Nachgefragt: Wie ist das mit den Zivilklauseln?

Nachgefragt: Wie ist das mit den Zivilklauseln?

Interview mit Falk Bornmüller (Universität Jena)

von David Scheuing

Die Zivilklauselbewegung hat an deutschen Hochschulen einiges bewirkt – an über 60 Hochschulen gibt es Zivilklauselbeschlüsse. Doch vielfach versauern diese Beschlüsse unwirksam durch mangelnde Institutionalisierung, hochschulpolitische Interessen einer Vielzahl an Akteur*innen und zu geringer Normbegründung. In seinem Buch »Zivile Wissenschaft« hat Falk Bornmüller den Prozess der nachhaltigen Umsetzung einer Zivilklausel analysiert und spezifische Bedingungen für die Hochschullandschaft identifiziert.

David Scheuing für W&F: Herr Bornmüller, Sie haben gerade ein schmales, aber pralles Büchlein zu Zivilklauseln an deutschen Hochschulen veröffentlicht. Seit Mitte 2022 wird bundesweit aber wieder über das Aussetzen von Zivilklauseln debattiert. In Zeiten der »Zeitenwende« wären diese nicht mehr aktuell, heißt es in Debattenbeiträgen. Warum brauchte es jetzt ein solches Buch?

Bornmüller: Ich denke, es braucht dieses Buch, weil das Anliegen nach wie vor aktuell ist. Ich habe mich ja in sehr komprimierter Form damit auseinandergesetzt, ein schmales Büchlein, das noch lesbar ist, wo aber viel drinsteckt. Ich habe mich damit beschäftigt, weil es mich interessiert hat, was denn aus den Initiativen zur Einführung von Friedens- und Zivilklauseln an Hochschulen konkret werden kann. Ich fand das sehr interessant, dass diese vor allem von studentischen Gruppen getragenen Initiativen oft leider nicht den Erfolg haben, den sie eigentlich haben sollten. Da ich das Anliegen von Zivilklauseln inhaltlich teile, habe ich mich dann gefragt, wie ein solcher Prozess eigentlich funktionieren könnte. Und als Mitarbeiter einer Hochschule, der täglich mit dieser Institution zu tun hat und von ihr immer wieder überrascht wird, habe ich mich dann gefragt, ob in diesem Zusammenhang das Unterfangen einer Zivilklausel nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein muss. Vor allem, wenn man eine Verbindlichkeit für eine gesamte Institution, die in sich so heterogen ist und wo Entscheidungen eigentlich eher Ausdruck des Konsenses sind, den alle noch gerade so mittragen können – wie also in einer solchen Organisation eine für alle so starke Verbindlichkeit wie die normative Forderung einer Zivilklausel überhaupt durchgesetzt werden kann.

W&F: Es soll also als eine Form von Handreichung verstanden werden?

Bornmüller: Da war ich etwas hin- und hergerissen, als ich das Buch verfasst habe. Also nicht im Sinne eines Ratgebers, „macht es genau so“. Was ich an diesem Fall der TU Darmstadt herausgearbeitet habe, scheint mir aber zumindest gute Hinweise zu geben, was möglich ist. Es ist keine Blaupause, um so zu einer Zivilklausel zu gelangen. Ich wollte vor allem zeigen: die Organisation von Hochschule ist komplex, aber die Hinweise in diesem Fall können helfen, sich für die je eigene Hochschulsituation zu überlegen, was die vor Ort wichtigen Voraussetzungen sind. Und da gibt es schon so einige Dinge, die man Ratschlag gebend mit auf den Weg geben könnte.

W&F: Sie unterscheiden in Ihrem Buch zwischen »Zivil-« und »Friedensklauseln«. Weshalb und worin liegen überhaupt die Unterschiede? Ist dies auch für die Praxis relevant?

