Auf leisen Sohlen

Auf leisen Sohlen

Zivil-Militärische Zusammenarbeit

von Peter Feininger

Das monströse System des deutschen Heimatschutzes, das offiziell »Zivil-Militärische Zusammenarbeit« genannt wird, wurde von langer Hand aufgezogen. Im Gange ist eine Neuordnung der Streitkräfte unter Einbezug »aller« staatlichen Instrumente der Sicherheitsvorsorge, also ein totalitärer Ansatz, wie er schon in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003 formuliert und im Weißbuch der Bundeswehr von 2006 konsequent weiterentwickelt wurde. Mit Erlassen wie der Reservistenkonzeption 2003 und Konzeption der Bundeswehr 2004 wie auch Gesetzen über die Neuordnung der Reserve der Streitkräfte 2005 wurde die »Zivil-Militärische Zusammenarbeit« (ZMZ) eingeleitet und im Territoriale Netzwerk bis 2010 weitgehend vollzogen. All dies geschieht ohne verfassungsmäßige Grundlage. Der systematische, flächendeckende und permanente Einsatz von Soldaten und Reservisten in der deutschen Zivilgesellschaft bleibt auch mit noch so vielen Regelungen eklatanter Verfassungsbruch.

Schon im Jahre 2001 begann die Bundesregierung mit einer Neuformulierung der sogenannten »Sicherheitsvorsorge in Deutschland« und schuf Grundlagen für eine Beschlussfassung der »Neuen Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland« im Jahre 2002, an der auch die Innenministerkonferenz beteiligt war. Daraus erwuchs eine Neukonzeption des »ergänzenden Katastrophenschutzes« und der »zivil-militärisch-polizeilichen Zusammenarbeit«. Definitiv wurden die politischen Grundlagen für die Zivil-Militärische Zusammenarbeit (ZMZ) von Verteidigungsminister Struck (SPD) in den Verteidigungspolitischen Richtlinien im Jahre 2003 gelegt. Darin heißt es: Der „Schutz Deutschlands wird ausgerichtet, verlangt die konsequente Abstufung von Präsenz, Bereitschaft und Ausbildung der Streitkräfte sowie die Synergie aller staatlichen Instrumente der Sicherheitsvorsorge.“ (VPR 2003)

ZMZ – ein totalitärer Ansatz

Damit deutet sich schon an, dass es bei der sogenannten »Zivil-Militärische Zusammenarbeit (ZMZ)« nicht einfach um »Zusammenarbeit« geht – etwa von Dienststellen –, sondern um den »strategischen Umbau« der Bundeswehrstrukturen, eine regelrechte »Neuordnung« ihrer Kräfte unter Einbezug »aller« staatlichen Instrumente der Sicherheitsvorsorge und ihrer »Synergie«. Das ist ein umfassender Ansatz, wie er radikaler kaum sein kann. Jede Trennung von Militärorganisation und Zivilorganisation ist hier von vornherein aufgegeben. Es ist eine »konsequente Abstufung« und »Ausrichtung« der Streitkräfte vorgesehen zum Zweck, die zivilen Ressourcen zu nutzen und so die eigene, militärische Schlagkraft zu optimieren.

Von »Synergie-Effekten« spricht man, wenn Konzepte, Prozesse oder Strukturen sich gegenseitig ergänzen. »Synergie« will heißen: optimale Kombination von Einzelelementen, gemeinsame Nutzung von Ressourcen, Kostenersparnis bis hin zur Fusion von Organisationen. Versucht man sich dies nun für „alle[r] staatlichen Instrumente der Sicherheitsvorsorge“ unter Einschluss des Militärs vorzustellen, kann einem schon schwindlig werden.

Nun, Peter Struck hat das Konzept nicht allein ersonnen. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag war daraufhin nicht mehr zu bremsen und legte im Jahre 2004 unter dem Titel »Landesverteidigung und Heimatschutz als Teil des Gesamtkonzepts Sicherheit« ein Papier vor, das unverblümt den „Heimatschutz“ propagierte und von in 50 Zentren verteilten „Regionalbasen“ dieser neuen Kräfte sprach, die auf eine Stärke von 250 000 aufwachsen könnten. Wir zitieren aus diesem Papier: „Im Rahmen eines neuen Organisationsbereiches im Bundesministerium der Verteidigung – „Landesverteidigung und Heimatschutz“ – sollten künftig in bis zu 50 vernetzten „Regionalbasen Heimatschutz“ mit einer Stärke von bis zu 500 Soldatinnen und Soldaten Kräfte für Einsatzfälle in Bereitschaft gehalten werden. Sie sollten bei intensiver Nutzung des Reservistenpotentials der Bundeswehr im Einsatzfall auf eine Stärke von bis zu 5.000 Soldaten aufwachsen können. Dabei sollte der Personalbestand der aktiven Heimatschutztruppe aus ca. 80% Wehrpflichtigen und ca. 20% aus Berufs- und Zeitsoldaten als Führungs- und Regiepersonal bestehen.“ (CDU/CSU 2004)

Wie gesagt, die politischen Grundlagen für den »Heimatschutz« in dieser oder ähnlicher Form wurden ein Jahr zuvor mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) gelegt. Deswegen hieraus nochmal zwei grundlegende Passagen: „75. Angesichts der gewachsenen Bedrohung des deutschen Hoheitsgebiets durch terroristische Angriffe gewinnt der Schutz von Bevölkerung und Territorium an Bedeutung und stellt zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland und demzufolge an ihr Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und der Länder. … 80. … Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten. Auch wenn dies vorrangig eine Aufgabe für Kräfte der inneren Sicherheit ist, werden die Streitkräfte im Rahmen der geltenden Gesetze immer dann zur Verfügung stehen, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen oder wenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie kritischer Infrastruktur nur durch die Bundeswehr gewährleistet werden kann. Grundwehrdienstleistende und Reservisten kommen dabei in ihrer klassischen Rolle, dem Schutz ihres Landes und ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger, zum Einsatz.“ (VPR 2003)

Ein »Nationaler Territorialer Befehlshaber« wird installiert

Im August 2004, vier Monate nachdem die Unionsfraktion ihr Heimatschutzpapier vorgelegt hatte, das in demokratischen Kreisen für erhebliche Unruhe sorgte, erließ Peter Struck als Verteidigungsminister die »Konzeption der Bundeswehr« (KdB). Darin wurde die Struktur zur Umsetzung der Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2003 präzisiert: „Einsätze bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen im Inland werden im Frieden durch das Streitkräfteunterstützungskommando (SKUKdo) geführt. Dazu führt es die ihm für den Einsatz unterstellten geeigneten und verfügbaren Kräfte aus dem gesamten Bereich der Streitkräfte. Die Einsatzführung im Inland wird auf den Ebenen SKUKdo und Wehrbereichskommandos/Landeskommandos (WBK/LKdo) konzentriert.“ (KdB 2004, S.71) Weiter heißt es: „Der Befehlshaber des SKUKdo ist ‚Nationaler Territorialer Befehlshaber‘. Er koordiniert mit den Befehlshabern der anderen FüKdo [Führungskommandos, d. Verf.] und den Dienststellenleiterinnen und -leitern vergleichbarer Dienststellen der zivilen Organisationsbereiche die bundeswehrgemeinsame Erfüllung folgender weiterer wahrzunehmender Aufgabenanteile, die im Frieden sowie im Spannungs- und/oder Verteidigungsfall ausschließlich auf deutschem Staatsgebiet und in nationaler Verantwortung wahrgenommen werden. Diese Aufgabenanteile werden unter dem Begriff Territoriale Aufgaben der Bundeswehr (TA Bw) zusammengefasst und beinhalten im Wesentlichen:

Unterstützung von Kräften und Einrichtungen des Bündnisses sowie von einzelnen Verbündeten und Partnern in Deutschland,

Mittlerfunktion zwischen deutschen zivilen und militärischen Stellen zu Kräften und Einrichtungen des Bündnisses sowie zu einzelnen Verbündeten und Partnern in Deutschland,

Amtshilfe,

Hilfeleistungen im Inland bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen,

sonstige Hilfeleistungen,

Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur vor asymmetrischen und terroristischen Bedrohungen durch Unterstützung der für innere Sicherheit zuständigen zivilen Stellen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben,

Unterstützung der Nationalen Zivilen Verteidigung als Teil der gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge in Deutschland“ (KdB 2004, S.79).

In dieser Konzeption tritt neben den Einsatz der Streitkräfte im Inneren „im Spannungs- und/oder Verteidigungsfall“ ganz selbstverständlich auch ihr Einsatz „im Frieden“. Dies geschieht zu so harmlosen Zwecken wie „Amtshilfe“, „sonstige Hilfeleistungen“, „Schutz der Bevölkerung“, Schutz von „Infrastruktur“. Diese Aufgaben werden locker gemischt unter solche der Landesverteidigung und sonstiger militärischer Aufgaben in Bündnissen. Koordiniert werden solche Einsätze vom Befehlshaber des Streitkräfteunterstützungskommandos in seiner Eigenschaft als „Nationaler Territorialer Befehlshaber“, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit den Befehlshabern der Wehrbereichskommandos und den Befehlshabern der Führungskommandos von Heer, Marine und Luftwaffe und den Kommandeuren der Landeskommandos sowie den DienststellenleiterInnen „vergleichbarer“ ziviler Organisationsbereiche.

Rechtsmissbrauch der »Amtshilfe«

Es fällt hierbei auf, wie locker die »Amtshilfe« hier gebraucht, besser missbraucht wird. Damit wird Art. 35 Absatz 1 GG, der einen allgemeinen Amtshilfeanspruch enthält, zum Einfallstor für den Bundeswehreinsatz im Inneren. Das geht nur, wenn man die Rechtsgeschichte des Art. 35 GG außer Acht lässt und damit einen üblichen juristischen Grundsatz verletzt. Art. 35 Abs. 1 lautet: „Alle Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe.“ (GG 35). Dieser Absatz stammt aus einer Zeit, als es noch keine Bundeswehr gab und eine solche auch nicht zur Debatte stand. Es ging um die Beziehungen zwischen der zentralen staatlichen Ebene zu den Ländern und keinesfalls um den Einsatz der Armee im Inneren. Artikel 35 gehört zum Komplex »II. Der Bund und die Länder (Art. 20 – 37)«.

Wie Ulrich Sander treffend nachweist, kommt die Bundeswehr erst in den später beschlossenen Teilen von Art. 35 GG ins Spiel. Es geht im Grunde nicht nur um eine missbräuchliche Verwendung der »Amtshilfe«, sondern um die schleichende Einführung von Notstandsregularien, also schlicht um »Verfassungsbruch«: „Im Grunde genommen geht es um die Anwendung des Notstandsrechtes von 1968, ohne dass es zum Verteidigungsfall kommt. So wird das Grundgesetz gebrochen, begründet mit dem Artikel 35 Abs. 1. Dort ist von ‚Amtshilfe‘ die Rede. Die Streitkräfte werden jedoch nicht in Absatz 1 aus dem Jahr 1949 aufgeführt, sondern nur in den Absätzen 2 und 3 von 1968, – und dort kommt nun der Begriff Amtshilfe nicht vor. Nur bei Naturkatastrophen und Unglücksfällen darf die Bundeswehr im Inland eingesetzt werden, das steht in diesen Absätzen in Artikel 35 GG.“ (Sander 2007)

Wenn wir der gängigen Rechtsliteratur folgen, liegt Amtshilfe immer dann vor, wenn eine Behörde einer anderen Behörde bei der Erfüllung der ihr obliegenden Aufgabe behilflich wird. Dabei dürfen ersuchende und ersuchte Behörde nur im Rahmen ihres Aufgaben- und Befugniskreises tätig werden. Eine Expertise eines Rechtsreferendars beim LG Kleve sieht den Art 35 Abs. 1 so: „Gefahrenabwehr ist grundsätzlich Sache der Polizeibehörden, die Innenminister insofern letztverantwortlich. Aufgrund des Verfassungsvorbehalts (Art 87a Abs. 2 GG) für den Einsatz der Streitkräfte stellt der allgemeine Amtshilfeanspruch ebenfalls keine taugliche Ermächtigungsgrundlage dar.“ (Ehmann 2006)

Reservisten als gewaltige Ressource für den Heimatschutz

Die »Konzeption der Bundeswehr« von 2004 sieht außerdem vor, stärker auf Reservisten zuzugreifen: „Im Rahmen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit sowie bei Einsätzen zur Hilfeleistung und zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger im Frieden leisten Reservistinnen und Reservisten einen signifikanten Beitrag zur Erhöhung der Durchhaltefähigkeit der aktiven Truppe.“ (Grundzüge 2004, S.42) Mit der Auflösung des Territorialheeres im Zuge des Anschlusses der DDR entfiel rein formal der größte Aufgabenbereich der Reservisten. Das inspirierte die herrschenden Kreise natürlich, über die weitere Verwendung einer solch gewaltigen Ressource von über einer Million Reservisten nachzudenken. An einen »Verteidigungsumfang« der Bundeswehr von 1,336 Millionen Soldaten, davon 841 000 mobilmachungsbeorderte Reservisten – wie er im Jahre 1988 bestand – war nicht mehr zu denken, zumal der Zwei-Plus-Vier-Vertrag die Truppenstärke der deutschen Streitkräfte von 500.000 auf 370.000 Mann reduzierte und definitiv beschränkte. Auch dies ein Grund, über die Ressource der Reservisten und ihre Verwendung scharf nachzudenken. Weitgehend Gestalt nahm dies schon in der »Reservistenkonzeption« 2003 an.

Der stellvertretende verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans Raidel MdB (CSU), und der Präsident des Deutschen Reservistenverbandes, Helmut Rauber MdB (CDU), begrüßten den Erlass der »Reservistenkonzeption«: Die Reservisten hätten „nunmehr wieder eine verlässliche Rechtsgrundlage“ für ihren Einsatz. „Reservisten erfüllen für das gesamte Aufgabenspektrum der Bundeswehr und als Mittler zwischen Streitkräften und Gesellschaft eine wichtige Rolle. … Reservisten sind z.B. in großem Umfang erforderlich, um Hilfeleistungen im Rahmen der Nothilfe nach Naturkatastrophen oder Unglücksfällen durchführen zu können.“ (CDU/CSU 2004/2)

Damit waren die Reservisten auch für Einsätze in der Zivilgesellschaft auserkoren, nur geschah das keinesfalls auf einer „verlässliche[n] Rechtsgrundlage“, wie der Hardliner Hans Raidel von der CSU behauptete. Mit dem »Gesetz über die Neuordnung der Reserve der Streitkräfte und zur Rechtsbereinigung des Wehrpflichtgesetzes« wurde im Jahre 2005 ein weiterer Pflock zur Militarisierung der Gesellschaft eingeschlagen. Fast unbemerkt von der Linken und fast ohne Berichterstattung ging dieses Gesetz ohne mündliche Aussprache im Bundestag über die Bühne. Der Kern des Gesetzes ist die Anhebung des Alters auf 60 Jahre, bis zu dem Reservisten in Friedenszeiten einberufen werden können, und zwar nicht nur – wie bisher – zu Übungen, sondern zu Einsätzen. Lediglich Petra Pau, eine der beiden Abgeordneten der PDS im Bundestag, protestierte. Sie gab ferner zu Protokoll: „Hinzu kommt: Mit § 6c des vorliegenden Gesetzentwurfes wollen Sie den Einsatz der Bundeswehr im Inneren der Bundesrepublik Deutschland vorbereiten. Sie weisen Reservistinnen und Reservisten entsprechende Aufgaben zu. Sie wissen: Im Gegensatz zur CDU/CSU halten wir Inlandseinsätze der Bundeswehr für grundgesetzwidrig.“ (Pau 2005)

Der §6c des geänderten Wehrpflichtgesetzes regelt die „Hilfeleistung im Innern“: „(1) Zu Verwendungen der Streitkräfte im Rahmen der Amtshilfe oder zur Hilfeleistung bei einer Naturkatastrophe oder einem besonders schweren Unglücksfall nach Artikel 35 des Grundgesetzes kann ein gedienter Wehrpflichtiger herangezogen werden, soweit er sich dazu schriftlich bereit erklärt hat. …“ (WpflG 2008) Ulrich Sander, Landessprecher der VVN-NRW, erläutert die Konsequenzen: „Zur Zeit gibt es 4,3 Millionen Reservisten bis 45 Jahre, nun kommen 800.000 zwischen 45 und 60 Jahre dazu. Das Potential, auf das die Bundeswehr kurzfristig zurückgreifen kann, wurde also um knapp eine Million erhöht. Zu Einsätzen werden bisher nur jene Reservisten geholt, die bereits Reserveübungen hinter sich haben, das sind 1,1 Millionen. Um diese Zahl kann die Bundeswehr kurzfristig vergrößert werden. Sie kommt zu den rund 250.000 Soldaten, darunter 40.000 Grundwehrdienstleistende und 25.000 freiwillig länger Wehrdienstleistende, hinzu, die derzeit das ‚stehende Heer‘ stellen.

Die Bundeswehr kommt uns beim Einsatz im Innern durch die Hintertür und auf leisen Sohlen. Ein Heimatschutz nach amerikanischem Vorbild wird aufgebaut und soll ‚Seite an Seite‘ mit den zivilen Behörden in Stadt und Land agieren.“ (Sander 2008)

Das von der Friedensbewegung heftig kritisierte »Weißbuch 2006« des Bundesverteidigungsministers Jung formulierte nicht nur die forcierte Militarisierung der deutschen Außenpolitik für die nächsten zehn Jahre, sondern auch den Bundeswehreinsatz im Innern und legte damit endgültig die Axt an die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft. Zum »Heimatschutz« heißt es dort:

„Mit der Aufstellung von ca. 470 vorzugsweise aus Reservisten bestehenden Kreis- und Bezirksverbindungskommandos wird die flächendeckende Zivil- Militärische Zusammenarbeit ZMZ auf den einsatzentscheidenden unteren und mittleren Ebenen intensiviert. (…) Neben strukturellen Maßnahmen werden die militärischen Einsatzgrundsätze vermehrt an den Bedarf der für Gefahrenabwehr und Katastrophenhilfe zuständigen zivilen Seite und die Erfordernisse eines wirkungsvollen Schutzes Deutschlands angepasst.“ (Weißbuch 2006, S.136)

Die deutschlandweite Umsetzung der neuen ZMZ-Struktur erfolgt offiziell seit Anfang 2007, seit Ende 2004 liefen aber schon Modellversuche zur Erprobung der neuen Form der Zusammenarbeit zwischen den Landkreisen, kreisfreien Städten und den Reservisten der Bundeswehr in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz.

Das »Territoriale Netzwerk« bis 2010

Das »Territoriale Netzwerk« der ZMZ soll bis 2010 folgende Struktur haben: Das Streitkräfteunterstützungskommando der Streitkräftebasis wird von Köln-Wahn aus zentral die Führungsverantwortung für ZMZ-Einsätze übernehmen. Vier untergeordnete Wehrbereichskommandos in Erfurt, Kiel, Mainz und München sind verantwortlich für die Zusammenstellung der notwendigen ZMZ-Einheiten. Auf Länderebene wird in jedem Bundesland in der Landeshauptstadt ein Landeskommando aufgestellt. Die Landeskommandos werden je nach Größe des Bundeslands zwischen 31 und 90 Dienstposten haben. Der Gesamtumfang soll bei etwa 750 Dienstposten liegen. Die bestehenden 27 Verteidigungsbezirkskommandos werden aufgelöst bzw. umgegliedert. Die Landeskommandos sind für die Bewertung und Meldung der Lage an die Wehrbereichskommandos verantwortlich und übernehmen die Koordination mit den zivilen Behörden.

Auf unterster Ebene werden 457 Verbindungskommandos in den Regierungsbezirken bzw. Landkreisen und kreisfreien Städten aufgestellt. Diese Kommandos sollen im Einsatzfall aus jeweils 12 Reservisten gebildet werden. In nichtaktiven Zeiten wird das Kommando vom lokalen Beauftragten der Bundeswehr für ZMZ (BeaBwZMZ) repräsentiert. Der BeaBwZMZ soll direkt im Büro der zugeordneten zivilen Behörde stationiert werden, um bereits im Grundbetrieb in das »kommunale Netzwerk Katastrophenhilfe« eingebunden zu sein. Hierfür sollen vor allem Stabsoffiziere der Reserve eingesetzt werden – in den Bezirken soll es ein Oberst d.R. sein, in den Kreisen ein Oberstleutnant d.R. Insgesamt werden also etwa 5.500 Reservisten für diesen Bereich der ZMZ eingeplant, davon etwa 3.650 Offiziere d.R.

Die Aufgaben der Verbindungskommandos umfassen folgende Bereiche:

Beratung der Zivilverwaltung, u. a. darüber, welche Hilfsmittel und Geräte an welchen Standorten vorhanden sind und wie man sie anfordert (Verkürzung des Zeitaufwands, qualitative Verbesserung der Planung);

Weitergabe von Lageinformationen an die Bundeswehr;

Entgegennehmen ziviler Gesuche;

Teilnahme an Treffen der Katastrophenschutz-Stäbe;

Meldung der Lage und der Absichten der zivilen Stäbe an das Landeskommando; Gewährleistung der Kommunikation zwischen den eingesetzten Truppenteilen;

Unterstützung bei Unterbringung und Verpflegung der eingesetzten Soldaten.

Zur Unterstützung der Einsätze der Verbindungskommandos werden insgesamt 32 Mobile Regionale Planungs- und Unterstützungstrupps mit jeweils drei aktiven Bundeswehrsoldaten des Landeskommandos aufgestellt. Sie verteilen sich wie folgt: Baden-Württemberg 3, Bayern 7, Brandenburg 2, Hessen 2, Mecklenburg-Vorpommern 2, Niedersachsen 4, Nordrhein-Westfalen 4, Rheinland-Pfalz 2, Sachsen-Anhalt 1, Sachsen 2, Schleswig-Holstein 1.

Als weitere Unterstützungsstrukturen werden von der Bundeswehr 16 so genannte ZMZ-Stützpunkte eingerichtet, die aufgrund ihrer personellen und materiellen Ausstattung besonders für diese Einsätze geeignet sind. Nach derzeitigem Stand der Planungen wird es fünf Stützpunkte mit den Aufgabenbereichen Pionierwesen, neun für Sanitätsdienst und zwei für die ABC Abwehr geben. Etwa 5.000 Reservisten werden hier eingesetzt und bestehenden Verbänden als teilaktive oder nichtaktive Teileinheiten zugeordnet werden (nach Schäfer 2007).

Damit ist gewährleistet, was Franz Josef Jung bereits 2007 in der Bundeswehrzeitschrift »Y« vermeldete: „Die flächendeckende Einführung der Zivilmilitärischen Zusammenarbeit im Inland stellt sicher, dass die Bundeswehr in unsrer Heimat jederzeit und an jedem Ort unseres Landes Hilfe und Unterstützung leisten kann.“ Damit wird bis 2010, nahezu unbemerkt und unbeachtet von der Öffentlichkeit, ein Militärsystem geschaffen, das flächendeckend bis in den hintersten Winkel der gesamten Bundesrepublik reicht – ohne verfassungsrechtliche Grundlage!

Hilfsweise und rechtswidrig wird, wie oben gezeigt, Art. 35 Abs. 1 »Amtshilfe« bemüht. Zum anderen werden »Großschadensereignisse« und ihre »Verhütung«, »Terrorismus« und sonstige »asymmetrische Bedrohungen« u. dgl. als Begründung für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren bemüht. Im Artikel 35 des Grundgesetzes ist aber für den Einsatz der Bundeswehr im Innern nur vorgesehen: „Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall“ (Artikel 35, Absatz 2). Von Hilfe bei Polizeiaufgaben oder militärischen Einsätzen bei der Gewährleistung der inneren Sicherheit ist in Artikel 35 GG nicht die Rede. Auch hier muss die Entstehungsgeschichte von Art. 35 Abs. 2 u. 3 GG berücksichtigt werden. Der Rechtsausschuss des 5. Deutschen Bundestages wollte durchaus die Hilfe durch Streitkräfte bei einem Unglücksfall oder Naturkatastrophen ermöglichen. Gleichwohl sollten die Streitkräfte im Innern nur ausnahmsweise eingesetzt oder verwendet werden. Die heutzutage behaupteten asymmetrischen Bedrohungspotentiale waren jedoch nicht Bestandteil der damaligen Beratungen. Eine schlichte Neuinterpretation des Grundgesetzes in der Absicht, einen Kompetenzzuwachs zu erreichen, ist gerade deshalb nicht möglich (nach Ehmann 2006).

Besonders kritische potentielle Entwicklungen

Die Absichten der Bundeswehr bei der Neuausrichtung der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit sind eindeutig: Sie soll dem Verteidigungsministerium ermöglichen, mit verhältnismäßig geringem Aufwand sowohl die Belastung der aktiven Soldaten im Bereich der »Territorialen Aufgaben« zu reduzieren und die Reservisten stärker einzubinden als auch sich gegenüber der Öffentlichkeit und den zivilen Behörden als legitimer und verlässlicher Partner für einen Einsatz im Inneren zu präsentieren. Die Bundeswehr profitiert dabei von der Tatsache, dass derzeit nur sie und die »Experten« des BMI und der Länderministerien an Konzepten des Bevölkerungsschutzes arbeiten. Der Mangel an konzeptionellen Alternativen ermöglicht es der Bundeswehr so aufzutreten, als ob nur entlang ihrer Standards eine Verbesserung der Schnelligkeit, Effektivität und Qualität im Bevölkerungsschutz möglich ist. Paul Schäfer, MdB (Die Linke.), resümiert in einer Analyse: „Grundsätzlich lässt sich allerdings festhalten, dass die Neuausrichtung der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit langfristig den Einfluss der Bundeswehr auf Planungsprozesse, Entscheidungsprozesse und die Umsetzung von Maßnahmen im Inneren, die laut Gesetz eigentlich in den Zuständigkeitsbereich ziviler Behörden fallen, erhöht. Als besonders kritisch sind folgende potenzielle Entwicklungen zu bewerten:

Das Prinzip der Subsidiarität droht ausgehöhlt zu werden. Die Anwesenheit und Beteiligung der Bundeswehr an den Entscheidungsprozessen droht den Gedanken der Subsidiarität auszuhöhlen. Eigentlich müssten die zivilen Behörden zuerst in einem autonomen Entscheidungsprozess zu der Auffassung gelangen, dass Amtshilfe oder ähnliches angefordert werden muss und erst danach Kontakt mit den Bundeswehrstellen aufnehmen.

