Fremdenhaß in Deutschland

Fremdenhaß in Deutschland

Einige Anmerkungen aus sozialpsychologischer Perspektive

von Forschungsgruppe: Konflikte zwischen Gruppen

Die Anzahl feindseliger und gewalttätiger Straftaten gegen Ausländer hat in der letzten Zeit erheblich zugenommen. Das Spektrum der Straftaten erstreckt sich von Beleidigungen über anonyme und offene Drohungen bis hin zu massiven tätlichen Angriffen. Täter sind meist Jugendliche, die Opfer gegenwärtig überwiegend Asylbewerber. Der festzustellende Zuwachs von Asylbewerbern wird in einem Atemzug mit den gegenwärtigen ökonomischen Schwierigkeiten infolge der Wiedervereinigung diskutiert. Zugleich wird auf die Höhe des Ausländeranteils an der Bevölkerung verwiesen. Beide Überlegungen zusammen führen bei vielen zu der Ansicht, daß das »Boot voll« sei und weitere Asylbewerber nicht mehr aufgenommen werden sollten.

Außerdem erscheint dieser Personenkreis besonders geeignet, zum stellvertretenden Opfer einer generellen Abneigung und Feindseligkeit gegenüber Ausländern zu werden. Dieser Gruppe werden in besonderem Maße alle die Merkmale zugeschrieben, auf die zur Rechtfertigung der Ablehnung von Ausländern immer schon verwiesen wurde. Dabei werden die kulturelle Andersartigkeit sowie der Vorwurf mangelnder Eingliederungsbereitschaft und Rücksichtnahme auf deutsche Lebensgewohnheiten betont. Es herrscht weitgehende Unkenntnis über die um Asyl nachsuchenden Personen und deren Schicksal. Zugleich haben die Asylbewerber im Gegensatz zu anderen Ausländergruppen kaum Gelegenheit, die positiven Seiten ihrer Kultur zu vermitteln. Daher besteht die Gefahr, daß ihre offensichtliche Andersartigkeit nicht nur als Minderwertigkeit sondern auch als unkontrollierbare Bedrohung erlebt wird.

Die Ereignisse von Hoyerswerda im neuen Bundesland Sachsen werden gern als Markstein der neuen Ausländerfeindlichkeit herausgestellt. Hoyerswerda sollte jedoch nicht dazu verleiten, Ausländerfeindlichkeit als Spezifikum der neuen Bundesländer anzusehen. Neuere Umfragen zeigen, daß ein hoher Prozentsatz auch der Westdeutschen zumindest Verständnis für das Handeln rechtsextremer Gruppen hat. Ausländerfeindlichkeit ist weder typisch ostdeutsch noch ein neuartiges Phänomen in der neuen BRD; auffällig sind jedoch die zunehmende Bereitschaft zu offener Feindseligkeit und die Intensität der Ausschreitungen.

Gängige Erklärungsmuster für Ausländerfeindlichkeit

Die vielfach in den Medien angebotenen Erklärungen für die Gewalttätigkeiten junger Deutscher gegenüber Asylbewerbern betonen entweder individuelle Besonderheiten oder aber die sozioökonomischen Lebensbedingungen der Täter. Im ersten Fall werden die Täter als verwirrte, seelisch schwer gestörte Personen dargestellt, die aus zerrütteten familiären Verhältnissen stammen. Im zweiten Fall wird vornehmlich auf die Jugendarbeitslosigkeit, die Wohnungsmisere und auf politische Orientierungsverluste verwiesen.

Beide Erklärungen können jedoch nicht zufriedenstellen. Weder sind alle arbeitslosen Jugendlichen ausländerfeindlich eingestellt, noch lassen sich soziale Phänomene auf individuelle Verwirrungen, Pathologien oder sonstige psychische Defizite reduzieren. Eine befriedigende Erklärung kann weder auf den sozialen noch auf den individuellen Aspekt verzichten, sondern muß beide Aspekte sinnvoll miteinander verknüpfen.

Wie Geschichte und Gegenwart zeigen, kommt es vornehmlich in Phasen sozialer Unsicherheit zum Ausbruch offener Feindseligkeiten. Diese sind in der Gesellschaft latent im Sinne sozialer Vorurteile bereits vorher angelegt. Sie zeigen sich unter stabilen Verhältnissen nur gelegentlich in vereinzelten Fällen von Gewalttätigkeit. Die jüngsten Erfahrungen lehren uns aber auch, daß offensichtlich nur ganz bestimmte Personenkreise, vor nehmlich Jugendliche aus unteren sozialen Schichten, eine gesteigerte Bereitschaft zu aktiv gewalttätigem Handeln gegenüber Ausländern zeigen. Nicht zufällig sind es meist genau Angehörige dieser Schichten, die von sozialen Unsicherheiten ganz besonders betroffen sind. Somit sind es nicht notwendigerweise kranke Personen, die Gewalt gegen Ausländer verüben.

Fremdenhaß kann auch bei psychisch durchaus gesunden Menschen auftreten.

Ein sozialpsychologisches Erklärungsmodell

Welche Faktoren sind es nun, die gegenwärtig einzelne oder Gruppen von Personen dazu bewegen, offene Feindseligkeiten und Aggressionen gegenüber Ausländern zu zeigen?

Die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten einzelner Personen oder Gruppen hängt vor allem von subjektiven Wahrnehmungen, Bewertungen und Entscheidungen ab, die vor dem Hintergrund gegebener sozialer Überzeugungen (z.B. Vorurteile), objektiver Lebensbedingungen (z.B. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot) und persönlicher Merkmale (z.B. Aggressivität, Impulsivität) erfolgen. Diese drei Faktoren existieren zunächst unabhängig von Anfeindungen und Aggression; sie beeinflussen jedoch allesamt die subjektiven Einschätzungen, die jeder Gewaltanwendung vorausgehen. Dieses Erklärungsmodell geht somit weder davon aus, daß die Hintergrundfaktoren zwingend zu Ausländerfeindlichkeit führen, noch davon, daß sämtliche Einflußgrößen gegeben sein müssen, um aggressives Verhalten auszulösen.

Persönlichkeitsmerkmale einzelner Täter sollen hier nicht weiter erörtert werden. Auf die beiden anderen Hintergrundfaktoren sei kurz eingegangen.

Hintergrundfaktor Vorurteile

Vorurteile stellen Auffassungen über Personengruppen dar, die in jeder Gesellschaft als geteilte Wissensbestände existieren und ihren Mitgliedern argumentativ zur Verfügung stehen. Vorurteile sind Werkzeuge, die das Denken und Handeln der einzelnen anleiten. Sie erleichtern die Wahrnehmung und die Orientierung in der sozialen Umwelt. Auf sie kann auch rechtfertigend Bezug genommen werden. Vor allem aber vermitteln Vorurteile ein meist negativ gefärbtes Bild von einer Gruppe. Sie signalisieren einen gerichteten Handlungsbedarf, der insbesondere in Phasen der Destabilisierung und in Konfliktsituationen akut wird. Vorurteile gegenüber Ausländern sind also nicht Ausdruck krankhaften oder defekten Denkens und sind nicht an tatsächliche Erfahrungen mit dieser Personengruppe gebunden. Sie bestehen vielmehr weitgehend unabhängig von den individuellen Erfahrungen des konkreten einzelnen, seien sie nun positiv oder negativ. In Vorurteilen sind tradierte, negativ gefärbte Vorstellungen und Normen zum Umgang mit Fremden verdichtet, die nun auch auf konkrete Personen in der Gegenwart angewendet werden können. Für die einzelne Person implizieren Vorurteile ein selektives Wissen über eine Personengruppe, eine gefühlsmäßige Ablehnung dieser Gruppe und die Bereitschaft zu solchen Handlungen, die diese Ablehnung gegenüber der gesamten Gruppe oder einzelnen Mitglieder zum Ausdruck bringen.

Hintergrundfaktor sozioökonomische Lage

Vorurteile sind nicht zwingend an einen besonderen sozioökonomischen Status von Personen oder Gruppen gebunden. Die jüngste Vergangenheit zeigt jedoch, daß offene Feindseligkeit und Gewalt vielfach von solchen Personen verübt wird, die sich in ungünstigen sozialen Verhältnissen befinden. Ihre finanzielle Lage ist häufig schlecht, ihr Bildungsniveau meist gering, ihre berufliche Perspektive wenig entwickelt und ihr gesellschaftlicher Status niedrig. Von daher sind ihre Chancen im Streit mit anderen Gruppen um die Teilhabe an den knappen Ressourcen unserer Gesellschaft schlecht. Daraus resultiert Unzufriedenheit und die generelle Bereitschaft, gegen gültige Normen und Wertvorstellungen zu verstoßen.

<>Subjektive Wahrnehmungen, Bewertungen und Entscheidungen<>

Vorurteile und sozioökonomische Lage legen zwar die Bereitschaft zu und die Richtung von Feindseligkeit nahe, führen aber nicht automatisch zu offen aggressivem Verhalten. Feindseliges und gewalttätiges Handeln beruht letztlich vielmehr auf subjektiven Wahr nehmungen, Bewertungen und Entscheidungen, die allerdings wiederum durch Vorurteile und objektive Lebensbedingungen beeinflußt werden. Ziel feindseliger Handlungen sind vornehmlich Gruppen mit vergleichbar schlechtem oder schlechterem Status, die als Konkurrenten wahrgenommen werden.

Die subjektiven Einschätzungen basieren auf dem Bedürfnis von Personen, sich selbst, ihre Situation, ihr Umfeld und ihre Perspektiven in Relation zu anderen Personen positiv zu erleben und von anderen Gruppen der Gesellschaft darin bestätigt zu werden. Positives Erleben bedeutet damit gleichzeitig die Feststellung von Überlegenheit im Vergleich zu anderen Personen und Personengruppen. Diese Überlegenheit bezieht sich auf Wertvorstellungen der in den Vergleich einbezogenen Gruppen oder Kulturen (z.B. Sauberkeit, Strebsamkeit) und deren Leistungen. Die Vergleichspartner werden nicht beliebig gewählt: Vergleiche werden gewöhnlich so vorgenommen, daß sie dem einzelnen und seiner Umgebung Überlegenheit garantieren.

Aus diesen Überlegungen folgt dreierlei:

1. Statusniedrige Personen haben wenig Gelegenheit, für sich positive Vergleiche herbeizuführen, die im breiteren sozialen Kontext ebenfalls Anerkennung finden.

2. Sie wählen daher Angehörige sozial schwächerer Gruppen wie etwa die Asylbewerber als Medium, um ihre Überlegenheit zu dokumentieren.

3. Statusniedrige Personen finden bei anderen sozialen Gruppen kaum Unterstützung für ihre Ziele und Wertvorstellungen. Indem sie sich auf eine übergeordnete Kategorie wie »Deutsch« zurückziehen, glauben sie an den positiv bewerteten Merkmalen der Gesellschaft teilhaben zu können. Je niedriger der Status der Person oder der Personengruppe, desto größer wird der Zwang, sich auf solche übergeordneten Kategorien zurückzuziehen und Mitglieder anderer, noch schwächerer Gruppen zu diskriminieren.

Im Falle der Asylbewerber sind verschiedene Bedingungen gegeben, die deren Abwer tung, Anfeindung oder gar gewalttätige Vertreibung insbesondere durch Angehörige sozial schwacher Gruppen fördern:

1. Die Anwesenheit der Asylanten wird als illegitim wahrgenommen. Den Asylanten wird unterstellt, daß sie mit Absicht das Asylrecht verletzen und sich ungerechtfertigter Weise den Zugang zu Sozialleistungen verschaffen. Damit belasten die Asylanten den Staatshaushalt, was sich vermeintlich zu Ungunsten der statusniedrigen Mitkonkurrenten auswirkt.

2. Die Höhe der Sozialleistungen für die Asylanten wird als ungerecht wahrgenommen, weil sie von keinerlei Vorleistung seitens der Asylanten abhängig gemacht wird. Im Gegensatz dazu haben die ausländerfeindlichen Deutschen entweder bereits Vorleistungen erbracht oder aber sie glauben, allein aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit mehr Anspruch auf staatliche Zuwendungen zu haben.

3. Die den Asylanten zufließenden Sozialleistungen werden als Indiz für die Aufbesserung von deren sozialen Status verstanden. Dies wird als bedrohlich erlebt und führt zu Bemühungen, die Überlegenheit der eigenen Gruppe im Verhältnis zur Asylantengruppe hervorzuheben.

Diese Einschätzungen werden nicht willkürlich vorgenommen, sondern greifen zum Teil Argumentationen auf, die für unsere Gesellschaft und deren rechtsstaatliche Positionen durchaus verbindlich sind oder aber durch bereitgestellte soziale Vorurteile begünstigt werden.

Die Entscheidung

zu konkreten Gewaltakten

Wie kommt es nun zum offenen aggressiven Verhalten? Die Wahrnehmung von Ungesetzmäßigkeit, Ungleichbehandlung und Statusbedrohung lösen beim Einzelnen affektive Reaktionen aus, die einerseits die Bereitschaft zu feindseligen Handlungen erhöhen und andererseits die moralischen Hemmschwellen gegenüber gewalttätigen Akten herabsetzen. Diese Absenkung der Hemmschwelle wird noch durch eine Depersonalisierung der einzelnen Opfer begünstigt, d.h. sie werden nicht als konkrete Personen sondern gleichsam als gesichtslose Elemente einer abgewerteten sozialen Gruppe wahrgenommen und behandelt. Folglich trifft die Gewalt entgegen vorherrschenden Normen auch Kinder, Frauen und Alte. »Erfolgreiche Vorbilder« wie Hoyerswerda oder Hünxe sowie der Applaus einzelner Bürger vor Ort oder an Stammtischen fördern diese Enthemmung ebenso wie der den Feindseligkeiten häufig vorausgehende Alkohol konsum. Vielleicht häufig ungewollte Unterstützung liefern auch Kommentare von Journalisten und Politikern, die ihre Empörung über feindselige Ausschreitungen unmittelbar mit dem Hinweis auf die Dringlichkeit einer neuen Ausländer und Asylpolitik verknüpfen. Damit signalisieren sie den Tätern, daß sie mit ihnen im Ziel übereinstimmen und ledig lich die Wahl der Mittel verurteilen.

Die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten, wie es sich z.B. im Werfen von Brandsätzen äußert, hängt zudem stark von individuellen Kosten-Nutzen-Abwägungen ab. Diese betreffen

1. die Wichtigkeit des angestrebten Ziels

2. die Einschätzung der Wirksamkeit der konkreten Aktion im Hinblick auf das angestrebte Ziel, sei es die massive Terrorisierung der Opfer, sei es die Betroffenen dahin zu treiben, ihr Asylgesuch fallenzulassen oder sei es lediglich die Profilierung vor der eige nen Gruppe als mutig oder kampfstark.

3. die zu erwartenden Konsequenzen bezüglich Verantwortlichkeit und Sanktionen, die z.B. dann vernachlässigt werden können, wenn die Aufklärungsquote nur gering ist oder das Werfen von Brandsätzen lediglich als leichte Sachbeschädigung gewertet würde.

Daneben ist der erlebte soziale Druck seitens der Mitglieder der eigenen Bezugsgruppe für die Entscheidung zur Handlung bedeutsam.

Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verpflichtet den einzelnen auf bestimmte Ziele und Normen. Hinsichtlich der in die aktuellen Gewalttätigkeiten einbezogenen Tätergruppen ist zu vermuten, daß dort öffentliche Verunglimpfungen und der Einsatz von Gewalt gegen Ausländer nicht nur akzeptiert sondern sogar positiv sanktioniert werden.

Beide Faktoren, die Kosten-Nutzen-Abwägungen und der soziale Druck, werden durch situative Bedingungen unmittelbar beeinflußt. Hierbei spielt insbesondere die Anwesenheit weiterer Gruppenmitglieder eine bedeutsame Rolle: Das Risiko des einzelnen, zur Verantwortung herangezogen zu werden, verringert sich, gruppen spezifische Hinweise auf die Angemessenheit des feindseligen Verhaltens sind ständig präsent und die soziale Anerkennung seitens der Gruppe erfolgt unmittelbar.

Konsequenzen

Welche Maßnahmen können aufgrund dieser Analyse ergriffen werden, um Ausländerfeindlichkeit und Gewalttätigkeit abzubauen? Die erforderlichen Maßnahmen lassen sich erneut den drei genannten Bedingungen – soziale Vorurteile, objektive Deprivationen, subjektive Einschätzungen – zuordnen:

1. Es wäre verkürzt, das gegenwärtige Phänomen der Gewaltkriminalität gegen Ausländer als Taten gesellschaftlicher Randgruppen zu begreifen. Vielmehr muß erkannt werden, daß die feindseligen Handlungen auf einem breiten Fundament weitgehend geteilter Vorurteile basieren. Die Täter können davon ausgehen, daß ihnen für ihr Verhalten in gewissem Maße Anerkennung zuteil wird. Diese soziale Unterstützung muß ihnen entschieden entzogen werden. Dies erfordert insbesondere positive Stellungnahmen zu Ausländern durch die Autoritäten unserer Gesellschaft in Politik und öffentlichem Leben. Es reicht nicht aus, die Gewalttäter oder die Gesellschaft insgesamt moralisch zu verurteilen (z.B. „Schande über Deutschland“). Eine eindeutige Verurteilung ist zwar äußerst wichtig, noch wichtiger ist jedoch die Hervorhebung der positiv bereichernden Merkmale der hier lebenden Ausländer sowie die Demonstration aufrichtigen Interesses an ihren Problemen und kulturellen Besonderheiten. Die Aufnahme von individuellen, freundschaftlichen Kontakten zu Ausländern oder gar Patenschaften können wechselseitiges Verständnis und Toleranz positiv beeinflussen. Die gängige Praxis vieler Gemeinden, Ausländer zu ghettoisieren, steht diesen Bemühungen eindeutig entgegen.

Neben einer positiveren Bewertung der Kategorie »Ausländer« muß es zu einer Akzentverschiebung im gängigen Stereotyp der Deutschen über sich selbst kommen. „Ich bin ein Deutscher“ muß stärker als bisher mit den demokratischen Werten wie Weltoffenheit, Liberalität, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Großzügigkeit verknüpft werden statt immer noch die klassischen Attribute wie fleißig, ordentlich, treu und sauber hervorzurufen. Die jüngsten Vorkommnisse zeigen deutlich, daß genau diese klassischen und schon häufig mißbrauchten Charakterisierungen des »Deutschen« noch immer als Vorwand dazu dienen, Diskriminierungen und Anfeindungen gegenüber anderen Gruppen zu rechtfertigen.

2. Die sozialen Lebensverhältnisse der Angehörigen niedriger Schichten, dies gilt insbesondere für Jugendliche, müssen dringend verbessert werden. Die Toleranz dieser Gruppen gegenüber Ausländern mag in dem Maße anwachsen, in dem sie in die Gesellschaft eingegliedert werden und soziale Anerkennung erfahren. Hierin sollte das vordringliche Anliegen von Politik liegen. Wenn die Aufmerksamkeit unserer Medien und Politiker gegenwärtig zentral auf die Asylantenfrage gerichtet ist, statt das Problem der Jugendarbeitslosigkeit zu thematisieren, so spiegelt diese verzerrende Umlenkung der Aufmerksamkeit auf einer höheren Ebene exakt das vorurteilsbehaftete Vorgehen der ausländerfeindlichen Gruppen wider: Probleme innerhalb der Gesellschaft werden auf dem Rücken fremder Gruppen ausgetragen.

3. Es gilt, den einzelnen an der Ausführung von Gewalt zu hemmen. Dies kann nur gelingen, wenn seine Einschätzungen über die Wirksamkeit seiner Handlung hinsichtlich des von ihm angestrebten Ziels und über die Wahrscheinlichkeit negativer Konsequenzen seiner Tat für ihn selbst und seine Gruppe beeinflußt werden. Es muß jedem Täter klar sein, daß Feindseligkeit und Gewalttätigkeit in keinem Fall dazu beitragen werden, Ausländer aus Städten und Gemeinden zu vertreiben. Zugleich muß darauf geachtet werden, daß die Aufklärung ausländerfeindlicher Straftaten energisch betrieben wird und gefaßte Täter angemessen bestraft werden. Bürgerwehren und Selbstschutzorganisationen, die letztlich als Zeichen staatlicher Ohnmacht zu begreifen sind, dürfen keinesfalls hingenommen oder gar legalisiert werden. Die zuständigen staatlichen Stellen dürfen nicht länger den Verdacht aufkommen lassen, Straftaten gegen Ausländer würden nur halbherzig verfolgt und geahndet.

„Forschungsgruppe: Konflikte zwischen Gruppen“ am Psychologischen Institut IV der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und an der Arbeitseinheit Sozialpsychologie der Ruhr-c/o Prof. Dr. A. Mummendey

Artefakte des Fanatismus

Artefakte des Fanatismus

Technik und nationalsozialistische Ideologie in der Endphase des Dritten Reiches

von Ulrich Albrecht

Ziel dieses Beitrages ist es, das spezifisch »Nationalsozialistische« in der Technikentwicklung des Dritten Reiches herauszuarbeiten. Um die Stoßrichtung deutlicher zu umreißen: Die mit der Entwicklung von Technik im Zweiten Weltkrieg befaßten deutschen Naturwissenschaftler und Ingenieure sind möglicherweise nicht nur Nazis gewesen, indem sie als Privatpersonen der NS-Partei oder einer ihrer Gliederungen angehörten, oder auch nur aus Überzeugung für die NS-Ideologie eintraten. Die These lautet vielmehr, daß diese Naturwissenschaftler und Ingenieure auf die besonders in der Endphase des Dritten Reiches extremen Technikanforderungen nicht nur mit vehementem Engagement, sondern auch mit Technikbeiträgen antworteten, die ungewöhnlich bleiben, die sich von Rüstungstechnik, wie sie auch anderswo forciert wurde, erheblich unterscheiden. Diese im Dritten Reich vorgelegten Technikbeiträge, so die Fortführung der These, stellen Artefakte dar, die nationalsozialistische Auffassungen widerspiegeln. Mit anderen Worten: Die hier zu erörternden Projekte bleiben nicht nur deswegen bemerkenswert, weil sie in einer phänomenalen Anspannung der Kräfte, zumeist unter absurden Arbeitsbedingungen, in unterirdischen Notquartieren unter dem Bombenhagel der Alliierten ausgeführt wurden. Vielmehr lassen sich an der so erzeugten Hochtechnologie Merkmale von Nationalsozialismus studieren.

Diese exponierte These soll an drei Technologielinien aus der Schlußphase des Dritten Reiches erörtert werden, dem »Volksjägerprogramm« vom Herbst 1944, den bald folgenden Selbstopfer-Objektschutzjägern für nationalsozialistische Elite-Verbände, sowie dem letzten Aufgebot, antriebslosen Kampfgleitern als Jagdflugzeugen. Letzter Akt der Reichsregierung waren noch ambitiösere Technologieprogramme wie Nurflügeljäger von Horten in dem von Göring am 12. März 1945 verkündeten »Neue Abwehrprogramm des Führers«. – Die Kernthese dieses Beitrages ließe sich auch an anderen Technologielinien aus jener Zeit erörtern wie dem Bau von superschweren Panzern (Ferdinand Porsches »Maus« von 1944 mit bis zu 200 Tonnen Gefechtsgewicht und Panzerwänden bis 35cm Stärke), den »Vergeltungswaffen« V-1 und V-2 oder anderen »Wunderwaffen«.1 Die Erörterung hier beansprucht mithin, exemplarisch allgemeine Aussagen zu treffen.

Der technologiepolitische Hintergrund der Endphase des Dritten Reiches ist wenig bekannt. Der Erlaß Hitlers zur Bildung des Volkssturms vom 25.9.1944 war begleitet von einem letzten verzweifelten Technologieprogramm. Gegen die alliierten Bomberströme sollten mit dem sogenannten »Jäger-Notprogramm« von Hitlerjungen zu steuernde, vereinfachte Kampfflugzeuge aus – so die amtliche Ausdrucksweise – »Sparstoffen«, das war vor allem Holz, eingesetzt werden. Mit ihren Düsentriebwerken stellten diese Projekte durchaus Hochtechnologieprogramme dar.- Als die Umsetzung des »Volksjägerprogramms« Ende 1944 erkennbar zu Verzögerungen führte, wurden im Jäger-Notprogramm raketengetriebene Selbstopferflugzeuge gefordert, die in Sichtweite alliierter Bomber starten und am Ende durch Rammstöße kämpfen sollten. Schließlich, als es kaum mehr Treibstoff gab, wurden gar antriebslose Kampfflugzeuge konzipiert.

Die Erörterung dieser Wahnprojekte erfordert zugleich kritische Nacharbeit zur einschlägigen Technikhistorie. Diese verdrängt solche Konzepte keineswegs, sondern verteidigt sie als außerordentliche technische Leistung der Konstrukteure unter schwierigsten Bedingungen. Diese Literatur verweist auf die Ingenuität deutscher Ingenieure bei der Wahl ungewöhnlicher technischer Lösungen, mit bitteren Attacken gegen die wenigen kritischen Analytiker, die sich in diesen Bereich der Technikhistorie vorwagen.2 Einzufordern ist ein eigener Historikerstreit der Technikgeschichtler – hat die deutsche Industrie lediglich absurde Projekte dienend ausgeführt, oder hat sie einen eigenständigen Beitrag zum Fanatismus der letzten Tage des Dritten Reiches beigesteuert?

Eingrenzungen

Zunächst sind Abgrenzungen erforderlich. Die angeführten »Sonder«-Technologien geben nicht die Breite der Versuche des NS-Regimes wieder, durch extreme Technologieforcierung eine Überhöhung, eine größere Chance in der militärischen Auseinandersetzung mit der Anti-Hitler-Koalition zu gewinnen. Anzuführen bleibt eine Vielzahl weiterer Konzepte, die durchaus überambitioniert oder gigantomanisch ausfielen, die aber nicht besonders als nationalsozialistisch geprägt zu werten sind. Vertikalstartflugzeuge von Heinkel etwa, die Projekte »Wespe« und »Lerche« vom März 1945, erscheinen als Vorwegnahme etwa französischer Versuchsentwicklungen wie des »Coléoptère« der Firma SNECMA aus dem Jahre 1958 – und zunächst eben nicht als von NS-Vorstellungen beeinflußt. Auch die »Schnellstbomberprojekte« von Daimler-Benz aus der Endphase des Krieges verraten allenfalls einen gewissen Technikwahn. Ab März 1944 meldete Daimler-Benz mehrere Patente für solche Schnellbomberprojekt an. Das Konzept stammte von keinem geringeren als dem nachmalig in der Bundesrepublik sehr bekannt werdenden technischen Direktor des Unternehmens, Dipl.-Ing. Fritz Nallinger. Am 19. Januar 1945 trug Nallinger das fertig durchgerechnete Projekt als „Betrachtung über die Entwicklung eines Schnellstbombenträgers“ dem RLM vor. Das Einsatzkonzept für dieses Daimler-Produkt klingt heute einigermaßen abenteuerlich:

„Das Trägerflugzeug startet mit dem untergehängten Bomber und fliegt bis zur äußersten Grenze seiner Reichweite, bei der es gleichzeitig seine Gipfelhöhe erreicht. An diesem Punkt schaltet der Bomber seine Triebwerke ein und wird abgesprengt. Das Trägerflugzeug kehrt hierauf zum Einsatzhafen zurück, während der Bomber mit seinen unverbrauchten Brennstoffreserven sein fernes Ziel anfliegt. Nach Erfüllung des Langstreckenauftrages landet die Besatzung den Bomber an einen vorher bestimmten Punkt der feindlichen Küste, wo sie von einem U-Boot übernommen wird. Für diese Einsatzart war der Bomber als reines Verlustgerät konstruiert und besaß nicht einmal ein Fahrwerk oder wertvolle Ausrüstungsgegenstände. Ebenfalls war keine Abwehrbewaffnung vorgesehen.“ 3

An diesem in vier verschiedenen Varianten offerierten Bomberprojekt mag manches dubios erscheinen (auch die Sprache, mit der es noch heute vorgestellt wird), spezifische NS-Technologie stellt es nicht dar. – Auch engagiert sich 1944 das zweite Großunternehmen im deutschen Flugmotorenbau, die Bayrischen Motorenwerke, im Flugzeugsektor, und konkurrierte bei Bomberentwürfen (die Truppenreife war für 1950 vorgesehen) mit Daimler-Benz. An den im November 1944 vorgeschlagenen Düsenjägerprojekten mag zunächst nichts auffallen. Eine Variante enthält jedoch einen Aspekt, der als erster spezifisch nationalsozialistisch zu werten ist – die liegende Anordnung des Piloten. Während Jetpiloten sitzend (bis heute die Standardposition) beim Kurvenkampf bis zum neunfachen der Erdbeschleunigung ohne »black-out«, den Verlust des Bewußtseins, auszuhalten vermögen, kann man den menschlichen Körper bis zur vierzehnfachen Erdbeschleunigung überbeanspruchen, wenn der Pilot liegt. In liegender Anordnung ist ein kämpfender Flugzeugführer zwar weniger handlungsfähig (weswegen niemand außer den Nationalsozialisten diese Lösung je wählte), er mag aber hoffen, durch engere Kurvenradien eher in eine Abschußposition zu geraten als der Gegner.

Mit der liegenden Anordnung von Piloten hofften mehrere deutsche Flugzeugfirmen, einen entscheidenden Kampfvorteil zu realisieren. Die erwähnten Senkrechtstarter »Wespe« und »Lerche« von Heinkel erscheinen so in einem neuen, spezifisch nationalsozialistischen Licht. Außer BMW und Heinkel offerierten weitere deutsche Unternehmen das nationalsozialistische Konzept, durch Überbeanspruchung menschlicher Piloten taktische Vorteile zu erzielen, etwa die um eine eigene Rolle in der NS-Rüstung ringende Gothaer Waggonfabrik A.G. oder die Firma Arado mit einem Kleinstjägerprojekt aus dem Jahre 1944. Selbst die Forschungsanstalt Zeppelin meldete sich mit einer »Fliegenden Panzerfaust« mit liegendem Piloten. Bei Kriegsende regte sich auch die ansonsten in der NS-Luftrüstung nicht sonderlich erfolgreiche Henschel Flugzeugwerke A.G. in Berlin-Schönefeld mit der Entwicklung eines Sturzkampfbombers, Tragflächen aus Holz, mit liegender Anordnung des Flugzeugführers, „der in dieser Stellung wesentlich höhere Beschleunigungskräfte beim Abfangen und engen Kurven ertragen konnte.“ 4 Im März 1945 befanden sich vier Mustermaschinen im Bau.

Die Wahl der liegenden Anordnung von Piloten zwecks Steigerung der Leistungsgrenzen von Soldaten verdeutlicht einen ersten Aspekt spezifisch nationalsozialistischer Technikgestaltung. Ein weiterer Schritt besteht in der Senkung des Lebensalters, mit dem Halbwüchsige in Kampfhandlungen einbezogen werden. Parallel zum Einzug von Hitlerjungs in den »Volkssturm« wurden bei der Luftwaffe »Volksjäger« für den Einsatz durch Jugendliche konzipiert und von der Industrie konstruiert (Abschnitt 2). Einen dritten Schritt sehe ich darin, von der Hoffnung kämpfender Soldaten auf ihr Überleben abzugehen und Selbstopferwaffen vorzusehen (Abschnitt 3). Die Verzweiflungstechnologie der nationalsozialistischen Luftrüstung ist damit noch nicht am Ende. In der Schlußphase (Abschnitt 4) des Dritten Reiches werden Waffen konzipiert wie antrieblose Jäger oder »Kampfgleiter«, die eine faire Chance der Waffengleichheit nicht mehr vorsehen, bei denen alle Kampffähigkeit auf die hochmotivierten Übernaturen in den Cockpits konzentriert wird. So wird die Doppelnatur nationalsozialistischer Rüstungstechnologie mit Händen greifbar: dem Todesmythos, dem absehbaren Untergang im heroischen Kampfe, steht zur Seite (und nicht: entgegen) die Anspannung aller Kräfte, die übermäßige Leistung, beides mündend in den Mythos von Vergehen und Werden.

Der Volksjäger

Das Volksjägerprogramm zeigt weitreichende nationalsozialistische Versuche an, gegen die professionellen Programme der Luftwaffe eigene Akzente zu setzen. „Im Winter 1941/42, nachdem sich gezeigt hatte, daß das RLM unfähig war, einen genügenden Nachschub und eine entsprechende Entwicklung sicherzustellen, wurde die Steuerung des Luftwaffennachschubs dem Minister für Rüstung und Kriegsproduktion Speer übertragen“, heißt es bemerkenswert parteiisch in einer neueren Darstellung.5 Dem (NS-) Hauptdienstleiter Dipl.-Ing. Karl-Otto Saur6, einem Untergebenen Speers, wurde das Jäger-Programm übertragen, „dessen Ziel unter anderem die schnellste Schaffung eines sogenannten »Volksjägers« sein sollte, eines Baumusters, das nicht nur mit geringstem Material- und Zeitaufwand zu bauen, sondern auch leicht zu fliegen sein sollte. Hitler-Jungen sollten diesen »Volksjäger« im Masseneinsatz gegen die alliierten Bomberströme fliegen.“ Ernst Heinkel will in seinen Erinnerungen diesen Sachverhalt nicht so ganz wahrhaben:

„Saurs Vorstellungen, daß dieses Flugzeug sozusagen ein »Volksjäger« werden müsse, in dem Hitlerjungen nach ganz kurzer Schulung zur »Verteidigung Deutschlands« aufsteigen könnten, ging selbstverständlich weit über die Realitäten hinaus und entsprach dem fehlgeleiteten Fanatismus jener Tage.“ 7

Daß das Volksjägerprojekt „selbstverständlich weit über die Realitäten“ hinweggehe, hat Heinkel allerdings 1944 nicht gesagt, sondern das Flugzeug gebaut. Es handelt sich auch nicht um „sozusagen einen Volksjäger“, sondern so wurde das Projekt amtlich benannt.

Am 8.9.1944 wurde die »Volksjäger«-Ausschreibung den Firmen Arado, Blohm + Voss, Focke-Wulf, Heinkel und Junkers übermittelt. Das geforderte Entwicklungstempo blieb atemberaubend, allen Standards im Flugzeugbau Hohn sprechend: am 20. September 1944, zwölf Tage nach der Ausschreibung, mußten die Zeichnungen für die neuen »Volksjäger« beim RLM eingereicht werden. Am 23. September 1944 „fand im Hauptquartier des Reichsmarschalls eine entscheidende »Volksjäger-Beprechung« statt“, konstatiert „Das Buch der deutschen Fluggeschichte“.8 Der Anlauf des Serienbaus wurde mit dem 1. Januar 1945 terminiert.

Der damalige Entwicklungschef der Firma Arado erinnert sich an die Umstände der »Volksjäger«-Entwicklung:

„Bei der Firma Arado vollzog sich das so, daß eines Tages, Mitte September 1944, ohne vorherige Ankündigung in der nach Landeshut in Schlesien verlagerten Entwicklungsabteilung ein Referent des Technischen Amtes erschien, der innerhalb weniger Tage das Projekt eines leichten Jägers mit einem BMW 003-Triebwerk erstellt haben wollte. Er schien ganz genau zu wissen, was herauskommen sollte. Zwei Tage wich er nicht aus dem Entwurfsbüro und versuchte, das Projekt in eine von ihm gewünschte Richtung zu lenken… Einige Tage danach wurden die Projekte von der Industrie beim Jägerstab vorgetragen. Es müssen, meiner Erinnerung nach, nahezu ein Dutzend gewesen sein, denn die meisten Firmen, besonders die, deren Flugzeuge in der großen Typenreinigungsaktion vom 1. Juli gestrichen waren, bemühten sich um einen Auftrag im Jägersektor mit mehr als einem Entwurf. Einige waren erst in letzter Stunde, nach Diskussion anderer Entwürfe, in den Gewichts- und Leistungsangaben überarbeitet worden.“ 9

Vor allem die an einer Wiederbeteiligung an modernsten Projekten interessierte Firma Heinkel vermochte Schritt zu halten. Nach Eingang der Ausschreibung am 8. September 1944 und der Vorlage von ersten Entwürfen erhielt Heinkel eine Woche später, am 15. September, den Bauauftrag. Der Erstflug der ersten Versuchsmaschine He 162 »Salamander« erfolgte am 6. Dezember 1944, genau 69 Tage nach der Auftragserteilung. Blohm + Voss, zunächst mit dem Projekt P. 211 gleichauf im Rennen, war bald abgeschlagen, und Heinkel erhielt den Großserienauftrag. Die Firma Heinkel sollte ab 1.1.1945 1000 Volksjäger fertigen, die Firma Junkers im Unterauftrag in mehreren Werken ebenfalls 1000 Exemplare, die von der »Organisation Todt« mit Häftlingen betriebenen »Mittelwerke GmbH« sollten gar 2000 Exemplare auflegen. Später war ein monatlicher Ausstoß von 1000 »Volksjägern« geplant.10

Das Volksjägerprojekt verdeutlicht neben dem inhumanen Ziel, Jugendliche als Piloten einzusetzen, weitere Dimensionen nationalsozialistischer Technikerzeugung. Diese liegen zum einen in dem irrsinnigen Tempo, mit dem im Furioso immer anspruchsvollere Projekte vorgelegt werden. Zum anderen werden in der Produktion mehr und mehr anstelle der angestammten Fertigungsstätten Betriebe eingespannt, die mit Häftlingen statt Facharbeitern produzieren. Die gemäß dem »Alberich«-Konzept unterirdisch angelegten »Mittelwerke« im Harz bezogen ihre Arbeitskräfte aus dem KZ Buchenwald.11

Die Formulierung des Bauauftrages vom 29. September 1944 an die Firma Heinkel für den »einsitzige(n) Einstrahltrieb-Kleinstjäger« bestimmt, daß „bei der Härte der Verhältnisse eine kompomißlose Erfüllung der Aufgabe nur dann möglich ist, wenn auf jede zusätzliche Ausrüstung und Veränderung verzichtet wird. Es besteht ferner dahingehend Klarheit, daß bei der Methode, aus dem ersten Entwurf heraus bereits die Serienfertigung zu beschließen, das bis jetzt noch nicht zu übersehende Risiko eines etwaigen Fehlschlages in Kauf genommen werden muß“, heißt es markig weiter.

Technisch betrachtet stellt der Heinkel-„Volksjäger« ein Produkt höchster Not dar. Das Flugzeug wurde in Gemischtbauweise ausgeführt. Der Rumpf bestand aus Metall, Flügel und Leitwerke wurden aus Holz gefertigt. Zur Herstellung der Holzteile wurden zwei »Fertigungsringe« mit den Schwerpunkten Erfurt und Stuttgart gebildet, denen zahlreiche Handwerksfirmen angeschlossen waren. Ernst Heinkel beschreibt anschaulich die Fertigungsbedingungen im Winter 1944/45:

„Die Produktion war in zahlreiche Betriebe und Betriebchen über und unter der Erde verzettelt. Anstelle der durch Luftangriffe immer mehr zerschlagenen Eisenbahn brachten Lastwagenkolonnen die Einzelteile zu den Fertigmontagestellen. Kleinere Teile wurden durch Kuriere mit Rucksäcken befördert.“ 12

Angeblich infolge schlechter Verleimung platzte bei einem Demonstrationsflug des »Volksjägers« vor Nazigrößen am 10. Dezember 1944 die Beplankung der rechten Flügelnase ab, was zum Absturz und dem Tod des Piloten führte. Die technikhistorische Literatur kapriziert sich auf diesen Vorgang als ärgerliche Bagatelle – ohne das geringste Gespür dafür, daß eine schlecht ausgeführte Verleimung, oder aber ungenügender Klebstoff, oder aber die Holzbauweise von Düsenjägern überhaupt geradezu symbolisch die Hypertrophie der Technologieentwicklung des Dritten Reiches in seinem Abgang widerspiegeln.

Vom Volksjäger heißt es obendrein in einer neueren Darstellung – ein reineres Nazideutsch ist nicht möglich – die Heinkel-Maschine „hatte noch einen kleinen Schönheitsfehler: Sie setzte einen erfahrenen Piloten voraus oder zumindest speziell ausgebildetes Flugpersonal.“ 13 Der Rekurs auf die Anforderung gemäß der Volkssturmideologie bleibt ungebrochen: anstelle eines „erfahrenen Piloten“ ist „zumindest speziell ausgebildetes Flugpersonal“ (was könnte dieses anderes als Berufspiloten sein?) vonnöten – und dies wird mit Blick auf das Volkssturmkonzept in mißlingender Ironisierung als „kleiner Schönheitsfehler“ apostrophiert.

In anderen technikhistorischen Darstellungen setzt sich die Ideosynkrasie fort. In Bezug auf den Heinkelschen »Volksjäger« heißt es etwa ohne Umschweife: „Mit einem modernen Begriff: Es wurde ein »Verschleißgerät« verlangt“ (Rückfrage: Wieso gilt der Ruf nach »Verschleißgeräten« als modern?), auch seien die „Terminvorstellungen des RLM … an sich schon fast irreal zu nennen“ gewesen (wieso nur: fast?).14

Selbstopferflugzeuge

Den Höhepunkt erlebte die nationalsozialistische Technikgestaltung in der Rüstung mit dem Ansatz, vom kämpfenden, auch um sein eigenes Leben kämpfenden Soldaten abzugehen, und den Tod des Kriegers bewußt in die Konzeption von Waffen aufzunehmen. Human ist solche Technikgestaltung nicht mehr zu nennen. Sie fügt sich ein in den reinen Vernichtungswillen der spätnationalsozialistischen Phase.

Angesichts der drohenden Invasion der Alliierten auf dem Festland hatte der Luftwaffenoffizier und überzeugte Nationalsozialist Heinrich Lange „eine kleine Gruppe von Luftwaffenangehörigen gegründet, die Anhänger des SO-(Selbstopferungs-)Einsatzes waren. Nach der genau ausgearbeiteten Theorie sollte jeweils mit einem SO-Flugzeug ein Landeschiff der Invasionsflotte versenkt werden. Der SO-Pilot hatte das als Verlustgerät gedachte SO-Flugzeug bis zum Auftreffen ins Ziel zu lenken und fand dabei den Tod.“ 15

Die NS-Führung reagierte zunächst keinesfalls begeistert (das RLM lehnte ab; Hanna Reitsch trug am 28.2.1944 Hitler den Plan vor, „der ihn ebenfalls ablehnte, jedoch ein Weiterarbeiten in dieser Richtung gestattete“ 16). „Inzwischen waren Tausende von Freiwilligenmeldungen eingegangen“, heißt es in der gleichen Quelle weiter. „Zuerst wurde aber nur eine Gruppe von 70 Mann ausgewählt, während die anderen nach der Erstellung des Fluggerätes eingezogen werden sollten.“ 17

Zunächst wurde mit einer bemannten Version der »Vergeltungswaffe 1« (V-1) experimentiert (Abb. 8). Die Aktion erhielt die Tarnbezeichnung »Reichenberg« (nach der Hauptstadt des »Reichsgaues Sudetenland«), die bemannten Flugbomben hießen »Reichenberg-Geräte«. In einer Fluggeschichte heißt es lapidar:

„Gegen Kriegsende wurden Versuche mit bemannten V 1 für den Einsatz als Rammjäger gegen alliierte Bomberverbände durchgeführt.“ 18

Auffälligstes Kennzeichen der SO-Jäger war das Fehlen von Landefahrwerken – Räder zum Landen würden diese Maschinen ja nicht benötigen.

Im Herbst 1944 gab das Reichsluftfahrtministerium im sogenannten »Jäger-Notprogramm« eine Entwicklungsausschreibung für einen einfachen Abfangjäger heraus, der leicht und billig herzustellen sein sollte. Da die Bomberverbände der Alliierten zu diesem Zeitpunkt nur noch kurze Anflugstrecken zu ihren Zielen zu bewältigen hatten, mußten die Jäger in der Lage sein, in Sichtweite der Angreifer zu starten und diese noch vor deren Ziel abzufangen. Das ging nur mit einem Raketenantrieb – einer gefährlich zu handhabenden, kaum erprobten Antriebsart. Am Ende gerieten diese Jäger zu Selbstopfergeräten, obwohl zunächst die Rettung des Piloten vorgesehen war.

An der Ausschreibung beteiligten sich die drei größten deutschen Luftfahrtkonzerne. Messerschmitt präsentierte das in Holz ausgeführte Projekt P 1104, Junkers das Modell EF 127 »Walli« und Heinkel das Muster P 1077 »Julia«. Das Rennen machte ein Außenseiter, Dipl.-Ing. Erich Bachem, zuvor Direktor der Fieseler-Werke (des Herstellers der V-1). Bachem machte sich mit seinem Projekt BP-20 im letzten Kriegsjahr kommerziell selbständig und gründete die Bachem-Werke GmbH im württembergischen Waldsee.