Bornmüller: Nun, nicht nur sprachlich, sondern auch normensetzend macht dies deutliche Unterschiede – und wir können schon sehen, dass wir ein weites Spannungsfeld haben zwischen allgemeinen Friedensbekenntnissen, etwa in den Präambeln von universitären Grundordnungen, bis hin zu sehr spezifischen Formulierungen von Zivilklauseln mit konkreten Regelungen. Eher allgemeine Friedensklauseln benennen oft etwas sehr Richtiges – beispielsweise die Zielorientierung des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen –, aber sie benennen gleichzeitig nicht konkret, was dies nun bedeutet und ganz spezifisch, was dies für eine Universität und das Handeln ihrer Mitglieder bedeutet. Hier meine ich, dass eine Zivilklausel den Friedensklauselgedanken in sich trägt, aber eben eine sehr spezifische Formulierung findet, um diese Verpflichtung auch operationalisierbar, handhabbar und durchsetzbar zu machen. Das ist in Darmstadt sprach- und normensensibel sehr gut gelungen. Hier würde ich mir für die Zivilklausel-Initiativen auch wünschen, dass sie sich gezielt überlegen, was denn eine Formulierung ist, die diese Durchsetzbarkeit bietet, gerade mit Blick auf die Akteur*innen, die daran dann später zwangsläufig mit beteiligt sein werden.

W&F: Muss dann jede Zivilklausel auf jeden Kontext spezifisch anders formuliert werden? Oder gibt es schon »Mindestelemente«, die eine durchsetzbare Zivilklausel ausmachen?

Bornmüller: Ich habe mich da im Buch mit der Bewertung etwas zurückgehalten, aber wo Sie jetzt so direkt fragen: Ich glaube, die Darmstädter Zivilklausel ist in der Hinsicht eigentlich schon mustergültig. Gerade wenn Sie sich vor Augen führen, wie dort »Ziele« und »Zwecke« und deren Zusammenhang genau aufgeschlüsselt werden, und wie der Entscheidungsprozess vorausgedacht ist. Das bietet einen guten Orientierungsrahmen für das, was andere Zivilklauseln auch mitbringen müssten. Und weil die Darmstädter Klausel nicht zu konkret formuliert ist, bietet sie die richtige Balance zwischen notwendiger Allgemeinheit, so dass sie für viele Anwendungsfälle passt, und zugleich einer spezifischen Anwendbarkeit.

W&F: Sie schildern auch die Vorbedingungen an der TU Darmstadt. Dazu zählen Sie unter anderem die spezifische Historie der Darmstädter Verweigerungsformel, zentrale Persönlichkeiten unter den Professor*innen und die Institutionalisierung der Forschungsgruppe »IANUS«. Sind das Bedingungen, die der Zivilklausel eigentlich automatisch einen »Homerun« ermöglicht haben?

Bornmüller: Naja, ich würde sagen: sowohl als auch. Es hat sich schon herausgestellt, dass das nicht einfach so ein »Homerun« war, sondern dass der Prozess tatsächlich auch herausfordernd war. Aber es war insofern natürlich ein günstiger und ermöglichender Kontext, dass eben diese Akteure zu dieser Zeit da waren und dass es dieses Interesse gab. Wichtig war aber auch, dass es – obwohl das mit einer solchen Untersuchung nur schwer fassbar ist – diese »Universitäts- oder Organisationskultur« gab, die offenbar dazu beigetragen hat, dass man sich in den Gremien oder den Arbeitsgruppen offenbar sehr wertschätzend, konstruktiv, an der Sache interessiert und fair auseinandergesetzt hat. Es ist klar, dass das natürlich nicht ohne Widerstände, auch anfängliche Skepsis, vonstatten ging. Aber dass es dann doch im Interesse aller war, dieses Anliegen zur Sache aller zu machen, das hat schon auch etwas mit den Vorbedingungen in Darmstadt zu tun. Das sind natürlich Faktoren, die sich schwer steuern lassen – Stichwort Ratgeberliteratur: Das Umfeld, das die Instrumente einer Zivilklausel nicht nur ermöglicht, sondern auch fördert. Also man kann das auch ohne solche Förderung versuchen, aber wenn die Gremien sich im Kreis drehen oder die Leute, die in den Gremien sitzen, nicht willens sind, sich darauf einzulassen, dann sind Sie in einem solchen Umfeld fast schon zum Scheitern verurteilt. Darmstadt war hier einfach ein gut bereitetes Feld. Und ein bisschen Glück war auch dabei: Der Impuls für die Zivilklausel in Darmstadt kam in einer Zeit, in der die politische Welle der Zivilklausel-Prozesse von 2009-2010 gerade schon wieder am Abebben war – und dennoch hat man sich an der Universität zusammengesetzt und sich dem Prozess in Ruhe gewidmet. Selbst als der akute Druck weg war, galt immer noch die Entscheidung, „dass wenn wir es machen, dann machen wir es richtig“ – und dann ist man fünf Jahre am Ball geblieben.