Die Bundeswehr etabliert sich schleichend als Vorprüfinstanz für den Handlungsspielraum der zivilen Behörden. Die ständige Anwesenheit eines Reservisten in den zuständigen zivilen Behörden ermöglicht ihm als Vertreter der Bundeswehr frühzeitig die Planungs- und Entscheidungsgrundlage dahingehend zu beeinflussen, dass sie den Interessen der Bundeswehr nach Beteiligung oder Nicht-Beteiligung entgegenkommt und nicht am Interesse des Landes, Bezirks oder Kreises ausgerichtet ist.

Die Verzahnung und Verbesserung ziviler Kapazitäten zur Katastrophenhilfe wird verhindert. Die ständige Anwesenheit eines Reservisten und das Versprechen auf „kurze Wege“ behindern die zivilen Behörden bei der Entwicklung von nicht-militärischen Ansätzen der Katastrophenhilfe und dem Aufbau bzw. Ausbau entsprechender Kapazitäten. Eventuell droht sogar der Abbau bestehender Kapazitäten.

Die Rolle der Bundeswehr als autonomer Akteur im Inneren wird gestärkt. Statt die ZMZ-Einheiten klar den zivilen Behörden zu unterstellen, stärkt die anvisierte Struktur die Autonomie der Bundeswehr bei ihrer Kooperation mit zivilen Behörden. Während die zivilen Behörden nur unter Umständen und eingeschränkt Einblick in die Planungen der Bundeswehr und das Lagebild erhalten, erhält die Bundeswehr aufgrund des Verbindungskommandos kontinuierlich Lageinformationen. Zum Auftrag gehört auch explizit die Weitergabe des Informationsstands der zivilen Stäbe und ihrer Absichten.“ (Schäfer 2007)

Die Heimatschutzkommandos sind in den kreisfreien Städten und Landratsämtern präsent und haben den Auftrag, ständige Verbindungen mit dem Technischen Hilfswerk und den zivilen Hilfsorganisationen wie den Feuerwehren, Arbeiter Samariterbund, Rotes Kreuz, Johanniter, Malteser etc. bis hin zur DLRG aufzubauen. Diese Hilfsorganisationen umfassen 3,5 Millionen Menschen, die sich für die Lebensrettung engagieren. Jetzt sollen sie jenen zuarbeiten, deren Handwerk vor allem im Kriegführen und Töten besteht. Der Plan ist, »Hilfsorganisationen« im weitesten Sinne nach und nach auch zu Reserven der Bundeswehr zu machen.

Der politischen Klasse ist die Rechtswidrigkeit ihres Treibens in Sachen Heimatschutz/ZMZ klar. Sie drängt über kurz oder lang auf eine Klarstellung in der Verfassung. Hiergegen müsste sich der Hauptstoß des Widerstandes richten – und zwar gegen beide Varianten: Wiefelspütz (SPD) möchte »lediglich« den Amtshilfeartikel 35 GG ergänzt sehen, Schäuble (CDU) hält eine Änderung des Art. 87 a GG für erforderlich. Danach soll künftig die Bundeswehr nicht nur zur Verteidigung, sondern auch zur Abwehr eines »sonstigen Angriffs auf die Grundlagen des Gemeinwesens« eingesetzt werden dürfen.

Literatur

Bundesminister der Verteidigung; Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR), erlassen am 21.05.2003, http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Bundeswehr/vpr2003.html.

Bundesminister der Verteidigung: Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr, Broschüre 10.08.2004; http://www.bmvg.de/fileserving/PortalFiles/C1256F1200608B1B/W268ADVU038INFODE/KDB.pdf

Bundesminister der Verteidigung: Konzeption der Bundeswehr (KdB), Erlass 09.08.2004; http://www.geopowers.com/Machte/Deutschland/doc_ger/KdB.pdf.

Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, 25.10.2006.

CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Landesverteidigung und Heimatschutz als Teil des Gesamtkonzepts Sicherheit, Beschluss vom 30. März 2004; http://www.cducsu.de/upload/heimatschutz040331.pdf.

CDU/CSU-Fraktion: Neue Reservistenkonzeption Schritt in die richtige Richtung, Pressemitteilung: 28.04.2004; http://www.openpr.de/pdf/5471/Neue-Reservistenkonzeption-Schritt-in-die-richtige-Richtung.pdf.

Ehmann, T.: Polizeiliches Handeln der Bundeswehr im Innern unter besonderer Berücksichtigung des § 13 Abs. 1 LuftSiG2 sowie der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorn 15. Februar 2006; http://www.deutsches-wehrrecht.de/Aufsaetze/Ehmann-%20Einsatz%20Bw%20im%20Innern.pdf.

Pau, Petra: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung eines Gesetzes über die Neuordnung der Reserve der Streitkräfte und zur Rechtsbereinigung des Wehrpflichtgesetzes (Streitkräftereserve-Neuordnungsgesetz – SkResNOG) (Tagesordnungspunkt 13), in: Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 157. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 17. Februar 2005; http://www.petrapau.eu/15_bundestag/dok/down/15157_05_02_17_pau_reservisten.pdf.

Sander, Ulrich: Grundgesetz wird Makulatur – Hunderttausende Reservisten ziehen zusätzlich in die Einsätze der Bundeswehr im In- und Ausland, Langversion des gekürzten Artikels der Jungen Welt vom 4. Juli 2007 http://www.bundeswehr-wegtreten.org/main/Reservisten.pdf.

Sander, Ulrich: Vortrag beim NRW-Landesvorstand der Partei Die Linke am 17. Mai 2008 in der Volkshochschule in Dortmund http://www.dielinke-nrw.de/fileadmin/kundendaten/www.dielinke-nrw.de/dokumentenarchiv/ Vortrag_Ulli_Sander_DieLinke__Vorstand_ NRW.pdf.

Schäfer, Paul: Informationen zu der Neuordnung der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit (Stand: Februar 2007) http://www.paulschaefer.info/cms/userfiles/File/NeuordnungZMZ-Informationen_Februar2007_.pdf.

Wehrpflichtgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. September 2008 (BGBl. I S.1886) auf www.juris.de http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/wehrpflg/gesamt.pdf.

Peter Feininger ist Privatlehrer für Kunst und klassische Gitarre, engagiert sich seit 40 Jahren als Redakteur in linken Projekten und ist seit 2002 für die Webseite des »Forums solidarisches und friedliches Augsburg« (www.forumaugsburg.de) zuständig.

»Vernetzte Sicherheit«

»Vernetzte Sicherheit«

Technokratische Phantasien auf dem Vormarsch

von Norbert Pütter

Die gegenwärtige sicherheitspolitische Debatte ist voll von Schlagworten, die ein neues Zeitalter der Sicherheit einläuten wollen. Die »neue Sicherheitsarchitektur« ist einer dieser Begriffe. Die »Synergien«, die aktiviert werden sollen, gehören ebenso in den Kanon des aktuellen Jargons wie die Forderung nach »vernetzter Sicherheit«, die mittlerweile sowohl den deutschen, aber auch – etwas anders benannt – den gesamten westlichen Sicherheitsdiskurs prägt. Wie vielen »erfolgreichen« Begriffen ist der ihr zugrunde liegende Gedanke auf den ersten Blick so trivial, dass kaum kritische Stimmen zu vernehmen sind.

Im Kern besteht die Grundüberlegung der »Vernetzten Sicherheit« darin, dass sämtliche staatlichen oder nicht-staatlichen Akteure, die in irgendeiner Form mit Sicherheitsaspekten befasst sind, fortan eng kooperieren sollen. Aber die Vorstellung, »Sicherheit« sollte durch ein Netzwerk derer gewährleistet werden, die zu ihr beitragen können, hat weit reichende Folgen.

Sicherheitspolitischer Einheitsbrei

Die Probleme beginnen bereits damit, dass in der Diskussion um »vernetzte Sicherheit« immer weniger bestimmbar wird, welche Art von »Sicherheit« bewahrt werden soll: Geht es um den Schutz der BürgerInnen vor Kriminalität oder vor Katastrophen? Geht es um die Gefahren, die von terroristischen Anschlägen drohen? Geht es um die inneren Feinde der staatlichen Ordnung oder geht es um vom Ausland – von anderen Staaten, von aus dem Ausland operierenden Gruppen – kommende Gefahren für den Bestand des Staates? Geht es um die wirtschaftliche Stabilität, die Versorgung mit Energie etc.? Insofern stellt das Streben nach »Vernetzung« die strategische Verlängerung des ominösen »neuen Sicherheitsbegriffs« dar. Denn die erste Besonderheit der Rede von der »vernetzten Sicherheit« ist, dass sie davon ausgeht, die alten Unterscheidungen seien im Zeitalter des globalen Terrorismus hinfällig: Klimawandel, Terrorismus, »neue Kriege«, ökonomische und soziale Krisen – sie alle bedrohten »die Sicherheit« und müssten deshalb mit »vernetzten« Kräften bekämpft werden. Unter der Maßgabe »vernetzter Sicherheit« entsteht deshalb ein neuer, allumfassender Sicherheitskomplex, in dem die Unterscheidungen nach Schutzgütern (physische, materielle, soziale, staatliche), nach Gefahrenarten (Kriminalität, Naturkatastrophen, Kriege, soziale Verwerfungen), nach politisch-geographischen Orten (Inland, Ausland), nach institutionellen Zuständigkeiten (Polizei, Geheimdienste, Katastrophenschutz, Militär) und nach der Art der Intervention (Hilfe, Eingriff, Kampf, Vernichtung) hinfällig werden.1

Vernetzung von Polizei, Geheimdiensten …

In den neuen Arrangements laufen Entwicklungen zusammen, die sich in einzelnen Sektoren des zusammenwachsenden Sicherheitsfeldes seit geraumer Zeit abzeichnen. Die Wandlungen der drei wichtigsten Instanzen – Polizei, Nachrichtendienste und Militär – lassen sich folgendermaßen charakterisieren: Bereits seit den 1970er Jahren sucht die Polizei nach Verbündeten im Kampf gegen Kriminalität. Aufgeklärte Polizeiarbeit weiß, dass sie am Ende einer Verursachungskette steht, die sie mit eigenen Kräften nicht erfolgversprechend unterbrechen kann. Deshalb gibt es schon seit längerem Bemühungen, andere Behörden an der Sicherheitsarbeit zu beteiligen. Seit den 1990er Jahren wurden auf lokaler Ebene Sicherheits- oder Ordnungspartnerschaften gebildet, in denen unterschiedliche Behörden, aber auch private Vereinigungen für mehr Sicherheit sorgen sollten. Auch auf den Feldern der Kriminalitätsbekämpfung kam es zu Formen der Zusammenarbeit: etwa bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit mit dem Zoll oder der Geldwäsche mit der Finanzwirtschaft, die dazu verpflichtet wurden, »verdächtige« Geldgeschäfte anzuzeigen. Gleichzeitig wuchs das polizeiliche Streben, mit eigenen Mitteln die Triebkräfte oder (in symptomatisch-polizeilicher Wahrnehmung) die »Hintermänner« von Kriminalität ausfindig zu machen. Mit der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung«, die seit den 1980er Jahren Einzug in die deutschen Polizeigesetze hielt, wurde der präventive Auftrag der Polizei erheblich erweitert. Statt durch eine konkrete Gefahr oder durch Anhaltspunkte für eine begangene Straftat wird polizeiliches Verhalten nun zugleich von der Suche nach möglichen zukünftigen Gefahren oder nach verborgenen Straftaten bestimmt. Der Ausbau verdeckter, ihrer Natur nach geheimdienstlicher Methoden war die logische Folge dieser präventiven Kehre der Polizeiarbeit.2

Die »Vergeheimdienstlichung« der Polizeien wurde seit den 1990er Jahren ergänzt um die »Verpolizeilichung« der Geheimdienste. Der Bundesnachrichtendienst wurde ermächtigt, seine strategische Überwachung des internationalen Telekommunikationsverkehrs auf vermutete Deliktsbereiche »organisierter Kriminalität« auszuweiten. Einige Landesämter für Verfassungsschutz wurden mit der Beobachtung »organisierter Kriminalität« beauftragt.3 Damit erweiterten sich die klassischen Überschneidungen, die bei Staatsschutzdelikten zwischen Diensten und Politischen Polizeien bestehen, auf Bereiche »normaler« Kriminalität. Methoden und Gegenstände präventiver Ausrichtung überlappten sich zunehmend. Aus diesen beiden Entwicklungen ergab sich nahezu zwangsläufig das Erfordernis, die Tätigkeiten zu koordinieren und Ergebnisse auszutauschen.

Die Reaktionen auf die Anschläge in den USA (2001), Madrid (2004) und London (2005) beschleunigten die informatorische und institutionelle Zusammenarbeit zwischen Polizeien und Diensten. Im anti-terroristischen Kampf wurde das »Trennungsgebot« zwischen Polizei und Geheimdiensten, das die Alliierten dem westdeutschen Staat auferlegt hatten, in ein Gebot zur Zusammenarbeit umgedeutet. Seinen institutionellen Ausdruck fand dies in der Gründung des »Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums« in Berlin,4 eine rechtliche Basis für den Datenaustausch wurde mit dem »Gemeinsame Dateien-Gesetz« geschaffen.5 An diesem präventiv, auf Früherkennung ausgerichteten Verbund sind nicht nur die beiden Bundespolizeien, der Zoll und die 16 Landespolizeien, die Generalbundesanwaltschaft und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sondern auch das Bundesamt und die 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz beteiligt sowie der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst. Mit dem MAD ist auch die Bundeswehr im anti-terroristischen Netzwerk vertreten.

… und Militär

Die Bundeswehr befindet sich seit den 1990er Jahren in der Transformation. Aus der Abschreckungsarmee ist eine Einsatzarmee geworden. Je häufiger Interventionskriege geführt werden, desto weniger kann auch das Militär sich der Erkenntnis verschließen, dass diese mit militärischen Mittel nicht gewonnen werden können. Der Ruf nach Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, seien es Sicherheitskräfte – Polizeien, private Sicherheitsdienstleister – oder auch andere Behörden, Institutionen, Gruppen, die zur Stabilität bzw. Kontrolle einer Region beitragen können, resultiert aus den bürgerkriegsähnlichen Einsatzlagen in Vor-, Zwischen- oder Nachkriegsgesellschaften. Im Weißbuch der Bundeswehr heißt es dazu: „Staatliches Handeln bei der Sicherheitsvorsorge wird künftig eine noch engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher und nachrichtendienstlicher Instrumente der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung voraussetzen.“ 6 Militärstrategischer Kern der »vernetzten Sicherheit« ist das Konzept des »network-centric warfare«: nicht länger sollen die Teilstreitkräfte ihre Schlachten schlagen – die Zeiten klassischer Militärschlachten sind Geschichte –, sondern alle Einheiten und Waffengattungen sollen aufgaben- und fähigkeitsbezogen zusammenwirken; allein auf die Schlagkraft, auf die »Wirkungen« soll es ankommen. Mit der Orientierung an den je vorhandenen »Fähigkeiten« ist ein weiterer Schlüsselbegriff der Vernetzungsdebatte benannt. Für das strategische Sicherheitsdenken soll es unerheblich sein, von wem, an welchem Ort, durch welche Motive oder Kausalketten bedingt, Gefahren entstehen können, sondern maßgebend sollen allein deren Ausmaß und die Fähigkeiten sein, deren Realisierung zu verhindern. Konsequenterweise sollen die Vorrichtungen zur Gefahrenabwehr nicht mehr an der Art der Gefahren, sondern an den eher abstrakten Fähigkeiten zu deren Abwehr oder Bewältigung ausgerichtet werden. Im Kontext des »neuen Sicherheitsbegriffs« stellt die »netzwerkzentrierte Kriegführung« ein Modell dar, das Geltung für den gesamten sicherheitsrelevanten Staatsapparat beansprucht.7

Zentralisierung und Hierarchisierung

Noch ist »vernetzte Sicherheit« mehr eine ideologisch-programmatische Formel als eine Beschreibung deutscher Realitäten. Aber unverkennbar sind die Bestrebungen, die Streitkräfte in die »innere Sicherheitsarchitektur« einzubinden.8 Von den – bislang noch gescheiterten – Versuchen, das Grundgesetz für den Inlandseinsatz weiter zu öffnen, über die – freilich vorerst mehr symbolische als schlagkräftige – neue territoriale Struktur der Bundeswehr bis zur ausufernden Amtshilfepraxis (von der Fußball-WM bis zum G8-Gipfel): Unverkennbar sind die Ansätze, das Militär in die inneren Angelegenheit hineinzuziehen und die Bevölkerung an dessen Präsenz zu gewöhnen. Für die Strategen des »neuen Sicherheitsbegriffs« und der »vernetzten Sicherheit« sind dies aber nur halbherzige Ansätze. Zum einen geht es ihnen um die Verbreiterung des Netzes. Im Kontext der Auslandseinsätze handelt es sich primär um die Einbindung von Hilfsorganisationen und Nicht-Regierungsorganisationen, im Inland fällt darüber hinaus der Blick auf die Privatwirtschaft. So wie von den Polizeien private Sicherheitsfirmen als willkommene Juniorpartner eingebunden werden, so sollen generell die Ressourcen der Privatwirtschaft mit den staatlichen Bürokratien verbunden werden. Die Eigentümer solch »kritischer Infrastruktur« – jene Konzerne, die von der neoliberalen Privatisierung der Infrastrukturleistungen profitierten – sind die ersten Privaten, an die sich die Vernetzungsforderung richtet.9

Zum anderen geht die Debatte um die Binnenstruktur des »Netzwerks«. Hier zeigt sich sehr schnell, wie diffus der Begriff in Wirklichkeit ist, da er keinerlei Aussagen über die Verhältnisse zwischen den Akteuren zulässt. Die große Resonanz des Begriffes erklärt sich vermutlich auch aus dem Umstand, dass mit »Netz« Vorstellungen eines gleichberechtigten Miteinanders transportiert werden. Statt dessen sind die realen Vernetzungsprozesse durch Zentralisierung und Hierarchisierung gekennzeichnet, die sich in unterschiedlichen Kontexten nachweisen lassen: So stellt die Zivil-Militärische Zusammenarbeit nach der Definition der NATO ein Mittel dar, um durch die Einbindung ziviler Kräfte militärische Ziele zu erreichen. Das Militär gibt die Ziele vor, andere dürfen mithelfen, sie zu erreichen. Die anhaltenden Versuche, über eine Änderung von Art. 35 Grundgesetz dem Bund die Leitungskompetenz bei Katastrophen zu übertragen, soll den Einfluss des Bundes auf Kosten der Länder stärken; dass damit auch der Zugriff auf Bundespolizei und Bundeswehr näher rücken, ist naheliegend. Mit der Erweiterung des Grundgesetzes und ihrer Umsetzung im Gesetz über das Bundeskriminalamt ist das im polizeilichen Bereich bereits gelungen. Nach langjährigen Versuchen hat das Amt nun auch präventivpolizeiliche Befugnisse. In den strategischen Debatten werden diese Veränderungen allerdings nur als kleine Schritte auf dem Weg zu einer »neuen Sicherheitsarchitektur« bewertet. Vor allem fehle es an einer zentralen politisch-administrativen Steuerungsinstanz, die als Entscheidungszentrale für alle Felder des diffusen »neuen Sicherheitsbegriffs« zuständig sein soll – sei es über eine entsprechende Stelle im Bundeskanzleramt oder durch den Ausbau des Sicherheitskabinetts.10

Unkontrollierbare Entgrenzung

Hinter dem Konzept der »vernetzten Sicherheit« verbirgt sich ein mehrfach entgrenztes Modell staatlich gelenkter »Sicherheitswahrung«: Seine Vorkehrungen sind präventiver Natur und gelten dem alltäglichen Normalfall (weil überall Gefahren lauern könnten). Es ebnet die Grenzen zwischen unterschiedlichen Teilen des Staatsapparates ein; die historischen Errungenschaften, das staatliche Gewaltmonopol nach innen und außen zu differenzieren, die staatliche Gewalt demokratisch-rechtsstaatlich zu zügeln, polizeiliche von geheimdienstlichen Praktiken zu trennen, werden der »Vernetzung« geopfert. Und schließlich wird der vernetzte Sicherheitskomplex zu einer Art Über-Regierung, weil von seinen Entscheidungen Wohl und Wehe von Staaten und Gesellschaften abhängen sollen.

Die Folgen »vernetzter« Sicherheitspolitik für die demokratische Verfassung der Gesellschaft betreffen die Geltung der Bürgerrechte und die Kontrolle des »Sicherheitsnetzes«. Der Schutz der BürgerInnen gegenüber staatlichen Eingriffen wird durch die präventive Ausrichtung der Sicherheitsstrategien erheblich durchlöchert. Die Schwellen für polizeiliche Eingriffe in verbürgte Grundrechte sind abgesenkt worden, die Instrumente zur Überwachung werden dem technischen Fortschritt folgend laufend erweitert, die Zuständigkeiten der Geheimdienste werden erweitert und ihre Verbindung zu den Polizeien intensiviert. Unverkennbar ist auch, dass Zugänge zu Daten geschaffen worden sind, die nicht der Aufklärung oder Verhinderung konkreter Straftaten dienen, sondern auf die Erfassung des Alltags angelegt sind: von den Geldwäsche-Verdachtsmeldungen der Kreditinstitute bis zu den Heiligendammer Lagemeldungen aus den »Fennek«-Panzern. Wer, wo, aus welchem Grund, in wessen Auftrag und mit welchen Folgen in das »Recht auf informationelle Selbstbestimmung« eingreift, wird im Zeitalter »vernetzter Sicherheit« immer undurchschaubarer.

Für die Frage nach der politisch-gesellschaftlichen Kontrolle des entstehenden Sicherheitsarrangements gilt dasselbe. Die rechtlichen Bestimmungen sind in den vergangenen Jahren derart deformiert worden, dass sie Verwaltungshandeln nicht begrenzen, sondern den Raum für erweiterte Eingriffe absichern. Die neuen Kooperationsformen fallen zudem durch alle Maschen des politischen Betriebs. Was bislang etwa für die Innenministerkonferenz und die ihr nachgeordneten Behördenkooperation galt, gilt für alle »Netzwerke«: Sie entziehen sich systematisch der parlamentarischen Kontrolle, weil weder Bundestag noch Länderparlamente zuständig sind. Hinzu kommt, dass mit dem Verteidigungsministerium und dem Bundeskanzleramt (BND) bereits auf der Bundesebene verschiedene Verwaltungen kontrolliert sein wollen, wobei die Kontrolle der Nachrichtendienste durch die Parlamente traditionell eingeschränkt ist. Mit der Einbindung der Privatwirtschaft in die Netzwerke wird jede parlamentarisch-öffentliche Kontrolle vor unüberwindbare Hindernisse gestellt, weil sie sich dem privaten Eigentums- und Verfügungsrecht gegenüber sieht. Aber selbst wenn es gelänge, Formen der parlamentarischen Kontrolle zu etablieren: Alle Erfahrungen – nicht nur der »Kontrolle« von Geheimdiensten – führen zu der Erkenntnis, dass mit jeder Kooperation, mit jeder Intensivierung der Arbeitsbeziehungen und mit dem wachsenden Kreis der Beteiligten die exekutive Definitions- und Handlungsmacht steigt. »Kontrolle« wird unter diesen Bedingungen eher ein Instrument zusätzlicher Legitimationsbeschaffung. Während vollkommen unklar bleibt, welche Art »vernetzter Sicherheit« wie erreicht werden soll, sind die bürgerrechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Unsicherheiten offenkundig, die diese Strategie mit sich bringt.

Anmerkungen

1) Vgl. exemplarisch: Böckenförde, S. (2007): Sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel von Verteidigung zu Schutz, in: Europäische Sicherheit, Heft 8: 29-32.

2) Pütter, N. (1998): Der OK-Komplex. Organisierte Kriminalität und ihre Folgen für die Polizei in Deutschland, Münster.

3) Vgl. Lisken, H. (1995): Vorfeldeingriffe im Bereich der »Organisierten Kriminalität« – Gemeinsame Aufgabe von Verfassungsschutz und Polizei?, in: Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie, Heft 1: 29-50.

4) Zum Terrorismus-Zentrum und anderen »Vernetzungsgremien« vgl. Wörlein, J. (2008): Unkontrollierbare Anziehungskraft. Institutionalisierte Kooperation von Polizei und Diensten, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP, Heft 2 (90): 50-61.

5) Roggan, F./Bergemann, N. (2007): Die »neue Sicherheitsarchitektur« der Bundesrepublik Deutschland. Anti-Terror-Datei, gemeinsame Projektdateien und Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 13: 876-881.

6) Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands, Berlin, S.7.

7) Vgl. Habermayer, Helmut (2004): Network-Centric Warfare – Der Ansatz eines Kleinstaates, in: Österreichisches Bundesheer /ÖMZ, Heft 3 (online unter: www.bmlv.gv.at/omt/ausgaben/artikel.php?id=202&print=1).

8) Vgl. die Kritik bei Brendle, Frank (2009): Vernetzte Sicherheit? Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren, in: Die Rote Hilfe, Heft 1: 10-16.

9) Vgl. exemplarisch Borchert, Heiko: Vernetzte Sicherheitspolitik: Bausteine eines neuen Leitbildes, o.O. (online unter: www.borchert.ch/paper/VernetzteSicherheitS+F.pdf).

10) Vgl. z.B.: Adam, R.G. (2006): Fortentwicklung der deutschen Sicherheitsarchitektur – Ein nationaler Sicherheitsrat als strukturelle Lösung?, in: Sicherheit + Stabilität, Heft 1: 38-50 (als Manuskript online unter: www.dgap.org/bfz2/veranstaltung/Rede_Adam_060113.pdf).

Prof. Dr. Norbert Pütter ist Redakteur der Zeitschrift »Bürgerrechte & Polizei / CILIP«.

»Ziviler« Friedensdienst – »militärischer« Friedensdienst

»Ziviler« Friedensdienst – »militärischer« Friedensdienst

Konkurrierende oder sich ausschließende Gegensätze?

von Wolf-Dieter Narr

Friedensbewegung positiv. 1989/1990, das Ende des Kalten Krieges infolge des inneren Zerfalls der Sowjetunion und ihrer Trabanten, markierte unvermeidlicherweise auch einen Richtungswandel in dem, was zuvor allzu einheitlich als »die« Friedensbewegung wahrgenommen worden war. Vor diesem Zeitkatarakt, so scheint es dem entdifferenzierenden Rückblick, gab es nur eine herrschende Nato- und RGO- Welt der wechselseitigen Wettrüster. Daraus entstand das, was der verstorbene große englische Historiker und Pazifist, E.P Thompson, den »exterminism«, die vor allem atomare Vernichtungsdynamik genannt hat. Und gegen diese zweigeteilte, waffenstarrend etablierte Welt wendete sich »die« Friedensbewegung. Ab-, statt Aufrüstung lautete deren Devise samt dem Abbau totalisierender Feindbilder.

