollt oder ungewollt, darin verstrickt war. Gleichzeitig wurde damit nicht reflektiertes NS-Gedankengut mehr oder weniger unbewußt weitergegeben, ohne direkt eine NS-Ideologie zu vermitteln.

Tragische Folge dieser UDN-Kommunikation – auch und vor allem für die junge Generation: wer sich nicht in die Mitläufer-Gesellschaft einfügt, wer nachfragt, etwas genau wissen oder verändern will, wem menschliche Grundwerte wichtiger sind als formale »Tabu-Schutzzonen«, muß in dieser Gesellschaft anecken oder zum Außenseiter werden.

Die Alternative dazu ist innere Emigration. Es sind immer die Mitläufer, die Unrecht zulassen und dulden – und es später als »erdulden« interpretieren. Nicht erst in einer Diktatur, auch im Alltag unserer Noch-lange-nicht-Demokratie, denn bisher sind wir in vielen Lebensbereichen auf dem Weg zur Demokratie stecken geblieben. Schon Voltaire sagte: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“

So verständlich es ist, daß die Bevölkerung gesellschaftliches Unbehagen den Politikern anlastet: Politiker sind nur in Ausnahmefällen untypisch für eine Gesellschaft, sie spiegeln die typischen gesellschaftlichen Strömungen und ihre politische Kultur wider.

Aus meiner Studie ist außerdem deutlich geworden, daß das Hauptpotential vor allem jugendlicher Rechtsextremer nicht aus »ewiggestrigen«, sondern aus Familien mit UDN-Kommunikation kommt; daß UDN-vermittelte Ansichten anfälliger für rechtsextremes Gedankengut machen als offen vertretene faschistische oder nationalsozialistische Positionen. In der Mischung von widersprüchlichen Einstellungen und der Unmöglichkeit, (Generationen)Konflikte, auch gesellschaftspolitische, auszutragen, verhindert die UDN-Kommunikation die Ablösung von den verschwommenen Ansichten der Eltern ebenso wie eine persönliche und gesellschaftliche Orientierung. Orientierungslosigkeit aber fördert den Rechtsextremismus – weit mehr, als es durch eindeutig artikulierte rechtsextreme Ansichten geschieht.

Das Mitläufer-Verhalten schlägt sich auch in der Erziehung nieder. Im allgemeinen stellen sich Eltern auf die Seite der sogenannten Autoritäten – auch dann, wenn diese offensichtlich nur autoritär sind –, und sei es nur, um ihren Kindern und Jugendlichen Unannehmlichkeiten, sich selbst aber Auseinandersetzungen zu ersparen. Dadurch wird allerdings vermittelt, daß man gegen »die da oben« sowieso keine Chance hat; ein Teufelskreis, weil das in unserer politischen Mitläufer-Kultur gerade deshalb meistens stimmt. Dazu gehört auch, daß es offensichtlich besser ist, sich auf Diskussionen gar nicht erst einzulassen. In Auseinandersetzungen unter Klassen- und Arbeitskollegen zum Beispiel herrscht die Tendenz vor, sich aus allem herauszuhalten. Wird jemand von anderen schlecht behandelt, so soll das Kind oder der Jugendliche dabei zwar nicht mittun – also nicht Täter werden –, sich aber auch nicht einmischen oder gar auf die Seite des(r) Angegriffenen zu stellen, weil »man nie weiß, was dabei herauskommt«. Für Mitläufer bedeutet Unterlassung, »sauber« und unangreifbar zu bleiben. Was sie vermitteln, ist eine Haltung, die autoritärem Gedankengut und undemokratischen Strukturen Vorschub leistet. Wie sollen da Heranwachsende Demokratie, die ohne Stellungnahme und ohne Einmischung nicht möglich ist, begreifen?

Abschließende Überlegungen zur Demokratie aus politisch-psychologischer Sicht. Während religiöse Institutionen, vordemokratische beziehungsweise autoritäre Gesellschaftsformen und Ideologien Strukturen entwickelt haben, die auch das Denken, Fühlen und Verhalten, also die geistig-seelische Befindlichkeit der Menschen durch vermittelte Normen (positiv oder negativ) prägen, scheint das in der Demokratie bisher nicht gelungen zu sein. Das mag daran liegen, daß die »inneren« Strukturen verhindern, entsprechende Demokratie-Strategien für den Alltag zu entwickeln. Äußere Strukturen sind wegen ihrer Eigendynamik zwar mühsam, aber, weil konkret, doch veränderbar. Innere, sehr oft unbewußte Strukturen sind hingegen viel schwerer zu beeinflussen und wegen ihres Beharrungsvermögens auch nur sehr langsam in Bewegung zu setzen. Daher hinken die inneren Strukturen immer hinter äußeren Veränderungen nach, bleiben sie oft lange Zeit weit hinter diesen äußeren Veränderungen zurück. Das gilt für Einzelpersonen ebenso wie für die Struktur einer Institution oder einer Gesellschaft. Die Stärke totalitärer Denk- und Gesellschaftssysteme liegt offensichtlich darin, daß sie ihre Anhänger mit totaler Versorgung und totaler Sicherheit »belohnen«, wofür Mehrheiten auch bereit sind, dafür den Preis der Unterwerfung und Entmündigung zu bezahlen. Darin liegt auch die Anziehungskraft rechtextremer Gruppen (und Sekten) für desorientierte Jugendliche.

Heute ist vom Ende der Ideologien die Rede – insbesondere für Mitteleuropa. Durch »Tabu-Schutzzonen« sind jedoch viele Inhalte vergangener Ideologien in Form von Alltags-Ritualen zu Alltags-Ideologien geworden: deutlich wird das in alltäglichen Umgangsformen, Verhaltensweisen und in der Alltags-Sprache (vielfach UDN-dominiert). Daß das nicht – oder kaum – wahrgenommen wird, liegt am geringen Stellenwert, der dem Alltags(er)leben in Politik und Gesellschaft, also in der politisch-gesellschaftlichen Kultur, zu Unrecht beigemessen wird. Eine Trennung zwischen öffentlichem gesellschaftlich-politischem Verhalten und privat-familiärem Denken und Sprechen mag für Diktaturen Gültigkeit haben (sie galt auch für das Biedermeier), auf dem Weg zur Demokratie muß sich diese Zweiteilung auflösen, soll eine Gesellschaft schließlich auch wirklich demokratisch werden.

Eine weitere Stärke autoritärer Denk- und Gesellschaftssysteme ist es, daß sie neben der Bedeutung äußerer Strukturen die Notwendigkeit von Symbolen und Ritualen erkannt haben, die wesentlich dazu beitragen, daß die »innere« Struktur zur Selbstverständlichkeit, also unbewußter Bestandteil des Alltags und der politischen Kultur einer Gesellschaft wird. Offensichtlich sind auch Symbole und Rituale durch die NS-Vergangenheit so belastet, daß es der Demokratie bis heute nicht gelungen ist, entsprechende demokratische Symbole und Rituale zu entwickeln; sie hat die Faszination solcher Rituale bisher autoritären Gruppierungen überlassen. Demokratische Gesetze, freie Wahlen, freie Meinungsäußerung und Bürgerinitiativen reichen anscheinend nicht mehr aus, um die Demokratie mit Engagement und Leben zu erfüllen. Wahrscheinlich jedoch werden die Gleichwertigkeit von Mehrheits- und Minderheitenpositionen oder eine »Basisdemokratie«, um nur einige demokratische Aspekte aufzugreifen, ohne eine Beeinflussung der »inneren« Strukturen, unter anderem auch durch (Sprach-)Symbole und Rituale, nicht zu verwirklichen sein. Die weit verbreitete gesellschaftliche UDN-Kommunikation ist jedenfalls ein Symbol für Demokratie-Unfähigkeit.

Im Gegensatz zu mehr oder weniger geschlossenen, hierarchisch strukturierten und stark oder total institutionalisierten gesellschaftlichen Systemen, kann Demokratie nur funktionieren, wenn ihr System weitgehend durchlässig ist; das gilt für ihre »äußeren« Strukturen ebenso wie für ihre »inneren«. Dazu gehört eine demokratische Kommunikationskultur: klar formulierte Wert-Vorstellungen, die laufend hinterfragt und auch verändert werden können – durch Information, offene Auseinandersetzung und Dialog. Das bedeutet jedoch, das kollektive Tabu zu durchbrechen, indem die eigene Verstrickung durchschaut und die UDN-Kommunikation abgebaut wird.

Die Chancen gegen zunehmende rechtsextreme Gewalt liegt nicht in erster Linie im Kampf gegen rechtsextreme Jugendliche (gegen die erwachsenen »Führer« und die intellektuellen Hintermänner können die bestehenden Gesetze ausreichend sein, wenn sie entsprechend angewendet werden), sondern im Einsatz für eine tatsächliche und nicht nur rein formale Demokratie. Das allerdings beginnt im Alltag und in der Art und Weise, wie Gespräche – auch mit Gegnern – geführt werden. Auch die Gesprächskultur ist ein Maßstab dafür, wie weit die NS-Diktatur tatsächlich »vergangen« ist und nicht mehr Bestandteil unserer politischen Kultur ist.

Meine empirische Forschung und die daraus resultierenden theoretischen Überlegungen haben nun auch zu praktischer politischer Bildung geführt. Ein Geschworenenprozeß gegen fünf junge Männer – drei von ihnen zum Zeitpunkt der Tat noch Jugendliche – war im Mai 1993 mit bedingten Freiheitsstrafen zu Ende gegangen. Eine Woche später saß ich mit acht anderen, etwa gleichaltrigen jungen Männern, die als Mitläufer angeklagt waren, im Kursraum einer Volkshochschule. Man hatte ihnen einen Vorschlag unterbreitet: wenn sie bereit wären, an Gruppengesprächen über NS-Ideologie und NS-Geschichte teilzunehmen, würde ihr Prozeß ausgesetzt.

Was sich die acht jungen Männer – fünf von ihnen Lehrlinge, drei bereits ausgelernt – erwarteten, war rasch klar. Sie rechneten mit »Aufklärung« über den Nationalsozialismus, der üblichen moralischen Entrüstung und »Umerziehung«, wie sie es nannten. Daß ich das alles nicht tat, irritierte sie. Ich hielt keine Vorträge, sondern suchte Gespräch, vor allem über Ausländer und Gewalt – ihre wichtigsten Themen.

Ich betonte zwar immer wieder meine strikte Ablehnung ihrer Einstellung, bezeichnete diese aber kein einziges Mal als falsch oder unmoralisch. Es ging mir vor allem darum, die ihnen bekannte Kommunikation über diese heiklen Themen zu durchbrechen und zu vermitteln, daß es möglich ist, eine Meinung klar zu vertreten, ohne die Ansichten anderer abzuwerten oder aggressiv zu werden.

Immer wieder versuchten sie mich zu provozieren. Das gehört zum Schema: vor allem Jugendlichen geht es bei NS-Sprüchen um Provokation und nicht um das Deklarieren einer NS-Ideologie; offensichtlich gelingt es ihnen sonst nicht, Aufmerksamkeit und Reaktionen zu bekommen. Daher blieb ich bei meiner Linie: auf jede Äußerung ruhig und sachlich zu reagieren, nachzufragen und sie dazu zu bringen, mir ihren Standpunkt verständlich zu machen. Damit wollte ich ihnen zeigen, daß ich ihre Ansichten zwar nicht teile, sie aber ernst nehme – ein für sie völlig ungewohntes, sichtlich irritierendes Verhalten, da sie nur UDN- oder »bestenfalls« MA- bzw. EA-Kommunikation gewöhnt sind.

Da mir nur fünf Abende zur Verfügung standen, konzentrierte ich mich auf das Thema »Gewalt«. Durch meine Kommunikationsweise wollte ich vermitteln, daß gewaltfreie Kommunikation möglich ist. Darüber hinaus wollte ich ihnen, ohne ihre Schwächen und Fehler zu bagatellisieren, ihre Stärken bewußt machen, ihre Fähigkeiten anerkennen, und indem ich mit ihnen wie mit Gleichberechtigten sprach, ihr Selbstbewußtsein stärken. Zuerst hielten sie das für einen Trick, um sie »weichzumachen«, bei einigen zeigten sich jedoch allmählich Ansätze erstaunten »Vertrauens« in meine Aufrichtigkeit.

Seit damals habe ich regelmäßig Workshops abgehalten: für Lehrer/innen, Bewährungshelfer/innen, Therapeutinnen und Therapeuten, auch für Gewerkschafter/innen; ich versuche, ihnen meine Methode weiterzugeben, ihnen vor allem aber verständlich zu machen, wie sehr die eigene Verstrickung in die NS-Zeit (sei es auch nur indirekt durch die UDN-Vermittlung der Eltern und Großeltern) zu Projektionen eigener Vorstellungen und Ängste führt und die nötige Distanz erschwert, die gerade im Umgang mit Jugendlichen bei den Themen Rechtsextremismus, Gewalt und Ausländer- bzw. Fremdenfeindlichkeit unbedingt notwendig ist. Und daß Gegenpositionen nur dann eine Chance haben, wenn sie in demokratischer Form (= vor allem emotionales Ernstnehmen der gegnerischen Position), also durch gewaltfreie, offene Kommunikation vermittelt werden.

Anregungen zur »Erinnerungsarbeit«*

Was war oder ist die Haltung meiner Eltern/Großeltern zum Dritten
Reich und insbesondere zu dem Unrecht, das den ganzen nationalsozialistischen Alltag
mitbestimmte?

Woher und wie zuverlässig weiß ich, was ich diesbezüglich weiß?

Habe ich nachgeforscht, was in dem Ort passiert ist, in dem meine Familie
damals lebte? Weiß ich, was meine Eltern/Großeltern von allem mitbekommen haben?

Ob sie sich dagegen gewehrt haben? Und wenn ja, wie das konkret aussah?

Weiß ich, ob meine Eltern/Großeltern eingeschritten sind, wenn Juden oder
andere »Volksschädlinge« in ihrer Gegenwart gedemütigt, bedroht oder angegriffen
wurden?

Habe ich überprüft, ob meine Eltern/Großeltern nicht zu den zahllosen
Tätern gehörten?

Habe ich bei dieser Überprüfung meine eigenen Kriterien von Täter- und
Mittäterschaft zugrundegelegt – unabhängig davon, was die Betroffenen mir sagten?

Weiß ich, wo mein Vater/Großvater an der Front war und welche NS-Verbrechen
dort passierten – unabhängig von den »normalen« Kriegshandlungen?

Weiß ich, was mein Vater/Großvater davon gesehen bzw. mitgetragen hat?

Haben meine Eltern/Großeltern Trauer, Scham oder Reue über die
NS-Vergangenheit gezeigt? Trauer, Scham oder Reue darüber, in dieser Zeit gelebt und sich
nicht anders verhalten zu haben?

Haben sie durchblicken lassen, daß sie sich so nicht wieder verhalten wollen?

Wie haben sie diese Absicht gegebenenfalls unter Beweis gestellt?

Bin ich schon einmal dem Gedanken nachgegangen, daß meine Wahrnehmung der
politischen Entwicklung, mein politisches Denken und Fühlen, von meinen Eltern geprägt
wurde? Daß deren Haltung zum Nationalsozialismus somit auch mich beeinflußt?

Wie fühle ich mich bei diesem Gedanken?

* Vgl. Rottgart, E. (1993), Das Gespenst lebt noch … Einbettung des
Rechtsextremismus in Deutschland. Wissenschaft und Frieden, 11, Nr. 1, S. 54

Albert Fuchs

Literatur

Bauriedl, Thea: Die Wiederkehr des Verdrängten. Psychoanalyse, Politik und der Einzelne. Piper 1988.

Bergedrofer Gesprächskreis: Hemmen Tabus die Demokratisierung der deutschen Gesellschaft? 1965.

Ebbingshaus, Angelika (Hg): Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus. Delphi Politik 1987.

Eckstaedt, Anita: Nationalsozialismus in der »zweiten Generation«. Psychologie von Hörigkeitsverhältnissen. Suhrkamp 1989.

Focke, Harald/ Reimer, Uwe: Alltag unterm Hakenkreuz. Rowohlt 1979.

Gravenhorst, Lerke/Tatschmurat, Carmen (Hg): TöchterFragen – NS-Frauengeschichte. Kore Verlag 1990.

Hauer, Nadine: Die Mitläufer Oder die Unfähigkeit zu fragen. Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Demokratie von heute. Leske+Budrich 1994.

Heimannsberg/ Schmidl (Hg): Das kollektive Schweigen. NS-Vergangenheit und gebrochene Idenität in der Psychotherapie. Asanger Verlag 1988.

Heinemann, Karl- Heinz/Schubarth, Wilfried (Hg): Der antifaschistische Staat entläßt seine Kinder. Jugend und Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Köln 1992.

Müller-Hohagen, Jürgen: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Die seelischen Auswirkungen der Nazizeit. Kösel 1988.

Sichrovsky, Peter: Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien. Kiepenheuer & Witsch 1987.

Westernhagen, Dörte: Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach. Kösel 1987.

Nadine Hauer ist Politologin und Journalistin in Wien

„Schwule Säue!“

„Schwule Säue!“

Rechtsextremismus und Konservativismus im homophoben Gleichschritt

von Bernhard Nolz

Eine Analyse der Situation der männlichen Homosexuellen in Deutschland während der letzten 50 Jahre seit dem Ende des nationalsozialistischen Terrorsystems ergibt eine wenig befriedigende Bilanz: 1945 werden zwar auch die Rosa-Winkel-Häftlinge aus den Konzentrationslagern befreit, aber auf der Grundlage des durch die Nationalsozialisten verschärften § 175 werden Homosexuelle in der BRD noch 25 Jahre lang abgeurteilt.

Durch die im Jahre 1994 erfolgte Streichung des § 175 aus dem Strafgesetzbuch sind zwar sexuelle Handlungen zwischen Männern über 16 Jahre nicht mehr strafbar, aber im politischen Handeln und Reden, vor allem im Zusammenhang mit Aids, läßt sich heute erneut eine zunehmende Diskriminierungsbereitschaft registrieren.1

Ich nehme den fünfzigsten Jahrestag des Endes von Krieg und Nazi-Diktatur zum Anlaß, an das ungebrochene Fortbestehen des Jahrhunderte alten Feindbildes Homosexualität als Orientierungs- und Handlungsmuster für konservative und rechtsextremistische Politik zu erinnern.2 Ihre Homophobie wird besonders deutlich bei der Darstellung der Geschichte des Strafrechtsparagraphen 175.

„Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ 3

Dieser Paragraph – übernommen aus dem preußischen Gesetzbuch von 1851, geändert in den Jahren 1935 und 1969/73 – hat im Kern bis 1994 in der Bundesrepublik Deutschland fortbestanden. Das Hauptinteresse meiner Darstellung ist auf einen Zeitabschnitt von rund 35 Jahren konzentriert. Denn bis zur Strafrechtsreform durch die sozial-liberale Koalition im Jahre 1969 haben konservative und rechtsextremistische Parteien die Politik in Deutschland – und damit auch gegenüber der homosexuellen Minderheit – bestimmt. Die stärkste rechtliche Verschärfung hat der § 175 durch die nationalsozialistische Diktatur erfahren. Die rechtliche Absicherung der Diskriminierung Homosexueller geschieht analaog zur Entrechtlichung anderer Minderheiten. Die Ausrottung der Schwulen wird von den Nazis allerdings nicht so konsequent tödlich verfolgt wie die der Juden. Doch bis heute werden den geschundenen Homosexuellen Rehabilitation und Wiedergutmachung verweigert bzw. in beschämend geringem Umfang und unter z.T. menschenverachtenden Bedingungen gewährt. Damit teilen sie das Schicksal von Roma, Sinti, Deserteuren und anderen politisch verfolgten Gruppen, denen als Opfer der Nazi-Diktatur im Nachkriegsdeutschland Gerechtigkeit versagt geblieben ist.

Nationalsozialistisches Strafrecht

Im Jahre 1935 wird die Schwere Unzucht (§175a) ins Strafrecht eingeführt. Als Straftatbestand genügt bereits eine Handlung, „die das geschlechtliche Scham- und Sittlichkeitsgefühl der Allgemeinheit verletzt und bestimmt ist, eigene oder fremde Geschlechtslust zu erregen“.