W&F: Ich würde gerne nochmal auf diese Bedingungen eingehen. In Ihrem Buch lassen Sie viel die »konstruktiven« Parteien sprechen, wenn man einer solchen Einteilung folgen mag. Aber an zwei oder drei Stellen kommt eine Person zu Wort, die für die »radikale« Flanke der Studierendenschaft steht, die nochmal deutlich macht, was möglich sein könnte als Maximalforderung. Ist Ihres Erachtens eine radikale Flanke notwendig, um diesen Prozess für eine Zivilklausel überhaupt in Gang zu bringen?

Bornmüller: Auf jeden Fall. Und gerade auch immer wieder als Mahnung. Mir geht das auch nicht mehr aus dem Kopf: Durch meine Daten konnte ich den Fall Darmstadt so lesen, dass der Prozess durchgezogen wurde und jetzt dieses Verfahren existiert – Fall abgeschlossen. Aber ist die Zivilklausel jetzt akut in Darmstadt überhaupt noch ein Thema? Diese Studierende wies darauf hin, dass es eigentlich mal die Intention gab, dass immer wieder auch die Diskussion an der Hochschule geführt werden sollte, was diese Zivilklausel mit der Hochschule macht, wo und wie sie immer wieder neu herausgefordert ist. Dass also immer wieder ein Verständigungsprozess stattfinden soll über diese normative Verbindlichkeit, die man sich auferlegt hat – auch für einen selbstkritischen Blick, nach dem Motto: „Werden wir den an uns selbst gesetzten Ansprüchen eigentlich überhaupt noch gerecht?“ Und wenn wir daran Zweifel haben, woran liegt das?

W&F: Sehr beeindruckend für den*die Leser*in ist, dass da ein Prozess von über vier Jahren angegangen wird und durchgehalten wird. Wissen Sie etwas dazu, wie mit Frustrationen in diesem langen Prozess umgegangen wurde, um das überhaupt durchzuhalten? Das spricht ja schon dafür, dass es da zumindest ein gutes Frustrations- oder Stimmungsmanagement gegeben haben muss.

Bornmüller: Ja, also ich vermute, dass es ein gutes Frustrations- und Stimmungsmanagement gegeben haben muss – das kam auch in den Interviews immer wieder zwischen den Zeilen durch: Der einhellige Tenor war, nochmal Stichwort »Universitätskultur«, dass man sich auch über kontroverse, strittige Punkte hinweg in einem fairen Austausch verständigt hat und dass es Usus war, dass sich da alle Statusgruppen auf Augenhöhe über Sachthemen verständigt haben, es also diese Dialogkultur offenbar schon gab. Klar, dass es da auch mal hoch herging, aber nicht in einer Weise, dass die Gremien dann auseinandergeflogen sind. Man war sozusagen an der Sache dran und in der Sache hart, aber in einer Form, die immer noch beschlussorientiert war. Das ist schon etwas, das die von mir interviewten Akteure auch wertschätzen im Vergleich zu anderen Universitäten.

W&F: Ein nicht unerklecklicher Teil von Hochschulen hat schon Zivilklauseln. Gleichzeitig geraten diese oft in Vergessenheit – Sie schreiben, dass selbst an der TU Darmstadt eine einstmalige Formel vor Beginn dieses Prozesses schon wieder in Vergessenheit geraten war. Wenn die in Vergessenheit geraten, sind das alles zahnlose Tiger?