Nach dem weltgeschichtlichen Katarakt etablierte sich zwar keine neue Weltordnung. Im Gegenteil: Mörderische innen- und zwischenstaatliche Konflikte haben eher zugenommen. Die sogenannte Friedensdividende wurde auch west- und »sieg«-wärts nicht in systematischer Abrüstung verwirklicht. Die weltweite »Konfliktlage« komplizierte sich. Sie stimulierte innerhalb dessen, was sich im Rahmen der Friedensbewegung mehr oder minder randständig institutionalisiert hat, die Suche nach einer »Strategie« von der Negation der Aufrüstungsspirale zur »Position« eigener Friedenspolitik mit entsprechend friedlichen Mitteln. Das hauptsächliche Stichwort dieser Suche lautet: Ziviler Friedensdienst.

Frieden erfordert friedliche Mittel

Das homöopathisch verkehrte lateinische Sprichwort stimmt: Wenn du Frieden willst, bereite den Boden des Friedens mit friedlichen Mitteln. Diese uralte, erfahrungssatte pazifistische Devise wurde vor allem durch den Krieg in Exjugoslawien seit 1991 gerade unter solchen strittig, die sich im Kalten Krieg einig gewesen waren, indem sie der Aufrüstungsspirale opponierten (die erheblichen Differenzen und gegenseitigen Vorwürfe hatten schon im 2. Golfkrieg begonnen). Der Krieg vor allem in Bosnien, der sich durch seine von den diversen Herrschaftsgangs genutzte ethnozentrische Mobilisierung unter Verwandten besonders grausam entwickelte, hat zu so etwas geführt wie einer »moralischen Verwahrlosung« innerhalb der Gruppen, die friedenspolitisch zuvor am selben Strang zu ziehen schienen. Alle möglichen und unmöglichen pazifistischen Prozentuierungen entstanden. Die halb-, dreiviertel und Voll-Pazifisten – je nach dem, in welchem Ausmaß die Gruppen den wiederentdeckten »gerechten (Nato-)Krieg« als eine notwendige Voraussetzung des Friedensprozeßes verlangten und akzeptierten. Seitdem der herbeigebombte Frieden von Dayton und die Truppen, die ihn überwachen, einen Teil der ex-jugoslawischen Szene beherrschen, ist vor allem in diesem Zusammenhang die Debatte um Zivile Friedensdienste stark aufgeflackert. Der zunächst negative Frieden soll durch zivile Aktivitäten zum positiven Dauerfrieden werden.

Was heißt ziviler Friedensdienst?

Was aber heißt Ziviler Friedensdienst? Aktivitäten, die sich als solche einordnen lassen, hat es nach dem 2. Weltkrieg schon gegeben. Das, was Aktion Sühnezeichen bis heute tut, läßt sich darunter verbuchen (spezifisch auf die nationalsozialistisch verursachten Greuel und Zerstörungen bezogen). Oder auch die Initiativen von Eirene (vgl. den Überblick von Eva Senghaas-Knobloch und Uli Jäger im Jahrbuch Frieden 1996; hier zitiert nach der Dokumentation in der FR vom 12. 7. 1996). Hierbei haben Eva Senghaas-Knobloch und Uli Jäger mit gutem Grund auf die „eigene Logik“ aufmerksam gemacht, der solche „konstruktive Konfliktbearbeitung“ folgen müsse. „Die Betrachtung der Aktivitäten als ziviles Äquivalent oder als Ersatz für militärische Einsätze führt daher in die Irre.“ Demgemäß folgern beide, Autorin und Autor, am Ende: „Es geht beim Ausbau der Friedensdienste zunächst nicht um einen Ersatz für die Großorganisation Militär, sondern um das politische Feld.“

Darüber indes, was das zarte Wörtchen „zunächst“ bedeutet und der nachfolgende letzte Satz des Überblicks – unter dem von der FR gegebenen Titel – „Eine neue Großorganisation namens Friedensdienst?“ streiten sich diejenigen, die von der »Idee« konstruktiver pazifistischer Alternativen fasziniert sind. Auch dieser Artikel, dessen Autor »Partei« in diesem Streit ist. „Dieses Feld“, so also Senghaas-Knobloch/Jäger, „ist hochkomplex und sensibel, gerade deswegen ist ein Verhältnis kritischer Kooperation zwischen staatlichen Vertretern und eigenständigen Aktiven in NGO ein Gebot der Stunde.“ Was heißt hier: „Verhältnis kritischer Kooperation“?

Übereinstimmung besteht in folgenden Merkmalen eines wie immer gearteten ZFD:

  • seiner Gewaltfreiheit;
  • seiner Tätigkeit nur im Konsens mit den Gruppen, Regionen, Ländern, in denen er – in der Regel von dort gerufen – tätig wird;
  • seine strikte Subsidiarität in dem Sinne, daß von Gruppen des ZFD nur Aktivitäten unternommen werden dürfen, die den Menschen am Ort des Konflikts so unter die Arme greifen, daß deren Arme gestärkt werden und keinerlei Stellvertreterpolitik betrieben wird;
  • daß die ZFD-Gruppen landes-, problem- und sprachenkundig, in diesem Sinne also hochkompetent und entsprechend spezifisch vorbereitet sein müssen;
  • daß sich eine altersgemischte Zusammensetzung empfiehlt;
  • daß je nach Konfliktsituation mediative, informativ zusammenlehr-lernende und/oder beim Aufbau aller Arten helfende Arbeiten angezeigt sind.

Schmutziges Geld für eine gute Sache?

Frei nach Gretchen: Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch schließlich alles.

Die achtziger und vor allem die neunziger Jahre können in gewisser Weise als Jahrzehnte der NGOs bezeichnet werden. Diese tummeln sich, in der Zwischenzeit offiziell/semioffiziell anerkannt, auf den vielen Gipfeln, die in der Welt zusammenwipfeln. Sie sind weltweit politisch aufklärerisch und mobilisierend tätig. Sie leisten im Zusammenhang von Ökologie und Entwicklung wichtige regional-lokale Vermittlungsarbeit. Letztere wird in der Zwischenzeit von Institutionen wie der Weltbank anerkannt und gefördert.

Die NGOs sind in Größe, Zielen und organisatorisch-fiskalischen Eigenarten sehr verschieden. Dort, wo sie vergleichsweise erfolgreich sind, zahlen sie allerdings in der Regel einen beträchtlichen Preis. Dieser ist dann skrupulös zu verbuchen, sofern diese NGOs beanspruchen eine andere, nämlich menschenrechtlich demokratische Politik – abständig zur kapitalistisch durchdrungenen herrschenden Politik und der ihr eigenen Gewalt – zu betreiben. Besteht nicht die Gefahr, das, was als »Erfolg« qualifiziert wird, an etablierten Indizien, vor allem am Medienspektakel abzulesen? Werden um solchen »Erfolgs« willen, die eigenen Aktionen entsprechend geformt? Wie wird dem wachsenden Geldbedarf genügt? In welcher Weise wird mit staatlichen, mit staatlich internationalen und mit kapitalistisch multi- bzw. transnationalen Institutionen zusammengearbeitet? Wer kooptiert wen; wer schlägt den Takt beim »Marsch durch die Institutionen« und welche institutionell habituellen Prägungen »siegen«? (vgl. am extremen Beispiel Greenpeace den trefflichen Überblick von Roland Roth: Greenpeace – eine neue Form menschenrechtlich-demokratisch angemessenen Populismus?, in: Jahrbuch des Komitees für Grundrechte und Demokratie 1995/96, S. 265-308).

Ziviler Friedensdienst – Auf- oder Abschwung?

Ziviler Friedensdienst vor dem erfolgreichen Auf- oder Abschwung? Am 22. Februar 1997 wurde eine »Berliner Erklärung für einen Zivilen Friedensdienst« abgegeben, unterschrieben von prominenten Kirchenvertreterinnen und -vertretern (der Prot. Kirche), von Grünen, von leitenden Mitgliedern des Forums Ziviler Friedensdienst, von Hans Koschnick, Hildegard Neubrand (Pax Christi), Helmut Simon, Ellis Huber (Präsident der Ärztekammer Berlin) u.a. In der Erklärung heißt es: „Ziviler Friedensdienst meint einen Friedens-Fachdienst, der in nationalen und internationalen Konflikten mit den Methoden der gewaltfreien Konfliktaustragung tätig wird. Sein Ziel ist es, in qualifizierter Form dazu beizutragen, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern oder zu beenden oder nach gewaltsamen Konflikten Prozesse der Versöhnung in Gang zu setzen. Die MitarbeiterInnen, Frauen und Männer unterschiedlichen Alters, sollen durch eine mehrmonatige Ausbildung zu gewaltfreien Einsätzen befähigt werden. Sie sollen nach dem Prinzip der Subsidiarität in pluraler zivilgesellschaftlicher Trägerschaft arbeiten. Der Staat muß für die Trägerorganisationen und MitarbeiterInnen die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen.“ „Die Zeit ist reif“, so schließt der kurze Aufruf, „sich neuen Formen der nationalen und internationalen Verantwortung für Frieden und Völkerverständigung zu stellen.“

Wofür ist „die Zeit… reif“? Längst sind nichtkriegerisch gewaltfreie Formen der Konfliktlösung überfällig. Der Schrecken ohne Ende des XX. Jahrhunderts kann im XXI. nur abgeflacht und beendet werden, wenn Krieg und kollektive Gewalt nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sind und zuvor und danach Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist.

Indes: werden »Friedensfachkräfte«, die diese Aufgabe erfüllen sollen, nicht schlechterdings überfordert? Muß nicht zu allererst darauf gedrängt und daran mitgewirkt werden, endlich die innen-, außen- und – wohlgemerkt – die wirtschaftspolitischen Voraussetzungen für radikale Abrüstung zu schaffen? Und zwar an erster Stelle in den ökonomisch und militärisch überlegenen Ländern? Besteht nicht die Gefahr, daß man friedensgesinnt zu früh und überschätzerisch Möglichkeiten eines Friedensdienstes vorstellt und darob zum einen »die Kritik der Waffen« des Staates, hier der Nato-Staaten samt der Bundesrepublik, unterläßt und zum anderen, wenn auch unausgesprochen – das ist in diesem Falle aber pazifistisch gesprochen schlimmer –, das Militär seine »Aufgaben« erfüllen läßt in der vag-schalen Hoffnung, dasselbe allmählich friedensdienstlich ersetzen zu können?

Wofür ist „die Zeit… reif“? Erneut sei's gefragt. Daß „der Staat… die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen“ schaffe? Einfach so, aus dem Stand heraus sozusagen? Weil der „deutsche Bundestag und die Bundesregierung“ nur noch daran „erinnert“ werden müssen, „daß die Einsicht in die Notwendigkeit gewaltfreier und zivilgesellschaftlicher Handlungsinstrumente zur Sicherung und Förderung des Friedens längst vorhanden ist“ (so im vorletzten Absatz der Berliner Erklärung)? Ist diese Hofferei edel oder ist sie eitel – das ist die Frage. In jedem Fall basiert sie auf dem Fundament von Auslassungen und unkritisch gefährlichen Annahmen. Der Auslassung der bestehend staatlich-kapitalistisch-globalen Wirklichkeit. Der Annahme, als sei es friedenspolitisch zulässig, das heißt friedensstiftend fruchtbar, von Bundestag und Bundesregierung höchst offiziell einen Friedensdienst »neben« und »zusätzlich« zum Militär zu verlangen. Dieser, in der Erklärung listiger-, aber unredlicherweise verborgene »Kern des Pudels« wird einsichtig, liest man den Antrag einer Reihe von Abgeordneten, die mit Gert Weiskirchen anhebt und der Fraktion der SPD endet vom 22.11. 1996 (Bundestagsdrucksache 13/6204). Diesen Antrag »Ziviler Friedensdienst -Expertendienst für zivile Friedensarbeit« soll der Bundestag „beschließen“, damit „die traditionellen Elemente der Friedenssicherung, die die internationale Staatengemeinschaft einsetzt“, also weniger geschraubt: damit die kriegerischen Mittel „ergänzt werden durch einen Zivilen Friedensdienst…“ (Hervorgehoben durch WDN) In einer Werbebroschüre des Forum ZFD von 1996, die von den werbend Überzeugten zu einem Teil als Brief an Dr. Wolfgang Schäuble verschickt werden sollte, damit sich letzterer für das in der Zwischenzeit etwas verblichene Projekt »Startphase Ziviler Friedensdienst im ehemaligen Jugoslawien« stark mache, heißt es analog zum Entschließungsantrag der SPD: „Das Daytoner Friedensabkommen hat nur dann eine Chance, wenn es auch zivil umgesetzt wird“ (Hervorgehoben durch WDN).

Wofür ist „die Zeit… reif“? Zum dritten Mal kräht der Hahn der Frage. Folgt man Äußerungen rund um die diesbezüglichen Aktivitäten der Kirche Berlin-Brandenburg, des Bundes für soziale Verteidigung und des Forums Ziviler Friedienst, dann ist „die Zeit… reif“ für einen Haushaltsposten »Ziviler Friedensdienst« im Bundesetat. Daß die 40 Millionen, über die im Frühjahr 1996 hoffnungstrunken spekuliert worden ist – eine Reihe von Abgeordneten quer durch die Fraktionen hatten die Hoffnung genährt –, noch weniger gedeckt waren als viele Börsenspekulationen, lag »nur« an den beteiligten Ministerien (Außen- und Entwicklungsministerium), nicht an den drängenden Gruppen und Personen vom Berlin-Brandenburger Bischof Wolfgang Huber bis zu den Vertreterinnen der Gruppen, die im FZFD vereint sind. Nur im Sinne der beherzigenswerten Einsicht von Kurt Schumacher, daß „Demokratie eine Sache des guten Gedächtnisses“ sei, sei angemerkt, daß der Friedensdienst auch von Heiner Geißler, CDU, lernfähig unterstützt worden ist (und möglicherweise wird), einem Politiker immerhin, der sein ungeheuerliches öffentliches Wort als CDU-Generalsekretär im Kampf um die »Formeln der Macht« noch nicht widerrufen hat: Der Pazifismus sei an Auschwitz schuld.

Der Kontext muß stimmen

Der Anspruch ist falsch; der Name ist falsch; die Sache ist falsch. Wie immer kommt es darauf an, was man will. Dann ist man auch im Wie, in den Mitteln gebunden. Wenn man friedenspolitische Arbeit ohne Wenn und Aber leisten will, muß man selbstredend individuell und kollektiv alles tun, um innen- und außenpolitisch im weitesten Sinne Konfliktursachen abzubauen, Konflikte friedlich zu lösen und Frieden in den angemessen sozialen Bedingungen zu sichern. Obwohl, ja gerade weil diese Aufgabe riesig groß, existentiell wichtig und täglich einzulösen ist, muß man sich in der schwierigen Kunst wappnen, durchzuhalten, dauernd aktiv zu sein, ohne ungeduldig schnell Vieles erreichen zu wollen. Es sei denn, die Bedingungen, viel erreichen zu können, seien pazifistisch angemessen. Dann muß der Kontext stimmen, in dem friedenspolitisch gehandelt wird; dann muß das Geld stimmen, mit dessen Hilfe friedenspolitische Arbeit geleistet wird; dann muß selbstredend auch das Handlungskonzept stimmen und müssen geeignete Leute da sein, selbiges umzusetzen. All diese und andere Bedingungen sind rund um das gegenwärtige Konzept ZFD und seine versuchte Verwirklichung in Bosnien nicht gegeben. Der Kontext wird von den Nato-Mächten bestimmt; das Geld stinkt (oder stänke, wenn es denn gegeben würde), weil es nicht ohne jede Auflage zu haben ist; das Handlungskonzept ist unausgereift und gleicherweise die Art der Ausbildung (über die möglicherweise beteiligten Personen kann ich, selbstredend, nichts sagen). Kurzum: das, was von den Leuten und Institutionen rund um die Berliner Erklärung jedenfalls gewollt wird, ist, so leid mir diese Feststellung tut, so nicht akzeptabel. Schon der Name »Ziviler Friedensdienst« ist verräterisch, als gäbe es einen »kriegerischen«. Mit diesem militärisch etatistischen Ammenmärchen sollten Theologen zuletzt hausieren gehen. In diesem Sinne wäre der von Ulrich Frey vorgeschlagene Begriff »Zivile Konfliktbearbeitung« in jedem Fall vorzuziehen.

Wer der Sache des Friedens verbunden sein will, muß um die enormen Schwierigkeiten wissen. Gewaltlosigkeit versteht sich bekanntlich selbst im bürgerlichen Umgang alles andere als von selbst. Sie bedarf großer dauernder Anstrengungen. Die Niederlagen sind geradezu programmiert. Dennoch lohnt jede Anstrengung. Dieselbe ist aber nur dann pazifistisch sinnvoll, wenn sie nicht um den vordergründigen Erfolgs und des Geldes willen Bündnisse eingeht, die jedenfalls friedenspolitisch Bündnisse mit »tödlichem Ausgang« sind. Die „kritische Kooperation zwischen staatlichen Vertretern und eigenständigen Aktionen der NGO“, von der Eva Senghaas-Knobloch und Uli Jäger sprechen, darf deshalb allenfalls äußerlichen Abstimmungen u.ä. gelten. In der Sache muß sie auf eine gewaltfreie Non-Cooperation hinauslaufen. Pazifismus kann klüger und einfältiger sein. Er ist jedoch nicht in Prozenten zu haben. Ein Viertel Krieg, Dreiviertel Frieden oder andere Mischungen – das geht nicht; das ist schlechte Illusion.

Prof. Dr. Wolf Dieter Narr ist Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Schutz für humanitäre Hilfsorganisationen

Schutz für humanitäre Hilfsorganisationen

Erfahrungsbericht aus Somalia

von Nicola Kaatsch

Dieser Bericht ist im Anschluß an einen siebenmonatigen Einsatz mit »MSF – Ärzte ohne Grenzen« in Kismayu und Gelib entstanden. Bei der Beschreibung beschränkt sich die Autorin auf den Süden Somalias. Dieser Region fällt mit der Hafenstadt Kismayu, der geographischen Nähe zum Nachbarland Kenia und vor allen Dingen mit den Flußtälern des Juba und Shebelli eine herausragende Bedeutung für die Ernährung und Versorgung des gesamten Landes zu.

Die Bilder des Somaliakrieges sind uns aus den Medien bekannt. Auch unterscheiden sie sich nicht von den Bildern der nicht medienwirksamen Kriege und Konflikte im Südsudan oder Tadschikistan. Die medizinischen Hilfsprogramme haben sich in ihrem Kern in Somalia ebenfalls nicht verändert.

Verändert haben sich die Rahmenbedingungen: Eindeutige große Kriegsparteien oder politische Lager gibt es in Somalia nicht, und der Übergang zu bewaffneten Plündererbanden ist fließend. So sind Gespräche und Verhandlungen mit Clan- und Subclan-Ältesten ein einziger Jonglierakt unter Beachtung der jeweiligen Machtverhältnisse.

„Der Krieg findet nicht mehr in Grenznähe, sondern mitten in den Staatsgebieten statt. Die Unterscheidung zwischen Stützpunkten im Hinterland, befreitem Gebiet und Kampfzone gibt es nicht mehr. Heutzutage trifft man heimatlose Zivilisten an denselben Orten an wie kämpfende Soldaten … Wenn die Hilfsorganisationen die Zivilbevölkerung erreichen wollen, können sie nicht mehr am Rand der Kampfgebiete agieren, sondern müssen tief in die unsicheren Gebiete vorstoßen, wo sie nicht mehr den Schutz der bewaffneten Bewegungen genießen, die selbst kaum in der Lage sind, ihren Zusammenhalt zu bewahren … Unter diesen veränderten Bedingungen gewinnt die Frage der Sicherheit der privaten Hilfsorganisationen eine zentrale Rolle.“ 1

In Kismayu und im Juba Tal kämpfen seit dem Sturz des Diktators Siad Barres Sub-Clans der Darods um die Vorherrschaft. Die Hauptakteure sind die Milizenchefs »General Morgan«, Schwiegersohn und ehemaliger Verteidigungsminister von Siad Barre, und Omar Jess, der als Führer des »Somali Patriotic Movements« direkter Verbündeter von General Aidid (Hawiye) ist.

Bei meiner Ankunft im März zog sich die Frontlinie quer durch die Stadt. Die sechs in der ganzen Stadt verteilten »Feeding Center« wurden in den ersten Märztagen zerstört und ausgeraubt. In ihnen wurden 1000 schwerst unterernährte Kinder behandelt. Weitere 5000 Kinder erhielten zweimal die Woche eine Zusatznahrungsmittelration und konnten jederzeit durch regelmäßige Gewichtskontrollen direkt in die sog. therapeutischen Einrichtungen überwiesen werden.

Eine Wiederaufnahme der Arbeit in diesen Centern war aus Sicherheitsgründen nur schleppend möglich. Der größte Teil der Mitarbeiter war geflohen. Unter sorgfältiger Beachtung der Clanzugehörigkeit mußte ein neues Team angeheuert und angelernt werden. Die bis zu diesem Zeitpunkt bewaffneten Wächter, die die Zentren vor Raubüberfällen schützen sollten, wurden durch unbewaffnete ersetzt. Den Schutz übernahmen die UN-Blauhelme. Praktisch sah es so aus, daß ich nur unter ihrer Eskorte und in ihrer Anwesenheit in den Zentren arbeiten konnte und mich dabei nach deren Verfügbarkeit richten mußte.

Während der offenen Kampftage wurden wir von Panzern zwischen Haus und Krankenhaus hin und her gefahren. Diese beiden Gebäude waren rund um die Uhr von UN-Blauhelmsoldaten beschützt.

Der völlige Verlust von Privatsphäre durch ein noch näheres Zusammenrücken auf dem eh schon sehr beengten Lebensraum, um Militärfahrzeug, Gerät und Soldaten unterzubringen, sowie die Notwendigkeit der Gewöhnung an den allnächtlichen Lärm auf dem Dach, verursacht durch die zweistündlichen Wachwechsel, mußten in Kauf genommen werden.

Durch die räumliche Nähe wurden wir Zeugen skandalösen Betragens gleicher UN-Blauhelmsoldaten. Somalis wurden grundlos zusammengeschlagen, somalische Frauen verbal wie körperlich belästigt und Kinder durch wilde »Rumraserei« in den Straßen hochgradig gefährdet und wiederholt angefahren. Durch das Auftreten in Unterhosen in der Öffentlichkeit (auf den Dächern der internationalen Hilfsorganisationen) wurde die moslemische Bevölkerung in ihrem religiös-kulturellem Selbstverständnis beleidigt.

Dies hat zwar nichts mit der politischen Diskussion um bewaffnete Interventionen unter dem Deckmantel »Humanitäre Hilfe« zu tun, muß aber erwähnt werden.

Fatales Beispiel für die Erpreßbarkeit von Seiten der somalischen Kriegsparteien sowie dem »Spiel« Distanz-Nähe zu den UN-Einheiten ist folgendes Ereignis aus dem März: Kismayu war wieder in General Morgans Händen. Schutzsuchende »Jess-Leute« lebten noch auf dem Gelände des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK), auf dem MSF Krankenhausgelände (die Hälfte unserer Krankenhausmitarbeiter gehörten zur »gegnerischen« Seite und profitierten von dem UN-Schutz im Krankenhaus), und schließlich eine kleine Gruppe, die sich in der 200 m vom Krankenhaus gelegenen ehemaligen Polizeistation verschanzt hatte. Seit Tagen hatten »Ärzte ohne Grenzen« mit den Darod-Ältesten verhandelt, um eine Evakuierung der verbliebenen »Jess-Leute« zu arrangieren. Die Verhandlungen standen unter dem Druck der zunehmenden Massaker an eben diesen Menschen. Die UN hatte eine Eskorte zugesichert, konnten oder wollten aber keine Fahrzeuge zur Verfügung stellen. Am 31. März kam es zum offenen Kampf. Das IKRK erhielt eine Granate über die Grundstücksmauern. Im Krankenhaus wurde ich Zeugin eines Massenmassakers von »Morgan-Leuten« an den in der Polizeistation verschanzten »Jess-Leuten«. Unsere Soldaten auf dem Dach haben nicht eingegriffen. Unser Team hat sich im Panzer vom Krankenhaus aus der panischen Menge in die Militärbasis flüchten können. Nach nächtlichen Verhandlungen haben die Blauhelme sämtliche Angehörigen des Jess-Lagers aus Kismayu 40 km hinter die Frontlinie auf sicheres Terrain transportiert. Auf den UN-Lastern sind nicht nur die politischen Flüchtlinge, sondern auch unser medizinisches Personal sowie ein großer Teil der Patienten geflohen. Die Fahrt für die Flüchtenden endete in einem kleinen Dorf ohne jegliche medizinische Versorgung. In den kommenden Wochen wurden »Ärzte ohne Grenzen« von Omar Jess massiv unter Druck gesetzt, in jenem Dorf eine Klinik einzusetzen. Er setzte die Patienten als unmittelbares Druckmittel ein, indem er ihnen verwehrte in freier Entscheidung sich zurück in medizinische Behandlung zu begeben. Diese stand ihnen offen in Kismayu oder Gelib, einem Dorf mit einer Klinik von uns, das fest in Jess` politischer Hand war. Innerhalb der ersten Tage starben 14 Patienten. Nur durch inoffizielle Arrangements war es uns möglich, den Patienten notdürftige medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Erst im Juni durften die Patienten in eine der beiden Kliniken verlegt werden.

In den friedlicheren Monaten Juni bis August hatten wir erheblich mehr Bewegungsfreiheit. Diesen relativen Frieden stabilisierten die UN-Truppen, die mit ihren militärischen Kontrollpunkten dafür sorgten, daß die vor die Stadttore verdrängte Front auch vor der Stadt blieb. Ebenso hat die Unterzeichnung des Friedensabkommens von Kismayu zu den ruhigeren und sich stabilisierenden Verhältnissen beigetragen. Dieses Abkommen wurde von 120 Stammesältesten verschiedener Clans nach fast dreimonatigen Verhandlungen unter Führung von UNOSOM II unterzeichnet. Sichtbares Resultat waren die gefüllten Märkte sowie die Abnahme der hohen Fluktuation und häufigen Umsiedlungsaktionen der Bevölkerung. Die Familien fühlten sich wieder sicherer, nahmen Handel auf und konnten sich allmählich sogar über die Frontlinie bewegen. Patienten brauchten nicht mehr um ihr Leben bangen, wenn sie sich dem Krankenhaus anvertrauten: Abkommen zwischen den Clanältesten und »Ärzte ohne Grenzen« sorgten schließlich unter Schutz der UN-Truppen für freien Zugang für Angehörige aller Parteien zu dem einzigen Krankenhaus Südsomalias. Die Impfkampagnen konnten geordneter durchgeführt werden. Zur gleichen Zeit haben UN-Soldaten die erste Schule wiederaufgebaut, der lokalen Hilfsorganisation »Somali Women Concern« Nähmaschinen gestiftet und sich an der Reparatur der von der Regenzeit heftig zerstörten Straßen und Deiche beteiligt. Selbst unser Team hat sich von den UN-Truppen mit ihren Maschinen bei der Aufräumung des neuen Grundstückes helfen lassen.