Die etablierten Konzerne gaben sich nicht geschlagen, sondern suchten durch forcierte Zugaben in der Technologie den Neuling aus dem Rennen um den erwarteten Großauftrag zu werfen. Junkers hatte sich nach eigener Einschätzung mit dem Konzept EF 126 für den Geschmack des RLM zu sehr am »Reichenberg-Gerät« angelehnt (Holzbauweise, Argus-Schubrohr auf dem Rücken). So legte die Firma den Neuentwurf EF 127 nach, mit einer Flüssigkeitsrakete der Firma Walter statt des leistungsschwächeren Schubrohres. Auch Heinkel besserte das Modell »Julia«, „eine Zwischenlösung zwischen einer bemannten Flakrakete und einem billigen Schnellst-Kleinjäger“ 19 verschiedentlich nach. Die liegende Anordnung des Piloten wurde variiert, auch experimentierte man mit verschiedenen Antrieben. Bei Kriegsende waren die Prototypen der Heinkel-Baureihe fast fertiggestellt, von der Junkers-Maschine wurde ein Exemplar nach Kriegsende unter sowjetischer Anleitung zu Ende gefertigt und erprobt. Der Junkers-Versuchspilot Mathies fand dabei den Tod.

Der siegreiche Entwurf von Bachem vereinigte in sich am konsequentesten Grundsätze von nationalsozialistischer Technikideologie in der Untergangsphase des Dritten Reiches. „Bei den Projektarbeiten hatte man sich für eine Kombination zwischen Flugzeug und Geschoß als Verlustgerät entschieden“, heißt es cool in einem neueren Bericht.20 Dieser Satz verdient es, schrittweise nachvollzogen zu werden. Man weiß nicht, wie der Zweck dieser Technik direkter und zynischer hätte formuliert werden können.

Der gesamte Rumpfbug der »Natter« war als Raketenträger ausgebildet. Für die zunächst angestrebte Rettung des Piloten ergaben sich jedoch Probleme: „Nach Abschuß der Raketen verschob sich der Schwerpunkt der Maschine derart, daß sie nicht mehr flugfähig war.“ 21 In aerodynamischer Hinsicht war hiermit schon das Todesurteil über dieses Fluggerät gesprochen. In dem angeführten Bericht heißt es jedoch weiter, Illusionen fortschreibend:

„Besondere Probleme brachte die Rettung des Piloten bei den hohen Geschwindigkeiten mit sich. Um zu einer realisierbaren Lösung zu kommen, wurde eine Trennung des Bugstückes vorgesehen. Nach dem Trennen sollte der Hauptfallschirm den Sitz des Piloten nach hinten wegziehen und gleichzeitig auch die wertvollsten Geräte im Führersitz mit bergen. Da im Zeichen des totalen Krieges auch die »Natter« nicht restlos als Verlustgerät eingesetzt werden konnte, wurde auch das Rumpfhinterteil mit Triebwerk und Steuerorganen trennbar angeordnet. Die Rettung dieser wertvollen Teile sollte ebenfalls durch einen Fallschirm geschehen.“ 22

Es fällt schwer, sich eine Steigerung dieser weiterhin dem NS-Jargon verfallenen Sprache vorzustellen. „Im Zeichen des totalen Krieges“ (lediglich »im totalen Krieg« langt nicht, es muß schon das »Zeichen« her), als eine solche Verzweiflungswaffe „nicht restlos als Verlustgerät eingesetzt werden konnte“ (aber warum denn nicht, oder bekennt sich der Schreiber der zitierten Zeilen zu damaligen Zwängen?) sollte „die Rettung dieser wertvollen Teile“ (gerettet werden sollten wohlgemerkt Maschinen als „wertvolle Teile“ neben den menschlichen Piloten) mit Vorrang ermöglicht werden. „Da das Rumpfheck mit dem Triebwerk und den Steuerorganen komplett in eine neue Maschine eingebaut werden konnten“ (korrektes Deutsch schreiben diese Herrschaften leider nicht), „war der Verlust der Restteile nicht schwerwiegend.“

Am 25. Februar 1945 erfolgte der erste Start der Bachem-Maschine, bei dem mit Attrappen alle Funktionen getestet wurden. Hernach „verlangte das RLM sofort einen Start mit einem bemannten Gerät.“ 23 Das Ministerium stellte hierfür einen eigenen Piloten, einen Oberleutnant Lothar Siebert, zur Verfügung. Der wurde beim ersten Start Ende Februar 1945 getötet:

„Der Kopf des Piloten muß nach hinten gerissen worden sein, wodurch er entweder bewußtlos wurde oder sofort einen Genickbruch erlitt … Die Maschine ging auf den Rücken und verschwand in schnellstem Horizontalflug. Etwa eine Minute später explodierte sie.“ 24

Dennoch gingen die Versuche mit dem Selbstopferjäger »Natter« bis April 1945 weiter. Es fanden weitere 22 Starts statt, davon vier mit Piloten. – Immerhin zeigen einzelne Autoren aus der technischen Literatur heute Bedenken gegen das »Natter«-Projekt. Der Entwicklungschef der Firma Arado spricht in Bezug auf die Konzeption von „unklaren Gedankengängen“ und berichtet:

„Die Erprobung der Ba 349 verlief wegen der mangelhaften Vorbereitung und der Hast, mit der sie durchgeführt wurde, unter vielen unliebsamen Unterbrechungen.“ 25

Dieser Autor wundert sich auch über organisatorisches Durcheinander bei Kriegsende: „Warum die Arbeiten bis zum Eintreffen der gegnerischen Truppen weitergeführt wurden, obwohl die Ba 349 bereits am 5. Januar 1945 vom Rüstungsstab gestrichen war, ist wohl nur aus der mit dem nahen Kriegsende verbundenen Psychose zu verstehen.“ 26

Antriebslose Kampfgleiter

Letzte Verzweiflungsprojekte zur Bekämpfung der alliierten Bomberflotten waren, als gegen Kriegsende der Treibstoff extrem knapp wurde, schwerbewaffnete und gepanzerte Kampfsegler ohne Motoren.

Das erste Projekt dieser Art stammte von der renommierten Jägerfirma Messerschmitt. Diese hatte in bemerkenswerter Voraussicht mit ihrem Typ Me 328, in Kooperation mit der Deutschen Forschungsanstalt für Segelflug, einen „einsitzige(n) Jäger projektiert, der ohne eigenen Antrieb im Mistelschlepp an den feindlichen Bomberverband herangetragen und dann im Gleitflug seine Angriffe durchführen sollte“. Die Erprobungsversuche von Hanna Reitsch und anderen erbrachten freilich mäßige Ergebnisse: „Die Flugeigenschaften waren nicht besonders, reichten aber für den vorgesehenen SO-Zweck vollkommen aus.“ Der aus zahlreichen Holzteilen gefertigte Jagd-Gleiter hielt den Belastungen nicht stand, „so daß die Erprobung nach dem ersten Todessturz abgebrochen wurde.“ 27

Über das Parallelprojekt von Heinkel heißt es, es ginge um ein „bemanntes Verschleißgerät“ – erneut eine Formel, die Reflexion provoziert. Bei Heinkel sah man von Anbeginn (im Gegensatz etwa zu der neugegründeten Firma Bachem), daß „der Pilot offenbar nicht den hohen Startbeschleunigungen gewachsen war.“ 28

Besonders die Hamburger Firma Blohm + Voß trat bei Kriegsende mit Kombinationen von Kampfgleitern mit Selbstopferflugzeugen hervor. Die Beschreibung des Projektes P. 214 aus dem Jahre 1944 spricht für sich selber:

„Offiziell als »Bemannte Fla.-Bombe« bezeichnet, war dies ein Flugzeug, das durch einen Flugzeugführer gesteuert, eine starke Sprengladung an den feindlichen Bomberverband heranbringen sollte. In genügender Nähe des Verbandes sollte der Pilot abspringen und die nunmehr unbemannte Maschine mit ihrer Sprengladung zur Explosion bringen. Da das Abspringen im Anflug zwar theoretisch möglich, aber praktisch wahrscheinlich ausgeschlossen war, konnte man dies als eine »Selbstmordbombe« bezeichnen.“ 29

Nach umfangreichen Versuchen mit Gleitflugzeugen entschloß sich Blohm + Voß zu einem letzten Projekt, dem – wie das Gerät benannt wurde – »Kampf-Segler BV 40«. Das Flugzeug „wurde als relativ kleiner Jäger ohne Eigenantrieb ausgelegt, das mit einem Minimum an Herstellungskosten und Arbeitsaufwand in Großserie gebaut und gegen die alliierten Bomberverbände eingesetzt werden sollte. Das „Buch der deutschen Fluggeschichte“ beschreibt das Einsatzkonzept:

„Nach dem Ausklinken sollte der in der BV 40 liegende Flugzeugführer in einem Gleitflug von etwa 20 Grad mit einer Geschwindigkeit von 400 bis 500 Stundenkilometern den Bomberverband mit einem einzigen Feuerstoß angreifen, durchstoßen, und dann irgendwo landen.“ 30

Verständlicherweise gab es Mischkonzepte zwischen dem antrieblosen Kampfgleiter und den raketengetriebenen Selbstopferjäger. Die Forschungsanstalt Zeppelin etwa offerierte eine bemannte »Fliegende Panzerfaust«, die über einen »Bedarfsantrieb« von Pulverraketen verfügte. Diese Konstruktion sollte im Schlepp „von beliebigen zur Bomberabwehr startenden Flugzeugen mitgenommen werden und bei günstiger Gelegenheit vom Schleppflugzeug … gelöst werden. Geschützt hinter einem Panzerspant konnte der Pilot seine Raketengeschosse nahe am Ziel auslösen.“ 31 Sehr viel auszulösen hatte der Pilot nicht – vorgesehen waren ganze zwei ungelenkte Raketen (Typ RZ 65).

Ein neuer Historikerstreit?

Die Bewertung der vorgestellten Projekte nationalsozialistischer Rüstung bleibt schroff kontrovers. Dem mainstream von Technikhistorikern stehen wenige couragierte Autoren gegenüber, die es wagen, diese Projekte kritisch zu betrachten. Karl-Heinz Ludwig zitiert etwa in Bezug auf den »Volksjäger« den Brief eines Fritz Hahn, was ihm bittere Polemiken einbringt:

„Für den kritischen Fachmann war der »Sperrholzvogel He 162« als Kampfmittel schlechthin »ein Witz«, und »nicht einmal erfahrene Piloten beherrschten diese Maschine.“ 32

Allgemeiner gefaßt läßt sich dieser Gegensatz benennen in der Polemik zwichen dem verstorbenen Peter Brückner und Wilhelm Treue.33

Es steht eine steife Fehde an um die angemessene Bewertung der technologischen Hinterlassenschaft des Dritten Reiches. Diejenigen Branchenschreiber, die nach wie vor allein technischen Höchstleistungen und nichts anderes in Volksjägern, Selbstopferwaffen und Kampfseglern erkennen, sollten des Kontextes gewahr sein, in welchem sie ihre Hochglanztexte vorlegen. Die vorherrschende Technikgeschichtsschreibung forderte sie bislang nicht heraus (zu nennen wären Conrad Matschoß, Franz Maria Feldhaus, Friedrich Klemm, vor allem aber Wilhelm Treue und Armin Herrmann).

Inhaltlich gewendet geht es weniger um die politische Haltung von Ingenieuren, wie sie Hortleder und Kogon hinreichend differenziert untersucht haben.34 Zentrales Ergebnis dieser Studien war, daß deutsche Ingenieure ihre politische Rolle allenfalls abstrakt wiedergeben, und daß sie im Zweifelsfall reaktionäre (und eben nicht progressive, entsprechend ihrem Selbstbild als Innovatoren) Positionen beziehen.

Dieses Ergebnis verweist auf einen allgemeineren Kontext, in welchem analytisch vertieft das Engagement der technischen Eliten beim Untergang des Dritten Reiches zu erörtern wäre. Besonders angelsächsische Autoren erweisen sich als beeindruckt von der Hingabe deutscher Technologieproduzenten an NS-Konzepte in der Niedergangsphase des Nazi-Reiches – als der Druchschnittbüger, der berühmte Mann auf der Straße, das Dritte Reich längst abgeschrieben hatte, und sich entsprechend auf pures Überleben einrichtete. Jeffrey Herf35 hat vorgeschlagen, unter der Formel eines »reaktionären Modernismus« die blindwütige high-tech Orientierung der Nazis zu fassen. Er rekurriert damit auf eine breitere, gar nicht auf Rüstung bezogene Debatte, über »fortschrittliche Reaktion«. Diese wurde ausgelöst und wirkte stilbildend zunächst in der bildenden Kunst (etwa Hamann/Hermand).36 Es könnte sein, daß die Formel von der technischen Progressivität, die denn doch reaktionären Zielen dient, für vertiefte Untersuchungen des Themas Technikideologien und Nationalsozialismus weiterhilft.

Anmerkungen

1) Vergl. als neuere Darstellung: Theodor Benecke et al., Flugkörper und Lenkraketen, Koblenz 1987. Zurück

2) Vergl. die Polemik gegen eine kurze Passage über den »Volksjäger« Heinkel 162 bei Karl-Heinz Ludwig, Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Königstein/Ts. u.a. 1979 bei H. Dieter Köhler, Ernst Heinkel, Pionier der Schnellflugzeuge, Koblenz 1983, S. 210f. Zurück

3) Heinz J. Nowarra, Die deutsche Luftrüstung 1933-1945, Bd. 1, Koblenz 1985, S. 157 (dieses mehrbändige Werk wird im folgenden als »Nowarra« mit der Angabe des Bandes zitiert. Es handelt sich um eine im Textkern kaum veränderte Neuauflage der in der folgenden Fußnote angegebenen über 20 Jahre älteren Quelle. Textgleiche Passagen mit exponierten Aussagen werden in beiden Quellen nachgewiesen). Zurück

4) Karlheinz Kens/Heinz J. Nowarra, Die deutschen Flugzeuge 1933-1945, München 1961, S. 323 (im Folgenden zitiert als »Kens/Nowarra«). – Die Aussage wortgleich wiederholt Nowarra, Bd. 3, S. 33f. Zurück

5) Kens/Nowarra, S. 283. Zurück

6) Zu Saurs Karriere ausführlich Ludwig, a.a.O. Zurück

7) Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, 5. Aufl., Preetz 1963, S. 509. – »Der Spiegel« gibt 1989 (Nr. 32, S. 156) das Volksjägerkonzept wie folgt wieder: „Rüstungsminister Albert Speer wollte jetzt einen Mini-Düsenjäger, ohne viel Firlefanz, billig und unkompliziert in der Bauweise. Zudem sollte jeder Hitlerjunge das Gerät nach einer Kurzausbildung beherrschen können.“ Zurück

8) Georg Brütting, Das Buch der deutschen Fluggeschichte, S. 292. Vergl. auch Köhler, a.a.O., S. 205-212. Zurück

9) Rüdiger Kosin, Die Entwicklung der deutschen Jagdflugzeuge, Koblenz 1983, S. 194f. Zurück

10) Heinkel, a.a.O., S. 511. Zurück

11) „Knapp einen Monat nach den ersten Besprechungen über die Untertageverlagerung der Produktion wurde die »Mittelwerke GmbH« gegründet. Als Tochtergesellschaft des staatlichen »Rüstungskontors« unterstand sie verwaltungsmäßig der Zentralabteilung für Wirtschaft und Finanzen im Ministerium Speer … In unterirdischen Höhlen bei Niedersachswerfen im Südharz sollte das neue Mittelwerk die Fertigung der Fernraketen vorbereiten und aufnehmen. Die erste Planung (erfolgte) für eine »Gefolgschaft« von 16.000 »Häftlingen« und 2.000 »Deutschen““ Ludwig, a.a.O., S. 486f. Zurück

12) Heinkel, a.a.O., S. 508. – Der erwähnte »Spiegel«-Bericht ergänzt: „Die Holzteile des Mini-Jägers hobelten Schreiner in Thüringen und Württemberg. Radfahrer transportierten die fertigen Teile in Rucksäcken durchs zerbombte Reichsgebiet“ (Nr. 32/1989, S. 156). Zurück

13) Nowarra, Bd. 3, S. 252. Zurück

14) Köhler, a.a.O., S. 206. Zurück

15) Kens/Nowarra, a.a.O., S. 468ff; wortgleich Nowarra, Bd. 3, 1987, S. 239. Zurück

16) Kens/Nowarra, S. 469; Nowarra, Bd. 3, S. 239. Zurück

17) Ebd. Zurück

18) Nowarra, Bd. 4, 1988, S.56. Zurück

19) Köhler, a.a.O., S.220. Bei Nowarra, Bd. 2, S. 252, wird »Julia« als „Zwischenlösung einer bemannten Flakrakete …und eines vereinfachten schnellen Kleinjägers“ bezeichnet. Zurück

20) Kens/Nowarra, S. 79. Dieser Text findet sich gleichfalls unverändert in der Neufassung, Nowarra, Bd. 1, S.88. Zurück

21) Nowarra, Bd. 2, S. 253. Zurück

22) Kens/Nowarra, S. 80; Nowarra, Bd. 1, S. 88. Zurück

23) Kens/Nowarra, S. 81; Nowarra, S. 89. Zurück

24) Kens/Nowarra, S. 81/82; Nowarra, S. 89. Zurück

25) Kosin, a.a.O., S.202. Zurück

26) Ebd., S. 203. Zurück

27) Alle Zitate Kens/Nowarra, S. 469. Zurück

28) Nowarra, Bd. 2, S. 253. Zurück

29) Nowarra, Bd. 1, S. 142. Zurück

30) Brütting, a.a.O., S. 224f. Zurück

31) Nowarra, a.a.O., Bd. 4, S.48. Zurück

32) Ludwig, a.a.O., S.456. Zurück

33) W.Treue, Entwurf zu einem Nekrolog oder Materialien für eine gute wissenschaftliche Nachrede, in: Kurt Manel, Hg., Wege zur Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 1982. Zurück

34) Gerd Hortleder, Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs, Frankfurt a.M. 1970; Eugen Kogon, Die Stunde der Ingenieure, Düsseldorf 1976. Zurück

35) Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984. Zurück

36) Richard Hamann/Jost Hermand, Stilkunst um 1900, Berlin 1967. Zurück

Dr. Ulrich Albrecht ist Hochschullehrer für Politische Wissenschaften an der FU Berlin.

Sondermentalität mit Tradition

Sondermentalität mit Tradition

Die Gebirgsjäger in der Bundeswehr

von Markus Mohr

Deutsche Soldaten, die in Afghanistan mit Totenschädeln und Menschenknochen vor der Kamera possieren. Bilder, die Ende Oktober 2006 durch die deutsche Presse gingen und die Öffentlichkeit erregten. Es handelte sich um Soldaten einer Gebirgsjägereinheit, einer Einheit mit Tradition. Auf diese sehr spezielle Traditionslinie machten allerdings nur wenige Medien aufmerksam. Der Bonner General-Anzeiger war am 27.10.2006 eher die Ausnahme: „Für den Einsatz am Boden in den unwegsamen Bergregionen am Hindukusch sind sie besonders geeignet. Das sichert den Gebirgsjägern eine Sonderstellung, geht häufig aber auch mit einer Sondermentalität einher: Die Totenkopf-Fotos, aufgenommen (…) in der Umgebung von Kabul, liefern den unrühmlichen Beweis dafür.“ Markus Mohr über den politischen Hintergrund, vor dem diese »Sondermentalität« entstehen konnte.

Der Ort, von dem die Gebirgsjäger mit ihrer »Sondermentalität« nach 1945 wieder in die ganze Welt ausgesandt werden, heißt Mittenwald. Dort liegt das historisch-politische Zentrum der deutschen Gebirgstruppe. Hier manifestiert sich seit über einem halben Jahrhundert eine militärische Praxis und Traditionspflege der ganz besonderen Art. Ihre Verbindungslinien reichen bis heute in die Spitzen der politischen und militärischen Gremien dieses Landes.

Gebirgsjäger im 3. Reich

Am 1. Juli 1944 würdigte im Schloss Kleßheim mit einem Staatsakt Adolf Hitler den durch einen Flugzeugunfall ums Leben gekommen Gebirgsjägergeneral Eduard Dietl. Als Reichswehrsoldat war Dietl bereits im Januar 1919 in München in die Vorläufergruppierung der NSDAP, die DAP, eingetreten. Er stand beim Hitler-Putsch von 1923 mit dem von ihm kommandierten Regiment für die Nationalsozialisten Gewehr bei Fuß. Die NS-Propagandamaschine machte Dietl neben Rommel zum populärsten Wehrmachtssoldaten.

Es verwundert kaum, dass der »Führer« über den plötzlichen Tod – des vermutlich noch vor ihm in die Partei eingetretenen Kompagnons – sehr betroffen war. So sprach er von einem seiner „treuesten Kameraden aus langer, schwerer gemeinsamen Kampfzeit“, einem „hervorragenden Soldaten“, der ein „Vorbild unnachgiebiger Härte und nie erloschener Treue bis zum Tode“ gewesen sei. Und dann wagte der »Führer« auch gleich noch eine Prognose: Der Name Dietls werde „in seiner stolzen Gebirgsarmee weiterleben“ (Kaltenegger, 1990).

Traditionspflege durch alte Kameraden

Betrachtet man nun die Geschichte der Bundesrepublik, dann sollte der »Führer« zumindest mit dieser Aussage Recht behalten: Der zur Jahreswende 1951/52 offiziell gegründete Kameradenkreis der Gebirgsjäger erwies bereits in den ersten Ausgaben seiner Mitgliederzeitschrift Generaloberst Dietl ein ehrendes Gedenken. Diese, einem engagierten Nationalsozialisten gewidmete, Traditionspflege sollte ihre Wirkung nicht verfehlen: Im Jahre 1964 wurde unter Bundesverteidigungsminister von Hassel der Beschluss gefasst, einer Liegenschaft der Bundeswehr in Füssen den Namen »Generaloberst Dietl-Kaserne« zu geben. Mit dem Traditionserlass konnten militärische Einrichtungen „nach Persönlichkeiten benannt werden, die in Haltung und Leistung beispielhaft waren.“ (Abenheim, 1989).

Als »beispielhaft« konnte die aufopferungsvolle Haltung Dietls gegenüber Hitler offenbar auch in der neu gegründeten Bundeswehr durchgehen.

Es sollte 30 Jahre dauern, bevor der zunehmende Protest an ein derartiges Gedenken – sowie der erneut geplante Einsatz von Gebirgsjägereinheiten im ehemaligen Jugoslawien – Ende 1995 dafür sorgten, dass die »Generaloberst Dietl-Kaserne« in Füssen und die »General Ludwig Kübler-Kaserne« in Mittenwald umbenannt wurden (vgl. Knab, 1995). Übrigens gegen den Widerspruch der Gemeinde und gegen Widerstand aus der Bundeswehr. Gebirgsjägergeneral Rainer Jung: „Man könne Dietl nichts vorwerfen, außer dass er ein treuer Gefolgsmann Hitlers gewesen sei“ (Die Welt vom 8.6.1995) .

Diese Geschichte wirft ein bezeichnendes Licht auf die Traditionspflege der Bundeswehr-Gebirgsjägertruppen. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Politik des Kameradenkreises. Dieser Verein diente Generalen, Offizieren und Unteroffizieren aus der Wehrmacht zunächst als eine Art soziales wie politisches Auffangbecken. In einer Anfang Dezember 1951 in München abgehaltenen Tagung werden in dem Protokoll als Ziel dieses Bundes „die Erhaltung des guten Rufes der Gebirgstruppe, für die Bewahrung des Geistes der Gemeinschaft und der Hingabe an Heimat, Volk und Vaterland“ genannt. Der „Schmähung des deutschen Soldatentums und der Zersetzung unseres Volkes als wehrbereite Lebensgemeinschaft“ solle begegnet werden, „auch um zersetzende Einflüsse der Sowjets abzuwehren und um zu zeigen, wie wir waren und sind.“ (Wittmann, 1957). Mit diesem militaristisch-antikommunistischen Selbstverständnis fungiert der Kameradenkreis bis auf den heutigen Tag als öffentlichkeitswirksame Pressure-Group.

Politisch-militärische Prominenz und die Tradition

Lässt man die politische Geschichte der Bundeswehrgebirgstruppe und des mit ihr personell vielfältig verbundenen Kameradenkreises aus über 50 Jahren Revue passieren, so müssen Namen von Militärs und Politikern, wie Hubert Lanz, Franz Josef Strauß, Karl Wilhelm Thilo, Hellmut Grashey, Edmund Stoiber, Klaus Naumann, und Klaus Reinhardt besonders hervorgehoben werden.

Der General der Gebirgstruppen Hubert Lanz, wurde für Kriegsverbrechen in Nürnberg zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, jedoch weit vor Ablauf der Strafe entlassen. Schon kurz nach der Haftentlassung bekam er ein Angebot des damaligen FDP-Vorsitzenden Thomas Dehler, der Partei beizutreten, um »militärische Sicherheitsfragen« zu behandeln. Von dort aus rückte Lanz in das »Amt für Sicherheit und Heimatschutz« ein; eine Keimzelle für das im Zuge der Remilitarisierung gegründete Amt Blank, das spätere Verteidigungsministerium. Schon anlässlich der Bundestagswahl 1953 kandidierte er im Landkreis Weilheim – in dem auch Mittenwald liegt – für die FDP, u.a. gegen den jungen CSU-Aktivisten Franz Josef Strauß, der dort das Direktmandat gewann.

Auch wenn Lanz eine ihm indirekt von Strauß 1961 angetragene Position als Bundeswehrgeneral aufgrund US-amerikanischer Widerstände nicht antreten konnte, so amtierte er doch bis zum Jahre 1982 als Ehrenpräsident des Kameradenkreises. Als solcher war er stets gern gesehener Gast auf Bundeswehrempfängen mit der bayrischen Staatsregierung. Noch 1989 hing in der Kaserne von Garmisch-Partenkirchen sein Konterfei im Andachtsraum.

Als gerade ins Amt gelangter Verteidigungsminister ließ es sich F. J. Strauß nicht nehmen am 19. Mai 1957 das erste öffentliche Rekrutengelöbnis in der Geschichte der Bundeswehr in Mittenwald zu zelebrieren. In der offiziellen Chronik der 1. GD ist vermerkt: „ Die Wpfl (Wehrpflichtigen) der 1. Gebirgsdivision legen als erste Soldaten der Bundeswehr das Feierliche Gelöbnis ab… Es erklingt zum ersten Mal der Große Zapfenstreich.“ (P.E. Uhde, 1982)

Dass sich die Wiedergründung der Gebirgsjägerdivision vor dem Horizont der alten Wehrmacht vollzog, wurde in der Kameradenzeitung »Die Gebirgstruppe« vom Kommandeur der 1. Gebirgsdivision, Buchner, offen angesprochen. Gerade die „große Anzahl von Soldaten (…) die sich (…) von den Gebirgs-Divisionen des Krieges her kennen“ seien „ein besonderes Glück“. Denn „jeder dieser alten Angehörigen der Gebirgstruppe“ trage dazu bei, „daß auch diese neue 1. Gebirgs-Division wieder von jenem Geist, von jener Haltung und von jener Eigenart erfüllt [werde, die] die Gebirgs-Divisionen der Wehrmacht (…) hatten.“ Und überhaupt, so Buchner mit Blick auf die Zukunft weiter, sei es „erfreulich, feststellen zu können, daß unsere jungen Freiwilligen auf dem besten Wege sind, diese wertvolle Überlieferung zu übernehmen und weiterzutragen.“ (Buchner 1957). Das Ergebnis dieser Bemühungen um eine unkritische Traditionspflege konnte auch noch Jahrzehnte später im Buch des Gebirgsjäger-Zeitsoldaten Kaltenegger nachgelesen werden: „Was über die allgemeinen Grundsätze der Ausbildung in der Gebirgstruppe der deutschen Wehrmacht gesagt wurde, hat im wesentlichen auch Gültigkeit für die 1. Gebirgsdivision der Bundeswehr. (…) So erwuchs die 1. Gebirgsdivision der Bundeswehr – ähnlich wie die alte 1. Gebirgsdivision der deutschen Wehrmacht – aus einer Gebirgsbrigade zu einer Gebirgsdivision.“ In ihrer Größenordnung entspreche sie „etwa dem ehemaligen Gebirgs-Armee-Korps der deutschen Wehrmacht.“ (Kaltenegger, 1980).

Auch nach seiner Entlassung als Verteidigungsminister hielt Strauß seine schützende Hand über die Soldaten aus der ersten Gebirgsdivision. Er wird sicher – zusammen mit dem BND-General Gehlen – seinen aktiven Anteil daran gehabt haben, dass die in den 60er Jahren gegen rund 300 Gebirgsjäger eingeleiteten Strafermittlungsverfahren – aufgrund von Massakern in Kommeno und Kephallonia im Zweiten Weltkrieg – in keinem einzigen Fall zur Anklage kamen. (Vgl. Herbert, 1996) Strauß bezeichnete sich noch im Jahre 1986 als »Vater der 1. Gebirgsdivision«. Selbst offenkundige NS-Bezüge stellten für ihn kein Problem dar: „Für die deutsche Gebirgstruppe war (der in Jugoslawien hingerichtete Kriegsverbrecher. D. Verf.) General Ludwig Kübler als Mensch und als Soldat ein Vorbild. Ihm hat die Truppe bis auf den heutigen Tag viel zu verdanken.“ (Kaltenegger, 1998).

Die in den 70er Jahren immer mal wieder von einem Teil der Spitze des Verteidigungsministeriums angestellten Überlegungen, die 1. Gebirgsdivison in eine andere Militärstruktur zu überführen, fanden in Strauß einen energischen und dann auch erfolgreichen Widersacher. Noch in seinen posthum publizierten Erinnerungen widmete Strauß mehrere Seiten seinem – gegen Widersprüche höchster Generäle – erfolgten Engagement für den Aufbau der Gebirgstruppe. (Strauß, 1989)

In der Geschichte der Bundeswehr sollten es auch die beiden Generäle der Gebirgsjäger und Mitglieder des Kameradenkreises, Hellmut Grashey und Karl Wilhelm Thilo, zu bundesweiter Prominenz bringen. Der im Stab Dietls ausgebildete Grashey forderte im März 1969 als stellvertretender Generalsinspekteur der Bundeswehr in einem Lehrgang für Generalstäbler an der Führungsakademie in Hamburg dazu auf, dass sich die Bundeswehr dazu bereit halten sollte, die Rolle eines »Ordnungsfaktors« in Staat und Gesellschaft zu übernehmen: „Die Zeit sei reif dafür, die ‚Maske’ der Inneren Führung, hinter der sich die Bundeswehr allzu lange habe verstecken müssen, nun endlich abzulegen“ (Bald, 2005). Doch damit nicht genug: Zusammen mit dem zum stellvertretenden Herresinspekteur aufgestiegenen Thilo hatte Grashey auch an den Ende des Jahres 1969 bekannt werdenden so genannten Schnez-Studien des gleichnamigen Heeresinspekteurs mitgearbeitet. Sowohl bei den »Gedanken zur Inneren Führung« wie in dem Papier »Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres« handelt es sich um zwei reaktionäre Manifeste, die zu Beginn des Jahres 1970 weite Verbreitung fanden und in denen sich nicht zufällig markige Formulierungen von „psychisch und physisch harten Kämpfern“ finden, denen Bundeswehrsoldaten genügen sollten. (Heßler, 1971). Die Schnez-Traktate, die ganz in dem Geiste des Kameradenkreises waren, wurden gleich zu Beginn der Kohl-Regierung im Jahre 1983 „in den Offizierkasinos (…) als heimlicher Besteller“ recycelt. (Spiegel 1983)

Nach der Vereinigung der beiden Deutschländer sollte es in einem politischen wie logistischen Sinne zu einer erneuten Aufwertung der im Militärzentrum Mittenwald stationierten Gebirgsjägereinheiten kommen. Ende 1991 hatte Bundeskanzler Kohl dem Kameradenkreis in einem persönlichen Anschreiben versichert, dass auch „in der neuen Bundeswehrstruktur (…) die Gebirgsjäger einen herausragenden Platz einnehmen“ werden. Dies biete, so Kohl weiter, die „Chance (…), bewährte Traditionen fortzusetzen und den Korpsgeist der Gebirgsjäger zu erhalten.“ (Kohl, 1991)

Ein Protagonist in Sachen Neuausrichtung deutscher Militärpolitik, war der 1991 in das Amt des Generalinspekteurs der Bundeswehr berufene Klaus Naumann. Ein halbes Jahr vor der Verabschiedung jener wesentlich von ihm auf den Weg gebrachten Verteidigungspolitischen Richtlinien im November 1992 hatte er es sich nicht nehmen lassen, auf dem Pfingsttreffen des Kameradenkreises in Mittenwald aufzutreten. Dort sprach er auch den Zusammenhang zwischen der Bundeswehr und der Nazi-Wehrmacht an. Er ließ dabei keinen Zweifel daran, dass die Wehrmacht im Grunde nur »missbraucht« worden sei, gleichwohl für „Bewährung in äußerster Not, für Erinnerung an und Verehrung von vorbildlichen Vorgesetzten, für Kameraden und Opfertod“ stehe, kurz: Für „jene vorzügliche Truppe, die Unvorstellbares im Kriege zu leisten und zu erleiden hatte.“ (Prior, 1992).

Gebirgsjäger im Auslandseinsatz

Blickt man auf die letzten anderthalb Jahrzehnte Militärpolitik der neuen Bundesrepublik zurück, so dürfen sich die Gebirgsjäger-Einheiten rühmen, fast immer zu den ersten Einsatzverbänden zu zählen, die seitens der Bundesregierung bei neuen Kriegseinsätzen ins Spiel gebracht werden. Ihre Stationen führten sie zwischenzeitlich von der Wüste in Somalia (FAZ, 22.1.1994), über das Territorium der zerfallenden Republik Jugoslawien bis nach Afghanistan.

Die Vorreiterrolle der Gebirgsjäger für die gesamte Bundeswehr wurde auch durch die Einrichtung eines neuen Lehrgangstyps an der Gebirgs- und Winterkampfschule in Mittenwald/Oberbayern, sinnigerweise am 8. Mai 1995, deutlich: Unter dem vieldeutigen Motto »Ganze Männer braucht das Land« beschreibt der dortige Presseoffizier Kutschera als „logische Konsequenz aus der neu gewonnenen internationalen Verantwortung Deutschlands in der Staatengemeinschaft“ als dessen Ziel, „die Kampf- und Überlebensfähigkeit der Infanteriesoldaten bis zur Ebene Kompanie in schwierigem Gelände unter extremen Witterungsbedingungen zu entwickeln bzw. zu erhöhen.“ (Kutschera, 1996) Zu einer der ersten Übungsgruppen zählte dabei eine Kompanie des Jägerbataillons 571 aus dem sächsischen Schneeberg, das von Mittenwalder Gebirgsjägeroffizieren aufgebaut worden war. (Sander, 2004) Diese Einheit – unter der Leitung des Fallschirmjägergenerals Günzel – wurde im Dezember 1997 bundesweit bekannt durch selbstgedrehte Videos, auf denen einige ihrer Angehörigen Nazi-Gesänge probten – »Ewiges Deutschland – heiliges Reich« –, Vergewaltigungen und Geiselerschießungen übten. (Schäfer, 1998)

Parallel zu diesen Vorfällen, die zu einem Untersuchungsausschuss des Bundestages führten, rückten Mittenwalder Gebirgsjäger in Kasernen auf dem Territorium der zerfallenden Republik Jugoslawien ein. Ende Februar 1999 zitierte die ZEIT in Einstimmung auf den Kosovo-Krieg einen älteren Offizier aus dem Gebirgsjägerbataillon 233 mit der Bemerkung: „Erst enthaupten, dann schlachten“. Und weiter heißt es: „In wochenlangen schweren Luftangriffen müssten die Hauptquartiere, die Leitstellen und die Depots der Serben zerstört werden. Danach begänne die Landschlacht. Doch anders als in der Wüste, wo Panzer ohne große Verluste schnell vorankommen können, müssten im gebirgigen Kosovo die Befreier zu Fuß oder – wie in Vietnam – mit Hubschraubern anrücken.“ (Schwelien, 1999). Zu einem Landkrieg ist es so bekanntlich nicht gekommen, allerdings: Am Ende des NATO-Angriffskrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien war es auch für deutsche Gebirgsjäger im Kosovo wieder soweit: „Erstmals seit dem zweiten Weltkrieg hat (in Prizren) ein deutscher Soldat den Befehl gegeben, im Gefecht das Feuer auf einen Menschen zu eröffnen“, vermeldet das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Es handelte sich um Soldaten des Gebirgsjägerbataillons 571 aus Schneeberg/Sachsen, das nach der Wende von Offizieren aus Mittenwald aufgebaut worden war.

Den Kosovo-Krieg führte auch zu neuen Ehren für einen weiteren Gebirgsjäger: Der aus Mittenwald stammende General Klaus Reinhardt wurde NATO-Kommandeur auf dem Balkan. In dieser Funktion trat er dann gleich vor dem Kameradenkreis. Vor 6.000 Zuhörern auf dem Hohen Brendten beantwortete er die Frage danach, warum denn „bei den Auslandseinsätzen des Deutschen Heeres immer wieder Gebirgsjäger dabei“ seien, mit dem Hinweis, dass „die Gebirgstruppe der Bundeswehr (…) von Männern aufgebaut und geistig ausgerichtet worden (sei), die als Kommandeure, als Kompaniechefs und Kompaniefeldwebel (einerseits) die schreckliche Erfahrung des Krieges und der Diktatur am eigenen Leib erlebt und durchlitten, (andererseits) uns die zeitlosen militärischen Werte wie Pflicht, Treue, Tapferkeit und Kameradschaft vorgelebt“ haben. „Diese Männer“, so Reinhardt, „waren unsere Vorbilder, und sie repräsentieren eine ganze Generation von Wehrmachtssoldaten, (die) der nachfolgenden Generation das Koordinatensystem ihrer Werteordnung“ weitergegeben hätten und natürlich „Respekt“ verdienten. Es sei gerade der Kameradenkreis gewesen, so Reinhardt, der „bei der Pflege dieser Tradition und ihrer Weitergabe an die nächste Generation (…) sein ganz besonderes Verdienst“ habe. (Reinhardt, 2000).

Ein Jahr später stellte sich für Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber die Erinnerungsarbeit des Kameradenkreises der Gebirgsjäger als eine „unangreifbare Traditionspflege“ dar, die für die „insgesamt traditionsarme Bundeswehr ihresgleichen“ suche und auf deren „Leistungen in Vergangenheit und Gegenwart“ man besonders stolz sein könne. (GBT 2001/Heft 4).

Derzeit vertritt die Interessen der Gebirgsjäger und ihres Kameradenkreises im Bundestag das CSU-Mitglied Christian Schmidt. Ende Mai 2006 beantwortete er als parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium im Namen der Bundesregierung eine kleine Anfrage der PDS-Abgeordneten Jelpke hinsichtlich des Verhältnisses der Bundeswehr zum Kameradenkreis u.a. mit der schlichten Feststellung: „Der Kameradenkreis der Gebirgstruppe bekennt sich in seiner politischen Grundeinstellung zu den Werten und Zielvorstellungen unserer verfassungsgemäßen Ordnung. Die Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und dem Kameradenkreis der Gebirgstruppe sowie die Teilnahme von Soldaten der Bundeswehr an der so genannten Brendtenfeier sind daher nicht zu beanstanden.“ Selbstredend, das die Bundesregierung hier „die historische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen durch einen eingetragenen Verein“ lieber nicht „kommentieren“ wollte. (Deutscher Bundestag, 2006) Der in der ersten Gebirgsdivision gediente Bundeswehrsoldat Schmidt ist übrigens selbst Mitglied des Kameradenkreises.

Ausblick

Eine Distanz zur Politik und Praxis der nationalsozialistischen Wehrmacht gehört zwischenzeitlich zur offiziellen Politik der Bundesrepublik. Gleichzeitig wird dieses Tabu aber durch die mit Unterstützung der Bundeswehr alljährlich in Mittenwald durchgeführten Gedenkfeierlichkeiten des Kameradenkreises der Gebirgsjäger ständig in Frage gestellt. Schließlich wird hier, wie Wolfram Wette einmal feststellte, das »Traditionsproblem« beständig neu vermessen. (Wette, 1997)

Ob die offizielle Distanz zur NS-Wehrmacht im militärischen Raum für die Bundeswehr in Zukunft aufrecht erhalten bleibt, darauf hat die »Traditionspflege« sicher einen Einfluss. Der kritische Blick auf die Kameradentreffen und der Protest gegen die Verherrlichung von Kriegsverbrechen und Kriegsverbrechern ist deshalb dringend notwendig. Genauso aber die Auseinandersetzung mit den Kampfeinsätzen der Bundeswehr. Die Gebirgsjäger stehen hier in der ersten Reihe und die sich dabei herausbildenden »Sondermentalitäten« – siehe Afghanistan – können schnell die offizielle Distanz ad absurdum führen.

Literatur:

Abenheim, Donald (1989): Bundeswehr und Tradition, Auf der Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten, München.

Bald, Detlef (2005): Die Bundeswehr, Eine kritische Geschichte 1955-2005, München.

Buchner, Hans (1957): Die neue deutsche Gebirgstruppe, in GBT 1957 / Heft 2-4, S.277-280.

Deutscher Bundestag (2006): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke u.a. und der Fraktion DIE LINKE vom 29.5.2006, Drucksache 16/1623, Internet: kg.r2010.de/Media/3/178/1/2103.pdf

Herbert, Ulrich (1996): Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903-1989, Bonn.

Heßler, Klaus (1971): Militär – Gehorsam – Meinung, Berlin.

Kaltenegger, Roland (1980): Die Geschichte der deutschen Gebirgstruppe, Stuttgart.

Kaltenegger, Roland (1990): Generaloberst Dietl, München.

Knab, Jakob (1995): Falsche Glorie, Das Traditionsverständnis der Bundeswehr, Berlin.

Koelbl, Susanne (2000): Der Kampf, das ist das Äußerste, in Der Spiegel vom 7.2.00.

Kohl, Helmut (1991): Brief an den 1. Vorsitzenden des Kameradenkreis der Gebirgstruppe e.V., Herrn Heinz Jaumann vom 5.12.1991, in GBT Heft 1/1992, S.7.

Kutschera, Norbert (1996): Ganze Männer braucht das Land, Ein neuer Lehrgang an der Gebirgs- und Winterkampfschule, in Truppenpraxis – Wehrausbildung 1/1996, S. S.50-52.

Prior, Helmut (1992): Hoher Brendten 1992 – ein Höhepunkt, 10.000 kamen zum 35jährigen Jubiläum des Ehrenmals, in GBT, Heft 4/1992, S.4-8.

Reinhardt, Klaus (2000): Ansprache des Oberkommandierenden der Landstreitkräfte Europa Mitte, in GBT, Heft 4/2000, S.8-17.

Sander, Ulrich (2004): Die Macht im Hintergrund, Köln.

Schäfer, Paul (1998): Bundeswehr und Rechtsextremismus, in Wissenschaft & Frieden Nr. 2/1998 Dossier Nr. 28.

Schwelien, Michael (1999): Mit Monika nach Prishtina, In DIE ZEIT vom 25.2.1999.

Stoiber, Edmund (2001): Ansprache des bayrischen Ministerpräsidenten in GBT Heft 4/2001, S.10-13.

Strauß, Franz-Josef (1989): Die Erinnerungen, Berlin.

Spiegel (1983): Zurück zur Legende vom besonderen Sterben, Der Spiegel, 10.10.1983.

Uhde, Peter. E. (1982): 25 Jahre 1. Gebirgsdivision, Lahr.

Wette, Wolfram (1997): Brisante Tradition, in Die Zeit, 19.12.1997.

Wittmann, August (1957): 4 Jahre Kameradenkreis der Gebirgstruppe. Rückschau und Vorschau, in GBT, Heft 2-4/1957, S.223-229.

Markus Mohr Jg. der Kuba-Krise, Autoschlosser und Mitglied der IG Metall, nimmt seit 2002 an den Protesten gegen das Kameradenkreistreffen der Gebirgsjäger in Mittenwald teil.

Rechter Terror in Deutschland

Rechter Terror in Deutschland

von Ulrich Chaussy, Elke Grittmann, Ayla Güler Saied, Heike Kleffner, Tanja Thomas und Fabian Virchow

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 1-2015
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus der FH Düsseldorf (FORENA)

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Rechter Terror in Deutschland

von Fabian Virchow

Im Januar 2015 wurde vor dem Münchner Oberlandesgericht erstmals der Nagelbomben-Anschlag verhandelt, den der rechtsextreme, terroristische »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) im Jahr 2004 auf die Keupstraße in Köln verübt hatte. In den Aussagen der Anwohner und Anwohnerinnen, die im Prozess als Zeugen und Nebenklägerinnen auftreten, spiegelt sich auch heute noch – mehr als zehn Jahre danach – die traumatische Erfahrung wider, die dieser Terrorakt verursacht hat. Ebenfalls sehr nachdrücklich wird vor Gericht von den diskriminierenden Ermittlungsmethoden der Polizei berichtet, die zur sozialen Isolation der Betroffenen beigetragen haben.