Der Interpretationsspielraum, den die Formulierung eröffnet und der implizierte Aufforderungscharakter zur Denunziation sind gewollt. Sie sichern das Konzept einer umfassenden Kriminalisierung von Homosexuellen der Öffentlichkeit gegenüber ab. Sonderdezernate der Kriminalpolizei werden eingerichtet, ein Spitzel- und Provokateursystem wird aufgebaut; Geheimerlasse ordnen die Überweisung von Wiederholungstätern in Konzentrationslager an, und für homosexuelle Angehörige von SS und Polizei wird die Todesstrafe verfügt. (Goebbels: „… Pestbeulen, Korruptionsherde, Krankheitssymptome moralischer Verwilderung … werden ausgebrannt, und zwar bis aufs Fleisch.“) Der Verfolgungsstaat nimmt konkrete Formen an.

Himmler, SS-Reichsführer und Chef der deutschen Polizei, erklärt 1937: „Die homosexuellen Männer sind Staatsfeinde und als solche zu behandeln!“ Homosexuelle in Deutschland teilen endgültig das Schicksal der politischen Verfolgung mit oppositionellen Politikern, Gewerkschaftern, Intellektuellen u.a. Die Diskriminierung homosexueller Bürger durch den Staat nimmt damit eine neue, nie dagewesene Dimension an.

Für die Kriminalisierung und Diskriminierung von Homosexuellen gibt es in der nationalsozialistischen Diktatur – wie zu allen Zeiten – dieselben Begründungen: Fortbestand der Menschheit und Volksgesundheit, Natur- und Sittengesetze, Moral- und Volksempfinden. In einem Kommentar zum § 175 aus dem Jahre 1935 wird von strafwürdigen Handlungen gesprochen, „die objektiv nach gesunder Volksanschauung das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung verletzen und subjektiv in wollüstiger Absicht vorgenommen werden. … Die wollüstige Absicht gehört bereits zum Begriff der Unzucht“.

Schon vorher hatte Hitler in »Mein Kampf« dargelegt, daß der „völkische Staat“ für die Reinerhaltung der Rasse zu sorgen habe und die Ehe nicht Selbstzweck sei, sondern „der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse dienen“ müsse. Bei der Erfüllung dieser Zuchtaufgabe fielen die Homosexuellen aus; als minderwertiger Bestand des Volkes waren sie daher nutzlos und von einem Ausmerzungsterror bedroht. Hans-Georg Stümke macht auf die Verbindung von Innen- und Außenpolitik aufmerksam: „… die bevölkerungspolitische Aufrüstung (blieb) nicht allein innenpolitischer Selbstzweck. Ihre Erfüllung fand sie im außenpolitischen Programm der NS-Regierung“ vom neuen Lebensraum des deutschen Volkes im Osten, der nicht ohne Krieg einnehmbar sein werde. Programme zur Steigerung der Rüstungs- und Menschenproduktion werden befohlen. („Unsere Rettung ist das Kind!“, Hitler 1942.) Ein während des Krieges begonnenes Versuchsprogramm am lebenden Menschen zur »Umpolung« von Homosexuellen bringt nicht den gewünschten Erfolg. Auch nicht – das zeigen Geburtsstatistiken – das von Himmler geforderte harte Durchgreifen der Polizei, um „die Fälle der Homosexualität und der Abtreibungen4 zu verringern, daß der durch diese Delikte verursachte Geburtenausfall auf ein Minimum herabgedrückt würde“.

„Da Homosexuelle in der bürgerlichen Sexualideologie prinzipiell als »Kranke und Kriminelle« angesehen wurden, erlitten sie im Rahmen jenes Primats das gleiche Schicksal wie alle jene, die aus dem Muster der Rassenzüchtungsmoral herausfielen. Die Übersteigerung der traditionellen Fortpflanzungsmoral zur Zuchtmoral bestimmte das typisch Nationalsozialistische an der Homosexuellen-Verfolgung in der Zeit von 1933 bis 1945“ (Hans-Georg Stümke).5

Bundesrepublikanisches Strafrecht

Auf der Grundlage des in der Bundesrepublik Deutschland unverändert weiter bestehenden NS-§ 175 setzt sich die juristische Verfolgung der Homosexuellen auch im demokratischen Staat ungebrochen fort. Er übernimmt das faschistisch geprägte Feindbild des Homosexuellen. Mit der Gründung schuf sich der neue Staat seine erste politisch verfolgte Gruppe; weitere sollten folgen. Zunächst schien allerdings die Befreiung Deutschlands vom Faschismus auch auf eine Befreiung vom Nazi-Un-Recht hinauszulaufen, da von den Siegern verboten wurde, weiterhin Rechtsvorschriften anzuwenden, die während der Nazi-Diktatur in strafverschärfender Weise erlassen worden waren. Das galt für den § 175. Doch schon in einer detaillierten alliierten Anweisung aus dem Jahre 1946 ist das Anwendungsverbot für den § 175 nicht mehr enthalten. Die politische Kontinuität der Schwulendiskriminierung von den Nazis über die Alliierten bis zu den demokratischen Deutschen bleibt gewahrt. Richter, die z.T. schon nationalsozialistisches Unrecht gesprochen hatten, lehnen Klagen gegen das Fortbestehen des NS-§ 175 ab. Die Realität politischer Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus findet in den Entscheidungen der (west-)deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit ab 1949 ebensowenig Akzeptanz bzw. Berücksichtigung wie die Tatsache, daß die Strafrechtsänderung des § 175 im Jahre 1935 durchgeführt wurde, als die Diktatur in Deutschland bereits fest etabliert war und die Nazis das erste Blut an den Händen hatten. Das Weiterbestehen des § 175 wird mit nationalsozialistischer Argumentation begründet: Biologismus („… auch für das Gebiet der Homosexualität rechtfertigen biologische Verschiedenheiten eine unterschiedliche Behandlung der Geschlechter …“) und Volksempfinden („Sittengesetz und eine natürliche Lebensordnung im Volke“). Mit dem Hinweis auf die Religionsgemeinschaften, „insbesondere die beiden christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich beurteilen“, greifen die Richter das jahrhundertealte Dogma von der Fortpflanzungsmoral auf.

Bis zur Reform durch die sozial-liberale Koalition im Jahre 1969 prägen die konservativen Argumente der CDU/CSU die Diskussion über die Homosexualität. 1962 wird beispielsweise amtlicherseits behauptet, daß an „Verfehlungen gegen § 175 StGB überwiegend Personen beteiligt sind, die nicht aus angeborener Neigung handeln, sondern durch Verführung, Gewöhnung oder geschlechtliche Übersättigung dem Laster verfallen sind“. Oder man beschwört die Gefahr: „Vor allem stände auch für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere Umgebung durch Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen.“ Das Strafrecht habe die Aufgabe, „einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“

In Zeiten des Kalten Krieges fällt es konservativen Politikern nicht schwer, ihre Affinität zur Nazi-Ideologie hinter einer Feindbildpropaganda gegen Homosexualität und Kommunismus zu verbergen. Sie verwirklicht sich in einer Politik, die nicht nur – wie schon die Nazis – durch familienpolitische Maßnahmen „einen Willen zum Kinde“ fördern will, sondern „Millionen innerlich gesunder Familien mit rechtschaffen erzogenen Kindern sind als Sicherung gegen die kinderreichen Völker des Ostens mindestens so wichtig wie alle militärischen Sicherungen“ (Familienminister Wuermeling). Und auch die Staatsfeind-These Himmlers, antikommunistisch gewendet, wird in den sechziger Jahren in konservativen und rechtsextremistischen Publikationen verbreitet; „Die Homosexuellen sind eine ungeheure Gefahr für die junge deutsche Demokratie.“

Mit der Strafrechtsreform des Jahres 1969 bzw. der Novellierung von 1973 wurde die Straflosigkeit homosexueller Handlungen von Männern vom 18. Lebensjahr an eingeführt. In den damit verbundenen Debatten und bei allen folgenden Versuchen, die völlige Streichung des § 175 zu erreichen, wurden in vielerlei Variationen die Argumente wiederholt, die die Notwendigkeit einer strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen über 100 Jahre lang zu begründen versuchten.

Politische und strafrechtliche Verfolgung statt Minderheitenschutz

Konservative und rechtsextremistische Parteien der jungen Bundesrepublik Deutschland beziehen sich programmatisch und/oder ideologisch – und zwar nicht nur in der Frage der rechtspolitischen Behandlung von Homosexuellen – in unterschiedlicher Weise, z.T. erklärtermaßen oder sich abgrenzen wollend, auf ihre Vorläufer in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«. Das gemeinsame Feindbild Homosexualität und die Diskriminierung von Homosexuellen als Umsetzung in gesellschaftspolitisches Handeln sind kennzeichnende Merkmale der Politik von konservativen und rechtsextremistischen Parteien in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg. Sie stellen sich auf diese Weise – auch nach dem Untergang der nationalsozialistischen Diktatur – in die Tradition faschistischer und antidemokratischer Ideologie und Politikgestaltung. Armin Pfahl-Traughber stellt die Affinität von konservativen und rechtsextremistischen Parteien in der BRD auf publizistischer Ebene für die achtziger und neunziger Jahre fest, die einer „Erosion der Abgrenzung von Konservativismus und Rechtsextremismus“ gleichkommen. Er spricht von „Brücken zwischen Rechtsextremismus und Konservativismus“ 6. Beispiele für derartige Brücken zwischen beiden politischen Lagern lassen sich viele finden. Häufig präsentieren sie sich in einem zeitgemäßen Gewande und verzichten auf die traditionelle rassistische Argumentation. Mit Hilfe des Schlagwortes von der „kulturellen Differenz“ etwa wird versucht, die Verbindlichkeit demokratischer Normen und die Gültigkeit individueller Menschenrechte aufzuweichen. Selten wird – wie in einem Flugblatt, das in Westfalen aufgetaucht ist – in aggressiver Weise von „Juden, Zigeunern, Homosexuellen und anderem Pack, das auszumerzen ist“ gesprochen. Bei den Verfassern solcher Pamphlete, aber auch bei denjenigen, die ihre rechtsextremistischen Botschaften so verpacken können, daß sie für viele akzeptabel erscheinen, stoßen Forderungen nach sexueller Freiheit oder die Verwirklichung einer Lebensweise als Praxis sexueller Freiheit auf Ablehnung. Sexuelle Selbstbestimmung des Individuums paßt – wie jegliches Beharren auf individueller Selbstbestimmung – nicht ins ideologische Konzept. Stattdessen werden alle Menschen »gleichgeschaltet«, was für Homosexuelle zur Folge hat, auch dem Zwang zur Heterosexualität unterworfen zu werden. Die Gewalthaltigkeit dieses politischen Handelns, die von staatlicher Seite in vielen Fällen geleugnet oder auch gar nicht erkannt wird, weil demokratisch bzw. gesellschaftlich legitimiert, steht im Gegensatz zu Projekten der Aufklärung und der Emanzipation. Die Nähe zum Faschismus, der die Menschenvernichtung der Minderheiten zum gesellschaftlichen Programm erhebt, ist evident. „So wie das nazistische Regime nicht zufällig das Regulierungsmittel der Zwangsarbeit praktizierte“, schreibt Rüdiger Lautmann, „wurde hier die Zwangsheterosexualität angewandt, um politische Ziele wie Produktivität der Arbeit und der Familie sowie Kontrollierbarkeit des Individuums zu erreichen. An den Homosexuellen wurde Programmtreue und Stärke der neuen Staatsform demonstriert.“ 7 Und das Programm konservativer und rechtsextremistischer Parteien in Deutschland nach dem Kriege, so ließe sich ergänzen, ist – bezogen auf Homosexuelle – geprägt von der Treue zum nationalsozialistischen (Un-)Recht und von der Proklamation der Stärke der neuen Staatsform, die sich als »wehrhafte Demokratie« etabliert und als unantastbar erscheinen möchte.

Minderheiten als Störpotential

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, daß Homosexuelle in allen Staatsformen diskriminiert werden und daß die Minderheit der Homosexuellen immer wieder instrumentalisiert wird, die Mehrheit zu disziplinieren. Homosexuelle erleben, daß das preußische Regulativ der Verdammung der Homosexuellen – es übernimmt die Intoleranz der christlichen Kirchen zu dieser Frage – in der neuen Weimarer Demokratie fortlebt. Homosexuelle werden Opfer der Exzesse der Nazi-Diktatur – wie andere Minderheiten auch – und sind lange Jahre sprachlos gegenüber der Legitimierung der vergangenen Untaten und der Tatsache fortwährender Diskriminierungen in der Bundesrepublik Deutschland.

Im starken Staat sind Minderheiten lästig, höchstens geduldet, notfalls werden sie eliminiert, denn sie stellen potentielle oder aktuelle Unruhestifter und Störenfriede dar.8 An ihnen – den sexuellen Abweichlern – wird den anderen vorexerziert, mit welchen »politischen« Mitteln Widerständige zu rechnen haben. Auf diese Weise versucht die Macht sich innen- und außenpolitisch zu legitimieren und knüpft an alten, von den aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern als längst überwunden geglaubten, von Konservativen und Rechtsextremen immer wieder aktivierten Politikvorstellungen an. Dazu paßt, daß friedliche Mittel der Auseinandersetzung, z.B. Diskussion, Täter-Opfer-Ausgleichsverhandlungen oder Verzicht, als untauglich für eine Konfliktlösung angesehen werden. Was Rüdiger Lautmann für ein faschistisches Regime im Hinblick auf den Umgang mit Homosexualität konstatiert, trifft auch ins Herz der Krise der heutigen Industriegesellschaft: „Ein faschistisches Regime wird oft die Homophobie schüren und benutzen, um die Herrschaftskrise zu meistern, der es selbst sein Entstehen verdankt.“ Die Minderheiten, die es »zu meistern« gilt, sind austauschbar; als Homosexuelle haben sie immer dasselbe Schicksal. In allen Zeiten – in der Monarchie, der neuen Weimarer Demokratie, in der Diktatur und wieder in der Demokratie (BRD) bzw. im Sozialismus (DDR) – kommen in Deutschland dieselben Diskriminierungsmuster gegenüber der homosexuellen Minderheit – immer auch in Gestalt des § 175 – zur Anwendung.

Ulrich Beck setzt auf das politische Potential von Minderheiten, Mehrheiten zu erringen. In seinem Konzept einer »Subpolitik«, einer Politik von unten, nehmen die Betroffenen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand.9 Diese Arbeit hört nie auf, und sie wird umso erfolgreicher sein, je offener sie sich in der gesellschaftlichen Diskussion zu Wort meldet.

Anmerkungen

1) Aus methodischen Gründen bezieht sich mein Beitrag nur auf die männlichen Homosexuellen; für die inhaltliche Beschränkung sprechen auch qualitative Aspekte. Zurück

2) Die Anregung zu diesem Beitrag erhielt ich von Prof. Dr. Jürgen Reulecke und PD Dr. Ute Daniel, Universität-Gesamthochschule Siegen. Zurück

3) Die Zitate aus Strafrechtsparagraphen und Politikdebatten sind entnommen aus: Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte. München 1989. Zurück

4) „Die strafrechtliche Ahndung der Abtreibung verlief (nicht nur in der neueren) deutschen Geschichte stets parallel zur Kriminalisierung der Homosexualität.“ (Stümke, S. 111) Zurück

5) Nach NS-Statistiken wurden ca. 50.000 Homosexuelle verurteilt, davon sind schätzungsweise 10.000 in Konzentrationslagern inhaftiert worden; vgl. Stümke, S. 127. Zurück

6) Vgl.: Armin Pfahl-Traughber: Brücken zwischen Rechtsextremismus und Konservativismus; in: Wolfgang Kowalsky/Wolfgang Schroeder (Hrsg.): Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz. Opladen 1994. Zurück

7) Rüdiger Lautmann: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt am Main 1977. Zurück

8) Vgl.: Wolfgang Gessenharter/Helmut Fröchling (Hrsg.): Minderheiten – Störpotential oder Chance für eine friedliche Gesellschaft. Baden-Baden 1991. Zurück

9) Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Frankfurt am Main 1993. Zurück

Bernhard Nolz ist Gesamtschullehrer in Siegen, Moderator in der Lehrerfortbildung und Sprecher der »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« (PPF).

Das Gespenst lebt noch …

Das Gespenst lebt noch …

Einbettung des Rechtsextremismus in Deutschland

von Elke Rottgardt

Der Rechtsextremismus in Deutschland hat in den letzten Jahren Ausmaße angenommen, die immer beängstigender werden. Viele Menschen stehen fassungslos davor und können es nicht verstehen, wie es passieren kann, daß massiv braunes Gedankengut und neonazistische Gewalt flächendeckend im ganzen Land wieder aufbrechen können.

„Der Nationalsozialismus lebt noch, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, oder ob es gar nicht erst zu Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“

Theodor Adorno

1992 habe ich im Rahmen einer psychologischen Dissertation eine Untersuchung abgeschlossen, in der ich mich damit beschäftige, wie nach 1945 in den Familien mit dem Thema Nationalsozialismus umgegangen worden ist. Die Ergebnisse dieser Untersuchung lassen eine psychodynamische Erklärung für den wiederaufkeimenden Rechtsradikalismus zu. Sie zwingen weiterhin zu dem Schluß, daß wir alle den Nationalsozialismus noch lange nicht überwunden haben und somit den Rechtsradikalen keine eindeutigen Grenzen setzen können.

Zunächst fordere ich den Leser und die Leserin auf, sich auf folgende Überlegungen einzulassen:

Niemand, der die NS-Zeit bewußt miterlebt hat, kann ohne Berührung zu den nationalsozialistischen Verbrechen geblieben sein: Juden wurden in aller Öffentlichkeit beschimpft, gedemütigt, verhetzt, bedroht, geschlagen. Sie wurden weitgehend aus dem Berufsleben, dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben verdrängt. In der sogenannten Reichskristallnacht wurden ihre Synagogen angezündet, Geschäfte verwüstet und geplündert. Die Vernichtung der Juden wurde öffentlich angekündigt. Mit Beginn der Deportationen 1941 rollten zunehmend mehr Züge durch das gesamte Reich, vollgestopft mit Menschen unter erbarmungswürdigen Umständen.

Der Terror richtete sich nicht nur gegen die Juden. Politische Gegner, Menschen, die sich unangepaßt verhielten (z.B. Schwule, Prostituierte, »Asoziale«, »Bibelforscher«) wurden erbarmungslos verfolgt. Körperlich und geistig Behinderte wurden zu »lebensunwertem Leben« erklärt und viele von ihnen ermordet. Ein dichtes Netz von Konzentrationslagern zog sich über das gesamte Reich. Fremdarbeiter, meist gegen ihren Willen nach Deutschland verschleppt, lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern. An der gesamten Ostfront fand ein Völkermord unvorstellbaren Ausmaßes gegen Juden und andere statt, unter Mithilfe der Wehrmacht.