Bornmüller: Da kann ich jetzt auch keine so klare Antwort geben, wie es damit steht. Eher anekdotisch kann ich sagen, was ich im Freundeskreis zu hören bekam, als ich von dieser Forschung erzählt habe: „Zivilklausel, was ist das eigentlich?“ Es gab viele Leute im akademischen Kontext, die erst mal nicht wussten, was eine Zivilklausel ist. Und vielen war dann entsprechend nicht bekannt, dass es auch an ihrer Hochschule eine Zivilklausel gibt. Das spricht, glaube ich, für ein Problem: Mit der Einführung einer Zivilklausel, die dann irgendwo in der Grundordnung oder in einem anderen Dokument steht, kann die direkte Verwandlung in einen »Papiertiger« verbunden sein. Es ist dann eben keine »gelebte Zivilklausel«, wenn man so möchte. Ich bin mir da auch nicht sicher, ob – und das soll kein Angriff sein – die Zivilklausel-Initiativen da manchmal etwas zu kurz denken, was das beabsichtigte Ergebnis ihrer Initiative ist. Denn es reicht eben nicht, dass die Klausel in einer Grundordnung steht, die kaum einer liest. Das war in Darmstadt zumindest zwei, drei Schritte weitergedacht. Die wollten das gerne so einführen, dass es sichtbar ist und dass man um dieses Prüfverfahren nicht drum herumkommt. Also ja, natürlich sollte es noch viel mehr Zivilklauseln geben an Hochschulen, wo es noch keine gibt. Aber gerade auch an Hochschulen, die sich bereits eine Zivilklausel gegeben haben, da sollte in den Bemühungen nicht nachgelassen werden – auch von den Initiativen, damit Zivilklauseln eben nicht zu Papiertigern werden.

W&F: Sie weigern sich zwar so ein bisschen, das jetzt als Blaupause zu verstehen, aber mich würde schon interessieren: Was wären denn die zentralen Impulse aus Ihrer Forschung, die die heutige Zivilklauselbewegung, so wie sie jetzt existiert, mindestens mitnehmen müsste, um effektiver zu sein?

Bornmüller: Ja, schwierig. Also zunächst einmal, dass eine Zivilklausel elaboriert genug und vor allem verfahrensorientiert sein sollte, so dass damit eben auch die Wirksamkeit zumindest grundsätzlich möglich ist. Zweitens, dass es – und das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt – eine hochschulinterne oder universitätsweite Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt. Also dass die Diskussion darüber wirklich wachgehalten wird.

W&F: …beispielsweise durch solche Hearings, wie in Darmstadt…

Bornmüller: …ja, genau. Ich konnte das jetzt im Nachhinein nicht mehr eruieren, wie viele Interessierte dann tatsächlich an diesen Hearings teilgenommen haben. Aber zumindest gab es dieses öffentliche Format und alle waren herzlich eingeladen zu kommen, ihre Meinung zu äußern, Vorschläge zu machen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, und in Darmstadt wurde es so gemacht. Das gilt dann aber natürlich auch für später, wenn die Zivilklausel verabschiedet ist: Diese muss eigentlich viel mehr im Diskurs sein, die Hochschule sollte sich auch ständig ein bisschen daran reiben, um sich sozusagen immer wieder selber zu kitzeln.

Und ein dritter Punkt ist – auch auf die Gefahr hin, jetzt in so einen Ratgebersprech zu verfallen – tatsächlich, dass bei allen Akteur*innen eine gewisse Sensibilität da sein muss für alles das, was in diesem Prozess eine Rolle spielt: Sich zu überlegen, was heißt es, sich eine solche normative Verbindlichkeit aufzuerlegen? Was heißt es, inhaltlich und strukturell bei der Planung und Durchführung von Forschungsprojekten, bei der Antragstellung für Drittmittel eine Zivilklausel berücksichtigen zu müssen? Und was heißt das mit Blick auf die spezifische Situation an der Hochschule, an der man so etwas umsetzen möchte?

W&F: Was würden Sie denn jetzt knapp zehn Jahre nach der Einführung sagen: Hat die Zivilklausel dazu geführt, die TU Darmstadt wirklich aktiv zu entmilitarisieren und zivil zu gestalten?