Das Gerichtsverfahren wird aufgrund der Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft und der Regularien solcher Prozesse nur einen begrenzten Beitrag zur Aufklärung des NSU-Komplexes leisten; dennoch ist es wichtig, dass von den Nebenklagevertretungen immer wieder nach der Entstehung des gewalttätigen neonazistischen Milieus gefragt wird, das den NSU durch Unterstützungsleistungen (Bereitstellung von Papieren, Geld, Unterkunft … ) getragen und damit seine Morde und Anschläge erst ermöglicht hat. Wie in den Berichten der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Thüringen und Sachsen auch, kommt dabei immer wieder zur Sprache, dass V-Leute der Nachrichtendienste in wohl jeder bedeutenderen neonazistischen Struktur der 1990er Jahre in den Spitzenpositionen vertreten waren. Damit waren sie auch über die Konzepte rechten Terrors im Bilde, die in der Szene intensiv diskutiert wurden.

Hier spätestens findet die vor etwa drei Jahren von Kanzlerin Angela Merkel im Rahmen der Gedenkfeier für NSU-Opfer in Berlin versprochene restlose Aufklärung ihre Grenzen. Ob als »Erinnerungslücke«, in Form geschredderter Akten oder als fehlende Aussagegenehmigung – eine tief greifende Aufklärung über den Stellenwert staatlichen Handelns findet nicht statt. Zwar haben insbesondere die Nachrichtendienste einen Legitimationsverlust hinnehmen müssen, zu einer grundlegenden Revision dieser Strukturen ist es in der Folge jedoch nicht gekommen.

Dabei zeigt ein Blick zurück – zu denken ist beispielhaft an das Attentat auf das Münchner Oktoberfest oder den Doppelmord in Erlangen 1980, aber auch an den Brandanschlag in Lübeck 1996 –, dass die These von den »Einzeltätern« oder die Verdächtigung der Opfer selbst in der polizeilichen Ermittlungsarbeit durchaus Tradition hat. Dass dies zuweilen öffentlich und wirksam thematisiert werden konnte, ist insbesondere den Aktivitäten antifaschistischer und antirassistischer Gruppen sowie engagierten Jurist*innen und Journalist*innen zu verdanken.

Zahlreiche neonazistische Gewalttaten, wie etwa die Sprengstoffanschläge gegen den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, (zu Lebzeiten sowie auf sein Grab) oder gegen die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« in Saarbrücken im Jahr 1999, sind bis heute nicht aufgeklärt. Dass die extreme Rechte (zum Teil legal) Zugang zu Sprengstoff und Waffen hat, ist immer wieder durch Razzien deutlich geworden. Bei über einhundert Neonazis kann der Haftbefehl nicht vollstreckt werden, weil die Personen abgetaucht sind.

Die neonazistische Szene ist von dem Strafprozess und den Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen nicht sonderlich beeindruckt; entsprechend gab es in den vergangenen Jahren zahlreiche positive Bezugnahmen auf den NSU und Solidaritätsaktionen mit einzelnen Angeklagten. Im Januar 2015 konnte die Polizei in Köln gerade noch einen gewaltsamen Angriff von Neonazis auf eine Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer verhindern.

Einwanderung, Asyl, Sinti und Roma sowie eine vorgebliche »Islamisierung« waren in Deutschland in den vergangenen zwei bis drei Jahren die Themen, mit denen die extreme Rechte am meisten Unterstützung und Zuspruch mobilisieren konnte – sei es bei Wahlen oder bei Demonstrationen, wie im sächsischen Schneeberg oder in Berlin. Zugleich nahm aus diesem Spektrum die Zahl der gewalttätigen Angriffe auf Menschen zu, denen aufgrund äußerlicher Merkmale zugeschrieben wurde, Migrant, Flüchtling oder Muslim bzw. Muslima zu sein.

Im Unterschied zu den späten 1980er und frühen 1990er Jahren reicht – wenn auch häufig noch widerwillig und widersprüchlich bzw. vor allem ökonomischem Kalkül folgend – die Erkenntnis, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist und auch bleiben wird, inzwischen bis in relevante Teile der CDU. Zugleich nimmt die Zahl der Länder, die vom Bundesinnenministerium als »sicheres Herkunftsland« deklariert werden, ständig zu, und die Instrumente zur Abschreckung und Kontrolle insbesondere außereuropäischer Flüchtlinge werden fortlaufend verfeinert und erweitert. So bleiben diese Menschen eine Gruppe der »Anderen«, die staatlicherseits als nicht willkommen und nicht akzeptiert markiert werden.

Wie die Ende 2014 insbesondere in Sachsen an Dynamik gewinnenden Aktivitäten der »PEGIDA« (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) verdeutlichen, sind Teilen der Bevölkerung selbst minimale Zugeständnisse und Schritte in Richtung auf eine religiös vielfältige und interkulturelle Gesellschaft schon zu viel. Die extreme Rechte sieht in diesen Aktionen eine große Chance zur Verankerung.

Der Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus der Fachhochschule Düsseldorf (FORENA) existiert seit 1987. Die Auseinandersetzung mit der organisierten extremen Rechten, mit Rassismus und Antisemitismus ist Teil des Lehrangebots im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften. Aktuelle Forschungsprojekte befassen sich z.B. mit der »Alternative für Deutschland« (AfD) sowie der Wirkung von Verboten extrem rechter Vereinigungen. Im Zweijahresabstand vergibt FORENA Preise an thematisch einschlägig arbeitende junge Wissenschaftler*innen. Zudem entsteht am zukünftigen Standort der FH ein Erinnerungs- und Lernort, da auf dem Gelände in den frühen 1940er Jahren der Sammelpunkt der jüdischen Bevölkerung zur Deportation war. FORENA gibt bei Springer/VS eine Buchreihe zur extremen Rechten heraus und informiert regelmäßig im FORENA-FORUM über seine Arbeit.

Mehr Informationen unter forena.de

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Gesellschaftlicher und staatlicher Umgang mit NSU und rechter Gewalt

von Heike Kleffner

Die gemeinsame Bewertung der Arbeit der Ermittlungsbehörden im NSU-Komplex, die der Bundestagsuntersuchungsausschuss nach knapp eineinhalb Jahren Beweisaufnahme und Expertenanhörungen im August 2013 traf, fiel harsch aus: „Die Gefahr des gewaltbereiten Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus wurde vom polizeilichen Staatsschutz völlig falsch eingeschätzt. Die polizeiliche Analyse rechtsextremistischer Gewalt war fehlerhaft, das Lagebild dadurch unzutreffend.“ 1 Darüber hinaus waren sich die Abgeordneten von CDU bis LINKS-Fraktion einig: Bei den über ein Jahrzehnt lang auf »Organisierte Kriminalität« türkisch/kurdischen Hintergrunds fokussierten erfolglosen Ermittlungen zu den mutmaßlichen Tätern der so genannten »Ceska-Mordserie« an neun Kleinunternehmern türkisch, kurdischer und griechischer Herkunft und den drei inzwischen dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugerechneten Bombenanschlägen mit mehr als zwei Dutzend Verletzten hätte „ein unbefangener Blick auf die Gesamtheit aller Opfer es jedenfalls nahegelegt, intensiv in Richtung eines möglichen rechtsterroristischen oder rassistischen Tathintergrunds zu ermitteln. Sehr kritisch betrachtet der Ausschuss die Widerstände, denen die Ansätze zu einer solchen Erweiterung des Blickfelds und Neuausrichtung der Schwerpunkte im Kreis der Ermittler begegneten.“ Denn: „Die wenigen Merkmale, die tatsächlich alle Opfer gemeinsam haben – Berufsgruppe, Lebensalter, Geschlecht, ausländische Herkunft – konnten sie mit keiner bekannten kriminellen Organisation in Konflikt bringen. Nur eine rassistische Tatmotivation traf tatsächlich auf alle Opfer zu.“ 2

Vor dem Hintergrund, dass zwischen 1990 und 2014 nach Recherchen von Tagesspiegel und ZEIT Online mindestens 164 Menschen durch rassistisch oder politisch rechts motivierte Gewalt zu Tode gekommen sind3 und dass bei den rund 18.000 politisch rechts motivierten Gewalttaten, die die Behörden in diesem Zeitraum registrierten, mehrere tausend Menschen angegriffen, verletzt und zum Teil dauerhaft geschädigt wurden,4 ist ein genauer Blick auf die unterschiedlichen Phasen und Strategien notwendig, mit der staatliche Strafverfolgungsbehörden seit 1990 auf politisch rechts und rassistisch motivierte Gewalt reagiert haben. Denn ein Ende dieses „unerträglichen Zustands, dass wir täglich zwei bis drei rechte Gewalttaten in Deutschland haben“ (ex-BKA-Präsident Jörg Ziercke vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag) ist nicht erkennbar. Im Gegenteil: Im Jahr 2014 hat sich alleine die Anzahl von Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt.5 Zur Jahreswende 2014/2015 verübten mutmaßlich neonazistische Täter in Dortmund und Berlin gezielt Anschläge auf die Autos und Büros von JournalistInnen und Abgeordneten der SPD und der LINKEN, die als »politische Gegner« angegriffen wurden.6 Kurzum: Das Selbstbewusstsein und die Militanz der Neonazibewegung sind ungebrochen und sie werden sowohl durch den Zuspruch für die »Pegida«-Bewegung als auch durch die mediale und politische Diskussion über den Umgang mit dieser extrem rechten und rassistischen Bewegung verstärkt.

Notwendig ist daher eine kritische Bestandsaufnahme, ob mit der Selbstenttarnung des NSU und der parlamentarischen und justiziellen Aufarbeitung des NSU-Komplexes sowie den insgesamt 47 gemeinsamen Empfehlungen, die der Bundestagsuntersuchungsausschuss für Reformen im Bereich Polizei, Justiz und Geheimdienste ausgesprochen hat, die fatale Mischung aus Ignoranz, Inkompetenz und Verharmlosung, mit denen Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste im wiedervereinigten Deutschland auf militante neonazistische Strukturen reagierten und die die rassistische Mord- und Anschlagsserie des NSU erst ermöglichten, ein Ende gefunden hat und die Reformversprechen von Innenpolitikern und Polizeiführung eine veränderte Praxis zur Folge haben. Oder kürzer gefasst: Führt das Staatsversagen im NSU-Komplex, die „schwere Niederlage der Sicherheitsbehörden“ (Heinz Fromm), zu einer dringend notwendigen Zäsur im gesellschaftlichen und staatlichen Umgang mit politisch rechts motivierter Gewalt und neonazistischer Organisierung? Oder setzen sich bei den Geheimdiensten und in Polizei und Justiz diejenigen durch, die den Nationalsozialistischen Untergrund für eine Art Betriebsunfall oder GAU halten, der sich – weil er in der Rechtsterrorismus-Analyse von polizeilichem Staatsschutz und Bundesamt für Verfassungsschutz ohnehin nicht vorgesehen war – nicht wiederholen könne.

Unwirksam: Staatliche und gesellschaftliche Reaktionen auf neonazistische Gewalt

Insgesamt lassen sich für das vereinigte Deutschland und den Zeitraum seit 1990 vier Phasen der Entwicklung der extremen Rechten festmachen.

  • Erste Phase: Expansion und öffentlich inszenierte und geduldete Gewalt (von 1990 bis Mitte der 1990er Jahre) mit rassistischen Pogromen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Hunderten von Brandanschlägen.
  • Zweite Phase: Modernisierung der extrem rechten Organisationen – wesentlich angestoßen und getragen vom »Bloods&Honour«-Netzwerk und dessen bewaffnetem Arm »Combat 18« –und des Aufbaus rechtsterroristischer Strukturen wie des NSU oder der »Nationalrevolutionäre Zellen« (bis zur Jahrtausendwende 2000) mit Dutzenden von Sprengstoffanschlägen, wie beispielsweise auf die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« in Saarbrücken 1999.7
  • Dritte Phase: Konsolidierung sowohl der legalen Organisationen – inklusive einer Expansion parlamentarischer Präsenz durch einige Hundert Abgeordnete von DVU und NPD in Kommunalparlamenten und zeitweise einem halben Dutzend Landtagen – als auch der militanten und rechtsterroristischen Strukturen, beispielsweise des NSU, der von September 2000 bis Juni 2007 in einem halben Dutzend Bundesländern mindestens zehn Menschen ermordete und mehr als zwei Dutzend schwer verletzte, aber auch beispielsweise in Brandenburg, wo die »Freikorps«-Bewegung nach einem halben Dutzend Brandanschlägen gegen migrantisches Kleingewerbe als terroristische Vereinigung nach §129a StGB verurteilt wurde.8
  • Vierte Phase: Seit circa 2010 ein zweiter Modernisierungsschub der extremen Rechten, der verbunden ist einerseits mit einem Zerfall und Einflussverlust sowohl der NPD als auch der Generation erfahrener Neonazikader der »ersten Generation« wie Christian Worch, Thomas »Steiner« Wulff und Thorsten Heise. Stattdessen gewinnen seit einigen Jahren die militanten Netzwerke der »Freien Kameradschaften« und Bündnisse zwischen extrem rechten Hooligans, Rockern und Neonazis zunehmend an Bedeutung – verbunden mit einer neuerlichen Welle von Gewalt und Aktionismus, deren Einfluss und Aufbauarbeit nun in der Pegida- und Pro-Bewegung sowie den HoGeSa-Aktivitäten sichtbar wurden.

Die katastrophale staatliche und gesellschaftliche Reaktion auf die erste Phase der Expansion und der öffentlich inszenierten rassistischen Gewalt ist im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag mit der Überschrift »Der Eindruck staatlicher Gleichgültigkeit verstärkt Radikalisierung«9 beschrieben. Der Untersuchungsausschuss kommt zu dem Schluss: „Die Bilder von Rostock-Lichtenhagen gingen nicht nur um die Welt, sondern vermittelten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich zu extrem rechten Jugendszenen hingezogen fühlten und sich in so genannten »Kameradschaften« organisierten, klare Botschaften: Auch bei schwersten Straftaten würde die Polizei nur zögerlich auf Seiten der Angegriffen einschreiten, eine effektive Strafverfolgung wäre kaum zu befürchten.“ 10

Die Kultur der Straflosigkeit11 und Schuldzuweisungen an die Opfer wurde flankiert von halbherzigen Organisations- und Vereinsverboten durch das Bundesinnenministerium und die Innenministerien der Länder, deren Unwirksamkeit nicht zuletzt darin deutlich wird, dass u.a. im Jahr 2000 das Neonazi-Netzwerk »Bloods&Honour« verboten wurde, dessen Aktivistinnen und Aktivisten aber nachweislich zu den zentralen UnterstützerInnen des mutmaßlichen NSU-Kerntrios Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe gehörten. Darüber hinaus rechtfertigten Kommunalpolitiker und Strafverfolgungsbehörden eine Politik der Verharmlosung angesichts organisierter neonazistischer Gewalt ab Mitte/Ende der 1990er Jahre – in diese Phase fällt auch die Entstehung von »No-go-Areas« – mit dem Verweis auf die Partei- und Organisationsverbote. Organisierte Neonazis waren und blieben für Geheimdienste und Polizei bestenfalls radikale »Einzeltäter«, mehrheitlich aber »die unpolitischen Jungs von nebenan« mit einer »Affinität« zu Waffen.

An dieser Sichtweise änderte sich auch durch den »Aufstand der Anständigen« infolge des neonazistischen Mordes an dem mosambikanischen Familienvater Alberto Adriano an Pfingsten 2000 in Dessau und des bis heute nicht aufgeklärten Anschlags auf zehn vorwiegend jüdische Zuwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion in Düsseldorf nichts. Unter der rot-grünen Bundesregierung kam es lediglich zu einem Paradigmenwechsel der »soft measures«: An die Stelle der akzeptierenden, täterzentrierten Sozialarbeit der 1990er Jahre rückten seitdem wechselnde Bundesprogramme mit Förderungen u.a. für Opferberatungsstellen, zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rechts und Mobile Beratungsteams.

Auch in der Praxis der Strafverfolger gab es zur Jahrtausendwende durchaus wichtige Veränderungen – etwa durch die Reform der Kriterien für politisch rechts motivierte Straf- und Gewalttaten (PMK-Rechts) seitens der Innenministerkonferenz im Jahr 2001 –, die sich von einer Staatsschutz-Fokussierung lösten und stärker die Opferauswahl berücksichtigten. Dies war durchaus ein Paradigmenwechsel, auch wenn das neue Bewertungsverfahren in der polizeilichen Praxis der Länder sehr unterschiedlich angewandt wird.12 Das Grundsatzurteil des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zur Bewertung von Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte als (versuchte) Tötungsdelikte aus dem Jahr 199413 oder Änderungen des Verwaltungsrechts als Reaktion auf neonazistische Aufmärsche zur Verherrlichung des Nationalsozialismus in den 2000er Jahren gehören im Bereich der Justiz ebenfalls zu wichtigen Veränderungen.

Doch mit den Al-Kaida-Anschlägen vom 11. September 2001 endete die kurze Phase der verstärkten Aufmerksamkeit für rechte Gewalt- und Terrortaten und ihre Einstufung als Bedrohung für gesellschaftliche Minderheiten – und damit für eine demokratische Gesellschaft. Insbesondere die Geheimdienste, aber auch Polizeibehörden, zogen explizit Ressourcen aus der Rechtsextremismusbekämpfung ab, Politik und Medien setzten andere Prioritäten, und im gesellschaftlichen Diskurs der 2000er Jahre machten die rassistischen Thesen von Thilo Sarrazin einen Diskurs der Ausgrenzung und Abwertung salonfähig.

Rechtsterrorismus und institutioneller Rassismus

In die dritte Phase, die Konsolidierung der legalen und bewaffneten Strukturen der bundesdeutschen Neonazibewegung ab der Jahrtausendwende, fällt auch die Mord- und Anschlagsserie des Nationalsozialistischen Untergrunds. Alle damit befassten Polizeieinheiten und Geheimdienste reagierten darauf einhellig: mit einer zum Teil über ein Jahrzehnt währenden Kriminalisierung und Stigmatisierung der Angehörigen der Ermordeten sowie der Verletzten der Bombenanschläge: Von Anfang an ließen sich die Ermittler von der Hypothese einer unbekannten kriminellen Organisation leiten, die ihrer Vorstellung zufolge aus einem migrantischen Milieu heraus agierte. Wahlweise – und je nach Biographie, Beruf oder Aufenthaltsstatus der neun ermordeten Männer – sollte es sich dabei um eine »Blumenmafia«, »Dönermafia« oder »Menschenschmugglerbande«, die PKK oder die »Türkische Hisbollah« handeln. Die Ehefrauen, Eltern und andere Angehörige der Mordopfer wurden über Monate und Jahre der Täterschaft verdächtigt, ihre Telefonanschlüsse abgehört, ihre Kraftfahrzeuge verwanzt. Die Tatsache, dass die Verdächtigten keine brauchbaren Hinweise auf mögliche Täter lieferten, wurde dann mit der Existenz eines milieutypischen »Schweigekartells« begründet.

Der institutionelle Rassismus, der sich durch die Tausende von Seiten Ermittlungsakten der so genannten »Besonderen Aufbauorganisation [BAO] Bosporus« zieht und der die bürgerlichen Existenzen der Angehörigen der Mordopfer und der Verletzten der Bombenanschläge zerstörte,14 sowie das konsequente Verschweigen und die Verharmlosung rechtsterroristischer Aktivitäten sind gleichermaßen für das komplette Scheitern der Ermittlungsbehörden im NSU-Komplex verantwortlich.

Dabei hatte insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) über zwei Jahrzehnte hinweg bei der Analyse rechtsterroristischer Organisationsansätze und Aktivitäten die Öffentlichkeit getäuscht und alles dafür getan, sowohl Warnungen aus dem Polizeiapparat – beispielsweise des Bundeskriminalamtes (BKA) zur Bedeutung des Strategiepapiers »The Way forward – Der Weg zum Erfolg«, das innerhalb des internationalen »Bloods&Honour«-Netzwerks und in der deutschen Neonaziszene verbreitet wurde und Ende der 1990er Jahre den Aufbau bewaffneter klandestiner Terrorzellen propagierte – als auch von JournalistInnen sowie antifaschistischen Initiativen in den Wind zu schlagen. Getreu dem Motto: Rechtsterrorismus kann es in Deutschland nicht geben, weil das BfV alles im Griff hat.

Ein besonders eklatantes Beispiel für diese Mischung aus Hybris, Versagen und Verharmlosung sind die Antworten, die der damalige Vizepräsident des BfV und heutige Geheimdienstkoordinator Klaus Dieter Fritsche anlässlich der Verhinderung der Anschlagspläne auf die Synagoge in München durch Mitglieder der »Kameradschaft Süd« auf Nachfragen aus dem Bundesinnenministerium zur möglichen Existenz einer »Braunen RAF« im September 2003 zu Protokoll gab: „Bei einem Vergleich mit der RAF muss zumindest das wesentliche Merkmal dieser terroristischen Bestrebungen berücksichtigt werden. Die RAF führte ihren bewaffneten Kampf aus der Illegalität heraus. Das heißt, die Gruppe lebte unter falscher Identität, ausgestattet mit falschen Personaldokumenten und Fahrzeugdubletten in konspirativen Wohnungen. Dies erforderte ein hohes Know-how und ein Sympathisantenumfeld, das bereit war, den bewaffneten Kampf aus der Illegalität zu unterstützen. Zur Finanzierung dieses Kampfes wurden Raubüberfälle begangen. Absichten, einen Kampf aus der Illegalität heraus mit den damit verbundenen Umständen zu führen, sind in der rechten Szene nicht erkennbar. Es gibt derzeit auch keine Anhaltspunkte, dass eine solche Gruppe ein Umfeld finden würde, das ihr einen solchen Kampf ermöglicht. […] In der Presse wird angeführt, dass es im Rechtsextremismus sehr wohl ein potentielles Unterstützerfeld gebe. Hierzu wird auf drei Bombenbauer aus Thüringen verwiesen, die seit mehreren Jahren »abgetaucht« seien und dabei sicherlich die Unterstützung Dritter erhalten hätten. Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Personen auf der Flucht sind und – soweit erkennbar – seither keine Gewalttaten begangen haben. Deren Unterstützung ist daher nicht zu vergleichen mit der für einen bewaffneten Kampf aus der Illegalität.“ 15

Zu diesem Zeitpunkt hatte der NSU schon mindestens drei Menschen ermordet sowie mehrere Banken überfallen, und nach zahlreichen Razzien mit Waffen- und Sprengstofffunden im gesamten Bundesgebiet waren Polizei und Geheimdienste über den steigenden Grad der Bewaffnung der Neonaziszene gut informiert. So konnten unter den Augen von Geheimdiensten und Polizei regionale und überregionale rechte Terrorstrukturen entstehen, die gesellschaftliche Minderheiten und die demokratische Verfasstheit des Staates zu ihren Hauptfeinden erklärten und entsprechend ihres Weltbildes »Taten statt Worte« folgen ließen. Doch in den Verfassungsschutzberichten der Jahre 2000 bis 2011 finden sich dort die immer gleichen Dementis zur Existenz rechtsterroristischer Strukturen. Und wenn es denn einmal zu strafrechtlichen Ermittlungen kam, wurden die gut organisierten Neonazistrukturen allenfalls mit dem Vorwurf der Bildung einer »kriminellen Vereinigung« nach §129 StGB verfolgt – wie etwa im Fall der »Skinheads Sächsische Schweiz« oder des »Sturm 34«.

Zäsur oder »Weiter so«?

Auf die 47 Handlungs- und Reformempfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, die mit einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen des Bundestages im November 2013 bestätigt wurden, haben sowohl die Bundesministerien als auch die Länder reagiert, wobei mehrere Landtage – beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Berlin – die zumeist leicht veränderten Empfehlungen als eigene Beschlüsse fassten.

Einundzwanzig der gemeinsamen Empfehlungen betreffen die Polizei: An erster Stelle hat der Ausschuss empfohlen, zukünftig „in allen Fällen von Gewaltkriminalität, die wegen der Person des Opfers einen rassistisch oder anderweitig politisch motivierten Hintergrund haben könnten“, eingehend zu prüfen „und diese Prüfung an geeigneter Stelle nachvollziehbar“ zu dokumentieren, „wenn sich nicht aus Zeugenaussagen, Tatortspuren und ersten Ermittlungen ein hinreichend konkreter Tatverdacht in eine andere Richtung ergibt.“ Diese Dokumentationspflicht solle in Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren (RiStBV) verankert werden.16 Darüber hinaus werden u.a. die Schaffung einer neuen Fehlerkultur, eine Überprüfung aller ungeklärten Gewalttaten auf Bezüge zu Rechtsterrorismus und NSU, eine grundlegende Überarbeitung des »PMK-Rechts«-Definitionssystems sowie eine Förderung der »interkulturellen Kompetenz« der PolizeibeamtInnen und eine Anpassung der Polizei an die gesellschaftliche Vielfalt durch eine Erhöhung des Anteils von PolizistInnen migrantischer Herkunft gefordert. Für den Bereich der Justiz werden u.a. eine veränderte Zuständigkeit des Generalbundesanwalts sowie Aus- und Fortbildungen für Richter, Staatsanwälte und Justizangestellte zu aktuellen Entwicklungen im Rechtsextremismus angemahnt.17 Für die Geheimdienste haben sich die Abgeordneten wenig überraschend auf ein knappes Dutzend gemeinsamer Empfehlungen einigen können, wobei die Forderungen nach mehr Kontrolle und Veränderungen im V-Leute-System sicherlich am wichtigsten sind. „Der Quellenschutz ist nicht absolut“, heißt es knapp und eindeutig. Denn: „Der Schutz von Leib und Leben der Quelle sowie anderer Personen, die Arbeitsfähigkeit der Verfassungsschutzbehörden und die berechtigten Belange von Strafverfolgung und Gefahrenabwehr müssen in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden.“ 18

Mit dem »Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags« vom 30. Oktober 201419 hat das Bundesjustizministerium als erstes Ressort auf Bundesebene auf die Empfehlungen reagiert. Geht es nach Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), soll zukünftig insbesondere §46 Abs. 2 Satz 2 StGB erweitert werden, um „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Ziele eines Täters im Fall von Körperverletzungsdelikten bei der Strafverfolgung besonders zu berücksichtigen. Dieser Vorschlag stieß allerdings sowohl bei den spezialisierten Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt als auch bei einer Expertenanhörung im Rechtsausschuss Ende Dezember 2014 mehrheitlich auf Ablehnung. Stattdessen betonten Experten, wie der NSU-Nebenklagevertreter Sebastian Scharmer, nochmals die Notwendigkeit einer Dokumentationspflicht zur Ermittlung möglicher rassistischer Hintergründe einer Gewalttat. Doch die ist bislang nicht in Sicht.

Im Bereich der Polizeiempfehlungen fällt die Bilanz kaum besser aus: Zwar haben das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter seit Sommer 2012 aus rund 3.300 ungeklärten vollendeten und versuchten Tötungsdelikten 745 Fälle – darunter die 164 von Tagesspiegel und ZEIT online recherchierten politisch rechts motivierten Tötungsdelikte – genauer untersucht. Doch bislang ist aufgrund dieser Untersuchung lediglich der Mord an einem 16-jährigen alternativen Jugendlichen in Sachsen im Jahr 2003 nachträglich als „politisch rechts motiviert“ anerkannt worden.20 Ansonsten „habe sich die Anzahl der politisch rechts motivierten Tötungsdelikte aufgrund der so genannten Altfallanalyse nicht erhöht“, erklärte Innenstaatssekretär Frings im Bundestag am 5. November 2014. Es bleibt abzuwarten, ob die BKA-Arbeitsgruppe zur Reform der »PMK-Rechts«-Kriterien, die auch VertreterInnen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zur Diskussion eingeladen hat, zumindest dazu beitragen wird, dass das nach wie vor erhebliche behördliche Wahrnehmungsdefizit in Bezug auf rassistische und politisch rechts motivierte Alltagsgewalt in absehbarer Zeit verringert werden kann.21

Die allermeisten Polizei-Empfehlungen des Bundestags-Untersuchungsausschusses müssten allerdings de facto in den Ländern umgesetzt werden, da Polizeiangelegenheiten Ländersache sind. Beispielhaft ist hier sicherlich das Land Berlin, dessen LKA im September 2014 einen knapp 44-seitigen »Zwischenbericht zur Umsetzung der parlamentarischen Empfehlungen zum ‚NSU-Komplex‘ in der Polizei Berlin« vorlegte und darin u.a. eine Umstrukturierung des Polizeilichen Staatsschutzes sowie eine »Gesamtstrategie zur Bekämpfung der politisch motivierten Kriminalität rechts« verspricht. Doch wie immer steckt der Teufel im Detail: Bei der Führung polizeilicher V-Leute – im NSU-Komplex hat das LKA Berlin mit Thomas Starke einen zentralen Unterstützer des NSU-Kerntrios über Jahre als V-Mann geführt – soll nun die Höchstdauer auf zehn Jahre beschränkt und eine behördeninterne Kontrolle der V-Mann-Führer, die vorher gar nicht existierte, aufgebaut werden. Eine parlamentarische Kontrolle des V-Leute-Systems der Polizei ist allerdings immer noch nicht vorgesehen. Auch unabhängige Polizeibeschwerdestellen wird es in Zukunft nicht geben.

Wenn man davon ausgeht, dass institutioneller Rassismus ein Hauptfaktor für das Staatsversagen im NSU-Komplex war, dann lässt sich klar sagen: Hier hat sich zunächst einmal gar nichts bewegt. Dabei hat eine bemerkenswerte Studie der Polizeifachhochschule Sachsen-Anhalt zum »Polizeilichen Umgang mit migrantischen Opferzeugen« im vergangenen Jahr festgestellt: „Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass mangelnde Sensibilität im polizeilichen Umgang mit migrantischen Opferzeugen in vielen Fällen des polizeilichen Einsatzgeschehens bei politisch motivierter Kriminalität nicht von der Hand zu weisen ist.“ 22 Eine bundesweite Untersuchung zu rassistischen Einstellungsmustern unter Polizeibeamten wäre da der nächste logische Schritt – auch, um die festgefahrene Diskussion auf eine Faktenbasis zu stellen. Im polizeilichen und justiziellen Umgang mit alltäglicher rassistischer Gewalt sind ebenfalls wenig Fortschritte erkennbar, wie nicht zuletzt bei rassistischen Angriffen in Bernburg oder Pirna deutlich wurde, bei denen die Bedeutung von Rassismus als Tatmotiv von Seiten der Strafverfolgungsbehörden konsequent klein geredet wurde.

Das gebrochene Aufklärungsversprechen und die Geheimdienste

Untrennbar mit dem NSU-Komplex verbunden ist das Versprechen „größtmöglicher Aufklärung“, das Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der zentralen Trauerfeier für die NSU-Mordopfer im Februar 2012 in Berlin gab. Dieses Versprechen droht an der Blockade und dem systematischen Aktenvernichten der deutschen Geheimdienste zu scheitern. Dabei wird das Ausmaß an Hybris, Vertuschung und Versagen der Geheimdienste täglich größer – und damit auch die Zahl der offenen Fragen, die nicht im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München geklärt werden können.

Anlass zur Sorge bietet ferner, dass es dem Bundesinnenministerium und dem BfV auch nach dem 4. November 2011, dem Bekanntwerden des NSU und seines Netzwerkes, immer noch nicht gelingt, die Existenz rechtsterroristischer Strukturen in Deutschland einzugestehen. Beispielhaft für die hartnäckige Realitätsverleugnung im Bundesamt für Verfassungsschutz, aber auch in den Landesämtern, soll hier die Aussage des Zeugen Egerton vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss zitiert werden, der von 1994 bis zum Jahr 2000 im Bundesamt mit der gewaltbereiten Naziskinszene befasst war. Egerton antwortete auf die Frage, wie es zu der fundamentalen Fehleinschätzung des BfV in Bezug auf Rechtsterrorismus gekommen sei: „Die Frage war: Gibt es eine braune RAF? Und der Ausgangspunkt war: Hat das BfV Strukturen erkannt, die RAF-ähnlich sind, also zum Beispiel Kommandoebene mit Unterstützerumfeld, möglicherweise auch militant, was also auch Anschläge begeht? Und diese Strukturierung hat das BfV nicht erkannt. Es hat sie auch in Form des Trios nicht gegeben. Das war ja auch keine Kaderorganisation mit Unterstützerumfeld.“ 23

Diese Aussage – nach den angekündigten »Reformen« im BfV – macht in erschreckender Weise deutlich, wie groß dort die Beharrungskräfte sind und lässt das Schlimmste für die zukünftige Analysefähigkeit des BfV vermuten. Auch die Tatsache, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz als Reaktion auf dessen Verantwortung für das Staatsversagen im NSU-Komplex lediglich gegen drei Beamte Disziplinarverfahren eingeleitet wurden, während gleichzeitig 57 Mitarbeiter aus dem Bereich Rechtsextremismus befördert wurden, spricht für sich.24 Hinzu kommt, dass das BfV mit einer Erhöhung von finanziellen Ressourcen und einer Ausweitung seiner »Zentralstellenfunktion« – inklusive der Führung einer zentralen V-Leute-Datei – zu den eigentlichen Profiteuren des NSU-Komplexes gehört. Das Bundesinnenministerium wird dazu passend demnächst einen Gesetzesentwurf vorlegen, wonach V-Leuten unter bestimmten Umständen Straffreiheit zugesichert werden und der Einsatz verdeckter Ermittler durch das BfV ermöglicht werden soll.25

Nach den tödlichen islamistischen Anschlägen auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« und einen jüdischen Supermarkt in Paris am 9. Januar 2015 ist davon auszugehen, dass die Ausweitung der Kompetenzen des BfV noch weitgehender ausfallen wird, als schon geplant. Ohnehin besteht die Gefahr, dass nun ähnlich wie nach dem 11. September 2001 die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit neonazistischem Terror und Rassismus schon bald wieder zurückgestellt wird, während rassistische und neonazistische Gewalttäter sich zugleich durch Pegida legitimiert fühlen und der Nationalsozialistische Untergrund und seine Mord- und Anschlagsserie als singuläres Phänomen verharmlost und historisiert werden, ohne dass es zu einer endgültigen Aufklärung kommt.

Anmerkungen

1) Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuschungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes. Bundestag-Drucksache 17/14600 vom 22.8.2013, S.861 ff.

2) Ebenda, S.843f.

3) ZEIT Online: Interaktive Karte Todesopfer rechter Gewalt 1990 bis 2010.

4) Heike Kleffner (2009): Kleine Geschichte des Umgangs mit Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland nach 1989. In: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände, Folge 7. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S.262-282.

5) Mut gegen rechte Gewalt – Das Portal gegen Neonazis: Rechte Hetze gegen Flüchtlinge – Eine Chronik der Gewalt 2014. 31.12.2014; www.mut-gegen-rechte-gewalt.de.

6) Brandanschlag auf Auto – Linken-Politiker will sich „nicht einschüchtern lassen“. Der Tagesspiegel, 6.1.2015.

7) Heike Kleffner (2009), op.cit.

8) Ronald Heinemann: Urteil im Neonazi-Prozess: Im Familienauto zum Brandanschlag. SPIEGEL Online, 7.3.2005.

9) Bundestag-Drucksache 17/14600, op.cit, S.831.

10) Ebenda.

11) Vgl. dazu auch Erardo Cristoforo Rautenberg (2007): Die Verfolgung rechtsextremistischer Straftaten im Land Brandenburg und deren mögliche Ursachen. In: Julius H. Schoeps, Gideon Botsch, Christoph Kopke (Hrsg.): Rechtsextremismus in Brandenburg, Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg, S.221-229. Rolf Gössner (1996): Zwischen Verharmlosung und Überreaktion: Zum polizeilichen und justitiellen Umgang mit rechter Gewalt und Neonazismus. In: Jens Mecklenburg (Hrsg.): Handbuch Rechtsextremismus. Berlin: Elefanten Press, S.837f.

12) Heike Kleffner und Holzberger (2004): War da was? Reform der polizeilichen Erfassung rechter Straftaten. CILIP Nr. 77, S.56-64.

13) Gössner, op.cit., S.837f.

14) Barbara John (Hrsg.) (2014): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet. Freiburg: Herder.

15) Bundestag-Drucksache 17/14600, op.cit., S.231.

16) Ebenda, S.831f.

17) Ebenda, S.863f.

18) Ebenda, S.865.

19) Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages. Bundestag-Drucksache 18/3007 vom 30.10.2014.

20) Heike Kleffner (2015): Todesopfer rechter Gewalt: Offizielle Anerkennung verweigert. CILIP Nr. 107 (i.E.).

21) Vgl. Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt in den östlichen Bundesländern und Berlin: 737 Fälle politisch rechts motivierter Gewalt in Ostdeutschland und Berlin – Beratungsstellen veröffentlichen gemeinsame Statistik für 2013 – Anstieg der Gewalttaten insbesondere der rassistischen ist Besorgnis erregend. 10.4.2014; www.mobile-opferberatung.de.

22) Polizei Sachsen-Anhalt (2014): Polizeilicher Umgang mit migrantischen Opferzeugen (Forschungsbericht). Aschersleben, S.11.

23) Bundestags-Drucksache 17/14600, op.cit., S.233.

24) Astrid Geisler: Zur Strafe befördert. taz.de, 28.11.2014.

25) Christian Rath im Interview mit SPD-Innenexperte Burkhard Lischka: Zum Beispiel: Hitlergruß. Geheimdienstermittler sollen legal werden. taz. 27.11.2014.

Abkürzungen

DVU – Deutsche Volksunion.

HoGeSa – Hooligans gegen Salafisten

NPD – Nationaldemokratische Partei Deutschlands

Pegida – Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes

StGB – Strafgesetzbuch

Heike Kleffner arbeitet als Journalistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin einer Abgeordneten des Deutschen Bundestages.

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Das Unwort erklärt die Untat

Die »Döner-Mordserie« und der Umgang mit Gewalt an Migrantinnen und Migranten in den Medien

von Fabian Virchow, Tanja Thomas und Elke Grittmann

Von September 2000 bis April 2006 wurden in Deutschland neun Menschen Opfer einer Mordserie, die in der Berichterstattung häufig als »Döner-Morde« bezeichnet wurde. Für die Tathintergründe und -motive wurden seitens der Strafverfolgungsbehörden bar jeder Faktenlage immer wieder neue Mutmaßungen oder Thesen formuliert, die auch Eingang in die mediale Berichterstattung fanden. Der Täter konnte die Polizei trotz aufwändiger Ermittlungsarbeit in all diesen Jahren nicht habhaft werden. Erst infolge eines Bankraubes in Eisenach am 4. November 2011, kurz danach in einer in Brand gesetzten Wohnung gefundener Unterlagen sowie der Verbreitung von Bekennervideos wurde bekannt, dass für die Mordserie eine neonazistische Gruppe verantwortlich war, die aus rassistischen Motiven tötete und sich selbst »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) nannte.

Das Bekanntwerden des NSU führte nach dem 4. November 2011 dazu, dass sich viele Medien in der Bundesrepublik Deutschland intensiv, umfangreich und häufig auch investigativ mit den vom NSU begangenen Morden und weiteren Straftaten, den Hintergründen sowie mit strukturellen und personellen Defiziten bei den Inlandsnachrichtendiensten und den Versäumnissen der Ermittlungsbehörden befassten. Das Entsetzen über die Vorgänge war in der medialen Berichterstattung nicht zuletzt deshalb besonders groß, da über ein Jahrzehnt in eine völlig falsche Richtung ermittelt worden war und die Ermordeten und ihre Angehörigen selbst öffentlich verdächtigt wurden, in kriminelle Aktivitäten verstrickt zu sein, die Ursache für die Morde seien.

An der Verbreitung und Etablierung dieser Deutung, die sich im Begriff der »Döner-Morde« verdichtet hat, haben nicht nur die ermittelnden Behörden, sondern auch Medien maßgeblichen Anteil. Der erstmals Ende August 2005 in der Nürnberger Zeitung verwendete Begriff wurde bis zur Aufdeckung der tatsächlichen Hintergründe der Morde an neun Menschen zum Synonym für eine beispiellose Mordserie. So konstatierte der stellvertretende Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl (2012), zwei Monate nach Bekanntwerden des NSU, schon das Wort „Döner-Morde“ spiegele „Geringschätzung und Abgrenzung“ wider.

Der Begriff markiert zum einen eine diskriminierende Bezeichnungspraxis seitens vieler Medien, war diese Etikettierung doch nicht nur sachlich unzutreffend, sondern auch stereotypisierend. Zugleich steht der Ausdruck als Symbol für eine Berichterstattung, die die politische Dimension der Morde überwiegend verkannt oder ignoriert hat. Die Ermordeten wurden nach rassistischen Kriterien ausgesucht. Sie wurden ermordet, weil sie rassistisch eingestellten Tätern mit ihrer dauerhaften Aufenthalt signalisierenden Tätigkeit als selbständige Unternehmer und als Familienväter als Bedrohung einer imaginierten »Rasse-Reinheit« erschienen.

Berichterstattung folgt Ermittlungstätigkeit

Die hier vorgestellte Untersuchung der Berichterstattung über die neun Morde war von der Fragestellung geleitet, wie die Printmedien über die Morde, über mögliche Täter und Tatmotive berichteten und wie die Opfer dargestellt wurden. Durch einen Vergleich mit der türkischsprachigen Presse sollten außerdem Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Berichterstattung der deutsch- bzw. türkischsprachigen Printmedien erkannt werden. Schließlich sollte die journalistische Auseinandersetzung mit der Berichterstattung nach Bekanntwerden der Täterschaft berücksichtigt und nach Gründen für die vorgefundene Berichterstattung gesucht werden.

Im Rahmen einer wissenssoziologischen Diskursanalyse, die sich bei der Untersuchung von Diskursen insbesondere dafür interessiert, wie das in der Berichterstattung behandelte Ereignis problematisiert wird, welche Ursache-Wirkung-Zusammenhänge genannt werden, welche Personen oder Instanzen als zuständig und verantwortlich benannt werden oder welche Handlungsmöglichkeiten formuliert werden, wurden aus dem Zeitraum 9.9.2000 (Ermordung von Enver Simsek in Nürnberg) bis Anfang November 2011 insgesamt rund 300 Beiträge und 290 Bilder aus der deutsch- und türkischsprachigen Presse in Deutschland untersucht. Zudem wurden Interviews mit Journalist*innen geführt, die über die Morde berichtet hatten.

Die Berichterstattung war weitgehend durch Fremdheit und Ausgrenzung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen geprägt. Der Begriff des »Döner-Mordes« ist dabei lediglich eine besondere Zuspitzung. Aus vermuteten Verbindungen zur »Organisierten Kriminalität« wurden Tatsachenbehauptungen gemacht. Die Berichterstattung über die Mordserie machte in mehreren Fällen – häufig im Anschluss an polizeiliche Ermittlungsarbeit und deren mediale Vermittlung – sowohl das persönliche Umfeld als auch das imaginierte Kollektiv »der Türken« zu Komplizen der Täter. Dies kommt exemplarisch in einer vom SPIEGEL gebrauchten Formulierung („Die schwer durchdringbare Parallelwelt der Türken schützt die Killer.“) zum Ausdruck, die allerdings in eine Vielzahl von Thematisierungsweisen eingelassen ist, die vor dem Hintergrund der Mordserie einen engen Zusammenhang von Kriminalität und Migration herstellten.

Das Reden von einer „Mauer des Schweigens“ und „den noch nicht in unserer Gesellschaft angekommenen Türken“ markierte in seiner Verallgemeinerung zahlenmäßig bedeutsame Teile der in Deutschland lebenden Bevölkerung als nicht dazugehörig und ordnete diesen zudem spezifische Verhaltensweisen zu. Mit dem in der Berichterstattung auftauchenden Begriff der „Parallelwelt“ wurde an den Diskurs von der »Parallelgesellschaft«1 angeschlossen und ein „Dramatisierungspotential“ 2 aufgerufen. Denn in vielen Medien ist der Terminus meist mit „verstörenden Ereignissen wie Ehrenmord oder andern Gewaltverbrechen“ und mit dem Scheitern einer »multikulturellen Gesellschaft«3 verknüpft. Auf diese Weise wurden die Angehörigen der Opfer nicht primär als Betroffene vorgestellt, sondern als Teil der »Anderen« stigmatisiert.

Den Opfern und ihren Angehörigen wurde nur vereinzelt und vorwiegend in der Regionalberichterstattung eine Empathie entgegengebracht, wie sie bei der Berichterstattung über Opfer von Gewaltverbrechen in anderen Kontexten durchaus verbreitet ist. Dabei wurden sie zum Beispiel als der Stadtgesellschaft zugehörig bezeichnet, aus deren Mitte Trauer und Beileid bekundet wurden. Anteilnahme und Trauer des persönlichen Umfelds wurden nicht nur im Text, sondern auch durch Bildmaterial unterstrichen. Diese Berichterstattung bildet ein Gegengewicht zu den oben genannten Darstellungsweisen. Die zum Teil feststellbare Parallelität der beiden Formen der Berichterstattung verweist allerdings auf die Gefahr, das Individuum als Ausnahme eines ansonsten mit negativen Merkmalen versehenen Kollektives vorzustellen.