Niemand, der 1945 noch ein kleines Kind war, bzw. erst danach geboren wurde, kann von vornherein davon ausgehen, daß seine Eltern bzw. Großeltern an den eben beschriebenen Menschenverletzungen und Verbrechen nicht beteiligt waren. Bitte stellen Sie sich jetzt folgende Fragen:

Wissen Sie, ob Ihre (Groß)Eltern eingeschritten sind, wenn Juden in ihrer Gegenwart gedemütigt wurden? Haben Sie ernsthaft überprüft, ob Ihre (Groß)Eltern wirklich nicht zu den vielen Tätern gehören? (Täter gab es in allen Lebensbereichen, nicht nur in den Konzentrationslagern.) Haben Sie bei dieser Überprüfung Ihre eigenen Kriterien zugrunde gelegt, unabhängig von dem, was Ihre Eltern sagen? Haben Sie nachgeforscht, was in dem Ort passiert ist, in dem Ihre Familie damals lebte? Wissen Sie, was Ihre (Groß)Eltern von allem mitbekommen haben? Ob sie sich dagegen gestellt haben? Und wenn ja, wie sah das konkret aus? Haben Ihre (Groß)Eltern Trauer, Reue oder Scham über die NS-Vergangenheit gezeigt? (Ich meine nicht die allgemeine Äußerung: „Das ist ja schrecklich, was die Nazis gemacht haben“, sondern ich meine Scham darüber, in dieser Zeit gelebt und sich nicht anders verhalten zu haben.) Haben Ihre (Groß)Eltern durchblicken lassen, daß sie sich so nicht wieder verhalten wollen? Kennen Sie die Haltung Ihrer (Groß)Eltern zu dem Unrecht, das den ganzen nationalsozialistischen Alltag mitbestimmte? Wissen Sie, wo Ihr (Groß)Vater an der Front war und welche NS-Verbrechen dort passierten, unabhängig von den »normalen« Kriegshandlungen? Wissen Sie, was Ihr (Groß)Vater gesehen bzw. mitgetragen hat? Sind Sie schon einmal dem Gedanken nachgegangen, daß Ihr Denken, Fühlen und Ihre Wahrnehmung von Ihren Eltern geprägt wurde und daß deren Haltung zum Nationalsozialismus somit auch Sie beeinflußt? (Es sei denn, Sie kennen diese Anteile an sich und können sich deshalb davon distanzieren.) Ich vermute, die meisten Leserinnen und Leser müssen diese Fragen mit „nein“ beantworten.

Kein persönlicher Bezug zum Nationalsozialismus

In 23 mehrstündigen Tiefeninterviews mit Gesprächspartnern, die nach 1945 geboren wurden und deren Eltern beim Zusammenbruch des »Dritten Reichs« erwachsen waren, habe ich u.a. die Fragen untersucht: Was wurde in den Familien über den Nationalsozialismus gesagt und wie wurde darüber gesprochen? Welche Haltungen der Eltern und anderen Verwandten wurden sichtbar? Welches Bild haben sich die Kinder von ihren Eltern gemacht, bezogen auf die NS-Vergangenheit? Wie setzen die Kinder sich mit dem Nationalsozialismus auseinander?1

Zusammenfassend erbrachte die Befragung folgende Ergebnisse:

In keiner Familie hatte man sich eindeutig vom Nationalsozialismus distanziert. Im Gegenteil, in der Mehrheit der Familien herrscht immer noch eine pronationalsozialistische Haltung vor. Entsprechend gab es nirgendwo eine offene, aufarbeitende Auseinandersetzung. Dort, wo Familienmitglieder sich wegen des Nationalsozialismus stritten, ging es lediglich um Beziehungskonflikte. Man warf sich vor, Nazi zu sein, spielte das Wissen über den anderen aus, ohne daß es tatsächlich um die Vergangenheit ging. Über NS-Verbrechen wurde weitgehend nicht gesprochen. Wenn die Eltern von sich aus zu dieser Zeit etwas sagten, stellten sie sich als Opfer oder unschuldige und unpolitische Menschen dar.

Die Kinder haben sich kein unabhängiges und in sich stimmiges Bild von ihren Eltern gemacht. Dieses Ergebnis ist durchgängig. Z.T. lehnen sie es ab, sich ein Bild zu machen, weigern sich, Stellung zu beziehen zum Verhalten der Eltern, sind erbost über meine Fragen nach Mitverantwortung oder Mitschuld der Eltern. („Das ist Anmaßung“, „Das interessiert mich nicht“) Manche verstehen einfach nicht meine Fragen nach Bewertung und Einschätzung des Verhaltens der Eltern oder sie blocken sie ab. Oder die Aussagen über die Eltern sind widersprüchlich: die Eltern werden gleichzeitig als Nazis und Antinazis bezeichnet, für schuldig und unschuldig gehalten. Innere Konflikte ersparen sich einige Kinder, deren Eltern deutliche Affinitäten zum Nationalsozialismus haben, indem sie diese idealisieren. Durch zahlreiche Entschuldigungen werden die Eltern von ihren Kindern auffällig in Schutz genommen.

Das Bedürfnis, die Eltern zu schützen, ist bei allen Kindern vorhanden. In diesem Zusammenhang fallen Denkhemmungen auf, die alle Kinder bezüglich ihrer Eltern haben. Am häufigsten kommt es vor, daß Kinder die Beschreibungen ihrer Eltern als Anhänger des Nationalsozialismus später nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Ein anderer Schutzmechanismus sind die Entschuldigungen, die ebenfalls alle Kinder für ihre Eltern haben und durch die denen die Verantwortung für ihr Handeln abgenommen wird. Häufigste (ungeprüfte) Entschuldigungen waren: „Sie konnten nicht anders“ und „Sie waren hilflos“. In etlichen Fällen wurden, hauptsächlich den Müttern, Dummheit, Naivität und mangelndes Bewußtsein attestiert. „Ich bin auch nicht besser als meine Eltern“ war für jedes zweite Kind eine Entschuldigung, mit der Stellungnahmen zu den Eltern verweigert oder entkräftet wurden.

Einen Grund für das ausgeprägte Schutzverhalten der Kinder sehe ich in den Konflikten mit dem Elternbild, die bei fast allen Kindern mehr oder weniger stark spürbar werden. Die Eltern werden mit Schuld in Verbindung gebracht, was aber gleichzeitig wieder verdrängt wird. Der Gedanke an eine mögliche Schuld ist nicht zu ertragen bzw. schwer zu Ende zu denken.

Sehr beschränkte Auseinandersetzung

Das Wissen der Kinder über die NS-Lebensgeschichte der Eltern, auch über die private, ist auffällig gering und beschränkt sich weitgehend auf die unpolitischen Anteile. Wenn den Kindern Fakten über das politische Leben der Eltern bekannt sind, beschränkt sich das auf punktuelles Wissen über Parteizugehörigkeit, SS-Zugehörigkeit, Zugehörigkeit zu Arbeitsdienst, BDM, HJ. Keines der Kinder weiß etwas über Haltung und Verhalten der Eltern bezüglich des Terrors, keines weiß definitiv, ob die Eltern in Verbindung zu NS-Verbrechen standen oder nicht. Wenn Vermutungen über die Eltern vorhanden sind, werden sie nicht konkretisiert und es wird ihnen nicht weiter nachgegangen. Niemand hat versucht, sich eindeutige Informationen über die Eltern zu beschaffen. Die »heiklen« Bereiche der NS-Geschichte der Eltern werden weitgehend ausgeklammert. Z.T. werden Wissenslücken mit eigenen, beschönigenden Vorstellungen gefüllt, die nicht zu dem passen, was sonst über die Eltern berichtet wird. Nur ein Sohn ist genauestens über die SS-Karriere seines Vaters informiert, über die in der Familie immer noch voller Stolz gesprochen wird. Die Frage nach Beteiligung an NS-Verbrechen läßt der Sohn allerdings ebenfalls nicht an sich heran.

Auch über die Kriegsgeschichte der Väter wissen die Kinder wenig, z.T. kennen die Kinder noch nicht einmal die Länder, in denen der Vater an der Front war. Niemand kann genauere Ortsangaben machen, wo der Vater gekämpft hat, Einheiten, Aufgaben der Väter und ihre Ränge in der Militärhierarchie sind weitgehend unbekannt.

Die Art und Weise, wie die Kinder sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen, zeigt eine deutliche Abhängigkeit von den Eltern. Zum Teil reproduzieren sie ungebrochen, was sie im Elternhaus gehört haben, zum größeren Teil finden sich Parallelen zu der Art, wie dort mit der Vergangenheit umgegangen worden ist.

In einigen Fällen habe ich den Eindruck, daß die Kinder durch ihr besonderes Engagement bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Schuld der Eltern tilgen wollen. In allen diesen Familien gibt es Hinweise auf Bezüge der Eltern zu NS-Verbrechen. Die Kinder sehen allerdings keine Verbindung zwischen ihrem Engagement und der Vergangenheit der Eltern.

Eine Auseinandersetzung der Kinder mit der Frage, welche Auswirkungen der Nationalsozialismus auf die eigene Person hat, gibt es kaum. Sie sehen sich weitgehend unabhängig von diesem geschichtlichen Zusammenhang. Auch hier zeigt sich die Parallele zum Elternverhalten, die über eigene Bezüge zum Regime geschwiegen haben.

Diese Ergebnisse zeigen, daß innerhalb der Familien der Nationalsozialismus verdrängt wird. Eltern und Kinder verhalten sich, als ob die NS-Vergangenheit mit ihnen persönlich nichts zu tun hätte. Aus der psychoanalytischen Theorie und Praxis aber ist bekannt, daß alles Verdrängte wirksam bleibt und jederzeit wieder auftauchen kann. Bei den von mir befragten Kindern wird das deutlich in einer mangelnden Abgrenzung vom Nationalsozialismus. Sie verharmlosen ihn oder legitimieren ihn sogar, genau wie die Eltern. Ich höre rassistische und antisemitische Bemerkungen. Es wird auch Faszination spürbar. Speziell in die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen mischt sich bei einigen Kindern Faszination für Leid und Tod mit hinein.2

Mit den Ergebnissen meiner Untersuchung bin ich auf heftige Abwehr gestoßen. Häufigste Kritik war, die Ergebnisse seien nicht verallgemeinerbar. Aber auch andere machen die gleichen Feststellungen: Die österreichische Journalistin Nadine Hauer hat mit 150 Österreichern und Deutschen Gespräche geführt, in denen sie die Schuldtraumatisierung der NS-Nachfolgegeneration beleuchtet. Die Eindrücke, die sie gewinnt, decken sich mit meinen Untersuchungsergebnissen. Auch sie stellt fest, daß die Elterngeneration sich mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus nicht auseinandergesetzt hat und die Kinder ihnen gegenüber erschreckend unkritisch sind.3 Peter Sichrowski kam in 40 persönlichen Interviews und zahlreichen weiteren Telefonkontakten mit Kindern sowohl prominenter Nazis als auch von Mitläufern zu der Erkenntnis, daß niemand die Eltern in der Rolle von Tätern gesehen hat.

Mangelnde Abgrenzung vom Rechtsextremismus

Wenn aber der persönliche Bezug zum Nationalsozialismus geleugnet und verdrängt wird, kann es keine oder nur eine schwache Sensibilität für Wiederholungsmechanismen geben, sowohl individuell als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Für die aktuelle politische Situation bedeutet das folgendes:

Von der älteren Generation, die damals und auch später nie „nein“ gesagt hat zum Nationalsozialismus, kann man ein ernst gemeintes Aufbegehren gegen den Rechtsextremismus heute nicht erwarten. Aber auch für die jüngere Generation gilt, daß ein verbal geäußertes „nein“ zum Rechtsextremismus nicht ungebrochen ist. Wer es nicht für möglich hält, daß der Nationalsozialismus auf ihn persönlich Auswirkungen hat, kann sich nicht oder nicht spontan gegen nationalsozialistische Tendenzen wenden.

Nicht nur Politiker, Bürokratie und Polizei sind auf dem rechten Auge blind, unsere gesamte Gesellschaft ist es. Der Rechtsextremismus ist eingebettet in eine Atmosphäre von Schweigen bis Billigung. Rechtsextreme müssen nicht damit rechnen, auf ernsthaften Widerstand in der Bevölkerung zu stoßen.4

Folgende Situation erscheint mir (noch) unmöglich in Deutschland: Eine Gruppe von Skins besteigt eine Straßenbahn und sofort entsteht eine allgemeine Stimmung des Widerstands bei den Fahrgästen mit dem Tenor: „Hier wird niemand angegriffen.“ Ich bin sicher, daß es ruhig bliebe. Angst bei den Fahrgästen, die dann das Startsignal für die Skins ist, kann nur deshalb um sich greifen, weil nicht mit allgemeiner Solidarität für das Opfer zu rechnen ist.

Viele Menschen verurteilen die Auswüchse der rechtsextremen Gewalt. Was aber tun dieselben Leute, wenn sie mit den Vorformen der Gewalt in Kontakt kommen? Wenn z.B. ihr Handwerker (der so sorgfältig arbeitet), der Kaufmann (der sonst immer so freundlich ist), der Nachbar (von dem man sich sowieso lieber fernhält) eine ausländerfeindliche, bzw. menschenverachtende Bemerkung macht? Mit den Eltern oder anderen Verwandten wird ja oft noch heftig diskutiert in solchen Situationen, obwohl das längst als fruchtlos erkannt wurde. Aber soll man sich mit jedem anlegen deshalb?

Um Kampf geht es m.E. auch nicht. Es geht darum, eine andere Atmosphäre zu schaffen. Eine Bemerkung wie: „In meiner Gegenwart keine solche Äußerung“ reicht aus, ein Gegengewicht zu setzen, ohne daß man sich gleich auf eine Diskussion einlassen muß. Kampf gegen den Rechtsextremismus beginnt auf der individuellen Ebene. Erst wenn die Stimmung in der Bevölkerung gegen rechte Unmenschlichkeit stark genug ist, werden Politiker und Bürokraten reagieren.5 Jeder muß sich mitverantwortlich fühlen für das, was passiert. Jeder ist mitverantwortlich für die Atmosphäre, die in unserem Land herrscht. Ein Nicht-Verhalten gibt es nicht, Schweigen bedeutet Zustimmung.

Man kann sich vornehmen, nicht passiv zu bleiben und sich innerlich auf die Situation vorbereiten, wie man reagieren will, wenn man z.B. sieht, wie Neonazis einen Ausländer angreifen. Aus meiner therapeutischen Arbeit und eigener Erfahrung weiß ich, daß diese innere Vorbereitung funktioniert. Wenn ich etwas wirklich nicht haben will, kann ich reagieren. Voraussetzung für diese Reaktionsfähigkeit ist allerdings eine ungebrochene Ablehnung rechtsextremen Denkens und Handelns. Diese Eindeutigkeit erfordert aber auch, daß man seine eigenen nationalsozialistischen Anteile kennt. Jeder muß sich darüber im klaren sein: wenn er in einer Familie aufgewachsen ist, die sich nicht eindeutig vom NS-Regime abgegrenzt hat, übernimmt er Anteile der elterlichen Affinität zum Nationalsozialismus. Erst, wenn man diese Seiten an sich kennt und sich darüber erschreckt, kann man sich von ihnen distanzieren.

Gewaltpotentiale sind immer noch wirksam

Der Grund, warum es schwer ist, nationalsozialistische Gewalt zu erkennen und darauf zu reagieren, läßt sich noch von einer weiteren Seite her beleuchten. In vielen deutschen Nachkriegsfamilien herrschte bis weit in die 60er Jahre hinein ein Erziehungsstil, der auf Härte, Disziplin, unbedingten Gehorsam und damit Rechtlosigkeit der Kinder basierte. Es ist der gleiche Erziehungstil, den auch die Elterngeneration und die Generationen davor über sich ergehen lassen mußten.

Dieser Umgang mit Kindern bringt Menschen hervor, die abgestumpft sind gegenüber Schmerz, Trauer, Mitleid und die bereit sind, die erlittenen Demütigungen, Disziplinierungen und Züchtigungen an anderen, Schwächeren, zu wiederholen. Ihren Höhepunkt hat die aus diesem Erziehungsstil resultierende Gewaltbereitschaft in der NS-Zeit gefunden, als Gewalt gegen Unerwünschte bis hin zu Mord legitim war und den nationalsozialistischen Alltag stark mitbestimmte. Die Menschen konnten unter dem Deckmantel der nationalsozialistischen Rassen- und Herrenmenschenideologie ihre destruktiven Seiten voll ausleben.

Diese Gewalterlebnisse der Elterngeneration haben die Atmosphäre in den Familien auch nach 1945 bestimmt. Die Menschen, die die NS-Zeit miterlebt und mitgetragen haben, konnten nicht auf einmal liebevoll und weich sein. Im Gegenteil, die NS-Zeit hat Gewaltpotentiale geweckt und ausgelöst, welche die aus der Zeit vor 1933 wahrscheinlich überstiegen und die auch nach Ende der NS-Zeit im Raum standen und stehen.

Sowohl in meiner Untersuchung als auch in meiner klinischen Arbeit als Psychotherapeutin werde ich mit diesen Gewaltpotentialen immer wieder konfrontiert. Elternverhalten erinnert oftmals an nationalsozialistische Gewalt. Für die betreffenden Kinder ist das nur auszuhalten, wenn sie eigene Gefühle und den wahren emotionalen Gehalt des Elternverhaltens leugnen. Nicht selten kommt es vor, daß Kinder6 vom Desinteresse und z.T. schlimmer psychischer und physischer Brutalität ihrer Eltern erzählen und gleichzeitig behaupten: „Die meinen es nicht so. In Wirklichkeit lieben meine Eltern mich.“

Folge dieser Leugnung von elterlichem Desinteresse am Schicksal der Kinder und von Gewalt in der eigenen Familie ist eine Duldung von Gewalt auf gesellschaftlicher Ebene. Die Ziele der Rechtsextremen, nämlich Deutschland von den, wie sie meinen, belastenden Ausländern zu befreien, werden von erschreckend großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen. Schicksale und Gründe, weshalb die Menschen hier sind, finden dabei wenig Beachtung. Zwar gibt es viele Formen von Gewalt (z.B. linke), die eindeutig verurteilt und verfolgt werden, rechte Gewalt scheint aber nicht dazuzugehören. Wie sonst ist es zu erklären, daß Polizei, Bürokratie und Politiker immer noch schleppend reagieren auf rechte Ausschreitungen? Wer innerhalb der Familie rechte Gewalt nicht erkennen, bzw. sich davon nicht distanzieren kann, wird sich auch außerhalb der Familie nicht spontan dagegen wehren.

Ich befürchte, daß der Rechtsrextrmismus in Deutschland aufgrund unserer Geschichte eine andere Qualität hat als der in anderen Ländern. Auch wenn Ende der 60er Jahre durch die Idee der antiautoritären Erziehung bei jungen Eltern ein Umdenken stattfand, und sie begannen, sich vom Prinzip des unbedingten Gehorsams zu distanzieren, so fehlte ihnen doch das Modell für partnerschaftliches Verhalten ihren Kindern gegenüber. Denn was man nicht in eigener Erfahrung kennengelernt hat, kann man nicht praktizieren. Antiautoritäre Erziehung entglitt zu Mangel an Orientierungshilfe und zu seelischer Verwahrlosung der Kinder. Manche dieser Eltern sind heute erschreckt darüber, daß ihre Kinder sich zu den Großeltern hin orientieren und sich autoritäre, rechte Haltungen zu eigen machen. Und auch da muß man kritisch hinterfragen, ob die fortschrittlichen jungen Eltern der 70er Jahre sich wirklich mit der eigenen Familie und deren Verknüpfung zum Nationalsozialismus auseinandergesetzt, oder ob sie unbewußt nicht doch die autoritären, rechten Haltungen ihrer eigenen Eltern reproduziert haben.

Wiedervereinigung und Rechtsextremismus

Daß der Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR stärker wiederaufgebrochen ist als in den alten Bundesländern, läßt sich psychologisch auf zwei Ebenen erklären. Zum einen neigen Menschen dazu, sich in Zeiten von Verunsicherung nur noch auf sich selbst zu beziehen und sich nach außen hin abzuschotten. Jeder kennt wahrscheinlich Zustände, in denen er sich mies fühlt und deshalb mit niemandem etwas zu tun haben will. Der Andere wird dann als störend empfunden. Diesen Prozeß findet man sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Das Andere, das Fremde verunsichert noch stärker und wird deshalb bekämpft, oftmals sogar als Grund der Verunsicherung interpretiert. Ohne die Realität zu überprüfen, werden Ausländer zum Grund allen Übels erklärt. Die Verunsicherung der Bevölkerung in den neuen Bundesländern ist erheblich größer als die in den alten und damit die Tendenz, sich abzuschotten und sich ein Feindbild zu schaffen, entsprechend größer.