Bornmüller: Da kann ich keine entschiedene Antwort geben. An einer Stelle am Ende der Studie schreibe ich, dass es schon eine bemerkenswerte Tatsache ist, dass die Zahl der Fälle, über die die Ethikkommission entscheidet, wirklich im einstelligen Bereich liegt. Da ist dann die Frage: Hat die Zivilklausel zu einer Entmilitarisierung geführt? Ist es tatsächlich angekommen und universitätsweit so Konsens, dass niemand überhaupt auf die Idee kommt, ein Forschungsprojekt anzugehen, das mit der Zivilklausel nicht konform ist? Das wäre eine Schlussfolgerung, die man daraus ziehen könnte.

Eine andere wäre aber – und auch darauf brachte mich die »radikale« Stimme – dass wir auch sehen müssen, dass es zum Beispiel Fraunhofer-Institute als eine Art »An-Institute« gibt. Und die fallen formal nicht unter die Darmstädter Zivilklausel. Ich kann mir gut vorstellen, dass eventuell das eine oder andere – zumindest mit Blick auf die für die Zivilklausel relevanten Dimensionen kritisch zu bewertende – Projekt dann eher mal an ein Fraunhofer-Institut ausgelagert wird. Formell würde dann an der TU diese Art von Forschung, die mit der Zivilklausel nicht vereinbar ist, nicht stattfinden, aber sie würde eben trotzdem an der TU stattfinden, weil das Fraunhofer-Institut eng angebunden ist. Vor diesem Hintergrund wären da zumindest leise Zweifel angebracht, ob diese Entmilitarisierung tatsächlich so durchgängig erfolgreich war.

Nochmal eine ganz andere Möglichkeit wäre, dass es auch schon vor Einführung der Zivilklausel eigentlich gar keine kontro­versen Forschungsprojekte gab, die dann mit der eingeführten Zivilklausel als militärische oder kriegsförderliche Forschung hätten angesehen werden können. Es könnte auch sein, dass die TU Darmstadt schon vorher eine ziemlich zivile und entmilitarisierte Hochschule war. Das wäre vielleicht mal eine eigene Untersuchung wert.

Am Ende bleibt, dass an der TU Darmstadt – ich würde schon sagen: einigermaßen vorbildlich – eine Zivilklausel eingeführt wurde. Die Akteur*innen vor Ort haben gezeigt, wie das gehen kann, haben sich Gedanken gemacht, mit langem Atem und mit institutionellem Verständnis. Dennoch sollte man nicht immer das Maximum von einer Zivilklausel-Einführung erwarten. Wenn am Ende im Großen und Ganzen eine zivile Hochschule steht, in der über dieses Thema gesprochen wird, ist das schon mal gut. Und vielleicht lässt sich mit dieser Perspektive konstruktiver arbeiten als mit der strengen Frage danach, ob eine Hochschule nun wirklich absolut nichts mehr tut, was möglicherweise militärisch relevant sein könnte.

Falk Bornmüller ist als Referent für Lehrerbildung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig und forscht u.a. zu Themen der Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftspolitik.

Bild von Buch

Falk Bornmüller (2023): Zivile Wissenschaft. Theorie und Praxis von Friedens- und Zivilklauseln an deutschen Hochschulen. Bielefeld: transcript, ISBN: 978-3-8376-6477-5, 134 S., 45 €.

Engere Verflechtung


Engere Verflechtung

Der Einfluss von Militär und Rüstungsindustrie auf die Wissenschaft

von Cornelia Mannewitz

Der Trend zur Ökonomisierung der Hochschulen, der schon vor langem begonnen hat, setzt sich in den letzten Jahren ungebrochen fort. Bemerkenswerte Fälle sollen hier genannt und in die deutsche und europäische Forschungspolitik eingeordnet werden. Immer sind dabei auch die Perspektiven für eine friedliche Lehre und Forschung berührt.

Bereits 2010 begann eine Diskussion über Geheimhaltung bei Militärforschung. In der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zur »Rolle der Hochschulen in der staatlich geförderten Rüstungs- und militärrelevanten Sicherheitsforschung« (Bundestagsdrucksache 17/3337) waren zum ersten Mal Geheimhaltungsvermerke aufgetaucht: Das Verteidigungsministerium hatte die Antworten aus Sicherheitsgründen als »VS – Nur für den Dienstgebrauch« eingestuft. Dabei ging es um Forschungsthemen, Drittmittel und die Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung.