Die Berichterstattung über die Mordfälle lag in vielen Redaktionen bei Polizeireporter*innen. Die polizeilichen Quellen genossen Autorität und Glaubwürdigkeit, ihre Deutungsmuster und Mutmaßungen wurden nicht oder nicht konsequent hinterfragt. So folgte die Berichterstattung den Mutmaßungen über Schutzgelderpressung, Drogenkriminalität, Auftragskiller oder Geldwäsche und trug zu einem Bild bei, in dem die Verantwortung für die Morde dem Bereich der »Organisierten Kriminalität« zugewiesen wurden, die wiederum als »ausländisch« markiert wurde.

In der kurzen Phase, in der die Möglichkeit rassistischer Tatmotive aufgrund einer polizeilichen Fallanalyse ernsthafter in den Blick genommen wurde, reichte die journalistische Bearbeitung von Ablehnung („unplausibel“) bis zur Entpolitisierung („Einzeltäter mit negativen Erfahrungen, aber keine organisierte Täterstruktur“). Bezüge zu anderen Fällen von Gewalt gegen Migrant*innen und damit zu möglichen rassistischen Tathintergründen wurden nur in Ausnahmefällen hergestellt. Die Polizei spielte zudem in ihrer Medienstrategie die These eines rassistischen Tatmotivs bewusst herunter.

Die enge Anbindung der Berichterstattung an die polizeiliche Erkenntnis- bzw. Vermutungslage führte zu einer einseitigen Gewichtung und Sichtbarkeit der Quellen.

Journalistische Verantwortung

Die untersuchten Diskurse machen nur einen kleinen Anteil der Diskurse aus, die in den vergangenen Jahren zu Themen wie Integration, Migration und Kriminalität geführt wurden. Journalist*innen entscheiden mit darüber, welche Art von Gesetzesverletzungen und Kriminalität zum Gegenstand der Berichterstattung wird. Über Morde wird mit der höchsten Wahrscheinlichkeit berichtet. Kriminalitätsberichterstattung macht schwere Straftaten weit überproportional zu ihrem tatsächlichen Vorkommen zum Thema in den Printmedien. Rechnet man der Kriminalitätsberichterstattung drei zentrale soziale Funktionen zu – Grenzziehung (Verdeutlichung normativer Grenzen), Status-quo-Erhaltung (Legitimation des geltenden Normen- und Kontrollapparats) sowie Ausblendung (Fokus auf Personen statt auf Strukturen; Dethematisierung bestimmter Probleme)4 –, so lässt sich mit Blick auf die Berichterstattung zu der Mordserie davon sprechen, dass verschiedene Grenzziehungen, Legitimationen und De-/Thematisierungen stattgefunden haben.

Dass die Morde an Menschen schwere Verbrechen und normativ zu verurteilen sind, zieht sich durch die gesamte Berichterstattung. Zugleich fand in Form der häufig über Mutmaßungen hinsichtlich der Tathintergründe hergestellten Verknüpfung der Opfer oder ihres persönlichen Umfeldes zu Kreisen der »Organisierten Kriminalität« eine Grenzziehung statt, die die Betroffenen jenseits der Grenze des normativ Akzeptablen verortet. Die Legitimation des Kontrollapparates wurde durch die herausgehobene Sprecherposition der Strafverfolgungsbehörden und die textliche und visuelle Präsentation unterstrichen. Zu den signifikanten Dethematisierungen gehörte die Möglichkeit einer rechtsterroristischen Täter*innenschaft, die in Teilen auf eine entsprechende Medienstrategie der Polizei zurückzuführen ist. Entsprechende Thematisierungen seitens der Angehörigen von Ermordeten wurden von journalistischer Seite nicht aufgegriffen.

In der Berichterstattung wurden Angehörige der Opfer nur selten als Sprechende und Handelnde sichtbar. Auch hier spiegelt sich eine verbreitete Form des Schreibens über migrantische Bevölkerung wider: Teilgruppen oder Individuen, die ihr zugerechnet werden, werden in den Medien oft als passive Opfer vorgestellt. Tauchen sie in aktiv handelnden Kontexten auf, dann geschieht dies regelmäßig in negativ bewerteten Rollen und Konstellationen (Kriminalität, Gewalt). Entsprechend blieben auch die Solidaritätsdemonstrationen in Kassel und Dortmund medial weitgehend unbeachtet, obwohl schon die dort formulierte kollektive und öffentliche Aufforderung von Angehörigen von Verbrechensopfern gegenüber den Strafverfolgungsbehörden eine seltene Ausnahme ist und damit insbesondere im Lichte der Schwere und Dauer der Mordserie auch berichtenswert hätte sein können.

Wenig Unterschiede bei den türkischen Medien

In den untersuchten türkischsprachigen Medien wurden die Morde häufig unter der Bezeichnung „Serien-Mord“ aufgegriffen. Vereinzelt wurde auch die Bezeichnung „Dönerverkäufer-Mord“ benutzt. Wenn auch der Begriff »Döner-Morde« vergleichsweise selten verwendet wurde und dabei in etwa zwei Dritteln der Fälle zudem durch Anführungszeichen oder durch ergänzende Formulierungen Distanz zur Wortverwendung deutlich gemacht wurde, so gab es doch keine explizite Hinterfragung des Begriffs. Der im Juni 2012 veröffentlichte Bericht der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments über die NSU-Morde kritisierte denn neben den deutschen auch die türkischen Medien für diesen Sprachgebrauch.5

In expliziter Anlehnung an deutschsprachige Berichterstattung tauchten in den türkischen Medien zahlreiche Mutmaßungen über Tatmotive und Täter auf. Zum Teil legten die Berichte zudem durch die Nennung konkreter Zahlen die Existenz von Insiderwissen nahe, gelegentlich wurden auch gänzlich neue Vermutungen über die Täter – die Hisbollah bzw. »türkische Nationalisten« – eingebracht.

Etwas nachdrücklicher fand sich in der türkischsprachigen Presse die These eines rassistischen Tatmotivs, die zudem durch entsprechende Äußerungen Ýsmail Yozgats, Halit Yozgats Vater, sowie unter Bezugnahme auf „Nürnberger Türken“ unterstrichen wurden. Letztgenannte wurden zudem mit der Ansicht zitiert, die Polizei würde ein entsprechendes Motiv nicht nennen, um ansteigende Fremdenfeindlichkeit zu verschleiern.

Ein zentraler Grund für die Art der Berichterstattung der türkischsprachigen Presse war die schwache personelle und materielle Ausstattung der türkischsprachigen Redaktionen in Europa, so dass auf Berichte der deutschsprachigen Medien – insbesondere des SPIEGEL – zurückgegriffen wurde.

Medien(selbst)kritik

Nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 setzte im Journalismus, u.a. in Fachzeitschriften, in der publizistischen Medienkritik und vereinzelt auch in der Presse und deren Onlinemedien, eine kritische „reflexive Selbstthematisierung“ 6  der Rolle der Medien bzw. des Journalismus und des journalistischen Handelns in der vorangegangenen Berichterstattung über die Morde ein. Dabei wurde zum Teil kritisch auf die Verwendung von Begriffen eingegangen, es wurden aber auch die Vorurteile von Journalist*innen – insbesondere gegenüber türkischen Männern – thematisiert. Vereinzelt kamen in diesem Zusammenhang in Fernsehdokumentationen dann auch Angehörige von Ermordeten mit ihrer Sichtweise zu Wort.

Die Art der Berichterstattung über die Morde des NSU vor Bekanntwerden der Täterschaft verweist damit auf strukturelle Mechanismen und Defizite im Feld des Journalismus, die zu den zutage getretenen Mängeln der Berichterstattung beitrugen. Hierzu gehören insbesondere

  • unkritische Orientierung an und Übernahme von polizeilichen Interpretationen sowie häufiger Verzicht auf die Erschließung weiterer Perspektiven,
  • fehlende Ressourcen für eigenständige Recherchen,
  • fortbestehende Distanz zu migrantischem Leben, die die Berücksichtigung der Perspektiven und Erfahrungen der Angehörigen der Opfer erschwerte,
  • unzureichende Repräsentanz migrantischer Perspektiven in der Berichterstattung sowie
  • ein »Schwarmverhalten«, das nicht selten zur Orientierung an einigen wenigen Leitmedien führt und in diesem Fall zur Verstärkung diskriminierender Berichterstattung beitrug.

Über zahlreiche der in der Untersuchung behandelten Dimensionen journalistischen Arbeitens wurde bereits diskutiert, andere wurden in der journalistischen Reflexion bisher nur am Rande erörtert. Es bleibt zu hoffen, dass die Studie auch als Unterstützung für ethisch fundiertes professionelles journalistisches Handeln genutzt werden kann.

Anmerkungen

1) Katharina Belwe (2006): Editorial zum Schwerpunkt »Parallelgesellschaften«. Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2, S.2.

2) Werner Köster (2009) (Hrsg.): »Parallelgesellschaften« – Diskursanalysen zur Dramatisierung von Migration. Essen: Klartext, S.7.

3) Andrea Janßen und Ayça Polat (2006): Soziale Netzwerke türkischer Migrantinnen und Migranten. Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2, S.11-17, hier S.11.

4) Bernd Obermöller und Mirko Gosch (1995): Kriminalitätsberichterstattung als kriminologisches Problem. Kritische Justiz, 28, S.45-59.

5) Inceleme Raporu (2012): 2000-2006 Yillarinda Almanya‘da Neo-Nazilerce Islenen Cinayetler Hakkinda Inceleme Raporu. S.45ff; tbmm.gov.tr.

6) Vgl. Maja Malik (2008): Selbstverliebte Fremdbeobachter. Zum Dilemma der journalistischen Selbstbezüglichkeit. In: Bernhard Pörksen, Wiebke Loosen, Armin Scholl (Hrsg.): Paradoxien des Journalismus. Theorie – Empirie – Praxis. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.429-446.

Fabian Virchow ist Professor für Theorien der Gesellschaft und Theorien politischen Handelns an der FH Düsseldorf. Tanja Thomas ist Professorin für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Elke Grittmann ist Gastprofessorin für Kommunikationswissenschaft im Vertiefungsgebiet Medienkultur und Kommunikation an der Leuphana Universität Lüneburg.
Die Untersuchung wurde von der Otto-Brenner-Stiftung finanziert und ist als OBS-Arbeitsheft 79 auf der Internetseite der Stiftung abrufbar; otto-brenner-stiftung.de.

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Keupstraße

Räume zwischen Vergessen und Erinnern

von Ayla Güler Saied

„Wenn sie mir damals in der Türkei gesagt hätten, in Deutschland wird ein Flugzeug auf deinen Kopf stürzen, hätte ich das vielleicht geglaubt. Aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass Nazis eine Bombe vor meinen Laden zünden und ich dadurch verletzt werden könnte.“ (Hasan Yildirim, Friseur auf der Keupstraße)

Als am 9. Juni 2004 auf der Keupstraße eine vom »Nationalsozialistischen Untergrund« gezündete Nagelbombe explodierte, ahnte noch niemand, welche physischen und psychischen Folgen das für die auf der Straße ansässigen Bewohner und Geschäftsleute haben würde. Erst heute können die Folgen rekonstruiert und in ihrem sozialen, politischen und gesellschaftlichen Ausmaß analysiert werden. Ich werde in diesem Artikel zum einen »migrantische« Perspektiven1 auf den NSU-Komplex darstellen und zum anderen auf die bundesweit entstandenen zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüsse und Initiativen eingehen, die gemeinsam mit den Betroffenen des Anschlages Solidarität einfordern.

»Migrantische« Perspektiven auf die NSU-Morde

Das Wissen um Rassismus hat im kollektiven Gedächtnis von MigrantInnen einen festen Platz. Dabei ist ein Prozess zu beobachten, der nicht nur einen besonders ausgeprägten Rassismus innerhalb neonazistischer gewaltbereiter Gruppen im Blick hat, sondern den Alltagsrassismus mitdenkt. Nach den Erkenntnissen, die bisher über den NSU-Komplex bekannt geworden sind, herrscht in der migrantischen Community – mit all ihren Gemeinsamkeiten und Widersprüchen – die Einsicht vor: „Wir sind hier nicht mehr sicher. Der Staat liefert uns aus, indem er die Nazis strukturell und finanziell unterstützt.“

Die Erzählungen und Analysen folgen alle einer gemeinsamen Linie: Es wird die fehlende Anerkennung als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft kritisiert und eingefordert. Darüber hinaus herrscht die Einsicht, dass MigrantInnen nicht hinreichend geschützt, vielmehr selbst als Täter konstruiert werden. Diese jahrelange Opfer-Täter-Umkehr setzte bei den Betroffenen auf der Keupstraße als Opfer rassistischer Gewalt einen doppelten Traumatisierungsprozess in Gang.

Leyla ist 13 Jahre alt und Schülerin der 9. Klasse. Sie denkt, dass der NSU und seine Taten alle Menschen politisch interessieren sollten. Sie bringt im Interview zur Sprache, dass der NSU und seine Verbrechen wie auch der Prozess in München in der Schule bisher kein Thema gewesen seien. Dem Prozess misst sie folgende Bedeutung zu: „Ich glaube nicht, dass das die Angehörigen sonderlich interessiert, weil sie dadurch auch nicht ihre Familie zurückbekommen. Ich würde denken, dass der Prozess eher die Opfer interessiert, die weniger verletzt wurden.“ Sie ist der Meinung, dass der NSU mit dem Nagelbombenanschlag in der Keupstraße „[…] ein Warnsignal an die anderen [MigrantInnen] schicken wollte, dass es sozusagen ihr Land sei und dass noch schlimmere Sachen passieren könnten, wenn sozusagen noch mehr »Ausländer« nach Deutschland kommen“.

Im Interview kontextualisierte sie den Nagelbombenanschlag als deutlichen Ausdruck des herrschenden Rassismus: „Wenn die Behörden nicht nach Beweisen bei den Opfern gesucht hätten, dann hätten sie die Neonazis früher finden können, bevor so etwas Schlimmes passiert wäre. Ich denke nicht, dass sich da was ändern wird, weil das jetzt rausgekommen ist, wer die Bombe auf der Keupstraße gelegt hat. So was wird es immer in Deutschland und generell auf der Welt geben. Wie will man das stoppen?! Ich denke nicht, dass es jemals aufhören wird. Manche Menschen verstehen nicht, dass Menschen einfach Menschen sind. Rassismus wird immer ein Thema sein. Menschen sollten eine andere Sichtweise von Dingen haben. Ich persönlich sehe mich als Deutsche, was nicht heißt, dass andere mich auch so sehen. Ich selbst habe nicht Angst, weil ich denke, das könnte jedem passieren, auch Deutschen. Also, Rassismus ist so selbstverständlich, dass die Menschen nicht so abgeschreckt sind, wie sie es hätten sein müssen, nachdem aufgedeckt wurde, was der NSU gemacht hat.“

Die italienische Geschäftsinhaberin eines Friseurladens, der seit 1986 existiert und in der Nähe der Keupstraße liegt, antwortete auf die Frage, ob sie Angst habe, ebenfalls Opfer eines Anschlages zu werden: „Nein, wir fallen als Ausländer nicht auf. Wir sind für die Deutschen keine Ausländer mehr.“ Solidarität mit den Opfern auf der Keupstraße habe sie im Jahr 2004 und auch danach vermisst. Stattdessen sei der hegemoniale Diskurs reproduziert worden, d.h. die Mafia und Schutzgelderpressungen in migrantischen Milieus seien unhinterfragt als Grund für den Nagelbombenanschlag angenommen worden. Die Geschäftsfrau beklagte in diesem Kontext den Alltagsrassismus, der in Gesprächen zum Ausdruck komme, wenn pauschal von »Ausländern« und »fehlender Integration« die Rede sei. Und in einem Friseursalon, so sagt sie, werde viel geredet.

Die einseitige Berichterstattung über die Mord- und Anschlagsserie des NSU in den Jahren vor der Selbstenttarnung der Gruppe hat dazu beigetragen, dass sich erst relativ spät ein kollektives Wissen aus widersprüchlichen, noch nicht gebündelten Erfahrungen mit und Erinnerungen an das Nagelbombenattentat herausgebildet hat. Murat, ein 23-jähriger Lehramtsstudent, sagte: „Ich erinnere mich an den 11. September sehr gut, weil das auch in den Medien so präsent war. Obwohl ich 2004 schon älter war, ist der Nagelbombenanschlag bei mir nicht präsent, weil das medial so stark untergegangen ist.“

Initiative ergreifen

Nach der Selbstenttarnung des NSU bildeten sich bundesweit Initiativen mit den Betroffenen und Hinterbliebenen, um gegen das Schweigen und gegen die vielen offenen Fragen anzukämpfen und eine kritische Öffentlichkeit herzustellen.

Von März bis Mai 2013 fand auf der Keupstraße unter dem Titel »Von Mauerfall bis Nagelbombe« eine Film- und Veranstaltungsreihe statt. Ihr Hauptziel war es, die rassistisch motivierten Brandanschläge der 1990er Jahre mit der Mord-Anschlagsserie des NSU zusammen zu denken. Überlebende des Nagelbombenanschlags sowie der Brandanschläge legten gemeinsam ihre Sicht auf den Rassismus in Deutschland dar. Die Reproduktion des »Opfer«-Status wurde vermieden, indem die Betroffenen nicht nur Bezug auf den Anschlag selbst nahmen, sondern den herrschenden Alltagsrassismus und Integrationsdiskurs in Deutschland mit einbezogen. So wurden sie selbst als AkteurInnen wahrgenommen, was im öffentlichen und medialen Diskurs immer noch die Ausnahme darstellt.

Aus den Veranstaltungen dieser »Dostluk Sinemasi«-Reihe heraus entstand die Initiative »Keupstraße ist überall«. Als am Abend der letzten Veranstaltung Ibrahim Arslan, Überlebender des Anschlags von Mölln 1992, sowie Hasan Yildirim, Überlebender des Nagelbombenanschlags, nach ihren Erzählungen des Erlebten aufstanden und sich umarmten, war es ein sehr ergreifender Moment. Ibrahim Arslan sagte in diesem Zusammenhang: „Wir müssen unsere Geschichten immer wieder erzählen, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.“ Er wollte die Betroffenen des Nagelbombenanschlags ermutigen, das Schweigen zu brechen. Hasan Yildirim sagte daraufhin: „Gott sei Dank ist auf der Keupstraße keiner gestorben. Was aber soll dieser Bruder sagen, der Schwester, Großmutter und Cousine verloren hat?“ Hasan Yildirim schloss seinen Redebeitrag folgendermaßen: „Wenn Beate Zschäpe jetzt zu lebenslanger Haft verurteilt wird, muss ich dann nach 15 Jahren wieder Angst haben, Opfer eines Anschlags zu werden?!“

Er hinterfragte damit auch den Sinn der Film- und Veranstaltungsreihe und des NSU-Prozesses in München. Diese Frage war vermutlich die Initialzündung für die Initiative »Keupstraße ist überall«. Im Publikum wurde nach einem ersten Schweigen die Frage aufgenommen und gewendet: „Was können wir tun?“ Daraufhin fanden die wöchentlichen Treffen der Initiative »Keupstraße ist überall« statt, deren Hauptziel es ist, am Tag X – wenn der Anschlag in der Keupstraße im Gerichtverfahren in München verhandelt wird – die Betroffenen des Anschlags dorthin zu begleiten.2 Zur Unterstützung der Initiative fanden diverse Benefizveranstaltungen statt.

Thomas Laue, Dramaturg am Schauspiel Köln, öffnete für diverse Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen die Tore des Schauspiels und transportiere so die Anliegen der Keupstraße auch in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft. Die Betroffenen des Anschlags wurden gehört und gesehen, sie erfahren die Gerechtigkeit, die ihnen über Jahre hinweg vorenthalten wurde.

Einige Bündnisse entstanden aber bereits vor der Enttarnung des NSU. Die prägendsten Beispiele hierfür sind die Schweigemärsche in Kassel und Dortmund im Jahr 2006, die von den Familien Kubasik und Yozgat initiiert wurden. Diese Schweigemärsche fanden weder öffentlich noch medial angemessene Beachtung. Die Angehörigen der Opfer hatten bereits damals die Zusammenhänge zwischen den Morden erkannt und forderten eindringlich das Einschreiten der Sicherheitsbehörden, um ein zehntes Opfer zu vermeiden.

Mit den Folgen leben

Ein weiterer Faktor muss bei einer kritischen Analyse mitgedacht werden: Nicht alle Betroffenen gehen gleich mit den Geschehnissen um. Während einige ein großes Bedürfnis haben, ihre Geschichte nach außen zu tragen, ist es für andere retraumatisierend, darüber zu sprechen. Und über allem steht, insbesondere in der Keupstraße, immer wieder der Gedanke: „Schadet es nicht unserer Straße und dem Geschäft, wenn wir immer nur mit der Bombe in Verbindung gebracht werden?“ Ein Geschäftsmann auf der Keupstraße, der anonym bleiben wollte, sagte in diesem Kontext:

„Das Leben geht seitdem irgendwie weiter. Aber die Keupstraße sehnt sich nach der Zeit vor dem Anschlag zurück. Nach der Bombe ist auf geschäftlicher Ebene ein großer Schaden entstanden. Die Keupstraße ist durch die Bombe ein Angstraum geworden, nach dem Motto: Die Straße wird von Türken kontrolliert. Seit den letzten zwei, drei Jahren kommen Politiker hierher. Der Bundespräsident war hier. Es werden Anstrengungen unternommen, das Image der Straße aufzupolieren, das begrüße ich. Das trägt auch Früchte. Weil in den letzten sechs Monaten ist das hier wie ein Tourismuszentrum geworden. Das hängt in meinen Augen auch mit dem Straßenfest in Juni zusammen. Vor ein paar Tagen waren hier auf einmal Gruppen von 150 Deutschen. Vielleicht sind das auch die Leute, die nach der Bombe Angst hatten und jetzt durch das Straßenfest Mut gefasst haben und die Straße kennen lernen wollen. Ich sehe schon eine Anstrengung von Seiten der Regierung.“

Die Geschäftsleute der Keupstraße sorgen sich aber nach wie vor, dass die Geschäfte sich nicht erholen werden. Auch drei Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU ist die Situation paradox, und es ist für die Betroffenen schwierig, die Balance zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herzustellen und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Die Auseinandersetzung mit dem Anschlag bedeutet jedes Mal aufs Neue eine Reproduktion der Straße als Angstraum. Viele möchten daher mit dem Anschlag abschließen. Als Geschäftsleute sind sie in erster Linie daran interessiert, finanziellen Gewinn zu erzielen. Dieses Spannungsverhältnis wird zumindest so lange bestehen bleiben, bis der Prozess in München abgeschlossen ist und die Keupstraße wieder zur Tagesordnung zurückkehren kann. Auf der anderen Seite bedeutet das Sprechen über die Geschehnisse, dass die Ungerechtigkeiten, die – zusätzlich zum Anschlag selbst – durch die Polizei und die Ermittlungsbehörden zustande kamen, nach außen transportiert werden und die Reputation der Betroffenen wiederhergestellt wird. Hasan Yildirim sagte diesbezüglich: „Als raus kam, dass der NSU für diesen Anschlag verantwortlich ist, war meine größte Freude, dass ich nicht mehr zu den stundenlang andauernden Verhören der Polizei musste, weil ich davon wirklich genug hatte und es nicht mehr ausgehalten habe.“

Die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse in Bund und einigen Bundesländern lösten eine breite Diskussion um die Rolle des Verfassungsschutzes und der Sicherheitsbehörden aus. Der Bericht des Untersuchungsausschusses des Thüringer Landtages vermutet hinter den falschen Entscheidungen, die gefällt worden sind, „gezielte […] Sabotage“. Die Opfer des Nagelbombenanschlags wie die Angehörigen der Mordopfer gingen bereits relativ früh von einem rechtsextremen und rassistischen Hintergrund aus. Dass dies von den Ermittlungsbehörden, der Politik und den Medien nicht ernst genommen wurde, ebnete dem NSU den Weg, unentdeckt und über Jahre hinweg weiter morden und rauben zu können.

Arif, Inhaber eines Ladens auf der Keupstraße und Geschädigter des Anschlags, reflektiert den NSU-Komplex wie folgt: „Als 2011 die Selbstmorde stattfanden, haben wir gedacht, die Schuldigen sind gefunden. Wir hatten große Hoffnungen und waren positiv eingestellt. Aber jetzt sehe ich das besorgt. Ich habe immer noch Angst: Moscheen werden angezündet, Häuser angegriffen. Letztens hatte ich Flugblätter von der NPD im Briefkasten. Es wird immer mehr. Ich erlebe jeden Tag Alltagsrassismus. Es gibt in Deutschland Menschen, die mögen uns, und solche, die Ausländerfeinde sind. Wir können aufgrund der Menschen hier leben, die uns unterstützen.“

Arif ist nach wie vor davon überzeugt, dass es in dem Prozess in München zu keiner Aufklärung des gesamten NSU-Komplexes kommen wird: „Das Straßenfest und das Konzert waren für uns sehr gut. Ganz Deutschland hat davon erfahren. Ich habe aus Holland, Belgien, Türkei Anrufe bekommen. Meine deutschen Kunden sagen, wir haben dich im Fernsehen gesehen. An unserem finanziellen Einkommen hat sich aber nichts geändert. In München läuft der Prozess, ich rede jeden Tag mit meiner Frau oder meinen Kollegen auf der Keupstraße darüber. Aber meine Einstellung dazu hat sich nicht geändert: Ich bin überzeugt, dass es am Ende nichts bringen wird. Ich glaube nicht, dass unter der Merkel-Regierung irgendwas an die Oberfläche treten wird. Wir sind jetzt beim 140. Verhandlungstag. Ich würde mir wünschen, dass Beate Zschäpe zu mehreren Jahren Haft verurteilt wird und wir endlich unsere Ruhe haben.“

Birlikte – Zusammenstehen

Der zehnte Jahrestag des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße stand unter dem Motto »Birlikte – Zusammenstehen«. Neben zahlreichen anderen Veranstaltungen fand am 10. September 2014 auf der Keupstraße eine Großveranstaltung statt, an der nationale und internationale KünstlerInnen, Medienschaffende und PolitikerInnen mitwirkten und die ein großes und wirksames Zeichen für die Solidarität mit den Opfern des Anschlags sowie der Mordserie setzte.

Etliche Geschäftsleute auf der Keupstraße bewerteten die Veranstaltung als längst überfällig und waren von der Resonanz und dem Interesse von Zehntausenden Besuchern begeistert. Sie deuteten dies als Zeichen, dass die Keupstraße lebt und sie mit den Problemen, die während und nach dem Anschlag herrschten, nicht mehr alleine gelassen werden. Kutlu Yurtseven, Mitglied und Initiator der Initiative »Keupstraße ist überall«, beleuchtete diesen Zusammenhalt aus seiner Warte:

„Das Problematische an Initiativen ist meistens, dass über die Köpfe der Betroffenen hinweg agiert wird. In diesem Fall aber wird jede Idee mit den Betroffenen abgesprochen. Wir treffen uns mit den Betroffenen, hören ihnen zu, was sie brauchen. Alles auf Augenhöhe. Der Unterschied zu den damaligen Anschlägen in Mölln: Wenn man die Betroffenen als Objekt sieht und dann eine Zeit vergangen ist, dann ebbt das auch wieder ab. Bei dieser Initiative ist das anders. Weil die Betroffenen von Anfang an mitwirken. Es gibt ein ganz enges bundesweites Netzwerk, wo gemeinsame Aktionen geplant werden. Am 4.11. [2014] wird eine bundesweite Straßenumbennungs-Aktion stattfinden. Wir arbeiten unter anderem mit Initiativen aus München, mit der Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak aus Berlin, mit der Initiative 4.6. aus Kassel. Wir haben regen Kontakt. Dadurch ist das Ganze kraftvoller. Wir haben einen gemeinsamen Plan. Zustande gekommen ist dieses Netzwerk am Birlikte-Festival, wo wir unterschiedliche Initiativen zu einer Podiumsdiskussion eingeladen hatten. Im Vorfeld des Festivals haben wir uns vormittags ausgetauscht und daraus ist dieses Netzwerk entstanden, in dem wir unsere Aktionen planen und uns gegenseitig auf dem Laufenden halten. Im Schauspiel Köln sitzen die richtigen Personen an der richtigen Stelle. Wir hatten die Räume, die Technik, die Infrastruktur, um Podiumsdiskussionen zu machen, Filme zu zeigen und um unsere Treffen zu initiieren. Dadurch hatten wir das Privileg, uns auf das Wesentliche konzentrieren zu können, weil dadurch natürlich ganz viel Stress wegfällt, wenn man im Vorfeld nicht noch alles organisieren muss. Das Schauspielhaus hat bei Birlikte, auch in der Zeit danach, und auch das Cafe Sabahci, so viel geholfen.“

Resümee

Die entstandenen Initiativen sind angesichts der damit erzeugten Öffentlichkeit ein wichtiger Prozess innerhalb einer zivilgesellschaftlichen Formierung. Eine Gefahr liegt darin, dass die Opfer als StatistInnen instrumentalisiert werden könnten, wenn sie lediglich in ihrer Rolle als Opfer gesehen und repräsentiert werden. Aus diesem Grund muss die Differenzierung in (deutsche) »Experten« und »Betroffene« immer wieder kritisch reflektiert werden. Die Forderung der Menschen aus der Keupstraße ist in der Essenz nach wie vor die Folgende: „Wir gehören hierhin und wollen gleichberechtigt und in Frieden hier leben können.“ Die lückenlose Aufklärung der NSU-Mordserie und der Schutz vor weiteren Anschlägen sind in dieser Forderung inbegriffen.

Blickt man aus der Perspektive der Rassismusanalyse auf den Prozess der kollektiven Bearbeitung, wie sie in der »Initiative Keupstraße« stattfindet, so zeigt sich, dass dabei aktuell von unten nach oben über die Geschichte des Rassismus in Deutschland verhandelt wird und neues Wissen entsteht, dass direkt von Betroffenen stammt und gehört werden sollte. Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesrepublik darauf reagiert.

Anmerkungen

1) Die »migrantischen« Perspektiven beruhen auf Leitfaden-Interviews, die ich im Oktober und November 2014 mit Geschäftsleuten und Kölner BürgerInnen mit Migrationshintergrund geführt habe, sowie auf teilnehmenden Beobachtungen auf diversen Veranstaltungen zum NSU-Komplex.

2) Dies war am 20. Januar 2015 der Fall; der Termin lag parallel zur Fertigstellung dieses W&F-Dossiers.

Ayla Güler Saied ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Universität zu Köln und der FH Bielefeld. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Rassismus, Migration, Gender und Cultural Studies sowie Jugendkulturen. Güler Saied ist seit Dezember 2013 Projektreferentin im Dachverband der Migrantinnenorganisationen.

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Die vergessenen Morde an Shlomo Lewin und Frieda Poeschke

von Ulrich Chaussy

Shlomo Lewin und Frieda Poeschke wurden am frühen Abend des 19. Dezember 1980 ermordet, einem Freitag. Tatort war die gemeinsame Wohnung der Opfer in der Erlanger Ebradstraße 20; die Tatzeit konnte durch die Ermittlungen ziemlich exakt auf die Zeit zwischen 18:40 und 19:00 Uhr eingegrenzt werden. Schon um 19:08 Uhr wurden die beiden Toten von einer entfernten Verwandten entdeckt – und es gab eine Zeugenbekundung, die eine Person mit Sonnenbrille und dunklen, sehr lockigen Haaren, eventuell einer Perücke, etwa ab 18.30 vor dem Haus beobachtet hatte. Aus der Tatortsituation und dem schnellen Tatablauf ergab sich, dass der – oder möglicherweise die – Täter von vorneherein nur zu dem Zweck gekommen war, Lewin und Poeschke zu töten. Es gab keine Spuren eines Kampfes, einer Gefangennahme oder einer Fesselung der beiden Opfer vor ihrer Tötung. Erst wurde Shlomo Lewin, der offenbar die Tür geöffnet hatte, noch in der Diele mit vier Schüssen niedergestreckt. Dann bemerkte der Mörder offenbar Frieda Poeschke, die er sofort danach am Eingang zum Wohnzimmer mit ebenfalls vier Kugeln tötete. Es waren keine Wertsachen entwendet oder Dokumente durchwühlt worden, es handelte sich also nicht um die Tat eines Einbrechers oder Raubmörders.

Spärliche Anhaltspunkte und eine öffentliche Demontage

Am Tatort wurden acht Patronenhülsen des Kalibers 9 mm gefunden, aus den Projektilen konnte erschlossen werden, dass die Tatwaffe eine Maschinenpistole der Marke Beretta gewesen sein musste. Im Labor des BKA fanden Spezialisten heraus, dass der Lauf der Waffe vorübergehend verlötet gewesen sein dürfte. Das hätte die Ermittler vielleicht stutzig machen und gleich an die seit Mitte der 1970er Jahre im nur 14 Kilometer entfernten Ermreuth residierende neonazistische Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann denken lassen können. Immerhin war am 12. Juli 1977 auf eine der zahlreichen parlamentarischen Anfragen zur Gefährlichkeit der seit 1974 aktiven Wehrsportgruppe im Parlament geantwortet worden, „dass das Betreiben des »Wehrsports« selbst keine strafbare Handlung darstellt; gleiches gilt für die Ausbildung an verschweißten Waffen.“ Die Morde, bemerkten die Ermittler, hatten den Charakter einer Hinrichtung, wobei die Vielzahl der Schüsse darauf verwies, dass die Morde offenbar nicht von einem Profikiller begangen worden waren. Ein solcher hätte wahrscheinlich auch weder eine »Sonnenbrille, Schubert-Modell 27 54/16« noch ein Blechstück am Tatort zurückgelassen, das einem selbstgebauten Schalldämpfer für die Mordwaffe zugeordnet werden konnte.

Die Anhaltspunkte der Ermittler unmittelbar nach der Tat waren spärlich. Polizei und Staatsanwaltschaft waren daher gehalten, alle möglichen Täter- und Motivkreise in Erwägung zu ziehen. Das impliziert Einschätzungen der Persönlichkeiten der Ermordeten und ihrer Lebensverhältnisse, ihrer privaten, beruflichen und politischen Positionen und Beziehungen – eine Arbeit, die mit gutem Grund nicht auf dem Präsentierteller der Öffentlichkeit stattzufinden hat. Aber es kam anders.

Schon am Montag, keine drei Tage nach der Tag, setzte eine Berichterstattung ein, die sich weniger auf die Ermittlung und Überführung des oder der Mörder richtete, sondern ohne präzise genannte Quellen über das Opfer spekulierte. So formulierten die »Nürnberger/Erlanger Nachrichten« Titel- und Untertitelzeilen wie „Nach dem Tod des jüdischen Verlegers wird über Ungereimtheiten seiner schillernden Vergangenheit gerätselt“ oder „Viele Fragezeichen im Leben des Shlomo Lewin“ sowie „Er will persönlicher Adjutant Dajans gewesen sein, doch der kann sich nicht erinnern. Gerüchte wuchern: war er Mitarbeiter des Geheimdienstes.“

Vermutlich beruht das Dementi, das auch israelische Zeitungen wie »Haaretz« und »Jedioth Achronot« dazu brachte, den Ruf Lewins durch Bezeichnungen wie „Hochstapler“ oder „Intrigant“ zu beschädigen, auf einer Verwechslung des »Sechstagekrieges« 1967 und des »Unabhängigkeitskrieges« 1948. Zum Zeitpunkt des ersteren lebte Lewin bereits in Deutschland, 1948 war er als Mitglied der jüdischen Untergrundorganisation Haganah im Stab von General Moshe Dajan tätig. Nur knapp erwähnten die Presseberichte die Würdigung Lewins mit dem Bundesverdienstkreuz aufgrund seines Beitrages zur deutsch-jüdischen Verständigung und zum deutsch-israelischen Jugendaustausch, seine Tätigkeit als Vorsitzender in der Nürnberger Kultusgemeinde und seine Funktion als geschäftsführender Vorsitzender der Gesellschaft für christlich jüdische Zusammenarbeit in Erlangen.

Der auf die Pietät gegenüber Verstorbenen gerichtete Grundsatz »De mortuis nil nisi bene« (von den Toten soll man nur gut sprechen) wurde im Dezember 1980 auf verstörende Art und Weise durchbrochen und auf den Kopf gestellt– mit einer nicht zu unterschätzenden subtilen Wirkung auf die Wahrnehmung dessen, was am 19.12.1980 in Erlangen geschah. Denn bei uns Zuschauern bewegt die Infragestellung der moralischen Integrität von Personen etwas, wenn diese zum Opfer von Gewalttaten werden: Wir werden zögerlich in der Solidarisierung mit den Opfern, wir lassen womöglich nach in der Schärfe der Verurteilung von Tat und Täter, in unserem Drängen nach vollständiger Aufklärung.

Freispruch vom Mordvorwurf für Karl-Heinz Hoffmann

Nach den spekulativen Berichten im Dezember 1980 wurde es fünf Monate äußerst still um die Mordermittlung, die nach Auskunft des Nürnberger Historiker Andreas Clemens zunächst vorwiegend im persönlichen und organisatorischen Umfeld Lewins stattfand. Diese Ermittlungsrichtung änderte sich Ende Mai 1981. Zu diesem Zeitpunkt wurde gemeldet, die am Tatort zurückgelassene Sonnenbrille habe Franziska Birkmann, der Lebensgefährtin des Wehrsportgruppenchefs Karl-Heinz Hoffmann, gehört. Bei den darauf folgenden Durchsuchungen wurde auch eine Perücke gefunden, wie sie der Täter laut einer Zeugenbeschreibung getragen haben könnte.

Mit der Verhaftung Hoffmanns am Frankfurter Flughafen im Juni 1981 endete auch der Aufenthalt der WSG im Libanon, wohin ein Teil der Gruppe nach dem Verbot durch Bundesinnenminister Baum im Januar 1980 gegangen war. Dort war die Situation unter den »Kameraden« eskaliert; ein WSG-Mitglied, Kay-Uwe Bergmann, wurde zu Tode gefoltert, ein anderer, Uwe Behrendt, beging Selbstmord.

Im Januar 1983 klagte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Nürnberg-Fürth Hoffmann an, Uwe Behrendt mit dem Mord an Shlomo Lewin beauftragt zu haben, um sich gegenüber der im Libanon gastgebenden palästinensischen Befreiungsorganisation PLO für die gewährte Unterstützung erkenntlich zu zeigen und zu beweisen, dass er und seine Männer nützliche Partner der PLO seien. In der Anklageschrift hieß es weiter: „Lewin wurde allein deshalb als Opfer ausgewählt, weil er als einer der Repräsentanten der jüdischen Mitbürger im Raum Nürnberg/Erlangen galt, der früher in führenden Positionen im Staat Israel tätig gewesen ist und sich öffentlich als entschiedener Gegner des Angeschuldigten Hoffmann exponiert hat.“

Bis es am 12. September 1984 mit großer Verzögerung zur Eröffnung des Prozesses gegen Karl-Heinz Hoffmann und Franziska Birkmann kam, geschah Entscheidendes, das den günstigen Verlauf des Verfahrens für den Angeklagten vorprägte.

Erstens: Hoffmann errang einen juristischen Etappensieg beim Bundesgerichtshof. Alle Vorgänge im Zusammenhang mit der WSG-Libanon durften nicht, wie von Generalbundesanwalt Rebmann ursprünglich beabsichtigt, unter dem Gesichtspunkt der »Bildung einer terroristischen Vereinigung« nach §129a Strafgesetzbuch ins Verfahren einfließen, da der Paragraf nur für das Bundesgebiet gelte.

Zweitens: Hoffmann bezog eine sichere Rückzugsposition mit einem Teilgeständnis, das den zentralen Vorwurf, den Mordauftrag an den Täter Uwe Behrendt erteilt zu haben, aushebelte.

Da durch polizeiliche Ermittlung gesichert war, dass Behrendt tatsächlich im Libanon ums Leben gekommen war und nicht mehr aussagen konnte, behauptete Hoffmann, dass Behrendt sich Waffe, Sonnenbrille und Perücke ohne Hoffmanns und Birkmanns Einverständnis und Kenntnis genommen habe. Behrendt sei aus eigenem Entschluss nach Erlangen gefahren und habe die Morde alleine begangen. Unmittelbar danach sei Behrendt noch am Abend des 19.12. nach Ermreuth zurückgekehrt und habe Hoffmann die Morde gestanden. Dieser habe daraufhin die Kleidung Behrendts verbrannt und ihm Geld gegeben, damit er sich umgehend in den Libanon absetzen konnte.

Diese Version klärt jedoch nicht das Motiv Behrendts, der erst zwei Monate vor dem Mord nach Ermreuth gezogen war, und die Auswahl der Opfer. Zu nennen ist hier zum einen die von Hoffmann wiedergegebene Äußerung Behrendts, derzufolge es sich um »Rache für München« gehandelt habe. Damit wird auf die auch von Hoffmann verbreitete Verschwörungstheorie angespielt, der tödliche Anschlag auf das Oktoberfest 1980 in München mit vielen Toten und mehr als 200 Verletzten sei das Werk von Juden gewesen und Hoffmann in die Schuhe geschoben worden. Zum anderen hatte sich Hoffmann in der von ihm verantworteten Zeitung »Kommando« der WSG im März 1979 mit der Synagoge in Ermreuth und mit Shlomo Lewin befasst. Und er wusste aus einer Reportage, die das italienische Magazin »OGGI« 1977 über Hoffmann gemacht hatte und von der er eine Übersetzung anfertigen ließ, dass Lewin ein scharfer Kritiker des Neonazismus und der WSG war.

Brisant aber werden diese Details erst, wenn man betrachtet, wann, wo und in welchen Situationen er von diesem Artikel Gebrauch machte. Beschlagnahmt wurde der Artikel bei der Durchsuchungsaktion in Hoffmanns Wohnsitz Ermreuth am Tag nach dem Oktoberfestattentat. Und er tauchte in Zeugenschilderungen ehemaliger WSG-Libanon-Mitstreiter Hoffmanns auf, und zwar bei Hoffmanns Gesprächen mit seinen arabisch-palästinensischen Gastgebern, mit denen er politisch zu kooperieren versuchte – mit denen er kooperieren musste, um seine Operationsbasis im Libanon sicherzustellen. Berichtet wurde, dass Hoffmann die OGGI-Reportage seinen palästinensischen Gesprächspartner gegenüber wie einen gut bebilderten Werbeprospekt genutzt zu haben scheint – als eindrucksvollen Beweis seiner Fähigkeiten als Milizenführer. Dass nun ausgerechnet bei diesen Verhandlungen, in der es um gegenseitige politische Tauschgeschäfte und Dienstleistungen ging, die OGGI-Reportage nicht nur die Leistungsfähigkeit der Hoffmann-Miliz WSG unter Beweis stellen sollte, sondern zugleich mit Shlomo Lewin einen gemeinsamen Feind Hoffmanns und seiner palästinensischen Partner wie auf dem Silbertablett präsentierte, verdient besondere Aufmerksamkeit. Denn über Shlomo Lewin wird in diesem Artikel berichtet, er habe als Angehöriger der Haganah im Unabhängigkeitskrieg an der Seite Moshe Dayans gekämpft – und somit gegen die Palästinenser. Es ist nicht nachvollziehbar, wieso diese Zusammenhänge in der Nürnberger Gerichtsverhandlung keine prominente Beachtung fanden und nicht mit aller Konsequenz untersucht wurden.

Karl-Heinz Hoffmann wird am 30. Juni 1986 zu neuneinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, wegen Herstellen von Falschgeld, Freiheitsberaubung, gefährlicher Körperverletzung, unerlaubtem Waffen- und Sprengstoffbesitzes. Vom ursprünglich zentralen Vorwurf, den Mord an Shlomo Lewin und Frieda Poeschke in Auftrag gegeben zu haben, wird er jedoch freigesprochen.

Die Vergangenheit, die nicht aufgearbeitet ist, will nicht vergehen

Karl-Heinz Hoffmann nutzt bis heute das Vakuum, das die Nürnberger Gerichtsverhandlung der Jahre 1984 bis 1986 über den Erlanger Doppelmord und die Karlsruher Ermittlungen des Generalbundesanwalts Kurt Rebmann zum Oktoberfestattentat zwischen 1980 und 1982 gelassen haben. Geschickt präsentiert er seine Sicht der Dinge. Im Internet breitet er verschwörungstheoretische Spekulationen aus. In ihnen stilisiert sich der einstige »Chef«, wie er sich in seiner Truppe nennen ließ, die in den 1970er Jahren Drehscheibe und wichtiger nationaler und internationaler Treffpunkt gewaltbereiter Rechtsextremisten aus ganz Europa gewesen war, als Opfer. Finstere andere Mächte sollen Regie geführt haben und zunächst den Anschlag auf das Oktoberfest einzig zu dem Zweck inszeniert haben, die Tat ihm in die Schuhe zu schieben und ihn als Nazi zu diskreditieren.

Und wen beschuldigt Hoffmann – an alte, tief sitzende antisemitische Stereotype appellierend, mit haltlosen und infamen Spekulationen? Mal spricht er vage von den »Israeliten«, mal eher handfest vom israelischen Geheimdienst Mossad. Es gibt aus meiner Sicht nur ein Antidot, ein Gegengift gegen solcherart Propaganda: Aufklärung, eine kritische Korrektur der mangelhaften justiziellen Aufarbeitung von Gewaltverbrechen und Terroranschlägen mit rechtsextremistischem Hintergrund in den vergangenen Jahrzehnten – darunter das Oktoberfestattentat und der Doppelmord an Shlomo Lewin und Frieda Poeschke.