Wie sehr es sich bei dieser Stabilisierung in Kismayu dann aber doch nur um eine Problemverschiebung handelte, verdeutlicht eine meiner Tagebuchaufzeichnungen: „Heute Morgen haben wir erfahren, daß innerhalb der nächsten 48 Stunden ein Angriff von Omar Jess erwartet wird. Kenia übt totalen Druck aus, daß die Flüchtlinge nach Somalia zurückkehren können, dafür muß gewährleistet sein, daß Kismayu in General Morgans Händen bleibt. (Flüchtlinge wie Morgan gehören zum Clan der Darods) Also werden die vermeintlich neutralen Truppen Omar Jesses Front »großzügig zerstören«, O-ton der Amis heute morgen.“ Oft war es nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien bei dem einen oder anderen Gefecht entweder gar nicht, verspätet und dann wieder mit aller Härte eingegriffen wurde.

Diese Undurchsichtigkeit zeigt deutlich, daß die Neutralität der UN nicht gewahrt werden konnte. Mit der offenen Kriegserklärung an General Aidid schlug die humanitäre Hilfe endgültig in eine militärische Aktion um, und die Arbeit der NGOs ist seitdem mehr gefährdet denn je. In der Vorstellung der Somalis treten die Hilfsorganisationen immer mehr in Verbindung mit den parteiischen UN-Truppen. Eine politische Orientierungslosigkeit der ganzen Intervention in Somalia läßt sich nicht mit einer Aktion nur der Aktion willen verdrängen. Die Konzeptlosigkeit zu Beginn der militärischen Intervention und die Unkenntnis über politische und gesellschaftliche Strukturen in Somalia haben mit dazu geführt, daß die UN-Truppen sich in der Gewaltspirale verfangen haben.

Den internationalen Hilfsorganisationen muß freigestellt bleiben, wie sie sich selbst und ihre humanitären Prinzipien am besten schützt. „Es ist heutzutage für die humanitären Hilfsorganisationen schon schwierig genug, sich selbst zu schützen, noch schwieriger wird es für sie, wenn – theoretisch zu ihrem Nutzen, doch praktisch zu ihrem Schaden – Politiker, die keine Politik haben, sich mit bewaffnetem Eifer ihrer annehmen.“ 2

Nicola Kaatsch (Krankenschwester, Medizinstudentin) ist Vorstandsmitglied der IPPNW/Deutsche Sektion und arbeitete mit der Organisation »Ärzte ohne Grenzen« ein halbes Jahr in Somalia.

Zivil-militärische Zusammenarbeit aus der Sicht der Bundeswehr

Zivil-militärische Zusammenarbeit aus der Sicht der Bundeswehr

Interview mit Oberst i.G. Volker Fritze

von Volker Fritze und Albert Fuchs

Das folgende Interview zum Verständnis der Bundeswehr von zivil-militärischer Zusammenarbeit (CIMIC / ZMZ) konnte nicht rechtzeitig für unser entsprechendes Schwerpunktheft 4/06 realisiert werden. Wir tragen es auch als Novum für W&F in dem Sinne nach, dass wir die von uns ansonsten eher grundsätzlich kritisch-objektivierend beobachtete Institution Bundeswehr in der Person von Oberst i.G. Volker Fritze selbst zu Wort kommen lassen. Bevor man argwöhnt, jetzt sei auch W&F einer Akzeptanz-Offensive des Militärs via CIMIC / ZMZ erlegen, sollte man sich unsere Fragen und die gegebenen Antworten genauer ansehen. Grob gesprochen liegt der Akzent entweder auf der Sachinformation oder der politischen Bewertung. Wir glauben, dass die gebotene Sachinformation zumindest in Teilen durchaus Neuigkeitswert hat. Andererseits wird bei den Antworten auf die Bewertungsfragen – sofern die Frageintention aufgegriffen wird – niemand entgehen, wie »mainstreamig« im Sinne der neu-deutschen Außen- und Sicherheitspolitik der CIMIC / ZMZ-Ansatz bei der Bundeswehr verstanden wird. Allerdings ist im Auge zu behalten, dass die Antworten erkennbar nicht auf das tatsächliche Denken von Bundeswehrangehörigen abstellen, sondern auf die Programmatik – im Unterschied zu der einen oder anderen der für W&F von Albert Fuchs gestellten Fragen. Der »Apparat« wurde von der Redaktion hinzugefügt. Wir danken Herrn Fritze und dem Presse- und Informationsstab der Bundeswehr, dass sie die vorliegende W&F-Novität ermöglicht haben.

W&F: Was versteht das Militär / die Bundeswehr unter CIMIC / ZMZ? Worum geht es im Besonderen im Hinblick auf die Einsätze jenseits der Landes- und Bündnisgrenzen?

Volker Fritze: In Anerkennung der Veränderungen der globalen sicherheitspolitischen Lage wurden die Aufgaben der Bundeswehr (Bw) neu gewichtet und Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung – einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus – als die wesentlichen Beiträge der Bw zu einer umfassend angelegten sowie ressortübergreifenden deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erklärt.

ZMZ Bw umfasst nach heutigem Verständnis alle Planungen, Vereinbarungen, Maßnahmen, Kräfte und Mittel, welche die Beziehungen zwischen militärischen Dienststellen sowie Dienststellen der Territorialen Wehrverwaltung auf der einen Seite und zivilen Kräften, Behörden, Organisationen, Stellen und der Zivilbevölkerung auf der anderen Seite für die militärische Auftragserfüllung regeln. Dies schließt die Zusammenarbeit mit Regierungsorganisationen (RO), Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) oder Internationalen Behörden, Organisationen und Ämtern (IO) sowie anderen zivilen Akteuren im In- und Ausland ein. Die zivil-militärische Zusammenarbeit im Ausland (ZMZ / A) beinhaltet die Eignung / Befähigung zu Unterstützungsleistungen für militärische Operationen im gesamten Spektrum von Krisenprävention, Eingreifoperationen, Stabilisierungsoperationen sowie zur Unterstützung im Rahmen von Hilfeleistungen.

Seit Ende der 90er Jahre wird die internationale Staatengemeinschaft in besonderer Weise mit zunehmend komplexeren Problemstellungen bei der Krisenbewältigung konfrontiert. Die Feststellungen des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Dr. Peter Struck: „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ und „die erste Priorität ist nicht mehr die Verteidigung an des Ostgrenzen unseres Landes“ verdeutlichen diese Veränderung plakativ. Heute umfasst Verteidigung mehr als die Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Konflikten und die Konfliktnachsorge mit ein. Krisenprävention kann nicht ausschließlich mit Hilfe von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik bewältigt werden. Krisenprävention ist vielmehr eine Querschnittsaufgabe, die zunehmend auch andere Politikbereiche und nichtstaatliche Organisationen fordert. Der Einsatz rein militärischer oder rein ziviler Mittel zur Krisenbewältigung reicht nicht aus, um eine Krisenregion dauerhaft zu befrieden. Nur durch die Verzahnung der verschiedenen Fähigkeiten können Maßnahmen, die auf die Beseitigung der Ursachen nationaler oder regionaler Konflikte abzielen, an Effizienz und Nachhaltigkeit gewinnen.

W&F: Gibt es eine spezifische »Einsatzphilosophie« im Unterschied zur entsprechend benannten Konzeption aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation?

V. F.: Unter ZMZ wurde in der Vergangenheit ein Verfahren der Abstimmung zwischen zivilen und militärischen Trägern der ehemaligen Landesverteidigung verstanden. CIMIC umfasste die Maßnahmen, die das Verhältnis von Aufnahmestaat zu NATO-Streitkräften betrafen. Mithin waren ZMZ und CIMIC innerhalb der Landesverteidigung im NATO-Bündnis aufeinander bezogen und bildeten den Schirm, unter dem sich eine zivil-militärische Kooperation vollzog. Das heutige Grundverständnis der Bw von ZMZ / A1 entspricht fast identisch dem der NATO von CIMIC2. Sowohl ZMZ / A als auch CIMIC zielen ab auf:

  • Koordinierung der zivil-militärischen Beziehungen,
  • Unterstützung der Streitkräfte und
  • Unterstützung des zivilen Umfeldes.

W&F: Setzt die Bundeswehr in ihrem Grundverständnis andere Akzente als (NATO-) Partner? Und als das DPKO der UNO mit dem „Civil-Military-Coordination“-Konzept für Peacekeeping bzw. Peacebuilding?

V. F.: Im CIMIC-Verständnis einzelner Staaten gibt es graduelle Unterschiede. Diese spielen aber bei bündnisgemeinsamen Operationen nur eine untergeordnete Rolle, da in diesem Fall die NATO-Doktrin maßgebend ist. Dennoch ergeben sich in der Praxis durchaus Unterschiede, wie beispielsweise die Provincial Reconstruction Team (PRT)-Konzeptionen der verschiedenen in Afghanistan engagierten Nationen verdeutlichen. Das vom UN-Department of Peacekeeping Operations (UN-DPKO) 2002 herausgegebene Dokument »Civil-Military Coordination Policy« ist das Ergebnis eines Erfahrungsprozesses, das sich aus erkannten Problemfeldern bei UN-Operationen der Vergangenheit ableitet.3 Die Unterschiedlichkeit von teilweise mehreren hundert gleichzeitig in der selben Region tätigen zivilen Organisationen, inkompatiblen Organisationsstrukturen zwischen diesen Organisationen, aber auch zwischen den zivilen und den militärischen Komponenten sowie ungeklärte Informationswege und insbesondere unklare Führungsstrukturen führten zur Notwendigkeit, zielführenderes Handeln in einem »Policy Document« festzuschreiben.

Das Dokument selbst ist nur bedingt mit dem CIMIC-Verständnis der NATO kompatibel, da die Ziele und die Ausrichtung von UNO und NATO unterschiedlich sind. Trotzdem ist seit geraumer Zeit die Bemühung zu erkennen, die Zusammenarbeit beider Organisationen zu vertiefen und NATO- und UN-Verständnis kontinuierlich anzunähern.

W&F: Woher stammt das augenscheinliche »Anschlussbedürfnis« des Militärs an die Zivilgesellschaft(en), obwohl doch zumindest »auf den ersten Blick« einer militärischen und einer zivilen Konfliktbearbeitung unterschiedliche bis gegensätzliche Handlungslogiken zugrunde liegen? Oder ist das CIMIC-Konzept in der Bundeswehr im Hinblick auf ihr militärisches Kernmandat gar nicht unstrittig? Welche Vorbehalte werden eventuell artikuliert?

V. F.: Der Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« der Bundesregierung vom 12. Mai 20044 und noch deutlicher der »1. Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans«5 zeigen, dass Krisenprävention nicht ausschließlich mit Mitteln der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zu bewältigen ist, sondern in einem ressort-, organisations- und fähigkeitsübergreifenden Ansatz mit anderen Politikbereichen, wie Wirtschafts-, Umwelt-, Finanz-, Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik zu sehen ist. Zivile Krisenprävention ist folglich nicht in Abgrenzung zu militärischer Krisenprävention zu verstehen, sondern schließt diese mit ein. Somit ist es unzutreffend, von einem »Anschlussbedürfnis« zu sprechen, sondern das gemeinsame Vorgehen auf der Grundlage eines einvernehmlich getragenen Ansatzes bildet zwei Seiten derselben Medaille.

W&F: Wie funktioniert CIMIC konkret, z.B. im Kosovo und in Afghanistan? Welche Formen oder Ansätze der Institutionalisierung haben sich herausgebildet? Mit charakteristischen Unterschieden in diesen beiden politischen Kontexten?

V. F.: In den Einsatzgebieten der Bw ist CIMIC integraler Bestandteil jeder Operation. Verbindung und Abstimmung mit dem zivilen Umfeld sowie Erfassung und Berücksichtigung der zivilen Lage sind die wesentlichen Aufgaben. Daneben dient die Projektarbeit der Versorgung der Zivilbevölkerung, ist damit essenzieller Beitrag zur Schaffung von Stabilität und trägt zu Akzeptanz des internationalen Einsatzes und zum Schutz der zivilen Organisationen sowie der eigenen Truppe bei. Im Kosovo liegen die Schwerpunkte in der Feststellung der zivilen Lage, dem Betreiben von CIMIC-Centres – d.h von öffentlichen Anlaufstellen für die Bevölkerung, um Anliegen vorzutragen – sowie in der Fortführung unmittelbarer Unterstützungsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung durch eine deutsche CIMIC-Kompanie und in der Beteiligung an multinationalen Liasion Monitoring Teams (LMT). In Afghanistan liegen die Schwerpunkte bei Feststellung und Bewertung der zivilen Lage, der Unterstützung für das zivile Umfeld, dem Aufbau eines Netzwerkes, um das Einsatzkontingent wirkungsvoll in die Region zu integrieren und um die Zusammenarbeit mit den zivilen Partnern, RO, NRO und der Bevölkerung zu optimieren. Provincial Reconstruction Teams (PRT) bilden den äußeren Rahmen für die CIMIC-Tätigkeit. Das führt zu einer Schwerpunktverlagerung für die Arbeit der CIMIC-Kräfte, d.h. Wiederaufbau und Entwicklungshilfe erfolgt dort überwiegend in der Zuständigkeit anderer Ressorts oder beauftragter Institutionen und Organisationen (z.B. GTZ ). Die Aktivitäten der CIMIC-Kräfte liegen vor allem in der Erkundung der Lage des zivilen Umfeldes und dem Erstellen so genannter Village- and District-Profiles sowie im Herstellen und Halten von Verbindungen zum zivilen Umfeld, insbesondere zu den lokalen Autoritäten, Behörden, und natürlich zu RO und NRO. Des weiteren gilt es, die Planung und Durchführung von Unterstützungsmaßnahmen, also einzelne sog. Quick Impact Projects, sowie ausnahmsweise größere Unterstützungsprojekte entwicklungspolitisch abzustimmen. Dies findet jedoch stets auch unter dem Aspekt des Schutzes der Truppe im Einsatz statt. Die institutionalisierte Zusammenarbeit mit den zivilen Partnern erfolgt bereits auf ministerieller Ebene in Deutschland, u.a. in Form eines Referentenaustausches z. B. zwischen dem BMVg und dem BMZ.

W&F: Bestehen in der CIMIC-Praxis der involvierten NATO-Staaten nennenswerte Unterschiede, insbesondere bei den Provincial Reconstruction Teams (PRTs) der USA, Großbritanniens und Deutschlands in Afghanistan? Worauf beruhen sie eventuell? Wie wirken sie sich aus?

V. F.: PRTs sind für alle Beteiligten relatives »Neuland«. Ende 2002 wurden durch die USA militärisch geführte PRTs mit ziviler Beteiligung im Rahmen der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom (OEF) entwickelt. Großbritannien folgte Mitte 2003 mit einem eigenen Modell, und mit Übernahme des PRT in Kunduz durch Deutschland im Oktober 2003 entstand ein drittes PRT-Modell. Zwischen den PRTs der USA, Großbritanniens und Deutschlanbds gibt es deutliche Unterschiede.

Das US-Modell dient sowohl der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom als auch dem Wiederaufbau des Landes. Die zivilen Akteure unterstehen dabei einem militärischen Befehlshaber. Die Finanzierung von Projekten erfolgt im wesentlichen aus Mitteln der Streitkräfte. Projektarbeit und Wiederaufbau orientieren sich ohne Abstimmung mit den Vereinten Nationen oder zivilen Organisationen zumeist an operativen Gesichtspunkten. Die Zielsetzung der US-PRTs ist in der Praxis eher die Einbindung in eine Anti-Terror-Operation denn eine Stabilisierungs- und Wiederaufbauoperation nach deutschem Verständnis. Ob die von Deutschland kritisch gesehene Vermischung von Kampfauftrag mit Stabilisierungsauftrag durch ein identisches Kontingent zum Erfolg führt, wird die Zukunft zeigen.

Das Modell von Großbritannien, das sich zunächst ebenfalls am Anti-Terror-Kampf orientiert hat, ist in Bezug auf eine Arbeitsteilung und Zuständigkeiten der zivilen und militärischen Akteure deutlich stärker auf Kooperation mit der zivilen Seite ausgerichtet als das US-Modell. Es präferiert den Einsatz kleiner militärischer Trupps, die neben Aufklärung und Vertrauensbildung die Initiierung von zivilen Aufbauprojekten zum Ziel haben, die dann aber durch unabhängige zivile Akteure ausgeführt werden. Die zivile Seite verfolgt aber auch selbstgewählte Ziele und Projekte. Es existiert also eine Differenzierung zwischen militärischen und zivilen Aktivitäten.

Der Grundphilosophie des deutschen Konzepts folgend, nach der PRTs als zivile Wiederaufbauteams mit militärischer Unterstützungskomponente ausgerichtet werden, bestehen deutsche PRTs aus gleichberechtigten zivilen und militärischen Anteilen, um den politischen Gesamtauftrag, einen gemeinsamen Beitrag zum wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau des Landes zu leisten, umzusetzen. Diese PRTs sind somit regionale Wiederaufbauteams, in denen sich der ressortübergreifende Ansatz Deutschlands zur Unterstützung von Afghanistan widerspiegelt. Den PRTs gehören Vertreter des AA, des BMI, des BMZ und der Bw an. Ihre wesentlichen Aufgaben sind: Förderung des Wiederaufbaus von Administration, Sicherheitsstrukturen, Infrastruktur und Bildungseinrichtungen sowie Förderung von Wirtschaftsprojekten. Eingebettet in die internationale Gemeinschaft unterstützt Deutschland so die Bildung und Festigung legitimierter Staatsgewalt. Die Bw trägt zur Sicherheit der zivilen Partner bei und schafft damit die Voraussetzung für das deutsche Engagement beim Wiederaufbau in den nördlichen Provinzen. Die vertrauensbildende Präsenz der Bw im Land und ihre aktive Mitwirkung bei der Reform des Sicherheitssektors spielen dabei eine Schlüsselrolle. Die Bw versorgt die Angehörigen des PRT, unterstützt zivile Aufbauprojekte, führt aktiv ISAF-Informationskampagnen für die Zivilbevölkerung durch und wirkt durch ihre deutliche Präsenz. Damit wirkt sie ebenso stabilisierend wie durch den Aufbau eines regionalen Netzwerkes mit lokalen Behörden, regionalen Machthabern, Organisationen der UNO und Hilfsorganisationen.

W&F: Bezogen auf einen Standard-Konfliktzyklus mit den Phasen latenter Konflikt ⇒ manifeste (gewaltförmige) Konfliktaustragung ⇒ Wiederaufbau findet man CIMIC vor allem der dritten Phase zugeordnet. Die CIMIC-Erfahrungen in Afghanistan aber müssen wohl einer in die Länge gezogenen zweiten Phase zugerechnet werden. Was ergibt sich daraus für die Praxis?

V. F.: Bezogen auf das dargestellte Phasenmodell ist aus heutiger Sicht eine Zuordnung zu den Phasen 2 und 3 für Afghanistan zutreffend. Daraus ergibt sich für die Praxis, dass CIMIC für das eingesetzte Personal schwieriger durchzuführen ist als auf dem Balkan, weil durch die angespannte Sicherheitslage besondere, einschränkende Maßnahmen zum Tragen kommen (z.B. die Nutzung gepanzerter Fahrzeuge). Zunehmend kann man nicht mehr klar zwischen Phasen eines Konflikts differenzieren, wie dies das genannte Modell in vereinfachender Form impliziert. Moderne Konflikte lassen diese klassische Einteilung verschwimmen. Vielfach lautet die Realität, dass Kampf, Stabilisierung und Wiederaufbau parallel stattfinden und sich gegenseitig beeinflussen. Dies spiegelt sich in der Zielsetzung des bereits erwähnten, von der Bundesregierung 2004 implementierten Aktionsplans »Zivile Krisenprävention« wider, in welchem in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise ein ressort- und organisationsübergreifender Ansatz zu Krisenprävention, Krisenmanagement, Konfliktlösung und Postkonflikt gewählt wurde.

W&F: In den einschlägigen Richtlinien (i.B. der NATO: MC 411/1) wird die Bedeutung von CIMIC für die Akzeptanz (seitens der konfliktbetroffenen Bevölkerung) und den Erfolg der militärischen Einsätze / Operationen betont. Damit werden Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und zivile Konfliktbearbeitung i. e. S. anscheinend militärisch-politischen Zielvorgaben untergeordnet oder bestenfalls zu integralen Bestandteilen solcher Vorgaben. Wie sieht man dieses Verhältnis bei der Bundeswehr?

V. F.: Entwicklungspolitik, humanitäre Hilfe und CIMIC sind unterschiedliche Bereiche, haben aber Berührungspunkte. Da CIMIC keine Entwicklungspolitik oder humanitäre Hilfe in Uniform ist, sondern einer militärischen und politischen Zielsetzung dient, stellt CIMIC keine Konkurrenz dar. Ausgehend von einem ganzheitlichen Ansatz, wie ihn die Bundesregierung mit dem Aktionsplan »Zivile Krisenprävention«verfolgt, gilt es natürlich, Aktivitäten und Ziele sinnvoll miteinander abzustimmen. Ich will es nochmals ausdrücklich unterstreichen: Ziviles Krisenmanagement stellt keinen Gegensatz zum militärischen Einsatz dar, sondern nach unserem Verständnis ist das Militär Bestandteil eines gemeinsamen Krisenmanagements, in dem alle Beteiligten fähigkeitsbezogen zu einem gemeinsamen Ergebnis beitragen. Diese Aussage steht auch nicht im Widerspruch zu der angeführten NATO-Vorschrift MC 411/1, die in keinem Passus den Anspruch erhebt, Entwicklungspolitik oder die humanitäre Hilfe für militärische Zwecke operationalisieren zu wollen.

W&F: In der (affirmativen) Literatur wird »Nation Building« meist als Kohärenz stiftende und in einer Transformationsperspektive mit dem militärischen wie dem zivilen Ansatz kompatible Leitidee angeboten. Kritiker halten dagegen, dass bereits darin westlicher (Kultur-) Imperialismus zum Ausdruck komme, ganz zu schweigen von möglichen handfesten Interessen der beteiligten Staaten. Wird diese Problematik bei der Bundeswehr reflektiert?

V.F: Krisenprävention – und hierzu zählt auch der Aufbau staatlicher Strukturen nach einem Konflikt – wird in dem Bericht als politische Aufgabe gesehen, die aufgrund ihrer Komplexität den koordinierten Einsatz eines differenzierten Instrumentariums erfordert. Mit ihrem Konzept der Zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung integriert die Bundesregierung damit die verfügbaren Instrumente ziviler und militärischer Art in einem einheitlichen Politikansatz.

Einsätze im Rahmen komplexer Friedensmissionen mit Entwicklungs- bzw. so genannten Nation Building-Komponenten erfordern eine effektive zivil-militärische Zusammenarbeit. Hierdurch kann das Risiko krisenhafter Entwicklungen vermindert werden. Eine Mandatierung der Vereinten Nationen sichert gleichzeitig die Interessen der lokalen Bevölkerung bzw. Kulturgemeinschaft. Jede Form der Unterstützung orientiert sich eng am Bedarf der zu unterstützenden Nation und berücksichtigt die Vorstellungen ihrer souveränen Regierung. Dabei bedarf eine nachhaltige Konsolidierung von Frieden und Stabilität auch der Beteiligung der Betroffenen und der Übernahme von Eigenverantwortung (»ownership«). Wichtig ist ebenfalls der Grundsatz der »Joint Ownership«, d. h., dass sich beide Seiten im Rahmen der jeweils zur Verfügung stehenden Kapazitäten gemeinsam und abgestimmt aktiv in den Aufbauprozess einbringen, Ziele formulieren und Vorhaben verwirklichen. Somit sehen wir im Nation Building keinen Kulturimperialismus.

W&F: Abgesehen von der Instrumentalisierungsproblematik, sehen vielfach Trägerorganisationen von Entwicklungszusammenarbeit, humanitärer Hilfe und ziviler Konfliktbearbeitung die eigene Glaubwürdigkeit und insbesondere in einem anhaltendem »heißen« Konfliktklima auch die eigene Sicherheit durch die Nähe zu multinationalen Truppen gefährdet. Wie trägt man solchen Bedenken seitens der Bundeswehr Rechnung?

V. F.: Nach dem Motto »Keine Entwicklung ohne Sicherheit – Keine Sicherheit ohne Entwicklung!« und der Bedeutung militärischer Beiträge zur Bewältigung sicherheitspolitischer Herausforderungen gibt es zunehmend mehr Berührungspunkte zwischen entwicklungspolitischen, humanitären und militärischen Akteuren. Aus Sicht der Bw ist sogar festzustellen, dass mitunter die Entwicklungspolitik vom Militär Beiträge und militärisches Eingreifen erwartet. Gleichzeitig bildet nur erfolgreicher ziviler Wiederaufbau die Chance für einen zeitlich absehbaren Abzug der Streitkräfte (»Exit Strategy«).

In der Zusammenarbeit mit zivilen Institutionen beobachten wir, dass es zwischen den zivilen Akteuren selbst erhebliche Unterschiede gibt, und wir tragen dem mit der erforderlichen Sensibilität Rechnung. Da CIMIC ein militärisches Instrumentarium ist, stellt sich nach hiesiger Bewertung auch nicht die Frage nach der Glaubwürdigkeit der zivilen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen. Wenn RO oder NRO z.B. in Afghanistan Abstand zu den Streitkräften halten wollen, wird das respektiert.

W&F: CIMIC-Aktivitäten können leicht nicht-intendierte Nebeneffekte in einer konfliktbelasteten Zielgesellschaft haben, i.B. Rehabilitation / Stabilisierung eskalationsverantwortlicher Eliten, Entlastung der politischen Entscheidungsträger, strukturelle Abhängigkeiten. Wie beugt man solchen CIMIC-»Kollateralschäden« vor?