Nach öffentlicher Kritik zeigen sich neuere Antworten der Bundesregierung auf Kleine Anfragen etwas offener: 2016 wurde Auskunft über die Themen von Verbundprojekten gegeben (Bundestagsdrucksache 18/8355). Dabei haben solche Kooperationsprojekte inzwischen ein beachtliches Ausmaß. Von 2014 bis 2017 wurden an 27 Hochschulen Forschungsaufträge des Bundesministeriums der Verteidigung vergeben, die teilweise einen Umfang von mehr als 1.150.000 Euro hatten (Leibniz Universität Hannover im Jahr 2015) – ohne dass der Öffentlichkeit der Verwendungszweck genannt wurde. Die Bundesregierung gibt an, diese Informationen könnten nicht veröffentlicht werden, „da sie detaillierte Rückschlüsse auf vorhandene Fähigkeitslücken in Bezug auf Verfahren und Ausrüstung der Bundeswehr“ zuließen. Aufgrund der damit verbundenen nachteiligen Auswirkungen auf die sicherheitsempfindlichen Belange der Bundeswehr kann dem Wunsch nach einer öffentlich frei zugänglichen Liste mit Forschungsaufträgen des BMVg […] nicht entsprochen werden.“ (Bundestagsdrucksache 18/8355)

Hochschulen nach den Gesetzen der Wirtschaft

Die Abhängigkeit der Hochschulen von Forschungsgeldern, die von außen kommen, ist das Einfallstor für Forschung im Dienste des Militärs. Zivil-militärische Ansatzpunkte in den Forschungsprogrammen der EU und des Bundes zeigen das auch auf struktureller Ebene. Die Geheimhaltungsforderungen der Wirtschaft und des Militärs entsprechen einander ebenfalls: Das, was in der Wirtschaft Geschäftsgeheimnisse sind, nennt das Verteidigungsministerium Sicherheitsinteressen. Immer noch aktuell ist, was die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern 2012 auf eine Kleine Anfrage nach Offenlegung von Kooperationsverträgen zwischen Hochschulen und Unternehmen antwortete: „Eine derartige Veröffentlichungspflicht berührt die Grundrechte der Beteiligten, insbesondere die Forschungsfreiheit, die Berufsfreiheit und die Vertragsfreiheit, und erfordert eine gesetzliche Ermächtigung, die derzeit nicht besteht.“ (Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Drucksache 6/210).

Die Bundesregierung verfolgt seit 2006 eine Hightech-Strategie. Eines ihrer Programme ist »Industrie 4.0«. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung sagt dazu: „Ziel ist es, […] auf der Grundlage der erfolgreichen deutschen Industriestruktur neue intelligente und wissensbasierte Produktionsumgebungen zu gestalten.“ (BMBF 2017, S. 19) An die Hochschulen selbst wendet sich »Innovative Hochschule«, um „den Kulturwandel in Hochschulen hin zu einer besseren Verwertung von Erkenntnissen zu forcieren“ (BMBF 2017, S. 40). Das klingt nach überfälliger Erstürmung des Elfenbeinturms, wird aber nur die Drittmittelabhängigkeit der Hochschulen befestigen.

Zu dieser Hightech-Strategie gehören auch Programme für »zivile Sicherheitsforschung«. Es ist mindestens zweifelhaft, wie »zivil« hier zu verstehen ist, wenn es in den Zielen des Rahmenprogramms heißt „Wir werden internationale Forschungskooperationen ausbauen und die Entwicklung von Lösungsansätzen für globale Herausforderungen mitgestalten“ und Themen wie Terrorismusbekämpfung, Grenzschutz und Luftsicherheit auf der Agenda stehen (BMBF 2016, S. 8, 48). Mit der Begründung »zivile Sicherheitsforschung« gehen auch Fördergelder des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (nicht des BMVg!) an Forschungsprojekte, die im Auftrag der Rüstungsindustrie an deutschen Hochschulen durchgeführt werden. 13 Millionen Euro zahlte das BMBF allein 2015 und 2016 dafür. Die Gelder kamen Firmen wie EADS, Kraus-Maffei-Wegmann, Rheinmetall und ThyssenKrupp zugute (Pauli 2017). Nachwuchswissenschaftler*innen für diesen Bereich umwirbt das BMBF u.a. mit einem »Innovationsforum Zivile Sicherheit« im Juni 2018 in Berlin (Sifo 2018).