Ulrich Chaussy ist Journalist und Autor zahlreicher Bücher zum Nationalsozialismus und zum Attentat auf das Münchner Oktoberfest. Es ist auch seinen hartnäckigen Recherchen zu verdanken, dass Generalbundesanwalt Harald Range am 11. Dezember 2014 die Wiederaufnahme der Ermittlungen zum Oktoberfestattentat anordnete.
Der Text geht auf eine Rede zurück, die der Autor zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in Erlangen im März 2011 hielt.

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„… nicht ernst genommen“

Opfer rechter Gewalt und die Polizei

von Matthias Quent und Daniel Geschke

Jahrelang wurden Angehörige der vom »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) Getöteten verdächtigt, an kriminellen Machenschaften beteiligt oder gar für die Tötung der eigenen Familienmitglieder verantwortlich zu sein. Trotz deutlicher Hinweise und Appelle an die Polizei, die Täter_innen1 seien im rechtsextremen Milieu zu suchen, erwiesen sich die Ermittlungsbehörden sprichwörtlich als auf dem rechten Auge blind. Das Versagen der Behörden, stellte Eva Högl, die Obfrau der SPD im Untersuchungsausschuss des Bundestages fest, beruhe zum großen Teil auf „routinierten, oftmals rassistisch geprägten Verdachts- und Vorurteilsstrukturen in der Polizei“ (Carstens 2013). Der Zentralrat der Muslime in Deutschland kritisierte „Vorurteilsstrukturen bei den Behörden gegenüber bestimmten Minderheiten und Gruppen, die dem strukturellen Rassismus in Deutschland Vorschub leisteten“ (ebd.). Vertreter_innen der Polizei reagierten empört auf die Vorwürfe.

Fest steht, dass die Angehörigen durch Polizeiermittlungen wegen zu Unrecht vermuteter krimineller bzw. mafiöser Verbindungen nach ihren tragischen Verlusten ein zweites Mal schwer geschädigt und in ihrem Vertrauen in den Rechtsstaat auf die Probe gestellt wurden. Diese nochmalige Opferwerdung wird in den Sozialwissenschaften als »sekundäre Viktimisierung« bezeichnet, „bei der der Betroffene durch eine unangemessene Reaktion seitens seines sozialen Nahraums und der Instanzen sozialer Kontrolle verletzt wird“ (Kiefl und Lamnek 1986). Gerade behördenvermittelte Erfahrungen sekundärer Viktimisierung können bei den Opfern zu einem massiven Vertrauensverlust in die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates führen. Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt wiesen in einer gemeinsamen Erklärung anlässlich des zweiten Jahrestages der Selbstenttarnung des NSU darauf hin, dass noch immer „viele Betroffene mit Polizeibeamten und Staatsanwaltschaften konfrontiert [sind], die rassistische Motive ignorieren oder verharmlosen oder den Betroffenen eine Mitverantwortung für die Angriffe zuschreiben“ (ezra et al. 2011). Von derartigen Schilderungen berichten die Beratenden der Opferberatungsprojekte in zahlreichen Fällen. Statistische Untersuchungen darüber, welche Wahrnehmungen und Erfahrungen Opfer rechter Gewalt bei ihren Kontakten mit der Polizei machen, existierten bisher nicht. Hier setzt diese Untersuchung an.2

Diskriminierung, Gewalt und die Wahrnehmungen der Opfer

Menschen tendieren dazu, Opfererfahrungen anderer auszublenden und sich mit dem Schicksal von Gewaltopfern nicht näher befassen wollen. Dies ist in der menschlichen Psyche verankert: Psycholog_innen weisen auf die Neigung hin, die Existenz von Opfern möglichst zu verdrängen oder bei ihnen eine Mitschuld zu vermuten, um nicht an die eigene Schwäche erinnert zu werden oder Schuldgefühle bei sich selbst zu erwecken (Bolick 2010). Abgewehrt wird zudem die Infragestellung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die sich im Umgang mit sozialen Minderheiten zeigen. Denn die Opfer rechter Gewalt unterliegen meist über die rechtsextremistische oder rassistisch motivierte Gewalttat hinaus „der Durchsetzung eines länger andauernden Machtverhältnisses, das auch nach dem Übergriff durch die Androhung weiterer Gewaltausübung aufrechterhalten wird. […] Opfer rechtsextremistischer Macht haben in der Regel unter einer lang währenden Unterordnung ihrer Person unter einen Täter bzw. eine Tätergruppe zu leiden.“ (Böttger et al. 2014)

Nicht nur rechte Gewalttäter_innen sind gruppenbezogen menschenfeindlich eingestellt. 2014 stimmten über 50% der deutschen Bevölkerung abwertenden Aussagen gegenüber Sinti und Roma zu; bis zu Dreiviertel der Bevölkerung werteten Asylbewerber_innen ab (Decker et al. 2014). Diesen in der Gesellschaft vorhandenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen liegt die Ideologie zugrunde,„dass Ungleichwertigkeit von Gruppen die Gesellschaft bestimmt und dies auch gut so [ist]“ (Groß et al. 2012). Diese Hierarchisierung der sozialen Gruppen in der Gesellschaft dient Täter_innen schließlich „als Legitimation von […] massiver Anwendung von Gewalt“ (Heitmeyer 2003). Dass menschenfeindliche Denkweisen von Teilen der Gesellschaft geteilt werden, „begründet umgekehrt für die Betroffenen die Angst vor erneuter Viktimisierung. In der Regel trifft rechte Gewalt Menschen, die vielfältiger Diskriminierung unterworfen sind, und denen in der Gesellschaft subalterne, d.h. untergeordnete Positionen zugewiesen werden. Oft werden MigrantInnen mehrfach Opfer von Gewalt. Sehr oft haben sie schon zuvor eine Vielzahl von Abwertungen wie Beleidigungen und Herabwürdigungen erfahren.“ (Köbberling 2010)

Primäre und sekundäre Viktimisierung

Viktimisierung bezeichnet den Prozess des Zum-Opfer-Werdens. Dieser Prozess besteht aus „Interaktionen von Täter, Opfer und anderen [Nicht-] Akteuren und ist durch unterschiedliche Dispositionen und Tatfolgen gekennzeichnet“ (Bolick 2010, S.39). Dabei werden mehrere Formen unterschieden.

»Primäre Viktimisierung«umfasst die eigentliche Opferwerdung, also die Schädigung einer oder mehrerer Personen durch einen oder mehrere Täter_innen. Ausgelöst und beeinflusst wird diese Phase durch verschiedene Situationsmerkmale, Opfereigenschaften, Opferverhalten, die Art der Täter-Opfer-Beziehungen und Tätereigenschaften (Kiefl und Lamnek 1986, S.170).

»Sekundäre Viktimisierung« ist eine Verschärfung der primären und entsteht durch Fehlreaktionen des sozialen Nahraums von Betroffenen (Freund_innen, Bekannte, Familienangehörige) und/oder Instanzen der formellen Sozialkontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte) nach der primären Opferwerdung. Sie entsteht also nicht unmittelbar aus der Tat, „sondern [wird] durch Akteure produziert […], welche mit dem Opfer der Straftat irgendeinen Umgang haben (und zwar im Hinblick auf dessen primäre Viktimisierung)“ (Kölbel und Bork 2012). Die Polizei ist für Betroffene häufig der erste Kontakt nach einer Tat. Die Geschädigten erwarten, dass sie als Opfer ernst genommen werden, Gehör und Beachtung finden und konkrete Hilfe erfahren (Haupt et al. 2003). Ein Problem besteht dabei in den unterschiedlichen Betrachtungs- und Herangehensweisen von Polizei und Betroffenen. Für Letztere ist klar, dass sie das Opfer der Tat sind. Die Polizei hingegen muss zunächst versuchen, die Situation unabhängig zu beurteilen. Zu ihrem Auftrag gehört es, vor Ort Be- und Entlastendes zusammenzutragen.

Sekundäre Viktimisierung kann im Umgang mit der Polizei ebenso wie beim sozialen Umfeld aus Bagatellisierung, unsensiblem Verhalten und Mitschuldvorwürfen resultieren. Ein sensibles, verständnisvolles Vorgehen ist auch unter Beibehaltung von Distanz und Sachlichkeit möglich, ebenso das Ansprechen von Widersprüchlichkeiten, ohne eine Vorwurfshaltung einzunehmen (Fröhlich­Weber 2008). Viktimiolog_innen empfahlen daher bereits 1986, „gerade solche Vertreter der formellen sozialen Kontrolle mehr als bisher mit der Problematik der sekundären Viktimisierung vertraut zu machen, die erfahrungsgemäß im Rahmen ihrer Alltagsroutine weniger mit den Opfern schwerwiegender Straftaten zu tun haben“ (Kiefl und Lamnek 1986, S.252f.).

Ergebnisse einer empirischen Studie in Thüringen

Der im Zuge der NSU-Debatte bekannt gewordene, skandalöse Umgang der Ermittlungsbehörden mit den Angehörigen der Opfer warf mit neuer Brisanz die Frage danach auf, wie verbreitet die Schädigung von Gewaltopfern durch die Polizei ist. Die vorliegende Untersuchung wollte darauf Antworten geben. Dazu wurden zwischen Frühling und Sommer 2014 standardisierte Telefoninterviews mit Opfern rechter Gewalt aus Thüringen geführt. Erfragt wurden u.a. die Wahrnehmungen des polizeilichen Handels in und direkt nach der Tatsituation. Der Zugang zu den Interviewpartner_innen erfolgte über die Thüringer Opferberatungsstelle ezra.3 Die statistische Auswertung erfolgte auf der Basis von 44 vollständigen Interviews. Im Folgenden werden einige zentrale Ergebnisse der Studie knapp zusammengefasst.:

  • Ungefähr jede_r zweite Befragte fühlte sich hinsichtlich der Tatsituation durch die Polizei nicht ernst genommen und hatte nicht das Gefühl, die Polizei behandle sie_ihn als Betroffene_n der Gewalttat.
  • Jede_r Vierte fühlte sich durch die Polizei nicht anständig behandelt.
  • Jede_r Zweite sah sich mit Vorurteilen seitens der Polizeibeamt_innen konfrontiert.
  • Jede_r Dritte war nicht der Ansicht, die Polizist_innen hätten vor Ort ihre Pflicht erfüllt, Be- und Entlastendes für eine Tatbeteiligung zu finden.
  • Über die Hälfte der Befragten bezweifelte, dass die Polizeibeamt_innen in der Tatsituation wirklich an der Aufklärung der politischen Tathintergründe interessiert waren.
  • Knapp ein Drittel der Befragten fühlte sich durch Vorwürfe der Polizist_innen erneut geschädigt.
  • Ein Drittel der Befragten fühlte sich durch das Auftreten der Polizist_innen eingeschüchtert.
  • Fast die Hälfte fühlte sich ungerecht behandelt.
  • Zudem berichtete ungefähr ein Fünftel der Befragten, von der Polizei für die Eskalation verantwortlich gemacht worden zu sein.
  • Insgesamt, so zeigen die Ergebnisse, fühlten sich zwischen 12% und 31% der Befragten durch verschiedene Aspekte des Verhaltens der Polizeibeamt_innen in der Tatsituation erneut viktimisiert, z.B. als Täter_in (statt als Opfer) oder als Mensch zweiter Klasse behandelt oder in seinen_ihren Menschenrechten verletzt.

Es wird deutlich, dass das polizeiliche Handeln in der Tatsituation ebenso wie im Nachtatbereich oft Anlass zur Kritik gab. Infolgedessen sank das Vertrauen in die Polizei. Die Befragungsergebnisse zeigen zudem, dass es sich bei den geschilderten Problemen nicht um Einzelfälle handelt.

Resümee

Mit der gesellschaftspolitischen, öffentlichen und juristischen Aufarbeitung der Faktoren, die über ein Jahrzehnt hinweg nicht zur Enttarnung der NSU geführt hatten, gewann die Debatte um rechte Gewalt und die Rolle der Ermittlungsbehörden an Fahrt. Parlamentarische Untersuchungsgremien im Bund und in mehreren Bundesländern legten ausführliche Dokumentationen, Problembeschreibungen und Empfehlungen für Reformen des Sicherheitsapparates vor – mit dem Ziel, die Effektivität der Verfassungsschutzämter und der Polizei zu verbessern und somit die Fähigkeit zur Kontrolle über Täter_innen zu erhöhen. Während in anderen westlichen Staaten unabhängige Kommissionen, Medien, Zivilgesellschaft und Wissenschaft die Debatte über die Ursachen von polizeilichem Rassismus führen, werden hierzulande die strukturellen und inneren Gründe polizeilichen Fehlverhaltens in erschreckendem Maße bagatellisiert, ignoriert oder als Einzelfälle abgetan. Die Perspektive der davon betroffenen Personen und Gruppen nimmt – trotz der aufrüttelnden Erfahrungsberichte und Erkenntnisse im Zusammenhang mit den Ermittlungen zur NSU-Mordserie – weiterhin keine zentrale Rolle ein.

Die nun vorliegende Studie stellt zum ersten Mal empirisch dar, wie sich Betroffene rechter Gewalt fühlen und welche Erfahrungen sie mit der Polizei machen. Es offenbarte sich im Verlauf des Projektes weiterer Forschungsbedarf. Eines jedoch ist jetzt schon evident: Negative Erfahrungen mit der Polizei derer, die als Opfer rechter Gewalt Hilfe suchen, sind keine Einzelfälle.

Anmerkungen

1) Wir verwenden in diesem Beitrag i.d.R. den so genannten Gender_Gap, um alle sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten darzustellen. Intention ist es, durch den Zwischenraum auch diejenigen Menschen sprachlich einzuschließen, die sich nicht als männlich oder weiblich identifizieren (wollen).

2) Ausführliche Ergebnisse finden sich in: Matthias Quent, Daniel Geschke, Eric Peinelt (2014): Die haben uns nicht ernst genommen. Eine Studie zu Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei. Jena: ezra – Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen.

3) ezra (ezra.de) ist die mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen. Beraten, begleitet und unterstützt werden von ezra Menschen, die aus Motiven gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit angegriffen werden – also deshalb, weil die Täter_innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen.

Literatur

Kay Bolick (2010): Spezialisierte Opferberatung im Kontext rechter Gewalt. Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Diplomarbeit.

Andreas Böttger, Olaf Lobermeier, Katarzyna Plachta (2014): Opfer rechtsextremer Gewalt. Wiesbaden: Springer VS, S.42.

Peter Carstens (2013): NSU-Opfer kritisieren Untersuchungsausschuss. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.08.2013.

Oliver Decker, Elmar Brähler, Johannes Kiess (2014): Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014. Leipzig: Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig, S.50.

ezra – Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen; Kulturbüro Sachsen e.V.; LOBBI – Landesweite Opferberatung, Beistand und Information für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern u.a. (2011): Was jetzt zu tun ist. tageszeitung, 20.11.2011.

Beate Fröhlich­Weber (2008): Das polizeiliche Ermittlungsverfahren. In: Friesa Fastie (Hrsg.): Opferschutz im Strafverfahren. Opladen: Barbara Budrich, S.75.

Eva Groß, Andreas Zick, Daniela Krause (2012): Von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ) 16-17/2012.

Holger Haupt, Ulrich Weber, Ulrich, Sigrid Bürner (2003): Handbuch Opferschutz und Opferhilfe. 2. Aufl.: Nomos, S.60.

Wilhelm Heitmeyer (2003): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und empirische Ergebnisse aus 2002 sowie 2003. In: ders. (Hrsg.): Deutsche Zustände, Folge 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.19.

Walter Kiefl, Siegfried Lamnek (1986): Soziologie des Opfers. Theorie, Methoden und Empirie der Viktimologie. München: Fink, S.239.

Gesa Köbberling (2010): Rechte Gewalt – Beratung im interkulturellen Kontext. In: Jutta Hartmann (Hrsg.): Perspektiven professioneller Opferhilfe. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Handlungsfelds. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft (VS Research), S.90.

Ralf Kölbel, Lena Bork (2012): Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel. Berlin: Duncker & Humblot, S.39.

Matthias Quent ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit den Arbeitsschwerpunkten politische Soziologie und Rechtsextremismus. Dr. Daniel Geschke ist Kommunikations- und Sozialpsychologe und Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kommunikationspsychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen, Intergruppenkommunikation, Migration, Vorurteile, Diskriminierung.

Bundeswehr und Rechtsextremismus

Bundeswehr und Rechtsextremismus

von Paul Schäfer

in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF) und der Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI)

»Eine Serie von Einzelfällen«

Am 17. März 1997 zieht eine Gruppe von neun Soldaten eines Panzeraufklärungsbataillons durch die Innenstadt von Detmold, grölt ausländerfeindliche Parolen und mißhandelt Türken, einen US-Amerikaner, einen Italiener.

Zwei Tage später wird bekannt, daß Soldaten während einer Ausbildung für Kriseneinsätze 1996 in Hammelburg Videos mit abstoßenden Gewalt- und Nazi-Szenen gedreht haben.

Etwa ein halbes Jahr später werden bei den Gebirgsjägern in Schneeberg ähnliche Videos entdeckt.

Am 28.11.1997 registriert die Bundestagsabgeordnete der GRÜNEN, Angelika Beer, im Traditionsraum der Luftlandetruppe in Büchel NS-Wehrmacht-Darstellungen – ohne jegliche kritische Einordnung.

Am 1.12.97 posieren Soldaten mit Reichskriegsflagge und Nazi-Symbolen auf der Titelseite des STERN. Aufgenommen auf einer Unteroffiziers-Beförderungsfeier an der Luftlande-Schule in Altenstadt.

Am 6.12.97 wird ruchbar, daß der bekannte Rechtsterrorist und Nazi Manfred Roeder im Januar 1995 an der Führungsakademie (FüAk) in Hamburg einen Vortrag gehalten hat. Auch Materiallieferungen der Bundeswehr an Roeder und Co. werden bekannt. Eine Veranstaltung mit Kriegsveteranen, einschließlich eines Angehörigen der Waffen-SS, soll an der FüAk stattgefunden haben.

Am 21.12.97 veröffentlicht die BILD-Zeitung die Eidesstattliche Erklärung eines Gefreiten, der schwere Beschuldigungen über Vorfälle bei den Fallschirmjägern in Varel erhebt. Weitere Zeugen bestätigen, daß es „rechtsradikale Feiern“ bzw. Entgleisungen gegeben habe.

Nach und nach sickern immer mehr Meldungen über rechtsextremistische Vorfälle in der Bundeswehr durch. Der SPIEGEL informiert seine Leserinnen und Leser am 2.2.1998 über einen vertraulichen Bericht des Militärischen Abschirmdienstes für das Verteidigungsministerium, in dem die Zunahme rechtsradikaler Propaganda- und Gewaltdelikte dokumentiert sei.

Die Reaktion des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) auf diese Ereignisse, bzw. die vermuteten Ereignisse ist stereotyp:

Es handele sich um Einzelfälle; für Rechtsextremismus in der Bundeswehr gäbe es ansonsten keinerlei Indizien. Alles werde schonungslos aufgeklärt und geahndet. Im übrigen, wird hinzugefügt, sei die Bundeswehr ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die Vorkommnisse zeigten nur, daß Probleme und Fehlentwicklungen der Gesellschaft in die Bundeswehr hineingetragen würden.

Immerhin sieht sich die Hardthöhe zu hektischer Betriebsamkeit veranlaßt; der Minister sucht sich als Herr der Lage zu präsentieren. Soldaten werden disziplinarrechtlich belangt bzw. entlassen und strafversetzt. Durch die Verschärfung der Dienstaufsicht auf allen Ebenen sollen künftige Vorkommnisse im Keim erstickt werden. Minister Rühe will Rechtsextreme durch eine Art Gesinnungs-TÜV für einzuziehende Wehrpflichtige fernhalten. Übrig bleibt davon die bessere Information der Truppe über straffällig gewordene Rechtsextremisten bzw. über Funktionäre rechtsextremistischer Parteien. Der Generalinspekteur des Bundeswehr beruft in Windeseile eine Arbeitsgruppe »Rechtsextremismus« ein und legt einen ersten Maßnahmekatalog vor, der die Bereiche Aufklärung, Politische Bildung, Öffentlichkeitsarbeit und Führungspraxis umfaßt.

I. Die Einsetzung des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages

Alarmiert durch den Roeder-Auftritt an der FüAk berät der Verteidigungsausschuß am 10. Dezember 1997 ausführlich über das Thema »Rechtsextremismus in der Bundeswehr«. Die Oppositionsparteien fordern zu diesem Zeitpunkt die Einsetzung einer Unabhängigen Kommisssion. Die GRÜNEN verschärfen im Anschluß an die Beratungen ihre Kritik und fordern die Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß des Parlaments gemäß Artikel 45a, Abs. 2, GG. Die SPD schließt sich diesem Verlangen nach einigem Zögern an.

Bereits zwei Tage später, am 12.12.1997, wird die Einsetzung beschlossen. Da dafür nur die Zustimmung eines Viertels der Mitglieder des Parlaments nötig ist, kann die Regierungskoalition nichts dagegen tun. Die Konstituierung wird auf den 14. Januar 1998 festgelegt.

Dort verständigt sich der Ausschuß auf Basis eines Antrags der SPD-Fraktion über den Untersuchungsauftrag.

Gegenstand soll die innere Lage der Bundeswehr anhand der geistigen Orientierung der Vorgesetzten und ihrer Bindung an die freiheitlich-demokratische Grundordnung sein, untersucht am Beispiel der Vorfälle »Roeder« und der Materiallieferungen an dessen Deutsch-Russisches Gemeinschaftswerk (DRGW). Weiter soll es um Menschenbild, Führungsverhalten, Stellenwert von Aus- und Weiterbildung, vor allem anhand der Ereignisse in Schneeberg, Hammelburg, Detmold, Altenstadt, Landsberg und Varel, gehen. Die SPD will den Zustand der Inneren Führung und die Realität des Traditionsverhaltens in den Streitkräften geprüft wissen. Schließlich soll die Verantwortung des Ministers der Verteidigung für diese Vorfälle ins Visier genommen werden.

Die GRÜNEN setzen in ihrem Antrag etwas andere Akzente. Untersucht werden sollten u.a.

  • rechtsextreme, gewalttätige, fremdenfeindliche oder nationalautoritäre Vorkommnisse;
  • die Frage der Herausbildung subkultureller Netzwerke oder Gruppen in der Bundeswehr;
  • die Praxis der Traditionspflege, auch anhand des Bezugs zur Wehrmacht, z.B. anhand der Verbindungen zwischen Traditionsverbänden der Wehrmacht und Bundeswehr;
  • die Frage, inwieweit der veränderte Auftrag der Bundeswehr sich begünstigend auf die Vorkommnisse ausgewirkt habe.

CDU/CSU und FDP machen von vornherein deutlich, daß sie die Einsetzung des Untersuchungsausschusses für überflüssig halten. Die Bundeswehr werde damit nur unter „Generalverdacht“ gestellt. Teile der Medien und die Opposition betrieben eine gezielte Kampagne gegen die Bundeswehr, um den Imagegewinn, den die Truppe durch die Einsätze in Bosnien und an der Oder erringen konnte, wieder wettzumachen.

Inzwischen ist die Beweisaufnahme des Untersuchungsausschusses abgeschlossen. Die unterschiedlichen Bewertungen der Ergebnisse sollen bis zur Sommerpause vorgelegt werden.

Die Grundaussagen stehen bereits fest:

l<~>Die Sprecher der Koalition werten die Einsetzung des Ausschusses als „Schlag ins Wasser“. Die Vorwürfe über „braune Strukturen“ in der Bundeswehr seien nicht bestätigt worden.

l<~>Die SPD ist bemüht, bei den Rechtsextremismus-Vorwürfen zurückzurudern. Ihr war es ohnehin mehr darum gegangen, sich im Wahljahr als Kraft zur Modernisierung der Streitkräfte zu präsentieren. Reformen in den Bereichen Innere Führung, Ausbildung, Effektivierung der Strukturen geraten daher in den Vordergrund. Die SPD verweist auf eine Reihe von Weisungen und Erlasse der politischen und militärischen Führung der Bundeswehr, mit denen seit Dezember 1997 die Politische Bildung verbessert, bei der Traditionspflege nachgesteuert und Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus eingeleitet worden sind. Dies sei auch Ergebnis des von der Opposition durchgesetzen Untersuchungsausschusses.

l<~>Die Grünen merken nach den Beweiserhebungen zwar an, daß „der Rechtsextremismus kein Problem der Bundeswehr“ sei. Sie bleiben aber der Meinung, daß es in der Bundeswehr eine Grauzone gebe, in der sich strukturbegünstigt Rechtsextremismus ausbreiten könne.

l<~>Die Meinung, daß es keinen Grund zur Entwarnung gebe, wird durch die Abgeordneten der PDS geteilt.

II. Bestandsaufnahme

Der Vorwurf des Rechtsextremismus ist in Bezug auf die Bundeswehr natürlich besonders brisant. Es liegt auf der Hand, welche Gefahren daraus für die Demokratie erwachsen würden. Daher muß der Frage, wie es tatsächlich mit rechtsextremistischen Tendenzen und Gefährdungen in dieser Großorganisation steht, sorgfältig nachgegangen werden.

l<~>Mißt man diese Tendenzen nur anhand der Vorfälle, die vom Militärischen Abschirmdienst als »Besondere Vorkommnisse« (BV) registriert sind? Wenn man um quantitative Erfassung bemüht ist, stellt sich die Frage: Wie hoch ist die Dunkelziffer der nicht gemeldeten Vorfälle? Wieviele Meldungen über Vorfälle wurden durch Drohungen oder Disziplinarmaßnahmen im Vorfeld unter den Teppich gekehrt?

l<~>Oder müssen andere Indikatoren ins Spiel gebracht werden, um verläßliche Aussagen über mögliche »Fehlentwicklungen« zu erhalten?

1. Die Besonderen Vorkommnisse (BV)

Geht man von den erfaßten Vorfällen aus, ergibt sich folgendes Bild:

  • In den Jahren 1990/91 wird gerade mal eine Handvoll Vorfälle gemeldet.
  • Ab 1992 ergibt sich eine sprunghafte Zunahme von Delikten – offensichtlich parallel zur Zunahme rechter Gewalttaten in der Gesellschaft.
  • Zwischen 1992 und 1996 werden knapp 300 Fälle gemeldet, die Zahl der beweisbaren Vorkommnisse liegt etwas unter 200.
  • Eine erhebliche Zunahme ergibt sich beim Meldeaufkommen 1997: Fast zweihundert Vorkommnisse werden identifiziert. Darunter vorwiegend Propagandadelikte, allerdings auch 11 Fälle von Gewaltanwendung.
  • Für den ganzen Zeitraum gilt: Die Taten wurden überwiegend von Wehrpflichtigen ausgeübt, darunter wieder mehrheitlich von Grundwehrdienstleistenden. Der Anteil von Zeitsoldaten an dieser Tätergruppe ist gering. Nur ein Teil der Vergehen wurde im Dienst begangen. Rechte Gesinnungs- und Gewalttäter haben sich meist mit ihren Kameraden in Zivil zu Straftaten zusammengefunden.

Um den qualitativen Sprung 1997 richtig einordnen zu können, muß beachtet werden, daß die Enthüllungen in der Öffentlichkeit und die ersten Reaktionen der militärischen Führung (u.a. Brief des Generalinspekteurs in der ersten Jahreshälfte) eine Sensibilisierung in den Streitkräften bewirkt haben. Dies führte dazu, daß viel mehr gemeldet wird. Daß sich die Zahl der BV wirklich in dieser Größenordnung vermehrt hat, ist daher nur bedingt anzunehmen. Weiter ist darauf zu achten, daß das Medienecho auch »übersensible« Reaktionen hervorgerufen hat. Manche Vorwürfe bestätigten sich nicht. Mitunter waren Mißverständnisse im Spiel (die „Sieg Heil“–Rufe bei einer Reservisten-Feier an der FüAk entpuppten sich als Reservisten-Vereins-Ruf „Wild-Sau“). In einigen Fällen wurde die kritisch gewordene Öffentlichkeit von Rekruten mißbraucht, die sich beim Bund benachteiligt fühlten und »heimzahlen« wollten.

Dennoch muß von einer Zunahme rechtsradikaler Vorfälle ausgegangen werden. Die Liste der Fälle ist mehr als unerfreulich. Die Palette reicht von rechtsradikalen, rassistischen, antisemitischen Äußerungen („Heil Hitler“– oder „Sieg Heil“-Rufe, „Türkenschwein“, „Polacken“) über ausländerfeindliche, neonazistische Agitation (Nazi-Symbole am Körper oder am Spind, Zeigen der Reichskriegsflagge, Vertrieb von rechten Zeitschriften) bis zu Schlägereien mit Ausländern und der Beteiligung an Brandanschlägen auf Asylantenheime.

Eine Parallelbewegung zwischen den registrierten Vorfällen in der Bundeswehr und in der Gesellschaft ist unverkennbar. Zwischen 1991 und 1993 erleben wir eine starke Zunahme der Fremdenfeindlichkeit in der deutschen Gesellschaft, die den rechtsradikalen Organisationen Auftrieb verschafft und sie zu Gewaltaktionen anstachelt. Erst die Gegenaktionen der kritischen Öffentlichkeit und dadurch bewirkte Maßnahmen des Staates (Organisationsverbote, polizeiliches Eingreifen etc.) bringen ein zeitweiliges Abschwellen der rechten Straftaten. Auch die rechtstaatlich fragwürdige und moralisch nicht hinnehmbare Aushebelung des Grundrechts auf Asyl im Oktober 1993 führt dazu, daß das Thema der rechten Brandstifter vorübergehend in den Hintergrund gerät.

In den letzten beiden Jahren sind wir mit einer neuerlichen Eskalation rechter Gewalt konfrontiert. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und soziale Zerrüttungen, vor allem in den neuen Bundesländern, haben das ihre dazu getan, daß sich rechtes Protestpotential bilden konnte. Der Verfassungsschutz hat daher im Jahre 1997 einen erheblichen Zulauf in der Neonazi- und Skinheadszene registriert. Dieser starke Anstieg läßt sich anhand der Berichte des Bundesamtes für den Verfassungsschutz auch bei den Gewalt- und sonstigen Straftaten feststellen.

Die Vertreter der Regierungsparteien kamen im Untersuchungsausschuß zu dem Schluß: Natürlich seien die Streitkräfte mit diesem gesellschaftlichen Problem konfrontiert. Aber die Anzahl der Delikte sei im Bereich der Bundeswehr vergleichsweise niedrig. Auch sei die Gesamtzahl der vom MAD erfaßten Rechtsextremisten in der Bundeswehr gering.

Doch solche Schlüsse sind voreilig. Zum einen haben die Recherchen des Untersuchungsausschusses offengelegt, daß einige Vorkommnisse lange unter der Decke gehalten werden konnten. In einer Truppe, in der Korpsgeist gefragt ist, in der starke Unterordnungsverhältnisse herrschen, kann davon ausgegangen werden, daß die Dunkelziffer erheblich ist.

Zum anderen wußte der MAD davon zu berichten, daß seit einiger Zeit in der rechten Szene die Losung ausgegeben worden sei, beim Bund „auf Sehrohrtiefe“ zu gehen. Tarnen und täuschen ist also angesagt.

Vor allem aber darf entschieden bezweifelt werden, ob man mit der Auflistung der Besonderen Vorkommnisse das wirkliche Ausmaß rechtsextremistischer Gefahren zureichend erfassen kann. Vielleicht muß sich rechtsradikale Gesinnung gar nicht durch besonders abweichendes Verhalten äußern?

2. Orientierungen und Einstellungen

Erforderlich wären verläßliche Erhebungen über Einstellungen der Soldaten und deren Entwicklungen während der Dienstzeit. Genau solche Untersuchungen werden aber im Rahmen der Bundeswehr seit einigen Jahren nicht mehr durchgeführt. Minister Rühe steht auf dem obskuren Standpunkt, er wolle nicht, daß auf diese Weise die Bundeswehr verdächtigt werde: An empirischen Untersuchungen über Jugendliche, die zum Bund wollen, sei man interessiert, aber nicht an gesonderten Befragungen innerhalb der Truppe.

Wegen dieser (auch im Rahmen des Untersuchungsausschusses wiederholt beklagten »Forschungsebbe«) weiß man zu wenig über Einstellungen und Orientierungen der Wehrpflichtigen, der Unteroffiziere und des Offizierskorps. Da in einer hierarchischen Großorganisation die Vorgesetztenebene entscheidend ist, wären gerade hier Analysen interessant. Aber auch die Frage, wie es bei den Unteroffizieren aussieht, ist wichtig, bilden diese doch das entscheidende Bindeglied zwischen Führung und Mannschaften.

In der militärsoziologischen Forschung ist eine Typologisierung der verschiedenen Orientierungsmuster unter den Soldaten versucht worden. Gessenharter/Fröchling etwa unterscheiden zwischen

a) dem demokratisch-reformierten Typus,

b) dem „Militär sui generis“Typus (an autoritären Attüden orientiert, das Besondere des Soldatentums akzentuierend, zum Geschichtsrevisionismus neigend und „extremistisch gefährdet“),

und c) dem technokratisch-funktionalistischen Typus.1

Nur eine differenzierte sozialwissenschaftliche Studie könnte ermessen, inwieweit diese Typologisierung trägt und welchen Anteil der jeweilige Typ unter den Bundeswehr-Angehörigen hätte. Das BMVg scheint daran nicht interessiert.

Im Oktober 1997 zog eine Untersuchung über Studierende an den Bundeswehrhochschulen (Offizierslaufbahn!) die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich.2 Die Studie, die am Hochschuldidaktischen Zentrum der Bundeswehrhochschule Hamburg in Verbindung mit der Universität Konstanz durchgeführt wurde, verglich die Einstellungen bei Studierenden an Bundeswehreinrichtungen und zivilen Universitäten. Die Ergebnisse überraschen nicht.

l<~>Mit großem Abstand wird von den Studierenden der Bundeswehr die christlich-konservative Position favorisiert (75%).

l<~>21% kennzeichnen ihre Einstellung als „national-konservativ“. Bei den Soldaten mit dem Berufsziel Offizier (im Unterschied zu Soldat auf Zeit) ist diese Verortung besonders stark ausgeprägt.

l<~>Die Cluster-Analyse der Forschungsgruppe bestätigt diese Zuordnungen. Über 10 % der Studierenden der UniBw werden als „rechtskonservativ“ eingestuft. Zur rechtesten Gruppe „nationalkonservativ“ werden 6,2 Prozent gerechnet.

l<~>Die Studie bestätigt bekannte Erfahrungswerte: Die Soldaten stellen, verglichen mit der Gesellschaft, eine nicht unbeträchtlich nach rechts verschobene »Population« dar. Dies ist auch leicht nachvollziehbar. Zeit- und Berufssoldaten hängen an Werten, die gemeinhin als konservativ gelten: Hierarchische Führungsstrukturen, das Prinzip von Befehl und Gehorsam, Sekundärtugenden wie Ordnung und Disziplin, usw.3 Diese »Rechtsverschiebung« wird vor allem im Bereich der Unteroffiziere auch dadurch verstärkt, daß deren Rekrutierungsbasis überwiegend im ländlichen Milieu liegt.4 Insoweit werden mit der Studie »Normalitäten« beschrieben, die für alle Streitkräfte der Welt gelten dürften.

Daß aber über 20 % der befragten Bundeswehr-Studierenden als national-konservativ, bzw. rechtskonservativ eingeordnet werden, läßt aufmerken. Leider bricht die Untersuchung an dem Punkt ab, der hier von besonderem Interesse ist: Wieviel Prozent des festgestellten Typus des nationalkonservativen Soldaten sind als rechtsextrem einzuschätzen? Und wo sind die möglichen Übergänge?

Wir sind also bis dato auf Vermutungen angewiesen. Rechtsextreme Orientierungen fänden sich in der Bundeswehr nur zu gleichen Teilen oder schlimmstenfalls etwas oberhalb der Werte der gesamten männlichen Altersgruppe, haben Vertreter von Verfassungsschutz und MAD gemutmaßt. Es sei von einer Zahl zwischen 3 und 4 % auszugehen. Die jüngsten Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt (30 % der Wähler zwischen 18 und 30 Jahren stimmten für die rechtsradikale DVU) sind ein Indiz dafür, daß sich diese Werte auch rasch verschieben können.

3. Die besondere Militärkultur

Die Frage, ob die Bundeswehr rechtslastig und rechtsextrem gefährdet ist, kann mit Bezug auf die Erkenntnisse der staatlichen Beobachtungsbehörden und der empirischen Sozialforschung nicht hinreichend beantwortet werden. Erforderlich wären strukturell-funktionale Untersuchungen über die politische Entwicklung der Streitkräfte im gesamtgesellschaftlichen und internationalen Kontext (Definition des Auftrags, der Rolle der Armee, ihrer Legitimation), über die damit verbundenen ideologischen Prozesse (geistige Orientierung, historische Einordnung etc.) und über das auf die Streitkräfte unmittelbar einwirkende gesellschaftliche Umfeld.

Dabei müßte natürlich die diesbezüglichen Deklarationen von Regierung und Militärführung (Reden, Weisungen, Erlasse) und die wehrbezogene Publizistik ausgewertet werden. Wissenschaftler wie Detlef Bald, Wolfgang R. Vogt oder Wolfram Wette haben seit 1990 Studien vorgelegt, die sich mit der seitdem sukzessive veränderten Rolle und Funktion der deutschen Streitkräfte beschäftigt haben. Eine Kette von Indizien hat sie dazu gebracht, Alarm zu schlagen. Der neue Auftrag der Bundeswehr, sich an Kriegen auch außerhalb der Landes- und Bündnisverteidigung zu beteiligen, bringe auch die Wiederbelebung des militärischen Traditionalismus mit sich. Es sei wieder der Typus des »Kämpfers« gefragt sei, der sich vor allem auf seine handwerklich-technischen Fähigkeiten stütze, der die Normen und Werte der Zivilgesellschaft als Beschränkung seiner Handlungsfähigkeit empfinde.5

Diese Frage wurde im Untersuchungsausschuß zwar immer wieder gestreift, aber letztlich spielte sie eine untergeordnete Rolle. Dabei liegt hier ein Kern des Problems: Inwieweit sind Streitkräfte, die auf Kriegseinsätze konditioniert werden, für rechtsextreme Orientierungen »strukturell« besonders anfällig. Der Politologe Ernst O. Czempiel hat zu Recht daraufhingewiesen, daß eine Betrachtung der Oberflächenerscheinungen (faschistoides Gebaren von Soldaten, Beteiligung an Gewaltakten) viel zu kurz greift. Die Strukturprobleme, die mit der Besonderheit des Militärs verbunden sind, müssen in den Blick genommen werden.

Die Spezifik des Militärischen ergibt sich bereits aus dem Tötungsauftrag des Soldaten. Was in der Gesellschaft verabscheuungs- und strafwürdig ist, gereicht Soldaten zu Ruhm und Ehre. Der Heldenkult ist offenkundig ein Versuch, diese ethische Diskrepanz zu überbrücken. Damit ist aber nur ein Teil einer besonderen Militärkultur, eines besonderen militärischen Geistes (»military mind«) angesprochen.

„Dieses militärische Denken ist nicht kriegstreibend, jedenfalls nicht per se. Aber es wird geprägt von der ständigen Nähe zur Gewalt, zur ständigen Präsenz des Krieges.

Zwischen der militärischen Kultur und den Oberflächenerscheinungen von Rechtsradikalismus und Gewaltanwendung an den sozialen Rändern der Bundeswehr gibt es keine direkte Beziehung. Eine indirekte gibt es aber sehr wohl.“ 6 In einer „Wiederbelebung einer eigenen militärischen Kultur“ sieht Czempiel die eigentliche Gefährdung der Bundeswehr.

Die Defizite der parlamentarischen Untersuchung sind damit benannt. Von interessierter Seite auf die Klärung besonders spektakulärer Vorfälle eingeengt, gerieten diese strukturellen Anfälligkeiten der Streitkräfte, die indirekten Beziehungen zwischen Militärkultur und Rechtsextremismus, nahezu völlig aus dem Blick. Erhellend waren in dieser Hinsicht indes die Erörterungen über das Traditionsverständnis der Fallschirmjäger. Vor diesem Hintergrund beeilten sich Minister und Generalinspekteur, zu erklären, daß von einer „Wiederbelebung einer eigenen militärischen Kultur“ nicht die Rede sein könne. Richtig sei vielmehr, daß sich die Ausrichtung der Truppe an den Prinzipien der Inneren Führung, am Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« bei den Auslandseinsätzen bewährt habe. Daran würde festgehalten. Zweifel an dieser These sind erlaubt.

4. Die untersuchten Vorfälle

Der Untersuchungsausschuß hat sich vor allem um fünf Vorgänge gekümmert:

  • die Materiallieferungen aus Bundeswehrbeständen an das »Deutsch-Russische Gemeinschaftswerk« (DRGW) des Nazis Manfred Roeder im Jahre 1994/95,
  • dessen Vortrag an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr am 24. Januar 1995,
  • die Anwesenheit eines ehemaligen Mitglieds der Waffen-SS in der FüAk bei einer Vortragsveranstaltung »Hilfe für Parfino«,
  • die Vorfälle an der Luftlandeschule Altenstadt/Schongau bzw. bei der Fallschirmjägertruppe in Landsberg/Lech,
  • die Vorfälle im Fallschirmjägerbataillon (FSchJgBtl) 313 in Varel.

· Materiallieferungen an das DRGW

Mit Schreiben vom 21.12.1993 hatte Roeders DRGW beim Materialamt des Heeres um die Überlassung von Bundeswehr-Material (Fahrzeuge, Werkzeuge etc.) gebeten. Es sollte um humanitäre Hilfe für »Nord-Ostpreußen« gehen. Nach einigem Hin und Her und kaum nachvollziehbaren organisatorischen Pannen erhalten Roeders Gesinnungsfreunde u.a. einen LKW und einen Kübelwagen. Sie holen die Fahrzeuge am 2. Januar 1995 ab und deponieren sie auf dem Gelände der Führungsakademie in Hamburg!

Keiner der beteiligten Stellen ist der verurteilte Terrorist Roeder ein Begriff; die Erwähnung Roeders und des DRGW im Verfassungsschutzbericht 1993 ist unbekannt. Im Materialamt des Heeres und beim Führungsstab des Heeres finden sich nur bereitwillige Helfer für die „bedrängten Rußlanddeutschen in Königsberg“. Die Diktion „Nord-Ostpreußen“ erregt keinerlei Verdacht. Dieser Vorgang wird sich beim Roeder-Vortrag an der FüAk wiederholen.

Eine Weisung des damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs Schönbohm im BMVg 1993, bei der humanitären Hilfe für Mittel- und Osteuropa auf rechtsradikale Bestrebungen aufzupassen, erweist sich als wirkungslos. Warnungen aus der Deutschen Botschaft in Moskau werden ebensowenig beachtet, kritische Presseberichte über rechtslastige Bestrebungen in der russischen Oblast Kaliningrad nicht zur Kenntnis genommen.

Das Auswärtige Amt bestätigt stattdessen „das dringende Bundesinteresse“ bei dem Hilfsbegehren des DRGW.

Außenminister Kinkel hat die Fehler inzwischen bedauert. Die deutsche Außenpolitik unterstütze zwar die Hilfe für Rußlanddeutsche. Eine gezielte deutsche Ansiedlungspolitik im Raum um Kaliningrad gäbe es jedoch nicht. Auch Minister Rühe behauptete, die Lieferungen an Roeder stünden diametral zur deutschen Außenpolitik. Belastete Zeugen haben im Untersuchungsausschuß jedoch wiederholt auf die Initiativen des Staatssekretärs Waffenschmidt aus dem BMI für die Rußlanddeutschen hingewiesen; dies sei gerade 1993 politisches Thema gewesen. Auch bei dem Roeder-Vortrag an der FüAk wird dies eine Rolle spielen.

Sind die Hilfsleistungen an rechtsradikale Kreise wirklich nur ein Versehen? Schon wieder kann ein prominenter »rechtskonservativer« Wortführer unter der Überschrift „Moskau muß Königsberg wieder freigeben“ schreiben:

„Die geopolitische Logik verlangt eine klare Entscheidung … Stabilität kann es in der Region nur geben, wenn Rußland diese Beute des Zweiten Weltkrieges aufgibt 7

Es steht zu fürchten, daß Prof. Werner Kaltefleiter nur ausspricht, was im konservativen Milieu gedacht wird. Der rechte Nationalismus nährt sich schon lange davon, daß deutsche Außen- und Innenpolitik vor »Deutschtümelei« nicht zurückschreckt.