Den anderen Grund für den stärkeren Rechtsextremismus in Ostdeutschland sehe ich darin, daß der persönliche Bezug zum Nationalsozialismus dort noch stärker verdrängt wurde als im Westen. Mit dem Pachten der »antifaschistischen« Haltung und dem Verweisen darauf, alle Nazis befänden sich im Westen, hat die gesamte DDR-Bevölkerung sich davon befreit, sich individuell mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Eine Verunsicherung wegen der NS-Vergangenheit haben die Menschen im Osten sich noch mehr erspart als die im Westen. Verantwortung für ihr Verhalten haben sie nicht übernommen. Damit war die psychologische Voraussetzung für die Fortführung eines diktatorischen Systems gegeben. Antiautoritäre Erziehungsgedanken und ein Aufbegehren gegen die Elterngeneration wie in der Achtundsechzigerbewegung im Westen waren unmöglich. Mit der Leugnung von Verantwortung für die NS-Vergangenheit haben die Menschen sich einem gigantischen Selbstbetrug hingegeben und gleichzeitig den Nährboden für eine Wiederkehr des Verdrängten gebildet.

Einer der Gesprächspartner aus meiner Untersuchung hat mir diese Verdrängung sehr plastisch vor Augen geführt: Er ist Kind aus einer politischen Widerstandsfamilie. Seine Eltern sind seit den 30er Jahren Kommunisten und bezeichnen sich als Verfolgte des Naziregimes. Mein Gesprächspartner hatte bis zum 13. Lebensjahr in der DDR gelebt, bevor er mit seinen Eltern in den Westen zog. Im Laufe des Gesprächs mit ihm wurde mir immer klarer, daß es sich bei den Eltern, obwohl Kommunisten, gar nicht um Widerstandskämpfer handelte. Im Gegenteil, sie erschienen mir eher wie Mitläufer und der junge Mann, mit dem ich sprach, zeigte Identifizierungen mit dem Naziregime, wie ich sie bei Kindern aus Nazi- und Mitläuferfamilien erlebte. (Bei anderen Kindern aus Widerstandsfamilien gab es das eindeutig nicht.) Auffällig war, daß er nichts Konkretes über seine Eltern in der NS-Zeit wußte, trotzdem war er vollgestopft mit antifaschistischen Sprüchen, die er nicht nur in der Schule, sondern auch von seinen Eltern gehört hatte. Das Elternbild, das er sich gemacht hatte, basierte lediglich auf diesen Sprüchen, die er wie Formeln aufsagte.

M.E. ist es kein Zufall, daß der Rechtsextremismus gerade nach der deutschen Vereinigung so massiv wieder aufgetaucht ist. Der Nationalsozialismus, für die meisten Deutschen eine sehr intensive Zeit, war die letzte Gemeinsamkeit zwischen Ost- und Westdeutschen vor der Teilung. Durch die Vereinigung ist der »alte« Zustand wiederhergestellt und emotional wird an diese Zeit angeknüpft. Das gilt auch für die nach 1945 geborenen Menschen, was sich z. B. daran zeigt, daß bei der Maueröffnung auch die jungen Leute nicht emotionslos waren. Meine Untersuchung hat ebenfalls gezeigt, daß sich die Gefühle der Eltern zum Nationalsozialismus an die Kinder vermitteln. Da Verdrängtes so lange wiederkommt, bis man es zur Kenntnis nimmt und bearbeitet, sollten wir die Welle des Rechtsextremismus nutzen, unser ganz persönliches Verhältnis zum Nationalsozialismus, daran erinnernde Verhaltensweisen und Haltungen zu überprüfen. Wenn man in einer pronationalsozialistisch denkenden Familie aufgewachsen ist, ist es keine Schande, solche Anteile auch bei sich zu finden, denn den Einflüssen der Familie kann niemand entgehen. Es gibt aber die Chance, sich wirklich davon zu distanzieren, wenn man diese Einflüsse nicht leugnet und im täglichen Alltagsgeschehen darauf achtet, sich demokratisch zu verhalten.

Literatur

Bettelheim, Bruno (1969): Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. Kindler, München.

Giordano, Ralph (1987): Die zweite Schuld oder die Last Deutscher zu sein. Rasch und Röhrin, Hamburg.

Gruen, Arno (1987): Der Wahnsinn der Normalität. dtv, München.

Hauer, Nadine (1990): Schuldtraumatisierung der NS-Nachfolgegeneration. Unveröffentlichtes Manuskript.

Miller, Alice (1983): Am Anfang war Erziehung. Suhrkamp, Frankfurt.

Müller-Hohagen, Jürgen (1988): Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Die seelischen Auswirkungen der Nazizeit. Kösel, München.

Richter, Horst-Eberhard (1986): Die Chance des Gewissens. Hoffmann und Campe, Hamburg.

Rottgardt, Elke (1993): Elternhörigkeit. Nationalsozialismus in der Generation danach. Kovac, Hamburg.

Sichrowski, Peter (1987): Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien. Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Wiesenthal, Simon (1988): Recht, nicht Rache. Ullstein, Frankfurt – Berlin.

Anmerkungen

1) Meine Gesprächspartner habe ich folgendermaßen gefunden: In meinem Bekanntenkreis habe ich von meinem Vorhaben erzählt und gebeten, deren Freunde und Bekannte zu fragen, ob sie an einem Gespäch mit mir interessiert sind. Ich habe nicht bewußt selektiert, sondern mich eingelassen auf die Personen, die von sich aus auf mich zukamen. Zurück

2) Alle meine Gesprächspartner gaben sich fortschrittlich und eher links eingestellt. Keiner machte auch nur im geringsten den Eindruck, als würde er sich in der Tradition des Nationalsozialismus sehen. Zurück

3) Hauer hat ihre Gesprächspartner über Zeitungsanzeigen gefunden. Zurück

4) Die zahlreichen Demonstrationen nach den Morden von Mölln waren spontan und geben damit Anlaß zu Hoffnung. Trotzdem bilden sie m.E. nur eine dünne Decke des Widerstands, verbal geäußert. Zurück

5) Das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten wurde zwar nicht ganz, aber weitgehend, gestoppt, weil es deswegen Unruhe in der Bevölkerung gab. Zurück

6) Gemeint ist hier der Standort als Kind. Tatsächlich sind die Menschen erwachsen, mit denen ich arbeite. Zurück

Dr. Elke Rottgardt ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin in Köln.

Neue APO von rechts?

Neue APO von rechts?

Rechtsextremismus und Rassismus im vereinigten Deutschland

von Christoph Butterwegge

Spätestens seit den beiden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein am 5. April 1992 und den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen, aber auch anderen (ost- wie westdeutschen) Städten, ist Rechtsextremismus in der Bundesrepublik keine Randerscheinung mehr. Was hat sich gegenüber den Ausschreitungen in Hoyerswerda (September 1991) geändert?

Die Gewalt gegenüber Ausländern und AusländerInnen wurde diesmal von organisierten Neofaschisten inszeniert, logistisch unterstützt und zentral gelenkt; obwohl sie auch gegen Vertreter des Staatsapparates gerichtet war, spielten Behörden, Polizei und Justiz eine höchst fragwürdige Rolle, die teilweise sogar bis zur Kumpanei reichte; schließlich führte die völkisch-nationalistische Aufladung vormals »unpolitischer« Jugendrandale zur Wiederbelebung des Antisemitismus; deutlich sichtbar bei der Schändung jüdischer Gedenkstätten in den ehemaligen KZs Sachsenhausen und Ravensbrück sowie Äußerungen eines Rostocker CDU-Kommunalpolitikers gegenüber Ignatz Bubis, dem Zentralratsvorsitzenden der Juden.1

Der Rechtsextremismus/Rassismus ist kein monolithitischer Block, sondern ein komplexes Phänomen. Der organisierte Rechtsextremismus teilt sich in Parteien und Gruppen, die zur »alten« bzw. zur »neuen« Rechten zählen, parlamentarisch ausgerichtet sind und/oder militante bzw. terroristische Aktionsformen bevorzugen. Die Wahl solcher Parteien beruht nicht nur auf der Unzufriedenheit mit dem parlamentarisch-demokratischen Regierungssystem der Bundesrepublik, sondern auf rassistischen Denkweisen, Gesinnungen bzw. Orientierungsmustern im Massenbewußtsein, die durch ausländerfeindliche Propaganda (mit der Parole „Ausländer raus!“ oder „Deutschland den Deutschen!“) aktiviert werden. Rechtsextreme Gewalt bzw. Rechtsterrorismus richtet sich nicht nur gegen Ausländer/innen und Asylsuchende, sondern auch gegen andere Minderheiten, die man für »undeutsch« erklärt (Behinderte, Homosexuelle, Punks u.a.m.).

Der Rassismus wiederum bildet zusammen mit anderen Kernideologien die geistige Klammer zwischen den genannten Erscheinungsformen, zwischen Organisationen, »Protestwählern«, Stammtischbrüdern und Gewalttätern. Er zerfällt in intellektuellen Rassismus, d.h. Theorien, die meistens in einem (pseudo)wissenschaftlichen Gewand auftreten, wie zum Beispiel der »Ethnopluralismus«, strukturellen bzw. institutionellen Rassismus, der die staatliche Ausländer- und Asylpolitik prägt, sowie individuellen bzw. Alltagsrassismus, der durch Massenmedien und Sozialisationsmechanismen vermittelt wird.

Rechtsextremismus ist kein Atavismus, keine politische Restgröße aus dem Gruselkabinett der Ewiggestrigen, sondern ein Produkt des Zeitgeistes, d.h. Folge aktueller Entwicklungsprozesse (einer Atomisierung, Individualisierung und Entsolidarisierung) der Gesellschaft. Er hält einer modernen, mit Gewalt durchsetzten Leistungsgesellschaft, die sich immer mehr ausdifferenziert und ökonomisch wie soziokulturell polarisiert, den Spiegel vor und zeigt – wenn auch verzerrt, durch ideologische Reflexion und die deutschnationale Tradition vielfältig gebrochen – ihr Ebenbild. „Gewalt hat in atemberaubender Dichte Alltag durchsetzt. Zerstörung von Lebensräumen, von Alltags- und Lebensplanungen brechen sich durch Gewalt Bahn.2

Eine Gesellschaft, die immer mehr Gruppen (z.B. Ausländer/innen, Homosexuelle, Aidskranke, Behinderte, alleinerziehende Mütter, Arbeitslose, Jugendliche ohne Lehrstelle und Berufsausbildung, Obdachlose, Drogenabhängige) an den Rand drängt, marginalisiert und ausgrenzt, darf sich nicht wundern, wenn ein wachsender Teil ihrer Mitglieder – meistens nach rechts – radikalisiert wird. Zwar erscheint uns die moderne Industriegesellschaft im historischen Vergleich nicht gewalttätiger als ihre Vorgängerinnen. Was sie jedoch von diesen unterscheidet, ist ihr zivilisationstheoretisch begründeter Anspruch einer friedlichen Lösung sozialer Konflikte, verbunden mit einer Glaubwürdigkeitslücke, einer signifikanten Kluft zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. So wuchs die Brutalität jugendlicher bzw. Kinderbanden, einzelner Subkulturen (Skinheads, Hooligans) und neonazistischer Gruppen in demselben Maße, wie das Gewaltpotential in den unterschiedlichsten Lebensbereichen, wie Ellenbogenmentalität im Berufsleben und die Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr zunahmen.

Die Bedeutung der Wiedervereinigung für das »Wiedererwachen« des Nationalismus und Rassismus

Nach Verwirklichung der Währungsunion im Juli 1990 erfuhren DDR-Bürger/innen schmerzhaft, daß die Werbespots des Westfernsehens mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen und daß Marktwirtschaft sich keineswegs auf die Warenfülle der Supermärkte beschränkt, sondern mit sozialer Unsicherheit, mit (größtenteils begründeter Furcht vor) Arbeitslosigkeit und Armut einhergeht. Die Art und Weise, wie der Vereinigungsprozeß vollzogen wurde, bestätigte und verstärkte in der Ex-DDR verbreitete Minderwertigkeitskomplexe, die durch eine Überbetonung des eigenen Deutschtums und die nationalistische Abgrenzung von Osteuropäern kompensiert wurden.3 »Kolonisierung« und Deindustrialisierung Ostdeutschlands förderten eine Renationalisierung und politische Radikalisierung seiner Bewohner/innen, die wieder einmal nur Bürger/innen zweiter Klasse sind. Menschen, die sich wie „Fremde im eigenen Land“ fühlten4, richteten ihre durch Frustrationen entstandenen Aggressionen jedoch nicht gegen die neuen Machthaber, sondern gegen Schwächere, Asylsuchende und Ausländer.

Die Erklärung der Pogrome aus der sozialen Umbruchsituation darf aber nicht zur Entschuldigung für die Täter und zur Verharmlosung rassistisch motivierter Gewalttaten herhalten. Da rechtsextreme Ideologien und Organisationen immer nur Erfolg haben, wenn sie Unzufriedenheit der Unter- bzw. vom sozialen Abstieg bedrohten Mittelschichten aufgreifen und ausdrücken, mithin ohne rebellische Basisimpulse überhaupt nicht denkbar wären, spricht man ihnen leichtfertig einen plebejisch-revolutionären Charakter zu. So bezeichnet Wolfgang Brück den Rechtsextremismus als Phänomen, das Züge einer „sozialrevolutionären Bewegung“ trage.5 Thomas von Freyberg wiederum konstatiert, die Welle von Gewalttätigkeit in der Bundesrepublik habe „den Charakter einer anachronistischen Rebellion, getragen von Diskriminierten und von Diskriminierung Bedrohten. Sie ist rassistisch nach unten, sie ist rebellisch nach oben.6

Die Skinhead-Szene wird unter Vernachlässigung bzw. Verwischung wesentlicher Unterschiede mit linksoppositionellen Jugendkulturen der 60er Jahre gleichgesetzt, die Selbststilisierung der sog. Neuen Rechten, im Mythos vom „neuen 1968“ mündend7, unkritisch übernommen. Rechte Randale ist jedoch kein „Protest gegen die Verantwortung“, wie Burkhard Schröder meint8, sondern spiegelt – ganz anders als die APO – gesellschaftliche Gewaltverhältnisse und Verantwortungslosigkeit wider. Zwischen Gewalt und Gewalt gibt es gewaltige Unterschiede. Farbbeutel sind keine Brandflaschen, und heute Molotowcocktails gegen Flüchtlingswohnheime zu werfen ist mit dem Schleudern von Molotowcocktails gegen das Springer-Hochhaus nur bedingt vergleichbar. Während damals mit dem BILD-Verlag ein Symbol der (ökonomischen und Medien-)Macht das Ziel war, sind es jetzt wehrlose Menschen. Genauso demagogisch ist die Gleichsetzung autonomer Störaktionen bei der großen Berliner Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit am 8. November 1992 mit den neofastischen Brandanschlägen, gegen die sie sich richtete. Politiker der Regierungsparteien verurteilten den „Extremismus von links und rechts“ oder sprachen vom „Terror der Straße“ (Helmut Kohl), ohne auch nur den Versuch einer Differenzierung zu machen. Ähnliche Aktions- und Erscheinungsformen dürfen jedoch nicht über gegensätzliche Motive solcher Bewegungen hinwegtäuschen.

Die ungleichmäßige Entwicklung des Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland, seine Parlamentarisierung in den alten und seine zunehmende Radikalisierung in den neuen Bundesländern9, beruht auf einer Ungleichzeitigkeit der ökonomischen, soziokulturellen und politischen Entwicklung beider Landesteile. Während die schwere Transformationskrise und die zunehmende Brisanz der sozialen Frage (Pauperisierung vieler »Vereinigungsverlierer«) die Militanz des Rechtsextremismus im Osten erklären, begründen die wirtschaftliche Vormachtstellung und die innere Abwehrhaltung gegenüber globalen Herausforderungen, wie etwa dem Weltflüchtlingsproblem mit einer verstärkten Zuwanderung (Stichwort: »Wohlstandschauvinismus«), seine größere Resonanz bei bürgerlichen, besitzenden Kreisen im Westen.

Solange Millionen Menschen den »Aufbau Ost« durch die Erhöhung von Massensteuern, einen »Solidaritätszuschlag« und Sozialabbau finanzieren, während westdeutsche Millionäre (z.B. Besitzer von Versandhäusern, Verlagen, Versicherungen, Baumärkten und Banken) davon profitieren, ohne einen Lastenausgleich fürchten und eine Vermögens- bzw. Investitionsabgabe zahlen zu müssen, wächst die Gefahr, daß Sündenböcke und Prügelknaben (im wahrsten Sinne des Wortes) gesucht werden.

Europa: »grenzenloser Rassismus« oder Basis für eine multikulturelle Gesellschaft?

Die Wiege des neuzeitlichen Rassismus und Antisemitismus stand in Europa, wo 1492, vor genau 500 Jahren, mit der Vertreibung von Juden und Muslimen aus dem wieder christlich gewordenen Spanien sowie der Eroberung fremder Kontinente das Fundament einer neuen, bis heute bestehenden Weltordnung gelegt wurde. Während sich die kapitalistische Warenproduktion und bürgerliche Nationalstaaten herausbildeten, wurde die Ausbeutung, Versklavung und Ausrottung ganzer Völker gerechtfertigt, indem man diese als »rassisch« minderwertig darstellte.

Mitte des 19. Jahrhunderts begründete Arthur Comte de Gobineau die moderne Rassenlehre. Die Französische Revolution interpretierte der Aristokrat als soziobiologische Degeneration, den Niedergang seiner Gesellschaftsschicht als Verdrängung der Arier.10 Daraus ergab sich das Dogma der »Reinheit des Blutes«, von Richard Wagner und Stewart Houston Chamberlain weiterentwickelt, genauer gesagt: um nationale Mythen (Germanenkult) bereichert und im Sinne des deutschen Bürgertums antisemitisch zugespitzt.11

Unter Berufung auf Gobineau, Wagner und Chamberlain übernahm die NS-Bewegung den Antisemitismus. In Auschwitz wurde der Rassismus, verstanden als Programm zur Ausrottung ganzer Völker, bestialische Realität. Nach dem Holocaust war er zunächst völlig diskreditiert; doch bald trat neben den fortexistierenden Kolonialrassismus ein differentialistischer oder Kulturrassismus12, der sich durch die Betonung »erlernter« statt »angeborener« Unterschiede einerseits und den Verzicht auf ethnische Rangskalen andererseits vom »Geruch der Gaskammern« befreit hatte. Der Rassismus kehrte damit nach einem grundlegenden Form- und Funktionswandel gewissermaßen zu seinen Wurzeln zurück: Im antiken Griechenland wurden nicht etwa Schwarze – wegen ihrer Hautfarbe – verachtet, sondern Angehörige derjenigen Völker zu »Barbaren« erklärt und versklavt, die nicht mit der griechischen Sprache bzw. Kultur vertraut waren.13

Im Laufe des (west)europäischen Integrationsprozesses dürfte der Rassismus zur Legitimationsideologie der »Wohlstandsfestung«, zum Euronationalismus bzw. -chauvinismus werden, der nicht mehr nur die verschärfte Ausbeutung, sondern auch die Abschottung gegenüber (Flüchtlingen aus) der sog. Dritten Welt rechtfertigt. Die Vollendung des EG-Binnenmarktes und die Vorbereitungen für eine Wirtschafts- und Währungsunion spielen sich auf dem Hintergrund tiefgreifender Veränderungen des politischen Klimas ab: Mit der Aufhebung von Handelsschranken, Zollbarrieren und Grenzpfählen innen vollzieht sich die Errichtung neuer Mauern – nach außen und in den Köpfen.

Kristallisationskern aller Bemühungen um das Zusammenleben von Deutschen/Europäern und Einwanderern aus anderen Teilen der Welt ist das Konzept einer »multikulturellen Gesellschaft«. Der Begriff stammt aus Kanada, wo die Regierung den kulturellen Pluralismus im Oktober 1971 zum Programm erklärte14, um denjenigen, die weder zur englischsprachigen Bevölkerungsmehrheit noch zur frankokanadischen Minderheit zählten, bestimmte Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. Diese Terminologie wurde in Westeuropa gegen Ende der 70er Jahre aufgegriffen.