Eine ganz ähnliche Linie verfolgt das aktuelle Europäische Forschungsrahmenprogramm »Horizon 2020«. Es will diesmal vor allem die »Innovationslücke« schließen und die Führungsrolle der europäischen Industrie sichern (European Commission 2017, S. 6). Schwerpunkt sind Kooperationen zwischen Forschenden und Unternehmen. Sogar ehemalige Mobilitätsprogramme für die Grundlagenforschung dienen jetzt der Mobilität zwischen akademischer und nichtakademischer Arbeitswelt (Piotti 2017, S. 86-87). Seit dem 7. EU-Forschungsrahmenprogramm (2007-2013) ist die Sicherheitsforschung prominent dabei. Die explizite EU-Rüstungsförderung kann sich seit 2016 auf den »Europäischen Verteidigungs-Aktionsplan« stützen. Er sieht für Forschungsprojekte nach den ersten Jahren der Anschubfinanzierung ab 2020 Ausgaben von 500 Millionen Euro pro Jahr vor (European Commission 2016). (Siehe dazu auch den Artikel »EU-Rüstungsforschung – ein Paradigmenwechsel?« von Eric Töpfer auf S. 27.)

Brüche und Streichungen von Zivilklauseln

Es dürfte wenige Zivilklauseln geben, die noch nicht gebrochen wurden, und sei es unabsichtlich: 2016 erstellte die RWTH Aachen eine Machbarkeitsstudie für eine Fabrik für Spezialfahrzeuge in der Türkei. Dass die Betreiberfirma auch Panzer produziert und mit Rheinmetall zusammenarbeitet und dass die RWTH damit ihre Zivilklausel gebrochen hatte, wurde erst später bekannt (Braun 2017). An der Hochschule Bremen gab es 2016 einen anderen Fall. Zwischen der Hochschule und der Bundeswehr wurde vereinbart, Bundeswehrangehörige – angehende Verwaltungsfachkräfte – zum Internationalen Frauenstudiengang Informatik der Hochschule zuzulassen (Bundeswehrkarriere 2016). Rektorat und große Teile der Landespolitik wollten darin keinen Bruch der landesweiten Zivilklausel erkennen.

Warum werden Zivilklauseln so häufig gebrochen? Viele Zivilklausel-Formulierungen sind ungenügend. Die seit 2010 bestehende Zivilklausel in der Präambel der Grundordnung der Universität Tübingen ist das beste Beispiel dafür: „Lehre, Forschung und Studium an der Universität sollen friedlichen Zwecken dienen, das Zusammenleben der Völker bereichern und im Bewusstsein der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen erfolgen.“ Ihrerseits gestützt auf Beispiele aus zurückliegenden Jahren, wurde sie in der Zeit des Aufschwungs der Zivilklauselbewegung Vorbild für mehrere andere Zivilklauseln. »Friedliche Zwecke« und »Zusammenleben der Völker« lassen sich aber weit dehnen. Es muss durchaus keine Absage an Militärisches mit ihnen assoziiert werden, wenn Begriffe wie »humanitäre Intervention«, »friedenserzwingende Maßnahmen« und »responsibility to protect« bereits im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert sind.

Hinzu kommen organisatorische Fragen: Zivilklauseln werden oft als Ergebnis eher kurzfristiger Kampagnen eingeführt, die meist von Studierenden getragen sind. Aber selbst in der Diskussion unter Studierenden spielen Argumente, die hinter Zivilklauseln eine Behinderung der Forschungsfreiheit sehen oder behaupten, dass man zwischen ziviler und militärischer Verwendung von Forschungsergebnissen nicht trennen könne, eine große Rolle. Wenn dann, weil es eine Zeitlang auch für Hochschulen en vogue war, sich eine Zivilklausel zu geben – wer wollte sich nachsagen lassen, nicht für friedliche Zwecke zu forschen? –, eine Zivilklausel beschlossen wurde, gibt es in der Praxis häufig Probleme mit der Durchsetzung. Das soll den Respekt für die Arbeit an Zivilklauseln, die oft von wenigen, unter großen Mühen und gegen unerwartete Widerstände geleistet wird, nicht mindern. Aber diese Arbeit findet eben auch semantisch und logistisch nicht im luftleeren Raum statt.