V. F.: Diese Gefahr ist bei allen Einsätzen in Krisenländern latent. Durch die Konzeption des Einsatzes der deutschen CIMIC-Kräfte soll solchen Schäden und negativen Einflüssen vorgebeugt werden. Alle Unterstützungsmaßnahmen werden unter dem Leitgedanken »Hilfe zur Selbsthilfe« ausgeplant und durchgeführt. Es werden nach Möglichkeit keine fertigen Produkte präsentiert, sondern Maßnahmen werden unter Einbindung der lokal oder regional Betroffenen in gemeinsamer Tätigkeit geplant, durchgeführt und in der Verantwortung zuständiger Stellen gepflegt, um hier Nachhaltigkeit zu erzielen. Der Gefahr der Begünstigung von Einzelgruppen oder verantwortlichen Eliten begegnen wir durch entsprechende aufklärende Vorbereitung und Abstimmung mit anderen Ressorts bzw. Institutionen. Grundsätzlich geht jeder CIMIC-Maßnahme eine tiefgehende Untersuchung über die Auswirkung der Aktivität voraus.

W&F: Im Kontext von CIMIC ist vielfach von »Lessons Learned« die Rede. Könnten Sie ein paar wichtige Lektionen benennen, die man gelernt hat? Wer hat die entsprechenden Erkenntnisse oder Einsichten wie gewonnen? Wie werden Sie umgesetzt?

V. F.: Angesichts von Häufigkeit und Dauer der Einsätze sowie der internationalen Verpflichtungen galt und gilt es, im Einklang mit Entwicklungen bei NATO, EU und den zivilen Partnern, Anpassungen und Optimierungen vorzunehmen. Auf der Grundlage der »Verteidigungspolitischen Richtlinien«6, der »Konzeption der Bundeswehr«7 und der Einsatzerfahrungen der letzten Jahre wurde die Fähigkeit zu ZMZ / A übergreifend auf die wahrscheinlicheren Aufgaben der Bw ausgerichtet. Neben der genannten strategischen Anpassung wird durch Qualitätsmanagement in Grundbetrieb und Einsatz eine ständige Anpassung und Optimierung der CIMIC-Arbeit und -Ausbildung vorgenommen.

Als übergreifendes Beispiel für Lessons Learned bietet sich ein Blick auf historische Entwicklungen an: Der VN-Einsatz zur humanitären Intervention in Somalia endete nicht mit dem gewünschten Erfolg, der anfängliche Bosnien-Einsatz führte nur zu Teilresultaten. Bei beiden Einsätzen war die Arbeit ziviler und militärischer Akteure nicht optimal abgestimmt. Dies hat sich in der Zwischenzeit, wie im Kosovo bei KFOR und in Afghanistan bei ISAF klar belegt wird, deutlich verändert. Koexistenz wurde durch Kooperation zwischen allen Beteiligten ersetzt. Mit den PRT’s ist ein Grad der zivil-militärischen Integration entstanden, welcher weit über Koexistenz und teilweise auch über Kooperation hinausgeht. Wichtig dabei ist, dass Zusammenarbeit und Integration schon in Deutschland beginnen und nicht ausschließlich im Einsatzland praktiziert werden. An diesem Erkenntnis- und Lernprozess waren zivile und militärische Partner gleichermaßen beteiligt und haben sich und ihre Zielsetzung im Konsens mit den jeweils anderen eingebracht.

W&F: CIMIC-Aufgaben sind zweifelsohne hoch komplex und erfordern andere Kernkompetenzen als spezifisch militärische. Wie rekrutiert bzw. selektiert und / oder trainiert die Bundeswehr ihre Fachkräfte für diesen Aufgabenkomplex?

V. F.: Eine besondere Herausforderung stellt die Rekrutierung und Ausbildung des im CIMIC-Bereich eingesetzten Personals dar. Obgleich CIMIC-Einsätze als integraler Bestandteil in militärische Operationen eingebettet sind, unterscheiden sie sich dennoch von den allgemein üblichen militärischen Aufgaben. Neben dem Beherrschen der üblichen militärischen Grundfertigkeiten, Erfahrungen im Bereich von Operationsplanung und -führung, einer abgeschlossenen Fachausbildung in einer anderen militärischen Verwendungsreihe, Sprachkenntnissen sowie Verhandlungsgeschick sind interkulturelle Kompetenz und die Befähigung, auf sich selbst gestellt arbeiten zu können, die üblichen »Zugangsvoraussetzungen« für die Offiziere und Unteroffiziere in CIMIC-Verwendungen.

Die Ausbildung trägt dem hohen Anspruch der künftigen Verwendung Rechnung und wird ständig angepasst. Hierbei unterscheiden wir zwischen der kontingentunabhängigen Ausbildung und der Kontingentausbildung für den jeweiligen Einsatz. Die kontingentunabhängige Fachausbildung erfolgt in komplexen Ausbildungsschritten. In einer ersten Ausbildungsstufe, nach Absolvieren des ZMZ-Basislehrgangs beim CIMIC-Zentrum der Bw in Nienburg, folgen zwei Lehrgänge an der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ). Diese beiden Lehrgänge werden gemeinsam mit Teilnehmern aus dem Bereich der RO und NRO besucht. Für die weitere CIMIC-Ausbildung sind Lehrgänge beim multinationalen CIMIC-Centre of Excellence in Budel / Niederlande oder an der NATO-Schule in Oberammergau oder bei befreundeten Nationen obligatorisch. Für Stabsoffiziere ist zudem eine Ausbildung an der Führungsakademie der Bundeswehr vorgesehen. Vor einem konkreten Einsatz nimmt das CIMIC-Personal neben der regulären Kontingent-Ausbildung aller für den jeweiligen Einsatz vorgesehenen Soldaten zusätzlich an einer speziellen, auf die Einsatzregion bezogenen CIMIC-Kontingentausbildung teil.

W&F: Aus Sicht mancher Kritiker dient(e) CIMIC letztlich dazu, die Neuausrichtung der Bw mit anhaltenden und immer neuen Auslandseinsätzen hoffähig zu machen und die Schwelle für solche Einsätze ohne öffentliche Diskussionen zu senken (cf. »Parlamentsbeteiligungsgesetz«). Damit würden zugrunde liegende (militär-) machtpolitische Ambitionen von Politikern und politisierenden Militärs und treibende Interessen der ökonomischen Elite verschleiert. Diese politische Kritik wirft (auch) die Frage der Legitimität (über die Legalität hinaus) auf und könnte das Selbstverständnis von Bundeswehrangehörigen zentral berühren. Wie setzt man sich in der Bundeswehr damit auseinander? Wie könnte man sich damit auseinandersetzen?

V. F.: Nicht-staatliche Akteure und asymmetrische Methoden der Gewaltanwendung spielen in den gegenwärtigen Konflikten eine wesentliche Rolle. Die offenen, von hoher Mobilität geprägten Informationsgesellschaften in Europa und Nordamerika sind mit ihrer komplexen Infrastruktur und großen Ressourcenabhängigkeit gegenüber derartigen Bedrohungsformen besonders anfällig. Organisierte Kriminalität und Migrationsbewegungen sind weitere neuartige Herausforderungen für die Sicherheit moderner Industriegesellschaften. Die veränderte Sicherheitslage erfordert insgesamt ein neues Verständnis von Sicherheit, Schutz und Verteidigung. Dabei bleibt die Verteidigung Deutschlands gegen eine äußere Bedrohung weiterhin der verfassungsrechtliche und politische Auftrag der Bundeswehr. Deutschland begegnet den sicherheitspolitischen Herausforderungen und Risiken mit einer vorbeugend angelegten, international eingebetteten und ressortübergreifenden Sicherheitspolitik. Sie beinhaltet aber auch die Bereitschaft und erfordert die Fähigkeit, Freiheit und Menschenrechte sowie Stabilität und Sicherheit gegebenenfalls mit militärischen Mitteln zu schützen, durchzusetzen oder auch wiederherzustellen. Dabei kann es erforderlich werden, Streitkräfte sehr frühzeitig einzusetzen, um Krisen zu verhindern, Konflikte beizulegen oder terroristische Gruppierungen an asymmetrischen Angriffen zu hindern. In diesem Zusammenhang dient die zivil-militärische Zusammenarbeit im Ausland der Operationsführung der eingesetzten Kräfte und ist aus militärischer Sicht erforderlich und zweckmäßig. ZMZ / A ist also kein Selbstzweck, sondern dient stets der Erfüllung des jeweiligen militärischen Auftrages der im Einsatzgebiet eingesetzten Streitkräfte. Daher orientieren sich ZMZ / A-Aktivitäten stets am konkreten Auftrag des Einsatzkontingents, sowie an der zivilen Lage einschließlich der Größe des Einsatzgebietes, Anzahl und Art der zivilen Ansprechpartner und der Lage der Bevölkerung und werden auf die jeweilige Situation zugeschnitten erbracht.

Eine wesentliche Leistung von ZMZ / A ist es, Akzeptanz bei der Bevölkerung im Einsatzgebiet zu schaffen und zu stärken und damit einen wichtigen Beitrag zum Schutz der eigenen Truppe und auch ziviler Akteure zu leisten. Diese Akzeptanz wird u.a. durch Kleinprojekte zur Unterstützung der Bevölkerung hergestellt. Dies geschieht nicht in Konkurrenz zu zivilen Institutionen, sondern entweder in Abstimmung mit diesen oder nach dem Humanitären Völkerrecht, das jeden Truppenführer verpflichtet im Einsatzgebiet einen minimalen humanitären Standard zu gewährleisten, falls die dafür zuständigen zivilen Stellen dazu nicht in der Lage oder dazu bereit sind. ZMZ / A hat also eine an militärischen Erfordernissen orientierte Unterstützungsfunktion für einen militärischen Auftrag, der dem Primat der Politik folgt. Falls der politische Auftrag »Nation Building« oder »Reconstruction« lautet, wird die Bundeswehr und damit auch ZMZ / A den militärischen Beitrag hierzu leisten.

Der Einsatz der PRT im Rahmen des deutschen Afghanistan-Konzeptes belegt diesen Ansatz eindrucksvoll. Über die Unterbindung bewaffneter Auseinandersetzungen hinaus ist ein Land zu unterstützen, um einen langfristigen und lebenswerten Frieden zu erlangen. Dazu ist für die VN der Aufbau bzw. die Reform von lokalen Institutionen eine Schlüsselaufgabe. Stabilisierung und Governance-Aufgaben sind gemäß den VN parallele und keine sequentiellen Bereiche, was die VN zum Schluss führt, dass sicherheitspolitische und entwicklungspolitische Vernetzung essentiell ist. Vor jedem Truppenabzug müsse die Frage stehen, ob die Grundsteine für eine friedliche Entwicklung im Einsatzland gelegt sind. Somit intendiert die Bw nicht, durch CIMIC Auslandseinsätze »hoffähig« zu machen, sondern sie stellt sich vielmehr den sicherheitspolitischen Realitäten und Herausforderungen.

Anmerkungen

1) Teilkonzeption Zivil-Militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr (TK ZMZ Bw) vom 30.10.2001, Ziff. 203 [Verschlusssache].

2) NATO (2001): MC 411/1 (Final), NATO Military Policy on Civil Military Cooperation. Verfügbar unter: http://www.nato.int/ims/docu/mc411-1-e.htm [Zugriff: 20.02.06]; NATO (2003): AJP-9, Nato Civil Military Cooperation (CIMIC) Doctrine. Verfügbar unter: http://www.nato.int/ims/docu/AJP-9.pdf [Zugriff: 11.07.06].

3) UNO – Department of Peacekeeping Operations (UN-DPKO) (2002): Civil-Military Coordination Policy. Verfügbar unter: http://www.un.org.depts/dpko/milad/oma/dpko_cmcoord_policy.pdf [Zugriff: 22.07.06].

4) Die Bundesregierung (2004): Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Verfügbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/Aussenpolitik/Friedenspolitik/ziv_km/Aktionsplan_html [Zugriff: 15.02.06].

5) Die Bundesregierung (2006): Sicherheit und Stabilität durch Krisenprävention gemeinsam stärken.- 1. Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Verfügbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/FriedenSicherheit/Krisenpraevention/Aktionsplan1BerichtBuReg0506.pdf [Zugriff: 22.11.06].

6) Bundesministerium der Verteidigung (2003): Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Berlin: Presse- und Informationsstab.

7) Bundesministerium der Verteidigung (2004): Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr. Verfügbar unter: http://www.bundeswehr.de [Zugriff: 22.11.06].

Volker Fritze, Oberst i.G., ist Referatsleiter im Führungsstab der Streitkräfte (FüS V4)

Experimentierfeld für zivilmilitärische Zusammenarbeit

Hindukusch:

Experimentierfeld für zivilmilitärische Zusammenarbeit

von Claudia Haydt

Die Verknüpfung von zivilen und militärischen Fähigkeiten ist integraler Teil der Sicherheitspolitik der deutschen Regierung genauso wie der der Europäischen Union. Die Europäische Sicherheitsstrategie fordert eine möglichst effektive und „kohärente“ Verknüpfung aller „notwendigen zivilen Mittel in und nach Krisen“ . Zivile Komponenten sollen also sowohl parallel zu Militärschlägen als auch zur nachträglichen Konsolidierung zum Einsatz kommen. In der europäischen Sicherheitsstrategie erhofft man sich einen effektiven Ressourceneinsatz durch diese Kooperation. „Die Union könnte einen besonderen Mehrwert erzielen, indem sie Operationen durchführt, bei denen sowohl militärische als auch zivile Fähigkeiten zum Einsatz gelangen.“1 Auch deutsche Strategiepapiere und der Koalitionsvertrag der schwarz-roten Regierung beschwören einen »umfassenden Sicherheitsbegriff«, bei dem es „neben militärischen Fähigkeiten nicht zuletzt um genügend ziviles Personal“ geht. Deutsche sicherheitspolitische Interessen haben dabei oberste Priorität und sollen „durch eine enge Verzahnung unserer Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs-, Menschenrechts-, Außenwirtschafts- und Auswärtigen Kulturpolitik“ umgesetzt werden.2 Die Vernetzung ziviler und militärischer Komponenten gehört heute selbstverständlich zu jedem Einsatzkonzept der Bundeswehr: Die Autorin demonstriert am Beispiel Afghanistans, dass dies nicht zwangsläufig zu einer »Zivilisierung des Militärischen« führt, sondern vielmehr die Gefahr in sich birgt, dass Spielräume für zivile Alternativen weitgehend eingeschränkt werden.

Von Anfang 2002 bis Oktober 2003 war das Aufgabengebiet der ISAF-Truppen mehr oder weniger auf die Hauptstadt Kabul begrenzt. Der dort erfüllte »Sicherungsauftrag« (security assistance) wurde u.a. auf Drängen der deutschen Regierung als zivilmilitärisches Projekt über Kabul hinaus ausgeweitet. Die deutschen Soldaten begannen bereits Ende Oktober 2003 mit dem Aufbau des ersten Provincial Reconstruction Teams (PRT), deren Aufgabe es sein sollte, den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wiederaufbauprozess zu koordinieren und militärisch abzusichern. Im Januar 2004 folgte eine PRT Außenstelle in Taloqan, und im Juli 2004 begannen deutsche Soldaten ihren Einsatz im PRT Feyzabad. Mit diesen neuen Bundeswehraktionsfeldern verschob die Bundeswehr ihren Aktionsschwerpunkt in den Norden. Nach Absprachen innerhalb der NATO kontrolliert Deutschland so im Norden des Landes faktisch einen eigenen Besatzungssektor. Dazu wurde im Juli 2005 ein Regional Area Command (RAC) unter Brigadegeneral Bernd Kiesheyer eingerichtet. Hauptaufgabe des RAC, das zunächst in Kunduz (seit Frühjahr 2006 in Mazar-I-Sharif) seinen Sitz hat, ist die Koordination der zivil-militärischen Aktivitäten (CIMIC) der zugeordneten Regionalen Wiederaufbauteams (PRTs). „Damit trägt Deutschland die Verantwortung für die Koordination des Wiederaufbaus im gesamten Norden Afghanistans.“3 Die Bundeswehr selbst versteht CIMIC nicht als humanitäre Aufgabe, CIMIC ist vielmehr „eine Unterstützungsfunktion für die militärische Operation.“4<

Die Aufgaben dieses RAC sind im Operationsplan der NATO genau festgehalten:

  • „Koordinierung der zivil-militärischen Aktivitäten (CIMIC) der zugeordneten Regionalen Wiederaufbauteams,
  • Koordinierung MEDAVAC Einsatz,
  • Koordinierung der militärischen Aktivitäten zur ISAF – Unterstützung der Sicherheitssektorreform
  • Koordinierung der Ausbildungsunterstützung für die Afghanischen Streitkräfte (ANA)“.5

Dass hier die rein militärischen Aufgaben verlassen wurden zugunsten eines umfassenden Besatzungsmanagements mit Kontrolle fast aller zivilen Sektoren, fällt sofort auf. Dieses Besatzungsregime greift umfassend in die zivile wirtschaftliche Ordnung Afghanistans ein.

Wirtschaftliche Interessenspolitik

Auf der Homepage des Auswärtigen Amtes wird erklärt, worin die »Hilfe« der deutschen Regierung für die Bevölkerung Afghanistans besteht: „Schwerpunkte der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands mit Afghanistan sind die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Privatwirtschaft und marktwirtschaftlicher Strukturen, die Rehabilitierung des Energiesektors …“6 Beim Stichwort »Rehabilitierung des Energiesektors« sei hier nur kurz erwähnt, dass zu Zeiten der sowjetischen Besatzung der neue deutsche Einsatzschwerpunkt Mazar-I-Sharif das Zentrum der afghanischen Gas- und Ölindustrie war, das immerhin soviel produzierte, dass es Afghanistan einen Außenhandelsüberschuss bescherte. Bis zum Wiederaufbau dieser Industrie ist Mazar-I-Sharif vor allem als Transportdrehkreuz zwischen dem afghanischen Norden und dem Bundeswehrstützpunkt Termez in Usbekistan von zentraler Bedeutung.

Das Interesse der deutschen Regierung an Einflussnahme auf den wirtschaftlichen Wiederaufbauprozess in Afghanistan zeigte sich schon bei Bundeskanzler Schröders Afghanistan-Besuch 2002. Er setzte damals einen deutschen Berater bei der afghanischen Regierung für die Förderung von Investitionen und Handel ein.

Im August 2003 wurde mit deutscher Hilfe die Afghan Investment Support Agency (AISA) eröffnet. AISA ist als »One-Stop-Shop« für Investoren konzipiert, bei dem alle notwendigen Formalitäten geklärt werden können. AISA unterstützt Investoren bei der Registrierung und berät zu rechtlichen und sicherheitsrelevanten Rahmenbedingungen. AISA soll besonders für die folgenden Sektoren ausländische Investoren suchen: Bauwirtschaft, Telekommunikation, Leichtindustrie und Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse.

Ziel der deutschen Einflussnahme ist vor allem die Rechtssicherheit für Investitionen. Dazu wurde 2003 mit deutscher Unterstützung der Entwurf für ein neues Investitionsgesetz geschrieben. Im Dezember 2004 wurde ein bilaterales Investitionsschutzabkommen mit Afghanistan paraphiert. Es stellt sich dabei allerdings die Frage, ob es tatsächlich um »state-building« im Interesse der afghanischen Bevölkerung geht, oder vielmehr um »institution-building« zur Absicherung der Interessen ausländischer Investoren.

Reform des Sicherheitssektors

Die deutsche Regierung ist auch maßgeblich am Aufbau der afghanischen Polizei beteiligt. Dazu gehört u. a. die Hilfe bei der Finanzierung der Polizei durch die „Vermittlung und Koordinierung finanzieller Ressourcen von internationalen Partnern“7. Die deutsche Handschrift findet sich beim Aufbau der Polizeistruktur genauso wie bei konkreten Projekten, die über ein deutsches Büro in Kabul abgewickelt werden. Es geht dabei um Rekrutierung, Ausbildung und Ausrüstung afghanischer Polizeibeamter. Für die politische Koordinierung des deutschen Beitrags zur Sicherheitssektorreform wurde im Herbst 2003 ein Koordinator im Rang eines Botschafters entsandt. Das Technische Hilfswerk baute 2002 die Polizeiakademie in Kabul, in der parallel 1.600 Polizeioffiziere – auch durch deutsche Polizeibeamte – ausgebildet werden. Bundeswehrsoldaten dürfen nicht direkt zur Drogenbekämpfung eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das auswärtige Amt stolz vermeldet: „Fortschritte sind auch beim Aufbau einer Drogenbekämpfungseinheit, der Kriminalpolizei, des polizeilichen Gesundheitssystems sowie der Verkehrspolizei in Kabul zu verzeichnen.“ Dass es nach wie vor große Zweifel an einem rechtsstaatliches Vorgehen der afghanischen Polizei und Justiz gibt, dass Polizeieinheiten foltern, dass Frauen – die ihre Vergewaltiger anzeigen – im Gefängnis landen, wird in dieser Positivbilanz unterschlagen. Die afghanische Polizei und die afghanischen Gefängnisse funktionieren so hinreichend, dass deutsche KSK- und ISAF-Soldaten ihre Gefangenen nicht mehr in US-Gefängnisse überstellen müssen. Es ist also keine abstrakte Sorge um das Image der Polizei, wenn das Auswärtige Amt festlegt: „Um das negative Bild der Polizei in der afghanischen Bevölkerung zu verbessern und ein professionelles Verhalten der neuen Polizeikräfte sicherzustellen, nimmt die Vermittlung von Grund- und Menschenrechten im Ausbildungsprozess einen besonderen Stellenwert ein.“8 Der zukünftige Schwerpunkt der Ausbildung liegt allerdings vor allem auf der Grenzsicherung (und damit auch der Flüchtlingskontrolle) sowie der Bekämpfung der Drogenökonomie: „Zu den dringendsten Aufgaben gehören der schon begonnene Aufbau der Grenzpolizei und – damit eng verbunden – die Ausbildung und Ausstattung einer effizienten Anti-Drogen-Polizei.“9 Leider fehlen dabei aber Programme, die den Bauern, die vom Drogenanbau leben eine Zukunft geben.

Zum Verwechseln ähnlich: Hilfe und Krieg

Aus Sicht der afghanischen Bevölkerung war seit dem Beginn des so genannten Krieges gegen den Terror im Herbst 2001 die humanitäre Hilfe der westlichen Staaten begleitet von Krieg und Sterben. Die Lebensmittelpakete für die afghanische Bevölkerung, abgeworfen aus den Flugzeugen der Koalition, sahen den explosiven Überbleibseln der gleichzeitig abgeworfenen Streubomben zum Verwechseln ähnlich. Die Unterscheidung zwischen Soldaten, die in Afghanistan im Rahmen von Enduring Freedom an Kampfeinsätzen (häufig auch mit zivilen Opfern) eingesetzt werden, und Soldaten, die im Rahmen der ISAF-Mission den zivilen Wiederaufbau ermöglichen sollen, war von Anfang an eher für die Akzeptanz der Militäreinsätze in den Staaten, die die Soldaten entsenden, als für die afghanische Bevölkerung gedacht. Spätestens seit ISAF-Soldaten im Sommer 2006 im Rahmen der Operation Medusa Kampfeinsätze gegen Aufständische durchführten, sind »friedliche ISAF-Soldaten« und »Antiterrorsoldaten« kaum noch zu unterscheiden. Besonders brisant ist die fehlende Unterscheidbarkeit zwischen westlichen Sondereinheiten (z.B. KSK-Kämpfern) in Zivil und zivilen NGO-Vertretern – die häufig in nahezu identisch aussehenden hellen Jeeps unterwegs sind. Im Rahmen der so genannten Provincial Reconstruction Teams (PRT) arbeiten NGO-Vertreter zudem direkt mit ISAF-Soldaten und treten auch häufig mit diesen zusammen auf.

Diese Kooperation ist Teil der Einsatzstrategie in vielen Krisenregionen geworden, denn klassische Kriegshandlungen westlicher Soldaten gegen feindliche Armeen sind trotz zahlreicher Auslandseinsätze seltener geworden. Die Missionen, Interventionen und sonstigen Operationen – wie Krieg und Besatzung meist genannt werden – finden ganz überwiegend in einem zivilen Umfeld statt, in dem häufig nicht klar ist, wer Kombattant und wer Zivilist ist. Informationen sind folglich – nicht nur – für die Bundeswehr sicherheitsrelevant. Dieses Interesse muss mitgedacht werden, wenn als Aufgabe der zivilmilitärischen Kooperation im Norden Afghanistans formuliert wird: „So steht in Kunduz die Informationsgewinnung im Vordergrund.“10 Erwähnt wird von der Bundeswehr zuerst einmal überwiegend die Erhebung von Defiziten bei der Versorgung mit Wasser, im Bildungs- oder Medizinbereich. Dass Informationsgewinnung auch militärisch relevant ist, verschweigt sie aber nicht: Deswegen gehört es auch zum Ziel, herauszufinden, wie „die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung“ ist.11 Die Bundeswehr erhofft sich so, „ein umfassendes Lagebild der zivilen Umgebung“ zu bekommen, damit „die Nutzung ziviler Ressourcen für die militärische Operation verbessert und koordiniert werden“ kann.

Inakzeptabler Angriff auf humanitäre Prinzipien

Welche Auswirkung die zivilmilitärische Kooperation für die humanitäre Arbeit haben kann, wurde im Jahr 2004 auch für die internationale Öffentlichkeit deutlich. Koalitionstruppen verteilten damals Flugblätter im Süden Afghanistans, auf denen die Bevölkerung dazu aufgerufen wurde, „den Koalitionstruppen sämtliche Informationen über die Taliban, El Quaeda und Gulbuddin (Hekmatyar – Rebellenführer) zu übermitteln.“ Dies sei notwendig, um „zu gewährleisten, dass humanitäre Hilfe auch weiterhin bereit gestellt wird.“ Nicht nur die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« wandte sich damals öffentlich gegen diese Instrumentalisierung humanitärer Hilfe: „Diese Flugblätter, die unter anderem ein afghanisches Mädchen mit einem Sack Weizen zeigen, stellen einen eindeutigen Versuch dar, humanitäre Hilfe für militärische Ziele der Koalition zu missbrauchen. Ärzte ohne Grenzen lehnt jegliche Verbindung zwischen der Bereitstellung humanitärer Hilfe und der Zusammenarbeit mit den Koalitionstruppen ab.“12

In dramatischen Appellen erklärten die Mitarbeiter, dass so die Helfer gefährdet werden und die Hilfe für die Bedürftigen gefährdet wird. „Die bewusste Vermischung von humanitärer Hilfe mit militärischen Zielen zerstört den eigentlichen Sinn der humanitären Hilfe. Dies wird letztlich nur dazu führen, dass dringend benötigte Hilfe denjenigen in Afghanistan versagt bleiben wird, die sie am dringendsten brauchen. Gleichzeitig werden diejenigen, die Hilfe bereitstellen, zur Zielscheibe.“13 Auch die deutsche Welthungerhilfe hatte durch unangemeldete Besuche der ISAF-Soldaten in ihren Quartieren Probleme mit der Akzeptanz in der Bevölkerung.