Die »multikulturelle Gesellschaft« ist bislang eher ein – höchst mißverständliches und mehrdeutiges – Schlagwort als ein in der Realität erprobtes Modell. Unterschiedliche politische Kräfte versuchen, diesen Begriff zu besetzen und mit Inhalt zu füllen.15 Der Terminus »multikulturelle Gesellschaft« wird in zweierlei Weise benutzt: als Zustandsbeschreibung und als Zielbestimmung. In der ersten Bedeutung scheint der Begriff nichtssagend, wenn nicht irreführend zu sein. Denn die bloße Koexistenz mehrerer Völker, Volksgruppen oder Religionsgemeinschaften auf ein- und demselben Territorium sagt wenig über ihre Beziehungen zueinander aus. Daher ist der Begriff nur für das gedeihliche Miteinander, nicht das Nebeneinander unterschiedlicher Ethnien zu verwenden. Sonst wäre ja selbst Auschwitz mit Lagerinsassen aus aller Herren Länder eine »multikulturelle Gesellschaft« gewesen!

Daß auch Vertreter der sog. Neuen Rechten diesen Begriff benutzen, spricht nicht gegen ihn, wie Lutz Hoffmann meint16, sondern für seine große Ausstrahlungskraft, der sich selbst die Gegner einer solchen Konzeption nicht entziehen können. Kritiker monieren, daß der Multikulturalismus dem Nationalstaatsdenken nur vordergründig eine Absage erteile, diesem jedoch verhaftet bleibe.17 Durch seine Beschränkung auf das Kulturelle vernachlässige er ökonomische und soziale Zusammenhänge. Dieser Argumentation ist zu entgegnen, daß sich Kultur von den ökonomischen und politischen Herrschafts- bzw. Machtverhältnissen nicht trennen läßt. Multikulturalismus und offene Republik bilden keinen Gegensatz, sondern ergänzen sich in einer »multikulturellen Demokratie«, die Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid als Wagnis bezeichnen.18

Was man gegen den Rechtsextremismus und Rassismus tun kann

Patentrezepte zur Bekämpfung der rechtsextremen Gefahr gibt es nicht, aber eine Vielzahl von Ansätzen, die sich wechselseitig ergänzen und miteinander kombinieren lassen.19 Gegenstrategien müssen auf mehreren Ebenen ansetzen: zuerst bei den (potentiellen) Opfern rechtsextremer Gewalt, Flüchtlingen und Arbeitsmigranten. Gleichberechtigung und Rechtsgleichheit bilden die Grundlage einer multikulturellen Gesellschaft. Demgegenüber stellt das fehlende Wahlrecht für »Ausländer«, die hier geboren, aufgewachsen und verwurzelt sind, mehr als nur eine „gravierende Legitimationslücke des politischen Systems“ dar.20 Natürlich würde der Rassismus mit Schaffung eines (kommunalen) Ausländerwahlrechts nicht automatisch verschwinden, sondern für eine Übergangszeit möglicherweise sogar noch zunehmen. „Doch trägt die Gewährung des Stimm- und Wahlrechts unabhängig von Hautfarbe, Herkunftsland und -kultur dazu bei, die Auswirkungen des Rassismus, vor allem des institutionellen Rassismus, zu verringern.21

Anzuknüpfen wäre an die Traditionen der Französischen Revolution mit ihrem Katalog universeller Menschenrechte und republikanischer Prinzipien: „Die Einführung eines europäischen Niederlassungs- bzw. Bürgerrechts würde erst möglich machen, was im Programm der auf Gleichheitspostulaten basierenden bürgerlichen Demokratie angekündigt ist.22 Nötig ist die »Entnationalisierung« einer bisher an das »deutsche Blut« gekoppelten Staatsbürgerschaft, also die Erleichterung der Einbürgerung und die Zulassung doppelter Staatsbürgerschaften.23 Auch Einwanderungs-, Niederlassungs- und Antidiskriminierungsgesetze würden zu einer Politisierung der »Ausländerfrage« beitragen, die eigentlich ein Inländerproblem ist.

Nicht Probleme, die Ausländer bzw. Asylsuchende machen, sondern Probleme, die sie haben, wenn ihnen nicht geholfen wird, sollten im Zentrum der Arbeit mit ihnen stehen. Die mittlerweile fest etablierte interkulturelle Pädagogik will nicht nur Verständnis für Anpassungsschwierigkeiten ethnischer Minderheiten wecken, sondern Deutschen ein ganz neues Weltbild vermitteln, das die gemeinsame Verantwortung aller Völker für die Lösung der globalen Probleme betont.24

Des weiteren müssen die Gewalttäter konsequenter als bisher verfolgt und hart bestraft werden. Milde wäre nur dann angebracht, wenn den Übergriffen wirklich ein politischer Hintergrund fehlte. Natürlich ist nicht jeder Jugendliche, der Hakenkreuze an Klotüren schmiert oder Türkenwitze erzählt, ein Neonazi. Märtyrer zu produzieren ist kein Beitrag zur Bekämpfung, sondern ein Mittel zur Aufwertung und Stärkung des Rechtsextremismus. Umgekehrt wäre es falsch, Toleranz gegenüber dem organisierten Neofaschismus für ein Gütesiegel der Demokratie zu halten; damit beginnt vielmehr in aller Regel deren Niedergang. Sowenig der Drogenhandel durch die Gewerbefreiheit gedeckt ist, sowenig läßt sich der Neofaschismus mit dem Hinweis auf die Meinungsfreiheit rechtfertigen. Organisationen, die den Nationalsozialismus nachahmen, verharmlosen bzw. verherrlichen oder ihre verfassungswidrigen Ziele durch Androhung/Anwendung von Gewalt durchzusetzen suchen, sind zu verbieten.

Akzeptierende Jugendarbeit mit Skinheads, die bisher noch in den Kinderschuhen steckt25, gleicht einem pädagogischen Balanceakt, weil sie Gefahr läuft, entweder durch Kritik das nötige Vertrauen ihrer Klientel zu verspielen oder deren Orientierungsmuster durch den Verzicht auf politische Auseinandersetzung zu verfestigen.

Wenn Rechtsextremismus und Jugendgewalt – wie oben dargestellt – keine Randerscheinungen sind, sondern ein Resultat der modernen Leistungsgesellschaft, muß man diese grundlegend verändern, um jene besiegen und beseitigen zu können. Mit Personalverstärkungen bei der Polizei und ein paar D-Mark mehr für Sozialarbeiter/innen ist es nicht getan. Dringend bedarf es demokratischer und sozialer Reformen, einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, einer Linderung der Angst vor Erwerbslosigkeit, Armut und sozialem Abstieg durch eine allgemeine Grundsicherung, einer Vermehrung der Mitbestimmungsmöglichkeiten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft (Runde Tische, Volksbegehren und -entscheid) unter dem Motto: Mehr direkte Demokratie wagen! Soziale Gerechtigkeit und politische Chancengleichheit sind Gift für den Rechtsradikalismus, plebiszitäre Partizipationsformen nicht nur eine Möglichkeit, mehr Bürger/innen für Politik zu interessieren, sondern auch ein Mittel im Kampf gegen den Rechtsextremismus.

Schließlich darf man die (heimlichen) Sympathisanten nicht aus den Augen verlieren. Vielmehr müßte die Auflösung neofaschistischer Gruppierungen wie der FAP, NF oder DA mit einer Aufklärung über ihre dem Grundgesetz widersprechenden Wertvorstellungen verbunden werden. Die Protestwähler rechtsextremer Parteien dürfen nicht ausgegrenzt, sondern können zurückgewonnen werden, indem man ihnen eine Plattform für ihren berechtigten Gesellschaftsprotest bietet.

Die Reaktion der etablierten Politik auf den Rechtsruck zeigt ihre Ratlosigkeit. Nach den spektakulären Wahlerfolgen der Republikaner und der DVU wurde die „Gemeinsamkeit der Demokraten“ beschworen, ein „nationaler Pakt der Vernunft“ (Björn Engholm) vorgeschlagen und gefordert, CDU und SPD müßten näher zusammenrücken, um der Herausforderung begegnen zu können. Dieser Weg hat sich jedoch in der eigenen Vergangenheit (NPD-Aufstieg während der Regierung Kiesinger/Brandt 1966 ff.) und im Ausland (Jörg Haider heißt der größte Gewinner von Österreichs Großer Koalition) als Sackgasse erwiesen: Wenn sich die Gegensätze zwischen den Volksparteien verwischen und weltanschauliche Grundpositionen vermischen, wächst die Zahl der Nicht- bzw. Protestwähler/innen, die innerhalb des bestehenden Parteiensystems keine wirklichen Wahlmöglichkeiten sehen und deshalb für rechtsextreme Demagogie anfällig werden.

Dem zunehmenden Rassismus in Europa ist nicht mit moralischem Rigorismus beizukommen. Kein Mensch wird allein dadurch zum Befürworter einer multikulturellen Gesellschaft, indem man ihm in den leuchtendsten Farben die Vorteile der kulturellen Vielfalt schildert. Aktionen, die Deutschland eine kulinarische Verödung prophezeien, wenn die Restaurants mit ausländischer Küche wieder verschwänden26, gehen – unabhängig von den vermutlich vorwiegend traditionellen Eßgewohnheiten der Rassisten – am Kern der Sache vorbei. Auch der Bau billiger Mietwohnungen oder die Bereitstellung neuer Arbeitsplätze in Krisenregionen beseitigen – so dringlich sie sein mögen – keineswegs die Ursachen für Rechtsextremismus/Rassismus.

Längerfristig angelegte Strategien kommen nicht ohne positive Visionen und möglichst konkrete Utopien einer friedlichen Welt ohne Waffen und Naturzerstörung aus. Dabei geht es für Deutsche nicht nur um den Abbau verbreiteter Vorurteile durch befriedigende Gegenerfahrungen im Umgang mit »Fremden«, sondern mehr noch um die Wiedergewinnung der eigenen Handlungsautonomie. Gegenwärtig droht diese durch fortschreitende Rationalisierung, Automatisierung und Anonymisierung fast überall, im Betrieb oder Büro (Computer), im Wohnalltag (von der Stromrechnung bis zum Bankkonto) oder in der Freizeit (total durchorganisierte Pauschalreisen), verloren zu gehen.

Anmerkungen

1) Vgl. zum politisch-ideologischen Hintergrund: Christoph Butterwegge/Horst Isola (Hrsg.), Rechtsextremismus im vereinten Deutschland. Randerscheinung oder Gefahr für die Demokratie?, 3. Aufl. Bremen/Berlin 1991; Jürgen Elsässer, Antisemitismus – das alte Gesicht des neuen Deutschland, Berlin 1992; Christoph Butterwegge/Siegfried Jäger (Hrsg.), Rassismus in Europa, Köln 1992 Zurück

2) Johannes Esser, Zum Gewaltpotential moderner Gesellschaften. Soziokulturelle Gefährdungen des inneren Friedens, in: Peter Krahulec/Horst Kreth (Hrsg.), Deutscher Alltag als Risiko: Bilanzen – Lernorte – Mittäterschaften, Münster/Hamburg 1992, S. 25 Zurück

3) Vgl. Edith Broszinsky-Schwabe, Die DDR-Bürger im Umgang mit »Fremden«. Versuch einer Bilanz der Voraussetzungen für ein Leben in einer multikulturellen Welt, in: Sanem Kleff u.a., BRD – DDR. Alte und neue Rassismen im Zuge der deutsch-deutschen Einigung, Frankfurt am Main 1990, S. 42; Hajo Funke, „Jetzt sind wir dran“. Nationalismus im geeinten Deutschland, Berlin 1991, S. 143 ff. Zurück

4) Siehe dazu: Gerhard Schmidtchen, Die Ostdeutschen als Fremde in ihrem eigenen Land. Sozialpsychologische Anmerkungen zur Lage in Deutschland nach der Einigung, in: Frankfurter Rundschau v. 9.9.1991 Zurück

5) Siehe Wolfgang Brück, Rechtsextremismus und Jugendliche. Eine Problemskizze aus ostdeutscher Sicht, in: Klaus-Henning Rosen (Hrsg.), Die zweite Vertreibung. Fremde in Deutschland, Bonn 1992, S. 78 Zurück

6) Thomas von Freyberg, Anmerkungen zur aktuellen Welle von Fremdenhaß, in: Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Aspekte der Fremdenfeindlichkeit. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Frankfurt am Main/New York 1992, S. 76 Zurück

7) Siehe Jutta Winckler, Vor einem neuen 1968. Jetzt kommen die Rechtsintellektuellen, in: Junge Freiheit 11/1992, S. 1 Zurück

8) Siehe Burkhard Schröder, Rechte Kerle. Skinheads, Faschos, Hooligans, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 116 Zurück

9) Vgl. Gerhard Paul, Zwischen Rosenheim und Rostock. Zur neuen Qualität des Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 9/1992, S. 559 f. Zurück

10) Vgl. Imanuel Geiss, Geschichte des Rassismus, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1989, S. 168 f.; George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt am Main 1990, S. 76 ff.; Léon Poliakov u.a., Rassismus. Über Fremdenfeindlichkeit und Rassenwahn, Hamburg/Zürich 1992, S. 98 ff. Zurück

11) Vgl. dazu: Doris Mendlewitsch, Volk und Heil. Vordenker des Nationalsozialismus im 19. Jahrhundert, Rheda-Wiedenbrück 1988, S. 18 ff. Zurück

12) Vgl. Etienne Balibar, Gibt es einen »Neo-Rassismus«?, in: ders./Immanuel Wallerstein, Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg/Berlin 1990, S. 28 f.; Christoph Butterwegge, Der Funktionswandel des Rassismus und die Erfolge des Rechtsextremismus, in: ders./Siegfried Jäger (Hrsg.), Rassismus in Europa, a.a.O., S. 195 ff. Zurück

13) Vgl. Imanuel Geiss, Geschichte des Rassismus, a.a.O., S. 54; Léon Poliakov u.a., Rassismus, a.a.O., S. 48 f. Zurück

14) Vgl. dazu: Danielle Juteau, Das kanadische Experiment: Multikulturalität als Ideologie und Politik, in: Michael Haerdter u.a. (Hrsg.), Facetten des Fremden. Europa zwischen Nationalismus und Integration, Berlin 1992, S. 90 ff. Zurück

15) Vgl. die Beiträge in: Stefan Ulbrich (Hrsg.), Multikultopia. Gedanken zur multikulturellen Gesellschaft, Vilsbiburg 1991 Zurück

16) So aber Lutz Hoffmann, Nicht die gleichen, sondern dieselben Rechte. Einwanderungspolitik und kollektive Identität in Deutschland, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/1992, S. 1098 (Fn. 33) Zurück

17) Vgl. ebd., S. 1096 Zurück

18) Vgl. Daniel Cohn-Bendit/Thomas Schmid, Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie, Hamburg 1992, besonders S. 315 ff. Zurück

19) Beckmesserische Kritik ohne konstruktive Alternativen übt Wolfgang Kowalsky, Rechtsaußen … und die verfehlten Strategien der deutschen Linken, Frankfurt am Main/Berlin 1992 Zurück

20) Siehe Friedrich Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Stuttgart 1992, S. 239 f. Zurück

21) Christian J. Jäggi, Rassismus. Ein globales Problem, Zürich/Köln 1992, S. 169 Zurück

22) Frank-Olaf Radtke, Institutionalisierte Diskriminierung – zur Verstaatlichung der Fremdenfeindlichkeit, in: Rainer Bauböck u.a. (Hrsg.), …und raus bist du! – Ethnische Minderheiten in der Politik, Wien 1988, S. 125 Zurück

23) Zur konkreten Ausgestaltung solcher Regelungen vgl. Lutz Hoffmann, Die unvollendete Republik. Einwanderungsland oder deutscher Nationalstaat, 2. Aufl. Köln 1992 Zurück

24) Vgl. dazu: Georg Auernheimer, Einführung in die interkulturelle Erziehung, Darmstadt 1990; Manfred Hohmann/Hans H. Reich (Hrsg.), Ein Europa für Mehrheiten und Minderheiten. Diskussion um interkulturelle Erziehung, Münster/New York 1989; Ursula Schneider-Wohlfahrt u.a. (Hrsg.), Fremdheit überwinden. Theorie und Praxis des interkulturellen Lernens in der Erwachsenenbildung, Opladen 1990 Zurück

25) Vgl. dazu: Franz Josef Krafeld (Hrsg.), Akzeptierende Jugendarbeit mit rechten Jugendcliquen, Bremen 1992 Zurück

26) Vgl. z.B. Fritz Brehm, Keine Spaghetti Carbonara? – Eine Aktion, in: Rolf Meinhardt (Hrsg.), Türken raus? oder Verteidigt den sozialen Frieden. Beiträge gegen die Ausländerfeindlichkeit, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 203 ff. Zurück

Dr. phil. Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler, Privatdozent an der Universität Bremen.

Fremdenhaß in Deutschland

Fremdenhaß in Deutschland

Einige Anmerkungen aus sozialpsychologischer Perspektive

von Forschungsgruppe: Konflikte zwischen Gruppen

Die Anzahl feindseliger und gewalttätiger Straftaten gegen Ausländer hat in der letzten Zeit erheblich zugenommen. Das Spektrum der Straftaten erstreckt sich von Beleidigungen über anonyme und offene Drohungen bis hin zu massiven tätlichen Angriffen. Täter sind meist Jugendliche, die Opfer gegenwärtig überwiegend Asylbewerber. Der festzustellende Zuwachs von Asylbewerbern wird in einem Atemzug mit den gegenwärtigen ökonomischen Schwierigkeiten infolge der Wiedervereinigung diskutiert. Zugleich wird auf die Höhe des Ausländeranteils an der Bevölkerung verwiesen. Beide Überlegungen zusammen führen bei vielen zu der Ansicht, daß das »Boot voll« sei und weitere Asylbewerber nicht mehr aufgenommen werden sollten.

Außerdem erscheint dieser Personenkreis besonders geeignet, zum stellvertretenden Opfer einer generellen Abneigung und Feindseligkeit gegenüber Ausländern zu werden. Dieser Gruppe werden in besonderem Maße alle die Merkmale zugeschrieben, auf die zur Rechtfertigung der Ablehnung von Ausländern immer schon verwiesen wurde. Dabei werden die kulturelle Andersartigkeit sowie der Vorwurf mangelnder Eingliederungsbereitschaft und Rücksichtnahme auf deutsche Lebensgewohnheiten betont. Es herrscht weitgehende Unkenntnis über die um Asyl nachsuchenden Personen und deren Schicksal. Zugleich haben die Asylbewerber im Gegensatz zu anderen Ausländergruppen kaum Gelegenheit, die positiven Seiten ihrer Kultur zu vermitteln. Daher besteht die Gefahr, daß ihre offensichtliche Andersartigkeit nicht nur als Minderwertigkeit sondern auch als unkontrollierbare Bedrohung erlebt wird.

Die Ereignisse von Hoyerswerda im neuen Bundesland Sachsen werden gern als Markstein der neuen Ausländerfeindlichkeit herausgestellt. Hoyerswerda sollte jedoch nicht dazu verleiten, Ausländerfeindlichkeit als Spezifikum der neuen Bundesländer anzusehen. Neuere Umfragen zeigen, daß ein hoher Prozentsatz auch der Westdeutschen zumindest Verständnis für das Handeln rechtsextremer Gruppen hat. Ausländerfeindlichkeit ist weder typisch ostdeutsch noch ein neuartiges Phänomen in der neuen BRD; auffällig sind jedoch die zunehmende Bereitschaft zu offener Feindseligkeit und die Intensität der Ausschreitungen.

Gängige Erklärungsmuster für Ausländerfeindlichkeit

Die vielfach in den Medien angebotenen Erklärungen für die Gewalttätigkeiten junger Deutscher gegenüber Asylbewerbern betonen entweder individuelle Besonderheiten oder aber die sozioökonomischen Lebensbedingungen der Täter. Im ersten Fall werden die Täter als verwirrte, seelisch schwer gestörte Personen dargestellt, die aus zerrütteten familiären Verhältnissen stammen. Im zweiten Fall wird vornehmlich auf die Jugendarbeitslosigkeit, die Wohnungsmisere und auf politische Orientierungsverluste verwiesen.