· Vortrag »Hilfe für Parfino«

Am 5.3.1994 hält ein angesehener Hamburger Kaufmann einen Vortrag in den Räumen der FüAk. Es geht um Kriegsgräberfürsorge in Rußland und humanitäre Hilfe. Das ganze entwickelt sich zu einem Kameradschaftsabend der im Gebiet von Demjansk beteiligten Wehrmachtstruppen. Eingeschlossen ein Vertreter der 3. SS-Division Totenkopf.

Aus dieser Veranstaltung entwickelt sich der Kontakt, der Röder den Weg in die FüAk ebnet. Es ist müßig, die gesamten Vorgänge rekonstruieren zu wollen. Drei Erkenntnisse lassen sich dennoch ziehen:

  • Aus dem rechten Traditionsmilieu wurden und werden Versuche unternommen, enge Verbindungen zum Offizierskorps der Bundeswehr herzustellen.
  • Vertreter dieses Korps erweisen sich als naiv-konservativ genug, um diesen Herren die Tür zu öffnen.
  • Die oberen Etagen der Bundeswehr sind bemüht, solche Verbindungen nach Möglichkeit zu unterbinden oder zu begrenzen (in diesem Falle gab es Auflagen, gegen die verstoßen wurde), drücken aber bei Vorkommnissen schon mal beide Augen zu.

· Roeder-Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr

Manfred Röder spricht am 24. Januar 1995 an der FüAk zum Thema: „Die Übersiedelung der Rußlanddeutschen in den Raum Königsberg“. Es handelt sich dabei nicht um eine Veranstaltung im Bereich Lehre, sondern um eine Weiterbildungsveranstaltung im Bereich der Stabsoffiziere. Den Beteiligten fallen keinerlei rechtsextreme Tendenzen bei dem Vortragenden auf. Monate später wird per Zufall ein Lehrgangsteilnehmer an der Akademie auf den Vorfall aufmerksam. Er informiert den Chef des Stabes über Roeder. Beratungen im Kreis der Stabsoffiziere enden damit, daß dem Leiter der Akademie bzw. dessen Vorgesetzten nicht gemeldet wird. Über die Sache soll »Gras wachsen«.

Die Befragungen im UA haben sich auch damit beschäftigt, wieso der Vorgang so lange verborgen bleiben konnte. Der Kommandeurder FüAk zeigte sich bestürzt und konnte sich nicht erklären, wieso nicht gemeldet wurde. Dieser Vorgang wird sich in anderen Fällen wiederholen. Wie aber ist es um die geistige Offenheit einer Einrichtung bestellt, wenn Untergebene und Vorgesetzte schweigen, statt sich der Auseinandersetzung zu stellen?

Rühe und die Kommandeure der FüAk haben den Vorfall damit relativiert, daß es sich bei dem Stab nur um den »Hinterhof« der Akademie handele. Im Bereich der Lehre, der international renommiert, kompetent und pluralistisch ausgerichtet sei, hätte dies nicht vorkommen können. Dies mag sein. Der neue Leiter der Akademie präsentiert sich als redegewandter und weltläufiger Mann. Doch die Frage bleibt, wie es kommt, daß Stabsoffiziere, die sich mit Militärgeschichte beschäftigt haben, bei entscheidenden Fragen (der Wehrmacht-Vergangenheit) passen müssen und, daß gerade die aufzurücken scheinen, deren besondere Eigenschaft »besondere Loyalität« zu sein scheint.8

· Die Vorgänge in Altenstadt/Landsberg

Aus Altenstadt, Landsberg und Varel wurde eine ganze Reihe von Vorfällen mit rechtsradikalem Hintergrund bekannt. Zum Teil reichten diese Vorgänge bis Anfang der 90er Jahre zurück. Dies legte die Frage nahe, inwieweit Fallschirmjäger- und Luftlandetruppen besonders anfällig für rechte Einstellungen und Verhaltensmuster sind. Zugleich drängte sich gerade bei diesen Truppenteilen der Verdacht auf, dies könnte mit dem veränderten Auftrag der Truppe zu tun haben: Der Einsatz von Fallschirmjägern und Luftlandeeinheiten steht ja meist am Beginn militärischer Interventionen.

Am 13. Dezember 1994 schrieb der damalige Wehrbeauftragte Alfred Biehle, in Ergänzung seines Jahresberichts, einen Brief an Minister Rühe, in dem er auf Fehlentwicklungen im Traditionsverständnis der Bundeswehr hinwies. „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Soldaten der Bundeswehr – nicht nur in diesen Fällen – völlig unreflektiert Zuflucht in eine überkommene Tradition der früheren Wehrmacht suchen. Biehle hatte u.a. darüber berichtet, daß Rekruten in einem Bataillon Erinnerungsurkunden mit den »Zehn Geboten des Fallschirmjägers« ausgehändigt worden seien und daß in einem Traditionsraum der Unteroffiziere einer Luftlandeeinheit der letzte Wehrmachtsbericht vom 9.Mai 1945 und der letzte Tagesbefehl des Generals Heidrich an seine Fallschirmjäger (“Wir … fühlen uns nicht geschlagen) aushänge. In den »Zehn Geboten« finden sich solch martialischen Sätze wie:

„Für Dich soll die Schlacht Erfüllung sein…. Sei behende wie ein Windhund, so zäh wie Leder, so hart wie Kruppstahl, nur so wirst du die Verkörperung des deutschen Kriegers sein.

Rühe antwortete am 20. Januar 1995, daß die geschilderten Fälle in krasser Weise den Richtlinien zum Traditionsverständnis und dem demokratischen Selbstverständnis der Streitkräfte widersprächen.

Weiter heißt es: „Die in Ihrem Schreiben aufgeführten Fälle sind nicht symptomatisch für die gesamte Bundeswehr. Die Beispiele zeigen aber eine Fehlentwicklung im Bereich der Luftlandeverbände auf. Gegen diese Entwicklung hat der Inspekteur des Heeres Maßnahmen eingeleitet.

Der Minister glaubt das Problem erledigt. 1995 kann Rühe bei der Verabschiedung des Wehrbeauftragten Biehle stolz verkünden: „Gemeinsam mit dem Wehrbauftragten habe ich in den letzten Jahren alles getan, um rechtsextremistisches Gedankengut aus der Bundeswehr fernzuhalten. Dies ist gelungen. Der Minister irrte. Die Rechtsdrift konnte sich fortsetzen. Auch und gerade unter den Fallschirmjägern.

Minister Rühe und die Kommandeure der betreffenden Truppenteile haben im Ausschuß wiederholt betont, daß ihnen die besonderen Probleme der FSchJg bewußt seien.

  • FSchJg verstünden sich als Elitetruppe. Ihr Einsatz verlange nicht nur besonderen Mut, sondern auch absolute Verläßlichkeit untereinander. Dies erkläre den besonderen Korpsgeist in diesen Einheiten;
  • da Fallschirmjäger erstmals im Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden seien, hätten die deutschen FSchJg keine andere Tradition als die der Wehrmacht.

Damit wurde freilich das Problem wieder auf das falsche Gleis geschoben. Als ob es die »strukturellen Anfälligkeiten« nur in diesem Bereich gäbe.

Richtig ist, und dies haben die Untersuchungen des Ausschusses zweifelsfrei ergeben, daß die FSchJg-Truppen ein besonders eigentümliches Verhältnis zur Tradition haben.

  • Die »Zehn Gebote der deutschen Fallschirmjäger« zirkulierten in großem Umfange in den Kasernen.
  • Ein markiges Poster »Klage nicht, kämpfe« mit der Abbildung eines Wehrmacht-Fallschirmspringers war in früheren Jahren äußerst beliebt und klebte an zahlreichen Spinden.
  • CDs und Platten mit verbotenen Wehrmachtsliedern wurden in den Kasinos vertrieben.
  • „Landser-Hefte werden viel gelesen bei uns“, so ein als Zeuge vernommener Rekrut.
  • Die Luftlandeschule beging (wie auch der Bund Deutscher Fallschirmjäger) alljährlich den »Kreta-Tag«. Am 20. Mai, dem Jahrestag des Beginns der wahnwitzigen »Operation Merkur« zur Eroberung der Insel Kreta 1941, bei der 3000 von 8000 beteiligten FSchJg den Tod fanden, wurde der Opfer unter den deutschen Soldaten gedacht und ihr Heldenmut gerühmt. Aufklärung über die unsinnige wie verbrecherische Aktion und über die Folge-Opfer unter der Zivilbevölkerung? Fehlanzeige.

Die abstoßenden Bilder, die der STERN und FOCUS-TV im Dezember 97 zeigten, waren bei Feiern in den Jahren 1991 und 1993 an der Luftlandeschule Altenstadt im Schongau aufgenommen worden. Zwischen 1990 und 1998 gab es in Altenstadt 14 rechtsextremistische Vorfälle, bei denen fast immer eine Gruppe von Unteroffizieren eine »tragende Rolle« spielte. Nachdem die »Entgleisungen« bei diversen Feiern und Saufgelagen ans Tageslicht gekommen waren, fanden die schließlich eingeschalteten staatlichen Behörden bei den Beschuldigten nicht nur reichhaltiges NS-Propagandamaterial, sondern z.T. auch erhebliche Waffenbestände. Es kann angenommen werden, daß diese »informellen Führer« auch auf Rekruten einwirken konnten.

Zuletzt war anläßlich eines Lehrgangs in Altenstadt eine Gruppe auf dem Oktoberfest 1995 von der Theresienwiese zum Hauptbahnhof gezogen, hatte Wehrmachtslieder gegrölt und wiederholt „Jude verrecke“ und „Sieg Heil“ gerufen. Angeführt wurde sie von einem Oberfeldwebel, der auch im STERN abgelichtet war und der bei nahezu allen Vorkommnissen eine Rolle spielte. Die beteiligten Soldaten kamen aus den Truppenstandorten Landsberg, Calw, Saarlouis und Varel. In der Öffentlichkeit wurde bei der Aufdeckung der Ereignisse besonders registriert, daß zu diesem Zeitpunkt drei der beteiligten Soldaten beim Kommando Spezialkräfte in Calw tätig waren. Immerhin: Inzwischen sind alle verstrickten »Kameraden« aus der Bundeswehr entlassen worden.

Bemerkenswert aber auch: Einer von ihnen war ausdrücklich zur »höheren Verwendung« empfohlen worden. Ein ausgezeichnetes Zeugnis wurde auch dem erwähnten Oberfeldwebel von seinen Vorgesetzten ausgestellt. Die von dem damaligen Kommandeur der LLS Altenstadt mitgezeichnete Beurteilung schwelgt in gestanzten Formulierungen: „pflichtbewußter“, „verantwortungsvoller und anstrengungsbereiter Führer“, „stets vorbildlich“, „solides Fachwissen“, „begeisterter Fallschirmjäger“ usw. Der Soldat sei „rege am Zeitgeschehen interessiert. Sein besonderes Interesse gilt der Militärgeschichte.“ Sein Kommandeur, Oberst Quante, aber auch die anderen Vorgesetzten wollen von den rechtsradikalen Obsessionen ihres Zöglings nichts gewußt haben.

Vielleicht hat der Oberst auch mit verhohlener Sympathie weggeschaut. Er präsentiert sich bei den Vernehmungen als schneidiger Offizier alten Schlages. Nach seiner Pensionierung hat er eine neue Betätigung gefunden. Er ist jetzt als Berater des scharf rechtsorientierten „Bundes Freier Bürger“ tätig. Die Frage ist nur allzu berechtigt, welche Signale eine Luftlandeschule an die Soldaten aussendet, die alljährlich einen »Kreta-Appell« abhält, die dem Chef der damaligen FSchJg-Truppe der Wehrmacht, Generaloberst Student, mit einer Gedenktafel unkritisch Reverenz erweist und in der eine Straße nach dem in Griechenland nach 1945 hingerichteten Kriegsverbrecher Bruno Bräuer benannt ist.

Immerhin: Der Nachfolger Quantes, Oberst Friedrich Jeschonnek, hat den Kreta-Tag 1998 abgeschafft („ich halte nichts von Antreteappellen“) und durch Diskusssionen über Hintergründe und Zusammenhänge der fatalen Operation ersetzt. Die Traditionssammlung an der Schule ist überprüft worden. Über die Umbenennung der Straßennamen wird derzeit diskutiert.

Erst in den letzten beiden Jahren wird – so der Eindruck – der allzu krassen, »rechten“ Traditionspflege entgegengetreten. Wie konsequent, wird sich zeigen.

· Frieslandkaserne Varel

Durch zwei Berichte in der BILD-Zeitung am 21.12.1997 und am 4.1.1998 waren Varel und das 3. FSchJgBtl 313 ins Zwielicht geraten. Der Sohn des früheren Ministers Krause hatte über Verstöße gegen die Prinzipien der Inneren Führung und über rechtsradikale Aktionen berichtet. Andere Rekruten konnten diese Vorwürfe nur teilweise bestätigen, meldeten aber zugleich andere Vorkommnisse. Die sofort vom BMVg eingesetzte Riechmann-Kommission kam nach der Befragung von 650 Soldaten Anfang Februar 1998 zu dem Ergebnis, daß durch einige Gruppenführer in erheblichem Umfang gegen vernünftige Grundsätze der Menschenführung verstoßen worden war, die Behauptungen über Rechtsextremismus in dieser Truppe aber nicht belegt werden könnten. (Das Verteidigungsministerium brauchte die Ergebnisse dieser Untersuchung nicht abzuwarten. Am 22.12.1997, drei Tage nach der BILD-Veröffentlichung, erklärte der Pressesprecher des BMVg, Hans-Dieter Wichter: „Das Ergebnis: Auch nachdem rund achtzig Soldaten des Fallschirmjägerbataillons noch am Wochenende intensiv vernommen bzw. angehört wurden, lassen sich die schweren Beschuldigungen von Krause nicht aufrecht erhalten. Stattdessen, so wurde gesagt, wolle sich der Gefreite nur an der Bundeswehr rächen.)

Immerhin wurde eingeräumt, daß sich nicht mehr zweifelsfrei klären lasse, ob bei einer Feier im August 1997 rechtsradikale Musik gespielt worden sei oder nicht.

Die ganze Wahrheit wird nicht mehr ans Tageslicht kommen. Durch die Weihnachtszeit konnten Zeugen erst mit erheblichem zeitlichen Abstand zu den »Enthüllungsberichten« vernommen werden. Eine Truppe von Zeugen mußte vor der Vernehmung antreten! (diese Praxis wurde nach diesem Mißgriff abgestellt). Schließlich: Die Vernehmungsprotokolle machen nicht den Eindruck, daß in allen Fällen besonders tiefschürfend ermittelt wurde.

Die Vorwürfe bezüglich Vandalismus, Schikanen gegen Untergebene und dgl., Verstöße im Bereich der Inneren Führung also, haben sich zum Teil bestätigt; die Beteiligten wurden disziplinar geahndet. Auffallend, daß alle Vorwürfe, die auf Rechtsextremismus hindeuten, von den Befragten der Riechmann-Kommission schnell und pauschal, z.T. ungefragt, dementiert werden („habe nichts Rechtsradikales bemerkt“ usw.). Offensichtlich hat das Klima während des Presserummels im Dezember bei den Soldaten in der Weise gewirkt, daß man meinte, vor allem an diesem (Angriffs-)Punkt dichthalten zu müssen.

Der Eindruck bleibt, daß BMVg und MAD um Bagatellisierung bemüht sind. Dabei sind rechtsradikale Affinitäten beschuldigter Stabsunteroffiziere nur schwer zu übersehen. Bei einem der Unteroffiziere wurde ein Axtstiel mit der Bezeichnung »Zigullenkeule« und Inschriften aufgefunden, die auf rechtsradikale und ausländerfeindliche Gesinnung schließen lassen. Ein Gefreiter berichtete über Bezeichnungen wie »Losungswort: Alpha Hotel« (= Adolf Hitler), »Wolfsschanze« (Führers Hauptquartier), die im betreffenden Bataillon gang und gäbe gewesen seien. Auch soll ein Ausbilder bei Schießübungen mal gesagt haben: „Stell` Dir vor, es wäre ein Jude, dann triffst Du! Solche Dinge, die zeigen, daß Wehrmacht- oder NS-Bezüge im Bundeswehr-Alltag häufig vorkommen dürften, lassen sich schwer nachweisen – und vielen Rekruten wird dabei nichts Besonderes auffallen. Auch in Varel wurde bis 1996 der »Kreta-Tag« begangen.

III. Begriffsklärungen

1. Rechtsextremismus

Bevor man sich einer genaueren Bewertung der Vorgänge nähern kann, sollte geklärt werden, was unter Rechtsextremismus zu verstehen ist. An dieser Stelle kann natürlich kein umfassender Einblick in die aktuelle Forschungslage gegeben werden. Es seien daher nur die Bestimmungsmerkmale „Nationalismus, Autoritarismus, Antipluralismus und die Ideologie der Ungleichheit“ 9 genannt. Backes/Moreau bezeichnen die „Abwehrhaltung gegenüber dem Ethos fundamentaler Menschengleichheit“ als „den Generalnenner aller rechtsextremen Kräfte.“10 In die gleiche Richtung zielt die von Gessenharter/Fröchling vorgenommene Bestimmung, der Kern rechtsextremer Ideologie sei die Bevorzugung des Kollektivs vor dem Individuum. Von da aus führe der Weg zur Ablehnung einer pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaftsverfassung.

Der Verfassungsschutz gibt folgende Definition „Rechtsextremistische Bestrebungen sind von der ideologischen Vorstellung geprägt, daß die ethnische Zugehörigkeit zu einer Nation, Rasse oder Region die größte Bedeutung für das Individuum besitzt. Ihr sind alle anderen Interessen und Werte, auch Menschenrechte, untergeordnet. Diese Weltanschauung lehnt es ab, alle Menschen als grundsätzlich gleich anzusehen, und wertet Minderheiten durch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ab. Rechtsextremisten streben ein politisches System an, in dem als angeblich natürliche Ordnung Staat und Volk als Einheit verschmelzen Volksgemeinschafts«-Ideologie).11

Die Rechtsprechung hat bisweilen zwischen Extremismus und Radikalismus unterschieden und dafür das Unterscheidungsmerkmal »Gewalt« bzw. »Gewaltbereitschaft« bemüht. Das Kriterium mag für strafrechtliche Grenzziehungen relevant sein; in der geistig-politischen Auseinandersetzung hilft es nicht weiter. Schließlich gab und gibt es eine Arbeitsteilung zwischen rechten Schlägertrupps und geistigen Wegbereitern.

2. Neue radikale Rechte

Die Extremismusforscher Gessenharter und Fröchling, aber auch andere, sprechen von einer zweiten Strömung, die sich vor allem in den achtziger Jahren herausgebildet habe: Die Neue Rechte. Sie wird im ideologischen und organisatorischen Zwischen- und Übergangsbereich zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus angesiedelt. Das Markenzeichen dieser neuen radikalen Rechten ist, daß sie in dieser Hinsicht eine Scharnierfunktion ausübt.

Die Neue Rechte wird zum einen als Organisationsgeflecht (Studienzentrum Weikersheim, Zeitschriften criticon, Nation Europa, Junge Freiheit), zum anderen als Akteur einer politisch-kulturellen Implementationsstrategie angesehen.

Die Neue Rechte teilt mit dem Rechtsextremismus die Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat. Als gemeinsame ideologische Wurzel aller Akteure im rechten Lager sind anzusehen: Antiliberalismus, elitäre Ideologie der Ungleichheit, Staatsautoritarismus, Homogenitätsstreben, Freund-Feind-Politikverständnis und völkischer Nationalismus. Die Neue Rechte bezieht sich dabei vorzugsweise auf die Vertreter der sog. »Konservativen Revolution« in der Weimarer Republik (E.J. Jung,. A. Moeller van den Bruck, Carl Schmitt), die ihrerseits geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus waren. Sie ist dabei bemüht, diese Thesen im modernen und moderaten Gewand zu präsentieren.

Auch der Verfassungsschutz mußte sich in jüngerer Zeit dieser Strömung zuwenden. Unter der Rubrik „Intellektualisierung des Rechtsextremismus“ heißt es:

„Die Vertreter des intellektuellen Rechtsextremismus vermeiden es, ihre ideologischen Fernziele deutlich zu nennen und konkret die Forderung nach Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu stellen. Ihre Taktik besteht vielmehr darin, die Grenzen zwischen konservativen Vorstellungen einerseits und extremistischen Ideologieelementen zu verwischen. Als Beispiel dieser „Erosion der Abgrenzung zwischen Demokraten und Extremisten“ wird die Zeitschrift Junge Freiheit genannt.12

Insgesamt bleibt dieser Bereich aber unausgeleuchtet. Warum? In konservativen Publikationen wird bisweilen die Existenz dieser Richtung ganz geleugnet. Dort ist die Rede von einer „ominösen neuen, radikalen Rechten“.13

Von Bedeutung ist die Neue Rechte nicht nur wegen ihrer Funktion, rechtsradikale Auffassungen im konservativen Lager hoffähig zu machen. Sie hat auf die gesamte Rechte beispielgebend gewirkt. Als ihre Spezialität hat sie die Methode der politischen Mimikry ausgebildet: „Die Fähigkeit, in die Offensive zu gehen, muß entwickelt werden und dazu die Fähigkeit, die Situation zu beurteilen, ob hier der offene Angriff oder die politische Mimikry gefordert ist. 14

Auch die Republikaner und andere Organisationen und Vertreter der rechten Publizistik haben es sich angewöhnt, in der Regel Aussagen zu vermeiden, die verfassungs- und strafrechtliche Verfolgungen nach sich ziehen könnten. Beispiel: Ausschwitz wird nicht pauschal geleugnet, aber relativiert.

3. Ideologische Übergänge zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus

Auf die Antifa-Szene ist der Verfassungsschutz nicht gut zu sprechen:

„Unterschiede zwischen Demokraten und Rechtsextremisten werden systematisch ausgeblendet, um Teile des konservativen politischen Spektrums als rechtsextremistisch diffamieren zu können.“ 15

Es soll an dieser Stelle nicht über das Differenzierungs(un)vermögen auf der Linken gesprochen werden. Natürlich muß zwischen konservativen und rechtsradikalen, bzw. rechtsextremistischen Auffassungen klar getrennt werden. Wenn aber der konservativ geprägte Verfassungsschutz nach Unterscheidung ruft, muß der Verdacht aufkommen, daß die Erosion der Abgrenzung zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus weiter tabu bleiben sollen.

Wo sind die Unterschiede, wo die Gemeinsamkeiten?

Die vom BVerfG im Verbot der SRP 1952 entwickelte Formel von der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung – die Bundesrepublik als demokratischer Verfassungsstaat mit dem Kanon der Grundrechte als Kern – ist sicher ein wichtiges Instrument, um zwischen Demokraten und Rechtsextremisten zu unterscheiden. In der Wirklichkeit allerdings sieht es komplizierter aus. Die o.g. Merkmale rechtsradikaler Gesinnung kommen nicht nur in reiner Gestalt vor. Es gibt »Teilidentitäten«. Sind völkisch-nationale Anwandlungen noch verfassungskonform oder nicht?

Zum anderen wird es bei der Bewertung politischer Vorgänge bzw. staatlicher Handlungen immer wieder sehr unterschiedliche Interpretationen geben. Also: Welche Rolle spielen Menschenrechte in der aktuellen Asyl- und Ausländerpolitik in Deutschland? Sind Verschärfungen im Asylbewerberleistungsgesetz oder die Forderung nach der Abschiebung straffällig gewordener Ausländer mit dem Menschenrechtskanon des GG vereinbar oder nicht?

Man erkennt daran, daß die Schwäche solcher, an der Jurisdiktion ausgerichteter Normierungen darin liegt, daß der breite Grauzonenbereich zwischen Rechtskonservatismus und Extremismus nicht ausreichend erfaßt wird.

· Nationalismus

Rechte sehen die Nation als »Abstammungsgemeinschaft«, als eine Entität, die folgerichtig die Angehörigen anderer Völker bzw. Ethnien ausschließt. Die Nation ist so Ergebnis einer quasi-natürlichen Ordnung. Der Stellenwert der Nation mag »rechts von der Mitte« unterschiedlich bewertet werden; gemeinsam ist der feste Glaube, daß der Zusammenhalt der Individuen eines Gemeinwesens nur durch die Nation und starke Nationalstaaten gewährleistet werden kann. Wenn der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU die Nation als „Not- und Schicksalsgemeinschaft“ beschwört, General a.D. Schultze-Rhonhof zur Entwicklung eines deutschen „Solidaritätspatriotismus“ aufruft, geht es immer um das gleiche Thema: Die Nation wird als das Bindemittel angesehen, das die Bevölkerung gerade in Krisenzeiten zusammen halten und soziale Widersprüche vergessen machen soll.

Ein Grundthema des rechten Diskurses in Deutschland ist die Klage darüber, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in der DDR, nach 1945 eine »Büßermentalität« herausgebildet habe, die bis heute das Wiederentstehen eines »normalen« Nationalbewußtseins verhindert habe. Diese unterdrückte deutsche Identität wird zugleich verantwortlich für jene machtpolitische Beschränkung gemacht, die es gerade zu überwinden gelte.

Alle Publikationen auf der Rechten bemühen diese These unaufhörlich. Widerhall haben haben sie bereits in den achtziger Jahren bei konservativen Politikern wie seinerzeit Franz Josef Strauß, bei konservativen Wissenschaftlern und Publizisten wie Hans-Peter Schwarz („Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit“) und Arnulf Baring gefunden. Mit den Umbrüchen 1989/90 hat sich diese Resonanz in die »gesellschaftliche Mitte« ausgedehnt.

Häufig wird dieser Befund mit der »Umerziehung« durch die Alliierten nach 1945 in Verbindung gebracht. Der Haß auf die Re-Education ist Rechtsextremisten und der Neuen Rechten (gegen die »Westbindung« Deutschlands) gemein, wird in abgeschwächter Form aber auch von Rechtskonservativen übernommen (s.u.).

· Fremden- und Ausländerfeindlichkeit

Die Kehrseite dieses Nationalismus ist eine latente bis manifeste Fremdenfeindlichkeit, die sich bis weit in die Reihen der Unionsparteien als Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft zeigt. Die Warnungen eines Edmund Stoiber vor der „durchraßten Gesellschaft“ waren kein einmaliger Ausrutscher, sondern Ausdruck einer geistigen Befindlichkeit eines Teils des konservativen Lagers. Berlins Innensenator Jörg Schönbohm, zuvor Generalleutnant, Inspekteur des Heeres und Staatssekretär auf der Hardthöhe, verlangt von den in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürgern eine Identifizierung mit dem deutschen Staat und „dem deutschen Kulturkreis“. Er warnt vor einer „Fremdkörperbildung“, die die deutsche Lebenswelt und Kultur mehr und mehr zurückdränge.16

Während die Politik der Bundesregierung deklaratorisch um Mäßigung und Toleranz bemüht ist, setzt die praktische Politik auf Abschottung, Abschreckung und Abschiebung. Und gibt damit Stichworte für ganz Rechtsaußen.

· Geschichtsrevisionismus

„Der zeitgeschichtliche Revisionismus blieb ein wichtiges rechtsextremistisches Agitationsthema., stellt der letzte Verfassungsschutzbericht fest. Davon zeugte nicht nur der Sturmlauf gegen die Ausstellung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944«. Die Relativierung der NS-Verbrechen nimmt in allen rechten Publikationen breiten Raum ein, wird in immergleichen Varianten wiederholt. Die Rechtsextremisten und die Neue Rechte spüren, daß sie politisch nur eine Chance haben, wenn sie den Makel der deutschen Vergangenheit vergessen machen können. Aber auch in den militärischen Traditionalistenkreisen ist der Geschichtsrevisionismus von überragender Bedeutung. Davon wird weiter unten noch die Rede sein. Thesen der Revisionisten sind auch im rechtskonservativen Lager kein Tabu. So benutzte der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Norbert Geis, in einer Bundestagsdebatte umstandslos den Terminus „Stalins Vernichtungskrieg“ und griff damit den Titel eines Buches auf, das ein früherer Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes 1995 veröffentlicht hatte. Inhalt: Der von Hitler befohlene Überfall sei nur ein Präventivkrieg gewesen, um dem drohenden Überfall durch Stalins Truppen zuvorzukommen.

· Antiliberalismus

Während die Neonazis unverhohlen ihre Abscheu gegenüber dem demokratischen Verfassungsstaat formulieren, belassen es die Neurechten bei Andeutungen und Verbrämungen. In Veröffentlichungen der REPs (Die Republikaner) findet sich z.B. Invektiven gegen „das Gift des Liberalismus“. Ein Autor der Jungen Freiheit bspw. bemerkt lakonisch, daß der Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar.) eine liebenswerte Floskel sei, der man nicht allzu viel Bedeutung zumessen sollte. Individualrechte und »Wertepluralismus« werden gerne als Produkte einer Schönwetterdemokratie verspottet. Spätestens in Krisenzeiten jedoch müßten die Gemeinschaftswerte, deren Verkörperung v.a. im starken Staat gesehen wird, in den Vordergrund treten.

Auch die Mehrzahl der Konservativen hat einen starken Hang zum Vorrang der Gemeinschaftswerte. Auch sie betont den starken Staat, der, weil er seine Bürger schütze, auch deren Loyalität und Einordnung verlange dürfe. Die Tür nach rechts wird mit der »wehrhaften Demokratie«, die sich im Großen Lauschangriff, im Ausbau polizeilicher Befugnisse und der weiteren Aushöhlung des Grundgesetzes zeigt, weit aufgemacht.

IV. Zwischen Kontinuität und Bruch

In ihrem jüngsten Jahresbericht (1997) schrieb die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Claire Marienfeld (CDU): beobachte ich mit Sorge, daß innerhalb der Bundeswehr gleichwohl die gebotene Distanz zur deutschen Wehrmacht insgesamt, aber auch zu einzelnen Personen aus der deutschen Wehrmacht nicht immer und überall eingehalten wird.“

Sie handelte sich dafür die Schelte des Verteidigungsministers ein. Doch Claire Marienfeld ist eine besonnene Frau, die viel in Kasernen und anderen Einrichtungen der Bundeswehr herumkommt. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie hat ihre Sorge auch konkret belegt und auf bedenkliche Traditionssammlungen in Kasernen hingewiesen. Oft würden Darstellungen der Wehrmachtsgeschichte die angemessene historische Einordnung vermissen lassen. Die Führung der Bundeswehr hat selber ein ungutes Gefühl: Generalinspekteur Bagger bestätigte vor dem Untersuchungsausschuß, daß gegenwärtig diese Traditionsräume einer erneuten Prüfung unterzogen würden.

„Noch kritischer sollen sie unter die Lupe genommen werden, die Traditionsräume und Militarial-Sammlungen, haben Rühe und Bagger erklären lassen; „Unsicherheiten in der Handhabung von Exponaten“ gelte es „auszuräumen“.17

1. Die Anfänge: Persilschein für die Wehrmacht

Das Problem, wie sie mit der Wehrmachtsgeschichte umgehen sollte, beschäftigte die Bundeswehr von Anfang an. Kein Wunder, wurde die Armee doch vor allem mit Wehrmacht-Offizieren aufgebaut. Über 10.000 Offiziere der Wehrmacht, darunter einige hundert Ritterkreuzträger, waren führend beteiligt. Die Integration der alten Offiziere hatte ihren Preis. Die Gründergeneration verlangte, daß sie für ihre eigene militärische Vergangenheit exkulpiert werden sollte. Der spätere Generalinspekteur der Bundeswehr, Heusinger, hatte gegenüber Kanzler Adenauer kategorisch betont, der Wiederaufbau der Streitkräfte sei nicht möglich, wenn das deutsche Volk weiter „geistig entwaffnet würde“. Gemeint war, daß die Politik die Wehrmacht von allen Verdachten freisprechen sollte.

Die USA hatten schon viel früher begonnen, mit Nazi-Offizieren zusammenzuarbeiten. Deren Kenntnisse schienen im beginnenden Kalten Krieg gegen die Sowjetunion nützlich. Und bei der hinter den Kulissen seit 1949 begonnenen Aufstellung deutscher Streitkräfte waren sie ohnehin unverzichtbar.18

In der Himmeroder Denkschrift (1950), die die Re-Militarisierung öffentlich einleitete, forderten die späteren Generale Heusinger, Röttinger, Speidel u.a. eine „Ehrenerklärung für den deutschen Soldaten von seiten der Bundesregierung und der Volksvertretung“. Adenauer ließ sich nicht allzulange bitten. Die Legende von der »sauberen Wehrmacht« war geschaffen.

Auch wurde es den ehemaligen Offizieren (und nicht nur ihnen) leicht gemacht, sich unter dem Vorzeichen des sich entwickelnden Kalten Krieges in den Rahmen der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Westens« einzupassen. Es ging wieder gegen den Erzfeind im Osten – gegen den (»jüdischen«) Bolschewismus. Es galt, die verlorene Schlacht wettzumachen.

Generalinspekteur Bagger hat vor dem Untersuchungsausschuß den Prozeß der Bundeswehr-Aufstellung in rosigem Licht gezeichnet. Schließlich sei mit dem Personalgutachterausschuß, in dem vom Parlament gewählte unabhängige Persönlichkeiten über die Einstellung der neuen Bundeswehr-Offiziere zu entscheiden hatten, ein einzigartiges Kontrollinstrument geschaffen worden. Keine andere Berufsgruppe habe sich solchen Exerzitien unterziehen müssen. Das trifft zu. Wie anders erklärt sich die erstaunliche Kontinuität der Eliten in Wirtschaft, Justiz und Beamtenschaft? Aber wie konnte ein Mann wie Heusinger durchrutschen, der erster Generalinspekteur der Bundeswehr werden durfte, der es bis zum Leiter der Operationsabteilung des Heeres gebracht hatte und in dieser Eigenschaften an der Ausarbeitung der Aggressionspläne der Hitler-Wehrmacht (z.B. Operation Barbarossa) beteiligt war? Richtig ist, daß die Belastung so mancher Offiziere zum Teil erst viel später ans Tageslicht kam. Aber warum? Die Aufarbeitung der Wehrmachtsvergangenheit war eben (zu) lange Zeit tabu.19

Unter den Gründervätern der Bundeswehr waren einige herausragende Personen, wie die Generäle Baudissin und de Maiziere, die einen Bruch mit Traditionen des preußisch-deutschen Militarismus und der Wehrmacht vollziehen wollten. Ihnen verdankt die Bundeswehr die Grundkonzeption der »Inneren Führung« (Staatsbürger in Uniform). Die größere Gruppe der Offiziere aber wollte die alten Traditionen bewahren. Ihr Leitbild vom »Soldaten an sich« sollte durch die Wahrheit über die Wehrmachtsverbren keinen Schaden nehmen. Die Auseinandersetzungen der beiden »Grundrichtungen« begleiten die Geschichte der Bundeswehr. Lange Zeit wurde über das Verhältnis zu den Männern des Widerstandes vom 20. Juli 1944 gestritten, denn wer von der »sauberen Wehrmacht« ausgeht, kann das Attentat auf Hitler nur als Verrat empfinden. Außerdem kollidierte der Widerstand im traditionellen Verständnis mit dem Treue-Eid der Soldaten und dem Befehl-Gehorsam-Prinzip. Ende der 60er Jahre eskalierte der Streit darüber, ob weiter an den Prinzipien der Inneren Führung festgehalten werden solle oder nicht. Die Generale Schnez und Karst wollten zurück zur Pflege des (über-)historischen Soldatentums und zur Eigenständigkeit der militärischen Sphäre. Sie verachteten die Werte und Normen der »Zivilgesellschaft«. Dieser Konflikt beschäftigt die Bundeswehr bis heute. Und immer spielt das Traditionsverständnis der Bundeswehr eine entscheidende Rolle.

2. Die Traditionserlasse 1965 und 1982

Einen ersten Versuch zur Klärung des Traditionsverständnisses wagt der christdemokratische Minister von Hassel in seinem Traditionserlaß von 1965. Die brisanten Fragen bleiben aber ausgespart. Viel ist von Vaterlandsliebe, Gehorsam und Pflichterfüllung, von soldatischer Tüchtigkeit die Rede, jedoch kein Wort über die Wehrmacht. Es finden sich nur Hinweise darauf, daß bei den Beziehungen zu ehemaligen Wehrmachtsverbänden und -soldaten Zurückhaltung geraten sei. Es dauerte siebzehn Jahre, bis der sozialdemokratische Minister Apel 1982 klarstellte: „In den Nationalsozialismus waren Streitkräfte teils schuldhaft verstrickt, teils wurden sie schuldlos mißbraucht. Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen. Auch die Aussage, daß sich alles militärische Tun an den Normen des Rechtsstaates und des Völkerrechts zu orientieren habe, hob sich wohltuend von den moraltriefenden Floskeln des Vorgänger-Erlasses ab.

Punkt 22 der Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr besagt: „Begegnungen im Rahmen der Traditionspflege dürfen nur mit solchen Personen und Verbänden erfolgen, die in ihrer politischen Grundeinstellung den Werten und Zielvorstellungen unserer verfassungsmäßigen Ordnung verpflichtet sind.

Weiter unten werden wir sehen, ob die Praxis mit dieser Festlegung übereinstimmt.

3. Der Streit um die Wehrmachtsausstellung

Im August 1994 verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die Zulässigkeit der Tucholsky-Aussage „Soldaten sind Mörder“. Im Januar 1995 legen Bündnisgrüne und SPD im Bundestag Anträge zur Rehabilitierung und Entschädigung der Wehrmachtdeserteure vor. Beide Ereignisse treffen das Selbstverständnis der rechten Traditionalisten und erhitzen die Gemüter. Zum Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung aber wird die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht« Sie tritt im Sommer 1995 von Frankfurt über München ihre Reise durch die Republik an. Gerade in München macht das rechte Lager mobil. Alt- und Neonazis demonstrieren, die soldatischen Traditionsverbände rufen zu Kundgebungen auf und die CSU protestiert. Der Bundestag sieht sich zu einer Debatte über die Ausstellung veranlaßt, in der Verteidigungsminister Rühe wiederholt, was er auf der Kommandeurstagung im Oktober 1995 in München vorgetragen hatte: „Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen. 20

In einer internen Beurteilung kommt der Führungsstab der Streitkräfte zu dem Urteil, daß die Ausstellung auf Tatsachen beruhe, den historischen Forschungsstand wiedergebe und infolgedessen die Aussagen des Traditionserlasses von 1982 bestätige.

Dennoch scheint der Bundeswehrführung die öffentliche Debatte nicht allzu gelegen zu kommen. Nach anfänglicher Offenheit (Soldatengruppen besichtigen in Uniform die Ausstellung in Frankfurt), tritt die Hardthöhe auf die Bremse. Über Hintergründe kann nur spekuliert werden. Vielleicht hat die Regierung rechtem Druck nachgegeben, vielleicht hat sich auch bei ihr die von rechts lancierte Auffassung durchgesetzt, die »pauschale« Kritik an der Wehrmacht zersetze am Ende auch die Wehrbereitschaft der Bundeswehr-Soldaten.

Ein anderer Grund für dieses Ausweichen könnte sein, damit der Zerrissenheit im konservativen Lager begegnen zu wollen. Denn die Auseinandersetzungen um die Ausstellung und mehr noch um die Rehabilitierung der Wehrmachtdeserteure haben deutliche Differenzierungen gezeigt. Während ein Teil der Unionsabgeordneten einer Rehabilitierung der Deserteure und »Wehrkraftzersetzer« zustimmt, andere „unter Bedenken“ zustimmen, lehnt eine beträchtliche Zahl einen solchen Schritt auch 52 Jahre nach Kriegsende ab. Darunter die Staatssekretäre im Verteidigungsministerium, Wilz und Rose (CDU) und der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Rossmanith (CSU). Wilz erklärt dazu u.a.: „Darüberhinaus bin ich von der Sorge erfüllt, daß die Entschließung … für die Zukunft nicht ohne negative Auswirkungen für unsere Streitkräfte bleiben könnte.“ 21

4. Traditionspflege heute:

Nach der Vorlage des erwähnten Jahresberichts der Wehrbeauftragten und der Einsetzung des Unterausschusses setzte auf der Hardthöhe, aber auch in den Garnisonen, Betriebsamkeit in Sachen Traditionsverständnis ein. Nachsteuern hieß die Defensive.

Generalinspekteur Bagger mußte vor dem Untersuchungsausschuß einräumen, daß bei einigen Einheiten der Traditionserlaß von 1982 nicht bekannt oder nicht mehr auffindbar war.22

Er unternahm in seinem Statement den Versuch, das aktuelle Traditionsverständnis der Bundeswehr zu umreißen:

  • Soldatenpflichten hätten ihren sittlichen Wert erst durch die Ausrichtung an den Zielen „Frieden, Freiheit, Recht und Menschenwürde“;
  • als Konsequenz aus der deutschen Geschichte könne es keine ungebrochene deutsche militärische Tradition geben;
  • Kernpunkte des Traditionsverständnisses bildeten:
  1. die preußischen Reformer
  2. der militärische Widerstand gegen die NS-Diktatur
  3. wertebezogene soldatische Tugenden
  4. die Innere Führung
  5. die Tradition des Schützens, Rettens, Helfens
  6. die Gründerväter (Baudissin, de Maiziere, Heusinger).

Es gebe keinen Anlaß, eine Verbindung zwischen Traditionsverständnis, geistiger Orientierung der Streitkräfte und rechtsextremistischen Vorfällen herzustellen, betonte Bagger.

Es kann vermutet werden, daß Rühe, Bagger und andere »aufgeklärte« Konservative die Traditionspflege in den Streitkräften tatsächlich modernisieren wollen. Ihr Ziel ist es, die Bundeswehr als eine »normale«, interventionsfähige Armee innerhalb von NATO und WEU zu etablieren. Nach diesem Kalkül sollte die Bundeswehr verstärkt auf ihre eigene, über vierzigjährige Geschichte und auf die Erfahrungen der NATO-Verbündeten setzen. Die Wehrmacht-Vergangenheit wird in erster Linie als Ballast empfunden, der aktuelle militärische Optionen einschränke. Allzu rigoros will man bei der Modernisierung aber nicht vorgehen. Die Kritik soll nach Möglichkeit nicht auf den preußisch-deutschen Militarismus ausgeweitet werden. Damit bleibt weitgehend unerklärt, wieso die Wehrmacht sich nahezu reibungslos in Hitlers Regime einpassen ließ.

Die Formel, daß die Wehrmacht von einem verbrecherischen Regime mißbraucht worden sei, öffnet darüber hinaus den Weg, ausschließlich der Politik den Schwarzen Peter zuzuschieben. Umso leichter kann dann das Hohe Lied soldatischer Tugenden wie Treue, Tapferkeit, Pflichterfüllung und Kameradschaft gesungen werden; Tugenden, die auch „in früheren deutschen Armeen von vielen vorbildlich vorgelebt worden“ seien. (H. Bagger, ebd.)

Ein konsequenter Bruch mit Militarismus und Wehrmachttradition steht also nicht an. Dies auch deshalb nicht, weil die »Modernisierer« nicht im Traum daran denken, das Bündnis mit den alten und neuen Traditionalisten aufzukündigen. Diese Beziehungen sollen weiter gepflegt werden. „Wir müssen auch den Alten Herren eine Heimat geben“ 23 wird ein Offizier zitiert. Allerdings wird auf Mäßigung gedrängt. Brigadegeneral Christian Millotat hat die dazu passende Formel geprägt: „Die Bundeswehr darf sich nicht dazu bringen lassen, die Wehrmacht pauschal zu verdammen. Frühere Wehrmachtsangehörige dürfen aber auch die Bundeswehr nicht für ihre Zwecke instrumentalisieren.“ Und weiter: „Es wäre tragisch, wenn Angehörige der früheren Wehrmacht, die der Bundeswehr positiv gegenüberstehen, als falsche Freunde der Armee apostrophiert würden. Geschähe dies, würden die heutigen Soldaten wichtiger historischer Wurzeln beraubt. 24

Welche Wurzeln die Bundeswehr weiter pflegen möchte, dokumentieren die Namen ihrer Kasernen. Von ca. 500 Kasernen sind 37 nach »Helden« der Wehrmacht und 40 nach »Helden« wilhelminischer Eroberungen und Kriege benannt. Die Namensliste reicht von Kaiser Wilhelm, über dessen Kolonialoffizier Lettow-Vorbeck, über den Nazi-Heimatdichter Walter Flex bis zum Jagdflieger in Diensten der Legion Condor, Werner Mölders. Hinzu kommen zweifelhafte, an alte Revanchepolitik erinnernde Bezeichnungen (Ostmark, Pommern) Gerade 11 Kasernen sind nach den Männern des Widerstandes benannt.

Es bedurfte erheblichen öffentlichen Drucks, bis die nach den Nazi-Größen Dietl und Kübler benannten Kasernen im Oktober 1995 den Namen wechselten. Das BMVg setzte diese Änderung gegen erheblichen und andauernden lokalen Widerstand durch.