Nachdem zahlreiche Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen und anderen Hilfsorganisationen tatsächlich zu Opfern von Anschlägen wurden, sah sich die Organisation am 28. Juli 2004 nach 24jähriger Tätigkeit veranlasst, ihre Arbeit in Afghanistan einzustellen. Zu diesem Rückzug erklärte sie öffentlich: „Die Gewalt gegen humanitäre Helfer spielt sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Instrumentalisierung der Hilfe durch die US-geführte Koalition in Afghanistan ab. … Koalitionsstreitkräfte missbrauchen die Hilfe beständig für ihre militärischen und politischen Ziele und versuchen damit, die »hearts and minds« der afghanischen Bevölkerung zu gewinnen. Dadurch wird humanitäre Hilfe nicht mehr als unparteilich und neutral angesehen. Dies wiederum gefährdet die Helfer und die Hilfe selbst.“

Deutlicher kann die Distanzierung von zivilmilitärischer Kooperation kaum formuliert werden. Dennoch verweist die Bundeswehr im Rahmen ihrer Internet-Öffentlichkeitsarbeit unter dem Stichwort »Was genau ist CIMIC«14 nach wie vor auf ihre Kooperation mit NGOs und nennt dabei explizit Ärzte ohne Grenzen und die Caritas (die ebenfalls Bedenken gegen Instrumentalisierung ziviler Hilfe geäußert hat).

Die Genfer Konventionen verbietet in Art. 3, Abs.2. die Instrumentalisierung humanitärerer Hilfe für politische Zwecke. Die propagierte Form von zivilmilitärischer Kooperation

  • unterhöhlt das Konzept der neutralen unparteilichen humanitären Hilfe, die allein die Aufgabe hat, Leben zu retten und Leiden zu mindern;
  • sie führt dazu, dass die zivile Konfliktbearbeitung – als Alternative zu militärischem Eingreifen – Stück für Stück an Spielraum und an Glaubwürdigkeit verliert.

Offensichtlich ist in der Sicherheitspolitik der deutschen Regierung und der Europäischen Union zivile Konfliktlösung und humanitäre Hilfe auf die Begleitung und Nachsorge von Militäreinsätzen reduziert und den militärischen Prioritätensetzungen und Interessen unterworfen. Die Überwindung militärischer Konfliktaustragung durch zivile und an den Interessen der jeweiligen Bevölkerungen orientierte Konfliktbearbeitung bleibt so auf der Strecke.

Anmerkungen

1) Europäische Sicherheitsstrategie: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel 12.12.2003.

2) Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD 11.11.2005, http://koalitionsvertrag.spd.de

3) Chronologie des Einsatzes in Afghanistan (ISAF) 16.08.2006, www.einsatz.bundeswehr.de

4) Was genau ist CIMIC, Artikel vom 10.9.2006, http://www.streitkraeftebasis.de

5) Deutschland übernimmt mehr Verantwortung im Norden Afghanistans, 4.8.2005, einsatz.bundeswehr.de

6) Beziehungen zwischen Afghanistan und Deutschland, (Stand: Juni 2006) www.auswaertiges-amt.de

7) ebenda

8) ebenda

9) ebenda

10) Vor neuen Herausforderungen, 4.1.2006, www.streitkraeftebasis.de

11) Was genau ist CIMIC, Artikel vom 10.9.2006, http://www.streitkraeftebasis.de

12) Flugblatt in Afghanistan verwischt Grenze zwischen Hilfe und militärischen Zielen, Kenny Gluck in Frankfurter Rundschau vom 5.5.2004, www.aerzteohnegrenzen.at

13) Nelke Manders, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen (damals: Afghanistan)

14) Was genau ist CIMIC, Artikel vom 10.9.2006, http://www.streitkraeftebasis.de, zuletzt heruntergeladen am 16.9.2006.

Claudia Haydt ist Soziologin und Religionswissenschaftlerin.

Polizeisoldaten

Polizeisoldaten

Die Paramilitarisierung deutscher Außenpolitik

von Martina Harder

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble forderte die Entsendung der Bundespolizei, des ehemaligen Bundesgrenzschutzes, an die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien. Unmittelbar nach der Aufhebung der Seeblockade durch Israel reiste Außenminister Walter Steinmeier nach Beirut und brachte deutsche Bundespolizisten und Zollbeamte mit, die den Verkehr des dortigen Flughafens überwachen sollen.1 Dieses Engagement, für das weder eine formale Einladung des Ziellandes, noch ein Bundestagsentscheid notwendig war, wirft ein Schlaglicht auf die „Hybridisierung der sicherheitspolitischen Einsatzformen“ und die damit einhergehende zunehmende Vermischung ziviler (polizeilicher) und militärischer Aufgaben.2 Für die Autorin ist die wachsende Verwendung polizeilicher Kräfte in Auslandsmissionen eine direkte Konsequenz des veränderten Sicherheitsverständnisses, das dem beobachtbaren Anstieg militärischer Auslandseinsätze zugrunde liegt. Sie untersucht die verschiedenen Formen internationaler Polizeieinsätze und geht ein auf die Gefahren der fortschreitenden Vermischung polizeilicher und militärischer Aufgaben.

Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), lehnt einen Polizeieinsatz im Libanon zur Grenzsicherung inmitten eines Konfliktherdes scharf ab: „Das ist eine militärische Aufgabe, keine polizeiliche. Ich kann verstehen, dass man zurückscheut, deutsche Soldaten dort einzusetzen. Aber wir wollen nicht die Lückenbüßer für die Bundeswehr sein.“ Freiberg weist in diesem Zusammenhang auf eine nur auf den ersten Blick seltsam anmutende Paradoxie deutscher Sicherheitspolitik hin: Zuerst habe Schäuble „immer vom Einsatz der Bundeswehr im Inneren gesprochen, obwohl das doch Polizeiaufgaben sind, jetzt soll die Polizei auf einmal militärische Aufgaben im Ausland erledigen.“3 Während manche innenpolitischen polizeilichen Aufgaben Soldaten übergeben werden sollen, verläuft die Entfesselung sicherheitspolitischer Organe auch in die umgekehrte Richtung, indem die Polizei mehr und mehr auf die Durchführung quasi-militärischer Auslandseinsätze ausgerichtet wird. Auf der GdP-Internetseite fasst Freiberg die Entwicklung pointiert zusammen: „Jetzt sollen Polizisten Soldaten unterstützen. Sind wir etwa auf dem Weg zu einer Miliz, über alle von der Verfassung gebotenen Grenzen hinweg?“4

Aus Sicht der Regierenden ist dies nur konsequent, wie Christian Schmidt, parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, verdeutlicht: „Eine betonierte Trennung von äußerer und innerer Sicherheit ist nicht mehr aufrecht zu erhalten.“ Wenn über einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren nachgedacht werde, müsse die Polizei im Gegenzug dazu bereit sein, „typische Polizeiaufgaben in Auslandseinsätzen, z.B. auf dem Balkan, wahrzunehmen.“5

Polizeieinsätze: Bestandteil des neuen Militärinterventionismus

Da in ihnen potenzielle Rekrutierungs- und Rückzugsgebiete für Terroristen gesehen werden, wird inzwischen die militärische Stabilisierung so genannter fehlgeschlagener Staaten als ein elementarer Bestandteil deutscher Sicherheitspolitik propagiert. Hierfür müssten – so der herrschende Konsens – sämtliche zur Verfügung stehenden Instrumente, also nicht nur das Militär, sondern insbesondere auch die Polizei, eingesetzt werden.

Michael Schaefer, Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, betont etwa, das neue Sicherheitsverständnis erfordere den „kohärenten Einsatz von zivilen und militärischen Mitteln“, wie er bspw. von der Europäischen Sicherheitsstrategie anvisiert werde. Gleichzeitig hebt er dabei die zentrale Funktion polizeilicher Missionen hervor, die damit zu einem integralen Bestandteil des neuen Militärinterventionismus werden: „Gerade unsere Operationen auf dem Balkan sowie in Afghanistan zeigen: Zivile Instrumente, v.a. Polizei, sind unverzichtbarer und komplementärer Bestandteil militärischer (Post-)Krisenmanagement-Operationen.“6 Dieter Wehe, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Internationale Polizeimissionen (AG IPM) von Bund und Ländern, teilt diese Sichtweise: „Wenn wir nicht dahin gehen, wo die Probleme sind, werden die Probleme zu uns kommen.“7

Die Mitschuld westlicher Staaten an der Entstehung von Konflikten ist in diesen Argumentationsmustern ebenso wenig zu finden, wie die Tatsache, dass das propagierte Allheilmittel, eine Mischung aus militärischer Befriedung und parallelem Aufbau der staatlichen Sicherheitsstrukturen nach westlichem Modell, häufig Teil des Problems ist. Nur vor dem Hintergrund dieses fragwürdigen Sicherheitsverständnisses, bei dem Deutschland wortwörtlich am Hindukusch verteidigt wird, wird die massive Ausweitung polizeilicher Missionen verständlich. Seit dem ersten Einsatz im August 1989 in Namibia haben mittlerweile fast 5.000 Beamte – davon 1.600 vom damaligen Bundesgrenzschutz – an internationalen Polizeimissionen teilgenommen. Wenn auch derzeit noch beratende Funktionen dominieren, so lässt sich doch ein Übergang zu immer militärischeren Einsätzen feststellen. Die Unterschiede zwischen hochintensiven Polizeieinsätzen und Kriegen niedriger Intensität und damit auch die grundsätzliche Trennung zwischen Militär und Polizei verwischt zunehmend.

Polizeieinsätze im Ausland

Im Fall der Krisenprävention und des Krisenmanagements reisen die Ordnungshüter überwiegend als Träger hoheitlicher Exekutivbefugnisse, was u. a. das Recht auf den »angemessenen Gebrauch von Waffen« einschließt. Demgegenüber verfügen Dokumentenberater und Verbindungsbeamte, die im Rahmen polizeilicher Aus- und Fortbildungshilfe insbesondere zur Migrationskontrolle agieren, zumeist nicht über exekutive Handlungsmöglichkeiten, auch wenn sich ein aktives Eingreifen im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik kaum kontrollieren oder unterbinden lässt.

Dokumentenberater und Verbindungsbeamte

Die Bundespolizei übernimmt immer häufiger Auslandsaufgaben. Über Verbindungsbeamte unterhält sie ein weit reichendes Beziehungsnetz. Ihre Aufgaben sind der Informationsaustausch mit den entsprechenden Organisationen des Gastlandes, das Erstellen einer grenzpolizeilichen Lageanalyse, die Anfertigung von Personenprofilen illegaler Migranten und die Unterstützung operativer Maßnahmen vor Ort. Über das Netzwerk der EUROPOL werden Informationen verknüpft und anderen EU-Staaten zur Verfügung gestellt. Derzeit sind 18 deutsche Bundespolizisten als Verbindungsbeamte in 17 Staaten stationiert.8

Im Jahr 2002 führte die Bundespolizei mit Dokumentenberatern insgesamt 42 Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen auf 24 migrationsrelevanten Drittlandflughäfen durch, deren Aufgabe es ist, Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen die Einreise in die EU zu erschweren. Einsätze längerer Dauer fanden dabei in Ghana, Nigeria, Jugoslawien und Albanien statt. Dabei wurden 1.590 Passagiere wegen unzureichender Ausweispapiere von einer Beförderung ausgeschlossen.9

Stabilitätspakt-Südosteuropa

Die EU finanziert Programme für polizeiliche Aus- und Fortbildungen in Südosteuropa. Die vom Bundesinnenministerium (BMI) bereitgestellte Ausbildungshilfe umfasst die Vermittlung von Rechtsgrundlagen, Einsatzgrundsätzen sowie spezielle polizeiliche Einsatzpraktiken. Dazu werden Seminare und Hospitationen durchgeführt sowie Stipendiatenprogramme für Führungskräfte und Experten angeboten. Die Ausstattungshilfe soll es diesen Staaten erleichtern, den Anforderungen an moderne kriminal- und grenzpolizeiliche Standards gerecht zu werden. Sie umfasst vor allem die Lieferung von Einsatzfahrzeugen, Funk- und EDV-Ausstattung, Wärmebildgeräten sowie anderem kriminaltechnischem Gerät.10 Aus den Mitteln des SOE-Stabilitätspaktes werden seit 2002 umfassende Hilfsleistungen für die jugoslawische Polizei finanziert. Auch fand im Rahmen des Stabilitätspaktes eine Partnerschaft mit Kroatien statt. Ziel war die Entwicklung und nachhaltige Stabilisierung der Bereiche Asyl, Migration und Grenzschutz.

Weitere EU-Förderprogramme werden z. Z. in Polen, Ungarn, der Ukraine, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Albanien unter Leitung oder Beteiligung der Bundespolizei durchgeführt.

Polizeimissionen zur Aufstandsbekämpfung

Der Großteil deutscher Polizeieinsätze findet im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) statt. Der erste Einsatz, der überhaupt im Rahmen der ESVP erfolgte, war die Polizeimission in Bosnien und Herzegowina (EUPM), die aktuell aus 464 Polizisten und 62 nicht näher bezeichneten »Zivilisten« aus 34 Staaten besteht. Ziel der Polizeimission ist der Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korruption sowie der Aufbau von Institutionen der inneren Sicherheit. Derzeit sind 90 deutsche Polizisten an der Mission beteiligt.

Auf den NATO-Einsatz in Mazedonien folgte mit CONCORDIA die zweite ESVP-Mission, die im Dezember 2003 von der Polizeimission PROXIMA abgelöst wurde. Diese bestand bis zu ihrem Ende im Dezember 2005 aus 170 Polizisten aus 23 EU-Staaten und 30 Einsatzkräften in Zivil, die ebenfalls mittlere und leitende Polizeikräfte ausbildeten, exekutive Aufgaben übernahmen und bei der Reform des Innenministeriums mitwirkten.

Die dritte ESVP-Polizei-Mission ist EUPOL KINSHASA, die den Aufbau von Sicherheitskräften der kongolesischen Regierung zum Ziel hat. Die Polizeieinheiten, die mit EU-Entwicklungshilfegeldern ausgerüstet werden, setzen sich aus Anhängern verschiedenster Bürgerkriegsmilizen zusammen. Wie problematisch Polizeimissionen zur so genannten Sicherheitssektorreform sind, zeigt gerade EUPOL KINSHASA. Als von der Übergangsregierung unter Joseph Kabila im Sommer 2005 die Wahlen verschoben wurden, kam es zu friedlichen Protesten, die, höchstwahrscheinlich unter Beteiligung der durch die EU unterstützten Sicherheitskräfte, gewaltsam niedergeschlagen wurden.11

Die ESVP-Polizei-Mission EUJUST LEX im Irak steht unter der Leitung von Stephen White, einem Polizeioffizier, der einen Großteil seiner Laufbahn in Nordirland absolvierte. In Nordirland wird die Polizei straff geführt und arbeitet systematisch mit dem Militär zusammen. EUJUST LEX hat zum Ziel, bis zu 700 irakische Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Gefängniswächter auszubilden. Die Mission wurde am 12. Juni 2006 um weitere 18 Monate verlängert.12 Die Bundesregierung führte ressortübergreifend zwei der genannten Ausbildungskurse in Deutschland durch, auf Basis von in Brüssel entwickelter Ausbildungsmodule. Damit übernimmt Deutschland Aufgaben, zu denen sich die Besatzungsmächte verpflichtet hatten.

Im Rahmen VN-mandatierter Missionen stellt Deutschland neben etwa 6.500 Soldaten auch knapp 300 Polizisten unter anderem für folgende Einsätze: UNMIK/Kosovo (260 Polizisten), ISAF/Afghanistan (16), UNOCI/Elfenbeinküste (5), UNOMIG/Georgien (4) und UNMIL/Liberia (5).13 Eine Schlüsselrolle kommt Deutschland beim Engagement innerhalb der UN-Mission für den Wiederaufbau der afghanischen Polizei zu, das Ende 2005 von der Bundesregierung für ein weiteres Jahr verlängert wurde. Seit 2002 hat Deutschland dort die internationale Führungsrolle übernommen. Bisher wurden 58 Mio. Euro von Deutschland und 350 Mio. Euro von der internationalen Gebergemeinschaft für den Polizeiaufbau in Afghanistan bereit gestellt. Insgesamt wurden über 59.000 afghanische Polizeibeamte an der von Deutschland neu errichteten Polizeiakademie in Kabul ausgebildet.14

In ganz Afghanistan kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Polizei. Gelegentlich wird dabei auch das Feuer auf Demonstrationen eröffnet, werden Zivilisten getötet. Nach Ansicht des UN-Sonderbeauftragten Tom Koenigs handelt es sich bei den Unruhen in Afghanistan um einen regelrechten „Aufstand“, bei dessen gewaltsamer Niederschlagung afghanische Polizeibeamte regelmäßig eingesetzt werden.15

Polizeimissionen zur Stabilisierung repressiver Regierungskräfte (Kongo) oder noch direkter als elementarer Bestandteil einer de facto-Besatzung durch westliche Truppen (Afghanistan und Irak) gehören damit zu den Instrumenten, „mit denen schwächere Staaten unterhalb der Schwelle des offenen Krieges beeinflusst und gelenkt werden können.“16 Da dies von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird, sind schwere Auseinandersetzungen praktisch vorprogrammiert.

Deutsche Planungszellen Internationaler Polizeimissionen

Das Institut für Aus- und Fortbildung in NRW gilt – neben der Ausbildungsstätte der Bundespolizeiakademie in Lübeck sowie der Polizeiakademie in Wertheim (Baden-Württemberg) – als bedeutendste Trainingsstätte für internationale Einsätze im Rahmen des »Zivilen Krisenmanagements« der Europäischen Union.

Die Polizeiakademie in Wertheim trainiert für folgende Missionen: EU Police Mission (EUPM) in Bosnien und Herzegowina, EU African Union Support Mission (EU AMIS II) im Sudan, EU-Border-Assistance-Mission (EUBAM) in Rafah/Palästina und das EU Coordinating Office for Palestinian Police Support (EUPOL COPPS) in Palästina.

Die Schule der Bundespolizei in Lübeck ist für die Projektgruppe Polizeilicher Aufbau Afghanistan (PGPAA) verantwortlich. Auch für die UN Observer Mission (UNOMIG) in Georgien und das Police Advisory Team (EUPAT) in Mazedonien, die UN Mission in Liberia (UNMIL), die UN Mission in Sudan (UNMIS) und die EU Border Assistance Mission (EUBAM) in Moldawien und der Ukraine übernimmt sie die Schulung der Beamten.17

In Bonn, in unmittelbarer Nähe des IAF NRW, das u.a. im Kosovo eingesetzte Polizisten ausbildet, liegt das Gelände der Vereinten Nationen. Aufgrund dieser Nähe zieht deren Department für friedenssichernde Operationen (DPKO) dort offenbar einen Trainingsstandort für internationale Polizistinnen und Polizisten in Erwägung.18

Die jüngsten Organisationseinheiten der Schule der Bundespolizei sind die Einsatzhundertschaften im niedersächsischen Gifhorn. Auf die erste Hundertschaft, die bereits ein Jahr in Gifhorn kaserniert ist, folgte im Januar die zweite, womit das Personalsoll von über 200 Beamten erfüllt wurde. Die Einheit soll sowohl für bereitschaftspolizeiliche Aufgaben im Inland als auch in polizeilichen Einsätzen im Ausland eingesetzt werden.

Die Paramilitarisierung deutscher Außenpolitik

Am 14. April 1949 legte der Polizeibrief der alliierten Militärgouverneure an den Parlamentarischen Rat den Rahmen deutscher polizeilicher Arbeit fest. Er beinhaltete das Verbot, dass „deutsche Polizeikräfte in einer Weise neu organisiert, bewaffnet oder ausgebildet werden, die ihnen militärischen oder militärähnlichen Charakter gibt oder sie in die Lage versetzt, im Gegensatz zu Polizeiaufgaben militärische Aufgaben“ durchzuführen.19 Betrachtet man die heutige Realität, so muss man feststellen, dass internationale Polizeieinsätze einen immer militärischeren Charakter annehmen.

Polizeimissionen gelten fälschlicher Weise als Zivilisierung einer maßgeblich durch das Militär geprägten Außenpolitik. Als Schäuble die libanesisch-syrische Grenze »seinen« Bundespolizisten überantworten wollte, wurde der Ruf nach einer robusteren Polizeieinheit laut. Die GdP fordert zur Bewältigung gewalttätiger Auseinandersetzungen entsprechend ausgebildete und ausgerüstete Einheiten.20 Vieles deutet darauf hin, dass mit der Errichtung der Sondereinheit in Gifhorn dieser Plan bereits realisiert wird. Ziel sei es, so ein BGS-Spezialist, „Demonstrationen bewältigen zu können.“ 21 Ein GdP-Pressesprecher räumte ein, solche Einsätze fänden in einer rechtlichen Grauzone statt, die Bundespolizei könne dabei in Situationen geraten, „die mehr militärischen Charakter haben.“ Aus diesem Grund forderte Konrad Freiberg „gepanzerte Fahrzeuge“ für polizeiliche Auslandsmissionen. Auch sei zu überlegen, ob „für diese Einsätze Maschinengewehre“ bereitzuhalten seien.22 Vor allem die Gifhorner Einheit scheint damit die Speerspitze für eine direkte polizeiliche Unruhe- und Aufstandsbekämpfung im Ausland (riot control) zu werden, die sich kaum mehr von Militäreinsätzen trennen lässt.23 Deutschland folgt somit dem europäischen Trend zur Ausbildung paramilitärischer Einheiten. Fünf EU-Staaten sind bereits dabei, eine Gendarmerietruppe von 800 Mann aufzustellen, die konzeptionell eher militärischen als polizeilichen Charakter hat.24

Im Zug der Auslandseinsätze wird die Trennung von polizeilichen und militärischen Aufgaben aufgeweicht. Bei der Logistik und vor allem bei einem schnellen Rückzug aus Drittländern sind Polizeimissionen oft auf die Zusammenarbeit mit dem Militär angewiesen. Wehe betont diesbezüglich die Kraft des Faktischen: „Die Trennung zwischen Militär und Polizei ist zwar wünschenswert, aber oftmals nicht zu realisieren.“25

Wer den zunehmenden Militärinterventionen zur »Stabilisierung« fehlgeschlagener Staaten kritisch gegenüber steht, muss ebenso skeptisch die Funktion internationaler Polizeieinsätze betrachten, die ihrerseits integraler Bestandteil des neuen Interventionismus sind. Hinzu kommt, dass mit solchen Polizeimissionen die Außenpolitik immer weiter der parlamentarischen Kontrolle entzogen wird. Die Bundespolizei untersteht allein dem Innenminister. Seine Beschlüsse bezüglich der Verwendung der Polizei im Ausland bedürfen keiner Zustimmung des Parlaments. Einsätze sollen zuverlässig, schnell und leise vonstatten gehen. In dieses Bild passt auch Schäubles Forderung, künftig Polizisten – analog zu Soldaten – ohne deren Einwilligung für Auslandseinsätze verpflichten zu können.26 So „drängt sich der Eindruck auf, dass deutsche Polizeikontingente insbesondere dann zum Einsatz kommen, wenn ein militärischer Einsatz wegen der vorgeschalteten Parlamentsentscheidung untunlich ist“, schreibt Andreas Fischer-Lescano. Die Konsequenz wäre eine zunehmende „Entparlamentarisierung der deutschen Außenpolitik“.27

Diese Entparlamentarisierung reduziert die Transparenz der deutschen Außenpolitik. Informationen gelangen nicht in die Zeitungen, und somit verliert die Presse ihre kontrollierende Wirkung. Polizisten genießen darüber hinaus in der deutschen Bevölkerung eine weit größere Akzeptanz als Soldaten. Die Erfahrungen mit verkehrsregulierenden oder kriminalpolizeilichen Aufgaben der Polizei verleiten zu dem Fehlschluss, die Wahrung von Ordnung und Friede in Afghanistan, im Irak, im Kongo oder im Kosovo sei ähnlicher Gestalt.

Anmerkungen

1) Die Libanon-Krise, Informationen des Auswärtigen Amtes, 31.08.2006.

2) Fischer-Lescano, Andreas: Soldaten sind Polizisten sind Soldaten – Paradoxien deutscher Sicherheitspolitik, in: Zeitschrift Kritische Justiz, Heft 1/2004, S. 67-80.

3) Klug, Sönke: Bundespolizei – Wir wollen nicht Lückenbüßer sein, Spiegel Online, 17.08.2006.

4) GdP: Bundespolizisten nicht in militärische Konflikte verwickeln, Pressemitteilung, Berlin, 16.08.2006.

5) Merten, Ulrike: Bundespolizei soll zu Auslandseinsatz gezwungen werden können, in: Netzzeitung, 29.07.2005.

6) NATO & ESVP: Gestaltung des europäischen Pfeilers einer transformierten Allianz, Rede von Dr. Michael Schaefer, Auswärtiges Amt, 15.03.2004.

7) Wehe, Dieter: Internationale Polizeimissionen – Einsatz im Ausland, in: Deutsche Polizei – Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei, Nr.3, März 2006, S. 8-12, S. 8.

8) German-Foreign-Policy.com: Pate der Polizei, 27.02.2006.

9) Bundesministerium des Innern, Berlin: Bundesgrenzschutz – Jahresbericht 2002.

10) BMI Daten und Fakten: Internationales und multilaterales Engagement des Bundesministeriums des Innern, URL: http://www.bmi.bund.de.

11) Marischka, Christoph/Obenland, Wolfgang: Friedliche Kriege? Auf dem Weg zum Weltpolizeistaat, ISW-Spezial Nr.19 (2005).

12) Rat der EU: EU Integrated Rule of Law mission for Iraq, 10383/06 (Presse 181).

13) ZIF (Zentrun für internationale Friedenseinsätze): German Personnel in Peace Operations, May 2005.

14) Schäuble, Wolfgang: Innere Sicherheit unter deutscher Führung in Afghanistan weiter stabilisieren, Pressemitteilung des BMI vom 07. Dezember 2005.

15) Mehr Soldaten nach Afghanistan, Frankfurter Rundschau, 05.09.2006.

16) Marischka/Obenland 2005, S. 21.

17) Wischerath, R./Litges, T.: Das Vorbereitungsseminar, Polizei NRW Auslandseinsätze (Dezernat 13), 21.11.2005.

18) Sazer, U.: Hoher Besuch in Brühl, Polizei NRW, 15.03.2006.

19) Dokumentation des Polizeibriefes bei: Martin Willich: Bundesgrenzschutz – Historische und aktuelle Probleme der Rechtsstellung des Bundesgrenzschutzes, seiner Aufgaben und Befugnisse, Hamburg 1980. Vgl. zur Entwicklung des BGS Harder, Martina: Die Erweiterung des BGS-Einsatzspektruns, in: AUSDRUCK – Das IMI-Magazin, Dezember 2005.