Beide Erklärungen können jedoch nicht zufriedenstellen. Weder sind alle arbeitslosen Jugendlichen ausländerfeindlich eingestellt, noch lassen sich soziale Phänomene auf individuelle Verwirrungen, Pathologien oder sonstige psychische Defizite reduzieren. Eine befriedigende Erklärung kann weder auf den sozialen noch auf den individuellen Aspekt verzichten, sondern muß beide Aspekte sinnvoll miteinander verknüpfen.

Wie Geschichte und Gegenwart zeigen, kommt es vornehmlich in Phasen sozialer Unsicherheit zum Ausbruch offener Feindseligkeiten. Diese sind in der Gesellschaft latent im Sinne sozialer Vorurteile bereits vorher angelegt. Sie zeigen sich unter stabilen Verhältnissen nur gelegentlich in vereinzelten Fällen von Gewalttätigkeit. Die jüngsten Erfahrungen lehren uns aber auch, daß offensichtlich nur ganz bestimmte Personenkreise, vor nehmlich Jugendliche aus unteren sozialen Schichten, eine gesteigerte Bereitschaft zu aktiv gewalttätigem Handeln gegenüber Ausländern zeigen. Nicht zufällig sind es meist genau Angehörige dieser Schichten, die von sozialen Unsicherheiten ganz besonders betroffen sind. Somit sind es nicht notwendigerweise kranke Personen, die Gewalt gegen Ausländer verüben.

Fremdenhaß kann auch bei psychisch durchaus gesunden Menschen auftreten.

Ein sozialpsychologisches Erklärungsmodell

Welche Faktoren sind es nun, die gegenwärtig einzelne oder Gruppen von Personen dazu bewegen, offene Feindseligkeiten und Aggressionen gegenüber Ausländern zu zeigen?

Die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten einzelner Personen oder Gruppen hängt vor allem von subjektiven Wahrnehmungen, Bewertungen und Entscheidungen ab, die vor dem Hintergrund gegebener sozialer Überzeugungen (z.B. Vorurteile), objektiver Lebensbedingungen (z.B. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot) und persönlicher Merkmale (z.B. Aggressivität, Impulsivität) erfolgen. Diese drei Faktoren existieren zunächst unabhängig von Anfeindungen und Aggression; sie beeinflussen jedoch allesamt die subjektiven Einschätzungen, die jeder Gewaltanwendung vorausgehen. Dieses Erklärungsmodell geht somit weder davon aus, daß die Hintergrundfaktoren zwingend zu Ausländerfeindlichkeit führen, noch davon, daß sämtliche Einflußgrößen gegeben sein müssen, um aggressives Verhalten auszulösen.

Persönlichkeitsmerkmale einzelner Täter sollen hier nicht weiter erörtert werden. Auf die beiden anderen Hintergrundfaktoren sei kurz eingegangen.

Hintergrundfaktor Vorurteile

Vorurteile stellen Auffassungen über Personengruppen dar, die in jeder Gesellschaft als geteilte Wissensbestände existieren und ihren Mitgliedern argumentativ zur Verfügung stehen. Vorurteile sind Werkzeuge, die das Denken und Handeln der einzelnen anleiten. Sie erleichtern die Wahrnehmung und die Orientierung in der sozialen Umwelt. Auf sie kann auch rechtfertigend Bezug genommen werden. Vor allem aber vermitteln Vorurteile ein meist negativ gefärbtes Bild von einer Gruppe. Sie signalisieren einen gerichteten Handlungsbedarf, der insbesondere in Phasen der Destabilisierung und in Konfliktsituationen akut wird. Vorurteile gegenüber Ausländern sind also nicht Ausdruck krankhaften oder defekten Denkens und sind nicht an tatsächliche Erfahrungen mit dieser Personengruppe gebunden. Sie bestehen vielmehr weitgehend unabhängig von den individuellen Erfahrungen des konkreten einzelnen, seien sie nun positiv oder negativ. In Vorurteilen sind tradierte, negativ gefärbte Vorstellungen und Normen zum Umgang mit Fremden verdichtet, die nun auch auf konkrete Personen in der Gegenwart angewendet werden können. Für die einzelne Person implizieren Vorurteile ein selektives Wissen über eine Personengruppe, eine gefühlsmäßige Ablehnung dieser Gruppe und die Bereitschaft zu solchen Handlungen, die diese Ablehnung gegenüber der gesamten Gruppe oder einzelnen Mitglieder zum Ausdruck bringen.

Hintergrundfaktor sozioökonomische Lage

Vorurteile sind nicht zwingend an einen besonderen sozioökonomischen Status von Personen oder Gruppen gebunden. Die jüngste Vergangenheit zeigt jedoch, daß offene Feindseligkeit und Gewalt vielfach von solchen Personen verübt wird, die sich in ungünstigen sozialen Verhältnissen befinden. Ihre finanzielle Lage ist häufig schlecht, ihr Bildungsniveau meist gering, ihre berufliche Perspektive wenig entwickelt und ihr gesellschaftlicher Status niedrig. Von daher sind ihre Chancen im Streit mit anderen Gruppen um die Teilhabe an den knappen Ressourcen unserer Gesellschaft schlecht. Daraus resultiert Unzufriedenheit und die generelle Bereitschaft, gegen gültige Normen und Wertvorstellungen zu verstoßen.

<>Subjektive Wahrnehmungen, Bewertungen und Entscheidungen<>

Vorurteile und sozioökonomische Lage legen zwar die Bereitschaft zu und die Richtung von Feindseligkeit nahe, führen aber nicht automatisch zu offen aggressivem Verhalten. Feindseliges und gewalttätiges Handeln beruht letztlich vielmehr auf subjektiven Wahr nehmungen, Bewertungen und Entscheidungen, die allerdings wiederum durch Vorurteile und objektive Lebensbedingungen beeinflußt werden. Ziel feindseliger Handlungen sind vornehmlich Gruppen mit vergleichbar schlechtem oder schlechterem Status, die als Konkurrenten wahrgenommen werden.

Die subjektiven Einschätzungen basieren auf dem Bedürfnis von Personen, sich selbst, ihre Situation, ihr Umfeld und ihre Perspektiven in Relation zu anderen Personen positiv zu erleben und von anderen Gruppen der Gesellschaft darin bestätigt zu werden. Positives Erleben bedeutet damit gleichzeitig die Feststellung von Überlegenheit im Vergleich zu anderen Personen und Personengruppen. Diese Überlegenheit bezieht sich auf Wertvorstellungen der in den Vergleich einbezogenen Gruppen oder Kulturen (z.B. Sauberkeit, Strebsamkeit) und deren Leistungen. Die Vergleichspartner werden nicht beliebig gewählt: Vergleiche werden gewöhnlich so vorgenommen, daß sie dem einzelnen und seiner Umgebung Überlegenheit garantieren.

Aus diesen Überlegungen folgt dreierlei:

1. Statusniedrige Personen haben wenig Gelegenheit, für sich positive Vergleiche herbeizuführen, die im breiteren sozialen Kontext ebenfalls Anerkennung finden.

2. Sie wählen daher Angehörige sozial schwächerer Gruppen wie etwa die Asylbewerber als Medium, um ihre Überlegenheit zu dokumentieren.

3. Statusniedrige Personen finden bei anderen sozialen Gruppen kaum Unterstützung für ihre Ziele und Wertvorstellungen. Indem sie sich auf eine übergeordnete Kategorie wie »Deutsch« zurückziehen, glauben sie an den positiv bewerteten Merkmalen der Gesellschaft teilhaben zu können. Je niedriger der Status der Person oder der Personengruppe, desto größer wird der Zwang, sich auf solche übergeordneten Kategorien zurückzuziehen und Mitglieder anderer, noch schwächerer Gruppen zu diskriminieren.

Im Falle der Asylbewerber sind verschiedene Bedingungen gegeben, die deren Abwer tung, Anfeindung oder gar gewalttätige Vertreibung insbesondere durch Angehörige sozial schwacher Gruppen fördern:

1. Die Anwesenheit der Asylanten wird als illegitim wahrgenommen. Den Asylanten wird unterstellt, daß sie mit Absicht das Asylrecht verletzen und sich ungerechtfertigter Weise den Zugang zu Sozialleistungen verschaffen. Damit belasten die Asylanten den Staatshaushalt, was sich vermeintlich zu Ungunsten der statusniedrigen Mitkonkurrenten auswirkt.

2. Die Höhe der Sozialleistungen für die Asylanten wird als ungerecht wahrgenommen, weil sie von keinerlei Vorleistung seitens der Asylanten abhängig gemacht wird. Im Gegensatz dazu haben die ausländerfeindlichen Deutschen entweder bereits Vorleistungen erbracht oder aber sie glauben, allein aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit mehr Anspruch auf staatliche Zuwendungen zu haben.

3. Die den Asylanten zufließenden Sozialleistungen werden als Indiz für die Aufbesserung von deren sozialen Status verstanden. Dies wird als bedrohlich erlebt und führt zu Bemühungen, die Überlegenheit der eigenen Gruppe im Verhältnis zur Asylantengruppe hervorzuheben.

Diese Einschätzungen werden nicht willkürlich vorgenommen, sondern greifen zum Teil Argumentationen auf, die für unsere Gesellschaft und deren rechtsstaatliche Positionen durchaus verbindlich sind oder aber durch bereitgestellte soziale Vorurteile begünstigt werden.

Die Entscheidung

zu konkreten Gewaltakten

Wie kommt es nun zum offenen aggressiven Verhalten? Die Wahrnehmung von Ungesetzmäßigkeit, Ungleichbehandlung und Statusbedrohung lösen beim Einzelnen affektive Reaktionen aus, die einerseits die Bereitschaft zu feindseligen Handlungen erhöhen und andererseits die moralischen Hemmschwellen gegenüber gewalttätigen Akten herabsetzen. Diese Absenkung der Hemmschwelle wird noch durch eine Depersonalisierung der einzelnen Opfer begünstigt, d.h. sie werden nicht als konkrete Personen sondern gleichsam als gesichtslose Elemente einer abgewerteten sozialen Gruppe wahrgenommen und behandelt. Folglich trifft die Gewalt entgegen vorherrschenden Normen auch Kinder, Frauen und Alte. »Erfolgreiche Vorbilder« wie Hoyerswerda oder Hünxe sowie der Applaus einzelner Bürger vor Ort oder an Stammtischen fördern diese Enthemmung ebenso wie der den Feindseligkeiten häufig vorausgehende Alkohol konsum. Vielleicht häufig ungewollte Unterstützung liefern auch Kommentare von Journalisten und Politikern, die ihre Empörung über feindselige Ausschreitungen unmittelbar mit dem Hinweis auf die Dringlichkeit einer neuen Ausländer und Asylpolitik verknüpfen. Damit signalisieren sie den Tätern, daß sie mit ihnen im Ziel übereinstimmen und ledig lich die Wahl der Mittel verurteilen.

Die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten, wie es sich z.B. im Werfen von Brandsätzen äußert, hängt zudem stark von individuellen Kosten-Nutzen-Abwägungen ab. Diese betreffen

1. die Wichtigkeit des angestrebten Ziels

2. die Einschätzung der Wirksamkeit der konkreten Aktion im Hinblick auf das angestrebte Ziel, sei es die massive Terrorisierung der Opfer, sei es die Betroffenen dahin zu treiben, ihr Asylgesuch fallenzulassen oder sei es lediglich die Profilierung vor der eige nen Gruppe als mutig oder kampfstark.

3. die zu erwartenden Konsequenzen bezüglich Verantwortlichkeit und Sanktionen, die z.B. dann vernachlässigt werden können, wenn die Aufklärungsquote nur gering ist oder das Werfen von Brandsätzen lediglich als leichte Sachbeschädigung gewertet würde.

Daneben ist der erlebte soziale Druck seitens der Mitglieder der eigenen Bezugsgruppe für die Entscheidung zur Handlung bedeutsam.

Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verpflichtet den einzelnen auf bestimmte Ziele und Normen. Hinsichtlich der in die aktuellen Gewalttätigkeiten einbezogenen Tätergruppen ist zu vermuten, daß dort öffentliche Verunglimpfungen und der Einsatz von Gewalt gegen Ausländer nicht nur akzeptiert sondern sogar positiv sanktioniert werden.

Beide Faktoren, die Kosten-Nutzen-Abwägungen und der soziale Druck, werden durch situative Bedingungen unmittelbar beeinflußt. Hierbei spielt insbesondere die Anwesenheit weiterer Gruppenmitglieder eine bedeutsame Rolle: Das Risiko des einzelnen, zur Verantwortung herangezogen zu werden, verringert sich, gruppen spezifische Hinweise auf die Angemessenheit des feindseligen Verhaltens sind ständig präsent und die soziale Anerkennung seitens der Gruppe erfolgt unmittelbar.

Konsequenzen

Welche Maßnahmen können aufgrund dieser Analyse ergriffen werden, um Ausländerfeindlichkeit und Gewalttätigkeit abzubauen? Die erforderlichen Maßnahmen lassen sich erneut den drei genannten Bedingungen – soziale Vorurteile, objektive Deprivationen, subjektive Einschätzungen – zuordnen:

1. Es wäre verkürzt, das gegenwärtige Phänomen der Gewaltkriminalität gegen Ausländer als Taten gesellschaftlicher Randgruppen zu begreifen. Vielmehr muß erkannt werden, daß die feindseligen Handlungen auf einem breiten Fundament weitgehend geteilter Vorurteile basieren. Die Täter können davon ausgehen, daß ihnen für ihr Verhalten in gewissem Maße Anerkennung zuteil wird. Diese soziale Unterstützung muß ihnen entschieden entzogen werden. Dies erfordert insbesondere positive Stellungnahmen zu Ausländern durch die Autoritäten unserer Gesellschaft in Politik und öffentlichem Leben. Es reicht nicht aus, die Gewalttäter oder die Gesellschaft insgesamt moralisch zu verurteilen (z.B. „Schande über Deutschland“). Eine eindeutige Verurteilung ist zwar äußerst wichtig, noch wichtiger ist jedoch die Hervorhebung der positiv bereichernden Merkmale der hier lebenden Ausländer sowie die Demonstration aufrichtigen Interesses an ihren Problemen und kulturellen Besonderheiten. Die Aufnahme von individuellen, freundschaftlichen Kontakten zu Ausländern oder gar Patenschaften können wechselseitiges Verständnis und Toleranz positiv beeinflussen. Die gängige Praxis vieler Gemeinden, Ausländer zu ghettoisieren, steht diesen Bemühungen eindeutig entgegen.

Neben einer positiveren Bewertung der Kategorie »Ausländer« muß es zu einer Akzentverschiebung im gängigen Stereotyp der Deutschen über sich selbst kommen. „Ich bin ein Deutscher“ muß stärker als bisher mit den demokratischen Werten wie Weltoffenheit, Liberalität, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Großzügigkeit verknüpft werden statt immer noch die klassischen Attribute wie fleißig, ordentlich, treu und sauber hervorzurufen. Die jüngsten Vorkommnisse zeigen deutlich, daß genau diese klassischen und schon häufig mißbrauchten Charakterisierungen des »Deutschen« noch immer als Vorwand dazu dienen, Diskriminierungen und Anfeindungen gegenüber anderen Gruppen zu rechtfertigen.

2. Die sozialen Lebensverhältnisse der Angehörigen niedriger Schichten, dies gilt insbesondere für Jugendliche, müssen dringend verbessert werden. Die Toleranz dieser Gruppen gegenüber Ausländern mag in dem Maße anwachsen, in dem sie in die Gesellschaft eingegliedert werden und soziale Anerkennung erfahren. Hierin sollte das vordringliche Anliegen von Politik liegen. Wenn die Aufmerksamkeit unserer Medien und Politiker gegenwärtig zentral auf die Asylantenfrage gerichtet ist, statt das Problem der Jugendarbeitslosigkeit zu thematisieren, so spiegelt diese verzerrende Umlenkung der Aufmerksamkeit auf einer höheren Ebene exakt das vorurteilsbehaftete Vorgehen der ausländerfeindlichen Gruppen wider: Probleme innerhalb der Gesellschaft werden auf dem Rücken fremder Gruppen ausgetragen.

3. Es gilt, den einzelnen an der Ausführung von Gewalt zu hemmen. Dies kann nur gelingen, wenn seine Einschätzungen über die Wirksamkeit seiner Handlung hinsichtlich des von ihm angestrebten Ziels und über die Wahrscheinlichkeit negativer Konsequenzen seiner Tat für ihn selbst und seine Gruppe beeinflußt werden. Es muß jedem Täter klar sein, daß Feindseligkeit und Gewalttätigkeit in keinem Fall dazu beitragen werden, Ausländer aus Städten und Gemeinden zu vertreiben. Zugleich muß darauf geachtet werden, daß die Aufklärung ausländerfeindlicher Straftaten energisch betrieben wird und gefaßte Täter angemessen bestraft werden. Bürgerwehren und Selbstschutzorganisationen, die letztlich als Zeichen staatlicher Ohnmacht zu begreifen sind, dürfen keinesfalls hingenommen oder gar legalisiert werden. Die zuständigen staatlichen Stellen dürfen nicht länger den Verdacht aufkommen lassen, Straftaten gegen Ausländer würden nur halbherzig verfolgt und geahndet.

„Forschungsgruppe: Konflikte zwischen Gruppen“ am Psychologischen Institut IV der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und an der Arbeitseinheit Sozialpsychologie der Ruhr-c/o Prof. Dr. A. Mummendey

Artefakte des Fanatismus

Artefakte des Fanatismus

Technik und nationalsozialistische Ideologie in der Endphase des Dritten Reiches

von Ulrich Albrecht

Ziel dieses Beitrages ist es, das spezifisch »Nationalsozialistische« in der Technikentwicklung des Dritten Reiches herauszuarbeiten. Um die Stoßrichtung deutlicher zu umreißen: Die mit der Entwicklung von Technik im Zweiten Weltkrieg befaßten deutschen Naturwissenschaftler und Ingenieure sind möglicherweise nicht nur Nazis gewesen, indem sie als Privatpersonen der NS-Partei oder einer ihrer Gliederungen angehörten, oder auch nur aus Überzeugung für die NS-Ideologie eintraten. Die These lautet vielmehr, daß diese Naturwissenschaftler und Ingenieure auf die besonders in der Endphase des Dritten Reiches extremen Technikanforderungen nicht nur mit vehementem Engagement, sondern auch mit Technikbeiträgen antworteten, die ungewöhnlich bleiben, die sich von Rüstungstechnik, wie sie auch anderswo forciert wurde, erheblich unterscheiden. Diese im Dritten Reich vorgelegten Technikbeiträge, so die Fortführung der These, stellen Artefakte dar, die nationalsozialistische Auffassungen widerspiegeln. Mit anderen Worten: Die hier zu erörternden Projekte bleiben nicht nur deswegen bemerkenswert, weil sie in einer phänomenalen Anspannung der Kräfte, zumeist unter absurden Arbeitsbedingungen, in unterirdischen Notquartieren unter dem Bombenhagel der Alliierten ausgeführt wurden. Vielmehr lassen sich an der so erzeugten Hochtechnologie Merkmale von Nationalsozialismus studieren.

Diese exponierte These soll an drei Technologielinien aus der Schlußphase des Dritten Reiches erörtert werden, dem »Volksjägerprogramm« vom Herbst 1944, den bald folgenden Selbstopfer-Objektschutzjägern für nationalsozialistische Elite-Verbände, sowie dem letzten Aufgebot, antriebslosen Kampfgleitern als Jagdflugzeugen. Letzter Akt der Reichsregierung waren noch ambitiösere Technologieprogramme wie Nurflügeljäger von Horten in dem von Göring am 12. März 1945 verkündeten »Neue Abwehrprogramm des Führers«. – Die Kernthese dieses Beitrages ließe sich auch an anderen Technologielinien aus jener Zeit erörtern wie dem Bau von superschweren Panzern (Ferdinand Porsches »Maus« von 1944 mit bis zu 200 Tonnen Gefechtsgewicht und Panzerwänden bis 35cm Stärke), den »Vergeltungswaffen« V-1 und V-2 oder anderen »Wunderwaffen«.1 Die Erörterung hier beansprucht mithin, exemplarisch allgemeine Aussagen zu treffen.