Brigadegeneral Millotat stellte im erwähnten Beitrag fest: „Wenn jetzt Verstrickungen enthüllt werden, die bei den Kasernenbenennungen den Verantwortlichen nicht bekannt waren, können Bundeswehrkasernen nicht länger den Namen solcher Offiziere tragen. Man darf gespannt sein, ob jetzt beispielsweise die Umbenennung der Mackensen-Kaserne ins Auge gefasst wird. Mackensen war es, der bis zuletzt an Hitler festhielt und die Verschwörung des 20. Juli als „fluchwürdiges Attentat“ 25 bezeichnete. Der Bundestag beschloß am 24.4.1998, daß Kasernen nicht nach Angehörigen der Legion Condor benannt werden sollten. Noch immer gibt es zwei Kasernen, die nach dem Jagdflieger Werner Mölders benannt sind, der von Hitler für seine Abschüsse in Spanien ausgezeichnet wurde.

Am 18. Dezember 1997 berichtete das Fernsehmagazin Monitor, daß auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne Biwak- und Gefechtsplätze nach Orten benannt seien, die in den ehemaligen deutschen Ostgebieten – vorwiegend dem ehemaligen Ostpreußen – lägen. Die Bundesregierung bestätigte den Sachverhalt (32 Biwakplätze/Versorgungspunkte) und ergänzte, dies sei auch an anderen Orten der Fall.26 Anlaß zu Änderungen sieht die Regierung nicht. Die Namensgebung diene der Erinnerung an die „verlorene Heimat“. Sie fände ihre Entsprechung auch darin, daß viele Straßen und Plätze nach ehemals deutschen Städten und Landschaften benannt seien. Dieser Begründung könnte man sich gegebenenfalls ohne Arg annähern – wäre da nicht die besondere, westdeutsche Vergangenheit: Erst mit den Ostverträgen in den 70er Jahren hat sich die BRD zur Anerkennung der Nachkriegsrealitäten verpflichtet. Noch immer gibt es im rechten Lager und bei den Vertriebenenverbänden starke Strömungen, die einer Revanchepolitik nicht gänzlich abgeschworen haben. In diesem Kontext bleiben solche Benennungen mehr als problematisch.

V. Bundeswehr und rechter Rand

1. Die soldatischen Traditionsverbände

Die in der Bundesrepublik existierenden Traditionsverbände der Wehrmacht bzw. andere soldatische Traditionsverbände sind zahlreich, nicht gerade einflußlos und scheuen das Licht der Öffentlichkeit. In Berichten der Bundesregierung sind sie nie Thema, auch nicht in den einschlägigen Berichten des Verfassungsschutzes. Auch die Wehrbeauftragten-Berichte geben darüber keine Auskunft. Ab und zu bewegt ein kleinerer Skandal die Republik: Wenn die Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger bei der Bundeswehr in Hammelburg zu Gast ist oder wenn die Bundeswehr die Teilnahme an einer Veranstaltung einer Wehrmachtseinheit absagen muß.

Eine Untersuchung dieser Verbände über deren ideologisch-politische Ausrichtung, über deren mögliche rechtsextreme Durchsetzung und deren offene Zusammenarbeit mit rechtsextremen Organisationen, Denkfabriken und Zeitungen steht noch aus. In der Beantwortung diverser parlamentarischer Anfragen hat die Bundesregierung rechtsextremistische Tendenzen in diesen Traditionsverbänden bestritten oder dargelegt, daß man nichts Näheres wisse.

Im folgenden kann daher nur der Versuch gemacht werden, Material zu den Traditionsverbänden zusammenzutragen. Es soll auch aufgezeigt werden, daß es intensivere Verbindungen zur Bundeswehr gibt, als die Bundesregierung bis dato zugibt.

Die HIAG

Der»Bundesverband der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS e.V. – Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit (HIAG)« hatte bis in die siebziger Jahre hinein erheblichen Einfluß im Netzwerk der Soldaten- und Traditionsverbände, aber auch in die Parteien hinein. Erst in den achtziger Jahren beendeten CDU-Bundestagsabgeordnete ihre Mitarbeit, die SPD fällte einen Unvereinbarkeitsbeschluß. Die HIAG löste sich Ende 1992 auf; ihre Zeitung »Der Freiwillige«, die 1992 noch eine Auflage von 8000 Exemplaren hatte und im einschlägig bekannten rechtsextremen Munin-Verlag erscheint, wird aber bis heute herausgegeben.27

Im Zentrum dieser Zeitschrift stand und steht „die Bagatellisierung der NS-Gewaltverbrechen, die Hervorhebung von 'positiven Seiten des Nationalsozialismus' unter Hitler, die Gleichsetzung der Waffen-SS mit der Wehrmacht sowie die Aufrechnungstheorie (Bombardierung Dresdens, sowjetischer Partisanenkrieg, stalinistischer Massenterror, türkische Armenierverfolgung…). Gerne wurde die Behauptung aufgestellt, die Waffen-SS sei die erste europäische Truppeneinheit im Kampf gegen den Bolschewismus gewesen. 28

Der Kyffhäuserbund

Über den Kyffhäuserbundlesenwir in Bernd Wagners »Handbuch Rechtsextremismus«:

„1945 wurde der Kyffhäuserbund wegen seiner NS-Belastung verboten. Die Wiedergründung des Kyffhäuserbundes in der Bundesrepublik Deutschland erfolgte 1951 unter der Leitung des Generals a.D. Wilhelm Reinhard, Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP und SS-Obergruppenführer. (…) Am 20. Oktober veranstaltete der Bund am Kyffhäuser-Denkmal bei Bad Frankenhausenen einen ,Vereinigungsappell`, an dem ca. 2000 Mitglieder zum Teil in Uniformen und mit Fahnen sowie Orden und Ehrenzeichen des Ersten und Zweiten Weltkrieges teilnahmen“.29

Über die Programmatik urteilt das von Jens Mecklenburg herausgegebene „Handbuch deutscher Rechtsextremismus“:

„Unter seinem historischen Wahlspruch ,Treu Deutsch` betreibt der Kyffhäuserbund die Pflege militaristischer Traditionen und propagiert einen großdeutschen Nationalismus. Der Zweite Weltkrieg wird als notwendige Verteidigung des Vaterlandes gegen den Bolschewismus gerechtfertigt (…) Der Bund spielt noch immer eine beachtliche Rolle bei der unkritischen Pflege soldatischer Traditionen.“ 30

Die Ordensgemeinschaft

der Ritterkreuzträger

In der Bundeswehr dienten 674 Ritterkreuzträger der Wehrmacht, von denen 117 in Generalsränge aufstiegen. Die OdR ist eher eine kleine Elite-Organisation unter den Traditionsverbänden; ihre Mitglieder haben aber gerade deshalb ein hohes Ansehen bei konservativen Politikern und Angehörigen der Bundeswehr genossen. Es ist daher auch nicht zufällig, daß die Bundeswehr bei allen bis herigen Bundestreffen der OdR vertreten war. Kennzeichnend für die OdR ist die unkritische Verherrlichung soldatischer Tugenden und die Leugnung bzw. Relativierung deutscher Kriegsschuld. Die OdR gibt die Zeitschrift „Das Ritterkreuz“ heraus.31

Der Stahlhelm e.V. – Kampfbund für Europa

Dieser Kampfbund ist eine rein neofaschistische Organisation. Er verfügt über einige hundert Mitglieder, hat mehrere Landesverbände und zahlreiche lokale Gruppen. Seine Jugendorganisation ist der Jungstahlhelm (17-21 Jahre) und das Jugendkorps Scharnhorst (10- 16 Jahre). Außerdem verfügt der Stahlhelm über eine Frauengruppe, den Stahlhelm-Frauenbund Königin-Luise. Die Zeitung des Stahlhelm e.V. ist „Der Frontsoldat“. Der Stahlhelm, der 1918/19 gegründet wurde, lehnte sich nach Spaltung stark an die neofaschistische DVU an. Über seine Programmatik schreibt das Handbuch deutscher Rechtsextremismus:

„Der Stahlhelm verherrlicht in nationalistischer und militaristischer Art und Weise die deutsche Geschichte, leugnet die deutsche Schuld am Ersten und Zweiten Weltkrieg und fordert die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1939. Neben einer starken antisemitischen Agitation wird vehement der Holocaust geleugnet“ 32

1992 führt der niedersächsische VS-Bericht den Stahlhelm e.V. als verfassungswidrige Organisation.

Die Arbeitsgemeinschaft für Kameradenwerke und Traditionsverbände e.V.

Die ARGE ist nicht nach Landesverbänden organisiert, sondern ist ein Dachverband der einzelnen Kameradenwerke und Traditionsverbände.

Bundesvorsitzender ist Hans-Jörg Kimmich, stellv. Bundesvorsitzender Dr. Fritz Scheunemann (1996 Gründungsmitglied von Bündnis Deutschland), Beisitzer u.a.: Wolfgang van Helden, Generalmajor a.D. und Prof. Dr. Hornung, Heinz Schauwecker.33

In einem Informationsblatt schreibt die ARGE zu ihren Zielen und Aufgaben: „Die Soldaten der Kriegsgeneration sind geprägt durch die besonderen Herausforderungen einer schweren Zeit, die sie zu bestehen hatten und sie zu Kampf- und Notgemeinschaften zusammenschweißte. Deren Angehörige waren – und sind oft noch heute – durch ein starkes Band der Kameradschaft verbunden. Unsere Kameraden in Mitteldeutschland waren bis vor kurzem ausgeschlossen und zum Schweigen verurteilt (…). Abgesehen von dem persönlichen Verlangen nach Kameradschaft ist es gerade jetzt wichtig, daß die Männer der Kriegsgeneration nicht verstummen:

Zum einen deshalb, weil erneut versucht wird, die geschichtliche Wahrheit der damaligen Zeit zu verdrängen und den Weg, die Leistung und das Leiden einer Generation zu verzerren. Kaum jemand weiß noch oder spricht darüber, daß es die Wehrmacht war, die Westeuropa vor der Roten Armee und der Diktatur des Kommunismus bewahrt hat. Entgegen mancher Verleumdung hat sie nicht nur tapfer, sondern auch anständig gekämpft.

Zum anderen eröffnen sich seit den Veränderungen in Osteuropa Möglichkeiten und Aufgaben, die gerade die alten Soldaten ergreifen müssen, solange sie noch leben, z.B. die Hilfe bei der Suche nach Kriegsgräbern und die Treffen mit ehemaligen Gegnern dort, wo einst gekämpft wurde. (…)“ (Informationsblatt der ARGE ohne Datum – vermutlich 1996)

Die Arbeitsgemeinschaft gibt die Zeitschrift Alte Kameraden heraus, die seit Mai 1997 in Kameraden umbenannt worden ist. Begründet wurde dieser Schritt damit, daß 52 Jahre nach Kriegsende „nicht nur die jüngsten Soldaten der Wehrmacht 70 Jahre und älter“ sind; „auch die Gründungsjahrgänge der Bundeswehr und die folgenden sind mittlerweile aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. So besteht entsprechend auch die Leserschaft unserer Zeitschrift mittlerweile zu großen Teilen bereits aus Veteranen, Reservisten und aktiven Soldaten der Bundeswehr und des österreichischen Bundesheeres. (…) Ihre Interessen und ihre Ehre in einer soldatenfeindlichen Zeit zu wahren, bleibt nach wie vor das Anliegen dieser ältesten deutschen Soldatenzeitschrift“ 34

Redakteur der Zeitschrift ist mittlerweile Albrecht Jebens, zwischen 1982 und 1997 Geschäftsführer des Studienzentrums Weikersheim(!). Jebens ist auch als Autor in rechtsextremen Zeitungen (Junge Freiheit, Junges Forum, Europa etc.) in Erscheinung getreten. Der Zeitschrift soll mit diesem Schritt ein eher neurechter Zuschnitt verpaßt werden; dies ist auch teilweise gelungen. In zunehmendem Maße finden sich auch hier Autoren aus der Jungen Freiheit.

Neben einem allgemeinen Teil findet sich die Rubrik Aus der Bundeswehr, in der vor allem Artikel aus Zeitschriften wie Europäische Sicherheit, Soldat und Technik etc. nachgedruckt werden.

Eine weitere Rubrik: Soldaten schreiben für Soldaten, in der die Frontkämpfererlebnisse der alten NS-Wehrmachtssoldaten ausgebreitet und in aller Regel verherrlicht werden. Teilweise werden sogar Originalberichte aus alten NS-Wehrmachts-Zeitungen nachgedruckt, wie z.B. aus Die Kriegsmarine.35 In der Rubrik Aus den Kameradenwerken wird die heutige Traditionsarbeit beschrieben. Die Rubrik Blick in neue Bücher bietet Besprechung und Empfehlung vornehmlich rechtsextremer, geschichtsrevisionistischer und kriegsverherrlichender Publikationen. So Topitschs Stalins Krieg, Walter Posts Unternehmen Barbarossa, Schustereits Gutachten zum Buch Heer, Lachenmaiers Zeitgeschichte wider den Zeitgeist oder Adolph Auffenberg-Komarows Die besten Soldaten der Welt aus dem berüchtigten FZ-Verlag des DVU-Chefs Dr. Gerhard Frey.

Daß die Arbeitsgemeinschaft weit rechts steht, haben ihre Aktivitäten – parallel zu den Bemühungen des gesamten rechtsextremen Spektrums und der rechtskonservativen Kräfte – gegen die Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945“ gezeigt. Unter der Überschrift „Die Wehrmacht – eine Verbrecherorganisation?“ schaltete die ARGE eine Anzeigenkampagne, u.a. in der Jungen Freiheit.

In dem Text der Anzeige wird die „Anti-Wehrmachtsausstellung“ als „Kern einer ideologischen Kampagne“ bezeichnet, „die allen ehemaligen und heutigen Soldaten gilt. Sie verleumdet eine ganze Generation, ist historisch unhaltbar, pauschalierend und extrem einseitig. Sie schmäht die überlebenden und gefallenen Soldaten und hetzt die junge Generation gegen die alte auf. Weiter heißt es: „Von den ungeheuren Opfern und Leistungen der deutschen Soldaten, die im guten Glauben für ihr Land kämpften und fielen, ist nicht die Rede. Hätte die Wehrmacht „die Rote Armee nicht aufgehalten, so wäre Europa kommunistisch“.36

In den Kameraden schreibt Albrecht Jebens: „Welch abartige Wanderung im Reich der Wiedergänger! Reemtsma, Heer und Goldhagen wollen das schaffen, was kein Stalin und kein Nürnberger Siegertribunal fertiggebracht haben; sie wollen aus unserer Geschichte ein einziges Verbrecheralbum, aus unserem Volk ein Volk von Mördern machen.“ 37 .

Ein Herbert Müller darf die „ungedienten Nachkriegsnaseweise“ beschimpfen und zur Wehrmacht schreiben: „Dieser stillschweigende Pakt zwischen Volk und Soldaten – dessen Gültigkeit durchaus ins Mystische, Irrationale zurückreichen mag – ist deshalb von einem ehernen Tabu umgeben, das aus vielerlei Gründen nicht gebrochen werden darf.“ 38

In Kameraden 5/97 setzt sich Ex-General Franz Uhle-Wettler für den Nazi-Kriegsverbrecher SS-Hauptsturmführer Erich Priebke ein. Er wirbt um Verständnis für die Geisel-Erschießungen der SS und wirft u.a. die Frage auf, ob man von einer Armee verlangen kann, sich an herkömmliche Regeln zu halten, wenn der gegenüberstehende Gegner diese Regeln nicht mehr einhält. „Der Fall Priebke ist Beispiel für eine Moral, die das Maß verloren hat. Damit wird sie unmenschlich“ 39

Wohlwollend könnte man sagen: Die Zeitschrift Alte Kameraden/Kameraden ist über weite Strecken weder neonazistisch noch rechtsextremistisch. Sie huldigt allerdings einem dumpfen Landser-Militarismus, der dem Rechtsradikalismus geistesverwandt ist – und sie kennt keinerlei Grenzen nach rechts. Im Gegenteil: Mit der Auswahl ihrer Autoren, mit der Häufung geschichtsrevisionistischer Themen und der unkritischen Empfehlung vorwiegend rechtsradikaler Bücher, werden Trennlinien zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus weitgehend verwischt.

Der Verband deutscher Soldaten e.V. und der Ring Deutscher Soldatenverbände

Der Verband deutscher Soldaten (VdS) wurde im September 1951 in Bonn von 50 Vertretern verschiedener Soldatenbünde gegründet. Die wichtigsten Vereinigungen, die sich hier zusammenschlossen, waren: Deutscher Soldatenbund, Schutzbund ehemaliger deutscher Soldaten, Bund ehemaliger deutscher Fallschirmjäger, Verband deutsches Afrikakorps, Organisationen der Kraftfahrtruppen, Traditionsgemeinschaft Großdeutschland und Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten; hinzu kamen Vertreter der Waffen-SS. 1954 schloß sich der Kyffhäuserbund an, der aber seine Selbständigkeit weiterhin behielt.40

1962 schloß sich dem VdS der Bundesverband der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS an. Der VdS verfügt gegenwärtig über ca. 80.000 Mitglieder und ist in einzelne Landesverbände gegliedert. Sein Publikationsorgan ist Soldat im Volk. Seit 1987 ist der ehemalige Bundeswehr-Generalmajor Dr. Jürgen Schreiber Bundesvorsitzender.

Mit dem Ziel der weiteren Vereinheitlichung der Verbände wurde 1957 der Ring Deutscher Soldatenverbände (RDS) gegründet.41 Als weiterer Schritt in diese Richtung erfolgte die gemeinsame Herausgabe von Soldat im Volk (SiV).

Beide Verbände sind in ihrer Zusammensetzung und in ihrer publizistischen Tätigkeit in begrenztem Maße rechtspluralistisch. Sie können daher nur bedingt als rechtsextrem bezeichnet werden. Aber wieder ist auffallend, daß die Affinitäten zu geschichtsrevisionistischen und rechtsextremen Orientierungen beträchtlich sind – und daß offen mit Personen und Organisationen des deutschen Neofaschismus zusammengearbeitet wird.42 Die Glorifizierung soldatischer Ritterlichkeit und Tapferkeit, das Herausstreichen ihrer Ergebenheit gegenüber dem Vaterland, ihrer Treue, Gehorsam und Pflichterfüllung soll den Mitgliedern verdrängen helfen, Teil eines verbrecherischen Vernichtungskriegs gewesen zu sein. Auch in Soldat im Volk dürfen die rechtsextremen Themen „Kriegsschuldlüge“ und „Umerziehung“ ausgebreitet werden. Eifernder Haß schlägt immer wieder dem sogenannten „Zeitgeist“ entgegen, worunter man vor allem pazifistische, antifaschistische und demokratische Grundeinstellungen versteht.

Der Bundesvorsitzende des Verbandes deutscher Soldaten, Generalmajor a.D. Jürgen Schreiber ist als Autor der Zeitung Der Schlesier und als Verfasser von Waren wir Täter? Gegen die Volksverdummung in unserer Zeit (Türmer Verlag) und Nicht Auschwitz, aber Stalingrad und Dresden bekannt. In einem Referat „300 Jahre Traditionspflege deutscher Streitkräfte 1648 bis 1945“ im November 1997 vor der „Arbeitsgemeinschaft der Reservisten-, Soldaten- und Traditionsverbände in Bayern“, das in Auszügen in SiV 3/98 nachgedruckt ist, hat Schreiber seine Sicht der Wehrmacht im Dritten Reich zusammengefaßt. Die Ziele und Vorstellungen, die Hitler am 3. Februar 1933 den Generälen und Admiralen vorgetragen habe – Wiedergewinnung politischer Macht, Ablehnung des Pazifismus, Gegnerschaft zum Marxismus, Bekämpfung der Bestimmungen des Versailler Vertrages, Förderung des Wehrwillens, Aufbau einer starken Wehrmacht, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und Festlegung einer überparteilichen Rolle der Wehrmacht sowie der „Regelung“ der innenpolitischen Auseinandersetzungen durch die NS-Organisationen – hätte die überwiegend konservative Generalität durchaus mittragen können.

„Viele ausländische und deutsche Politiker und Historiker haben bis heute den Versailler Vertrag als Grundübel bezeichnet, das weitgehend für die negative politische Entwicklung und der Welt verantwortlich war. Wie kann man es dann deutschen Generalen und Admiralen verübeln, wenn sie 1933 die Bekämpfung jenes unseligen Vertrages erfreut zur Kenntnis nahmen?“ 43 Schreiber weiter: „Sicher bedeutete die Vereidigung der Wehrmacht auf Adolf Hitler, als Hindenburg 1934 gestorben war, einen Einschnitt in der geistigmoralischen Entwicklung. Und doch muß man feststellen, daß es in der Wehrmacht einen eigentlichen NS-Geist zumindest bist 1944 nicht gegeben hat. Man kann durchaus nicht alles aus der damaligen Zeit als schlechthin traditionsunwürdig bezeichnen! 44

Auch VDS/RDS und Soldat im Volk haben in den letzten zwei Jahren eine zentrale Aufgabe darin gesehen, gegen die Wehrmachtsausstellung anzukämpfen.

Im SiV wird ein Aufruf von Generalmajor a.D. Dr. Eberhard Wagemann, „im Einvernehmen mit den Vorständen von VdS und RDS“ abgedruckt, in dem beklagt wird, daß die „Mehrzahl der deutschen Historiker der Nachkriegsgeneration“ den Einsatz der Wehrmacht im Osten als „einen Vernichtungskrieg gegen die Russen“ ansähen. Dem wird gegenübergestellt:

„Wir überlebenden Teilnehmer am Krieg gegen den Bolschewismus haben einen anderen Krieg erlebt. Wir fühlten uns als Befreier vom Stalinismus und wurden von der Bevölkerung auch so empfangenUnser Kampf war ein europäischer Krieg gegen den menschenverachtenden Bolschewismus! 45

2. Die Zusammenarbeit zwischen den Traditionsverbänden und der Bundeswehr

Was die Kooperation mit den Traditionsverbänden angeht, zeigt sich die Bundeswehrführung offiziell zurückhaltend. Zumindest sollen diese Beziehungen nicht an die große Glocke gehängt werden. In Bonn reagiert man ergo immer dann, wenn solche Begegnungen den Ruf der Bundeswehr zu schädigen drohen. Erst als sich eine kritische Öffentlichkeit an der Präsenz der Bundeswehr bei den Treffen der Ritterkreuzträger störte, hat man das Engagement etwas reduziert. Eine Teilnahme an einem Jubiläumstreffen der 97. Jägerdivision in Füssen wurde im vergangenen Jahr, nachdem die sensibler gewordenen Medien darüber berichtet hatten, kurzerhand abgesagt. Die Bundeswehrführung hat sich dafür die harsche Kritik der Traditionsverbände eingehandelt.46

Doch ihr Verhalten bleibt weiterhin doppelbödig. Während man sich „oben“ zumindest zurückhaltend zeigt, sieht die Wirklichkeit „an der Basis“ anders aus. Die Beziehungen zwischen Bundeswehr- und Traditionsverbänden der Wehrmacht sind zahlreich und vielfältig. Patenschaften zwischen vergleichbaren Verbänden, die auch die Gestaltung von Traditionsräumen umfaßt, sind an der Tagesordnung. Für die Alten Kameraden öffnen örtliche Kommandeure gerne die Pforten. Dort finden dann Kameradschaftsabende, Adventsfeiern, aber auch schon mal Schießwettbewerbe, statt. Zum vollständigen Bild gehört freilich auch, daß die Traditionsverbände von für sie negativen Erfahrungen berichten. Es gibt offensichtlich auch Kommandeure, Truppenführer etc., die der gewünschten Traditionspflege zurückhaltend bis ablehnend begegnen.

Kontakte gibt es aber nicht nur an der Basis. Soldat im Volk 3/98 berichtet unter der Überschrift „Gespräch im Bundeskanzleramt“ über ein Zusammentreffen des Kanzleramtsministers mit dem VdS-Bundesvorsitzenden Jürgen Schreiber: „Kanzleramtsminister Friedrich Bohl hatte den Bundesvorsitzenden des VdS am 26. Januar 1997 zu einem Gespräch gebeten. Anlaß waren Verärgerung und Unmut der kriegsgedienten Soldaten über die Haltung von Öffentlichkeit und Regierung ihnen gegenüber, die der Bundesvorsitzende mit einem Brief an den Bundeskanzler vorgebracht hatte. (…) Bundesminister Bohl, Mitglied des Kyffhäuserbundes, brachte zum Ausdruck, daß sowohl der Bundeskanzler als auch er selbst Gegner jeglicher Pauschalierung wären, daß sie vor den Leistungen der Kriegsteilnehmer großen Respekt hätten, die Diffamierungen nicht unterstützten und dies auch in vielen Reden betont hätten“.47

Von einer klaren Abgrenzung zu den rechtsextrem durchsetzten Traditionsverbänden sind Bundesregierung und Bundeswehr-Führung weit entfernt. Die Frage ist erlaubt, wie es die Bundeswehr mit den geschichtsrevisionistischen und rechtsextremen Positionen hält, die in diesen Verbänden gang und gäbe sind. Werden sie nur geduldet oder gar geteilt?

In den Zeitschriften Kameraden und Soldat im Volk wird regelmäßig über Kooperationen zwischen Bundeswehr, Reservistenverbänden, Burschenschaften und Traditionsverbänden berichtet. Eine lange Liste ließe sich aufstellen. Diese Berichte lesen sich zum Beispiel so:

l<~>Am 28.3.98 hält der Landesverband des VdS-Ba.-Wü. eine Delegiertenversammlung ab. „Eine Gedenkfeier für die gefallenen Kameraden findet um 17.30 Uhr in der Ehrenhalle statt. Vorträge von Dr. Jebens, Chefredakteur der Zeitschrift 'Kameraden' und Hfw d.R. Kaiser, Mitglied im Bundesvorstand, und Teilnehmer an Auslandseinsätzen der Bundeswehr runden das Programm ab“ (SiV 3/98, S. 69).

l<~>Am 13.12.97 trafen sich die Mitglieder des KV Speyer des VdS zur Weihnachtsfeier im Speisesaal der Kurpfalzkaserne; anwesend waren mehrere offizielle Vertreter der Bundeswehr, so z.B. der Standortälteste und der frühere Kommandeur des Pionierbataillons 330. In dem Bericht über die Weihnachtsversammlung heißt es: „In seiner Gedenkansprache verurteilte der Ehrenvorsitzende die Anti-Wehrmachtsausstellung dieser vaterlandslosen Gesellen und die damit verbundene Hetze gegen unsere gefallenen Kameraden und gegen die Wehrmacht“ (SiV 2/98, S. 44).

l<~>Kameradschaft 76. InfDiv e.V.: „Bundeswehr: Wir waren beim PzGrenBtl 421 anläßlich unserer Divisionstreffen zweimal zu Gast und werden auch in diesem Jahr dort sein. Im Kasernenbereich steht ein Denkmal des Infanterie-Regiments 68, an dem auch unser taktisches Zeichen, die Grenadiermütze, angebracht ist zur Erinnerung an Füsilierregiment 230. Wir danken OTL Retzer ganz herzlich für die bewiesene Verbundenheit mit unserer Kameradschaft. (Kameraden 5/97, S 32)

l<~>Die Teilnehmer des Divisionstreffens des Kameradenhilfswerks 25 e.V. 25. Inf- und PzGrenDivision begingen zusammen mit jungen Soldaten und Repräsentanten der Bundeswehr den Volkstrauertag am 17.11.96. „In der Panzertruppenschule Munsterlager wurde der Kranz der Division im Ehrenhain der gepanzerten Einheiten der Wehrmacht niedergelegt. Unser Traditionsraum dort besteht weiterhin in seiner eindrucksvollen Ausgestaltung“. (AK 12/96, S. 26).

l<~>Der Vorstand der Kameradschaft 76. InfDiv e.GV. schreibt als Rückblick und Ausblick Ende 1996: „… In Potsdam-Brandenburg und Brück hatten wir ein erlebnisreiches Divisionstreffen bei der Bundeswehr. … Nicht nur der Brigadekommandeur Oberst Gräbner, sondern auch der ehemalige Kommandierende General des IV. Korps, Generalleutnant aD von Schewen, der die schwierige Aufgabe des Aufbaus der Bundeswehr in den neuen Ländern und die Auflösung der NVA unter teilweiser Übernahme von Offizieren und Unteroffizieren glänzend bewältigt hat, gaben uns die Ehre; letzterer verteidigte in seiner Ansprache u.a. engagiert die Wehrmacht gegen die Verleumdungen, wie sie insbesondere von dem Pseudehistoriker und Erzkommunisten Hannes Heer mit seinem Buch und der berüchtigten Wanderausstellung verbreitet werden. (AK 12/96, S. 28).

l<~>Für den Kameradendienst der ehem. 329. (Hammer-)InfDiv schreibt Franz-Josef Pape: „Liebe Kameraden! Ein Jahr geht zu Ende, das uns alten 329ern ein großes Geschenk gebracht hat, das jemals zu erreichen, wir die Hoffnung schon aufgegeben hatten. Durch glückliche Umstände haben wir in dem jahrelang ergebnislos verfolgten Streben, in Anlehnung an eine Bundeswehreinheit Halt und Stütze zu erfahren, bei der Bewahrung unserer auf das Erlebnis unverbrüchlichen Kameradschaft in Krieg und Nachkriegszeit gestützten Tradition im Februar 1996 die I. Inspektion der Heeresunteroffizierschule Münster mit ihrem Chef, dem tatkräftigen Oberstleutnant Reinhold Becker, gewonnen. Über diese glückliche Fügung und die Früchte dieses verheißungsvoll begonnenen Patenschaftsverhältnisses können wir nur große Dankbarkeit empfinden“ (AK 12/96, S. 38).

3. Die alten und die neuen Traditionalisten

Daß der bundesrepublikanische Rüstungs- und Militärapparat strukturell konservativ ist, ist eine Binsenweisheit. Daß unter den verschiedenen Abteilungen der „military community“ (Traditionsverbände, Reservistenvereinigungen, Wehrpublizistik etc.) ein harter rechter Kern dominierend ist, macht die Sache gefährlich. Dies wird besonders daran deutlich, daß in diesen Strukturen des Rüstungslobbyismus ehemalige Bundeswehroffiziere weitgehend den Ton angeben. In den letzten Jahren machten mehr und mehr Offiziere von sich reden, die ihre Pensionierung dazu nutzten, sich als politisch rechtsstehend zu „outen“. So die Brüder Generalleutnant a.D. Franz und General a.D. Reinhard Uhle-Wettler, die sich in den neunziger Jahren in rechten Zeitschriften wie der Jungen Freiheit, Nation Europa, Alte Kameraden usw. häufig zu Wort meldeten.48

Für Schlagzeilen sorgte auch General Schultze-Rhonhof, der noch zu Dienstzeiten das Bundesverfassungsgericht wegen seines „Soldaten sind Mörder“-Urteils mit dem Volksgerichtshof der Nazis verglich. Inzwischen hat der pensionierte General seine Auffassungen zu Papier gebracht.49 Auch Schultze-Rhonhof singt das Hohe Lied ewiger soldatischer Tugenden. „Dennoch war die Wehrmacht trotz aller ihrer Verstrickungen auch Übermittler von Werten, Tugenden und Berufseigentümlichkeiten aus 300 Jahren deutscher Militärgeschichte an die Bundeswehr.

Sein besonderes Augenmerk aber legt der schriftstellernde General darauf, nachvollziehbar zu machen, warum das deutsche Volk „seinem Führer“ so lange und bis in den Untergang gefolgt sei. Die Weißwäscherformel damals wie heute lautet: Man müsse die Fehlentwicklungen „aus der Zeit heraus verstehen“ (Versailles, Massenarbeitslosigkeit, usw.). Daß die Mehrzahl der Bevölkerung und der Soldaten bis zum Ende des Krieges nichts vom Vernichtungsfeldzug gegen die Juden gewußt haben will, gehört zu den auch vom Ex-General kolportierten Rechtfertigungsschablonen.

Insoweit bedient Schultze-Rhonhof nur die gängigen Klischees rechter Geschichtsrevisionisten. Aber seine Besessenheit zur Entsorgung deutscher Geschichte reicht weiter.

Einen großdeutschen Expansionismus hat es angeblich nie gegeben:

„So waren die Bestrebungen, ab 1884 Kolonien zu erwerben und den Nahen Osten durch Eisenbahnbau zu erschließen, eher der Versuch, die Ernährungs- und Erwerbsgrundlage der stark angewachsenen Bevölkerung zu sichern, als das Unterfangen, Großmacht zu spielen. 50

l<~>Die Reichswehr wird zur demokratischen Armee geadelt:

„Es wird oft berichtet, daß die Offiziere der Reichswehr ein gestörtes Verhältnis zur Weimarer Republik entwickelt hätten. Aber es würde kaum registriert, daß die Reichswehr bei allen Putschversuchen von rechts und links treu zur Reichsregierung gestanden habe.51

l<~>Daß Hitler mit seinem Aufrüstungsauftrag vom 1.1.1934 (Aufstockung des Heeres von 10 auf 36 Divisionen) kriegerische Pläne gehabt habe, sei nicht erkennbar gewesen.

„Die 36 Divisionen entsprachen einem Bedürfnis der Bevölkerung nach Verteidigungsfähigkeit. Sie ließen zunächst nicht auf die Vorbereitung eines großen Krieges schließen.

„Das entsprach einem Mindestbedarf zu einer eventuellen Verteidigung des Reichsgebietes und ließ noch nicht auf Hitlers Angriffsabsichten schließen. 52

Aufschlußreich sind auch die Ausführungen Schultze-Rhonhofs zum Soldateneid. General von Seydlitz, der in russischer Gefangenschaft dem Nationalkomitee Freies Deutschland beitrat und Generalmajor Oster, der die deutschen Angriffspläne auf Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande an den niederländischen Militärattache weitergab, sind für ihn Verräter, die sich an Wehrmacht, Volk und Vaterland vergangen haben. Zwar sei dieser Verrat von edlen Motiven getragen gewesen, aber der Verstoß gegen den Treueeid sei unentschuldbar. „Volk und Vaterland zu dienen ist die zeitlose und niemals erlöschende Grundpflicht eines jeden Offiziers.53

„Die Opposition gegen Hitler auf einen Kampf gegen die eigene Armee auszudehnen, gab dem Eidbruch jedoch eine besondere Qualität. … Diesen Verrat halte ich für schändlich“ 54

Die Auseinandersetzung um die Wehrmacht ist für Schultze-Rhonhof nur Teil des „Kulturkampfes Links gegen Rechts, der unser Land seit Jahren bewegt“.55 Der Linken ginge es um die Abtrennung der Bundeswehr von ihren Wurzeln, ihrer Verbindung zu Heimat, Volk und Land. Der völkisch-nationalistische Grundton des Generals ist nicht zu überhören.

Wo der General a.D. politisch steht, wird auch in seinen gesellschaftspolitischen Überlegungen deutlich. Alle Themen der angesprochenen neurechten Ideologie werden bedient.

l<~>Familie und Nation als Ausfluß einer natürlichen Ordnung;

l<~>die Einhegung des Wertepluralismus („Der Wertepluralismus, den uns das Grundgesetz eröffnet, ist ein liebenswerter Zustand, mit dem sich in Zeiten kräftig wachsenden Bruttosozialprodukts herrlich leben läßt.) durch eine verstärkte Bindung der Bürger an gemeinschaftsbezogene Werte. („Die 68er Bewegung hat, was Gemeinsinn und Bindung an das Gemeinwesen Staat betrifft, ein Trümmerfeld hinterlassen….“ 56);

l<~>die Pflicht zum Dienen: „Ein Grund für diese Schwierigkeiten liegt möglicherweise in unserem Grundgesetz. Es garantiert den Bürgern – je nach Zählung – 21 verschiedene Individualrechte und erlegt ihnen nur dreimal eine Pflicht auf, die Wehrpflicht, die Pflicht zur Kindererziehung und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Der Schutz des Bürgers und seine Rechte, nicht seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, sind das Leitthema unserer Verfassung. 57 Das Grundgesetz, als Reaktion auf die NS-Zeit, habe das Pendel zum anderen Extrem auschlagen lassen. „Es ist die Aufgabe unserer Zeit, das Pendel von diesem anderen Extrem in die Mitte zurückschwingen zu lassen und es dort anzuhalten. Individualrechte und Gemeinschaftsrechte und die ihnen zugrundliegenden Wertvorstellungen müssen wieder in die Balance kommen.… Die sogenannten Grundwerte bilden eine zu schmale Basis an Werten, als daß sie unser Gemeinwesen tragen und beleben könnten.“

Die Bundesregierung hat sich auf parlamentarische Anfrage vor Schultze-Rhonhof gestellt. Er stehe auf dem Boden des Grundgesetzes. Die Frage ist nur: Steht Schultze-Rhonhof am rechten Rande des demokratischen Verfassungskonsenses oder am gemäßigten Rand der radikalen Rechten?

Daß es nicht nur um ausgemusterte Generale geht, machen Einlassungen von Generalmajor Jürgen Reichardt deutlich, der als Chef des Heeresamtes maßgeblichen Einfluß auf die Schulen des Heeres nimmt.Er ist u.a. durch eine Rede aufgefallen, in der er den besonderen Geist der deutschen Fallschirmjägertruppe im Zweiten Weltkrieg geradezu mystisch verklärte: „Der kriegerische Geist, der Korpsgeist, der Geist der Ritterlichkeit.

Dieser Geist befähigte deutsche Fallschirmjäger im Kriege zu Leistungen, die anderen als Beispiele dienten, die vielen als unmöglich galten… Es ist ein Geist, der seine tiefen Wurzeln in unserer deutschen Militärgeschichte, in unserer abendländischen Kultur und in unserer christlichen Ethik hat.“ Die Wehrmacht-Fallschirmjäger hätten sich für ihren Kampf „unsterblichen Ruhm“ erworben.58

In jüngster Zeit machte Reichardt Schlagzeilen, weil er glaubte, sich schützend vor die Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger (s.o.) stellen zu müssen. In einem Vortrag am Vorabend des Volkstrauertages 1997, der in der Zeitschrift der OdR „Das Ritterkreuz“, Dezember 1997, nachzulesen ist, schwelgt Reichardt: „Wer – in welcher Situation auch immer – anständig zu bleiben wußte, Treue zeigte, wo ein anderes Verhalten auch nicht zum Schaden gereicht hätte, und Tapferkeit, wo Feigheit vielleicht sicherer gewesen wäre, der dient uns auch heute noch als Vorbild und genießt unseren Respekt. 59 Man kann sich danach gut vorstellen, wie dieser General Volk, Vaterland und Führer gedient hätte – treu und tapfer bis in den Tod. Kriegsbilder längst vergangener Tage werden heraufbeschworen, wenn er „die herausragende militärische Einzeltat“ rühmt. Daß Reichardt kein gutes Haar an der Wehrmachtsaussstellung läßt und stattdessen ihre Kritiker als „hervorragende Fachleute“ ansieht, versteht sich.

Reichardt war es auch, der an die Heeresschulen die Schrift eines OTL Hartmann a.D. verteilen ließ, die das Soldatentum in Reichswehr, Wehrmacht und Waffen-SS in apologetischer Weise zeichnet.

Reichardt hört Ende des Jahres auf. Die ultrakonservativen Traditionalisten wirken in der Bundeswehr weiter. Es genügt dabei nicht, nur nach rechtsaußen zu schauen. Nach aller Erfahrung ist Vorsicht schon bei der Ausbreitung der „Militär sui generis“-Konzeption geboten. Wie bereits erwähnt, hat sich in diesem Zusammenhang der Untersuchungsausschuß – wenn auch ungenügend – mit der Frage beschäftigt, ob der reaktionäre Traditionalismus mit dem veränderten Auftrag der Bundeswehr Auftrieb bekommen könne.

Belege für einen Rechtstrend finden sich in der Militärpublizistik zuhauf. Die geistige Wende, die die Umorientierung der Bundeswehr auf Kriegseinsätze 1990 bis 1994 begleitete, haben der frühere Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, Dr. Detlef Bald, und der frühere Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Dr. Wolfram Wette aus dem Studium der BMVg-Publikationen verfolgt.

Bald trug vor dem Ausschuß vor, der klassische Satz, der bisher die Mission der Bundeswehr beschrieb, „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“, sei dem Satz „Kämpfen können und kämpfen wollen“ gewichen. An der gleichen Fundstelle, auf die sich Bald bezog, findet sich die Aussage: Die Zivilisierungsmöglichkeiten einer Armee, die kriegstüchtig werden wolle, seien begrenzt. Rühe und Bagger beschwichtigten an dieser Stelle. Es habe Übergangsprobleme gegeben, die aber inzwischen überwunden seien. Die Auslandseinsätze führten mitnichten zu einer „Mystifizierung“ des Soldaten, zur Kultivierung militärischer Besonderheiten.

Doch äußerste Skepsis ist angebracht. Auch in jüngster Zeit hat es Alarmzeichen gegeben. Brigadegeneral Christian Millotat, demnächst Direktor im Bereich Lehre an der Führungsakademie, legt eine Arbeit über „Das preußisch-deutsche Generalsstabssystem“ vor, in der sich die folgenden Sätze finden:

„Die »großen Chefs« Moltke und Schlieffen entwickelten den Generalstab zu hoher Vollkommenheit. In ihrer Nachfolge wahrten Seeckt, Beck und Halder das Erbe. Der Typus des Führergehilfen wurde von ihnen selbst verkörpert. Sie können in diesem Sinne noch heute als Vorbild dienen. Millotat bezieht sich natürlich „nur“ auf die Arbeitsweise und Strukturen des preußisch-deutschen Militärapparats. Aber ist es nicht genau dieser „technokratische“ Blick, der militärische Effizienz von den politischen Zielen und Inhalten ablöst, der dem revisionistischen Traditionsverständnis die Tür öffnet?

Eindeutiger hat sich vor der Bundesakademie für Sicherheitspolitik ein ehemaliger Offizier und Militärberater geäußert.60 Eine politische Korrektur im Verhältnis Bundeswehr-Gesellschaft sei fällig, heißt es dort. „Nicht mehr Integration in die Gesellschaft ist gefragt, sondern mehr Emanzipation. Hierbei wird man auch um die soldatischen Leistungen früherer Generationen keinen Umweg machen können.

Besonders lassen Passagen aufmerken, in denen von den künftigen Kriegen, an denen die Bundeswehr beteiligt sein könnte, die Rede ist. Den deutschen Soldaten werde auf den neuen Schauplätzen Feinden (z.B. islamischen Fundamentalisten) begegnen, die nicht an unseren Wertvorstellungen orientiert seien. Daraus könne sich ein Zielkonflikt zwischen Moral (Wertekanon der Bundeswehr) und militärischer Effizienz ergeben. „Das neue Leitbild vom Soldaten als Helfer und Kämpfer wird wenig zur Lösung solcher Konflikte beitragen können.

Solche Thesen waren schon zuvor, in größerer Deutlichkeit, in der Zeitschrift „Truppenpraxis“ zu lesen. Deutsche Soldaten müßten auch auf die „brutalen kleinen Kriege gegen die kleinen bösen Männer“ vorbereitet werden.61

Bis heute hat sich die Bundesregierung nicht von diesen Einlassungen distanziert. Und der Politikberater Holger Mey wird weiterhin großzügig aus den Töpfen des BMVg bedacht. Militärkritische Forschung geht derweilen leer aus.

4. Netzwerke?

BMVg und MAD sind der Auffassung, daß sich bei der Bundeswehr keine rechtsradikalen Netzwerke bzw. Subkulturen gebildet hätten. Der Untersuchungsausschuß konnte das Gegenteil nicht beweisen. Dabei ist der Blick aber nur auf die militante Neonazi- und Skinheadszene gerichtet.Was aber ist mit den subtileren Netzwerken, in denen sich die angesprochenen ideologischen Übergänge zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus manifestieren? Konservative Politiker/Publizisten schreiben in rechtsextremen Blättern und vice versa. Auch in militärbezogenen Strukturen und Öffentlichkeiten sind vielfältige Verflechtungen erkennbar.62 Diesen Kontext aufzuhellen, dürfte eine wichtige und reizvolle Forschungsaufgabe sein. An dieser Stelle müssen zwei Hinweise genügen.

Die Reservisten werden von der Bundeswehr als entscheidender Faktor der Mobilisierungs- und Aufwuchsfähigkeit angesehen. Dementsprechend wird der Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehre.V. mit knapp 27 Mio. DM großzügig aus dem Etat des BMVg alimentiert. 1997 mit 44 Mio. DM. Der Zustandsbericht 1997 enthält eine Tabelle über die Verbindungen und Kontakte des Verbandes. Mit Abstand führt die Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik (die die Zeitschrift Europäische Sicherheit herausgibt) mit 310 Kontakten. Auf den nächsten Rängen folgen mit großem Vorsprung vor allem soldatische Traditionsverbände: Deutscher Marinebund (168), Kyffhäuser-Bund (154), Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (113), Bayrischer Soldatenbund 1874 (96), Verband Deutscher Soldaten (92) usw.