20) GdP-Positionen und Forderungen zu Auslandseinsätzen der deutschen Polizei, in: Deutsche Polizei – Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei Nr.3 März 2006, S. 13.

21) Gutzeit, Achim: Entlastung für die Bundeswehr? Die geplante BGS-Truppe für den Auslandseinsatz, in: Streitkräfte und Strategien, Sendereihe des NDR, 02.07.2005.

22) Militarisierung, German-Foreign-Policy.com, 07.07.2005.

23) Gutzeit, Achim: Entlastung für die Bundeswehr? Die geplante BGS-Truppe für den Auslandseinsatz, in: Streitkräfte und Strategien, Sendereihe des NDR, 02.07.2005.

24) Daniel, Tobias: Startschuss für europäische Polizeitruppe, europa-digital.de, 28.9.2004.

25) Wehe 2006, S. 9.

26) Merten 2005.

27) Fischer-Lescano 2004.

Martina Harder ist Mitarbeiterin der Tübinger Informationsstelle Militarisierung.

Zivil-militärische Verflechtungen

Zivil-militärische Verflechtungen

von Jürgen Scheffran

Im Ersten Weltkrieg waren 42% der Opfer Zivilisten, im Zweiten Weltkrieg waren es 55%. Die nukleare Abschreckung des Kalten Krieges zielte auf zivile Ziele, und in einem umfassenden Atomkrieg wäre von den betroffenen Gesellschaften nicht viel übrig geblieben. Wenn die gesamte Gesellschaft vom Krieg betroffen ist, verliert die klassische Trennung zwischen Soldat (lat. miles) und Bürger (lat. civilis) an Bedeutung. Auch die »Bürger«-Kriege in Ruanda und Ex-Jugoslawien ebenso wie die gewaltsamen Konflikte in Afghanistan, im Libanon oder im Irak durchziehen die Gesellschaften dieser Länder. Ohne klare Fronten agieren Streitkräfte innerhalb der Gesellschaften und sind damit deren Logiken unterworfen.

Die Terroranschläge des 11. September, die innerhalb der USA vorbereitet wurden, verwendeten zivile Passagierflugzeuge, um zivile Ziele inmitten einer Großstadt zu treffen. Der darauf erklärte »Krieg gegen den Terror«, der nicht nur sprachlich ein Fehlschlag ist, durchzieht nun die Zivilgesellschaften des Westens, lässt jeden Koffer in einem Flughafen oder Bahnhof als möglichen Teil eines kriegerischen Gewaltakts erscheinen. Die Verschmelzung von innerer und äußerer Sicherheit wird im Begriff der »Heimatverteidigung« deutlich, in den USA besonders mit der Gründung des Department of Homeland Security. Bezeichnenderweise war die erste Balastungsprobe für die Heimatverteidigung nicht ein Terroranschlag, sondern eine Naturkatastrophe, der Hurrican Katrina. Sie ist gründlich schief gegangen.

Noch disaströser ist der Versuch der USA, mit überwältigender Militärmacht den Irak besetzt zu halten, ignorierend dass eine Demokratisierung des Irak eine gesellschaftliche Aufgabe ist, die ganz andere, vor allem zivile Mittel erfordert. Statt den Irak zu »befrieden«, wird noch Öl ins Feuer gegossen. Der gewaltsame Widerstand gegen die als Besatzer empfundenen US-Truppen kann sich an jeder Hausecke oder Straßenkreuzung entzünden. Zivile Mittel zur Problem- und Konfliktlösung fehlen, angesichts der Priorisierung des Militärischen.

Im Rahmen dieser Gesamtmobilisierung strebt das Militär eine zunehmende zivil-militärische Zusammenarbeit (ZMZ) an, die dem Militär neue Spielräume eröffnen soll. Sie erlaubt es, zivile Ressourcen in die Militärplanung einzubeziehen, ein Phänomen, dass bei der Nutzung ziviler Technologien für militärische Zwecke schon lange unter dem Begriff Dual-use bekannt ist. Entsprechend widmet sich die Bundeswehr verstärkt der Koordinierung zivil-militärischer Beziehungen und der Unterstützung von bewaffneten Streitkräften ebenso wie der zivilen Umgebung. Hierzu gehören die Koordinierung von Planungen der zivilen und militärischen Verteidigung ebenso wie Vorsorgemaßnahmen für die Zivilbevölkerung und die Streitkräfte, die Einbindung der Streitkräfte in die Zivil- und Katastrophenschutzplanung und in die Einsatzplanung bei sogenannten Großschadensereignissen. Im weiteren geht es um die Zusammenarbeit in allen Bereichen des Umweltschutzes, der Raumordnung und der Konversion.

Eine Verengung auf den Retter, Schützer, Helfer ist dabei nicht erwünscht. Es wird ausdrücklich zwischen Truppenführung im Kampf und bei Friedensmissionen unterschieden, wobei der Kampf nicht nur auf herkömmliche Kriege, sondern mit dem Oberbegriff des bewaffneten Konfliktes auf alle Erscheinungsformen sozialer Gewalt ausgedehnt wird, die mit Waffen ausgefochten werden. Bei der Informationsgewinnung soll auch auf internationale und Nicht-Regierungs-Organisationen zurück gegriffen werden, die über zusätzliche Information verfügen. Damit verbundene Probleme bei der Einbindung in militärische Befehlsstrukturen werden anerkannt, das unterschiedliche Selbstverständnis ziviler Organisationen und das Primat der Politik werden nicht bestritten.

Auch wenn eine gewisse Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Einrichtungen bei Friedensmissionen erforderlich sein mag, sind grundsätzliche Unvereinbarkeiten ziviler und militärischer Aufgaben und Einsatzmittel nicht zu übersehen. Nicht geeignet ist Militär für den Prozess der Staatenbildung und Demokratisierung, den Aufbau einer Volkswirtschaft, die nachhaltige Ressourcensicherung und den Umweltschutz. Genausowenig lassen sich zivilgesellschaftliche Kräfte in militärische Strukturen und den gewaltsamen Konfliktaustrag einbinden. Die vermeintlich betriebswirtschaftliche Rationalisierungslogik verbirgt, dass sich das Militär ziviler Ressourcen bedient, um eigene Budgets zu schonen. Im Kontext von Krisenreaktionskräften und Antiterrorkriegen kann eine gesellschaftliche Mobilisierung unter militärischen Kalkülen eine Totalisierung von Konflikten befördern und den Einsatz von Gewalt legitimieren.

Statt die Grenzen zwischen zivil und militärisch zu verwischen, wäre es wichtiger, sie deutlicher zu machen.

Ihr Jürgen Scheffran

Hochzeit von Unvereinbarkeiten?

Hochzeit von Unvereinbarkeiten?

Zum Verhältnis von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung

von Albert Fuchs

Zivil-militärische Zusammenarbeit, wie sie von politischer und militärischer Seite seit Ende der 1990er Jahre im Zusammenhang diverser militärischer »Friedenseinsätze« out of area vor allem als Strategie des Peacebuilding propagiert wird, fokussiert die Bearbeitung »fremder« Konflikte. Die Interventen sind unweigerlich in den Konflikt einbezogen, im problematischsten Fall mehr oder weniger offen und eindeutig an der Seite einer originären Konfliktpartei, im günstigsten als allseits akzeptierte – u.U. gleichwohl »robuste« – Mediatoren, die eine Konflikttransformation betreiben und insofern eine Art Metakonflikt induzieren, mit den ursprünglichen Konfliktparteien und ihnen selbst als Konfliktparteien zweiter Ordnung. Der folgende Beitrag vergleicht die Handlungslogik von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung unter der Leitfrage möglicher Koordination oder gar Kooperation.1

Zwischen militärischem und zivilem Ansatz der Konfliktbearbeitung bestehen zumindest prima facie unversöhnliche Gegensätze. Sie sollen hier zunächst mit Hilfe einiger konfliktanalytischer Schlüsselkonzepte herausgearbeitet werden. In einem weiteren Schritt werden »Übergänge«, vermittelnde Konzeptionen, diskutiert. Bilanzierend wird schließlich aus grundsätzlich (militär)gewaltkritischer Sicht die Leitfrage möglicher Koordination oder Kooperation zu beantworten versucht.

Konfliktanalyse

Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung wird sehr unterschiedlich betrieben. Das beginnt bereits beim Konfliktbegriff. Für die Zwecke dieses Beitrags ist ein Konfliktbegriff angezeigt, der von spezifischen Konfliktinhalten, Austragungsformen, Akteursebenen u.s.w. abstrahiert. Eine solche abstrakte Konzeption liegt dem dual-concern-Modell zugrunde (z.B. Rubin et al., 1994). Im Zentrum dieses Modells stehen Interessen oder Erwartungen (concerns) und Konfliktstrategien.

Soziale Konflikte drehen sich grundsätzlich um Interessen von mindestens zwei Parteien; und zwar um Interessen i.w.S., d.h. um nahezu beliebige Werte: Sachgüter und deren Besitz (Interessen i.e.S.), (kollektive) Überzeugungen, normative Vorstellungen, soziale Beziehungen und Positionen, Zugehörigkeiten und Identitäten. Entscheidend ist, dass die auf dem Spiel stehenden Interessen als solche wahrgenommen und kommuniziert werden. Im Fall der Auseinandersetzung von zwei Parteien lassen sie sich in Form von zwei orthogonalen Dimensionen darstellen. Mit dieser Zuordnung soll auch angedeutet werden, dass im Konfliktfall die fraglichen Interessen – im Gegensatz zu bestimmten, konkreten Ansprüchen – sich nicht von vornherein ausschließen. Ihr Verhältnis wird vielmehr grundlegend durch die Strategiewahl der Kontrahenten bestimmt.

Konfliktstrategien sind im Hinblick auf den (zweidimensionalen) Interessenraum zu konzipieren. Damit ist die Hypothese verbunden, dass die Strategiewahl der Akteure – nicht ausschließlich, aber wesentlich – davon abhängt, in welchem Verhältnis die Orientierung an den eigenen Interessen zur Berücksichtigung der Kontrahenten-Interessen steht. Entsprechend den Extremausprägungen der Interessendimensionen ergeben sich vier Hauptstrategien:

  • Vermeiden (avoiding, inaction): Zu dieser Konfliktstrategie kommt es, wenn eine Partei weder die eigenen Ansprüche nach die der Gegenpartei zufrieden zu stellen versucht. Es wird nichts unternommen, um den Konflikt zu den eigenen oder des anderen Gunsten beizulegen (lose-lose-Lösung).
  • Nachgeben (yielding): Bei geringer Orientierung an den eigenen Interessen, aber starker Berücksichtigung der Interesse der anderen Partei kommt es hochwahrscheinlich zum Nachgeben, sei es in Form einer vollständigen Kapitulation oder unverhältnismäßiger Zugeständnisses (lose-win-Lösung).
  • Konkurrieren/Sich durchsetzen (contending): Diese Strategie tritt auf, wenn ein Akteur ausschließlich oder zumindest vorwiegend auf die Erfüllung der eigenen Ansprüche abstellt (win-lose-Lösung).
  • Problemlösen/Kooperieren (problem solving): Diese Strategie wird vorwiegend gewählt, wenn die Interessen beider Parteien Berücksichtigung finden, der Akteur sowohl die eigenen Ziele erreichen will als auch die Ansprüche des Konfliktpartners adäquat zu berücksichtigen versucht (win-win-Lösung).

Das Modell braucht hier nicht weiter erörtert werden. Es sei jedoch noch darauf hingewiesen, dass die vier Hauptstrategien ähnlich abstrakt konzipiert sind wie die Interessendimensionen, demnach immer in Form konkreter Techniken realisiert werden. Insbesondere stellt die vielfach als eigentlicher Gegenstand der Konfliktforschung geltende gewaltsame Konfliktaustragung eine spezifische Variante des Versuchs einseitiger Interessendurchsetzung dar. Gewaltsam ausgetragene Konflikte erhalten allerdings zu Recht besondere Aufmerksamkeit, weil sie unter funktionalen wie unter normativen Gesichtspunkten besonders problematisch sind.

Eine nicht modellspezifische, aber empirisch gut bewährte allgemeine Annahme der Konfliktforschung besagt, dass Eskalationsprozesse in der Regel mit qualitativen Veränderungen des kognitiv-moralischen Funktionsniveaus der Kontrahenten bzw. des normativen Bezugssystems einhergehen (z.B. Glasl, 1997).

Unvereinbarkeiten

Im Lichte des skizzierten konfliktanalytischen Instrumentariums erscheint militärische Konfliktbearbeitung auf eine Strategie einseitiger Interessendurchsetzung angelegt, mit Gewalt als typischer und positiv sanktionierter Austragungsform. Damit verbunden ist, insbesondere im Hinblick auf extremere Eskalationsverläufe, eine (antizipatorische) Partikularisierung des normativen Bezugssystems.

Interessendurchsetzung

Militär stellt grundsätzlich ein Instrument der (staatlichen) Interessendurchsetzung dar. Die zentrale Hintergrundannahme bildet das »realpolitische« Nullsummendogma, wonach der Vorteil der einen Seite dem Nachteil der anderen entspricht und umgekehrt. Der Sachverhalt wird freilich unterschiedlich deutlich ausgesprochen. Klaus Naumann, seinerzeit Vorsitzender des Nato-Militärausschusses und vormals Generalinspekteur der Bundeswehr, brachte ihn im Zusammenhang des Kosovo-Kriegs in geradezu brutaler Offenheit zum Ausdruck: „Wir sollten (vielmehr) die Planungen auf das ehrgeizige Ziel ausrichten, dem Gegner unseren Willen aufzuzwingen.“ (FAZ, 01.10.99)

Gegenüber einer solchen Einlassung im Kontext eines Angriffskriegs liegt die Frage nahe, ob sie auch auf das militärmachtpolitische Konfliktverständnis im Fall strikter Verteidigung zutrifft. Nach der Charta der VN und der Verfassung der BRD ist militärische Verteidigung auf einen »Verteidigungsfall« bezogen, dient der Abwehr eines bewaffneten Angriffs oder eines unmittelbar drohenden Angriffs mit Waffengewalt (Art. 51 UNCh; Art. 115a GG). Demnach geht es im Fall von (strikter) Verteidigung um die Vereitelung gegnerischer Angriffe und insofern ebenfalls um Interessendurchsetzung, allerdings reaktiver und obstruktiver Natur.

Interessendurchsetzung ist jedoch kein Spezifikum militärischer Konfliktbearbeitung, sondern zumindest im Versuch ein ubiquitäres Merkmal »naturhaften« Konfliktverhaltens. Wenn man allerdings »zivil« in dem Ausdruck »zivile Konfliktbearbeitung« im emphatischen Sinn versteht, d.h. im Sinn von »konstruktiv«, ist der Gegensatz von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung im Kern bereits in dieser strategischen Grundorientierung verankert. Der Gegenüberstellung von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung liegt in der Regel dieses Wortverständnis zugrunde. Entscheidend ist bei in diesem Sinn ziviler Konfliktbearbeitung, dass den Akteuren an den Interessen des Konfliktpartners kaum weniger gelegen ist als an den eigenen. Dadurch wird die Konstellation als Problem (re)definiert, das nicht durch eingefahrene einseitige Durchsetzungstechniken gelöst werden kann, sondern nur in kreativer Kooperation. Sie soll zu Lösungen führen, die für möglichst alle Beteiligten akzeptabel sind und im Idealfall win-win-Charakter haben (vgl. Brinkmann, 2000).

Instrumentelle Gewalt

Militär ist staatlich organisierte und gesellschaftlich grundsätzlich positiv sanktionierte Gewalt im Wartestand. Militärmaßnahmen beinhalten wesentlich die Androhung oder Anwendung von verletzender und tötender Gewalt im Dienst der Interessendurchsetzung. Zivile Konfliktbearbeitung in dem erläuterten Sinn schließt den erklärten Verzicht auf verletzende und tötende Gewalt ein. Denn unabhängig von seinem Verhalten ist dem Gegner ein Grundinteresse an der Vermeidung entsprechender Gewalterfahrung zu unterstellen und zuzugestehen. Man kann die konfliktbezogenen gegnerischen Interessen nicht respektieren und ihre vitalen Voraussetzungen negieren. Doch auch in der weiteren Bedeutung von »zivil« liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen ziviler und militärischer Konfliktbearbeitung im Verhältnis zur Gewalt als Mittel der Interessendurchsetzung. Zwar kommt es auch bei Austragung von Konflikten zwischen »Zivilisten« nur allzu oft zum Rückgriff auf Gewalt. Im Unterschied zur militärischen wird jedoch Gewalt im »Zivilleben« prinzipiell negativ sanktioniert und nur ausnahmsweise, wenn „durch Notwehr geboten“, als „nicht rechtswidrig“ toleriert (§ 32 StGB).

Damit wird nicht vorausgesetzt, dass militärische Gewalt keinen (völkerrechtlichen oder gar keinen ethischen) Normen unterliegt (s.u.). Die (potenziellen) Gewaltakteure sollen jedoch auch die Durchsetzung der einschlägigen Normen garantieren, sind also u.U. Straftäter und Strafverfolgungsbehörden gleichsam in Personalunion. Vor allem aber wird die Idee einer normativen Einhegung militärischer Gewalt konterkariert durch das programmatische militärstrategische Konzept der »Eskalationsdominanz«. Zur Blütezeit des Abschreckungsregimes verstand man darunter i.B. die Fähigkeit einer Nuklearmacht, bei einer Eskalation der eingesetzten Gewaltmittel in die nukleare Ebene den Gegner immer noch übertreffen zu können. Dieser Grundgedanke dürfte allerdings für das militärische Gewaltkalkül überhaupt charakteristisch sein. Er impliziert in letzter Konsequenz den Vernichtungskrieg und damit eine Negation jeder »zivilen Konfliktbearbeitung«.

Normen-Partikularismus

Spätestens mit der Charta der VN wurden die tatbestandlichen Voraussetzungen eines völkerrechtskonformen Rückgriffs auf militärische Gewalt kodifiziert (Art. 51 UNCh) und ebenso wird ihre Ausübung durch das humanitäre Kriegsvölkerrecht (im Grundsatz) geregelt. Der Schlüsselbegriff des „bewaffneten Angriffs“ als Voraussetzung der Wahrnehmung des „naturgegebenen Rechts zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ gemäß Art. 51 wurde aber bisher nicht verbindlich präzisiert. Und was die Befugnis zu Tötungshandlungen beispielsweise des deutschen Militärs betrifft, das nach Art. 1 Abs. 3 GG als Teil der Exekutive an die Grundrechte des Grundgesetzes gebundenen ist, so ist sie gesetzlich keineswegs in einer Weise geregelt, wie es den Anforderungen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebotes entspräche (Kutscha, 2004).

Solche Schwachstellen im normativen Bezugssystem sind Einfallstore für eine fatale, nicht nur praktische, sondern prinzipielle rechtliche und moralische Entpflichtung. So suchten mit Kriegshandlungen befasste deutsche Gerichte auch in jüngster Zeit Zuflucht in der Annahme eines völkerrechtlichen Ausnahmezustands, „der seinem Wesen nach auf Gewaltanwendung ausgerichtet ist und die im Frieden geltende Rechtsordnung weitgehend suspendiert.“ (Bundesgerichtshof, 2003 – zit. nach Kutscha, 2004, S.237, mit weiteren Belegen). Damit wird Carl Schmitts berüchtigte Lehre vom Ausnahmezustand, in dem „die Autorität…, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht“, wiederbelebt (zit. nach Kutscha, ebd.). Auf der gleichen Linie liegen augenscheinlich Forderungen hoher deutscher Militärs nach einer Neuausrichtung des Soldatenbildes, nach einem Soldaltentypus sui generis für die »neuen Herausforderungen« der Bundeswehr. So etwa die Forderung Hans-Otto Buddes, des amtierenden Inspekteurs des Heeres, die Bundeswehr brauche „den archaischen Kämpfer“ (zit. nach Winkel, 2004).

Natürlich wird mit solchen Forderungen keine Hobbes’sche urzuständliche Anarchie beschworen. Es geht vielmehr um eine Partikularisierung des normativen Bezugssystems, um doppelte Standards, unterschiedliche Regelsätze für den Verkehr unter »uns« und den Umgang mit den »anderen«. Das Phänomen ist jedoch kein Abkömmling der Lehre vom Ausnahmezustand o.Ä., sondern haftet militärischem Gewaltgebrauch als solchem an. Universalistische Ethik basiert auf dem Axiom, dass jeder Mensch Träger unteilbarer und unveräußerlicher Rechte ist. Demnach ist militärische Gewaltanwendung unweigerlich ein Eingriff in die Rechte anderer, i.B. in ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, und damit eine Negation oder doch zumindest eine Konditionalisierung dieser Rechte.

Mit dem seit Ende des Kalten Krieges immer penetranter vertretenen (westlichen) Verständnis des Militärs als Instrument zur Absicherung der neoliberalen Globalisierung (vgl. Wagner, 2006), spätestens aber mit dem US-geführten »war on terror«, wird die Partikularisierung des normativen Bezugssystems offen und offensiv propagiert. Eine besonders kaltschnäuzige Fassung stammt von Robert Cooper, dem Büroleiter des EU-Beauftragten für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana: „Die Herausforderung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter Standards klar zu kommen… Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Gesetz des Dschungels anwenden.“ (zit. nach Wagner, 2006, S. 68)

Damit steht der militärische Ansatz in einer dritten wesentlichen Dimension in denkbar größtem Gegensatz zu ziviler Konfliktbearbeitung, die sich inhaltlich und verfahrensmäßig grundlegend an der Verteidigung und Durchsetzung strikt universalistisch verstandener Menschenrechte orientieren muss.

Übergänge

Die bisherigen Ausführungen zeichnen militärische und zivile Konfliktbearbeitung in scharfem Kontrast. Dass in jeder beliebigen Konfliktkonstellation zwischen beiden Ansätzen »graue« Übergänge bestehen, versteht sich fast von selbst. Im Folgenden geht es jedoch nicht (vordringlich) um solche Übergänge in konkreten Einsätzen, sondern um Versuche, das Verhältnis der Ansätze so zu konzipieren, dass im Interesse von »Frieden und Gerechtigkeit« Koordination oder gar Kooperation möglich ist. Entsprechende Versuche vor allem auf UN-Ebene werden entlang den herausgearbeiteten Kontrastdimensionen diskutiert.

Gemeinsame menschliche Interessen

Die UN-Charta beinhaltet ein System kollektiver Sicherheit und transzendiert damit »im Prinzip« die Ausrichtung des (UN-)Militärs an den Eigeninteressen einzelner Staaten. „Waffengewalt“ soll der Präambel zufolge „nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet“ werden, „um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“. Darüber hinaus entstand vor allem im Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen seit Mitte der 1990er Jahre unter dem Titel »menschliche Sicherheit« ein neues Leitbild von Sicherheit. Die wesentlichen Züge: Zuwendung zum Individuum mit seinen Lebensinteressen als Völkerrechtssubjekt und Einbezug sozialer, ökonomischer, politischer, kultureller und ökologischer Aspekte seiner Lebenswelt. Dieses Leitbild enthält insbesondere unter dem ersten Gesichtspunkt gleichsam das Versprechen, die herkömmliche Interessenfixierung militärischer Sicherheitspolitik zu unterlaufen: Wenn es grundsätzlich um den Einzelnen geht, verlieren nationale oder andere kollektive Interessen an Relevanz. Der erste harte Kontrast zwischen militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung scheint demnach im UN-System wesentlich abgeschwächt oder gar aufgelöst. Entscheidend ist aber die konkrete Umsetzung dieser Leitideen, vor allem beim Einsatz von UN-»Friedenstruppen«.

Nach vorherrschendem Konflikttyp und entsprechenden Anforderungen sind drei oder vier Generationen von Friedenstruppen zu unterscheiden. Kühne (2005) sieht bspw. die erste Generation der klassischen Blauhelme durch die zentrale Aufgabe der Überwachung von Waffenstillständen bei zwischenstaatlichen Konflikten bestimmt. Ende der achtziger Jahre, parallel zum Ende des West-Ost-Konflikts, habe sich in Auseinandersetzung mit den zunehmenden innerstaatlichen Konflikten eine zweite, durch Multidimensionalität der Aufgabenstellung gekennzeichnete Generation herausgebildet. Gegenüber gewaltförmigem Staatsversagen oder Staatszerfall (Somalia, Jugoslawien…) habe sich der SR dann aber gezwungen gesehen, die Friedenstruppen mit einem »robusten«, auf Kapitel VII der UN-Charta basierenden Mandat auszustatten, um sie in die Lage zu versetzen, für die nicht-militärischen Akteure und ihre zivile Wiederaufbauarbeit ein sicheres Umfeld zu schaffen. Eine vierte Generation schließlich sei um ein qualitativ völlig neues Element ergänzt worden, um die interimistische Übernahme von politischer und administrativer Verantwortung, d.h. von Regierungsgewalt.

Die Blauhelm-Einsätze konnten und können nur zustande kommen auf Bitten oder mit Zustimmung der Konfliktparteien und wenn die Parteien erkennbar gewillt sind, den Konflikt zu regeln. Insofern kommt die Berücksichtigung ihrer Interessen ausdrücklich zur Geltung. Mit jeder weiteren Generation der UN-Friedenstruppen aber wird die Erfüllung dieses Kriteriums augenscheinlich fraglicher. Die Errichtung von Protektoraten jedenfalls läuft auf Entsouveränisierung der Konfliktparteien und effektive Kolonialisierung hinaus. Zudem ist der Sicherheitsrat mit jeder neuen Generation von Friedenstruppen zunehmend auf Streitkräfte herkömmlicher Militärmächte angewiesen, die nicht seinem Kommando unterstehen. Dieses in der UN-Charta nur behelfsweise vorgesehene Verfahren (Art. 42 Satz 2) führt nahezu zwangsläufig dazu, dass Streitkräfte am ehesten bereitstehen, wenn es (auch) um die Durchsetzung zweifelhafter nationaler Interessen geht. Der mit dem angesprochenen neuen Sicherheitsdiskurs dem klassischen Sicherheitssektor Militär ohnehin schon gelieferte Anreiz, „wie ein Magnet auch die nichtmilitärischen Aufgabenfelder an sich zu ziehen“ (Hauswedell, 2006, S. 68) droht unter diesen Bedingungen noch verstärkt zu werden.

Überwindung kriegerischer Gewalt

Mit der Orientierung an gemeinsamen Interessen verbindet die UN-Charta – konsequenterweise – die Beilegung von „internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel“, den Verzicht auf „mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ (Art. 2 Abs. 3 u. 4). Diese »Gewaltfreiheits«-Programmatik entschärft gleichfalls den Gegensatz zwischen militärischer Konfliktbearbeitung nach dem UN-System und dem zivilen Ansatz.