Der technologiepolitische Hintergrund der Endphase des Dritten Reiches ist wenig bekannt. Der Erlaß Hitlers zur Bildung des Volkssturms vom 25.9.1944 war begleitet von einem letzten verzweifelten Technologieprogramm. Gegen die alliierten Bomberströme sollten mit dem sogenannten »Jäger-Notprogramm« von Hitlerjungen zu steuernde, vereinfachte Kampfflugzeuge aus – so die amtliche Ausdrucksweise – »Sparstoffen«, das war vor allem Holz, eingesetzt werden. Mit ihren Düsentriebwerken stellten diese Projekte durchaus Hochtechnologieprogramme dar.- Als die Umsetzung des »Volksjägerprogramms« Ende 1944 erkennbar zu Verzögerungen führte, wurden im Jäger-Notprogramm raketengetriebene Selbstopferflugzeuge gefordert, die in Sichtweite alliierter Bomber starten und am Ende durch Rammstöße kämpfen sollten. Schließlich, als es kaum mehr Treibstoff gab, wurden gar antriebslose Kampfflugzeuge konzipiert.

Die Erörterung dieser Wahnprojekte erfordert zugleich kritische Nacharbeit zur einschlägigen Technikhistorie. Diese verdrängt solche Konzepte keineswegs, sondern verteidigt sie als außerordentliche technische Leistung der Konstrukteure unter schwierigsten Bedingungen. Diese Literatur verweist auf die Ingenuität deutscher Ingenieure bei der Wahl ungewöhnlicher technischer Lösungen, mit bitteren Attacken gegen die wenigen kritischen Analytiker, die sich in diesen Bereich der Technikhistorie vorwagen.2 Einzufordern ist ein eigener Historikerstreit der Technikgeschichtler – hat die deutsche Industrie lediglich absurde Projekte dienend ausgeführt, oder hat sie einen eigenständigen Beitrag zum Fanatismus der letzten Tage des Dritten Reiches beigesteuert?

Eingrenzungen

Zunächst sind Abgrenzungen erforderlich. Die angeführten »Sonder«-Technologien geben nicht die Breite der Versuche des NS-Regimes wieder, durch extreme Technologieforcierung eine Überhöhung, eine größere Chance in der militärischen Auseinandersetzung mit der Anti-Hitler-Koalition zu gewinnen. Anzuführen bleibt eine Vielzahl weiterer Konzepte, die durchaus überambitioniert oder gigantomanisch ausfielen, die aber nicht besonders als nationalsozialistisch geprägt zu werten sind. Vertikalstartflugzeuge von Heinkel etwa, die Projekte »Wespe« und »Lerche« vom März 1945, erscheinen als Vorwegnahme etwa französischer Versuchsentwicklungen wie des »Coléoptère« der Firma SNECMA aus dem Jahre 1958 – und zunächst eben nicht als von NS-Vorstellungen beeinflußt. Auch die »Schnellstbomberprojekte« von Daimler-Benz aus der Endphase des Krieges verraten allenfalls einen gewissen Technikwahn. Ab März 1944 meldete Daimler-Benz mehrere Patente für solche Schnellbomberprojekt an. Das Konzept stammte von keinem geringeren als dem nachmalig in der Bundesrepublik sehr bekannt werdenden technischen Direktor des Unternehmens, Dipl.-Ing. Fritz Nallinger. Am 19. Januar 1945 trug Nallinger das fertig durchgerechnete Projekt als „Betrachtung über die Entwicklung eines Schnellstbombenträgers“ dem RLM vor. Das Einsatzkonzept für dieses Daimler-Produkt klingt heute einigermaßen abenteuerlich:

„Das Trägerflugzeug startet mit dem untergehängten Bomber und fliegt bis zur äußersten Grenze seiner Reichweite, bei der es gleichzeitig seine Gipfelhöhe erreicht. An diesem Punkt schaltet der Bomber seine Triebwerke ein und wird abgesprengt. Das Trägerflugzeug kehrt hierauf zum Einsatzhafen zurück, während der Bomber mit seinen unverbrauchten Brennstoffreserven sein fernes Ziel anfliegt. Nach Erfüllung des Langstreckenauftrages landet die Besatzung den Bomber an einen vorher bestimmten Punkt der feindlichen Küste, wo sie von einem U-Boot übernommen wird. Für diese Einsatzart war der Bomber als reines Verlustgerät konstruiert und besaß nicht einmal ein Fahrwerk oder wertvolle Ausrüstungsgegenstände. Ebenfalls war keine Abwehrbewaffnung vorgesehen.“ 3

An diesem in vier verschiedenen Varianten offerierten Bomberprojekt mag manches dubios erscheinen (auch die Sprache, mit der es noch heute vorgestellt wird), spezifische NS-Technologie stellt es nicht dar. – Auch engagiert sich 1944 das zweite Großunternehmen im deutschen Flugmotorenbau, die Bayrischen Motorenwerke, im Flugzeugsektor, und konkurrierte bei Bomberentwürfen (die Truppenreife war für 1950 vorgesehen) mit Daimler-Benz. An den im November 1944 vorgeschlagenen Düsenjägerprojekten mag zunächst nichts auffallen. Eine Variante enthält jedoch einen Aspekt, der als erster spezifisch nationalsozialistisch zu werten ist – die liegende Anordnung des Piloten. Während Jetpiloten sitzend (bis heute die Standardposition) beim Kurvenkampf bis zum neunfachen der Erdbeschleunigung ohne »black-out«, den Verlust des Bewußtseins, auszuhalten vermögen, kann man den menschlichen Körper bis zur vierzehnfachen Erdbeschleunigung überbeanspruchen, wenn der Pilot liegt. In liegender Anordnung ist ein kämpfender Flugzeugführer zwar weniger handlungsfähig (weswegen niemand außer den Nationalsozialisten diese Lösung je wählte), er mag aber hoffen, durch engere Kurvenradien eher in eine Abschußposition zu geraten als der Gegner.

Mit der liegenden Anordnung von Piloten hofften mehrere deutsche Flugzeugfirmen, einen entscheidenden Kampfvorteil zu realisieren. Die erwähnten Senkrechtstarter »Wespe« und »Lerche« von Heinkel erscheinen so in einem neuen, spezifisch nationalsozialistischen Licht. Außer BMW und Heinkel offerierten weitere deutsche Unternehmen das nationalsozialistische Konzept, durch Überbeanspruchung menschlicher Piloten taktische Vorteile zu erzielen, etwa die um eine eigene Rolle in der NS-Rüstung ringende Gothaer Waggonfabrik A.G. oder die Firma Arado mit einem Kleinstjägerprojekt aus dem Jahre 1944. Selbst die Forschungsanstalt Zeppelin meldete sich mit einer »Fliegenden Panzerfaust« mit liegendem Piloten. Bei Kriegsende regte sich auch die ansonsten in der NS-Luftrüstung nicht sonderlich erfolgreiche Henschel Flugzeugwerke A.G. in Berlin-Schönefeld mit der Entwicklung eines Sturzkampfbombers, Tragflächen aus Holz, mit liegender Anordnung des Flugzeugführers, „der in dieser Stellung wesentlich höhere Beschleunigungskräfte beim Abfangen und engen Kurven ertragen konnte.“ 4 Im März 1945 befanden sich vier Mustermaschinen im Bau.

Die Wahl der liegenden Anordnung von Piloten zwecks Steigerung der Leistungsgrenzen von Soldaten verdeutlicht einen ersten Aspekt spezifisch nationalsozialistischer Technikgestaltung. Ein weiterer Schritt besteht in der Senkung des Lebensalters, mit dem Halbwüchsige in Kampfhandlungen einbezogen werden. Parallel zum Einzug von Hitlerjungs in den »Volkssturm« wurden bei der Luftwaffe »Volksjäger« für den Einsatz durch Jugendliche konzipiert und von der Industrie konstruiert (Abschnitt 2). Einen dritten Schritt sehe ich darin, von der Hoffnung kämpfender Soldaten auf ihr Überleben abzugehen und Selbstopferwaffen vorzusehen (Abschnitt 3). Die Verzweiflungstechnologie der nationalsozialistischen Luftrüstung ist damit noch nicht am Ende. In der Schlußphase (Abschnitt 4) des Dritten Reiches werden Waffen konzipiert wie antrieblose Jäger oder »Kampfgleiter«, die eine faire Chance der Waffengleichheit nicht mehr vorsehen, bei denen alle Kampffähigkeit auf die hochmotivierten Übernaturen in den Cockpits konzentriert wird. So wird die Doppelnatur nationalsozialistischer Rüstungstechnologie mit Händen greifbar: dem Todesmythos, dem absehbaren Untergang im heroischen Kampfe, steht zur Seite (und nicht: entgegen) die Anspannung aller Kräfte, die übermäßige Leistung, beides mündend in den Mythos von Vergehen und Werden.

Der Volksjäger

Das Volksjägerprogramm zeigt weitreichende nationalsozialistische Versuche an, gegen die professionellen Programme der Luftwaffe eigene Akzente zu setzen. „Im Winter 1941/42, nachdem sich gezeigt hatte, daß das RLM unfähig war, einen genügenden Nachschub und eine entsprechende Entwicklung sicherzustellen, wurde die Steuerung des Luftwaffennachschubs dem Minister für Rüstung und Kriegsproduktion Speer übertragen“, heißt es bemerkenswert parteiisch in einer neueren Darstellung.5 Dem (NS-) Hauptdienstleiter Dipl.-Ing. Karl-Otto Saur6, einem Untergebenen Speers, wurde das Jäger-Programm übertragen, „dessen Ziel unter anderem die schnellste Schaffung eines sogenannten »Volksjägers« sein sollte, eines Baumusters, das nicht nur mit geringstem Material- und Zeitaufwand zu bauen, sondern auch leicht zu fliegen sein sollte. Hitler-Jungen sollten diesen »Volksjäger« im Masseneinsatz gegen die alliierten Bomberströme fliegen.“ Ernst Heinkel will in seinen Erinnerungen diesen Sachverhalt nicht so ganz wahrhaben:

„Saurs Vorstellungen, daß dieses Flugzeug sozusagen ein »Volksjäger« werden müsse, in dem Hitlerjungen nach ganz kurzer Schulung zur »Verteidigung Deutschlands« aufsteigen könnten, ging selbstverständlich weit über die Realitäten hinaus und entsprach dem fehlgeleiteten Fanatismus jener Tage.“ 7

Daß das Volksjägerprojekt „selbstverständlich weit über die Realitäten“ hinweggehe, hat Heinkel allerdings 1944 nicht gesagt, sondern das Flugzeug gebaut. Es handelt sich auch nicht um „sozusagen einen Volksjäger“, sondern so wurde das Projekt amtlich benannt.

Am 8.9.1944 wurde die »Volksjäger«-Ausschreibung den Firmen Arado, Blohm + Voss, Focke-Wulf, Heinkel und Junkers übermittelt. Das geforderte Entwicklungstempo blieb atemberaubend, allen Standards im Flugzeugbau Hohn sprechend: am 20. September 1944, zwölf Tage nach der Ausschreibung, mußten die Zeichnungen für die neuen »Volksjäger« beim RLM eingereicht werden. Am 23. September 1944 „fand im Hauptquartier des Reichsmarschalls eine entscheidende »Volksjäger-Beprechung« statt“, konstatiert „Das Buch der deutschen Fluggeschichte“.8 Der Anlauf des Serienbaus wurde mit dem 1. Januar 1945 terminiert.

Der damalige Entwicklungschef der Firma Arado erinnert sich an die Umstände der »Volksjäger«-Entwicklung:

„Bei der Firma Arado vollzog sich das so, daß eines Tages, Mitte September 1944, ohne vorherige Ankündigung in der nach Landeshut in Schlesien verlagerten Entwicklungsabteilung ein Referent des Technischen Amtes erschien, der innerhalb weniger Tage das Projekt eines leichten Jägers mit einem BMW 003-Triebwerk erstellt haben wollte. Er schien ganz genau zu wissen, was herauskommen sollte. Zwei Tage wich er nicht aus dem Entwurfsbüro und versuchte, das Projekt in eine von ihm gewünschte Richtung zu lenken… Einige Tage danach wurden die Projekte von der Industrie beim Jägerstab vorgetragen. Es müssen, meiner Erinnerung nach, nahezu ein Dutzend gewesen sein, denn die meisten Firmen, besonders die, deren Flugzeuge in der großen Typenreinigungsaktion vom 1. Juli gestrichen waren, bemühten sich um einen Auftrag im Jägersektor mit mehr als einem Entwurf. Einige waren erst in letzter Stunde, nach Diskussion anderer Entwürfe, in den Gewichts- und Leistungsangaben überarbeitet worden.“ 9

Vor allem die an einer Wiederbeteiligung an modernsten Projekten interessierte Firma Heinkel vermochte Schritt zu halten. Nach Eingang der Ausschreibung am 8. September 1944 und der Vorlage von ersten Entwürfen erhielt Heinkel eine Woche später, am 15. September, den Bauauftrag. Der Erstflug der ersten Versuchsmaschine He 162 »Salamander« erfolgte am 6. Dezember 1944, genau 69 Tage nach der Auftragserteilung. Blohm + Voss, zunächst mit dem Projekt P. 211 gleichauf im Rennen, war bald abgeschlagen, und Heinkel erhielt den Großserienauftrag. Die Firma Heinkel sollte ab 1.1.1945 1000 Volksjäger fertigen, die Firma Junkers im Unterauftrag in mehreren Werken ebenfalls 1000 Exemplare, die von der »Organisation Todt« mit Häftlingen betriebenen »Mittelwerke GmbH« sollten gar 2000 Exemplare auflegen. Später war ein monatlicher Ausstoß von 1000 »Volksjägern« geplant.10

Das Volksjägerprojekt verdeutlicht neben dem inhumanen Ziel, Jugendliche als Piloten einzusetzen, weitere Dimensionen nationalsozialistischer Technikerzeugung. Diese liegen zum einen in dem irrsinnigen Tempo, mit dem im Furioso immer anspruchsvollere Projekte vorgelegt werden. Zum anderen werden in der Produktion mehr und mehr anstelle der angestammten Fertigungsstätten Betriebe eingespannt, die mit Häftlingen statt Facharbeitern produzieren. Die gemäß dem »Alberich«-Konzept unterirdisch angelegten »Mittelwerke« im Harz bezogen ihre Arbeitskräfte aus dem KZ Buchenwald.11

Die Formulierung des Bauauftrages vom 29. September 1944 an die Firma Heinkel für den »einsitzige(n) Einstrahltrieb-Kleinstjäger« bestimmt, daß „bei der Härte der Verhältnisse eine kompomißlose Erfüllung der Aufgabe nur dann möglich ist, wenn auf jede zusätzliche Ausrüstung und Veränderung verzichtet wird. Es besteht ferner dahingehend Klarheit, daß bei der Methode, aus dem ersten Entwurf heraus bereits die Serienfertigung zu beschließen, das bis jetzt noch nicht zu übersehende Risiko eines etwaigen Fehlschlages in Kauf genommen werden muß“, heißt es markig weiter.

Technisch betrachtet stellt der Heinkel-„Volksjäger« ein Produkt höchster Not dar. Das Flugzeug wurde in Gemischtbauweise ausgeführt. Der Rumpf bestand aus Metall, Flügel und Leitwerke wurden aus Holz gefertigt. Zur Herstellung der Holzteile wurden zwei »Fertigungsringe« mit den Schwerpunkten Erfurt und Stuttgart gebildet, denen zahlreiche Handwerksfirmen angeschlossen waren. Ernst Heinkel beschreibt anschaulich die Fertigungsbedingungen im Winter 1944/45:

„Die Produktion war in zahlreiche Betriebe und Betriebchen über und unter der Erde verzettelt. Anstelle der durch Luftangriffe immer mehr zerschlagenen Eisenbahn brachten Lastwagenkolonnen die Einzelteile zu den Fertigmontagestellen. Kleinere Teile wurden durch Kuriere mit Rucksäcken befördert.“ 12

Angeblich infolge schlechter Verleimung platzte bei einem Demonstrationsflug des »Volksjägers« vor Nazigrößen am 10. Dezember 1944 die Beplankung der rechten Flügelnase ab, was zum Absturz und dem Tod des Piloten führte. Die technikhistorische Literatur kapriziert sich auf diesen Vorgang als ärgerliche Bagatelle – ohne das geringste Gespür dafür, daß eine schlecht ausgeführte Verleimung, oder aber ungenügender Klebstoff, oder aber die Holzbauweise von Düsenjägern überhaupt geradezu symbolisch die Hypertrophie der Technologieentwicklung des Dritten Reiches in seinem Abgang widerspiegeln.

Vom Volksjäger heißt es obendrein in einer neueren Darstellung – ein reineres Nazideutsch ist nicht möglich – die Heinkel-Maschine „hatte noch einen kleinen Schönheitsfehler: Sie setzte einen erfahrenen Piloten voraus oder zumindest speziell ausgebildetes Flugpersonal.“ 13 Der Rekurs auf die Anforderung gemäß der Volkssturmideologie bleibt ungebrochen: anstelle eines „erfahrenen Piloten“ ist „zumindest speziell ausgebildetes Flugpersonal“ (was könnte dieses anderes als Berufspiloten sein?) vonnöten – und dies wird mit Blick auf das Volkssturmkonzept in mißlingender Ironisierung als „kleiner Schönheitsfehler“ apostrophiert.

In anderen technikhistorischen Darstellungen setzt sich die Ideosynkrasie fort. In Bezug auf den Heinkelschen »Volksjäger« heißt es etwa ohne Umschweife: „Mit einem modernen Begriff: Es wurde ein »Verschleißgerät« verlangt“ (Rückfrage: Wieso gilt der Ruf nach »Verschleißgeräten« als modern?), auch seien die „Terminvorstellungen des RLM … an sich schon fast irreal zu nennen“ gewesen (wieso nur: fast?).14

Selbstopferflugzeuge

Den Höhepunkt erlebte die nationalsozialistische Technikgestaltung in der Rüstung mit dem Ansatz, vom kämpfenden, auch um sein eigenes Leben kämpfenden Soldaten abzugehen, und den Tod des Kriegers bewußt in die Konzeption von Waffen aufzunehmen. Human ist solche Technikgestaltung nicht mehr zu nennen. Sie fügt sich ein in den reinen Vernichtungswillen der spätnationalsozialistischen Phase.

Angesichts der drohenden Invasion der Alliierten auf dem Festland hatte der Luftwaffenoffizier und überzeugte Nationalsozialist Heinrich Lange „eine kleine Gruppe von Luftwaffenangehörigen gegründet, die Anhänger des SO-(Selbstopferungs-)Einsatzes waren. Nach der genau ausgearbeiteten Theorie sollte jeweils mit einem SO-Flugzeug ein Landeschiff der Invasionsflotte versenkt werden. Der SO-Pilot hatte das als Verlustgerät gedachte SO-Flugzeug bis zum Auftreffen ins Ziel zu lenken und fand dabei den Tod.“ 15

Die NS-Führung reagierte zunächst keinesfalls begeistert (das RLM lehnte ab; Hanna Reitsch trug am 28.2.1944 Hitler den Plan vor, „der ihn ebenfalls ablehnte, jedoch ein Weiterarbeiten in dieser Richtung gestattete“ 16). „Inzwischen waren Tausende von Freiwilligenmeldungen eingegangen“, heißt es in der gleichen Quelle weiter. „Zuerst wurde aber nur eine Gruppe von 70 Mann ausgewählt, während die anderen nach der Erstellung des Fluggerätes eingezogen werden sollten.“ 17

Zunächst wurde mit einer bemannten Version der »Vergeltungswaffe 1« (V-1) experimentiert (Abb. 8). Die Aktion erhielt die Tarnbezeichnung »Reichenberg« (nach der Hauptstadt des »Reichsgaues Sudetenland«), die bemannten Flugbomben hießen »Reichenberg-Geräte«. In einer Fluggeschichte heißt es lapidar:

„Gegen Kriegsende wurden Versuche mit bemannten V 1 für den Einsatz als Rammjäger gegen alliierte Bomberverbände durchgeführt.“ 18

Auffälligstes Kennzeichen der SO-Jäger war das Fehlen von Landefahrwerken – Räder zum Landen würden diese Maschinen ja nicht benötigen.