Seit 1995 erscheint im Verlag Medien-Marketing-Team GmbH die Deutsche Militärzeitschrift. Die Bücherliste des Verlages enthält neben den genreüblichen Waffen- und Kriegsgeschichten u.a.: Die Autobiographie des Nazi-Fliegergenerals H.-U. Rudel, Ernst Jüngers In Stahlgewittern und Werner Masers Revisionen der deutschen Kriegsschuld. Der Verlag betreibt außerdem einen Handel mit NS-Devotionalien. So wurde unter anderem der Vertrieb einer Telefonkarte „Leibstandarde Adolf Hitler“ angekündigt. Die Zeitschrift will sich an die Erlebnisgeneration des II.Weltkrieges, an die Soldaten und Reservisten der Bundeswehr und an zeitgeschichtlich Interessierte wenden. Dieser „Brückenschlag zwischen den Generationen“ ist in der Tat Programm. Offenkundig geht es darum, die Beschränkung der hergebrachten Traditionszeitschriften (s.o.) zu überwinden und die Verbindungslinien zwischen alten und neuen Traditionalisten enger zu knüpfen. Zu den Autoren der DMZ gehören unter anderem General a.D. Schultze-Rhonhof, der sächsische Justizminister Steffen Heitmann (CDU) und der bekannte Journalist Rolf Clement, der auch häufiger in den Zeitschriften des BMVg zu finden ist.

Diesem Grundmuster begegnen wir allenthalben. Scharfe Abgrenzungen nach rechts scheinen in einem Teil des konservativen Lagers verpönt. Auch die Bundesregierung zeigt sich in dieser Hinsicht äußerst tolerant. Nur ein Beispiel von vielen: Der Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen ist gleichzeitig in rechtsextremen Vereinigungen führend tätig, unter anderem in der auch in Verfassungsschutzberichten erwähnten Gesellschaft für freie Publizistik. Die Bundesregierung dazu auf Anfrage: „Für die Förderungswürdigkeit des Bundes der Vertriebenen ist es nicht entscheidend, ob eines seiner Vorstandsmitglieder auch in einer anderen Organisation oder in einer Partei ein Amt hat. Vielmehr kommt es dabei auf die Bewertung der gesamten Arbeit des Verbandes an. 63 Auch auf die Frage, ob dieser Herr weiterhin Mitglied im Beirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen beim Bundesministerium des Innern sein könne, antwortet die Regierung ausweichend.

Im konservativen Lager wird gerne darauf verwiesen, daß man den rechten Rand zur Mitte hin integrieren müsse. Doch wenn dabei die nötige Trennschärfe verloren geht, bleibt unter dem Strich die gesteigerte Akzeptanz für rechtsradikale Auffassungen.64 Auch die stille Hoffnung, daß man den rechten Rand für eigene Zwecke instrumentalisieren (z.B. bei der Bekämpfung der Linken), im Endeffekt aber domestizieren könne, hat sich schon einmal als verhängnisvoller Irrtum erwiesen. Die deutschen Konservativen scheinen nur bedingt lernfähig.

Gewaltbereite, rechtsextremistische Jugendliche stellen nicht das Problem der Bundeswehr dar. Die Bundeswehrführung ist inzwischen auch darauf bedacht, solche »Desperados« von der Truppe fernzuhalten. Das Problem ist die Gemengelage zwischen besonderer Militärkultur, dem verstärkten Traditionalismus in der ohnehin rechtslastigen Truppe und den zum Bund drängenden rechtsorientierten Jugendlichen. Die Öffentlichkeit muß die Augen offen halten – und dabei die »normale« Bundeswehr kritisch ins Visier nehmen.

Wie sich die Bilder gleichen

Hans v. Scotti schreibt in Kameraden:

„Kein Volk verträgt es, jahrzehntelang immer nur an den dunkelsten Seiten seiner Geschichte gemessen zu werden, kein Soldat nach ehrbarer Pflichterfüllung die ständige Diffamierung. Das zur Zeit in unserem Land inszenierte Klima der Selbstzerfleischung wirkt international abstoßend, die würdelose Haltung verachtend. Werte der deutschen Geschichte wie Vaterlandsliebe, Eintreten für den Nächsten, moralische Sauberkeit und Ehrgefühl waren im Krieg 14/18 und in den Streitkräften nach 1939 von prägendem Gewicht, es waren keine Sekundärtugenden wie heute formuliert. Die umerzogene Bevölkerung, ihre Führung und Gerichtsbarkeit sind ohne klare Vorstellung von einem naturgegebenen Traditionsverständnis“. (Kameraden 5/97, S. 20).

Kapitän zur See und Referatsleiter im Führungsstab der Marine des Bundesministeriums der Verteidigung, Dieter Stockfisch, veröffentlicht in der Zeitschrift Soldat und Technik einen Artikel, in dem es heißt: „Wer die Geschichte eines Volkes kriminalisiert, macht es krank. Kein Volk verträgt es, wenn es nur an den dunklen Seiten seiner Geschichte gemessen wird. Stockfisch bejammert: „Auch die erfolgreiche Umerziehung (Reeducation) der Alliierten nach 1945 mit dem Ziel, den Deutschen alles Militärische und Soldatische gründlich auszutreiben, wirkt noch nach. Damals schrieb Ernst Jünger: _Die fremden Sieger und die einheimischen Rhetoren drängen vereint zum Tribunal'“.

Übrigens: Der Artikel wird mit freundlicher Genehmigung in der Zeitschrift Alte Kameraden (AK 12/96, S. 8-9) nachgedruckt.

Beliebte Buchtitel bei den Wehrmachttraditionalisten

Erich Schwinge, Bundeswehr und Wehrmacht (SiV 10/97, 11/97, 12/97, 1/98, 2/98, 3/98)

Erich Schwinge, Wehrmachtsgerichtsbarkeit eine Terrorjustiz? (SiV 10/97, 11/97, 12/97, 1/98, 2/98, 3/98)

Deutsches Soldatenjahrbuch 1997-45. Deutscher Soldatenkalender. Das Geleitwort schrieb Generalmajor der Waffen-SS a.D. Heinz Harmel (SiV 3/98)

Alliierte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (SiV 3/98)

Alfred M. de Zayas, Die Wehrmachts-Untersuchungsstelle (SiV 3/98)

Rüdiger Proske, Wider den Mißbrauch der Geschichte deutscher Soldaten zu politischen Zwecken (SiV 10/97, 11/97, 12/97, 1/98 und 3/98)

Rüdiger Proske, Vom Marsch durch die Institutionen zum Krieg gegen die Wehrmacht (SiV 10/97, 11/97, 12/97, 1/98 und 3/98)

„Er war unser Chef“ (Video-Interview mit verbliebenen Zeitzeugen aus Hitlers Stab) (SiV 2/98)

Prof. Franz W. Seidler (Hrsg.), Verbrechen an der Wehrmacht (SiV 1/98)

David Irving, Goebbels – Macht und Magie (SiV 1/98)

Heinz Magenheimer, Die Militärstrategie Deutschlands 1940-1945 (SiV 11/97)

Stimmen gegen die psychose nationaler Selbstgeißelung. Drei Generationen äußern sich zur Diffamierungskampagne der Anti-Wehrmachts-Ausstellung (SiV 11/97)

Werner Symanek, Vernichtungskrieg – Ein propagandistischer Feldzug (SiV 10/97)

Klaus Motschmann (Hg.), Abschied vom Abendland? (SiV 10/97).

Anmerkungen

1) Prof. Dr. Wolfgang Gessenharter und Dr. Helmut Fröchling sind Dozenten an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Sie trugen ihre Thesen als Statement vor dem Untersuchungsausschuß vor. Zurück

2) s. Arwed U. Bonnemann/Ulrike Hofmann-Broll: Studierende und Politik: Wo stehen die Studierenden der Bundeswehruniversitäten. In: S+F, Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden. Heft 3, 1997, S. 145 ff. Zurück

3) siehe dazu: Arbeitskreis Darmstädter Signal: Bundeswehr und Rechtsradikalismus. Analyse, Bewertung und Maßnahmen zur Bekämpfung. Februar 1998. Zurück

4) s. Detlef Bald, Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik. Baden-Baden 1994. Zurück

5) siehe u.a. Wolfram Wette, Der Krieg des kleinen Mannes, München 1992. Zurück

6) Ernst O. Czempiel, in: FAZ, Sonntagszeitung, 29.3.1998. Zurück

7) Werner Kaltefleiter, in: Die Welt vom 6.8.1997. Zurück

8) s. dazu: Interview mit Wolfgang Vogt, Augen auf statt »Rechts um«, in W&F, 1/98, S. 52ff, aber auch Elmar Schmähling, Ohne Glanz und Gloria: Die Bundeswehr – Bilanz einer neurotischen Armee, Düsseldorf 1991. Zurück

9) Wolfgang Gessenharter/Helmut Fröchling, Neue Rechte und Rechtsextremismus in Deutschland. In: Jens Mecklenburg (Hrsg.), Handbuch deutscher Rechtsextremismus, Berlin 1996, S. 550. Zurück

10) U. Backes; P. Moreau, Die extreme Rechte in Deutschland, München 1993, S. 4. Zurück

11) VS-Bericht 1995, S.16/17. Zurück

12) Verfassungsschutzbericht 1997, S. 116. Dies hindert den CDU-Politiker H. Lummer nicht daran, die Bundesregierung besorgt anzufragen, ob es Beschränkungen für den Vertrieb der Jungen Freiheit in der Bundeswehr gebe. Siehe Bundestagsdrucksache 13/10398, S.18. Zurück

13) Michael Inacker, Bundeswehr-Streit als Symbol für Kulturkampf, in: Die Welt v. 26.4.1998. Zurück

14) K. Weißmann: Neo-Konservatismus in der Bundesrepublik? Eine Bestandsaufnahme. In: Criticon, 96 (1986), S. 179. Zurück

15) ebd. S. 55. Zurück

16) Jörg Schönbohm, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (1/1997), zit. nach: Hajo Funke, Der Marsch der neuen Rechten durch die Institutionen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/98, S. 175. Zurück

17) bundeswehr aktuell vom 2.2.1998, S. 7. Zurück

18) s.zu diesem Abschnitt: Wolfram Wette, Bilder der Wehrmacht in der Bundeswehr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/98, S. 186 ff.; Detlef Bald, Militär und Gesellschaft 1945-1990, Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden 1994; Bettina Gaus, Kampf um demokratischen Geist, in: Die tageszeitung, 17./18.1. 1998. Zurück

19) In jüngster Zeit: Gerd R. Ueberschär, Hitlers militärische Elite, Darmstadt 1998. Zurück

20) 163. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13.3.1997. Zurück

21) 175. Sitzung des Deutschen Bundestages, 15.5.1997. Zurück

22) s. Süddeutsche Zeitung vom 23.4.1998. Zurück

23) s. Süddeutsche Zeitung vom 25.4.1998. Zurück

24) Christian Millotat, Wo steht die Bundeswehr? in: Europäische Sicherheit 4/98, S.15. Zurück

25) s. Jakob Knab, Falsche Glorie. Das Traditionsverständnis der Bundeswehr, Berlin 1995. Siehe auch: Detlef Bald/Andreas Prüfert (Hrsg.) Vom Krieg zur Militärreform. Baden-Baden, 1997. Oder: Ulrich Sander, Szenen einer Nähe. Vom großen Rechts-Um bei der Bundeswehr. Köln 1998. Zurück

26) Deutscher Bundestag, Drucksache 13/10370. Zurück

27) vgl. Jens Mecklenburg (Hrsg.), Handbuch deutscher Rechtsextremismus, a.a.O., S. 336/337). Zurück

28) Bernd Wagner (Hrsg.), Handbuch Rechtsextremismus, Hamburg 1994, S. 63. Zurück

29) ebd., S. 64. Zurück

30) a.a.O., S. 338/339. Zurück

31) s.auch Bundestagsdrucksache 13/9354, Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke (PDS). Zurück

32) Jens Mecklenburg, a.a.O., S. 341. Zurück

33) Prof. Hornung ist bekannt als Autor im MUT-Verlag, in der Jungen Freiheit, in criticon und Nation Europa; engagiert im Neu-Rechten Studienzentrum Weikersheim. Zurück

34) Kameraden 5/97, S. 1. Zurück

35) Alte Kameraden 3/97, S. 20-21. Zurück

36) Junge Freiheit 13/97, 21.3.97, S. 18. Zurück

37) Kameraden 5/97. Zurück

38) ebd. Zurück

39) Kameraden 5/97, S. 11-13 Zurück

40) siehe Kurt Hirsch, Rechts von der Union, München 1989, S. 245 ff. Zurück

41) vgl. Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik, Opladen 1989, S. 129. Zurück

42) So schreibt in SiV 3/98 der REP-Funktionär Björn Clemens, auch Autor in der Jungen Freiheit und den Burschenschaftlichen Blättern: Die Wehrmachtsausstellung sei Teil einer Kampagne gegen die Bundeswehr. „Vielmehr muß man in Rechnung stellen, daß die Bundeswehr ein Ort ist, an dem gemeinschaftsbezogene Werte, Begriffe wie Pflicht- und Verantwortungsbewußtsein, Kameradschaft und Patriotismus, also all das, was Linke und Liberalisten hassen wie der Teufel das Weihwasser, einen festen Platz haben. Vielleicht ist die Bundeswehr der letzte Ort, an dem diese Werte gepflegt werden Zurück

43) SiV 3/98, S. 63. Zurück

44) ebd. Zurück

45) SiV 2/98, S. 46. Zurück

46) So in SiV 12/98 Generalleutnant a.D. Dr. Franz Uhle-Wettler, und der Bundesvorsitzende des VdS, Dr. Jürgen Schreiber. Die Brüskierung der Ritterkreuzträger schätzt Jürgen Schreiber als persönliches Zurückweichen des Ministers Rühe vor dem Druck „linker und extremlinker Gruppen“ ein (SiV 12/97, S. 295-97). Zurück

47) SiV 3/98, S. 65. Zurück

48) s. Stern vom 5.3.1998, S. 196-197. Zurück

49) Gerd Schultze-Rhonhof, Wozu noch tapfer sein? Gräfelfing 1997. Zurück

50) ebd., S. 161. Zurück

51) ebd. S. 199. Zurück

52) ebd. S. 199. Welche Blüten der Geschichtsrevisionismus des Generals treibt, zeigt seine Version des deutschen Einmarsches in Wien 1936. Nachdem er über die deutsch-österreichische Geschichte eingehender räsoniert hat, stellt er lapidar fest: Zurück

„Die Angliederung Österreichs im Jahre 1938 wäre zu ihrer Zeit also mit der deutschen Wiedervereinigung 1989 vergleichbar gewesen. Vgl. zu diesem Abschnitt: Manfred Messerschmidt, Vorwärtsverteidigung. Die „Denkschrift der Generäle“ für den Nürnberger Gerichtshof, in: Hannes Heer, Klaus Naumann (Hrsg.) Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995.

53) ebd., S. 244. Zurück

54) ebd., S. 240. Zurück

55) Gerd Schultze-Rhonhof, Die Wehrmacht und der Kulturkampf, in: Die Welt, 30.03.1998 Zurück

56) ebd., S. 275. Zurück

57) ebd., S. 281. Zurück

58) WELT am Sonntag, 14.04.1996. Zurück

59) Thomas Kröter, Chef des Heeresamtes bringt Traditionspflege in Mißkredit, in: Der Tagesspiegel, 30.4./1.5.1998, S. 4. Zurück

60) Dr. Holger H. Mey, Herausforderungen im Erweiterten Aufgabenspektrum – Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen, Vortrag am 17. Februar 1998. Dr. Mey ist Leiter des Instituts für Sicherheitsanalysen, das weitgehend aus Zuschüssen des BMVg. bestritten wird. Zurück

61) OTL Reinhard Herden, Die neuen Herausforderungen – Das Wesen künftiger Konflikte, in: Truppenpraxis/Wehrausbildung, Nr. 2 und 3/96. Siehe dazu auch: Brief von Zwerenz an Kanzler Kohl. Zurück

62) Es ist eben kein Zufall, wenn die CDU/CSU-Fraktion für die Anhörung zur Rehabilitierung der Wehrmnachtsdeserteure, auf Betreiben der Abgeordneten Norbert Geis und Rupert Scholz, die Geschichtsrevisionisten Alfred de Zayas und Franz W. Seidler und den erwähnten Vertreter der Soldatenverbände, Dr. Schreiber, einladen läßt. Zurück

63) Bundestagsdrucksache 13/10413. Zurück

64) s. Gessenharter/Fröchling, a.a.O. Zurück

Paul Schäfer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag und in der Redaktion von W&F.

Protest und Gewalt

Protest und Gewalt

Aus dem Tagebuch eines Jungpädagogen

von Bernhard Nolz

Die Gewalt geht von der Straße aus. Das ist das Bild, das gegenwärtig mal wieder in den Medien vermittelt wird, geht es um den Rückblick auf die Generation der 68er. Es scheint so, als ob ein Steinwurf wichtiger wäre als der Abwurf einer Bombe. Nur vordergründig steht der Außenminister im Mittelpunkt, in Wirklichkeit geht es um eine Korrektur des Geschichtsbildes. Es wird abgelenkt von der »Gewalt von oben«, von Notstandsgesetzen, Hunderttausendfacher Bespitzelung, von Berufsverboten; verschwiegen wird der Hintergrund der Protestbewegung: Die unbewältigte Vergangenheit, die Zusammenarbeit mit faschistischen Diktaturen in Spanien, Portugal, Griechenland und anderswo, der Völkermord der USA in Vietnam, Bildungsnotstand und Repression im Inneren. Der Tagebuchauszug von Bernhard Nolz aus dem Jahr 1971 ist nicht mehr als eine Momentaufnahme, allerdings eine, die sich zu diesem Zeitpunkt genauso in vielen deutschen (nicht nur Klein-)Städten abgespielt haben könnte.

7. Juni 1971: Bis zehn vor eins habe ich Schule. Dann rüber auf den Marktplatz. Ich wollte pünktlich sein, um ihn auszupfeifen. Seit ein paar Tagen war der Widerständler in mir erwacht.

Etwa 60 Leute hatten sich vor dem Lkw-Anhänger, der der CDU von einem Wurstfabrikanten zur Verfügung gestellt worden war, aufgestellt. Der CDU-Vorsitzende von Trappenkamp/Schlewig-Holstein trat an das Rednerpult, das er von vier Schülern aus der Schule hatte herbei schaffen lassen, um von ganzem Herzen Dank zu sagen, dass der Herr Bundeskanzler in dieser schwierigen Lage die Zeit gefunden hätte, der Bevölkerung Mut zuzusprechen. Er begrüße den Herrn Bundeskanzler a.D. Dr. Hans Georg Kiesinger ganz herzlich.

Beifall der Mehrheit, Markus und ich pfiffen. Für mich war es keine Frage, dass man Kiesinger auspfeifen musste, was immer er sagen würde, weil er Nazi gewesen war. Ehemalige Mitglieder der NSDAP waren für mich als Repräsentanten eines demokratischen Staates unerträglich und der Nazi-Propagandist Kiesinger schon lange.

„Denken Sie an Ihr Amt“, hatte mir mein Schulleiter geraten, als ich mit ihm über den bevorstehenden Besuch des Ex-Bundeskanzlers gesprochen hatte und dabei offengelassen, ob er mein Amt als 1. stellvertretender Bürgermeister oder mein Amt als Lehrer meinte. Sollte mir das Amt des Vertreters eines demokratischen Gemeinwesens verbieten, einem aktiven Repräsentanten der Nazi-Diktatur meine Missachtung zu zeigen?

Kiesinger nahm die Pfiffe scheinbar gelassen hin und begann mit seiner Rede. „Sehr geehrte Damen und Herren! Sie leben in einem glücklichen Land, das gesund und stabil ist, weil es seit mehr als zwanzig Jahren von der CDU regiert wird, und so soll es in Schleswig-Holstein auch bleiben. Auf Grund meiner leidvollen Erfahrungen als Bundeskanzler einer Koalitionsregierung mit der SPD weiß ich, wozu die Sozialdemokraten, die jetzt in Bonn regieren, fähig sind.“An dieser Stelle rufe ich das erste Mal: „Nazi!“ Ich hatte mir vorgenommen es nicht zu tun, sondern es beim Auspfeifen zu belassen. Warum, wusste ich selbst nicht genau. Vielleicht war es tatsächlich mein Amt als stellvertretender Bürgermeister oder meine Stellung als Lehrer, mit denen ich meine selbst verordnete Zurückhaltung rechtfertigen konnte. Dann überwiegen politische Empörung und die Lust am Zwischenruf, deren Wirkung ich in den unzähligen Gemeinderats- und Ausschusssitzungen zu schätzen gelernt hatte und ich nenne Kiesinger Nazi. Dieses eine Wort, eine polemische Verkürzung eines 67jährigen Lebenslaufes, entlarvt den Redner als Diffamierer und Verdränger.Kiesinger lässt sich scheinbar nichts anmerken und setzt seine Rede fort, doch wer genau hinsieht, kann feststellen, dass sich das Zittern des Redemanuskriptes, das er mit der linken Hand festhält, verstärkt hat. „Sie werden verstehen, welche Kraft es mich in den Jahren meiner Kanzlerschaft gekostet hat, die Zügel fest zu führen, damit die SPD nicht ständig ausbricht. Auf die CDU ist Verlass, sie bleibt in der Spur, dafür habe ich gesorgt und dafür sorgt hier im Norden mein Freund Helmut Lemke.“„Nazi! Nazi!“ rufe ich, denn das sind sie beide, der Offizier Lemke ritt für den Endsieg. Ist Kiesinger deshalb auf das Bild mit den Zügeln gekommen?„Wir wollen keine Krakeeler und Revoluzzer. Wir wollen ein vernünftiges, ruhiges Volk, das in Frieden und Freiheit leben und arbeiten kann.“Wieder pfeifen wir. Kiesinger deutet auf uns. „Wo die ihre Parolen herholen, entsteht die Großmacht China, sie ist atomar bewaffnet und kann ihre Raketen an jeden Punkt der Erde entsenden. Gegen diese Bedrohung gilt es, eine vorausschauende Friedenspolitik zu entwerfen. Nur die Christlich-Demokratische Union ist entsprechend gewappnet, unser Vaterland bis zu einer Wiedervereinigung geistig und militärisch zu verteidigen.“Wieder rufe ich Nazi und meine den Militaristen Kiesinger, der mich jetzt fixiert. „Solche unreifen Jünglinge wie der Schreihals dort träumen von der Weltrevolution und würden zu gern selbst an der Spitze stehen. Davor bewahre uns Gott! “

Kurzer Beifall und lange Pfiffe. Die meisten Zuhörer streben den zwei nebeneinander liegenden Türen des Rathauses entgegen, wo sich der zweite und dritte Teil des Bundeskanzler-Besuches abspielen soll. Die rechte Tür führt ins Rathaus. Dort soll sich Kiesinger im Goldenen Buch der Gemeinde verewigen. Ich war dagegen, aber einem Bundeskanzler a.D., auch wenn er Nazi und politisch abgehalftert sei, könne man das nicht verwehren, sagten sie mir. Alle neun CDU-Gemeindevertreter hatten sich eingefunden. Zu ihnen gesellten sich der Bürgermeister (SPD), der Bürgervorsteher (SPD) und fünf SPD-Gemeindevertreter. Links, in der Ratsschenke, sollte es anschließend Kiesinger zu Ehren Schweinshaxe mit Sauerkraut und Bauernbrot geben, dazu ein zünftiges Holsten-Bier.

Da ich durch keine der beiden Türen gehen will und Markus sich verabschiedet hatte, stehe ich alleine auf dem Marktplatz und bemerke, dass Kiesinger neben dem Anhänger stehen geblieben war und das Gedränge vor den Türen offenbar für eine kleine Verschnaufpause nutzte. Da rollt quer über den Marktplatz auf einem klapprigen Damenfahrrad ein etwa 15jähriges Mädchen mit blonden Haaren heran. Kurz vor Kiesinger springt es vom Rad, baut sich direkt vor Kiesinger auf und sagt, dass es ein Autogramm möchte. Ein Ruck geht durch Kiesinger, man merkt, wie er es genießt, von einem jungen Mädchen respektvoll behandelt zu werden. Aus der Jacketttasche seines Anzuges zieht er ein postkartengroßes Porträt, zückt seinen Füllfederhalter, unterschreibt die Karte und mit einer Geste, als wäre das Mädchen die wichtigste Person der Welt, überreicht er sie ihm.

„Jetzt habe ich etwas, womit ich mir den Arsch abwischen kann!“ sagt da das Mädchen.

Das weitere Geschehen habe ich wie eine Filmaufnahme in Zeitlupe in Erinnerung. Kiesinger schiebt, nachdem er die Karte übergeben hatte, die Kappe des Füllfederhalters über die Goldfeder und schraubt sie langsam zu. Als er den Satz des Mädchens hört, hält er inne und öffnet langsam den Mund, die Lippen formen sich zu einem stummen runden Loch. Das Mädchen wendet sich mit dem Autogramm in der Hand in Richtung seines Fahrrads, das von einem Mann in einem hellen Sommeranzug gehalten wird. Doch kaum hat es einen Schritt in Richtung des Mannes getan, lässt der das Fahrrad los und läuft auf das Mädchen zu. Fast hätten sie sich verfehlt, denn das Mädchen macht sich instinktiv klein. Doch der Mann ist gut trainiert, kann seinen Lauf stoppen und nutzt die zum Boden gerichtete Fluchtbewegung des Mädchens gezielt aus, indem er den linken Arm des Mädchens fasst und so verdreht, dass das Mädchen mit der rechten Schulter und mit der rechten Gesichtshälfte in voller Wucht auf die Betonplatten knallt. Wie im Triumpf zeigt der linke Arm des Mädchens, in dem es die Autogrammkarte hält, steil nach oben. Noch bevor der Kartengriff wegen der einsetzenden Schmerzen erschlafft, ist ein zweiter Mann in einem hellen Sommeranzug hinzu getreten und hat dem Mädchen die Autogrammkarte aus der Hand genommen. Dann tritt er zurück, schiebt die Karte in die Innentasche seiner Jacke, verschränkt die Arme hinter seinem Rücken und steht da, als sei nichts gewesen. Der andere »Leibwächter« des Kanzlers a. D., der das Mädchen auf den Beton gepresst hatte, lässt dieses jetzt los und achtlos liegen.

Erst dann komme ich bei dem Mädchen an. Beim Anblick der Szene hatte ich „Aufhören! Aufhören!“ geschrieen. Ich strecke dem Mädchen meinen Arm entgegen, doch diese Körperbewegung muss ihm eher wie eine anklagende Geste erschienen sein, als ein Hilfsangebot. Es springt auf, greift sein Fahrrad und fährt weg.

Hinter mir will plötzlich jemand wissen, was passiert sei. Kiesinger, der große grauhaarige Herr im dunkelblauen Anzug, der Staatsmann und Schöngeist, der Nazi und Bundeskanzler a.D., fasst es in einem Satz zusammen: Ein Mädchen habe sich mit einer Autogrammkarte von ihm den Arsch abwischen wollen!

Mehr war nicht gewesen, weiter in der Tagesordnung. Wieder reagierte Kiesinger mit einer Mischung aus Schweigen und Schönreden. Nach dem Ende der Nazi-Diktatur hatte er mit dem Schweigen derjenigen gerechnet, die, wenn sie die Obzönität seiner Taten erkennen, keine Worte mehr finden würden. Als Schweigen nicht mehr half, hat er alles schön geredet, wie er es bei den Nazis gelernt und praktiziert hatte.

Ihm war nicht daran gelegen, dass sein Abenteuer publik wurde. Eine weitere Nachahmerin einer Beate Klarsfeld konnte er genauso wenig gebrauchen wie die ständige Erinnerung an die braune Vergangenheit, die auch so mancher in Trappenkamp mit sich herumschleppte, wie ich bald erfahren sollte.

Beim offiziellen Empfang im Sitzungszimmer der Gemeindeverwaltung sei der Vorfall nicht erwähnt worden, höre ich später. Von jeder Eintragung ins Goldene Buch wird amtlicherseits ein Protokoll angefertigt. Zum Kiesinger-Empfang sind die Anwesenden aufgelistet. Dann heißt es: Begrüßung durch den Bürgervorsteher; Kurzvortrag des Bürgermeisters; Eintragung ins Goldene Buch; Anmerkungen des Bundeskanzlers a.D. Dr. Hans Georg Kiesinger zur politischen Lage. Trappenkamp, 7. Juni 1971, 13.40 – 14.02 Uhr. Am rechten unteren Rand des Dokuments – von eindeutig anderer Hand hinzugefügt – steht: Pg. 2633930.

Ich hatte mich auf die Bank neben der Ratsschenke gesetzt. Dort war ein ständiges Kommen und Gehen und somit die Aussicht groß, dass ich vielen Leute von dem unerhörten Vorfall berichten konnte. Fünf bis sechs hatten schon meinen Mitteilungsdrang über sich ergehen lassen müssen, wobei ich meinen Bericht auf die Brutalität der Kiesinger-Gorillas konzentrierte, der der ehrenwerte Staatsmann tatenlos zugesehen hatte, als mein Schulleiter aus der Ratsschenke kommend, direkt auf mich zusteuerte:

„Ich muss mit Ihnen sprechen. Da drinnen wird erzählt, dass Sie dem Mädchen 10 DM gegeben hätten. Sie hätten sich selbst die Hände nicht schmutzig machen wollen. In dem Mädchen hätten Sie ein williges Werkzeug gefunden!“ Ich lache ihn aus. „Ich kenne das Mädchen überhaupt nicht. Trauen Sie mir so was zu?“ „Ich nicht, aber die da drinnen,“ sagte er.

Wieder lache ich. „Wissen Sie was, wenn ich weiß, wer das Mädchen ist, werde ich es aufsuchen und ihm die 10 Mark geben, die hat es sich redlich verdient!“

Ich ahnte nicht, dass ich am nächsten Tag nicht einmal mehr schlappe fünf Mark zur Verfügung haben würde.

8. Juni 1971: In der Schule hat mich niemand auf den gestrigen Vorfall angesprochen. Am Nachmittag gehe ich zum Geldholen zu meiner Bank. „Tut uns leid“, sagt die Angestellte, „die Geschäftsleitung hat ihr Konto gesperrt. Es muss erst wieder ein Guthaben aufweisen.“ Ich gehe rüber in die Ratsschenke. Wie so oft frage ich vor der Bestellung, ob ich meine Zeche anschreiben lassen kann. Geht nicht, sagt die Wirtin, „ich muss dir Hausverbot erteilen, du weißt warum.“ Abends ruft mein Schulleiter an. „Ich soll es Ihnen nicht sagen, aber ich erzähle es Ihnen trotzdem: Der Verfassungsschutz war da und hat die Schulchronik mitgenommen. Machen Sie sich auf eine Visitation gefasst.“

9. Juni 1971: Gestern Abend, so berichtet mir ein Freund, hat ein bekannter Unternehmer aus Trappenkamp, der sich ständig mit seiner Nazi-Vergangenheit brüstet, in der Mitgliederversammlung des Tennisclubs, mich als Politikschwein und als einen von Moskau gesteuerten Provokateur bezeichnet, der aus Trappenkamp heraus getrieben werden müsse. Der Gemeindejustitiar hat mir geraten, ihn wegen übler Nachrede und Beamtenbeleidigung anzuzeigen. Der Bürgermeister hat sofort die Brisanz der Entgleisung geschnallt und dem Unternehmer klar gemacht, dass die Beleidigung eines Beamten (Lehrer) und eines Ehrenbeamten (stellvertretender Bürgermeister) strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Am Abend erhalte ich den Anruf des Unternehmers mit der Bitte um Entschuldigung. Wir vereinbaren ein Treffen mit Zeugen.

10. Juni 1971: Heute der Anruf des Bankdirektors. Alles sei nur ein Missverständnis gewesen. Zu spät, sage ich, ich habe ein Konto bei einer anderen Bank eröffnet. Auf dem Weg zur Post ruft die Wirtin der Ratsschenke hinter mir her: „Komm, ich habe einen auszugeben.“Am Nachmittag steht das Mädchen vor meiner Tür (ich bin SPD-Ortsvorsitzender). „Ich will in die SPD eintreten,“ sagt sie, „sie sind der einzige, der mir geholfen hat.“ Wir füllen das Aufnahmeformular aus.

Die Kiesinger-Worte sind Originalzitate.

Bernhard Nolz, Jg. 1944, von 1969 – 1994 Lehrer in Schleswig-Holstein. Seit 1994 Gesamtschullehrer in Siegen, Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF).

Deutsches Leid mit Leit-Kultur

Deutsches Leid mit Leit-Kultur

von Werner Dosch

Zu Beginn seiner »Unzeitgemäßen Betrachtungen« äußert sich Nietzsche zur deutschen Reichsgründung 1871: „Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich dreinzieht, ist vielleicht die schlimmste…der Irrtum der öffentlichen Meinung, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe…Dieser Wahn ist höchst verderblich…weil er imstande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des »deutschen Reiches«.“ Bei dem zweiten Zusammenschluss der Deutschen, 120 Jahre später, erhob sich die Frage nach einer Mehrung oder Minderung von Kultur nicht mehr; die Forderung nach einer »deutschen Leitkultur«, ausgestoßen von einem Politzwerg, zielte wieder einmal auf das Primat des Deutschen gegenüber Andersartigem. Der zynische Reim vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen soll, drängt sich dabei in die Erinnerung, auch wenn klar ist, dass Fremde diesmal nicht um Leib und Leben fürchten müssen, jedenfalls von Seiten der Staatsmacht nicht und nicht, solange sie im Lande bleiben (dürfen). Das einzig Zeitgemäße an dieser und ähnlichen Forderungen aus dem deutschen konservativen Lager besteht in der wohl nicht so ganz ungewollten Übereinstimmung mit dumpfen Empfindungen, wie sie über Stammtischen wabern, – wie sie sich seit einigen Jahren aber auch immer wieder in Gewalttaten der Straße entladen.

Gehen wir es eine Stufe bescheidener an, fragen wir anstatt nach Kultur nach Zivilisation. Zu deren Errungenschaften gehört, dass noch vor allen geschriebenen Verbotenen und damit verbundenen Strafandrohungen ein stillschweigender gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass man bestimmte Dinge einfach nicht tut, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht hingenommen werden. Man macht eben hierzulande nicht auf die Strasse!

Wenn Deutsche jetzt wieder Fremde »klatschen«, sie zu Tode jagen, in Häusern verbrennen, dann ist das schlimmer und spielt sich eine ganze zivilisatorische Stufe niedriger ab, als wenn sich diese Deutschen nur mit ihrem eigenen Dreck besudelten. Die barbarischen Geschichten aus deutscher Vergangenheit liegen lange zurück, aber sie sind seitdem zu Maßstäben des nicht Hinnehmbaren geworden. Wenn aus Geschichte ein Sinn gezogen werden kann, dann doch der, dass sich der erlebte Wahnsinn nicht wiederholen soll. „Von deutschem Boden darf kein neuer Krieg ausgehen“… „nach Auschwitz kann kein Gedicht mehr geschrieben werden“… Leider stellt sich bei solchen Lehren und Erkenntnissen immer wieder heraus, dass sie kaum über die Lebenszeit derer hinaus Bestand haben, die die Lektion noch selbst erfahren hatten. Inzwischen haben sich Deutsche ja wieder an einem Krieg beteiligt und – dies in einer ganz anderen Bedeutung – schon Celan hatte Adorno mit seinem Gedicht über Auschwitz widerlegt. Aber Einsichten in die Brüchigkeit menschlicher Lernfähigkeit und die grandiose Erneuerungsmacht von Vergesslichkeit können nicht verdecken, dass dennoch die grundlegenden Verbotstafeln im Blick bleiben, ja, dass hier doch eine gewisse Entwicklung stattfindet.

Wie ist also das geringe Maß des Erschreckens oder gar die gelegentliche klammheimliche Zustimmung von Augenzeugen braunen Terrors, deren Passivität, die Verweigerung von Hilfe zu verstehen? Wie die formalistische Borniertheit der deutschen Justiz, die solche Unholde stolz demonstrieren lässt anstatt sie schon bei nächster Wortmeldung einzulochen, und die für braune Verbrechen kaum angemessenere Strafmaße kennt als solche, für die ein Ladendieb noch dankbar wäre? Wohlgemerkt, die erwähnten Vorkommnisse betreffen »nur« das Vorfeld von Kultur, wären sie undenkbar, wäre damit noch keine Kultur geschaffen, geschweige denn eine »Leitkultur«.

Wie vorhergesagt lässt sich aus nationalem Feuer kein Honig für Kultur ziehen, weder die erwähnte Reichsgründung wirkte sich hier stimulierend aus noch die langweilige Geschichte der BRD oder das Ende der DDR. Und der Terror der Straße wäre durch eine verordnete »Leitkultur« gewiss nicht zu beeindrucken.

Kurzum: Gäbe es in unserer Gesellschaft den klaren Konsens, dass braunes Denken und Tun keinerlei Akzeptanz findet, dann käme es gar nicht mehr zu den erwähnten Untaten. Diesen Konsens gibt es aber offensichtlich nicht. Wir haben aus der Geschichte nicht gelernt!

Nicht zur Entschuldigung von Untaten, aber zu einem gewissen Verständnis für ihr Zustandekommen lassen sich Gründe benennen und damit sagt man kaum Neues. Bei den brutalisierten rechten Jugendlichen, die im Gebiet der ehemaligen DDR leben, sind häufig die mangelnden Lebens- und Berufsperspektiven, Frust aus Arbeitslosigkeit, Armut und Langeweile bestimmend. Sie fühlen sich von dem neuen Staat im Stich gelassen, der alte hatte bei all seiner stupiden diktatorischen Gängelei immerhin ein Mindestmaß an persönlicher Fürsorge für sie übrig gehabt. Der Großteil der westdeutschen Bevölkerung ließ sich seinerzeit bereitwillig und schließlich sogar aus Überzeugung zur Demokratie bekehren. Denn diese Politikform, vor allem die damit verbundenen wirtschaftlichen Möglichkeiten, waren vorteilhafter als alles zuvor Gewesene. Außerdem hatte das »deutsche Wirtschaftswunder« den angenehmen Effekt, dass es nicht nur alle Erwartungen an einen Wiederaufstieg überstrahlte, sondern damit auch die aus der Vergangenheit liegen gebliebenen Probleme als vergangen erscheinen ließ. Beide deutschen Bevölkerungen waren nach 1945 so ausschließlich mit ihrem Überleben beschäftigt, dass für Reflexionen über den gemeinsamen Vorgängerstaat und die oft allzu persönlichen Verwicklungen mit ihm kaum Raum blieb und noch weniger Interesse für solche »Grübeleien« vorhanden war. „Keine Experimente“, nicht daran rühren, hieß der erfolgreiche Wahlspruch der Nachkriegszeit. Den Ostdeutschen wurden die neuen Anführer von Moskau her eingeflogen, die Westdeutschen konnten wählen, sie »wählten die Freiheit« und entschieden sich für einen Großvater, für den deutsche Geschichte erst mit Gründung der BRD bzw. mit seinem Patronat wieder in Gang kam und der nichts aufkommen ließ, was diesen Gang ins Stolpern bringen konnte. Noch länger als der erste Kanzler konnte sich der Historiker Kohl behaupten, für den, qua »Gnade der späten Geburt«, die Neuzeit ebenfalls erst mit Kriegsende oder gar erst ab der von ihm in Aussicht gestellten, dann aber doch ausgebliebenen »geistig-moralischen Wende« zählte. In Ost wie West gerierte man sich staatstragend antifaschistisch bzw. antinazistisch – gewisse als unabkömmlich geltende Repräsentanten des alten Regime in Staat und Wirtschaft freilich ausgenommen. Ost- und Westdeutschland glichen sich darin, dass die entsetzliche menschliche und kulturelle Katastrophe des Dritten Reiches überlebt aber nicht wirklich verarbeitet wurde. Es gab ja genug Gründe Mitleid mit sich selbst zu haben, dass für darüber hinaus gehende Reflexionen kaum Platz war. Einverstanden, die Nazis waren böse, die Nazis hatten die inzwischen nachgewiesenen Untaten tatsächlich begangen, nur – wer, wo waren sie, diese Nazis? Sie kamen doch nicht vom anderen Stern, waren keine Anderen – soviel sprachliche Ehrlichkeit sollte sein!

Unter den Schupos, die im Krieg zu Polizeibataillonen eingezogen wurden, gab es eher weniger Parteigenossen als dem Durchschnitt der Nation entsprach. Sie waren Familienväter, viele schon zu alt oder wegen anderer Behinderungen nicht mehr voll »kriegsverwendungsfähig«. Wenigstens eine Million wehrlose Menschen, Frauen und Männer, Kinder, Greise, meist Juden, haben solche Einheiten im Osten auf barbarische Weise umgebracht. Diese Männer waren ursprünglich zu Gehilfen der Justiz ausgebildet, aber kaum ein Gericht hat sich ihrer richtend angenommen, nachdem sie sich so schrecklich schuldig gemacht hatten.

Andererseits wird es in diesen wirren Zeitläufen auch die Gläubigen der Nazi-Ideologie gegeben haben, die sich nur wenig versündigt hatten. Es gab vor allem aber die exorbitant hohe und durchaus nicht getürkte Wahlzustimmung des deutschen Volkes zu Hitler und ein Vertrauen zu dessen Führerschaft, das bei manchen noch das Kriegsende überstand. Und es gab und gibt über Deutschland und die Zeit von damals hinaus allerorten und -nationen Menschen, die unter holocaust-trächtigen Umständen schuldig wurden und werden, wie auch solche, die dem widerstehen. Darauf lässt sich verweisen, falls man lieber relativieren möchte als vor der eigenen Hütte zu kehren. Das zwanzigste Jahrhundert ging mit Völkermord nicht sparsam um.

Was ist los mit diesem Deutschland, wo sich Naziterror wieder auf die Straße wagt? Das war doch alles längst passé! Die Besorgnis über dieses anscheinend neue Phänomen ist groß und allenthalben. Es wird demonstriert und gerätselt wie sich diesem Aufwuchs entgegentreten lässt. Lichterketten und Ermunterungen zu Zivilcourage. Das Angebot und Interesse an Dokumentationen über die Hitlerzeit war noch nie so lebhaft.

Zur gleichen Zeit ist das vereinigte Deutschland dabei sich zu seiner vollen Souveränität und staatlichen Größe zurück zu entwickeln. Auch was den Anspruch an kulturelle Integrität anbelangt, der wegen der leidigen Auschwitz-Inkompatibilität lange kleingeschrieben werden musste, gilt reuige Zurückhaltung jetzt nicht mehr als zeitgemäß. In dieser Aufbruchstimmung, die Stammtische fest im Blick, lassen sich krause Vorstellungen wie die von einer »deutschen Leitkultur« wieder in die Welt setzen.

Allerdings – bei aller neugewonnenen Größe ex machina, wenn das Nationale wieder so zentral ins Spiel kommt, dann lässt es sich nicht erst mit einem »von hier und jetzt an« in die Arme schließen, sondern muss schon in seiner ganzen überschaubaren Geschichtlichkeit getragen und ertragen werden. Zu dieser Geschichtlichkeit gehört aber, dass in Deutschland die finsterste Epoche der Vergangenheit nicht wirklich verarbeitet wurde und dass das Versäumnis einer nationalen Läuterung bis jetzt nachwirkt. Für die Rückkehr der Nazis bilden die ökonomischen und ethnischen Verwerfungen der neoliberalen Gesellschaft einen ausgezeichneten Nährboden; mit seinen zu bekämpfenden Wurzeln reicht dieser Spuk aber bis in die Zeit zurück als Deutschland Naziland war. Die uns Deutschen diagnostizierte »Unfähigkeit zu trauern« wirkt sich nun bei dem Aufbruch ins »einig deutsche Vaterland« als beschwerlicher Herzfehler aus. Hätten wir unsere Lektion verdaut, wären wir gegen die Wiederholung alter Übel wehrhaft geblieben und es könnten uns nicht noch einmal braune Halunken auf der Nase herumtanzen. Dann bedürfte es keiner Parteiverbote und Verschwörungen der Gutwilligen. Es macht eben niemand auf die Straße, wenn die Gesellschaft keinerlei Toleranz für solche Atavismen kennt!

Was nun die konkreten politischen Hintergründe der extrem rechten Szene anbelangt, muss man hinter den widerlichen Aktivitäten nicht immer nur die fest eingefleischten braunen Aktivisten sehen. Frustrierte Jugendliche haben ein feines Gespür für Schwächen der Gesellschaft. So erspüren sie auch das Grundtabu der Bundesrepublik, die unverdaut weggeschlossene Nazi-Vergangenheit, und greifen es auf. In dem sie als Nazis agieren, führen sie die Gesellschaft vor und machen mit neuralgischer Wirksamkeit auf sich und den Grund ihres Frustes und Hasses aufmerksam. Aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet der Fall Sebnitz die Situation. Im Erschrecken über den Tod des armen ertrunkenen Jungen, für den zunächst Rechtsradikale, unter den Augen einer großen, untätig gebliebenen Beobachterschar verantwortlich gemacht wurden, stockte der Republik der Atem. Unbewusst war dabei die Verbindung zur Vergangenheit hergestellt: fast alle hatten es gesehen, hatten etwas gewusst, aber keiner hat etwas dagegen getan! Und dann das Aufatmen: Es war doch nicht so, wir sind wieder einmal davongekommen! Bleibt das die Tagesordnung?

Dr. Werner Dosch war Professor für Mineralogie an der Universität Mainz (emeritiert). Er ist einer der Gründer der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«.