Allerdings wird das Gewaltverbot der Charta bei Nicht-Übereinstimmung mit den Zielen der Vereinten Nationen nur allzu leicht im Umkehrschluss propagandistisch zur Gewaltrechtfertigung bei angeblicher Zielentsprechung missbraucht. Diese Tendenz dürfte wiederum positiv mit der geschilderten Generationenfolge von UN-»Friedensmissionen« korrelieren. Wie mit solcher Gewalt bekämpfenden Gewalt die Gewaltspirale angetrieben wird, ist Inhalt nahezu jeder Nachrichtensendung. Der vieldiskutierte Bericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty (2001) betont, auf der Linie des neuen Sicherheitsdiskurses, die Verantwortung (der Staaten und der Staatengemeinschaft) für den Schutz des Einzelnen, kommt jedoch bei dem Versuch, Prinzipien für militärische Schutzmaßnahmen zu präzisieren, kaum über die Kategorien der bellum iustum-Lehre hinaus. Grundsätzlich dürfte „jedes öffentliche Nachdenken über die normative Begrenzung von Gewaltmitteln“ legitimatorisch wirken, mithin dazu beitragen, „dass sie weiterexistieren…“ (Reuter, 1996 – zit. nach Meyer, 2000, S. 265).

Vor dem Hintergrund der rechtlichen und ethischen Problematik sowie der Ineffizienz bzw. Kontraproduktivität militärischer »Friedenserzwingung« im UN-System wird seit einiger Zeit die Schaffung internationaler Polizeikräfte als Alternative diskutiert (vgl. Düringer & Scheffler, 2002). Dank der originären Auslegung von Polizei auf eine Schutz- und Ordnungsfunktion und ihrer Unterwerfung unter die strikten Maßstäbe größtmöglicher Schonung von Menschenleben und der Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes erwartet man von ständig verfügbaren internationalen Polizeikräften größere Akzeptanz ihrer Aktionen im Aufnahmestaat und dadurch eine wesentlich höhere Effizienz als von militärischen Kräften. Eine Polizeitruppe könne überdies die Vorzüge der Prävention voll ausschöpfen (Müller, 1998 – ref. nach Meyer, 2000). Ein einschlägiges Forschungsprojekt am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (März 1999 bis Juli 2002) führte u.a. über die vergleichende Analyse von acht Polizeimissionen der OSZE und der UNO zu wichtigen Empfehlungen an Politik und Polizeipraktiker im Hinblick auf eine Effektivierung künftiger internationaler Polizeimissionen (vgl. http://www.core-hamburg.de/CORE/for_bee_intpolizei.htm [Zugriff: 30.08.06]).

So diskussionswürdig und viel versprechend eine solche Alternativkonzeption ist, sie birgt die Gefahr der Ausblendung der strukturellen und kulturellen Wurzeln der »Oberflächengewalt«. Jedenfalls müsste der Ansatz mit einer konsequenten Verrechtlichung des Gewaltgebrauchs verbunden werden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung mag 2002 mit der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) getan worden sein. Die avisierte »UN-Bereitschaftspolizei« könnte dem IStGH als Vollzugsorgan dienen und umgekehrt sollten deren Aktionen seiner Jurisdiktion unterliegen. Der bitterste Tropfen im Wein solcher Ideen ist der Boykott des IStGH durch die USA. Aus dezidiert gewaltkritischer Sicht bleiben sie zudem verwickelt in die ethische Problematik »guter Gewalt«.

Normen-Unversalismus

Die UN-Charta versteht sich als oberste völkerrechtliche Norm. Gemäß Art.103 haben im Falle eines Widerspruchs zwischen „Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre(n) Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften… die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“ Durch Ratifizierung durch fast alle Staaten sind die Normen der Charta auch allgemein geltendes innerstaatliches Recht geworden. Darin eingeschlossen ist nach Art. 55c UNCh die Selbstverpflichtung, die „Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle“ zu fördern. Der universalistische Anspruch des UN-Normengefüges ist demnach nicht zu bezweifeln. Das entspricht formal dem normativen Hintergrund des zivilen Ansatzes.

Abgesehen von den oben schon angesprochenen Einfallstoren für Normen-Partikularismus im Kontext von »Friedenserzwingung« ist jedoch der Unterschied zwischen positiv-rechtlichem und ethischem Universalismus hervorzuheben. Jener kann diesen nicht begründen, sondern setzt ihn voraus. Nun gibt es aber m.W. kein nachvollziehbares Rationale einer universalistischen Ethik, das einen Rückgriff auf (tötende) Gewalt zum Zweck der Gewaltüberwindung widerspruchsfrei zu begründen vermöchte. Demnach stehen die einschlägigen Ermächtigungsnormen des Art. 51 der UN-Charta im Widerspruch zu deren universal-ethischen Grundlagen.

Anspruchvolle Überbrückungsversuche führen eine (Kultur-)Entwicklungs-Perspektive ein. So etwa postulieren die deutschen Bischöfe (2000) mit ihrem Hirtenschreiben »Gerechter Friede«, in religiös-metaphorischer Sprache, eine Art »Pädagogik Gottes« für die Menschheit aus elementarer Gewaltverhaftung über eine gewaltbewehrte Rechtsordnung zum »messianischen Frieden«. Der Philosoph J. Habermas hat freilich 1999, im Zusammenhang des Kosovo-Kriegs, exemplifiziert, wie »glatt« eine genetische Perspektive zur Rechtfertigung eines selbst im Rahmen des UN-Systems höchst problematischen Krieges dienen kann. „Bohrende Zweifel“ sah Habermas seinerzeit dadurch erledigt, dass er diesen Krieg zum „Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand“, auf das „kosmopolitische Recht einer Weltbürgergesellschaft“ erklärte, der diesen Zustand „zugleich befördern“ wolle.

Resümee

Bei tendenziell essentialistischer Sicht der Dinge stehen militärische und zivile Konfliktbearbeitung in scharfem Gegensatz. Dieser Gegensatz ist mit dem erklärten positiven Bezug beider Ansätze (im UN-System) auf das Ziel »Frieden und Gerechtigkeit« kaum in Einklang zu bringen. Das hat zu diversen Brücken-Konstrukten geführt. Aufgrund der vorausgehenden Analyse lassen sich im Hinblick auf Koordination oder Kooperation der gegensätzlichen Ansätze aus gewaltkritischer Sicht nur vergleichsweise abstrakte Kriterien angeben: Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung können sich darauf nur in dem Maße einlassen, wie bei militärischer (oder polizeilicher) »Friedenserzwingung« erkennbar die Interessen aller Konfliktparteien Berücksichtigung finden, eine Verrechtlichung der Maßnahmen gewährleistet ist und sie im Sinne universaler ethischer Prinzipien glaubhaft auf Selbstaufhebung angelegt sind.

Literatur

Brinkmann, C. (2000): Zivile Konfliktbearbeitung – Friedensfachdienst – Ziviler Friedensdienst. In T. Evers (Hrsg.): Ziviler Friedensdienst – Fachleute für den Frieden (S.35-47). Leske + Budrich, Opladen.

Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, Bonn.

Düringer, H. & Scheffler, H. (Hrsg.) (2002): Internationale Polizei. Evangelische Akademie Arnoldshain, Frankfurt/M.

Glasl, F. (1997): Konfliktmanagement. Haupt, Bern.

Habermas, J. (1999): Bestialität und Humanität. Die Zeit, 29.04.99, S. 1 u. 6 – 7.

Hauswedell, C. (2006): Das große Versprechen »Erweiterte Sicherheit«. In R. Mutz, B. Schoch, C. Hauswedell, J. Hippler & U. Ratsch (Hrsg.): Friedensgutachten 2006 (s. 63-72). Lit, Münster.

International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) (2001): The responsibility to protect. Verfügbar unter: http://www.iciss.ca/pdf/Commission-Report.pdf [Zugriff: 12.10.04]

Kühne, W. (2005): UN-Friedenseinsätze in einer Welt regionaler und globaler Sicherheitsrisiken. Zif-Analyse 06/05. Verfügbar unter: http://www.zif-berlin.org [Zugriff: 7.07.06]

Kutscha, Martin (2004): »Verteidigung« – Vom Wandel eines Verfassungsbegriffs. Kritische Justiz, 37, 228-240. Verfügbar unter: http://www.ialana.de [Zugriff: 19.05.06].

Meyer, B. (2000): Gewalt und »Friedenserzwingung«. In G. Mader, W.-D. Eberwein & W.R. Vogt (Hrsg.): Konflikt und Gewalt (S.264-276). Agenda, Münster.

Rubin, J.Z., Pruitt, D.G. & Kim, S.H. (1994): Social conflict. McGraw-Hill, New York.

Wagner, J. (2006): Neoliberale Geopolitik: Transatlantische Konzepte einer militärischen Absicherung der Globalisierung. In J. Wagner & T. Pflüger (Hrsg.): Welt-Macht Europa. (S.56-80). VSA, Hamburg.

Winkel, W. (2004): Bundeswehr braucht archaische Kämpfer. Welt am Sonntag, 29.02.04. Verfügbar unter: http://www.wams.de [Zugriff: 24.08.06]

Anmerkungen

1) Die Idee grundverschiedener »Logiken« von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung verdankt der Autor Dr. Reinhard Voß. Für die vorliegende Ausarbeitung dieser Idee ist er allein verantwortlich.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Kognitions- und Sozialpsychologe und Mitglied des Redaktionsteams von W&F.

EU opfert ihre zivilen Stärken

EU opfert ihre zivilen Stärken

von Tilman Evers

Mit tausenden von Soldaten samt schwerem Gerät ist die EU derzeit in Bosnien und im Kongo präsent. Handelt es sich tatsächlich um Militärmissionen, die potentiell einen Feind zu bekämpfen haben? Dann reichen weder Truppenzahl noch Bewaffnung. Oder geht es im Kern um die polizeiliche Aufgabe, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern? Dann wären eine andere Doktrin, Schulung und Bewaffnung vonnöten. Ähnliches gilt für den Libanon-Einsatz europäischer Militärkräfte im Auftrag der UN.

Seit Jahren versucht die »Zivilmacht EU«, auch militärisch »glaubwürdig« zu werden. Friedensgruppen warnen vor dieser Militarisierung; sie haben Recht, aber anders als sie meinen: Das Ärgernis ist nicht, dass die EU zur Militärmacht werden könnte – das kann sie gar nicht – sondern dass sie dafür Ressourcen vergeudet, statt entschieden ihre zivilen Stärken auszubauen.

Genau diese zivilen Stärken haben die EU zu einer wirtschaftlichen Weltmacht und zum Ordnungsfaktor in Europa gemacht. Aber in dem Maße, in dem die Union international an Gewicht gewann, wurde auch die traditionell-staatliche Idee wiederbelebt, der außenpolitische Einfluss müsse durch militärische Muskeln gestärkt werden. Das Gegenteil ist der Fall.

Die militärische Komponente der Europäischen Union hat sich in Reaktion auf die Kriege im zerfallenden Jugoslawien herausgebildet. 1999 beschloss die Union, ihre bereits in Maastricht vereinbarte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu erweitern und dafür zivile wie militärische Instrumente der Krisenreaktion bereitzustellen. Eine konzeptionelle Basis dafür wurde in Planungspapieren entwickelt, die in der »Europäischen Sicherheitsstrategie« vom Dezember 2003 gipfelten. Sie räumt ein, dass keine der heutigen Konfliktursachen und Gefahren ausschließlich militärischer Natur seien, und bekennt sich zum Multilateralismus nach Maßgabe des Völkerrechts. Aber sie eröffnet der EU unter dem Begriff »friedenserzwingende Maßnahmen« zugleich die Möglichkeit, weltweit militärisch zu intervenieren, und das auch ohne UN-Mandat. Ähnlich ambivalent liest sich der Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags von 2004: Er bekennt sich zwar zu Frieden, Demokratie und Menschenrechten, enthält aber auch eine Art Aufrüstungsverpflichtung für die Mitgliedstaaten.

Auch in der Praxis sind die militärischen Fähigkeiten weit stärker als die zivilen entwickelt. So sind dem GASP-Sekretariat beim Ministerrat der EU derzeit 150 Militärexperten zugeordnet, während der Stab für zivile Krisenreaktion maximal 25 Personen umfasst, einschließlich des Leitungspersonals für Polizei-, Justiz- und Beobachtungsmissionen. Während heute in Bosnien und im Kongo 7.000 Mann stationiert sind, verfügen die laufenden Zivil- und Polizeimissionen in Bosnien und Mazedonien nur über 700 Kräfte. Das Verhältnis liegt also bei 10:1. Nimmt man die Einsätze europäischer Soldaten im Auftrag der UNO oder der NATO im Libanon, in Afghanistan und anderswo hinzu, wird das Übergewicht des Militärs noch krasser.

Noch 1999 beschloss die EU unter dem Eindruck ihrer Abhängigkeit von den USA im Kosovo-Krieg eine »Schnelle Eingreiftruppe« von 60 000 Mann für ein breites Spektrum von »humanitären« bis »friedenserzwingenden« Maßnahmen. Doch diese Truppe existiert bislang nur auf dem Papier; sie wäre angesichts disparater Militärtraditionen, Waffensysteme und Befehlsstrukturen kaum einsatzfähig. 2004 folgte daraufhin der Beschluss, 13 »Battle Groups« à 1500 Mann für »friedenserzwingende« Kampfeinsätze aufzustellen, die realistischerweise aus einzelstaatlichen Kampfverbänden oder bestehenden bi- oder tri-nationalen Eurocorps bestehen sollen.

Aber auch alle 13 künftigen Battle Groups zusammen machen mit knapp 20.000 Mann noch keine »Militärmacht« aus; jedes Mitgliedsland (außer Luxemburg) hat mehr Truppen. Und wenn von militärischen Fähigkeiten der Union die Rede ist, dann handelt es sich um freiwillig abgestellte Kontingente der Mitgliedsstaaten: Für jede Militärmission muss die EU sich die nötigen Truppen zusammen betteln. Es geht also nicht um militärische Großmacht-Geltung; die haben nur noch einzelne Mitgliedstaaten, nicht die Union.

Auch die enge Verzahnung mit der NATO sorgt dafür, dass die Europäische Union an größere Operationen kaum denken kann. Alle Schritte zum Ausbau ihrer »military capabilities« müssen mühsam mit der NATO abgestimmt werden. Derzeit gilt der Kompromiss, dass die EU auf die Planungs- und Führungseinrichtungen der NATO zurückgreifen kann, aber auf ein eigenes Planungszentrum verzichtet; zugestanden ist ihr eine »Civil-Military Cell« zur Koordinierung der militärischen mit zivilen Aspekten künftiger EU-Missionen. Damit bleibt die NATO das einzig relevante Militärbündnis in Europa, das darüber mit entscheidet, wozu und wie die EU ihre Militärkräfte einsetzt.

Warum also das Odium der Gewaltdrohung auf sich nehmen, wenn so wenig Realität dahinter steht? Man ahnt den Grund: Auch wenn die Battle Groups die Europäische Union nicht zur Militärmacht machen, so können sie doch wirkungsvoll etwa in einen afrikanischen Bürgerkrieg eingreifen. Die Union positioniert sich, mit aller Ambivalenz, als militärischer Weltpolizist, alternativ und konkurrierend zu den USA, mit besonderen Interessen im nahen geografischen Umfeld und in Afrika.

Was ist also gewollt: Militär oder Polizei? So richtig es ist, dass manche Privatmilizen allein durch gutes Zureden nicht zu entwaffnen sind, so richtig ist auch, dass sich keiner der vielen Gewaltkonflikte militärisch lösen lässt. Die Millionen von Kleinwaffen in aller Welt sind nur mit politisch-sozialen Mitteln zu neutralisieren, die Hisbollah kann nur auf politischem Wege eingebunden werden, das Zerstörungspotential des Terrorismus lässt sich nur politisch minimieren. Um in diesem Sinne politisch zu wirken, müsste die EU konsequent beim polizeinahen Blauhelm-Modell bleiben, statt durch eigenes Militär-Gebaren die Gewalt-Logik noch zu verstärken.

Statt in anachronistische Muster des überholten Nationalstaats zu verfallen, sollte die EU ihren weltweiten Einfluss als Zivilmacht stärken, indem sie ihre bewaffneten Kräfte als Völkerrechtspolizei unter dem Dach der zu reformierenden UN aufstellt. Der Unterschied läge nicht nur bei der Bewaffnung und den Entscheidungswegen, sondern vor allem im Denkansatz: Nicht militärische Interessen-Erzwingung, sondern zivile Rechts-Durchsetzung, im Rahmen politischer Lösungen mit diplomatischen Mitteln. Mit einem solchen Neuansatz könnte die EU sich weltpolitisch aufwerten, auch gegenüber den USA. »Humanitäre Interventionen« ließen sich glaubwürdiger von westlicher Interessenpolitik abgrenzen. Und im drohenden Konflikt zwischen westlicher und islamischer Welt könnte die EU glaubwürdiger vermitteln.

Natürlich ist das bestehende Völkerrecht keineswegs ideal, man denke nur an die skandalöse Interessenpolitik der Großmächte im Sicherheitsrat, an der die EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien mitwirken. Aber diesem Völkerrecht entgeht die EU ohnehin nicht: Da die ESVP einstimmige Entscheidungen erfordert, ist eine EU-Mission ohne Mandat der UN undenkbar; es genügt, dass ein einziges Mitgliedsland ein solches Mandat fordert. „Wir sind der Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet“, heißt es in der Sicherheitsstrategie der EU. Das wäre überzeugender, wenn man sich zu allererst an Geist und Buchstaben des Völkerrechts halten würde. Nur eine EU, die sich ohne Wenn und Aber der Autorität des Sicherheitsrats unterstellt, kann die Erweiterung und Reform dieses wichtigsten UN-Organs fordern. Warum also hält sich die EU das Hintertürchen offen, dass sie auch ohne UN-Mandat losschlagen könnte?

Die sicherste Gewähr gegen europäischen Militarismus liegt in den institutionellen Selbsthemmnissen der EU. Bisher haben die Mitgliedsstaaten relevante Souveränitätsanteile nur im Bereich von Wirtschaft, Handel und Finanzen an die EU übertragen. Sachwalter dieser »gepoolten« Wirtschaftssouveränität ist die Europäische Kommission, und nur sie hat den entsprechend großen Stab, ein Milliarden-Budget und politische Handlungsfähigkeit nach außen. Dagegen haben bei der GASP weiterhin die Mitgliedsstaaten das Sagen. Entscheidungen erfordern hier noch immer den Konsens aller Mitgliedsländer bzw. große Mehrheiten. Was als Gemeinsame Außenpolitik erscheint, ist eine mühsame Dauerkoordination zwischen 25 Hauptstädten.

Die EU-Außenpolitik hat zwei Köpfe

Andererseits wurde eigens für Belange der GASP beim Rat ein Sekretariat mit kleinem Stab und Budget geschaffen. Dieses Sekretariat mit seinen Untergremien hat unter Javier Solana als »Mister GASP« eine Eigendynamik entfaltet. Die Außenpolitik der EU hat also zwei Köpfe: Für die sozioökonomischen Bereiche die Kommission, für die Sicherheitspolitik den Rat. Beide Institutionen funktionieren nach unterschiedlicher Logik, so als gehörten sie verschiedenen, ja konkurrierenden Organisationen an. Eine kohärente EU-Außenpolitik, bei der wirtschaftliche und politische Instrumente ineinander greifen, ist so kaum möglich.

Das gilt auch für die entstehenden »military capabilities«: An ihnen sind zu viele Gulliver-Fäden einzelstaatlicher Eifersucht befestigt, als dass sie ohne einen mühsam auszuhandelnden Konsens auf kleinstem Nenner einsetzbar wären. In diesem Filter bleibt auf absehbare Zukunft alles hängen, was über einen (allenfalls »robusten«) Blauhelmeinsatz hinausgeht.

Die institutionelle Machtblockade hemmt aber nicht nur den Ausbau der militärischen, sondern auch der zivilen Instrumente. Hier stellen die Einzelstaaten der EU bislang nur einige Polizeikräfte, kaum aber die dringend benötigten Experten für Justiz und Verwaltung, Menschenrechte und Zivilschutz ab. Weil der Ministerrat für Fragen der Sicherheit, nicht aber für Strukturpolitik zuständig ist, darf er erst tätig werden, wenn eine Krise bereits ausgebrochen ist. Für Prävention und Nachsorge ist dagegen die Kommission zuständig.

Die neuesten Entwicklungen bestätigen die gegensätzlichen Tendenzen. In Abstimmung mit den europäischen Netzwerken zivilgesellschaftlicher Konfliktbearbeitung hat die Kommission die Grundzüge einer »Peacebuilding Partnership« beschlossen. Gegenüber dem Europäischen Parlament kündigte die Außenkommissarin Ferrero-Waldner an, man wolle die operative Fähigkeit für zivile Missionen ausbauen und dabei auch mit nichtstaatlichen Netzwerken zusammenarbeiten, die in fast allen Krisenregionen über vorzügliche Kenntnisse und Zugänge verfügen. Zudem hat die Kommission ein mit zwei Milliarden Euro dotiertes »Stabilitätsinstrument« geschaffen, das vielfältige Hilfsmaßnahmen bei Krisen oder Naturkatastrophen vorsieht.

Ganz anders die Entwicklung im Rat. Generalsekretär Solana hat dem Ratspräsidenten seine Absicht mitgeteilt, alle Abteilungen für militärisches wie ziviles Krisenmanagement im GASP-Sekretariat künftig dem militärischen Stab zu unterstellen. Auch über rein zivile Aktivitäten wie Polizeihilfe oder Rechtspflege würden somit Militärs befinden. Die Begründung klingt rein pragmatisch: Im Sekretariat gebe es weitaus mehr militärisches Personal, dem es oft an sinnvollen Aufgaben fehle, während die wenigen Zivilisten chronisch überlastet seien! Das zeigt, dass man die Unterschiede zwischen militärischen und zivilen Denkwelten entweder nicht kennt oder bewusst ignoriert. Bekannt ist, dass Großbritannien und besonders Frankreich die Militarisierung der ESVP vorantreiben. Beide Länder haben durchgesetzt, dass der Leiter der »Civil-Military Cell« ein Militär ist und nur sein Stellvertreter ein Zivilist.

Im Gefüge der EU lagen die operativen Funktionen bislang ganz überwiegend bei der Kommission; die sichtbare Tendenz, dass sich das Sekretariat des Rats zum zweiten operativen Zentrum neben und gegen die Kommission entwickelt, vermehrt die Inkohärenz statt sie zu mindern. Hier sind auch machtpolitische Ambitionen im Spiel: Für die Leitung künftiger Missionen möchte Solana im Regelfall einen Beamten seines Stabes nominieren; das würde den Einfluss der Mitgliedsländer mindern, die bisher über diese Besetzung mit entschieden haben. Und entgegen früheren Beschlüssen, wonach die Kommission beim Entwurf von Konzepten und Länderstrategien zu beteiligen ist, soll dafür nun Solanas Sekretariat allein zuständig sein.

Allerdings gibt es auch innerhalb des Rats unterschiedliche Bestrebungen. So will die finnische Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2006 die zivilen Aspekte der Konfliktbearbeitung voranbringen und lässt dazu die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft prüfen; erwartet wird, dass die deutsche Präsidentschaft ab 2007 diesen Ansatz fortführt. Das Sekretariat meidet dagegen weiterhin die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren.

Europa hat einen unvergleichlichen Reichtum an Erfahrungen und Ressourcen der nichtmilitärischen Konfliktbewältigung. Gerade vor dem Hintergrund der Vergangenheit ist die europäische Integration eines der erfolgreichsten Friedensprojekte der Weltgeschichte. Die dabei entwickelten Strukturen geteilter Souveränität sind weltweit einmalig und friedenspolitisch wegweisend. Die in der EU erprobten Verhandlungssysteme haben zu Stabilität und Wohlstand beigetragen. Ein Global Player ist die EU dank ihrer zivilen und nicht ihrer militärischen Mittel; nur hier liegen ihre Vorteile gegenüber der Militärmacht der USA und anderen geopolitischen Akteuren. Warum also sollte der zivile Riese ein militärischer Zwerg werden wollen?

Und noch etwas gilt es zu beachten: Schon jetzt unterliegt die EU-Militärpolitik keiner parlamentarischen Kontrolle. Ihr weiterer Ausbau würde das Demokratiedefizit der Europäischen Union noch verstärken, und damit die Skepsis ihrer Bürger. „Die EU sollte Demokratie nicht anderswo erzwingen, sondern bei sich verwirklichen“, schreibt der Friedensforscher Johan Galtung. Eine bewaffnete Völkerrechtspolizei ließe sich demokratie- und gemeinschaftsverträglich gestalten; militärische Kulissen nicht. Eine weitere Militarisierung würde den Machtetatismus in die Union hineintragen und damit deren Risse vertiefen, ohne den außenpolitischen Einfluss Europas zu stärken.

Vergleich der Militärischen und Zivilen Fähigkeiten der EU

Zivile Fähigkeiten

nominell von Mitgliedsländern für zivile Einsätze zugesagt:

Polizei 5761 Kräfte
Justiz 631 Kräfte
Zivile Verwaltung 562 Kräfte
Zivilschutz 4988 Kräfte
Beobachter 505 Kräfte
Andere Gebiete 391 Kräfte
Insgesamt ca. 12.800 Kräfte

real:

Mitarbeiter im Generalsekretariat des Rats für kurzfristiges ziviles Krisenmanagement: max. 25
Mitarbeiter in der Kommission für langfristige zivile Krisenprävention und Friedenskonsolidierung: ca. 10

Militärische Fähigkeiten

nominell von Mitgliedsländern für militärische Einsätze zugesagt:

Rapid Reaction Force 60.000 Kräfte (bis 2010 zugesagt)
13 Battle Groups à 1500 = 19.500 Kräfte (ab 2007 zuges.) (jeweils x3 für Ablösung und Logistik)
Insgesamt min. 180.000, max. 240.000 Kräfte

real:

Militärpersonal im Generalsekretariat des Rats: min. 150
Europäische Verteidigungsagentur 80 Mitarbeiter
(2005, noch im Ausbau)
Europäisches Verteidigungs-Kolleg (im Aufbau) Anzahl der Mitarbeiter noch nicht bekannt
Martina Weitsch 2005, überarb. Tilman Evers 2006

Tilman Evers ist Privatdozent für Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin Wir danken der Redaktion von Le Monde diplomatique, für deren deutschsprachige Ausgabe (September 2006 S. 9) der Artikel geschrieben wurde, für die Nachdruckerlaubnis. Der Artikel wurde vom Autor für W&F an einigen Stellen aktualisiert und durch den Kasten ergänzt.