Im Herbst 1944 gab das Reichsluftfahrtministerium im sogenannten »Jäger-Notprogramm« eine Entwicklungsausschreibung für einen einfachen Abfangjäger heraus, der leicht und billig herzustellen sein sollte. Da die Bomberverbände der Alliierten zu diesem Zeitpunkt nur noch kurze Anflugstrecken zu ihren Zielen zu bewältigen hatten, mußten die Jäger in der Lage sein, in Sichtweite der Angreifer zu starten und diese noch vor deren Ziel abzufangen. Das ging nur mit einem Raketenantrieb – einer gefährlich zu handhabenden, kaum erprobten Antriebsart. Am Ende gerieten diese Jäger zu Selbstopfergeräten, obwohl zunächst die Rettung des Piloten vorgesehen war.

An der Ausschreibung beteiligten sich die drei größten deutschen Luftfahrtkonzerne. Messerschmitt präsentierte das in Holz ausgeführte Projekt P 1104, Junkers das Modell EF 127 »Walli« und Heinkel das Muster P 1077 »Julia«. Das Rennen machte ein Außenseiter, Dipl.-Ing. Erich Bachem, zuvor Direktor der Fieseler-Werke (des Herstellers der V-1). Bachem machte sich mit seinem Projekt BP-20 im letzten Kriegsjahr kommerziell selbständig und gründete die Bachem-Werke GmbH im württembergischen Waldsee.

Die etablierten Konzerne gaben sich nicht geschlagen, sondern suchten durch forcierte Zugaben in der Technologie den Neuling aus dem Rennen um den erwarteten Großauftrag zu werfen. Junkers hatte sich nach eigener Einschätzung mit dem Konzept EF 126 für den Geschmack des RLM zu sehr am »Reichenberg-Gerät« angelehnt (Holzbauweise, Argus-Schubrohr auf dem Rücken). So legte die Firma den Neuentwurf EF 127 nach, mit einer Flüssigkeitsrakete der Firma Walter statt des leistungsschwächeren Schubrohres. Auch Heinkel besserte das Modell »Julia«, „eine Zwischenlösung zwischen einer bemannten Flakrakete und einem billigen Schnellst-Kleinjäger“ 19 verschiedentlich nach. Die liegende Anordnung des Piloten wurde variiert, auch experimentierte man mit verschiedenen Antrieben. Bei Kriegsende waren die Prototypen der Heinkel-Baureihe fast fertiggestellt, von der Junkers-Maschine wurde ein Exemplar nach Kriegsende unter sowjetischer Anleitung zu Ende gefertigt und erprobt. Der Junkers-Versuchspilot Mathies fand dabei den Tod.

Der siegreiche Entwurf von Bachem vereinigte in sich am konsequentesten Grundsätze von nationalsozialistischer Technikideologie in der Untergangsphase des Dritten Reiches. „Bei den Projektarbeiten hatte man sich für eine Kombination zwischen Flugzeug und Geschoß als Verlustgerät entschieden“, heißt es cool in einem neueren Bericht.20 Dieser Satz verdient es, schrittweise nachvollzogen zu werden. Man weiß nicht, wie der Zweck dieser Technik direkter und zynischer hätte formuliert werden können.

Der gesamte Rumpfbug der »Natter« war als Raketenträger ausgebildet. Für die zunächst angestrebte Rettung des Piloten ergaben sich jedoch Probleme: „Nach Abschuß der Raketen verschob sich der Schwerpunkt der Maschine derart, daß sie nicht mehr flugfähig war.“ 21 In aerodynamischer Hinsicht war hiermit schon das Todesurteil über dieses Fluggerät gesprochen. In dem angeführten Bericht heißt es jedoch weiter, Illusionen fortschreibend:

„Besondere Probleme brachte die Rettung des Piloten bei den hohen Geschwindigkeiten mit sich. Um zu einer realisierbaren Lösung zu kommen, wurde eine Trennung des Bugstückes vorgesehen. Nach dem Trennen sollte der Hauptfallschirm den Sitz des Piloten nach hinten wegziehen und gleichzeitig auch die wertvollsten Geräte im Führersitz mit bergen. Da im Zeichen des totalen Krieges auch die »Natter« nicht restlos als Verlustgerät eingesetzt werden konnte, wurde auch das Rumpfhinterteil mit Triebwerk und Steuerorganen trennbar angeordnet. Die Rettung dieser wertvollen Teile sollte ebenfalls durch einen Fallschirm geschehen.“ 22

Es fällt schwer, sich eine Steigerung dieser weiterhin dem NS-Jargon verfallenen Sprache vorzustellen. „Im Zeichen des totalen Krieges“ (lediglich »im totalen Krieg« langt nicht, es muß schon das »Zeichen« her), als eine solche Verzweiflungswaffe „nicht restlos als Verlustgerät eingesetzt werden konnte“ (aber warum denn nicht, oder bekennt sich der Schreiber der zitierten Zeilen zu damaligen Zwängen?) sollte „die Rettung dieser wertvollen Teile“ (gerettet werden sollten wohlgemerkt Maschinen als „wertvolle Teile“ neben den menschlichen Piloten) mit Vorrang ermöglicht werden. „Da das Rumpfheck mit dem Triebwerk und den Steuerorganen komplett in eine neue Maschine eingebaut werden konnten“ (korrektes Deutsch schreiben diese Herrschaften leider nicht), „war der Verlust der Restteile nicht schwerwiegend.“

Am 25. Februar 1945 erfolgte der erste Start der Bachem-Maschine, bei dem mit Attrappen alle Funktionen getestet wurden. Hernach „verlangte das RLM sofort einen Start mit einem bemannten Gerät.“ 23 Das Ministerium stellte hierfür einen eigenen Piloten, einen Oberleutnant Lothar Siebert, zur Verfügung. Der wurde beim ersten Start Ende Februar 1945 getötet:

„Der Kopf des Piloten muß nach hinten gerissen worden sein, wodurch er entweder bewußtlos wurde oder sofort einen Genickbruch erlitt … Die Maschine ging auf den Rücken und verschwand in schnellstem Horizontalflug. Etwa eine Minute später explodierte sie.“ 24

Dennoch gingen die Versuche mit dem Selbstopferjäger »Natter« bis April 1945 weiter. Es fanden weitere 22 Starts statt, davon vier mit Piloten. – Immerhin zeigen einzelne Autoren aus der technischen Literatur heute Bedenken gegen das »Natter«-Projekt. Der Entwicklungschef der Firma Arado spricht in Bezug auf die Konzeption von „unklaren Gedankengängen“ und berichtet:

„Die Erprobung der Ba 349 verlief wegen der mangelhaften Vorbereitung und der Hast, mit der sie durchgeführt wurde, unter vielen unliebsamen Unterbrechungen.“ 25

Dieser Autor wundert sich auch über organisatorisches Durcheinander bei Kriegsende: „Warum die Arbeiten bis zum Eintreffen der gegnerischen Truppen weitergeführt wurden, obwohl die Ba 349 bereits am 5. Januar 1945 vom Rüstungsstab gestrichen war, ist wohl nur aus der mit dem nahen Kriegsende verbundenen Psychose zu verstehen.“ 26

Antriebslose Kampfgleiter

Letzte Verzweiflungsprojekte zur Bekämpfung der alliierten Bomberflotten waren, als gegen Kriegsende der Treibstoff extrem knapp wurde, schwerbewaffnete und gepanzerte Kampfsegler ohne Motoren.

Das erste Projekt dieser Art stammte von der renommierten Jägerfirma Messerschmitt. Diese hatte in bemerkenswerter Voraussicht mit ihrem Typ Me 328, in Kooperation mit der Deutschen Forschungsanstalt für Segelflug, einen „einsitzige(n) Jäger projektiert, der ohne eigenen Antrieb im Mistelschlepp an den feindlichen Bomberverband herangetragen und dann im Gleitflug seine Angriffe durchführen sollte“. Die Erprobungsversuche von Hanna Reitsch und anderen erbrachten freilich mäßige Ergebnisse: „Die Flugeigenschaften waren nicht besonders, reichten aber für den vorgesehenen SO-Zweck vollkommen aus.“ Der aus zahlreichen Holzteilen gefertigte Jagd-Gleiter hielt den Belastungen nicht stand, „so daß die Erprobung nach dem ersten Todessturz abgebrochen wurde.“ 27

Über das Parallelprojekt von Heinkel heißt es, es ginge um ein „bemanntes Verschleißgerät“ – erneut eine Formel, die Reflexion provoziert. Bei Heinkel sah man von Anbeginn (im Gegensatz etwa zu der neugegründeten Firma Bachem), daß „der Pilot offenbar nicht den hohen Startbeschleunigungen gewachsen war.“ 28

Besonders die Hamburger Firma Blohm + Voß trat bei Kriegsende mit Kombinationen von Kampfgleitern mit Selbstopferflugzeugen hervor. Die Beschreibung des Projektes P. 214 aus dem Jahre 1944 spricht für sich selber:

„Offiziell als »Bemannte Fla.-Bombe« bezeichnet, war dies ein Flugzeug, das durch einen Flugzeugführer gesteuert, eine starke Sprengladung an den feindlichen Bomberverband heranbringen sollte. In genügender Nähe des Verbandes sollte der Pilot abspringen und die nunmehr unbemannte Maschine mit ihrer Sprengladung zur Explosion bringen. Da das Abspringen im Anflug zwar theoretisch möglich, aber praktisch wahrscheinlich ausgeschlossen war, konnte man dies als eine »Selbstmordbombe« bezeichnen.“ 29

Nach umfangreichen Versuchen mit Gleitflugzeugen entschloß sich Blohm + Voß zu einem letzten Projekt, dem – wie das Gerät benannt wurde – »Kampf-Segler BV 40«. Das Flugzeug „wurde als relativ kleiner Jäger ohne Eigenantrieb ausgelegt, das mit einem Minimum an Herstellungskosten und Arbeitsaufwand in Großserie gebaut und gegen die alliierten Bomberverbände eingesetzt werden sollte. Das „Buch der deutschen Fluggeschichte“ beschreibt das Einsatzkonzept:

„Nach dem Ausklinken sollte der in der BV 40 liegende Flugzeugführer in einem Gleitflug von etwa 20 Grad mit einer Geschwindigkeit von 400 bis 500 Stundenkilometern den Bomberverband mit einem einzigen Feuerstoß angreifen, durchstoßen, und dann irgendwo landen.“ 30

Verständlicherweise gab es Mischkonzepte zwischen dem antrieblosen Kampfgleiter und den raketengetriebenen Selbstopferjäger. Die Forschungsanstalt Zeppelin etwa offerierte eine bemannte »Fliegende Panzerfaust«, die über einen »Bedarfsantrieb« von Pulverraketen verfügte. Diese Konstruktion sollte im Schlepp „von beliebigen zur Bomberabwehr startenden Flugzeugen mitgenommen werden und bei günstiger Gelegenheit vom Schleppflugzeug … gelöst werden. Geschützt hinter einem Panzerspant konnte der Pilot seine Raketengeschosse nahe am Ziel auslösen.“ 31 Sehr viel auszulösen hatte der Pilot nicht – vorgesehen waren ganze zwei ungelenkte Raketen (Typ RZ 65).

Ein neuer Historikerstreit?

Die Bewertung der vorgestellten Projekte nationalsozialistischer Rüstung bleibt schroff kontrovers. Dem mainstream von Technikhistorikern stehen wenige couragierte Autoren gegenüber, die es wagen, diese Projekte kritisch zu betrachten. Karl-Heinz Ludwig zitiert etwa in Bezug auf den »Volksjäger« den Brief eines Fritz Hahn, was ihm bittere Polemiken einbringt:

„Für den kritischen Fachmann war der »Sperrholzvogel He 162« als Kampfmittel schlechthin »ein Witz«, und »nicht einmal erfahrene Piloten beherrschten diese Maschine.“ 32

Allgemeiner gefaßt läßt sich dieser Gegensatz benennen in der Polemik zwichen dem verstorbenen Peter Brückner und Wilhelm Treue.33

Es steht eine steife Fehde an um die angemessene Bewertung der technologischen Hinterlassenschaft des Dritten Reiches. Diejenigen Branchenschreiber, die nach wie vor allein technischen Höchstleistungen und nichts anderes in Volksjägern, Selbstopferwaffen und Kampfseglern erkennen, sollten des Kontextes gewahr sein, in welchem sie ihre Hochglanztexte vorlegen. Die vorherrschende Technikgeschichtsschreibung forderte sie bislang nicht heraus (zu nennen wären Conrad Matschoß, Franz Maria Feldhaus, Friedrich Klemm, vor allem aber Wilhelm Treue und Armin Herrmann).

Inhaltlich gewendet geht es weniger um die politische Haltung von Ingenieuren, wie sie Hortleder und Kogon hinreichend differenziert untersucht haben.34 Zentrales Ergebnis dieser Studien war, daß deutsche Ingenieure ihre politische Rolle allenfalls abstrakt wiedergeben, und daß sie im Zweifelsfall reaktionäre (und eben nicht progressive, entsprechend ihrem Selbstbild als Innovatoren) Positionen beziehen.

Dieses Ergebnis verweist auf einen allgemeineren Kontext, in welchem analytisch vertieft das Engagement der technischen Eliten beim Untergang des Dritten Reiches zu erörtern wäre. Besonders angelsächsische Autoren erweisen sich als beeindruckt von der Hingabe deutscher Technologieproduzenten an NS-Konzepte in der Niedergangsphase des Nazi-Reiches – als der Druchschnittbüger, der berühmte Mann auf der Straße, das Dritte Reich längst abgeschrieben hatte, und sich entsprechend auf pures Überleben einrichtete. Jeffrey Herf35 hat vorgeschlagen, unter der Formel eines »reaktionären Modernismus« die blindwütige high-tech Orientierung der Nazis zu fassen. Er rekurriert damit auf eine breitere, gar nicht auf Rüstung bezogene Debatte, über »fortschrittliche Reaktion«. Diese wurde ausgelöst und wirkte stilbildend zunächst in der bildenden Kunst (etwa Hamann/Hermand).36 Es könnte sein, daß die Formel von der technischen Progressivität, die denn doch reaktionären Zielen dient, für vertiefte Untersuchungen des Themas Technikideologien und Nationalsozialismus weiterhilft.

Anmerkungen

1) Vergl. als neuere Darstellung: Theodor Benecke et al., Flugkörper und Lenkraketen, Koblenz 1987. Zurück

2) Vergl. die Polemik gegen eine kurze Passage über den »Volksjäger« Heinkel 162 bei Karl-Heinz Ludwig, Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Königstein/Ts. u.a. 1979 bei H. Dieter Köhler, Ernst Heinkel, Pionier der Schnellflugzeuge, Koblenz 1983, S. 210f. Zurück

3) Heinz J. Nowarra, Die deutsche Luftrüstung 1933-1945, Bd. 1, Koblenz 1985, S. 157 (dieses mehrbändige Werk wird im folgenden als »Nowarra« mit der Angabe des Bandes zitiert. Es handelt sich um eine im Textkern kaum veränderte Neuauflage der in der folgenden Fußnote angegebenen über 20 Jahre älteren Quelle. Textgleiche Passagen mit exponierten Aussagen werden in beiden Quellen nachgewiesen). Zurück

4) Karlheinz Kens/Heinz J. Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933-1945, München 1961, S. 323 (im Folgenden zitiert als »Kens/Nowarra«). – Die Aussage wortgleich wiederholt Nowarra, Bd. 3, S. 33f. Zurück

5) Kens/Nowarra, S. 283. Zurück

6) Zu Saurs Karriere ausführlich Ludwig, a.a.O. Zurück

7) Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, 5. Aufl., Preetz 1963, S. 509. – »Der Spiegel« gibt 1989 (Nr. 32, S. 156) das Volksjägerkonzept wie folgt wieder: „Rüstungsminister Albert Speer wollte jetzt einen Mini-Düsenjäger, ohne viel Firlefanz, billig und unkompliziert in der Bauweise. Zudem sollte jeder Hitlerjunge das Gerät nach einer Kurzausbildung beherrschen können.“ Zurück

8) Georg Brütting, Das Buch der deutschen Fluggeschichte, S. 292. Vergl. auch Köhler, a.a.O., S. 205-212. Zurück

9) Rüdiger Kosin, Die Entwicklung der deutschen Jagdflugzeuge, Koblenz 1983, S. 194f. Zurück

10) Heinkel, a.a.O., S. 511. Zurück

11) „Knapp einen Monat nach den ersten Besprechungen über die Untertageverlagerung der Produktion wurde die »Mittelwerke GmbH« gegründet. Als Tochtergesellschaft des staatlichen »Rüstungskontors« unterstand sie verwaltungsmäßig der Zentralabteilung für Wirtschaft und Finanzen im Ministerium Speer … In unterirdischen Höhlen bei Niedersachswerfen im Südharz sollte das neue Mittelwerk die Fertigung der Fernraketen vorbereiten und aufnehmen. Die erste Planung (erfolgte) für eine »Gefolgschaft« von 16.000 »Häftlingen« und 2.000 »Deutschen““ Ludwig, a.a.O., S. 486f. Zurück

12) Heinkel, a.a.O., S. 508. – Der erwähnte »Spiegel«-Bericht ergänzt: „Die Holzteile des Mini-Jägers hobelten Schreiner in Thüringen und Württemberg. Radfahrer transportierten die fertigen Teile in Rucksäcken durchs zerbombte Reichsgebiet“ (Nr. 32/1989, S. 156). Zurück

13) Nowarra, Bd. 3, S. 252. Zurück

14) Köhler, a.a.O., S. 206. Zurück

15) Kens/Nowarra, a.a.O., S. 468ff; wortgleich Nowarra, Bd. 3, 1987, S. 239. Zurück

16) Kens/Nowarra, S. 469; Nowarra, Bd. 3, S. 239. Zurück

17) Ebd. Zurück

18) Nowarra, Bd. 4, 1988, S.56. Zurück

19) Köhler, a.a.O., S.220. Bei Nowarra, Bd. 2, S. 252, wird »Julia« als „Zwischenlösung einer bemannten Flakrakete …und eines vereinfachten schnellen Kleinjägers“ bezeichnet. Zurück

20) Kens/Nowarra, S. 79. Dieser Text findet sich gleichfalls unverändert in der Neufassung, Nowarra, Bd. 1, S.88. Zurück

21) Nowarra, Bd. 2, S. 253. Zurück

22) Kens/Nowarra, S. 80; Nowarra, Bd. 1, S. 88. Zurück

23) Kens/Nowarra, S. 81; Nowarra, S. 89. Zurück

24) Kens/Nowarra, S. 81/82; Nowarra, S. 89. Zurück

25) Kosin, a.a.O., S.202. Zurück

26) Ebd., S. 203. Zurück

27) Alle Zitate Kens/Nowarra, S. 469. Zurück

28) Nowarra, Bd. 2, S. 253. Zurück

29) Nowarra, Bd. 1, S. 142. Zurück

30) Brütting, a.a.O., S. 224f. Zurück

31) Nowarra, a.a.O., Bd. 4, S.48. Zurück

32) Ludwig, a.a.O., S.456. Zurück

33) W.Treue, Entwurf zu einem Nekrolog oder Materialien für eine gute wissenschaftliche Nachrede, in: Kurt Manel, Hg., Wege zur Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 1982. Zurück

34) Gerd Hortleder, Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs, Frankfurt a.M. 1970; Eugen Kogon, Die Stunde der Ingenieure, Düsseldorf 1976. Zurück

35) Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984. Zurück

36) Richard Hamann/Jost Hermand, Stilkunst um 1900, Berlin 1967. Zurück

Dr. Ulrich Albrecht ist Hochschullehrer für Politische Wissenschaften an der FU Berlin.