Zu den Brüchen von Zivilklauseln kommt jetzt noch die Gefahr ihrer Streichung. Ausgerechnet bei einem Landeshochschulgesetz kann das demnächst geschehen: dem von Nordrhein-Westfalen. Die Regierungskoalition aus CDU und FDP plant die Novellierung des Landeshochschulgesetzes. Laut dem Eckpunktepapier des zuständigen Ministeriums seien Hochschulen „Teil der Friedenssicherung des Grundgesetzes“, Zivilklauseln daher Ausdruck von Misstrauen (NRW 2018).

Widerstand und Ausblick

Obwohl kurz, ist auch im Koalitionsvertrag 2018 die Rede von „technologischer Innovationsführerschaft“ durch Militärforschung. Aber schon aus den übrigen militärischen Vorhaben, wie dem Aufbau einer »Armee der Europäer«, der Erhöhung des Verteidigungshaushalts sowie der Förderung von Stiftungen und Einrichtungen für Sicherheitspolitik und Friedensforschung (Koalitionsvertrag 2018, S. 145-146, 154, 159), ergeben sich Bedarfe, die an den Hochschulen nicht vorbeigehen werden.

In jedem Fall wachsen die Anforderungen an Transparenz und Kontrolle. Dabei setzt die Europäische Kommission Standards: Die Forschenden müssen in ihren Anträgen für »Horizon 2020« mögliche ethische Probleme ihres Projekts benennen und Lösungen vorschlagen (European Commission 2018). Ähnliche Regelungen gibt es bei Akademien und Stiftungen. Formal für Transparenz zuständig sind auch Ethikkommissionen. Forderungen nach einer Zivilklausel wurden schon mit der Begründung abgewiesen, dass die Einrichtung einer Ethikkommission geplant sei. Dazu passt die Beobachtung, dass Ethikkommissionen außerhalb der Medizin – dort haben sie eine längere Geschichte – in größerer Zahl 2016 und 2017 entstanden sind; damals wurden die Erfolge der Zivilklauselbewegung stark wahrgenommen. Ethikkommissionen sind jedoch kaum wirksam: Die Forscher*innen entscheiden selbst über ihre Anrufung, sie sind nicht paritätisch besetzt und geben nur Empfehlungen ab. Eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit findet faktisch nicht statt.

Whistleblowing aber kommt im akademischen Bereich kaum vor. Die in Hochschule und Forschung oft jahrzehntelang befristet Beschäftigten riskieren es mit Rücksicht auf ihre Lebensplanung selten, Rüstungsprojekte, in die sie involviert sind, öffentlich zu machen. Aus 2017 sind einige Fälle von Whistleblowing aus der Friedensbewegung über Waffenhandel und Rüstungsproduktion bekannt, die aber den akademischen Bereich nicht berühren.

Verbesserungen der rechtlichen Situation von Whistleblowern kommen gerade erst in Gang. Noch 2015 wurde ein Entwurf für ein Whistleblower-Schutzgesetz im Deutschen Bundestag abgelehnt. Die Europäische Kommission hat jüngst einen Gesetzesvorschlag über Mindeststandards für den Schutz von »Hinweisgebern« auf den Weg gebracht (Mühlauer 2018). Die Bundesregierung arbeitet noch an der Umsetzung einer zwei Jahre alten EU-Richtlinie zu Geschäftsgeheimnissen. Die deutsche Auslegung dieser Richtlinie sieht allerdings nur Schutz vor Strafverfolgung vor, wenn der Whistleblower in der Absicht handelt, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen. (Um eine Befriedigung dieses öffentlichen Interesses durch Öffentlichmachung der aufgedeckten Missstände geht es dabei allerdings nicht.) Das läuft auf eine Gesinnungsprüfung für Whistleblower hinaus. Im Gegenzug sollen Unternehmen ihr Interesse an der Geheimhaltung von Informationen nicht mehr begründen müssen. Die Nachrichtenwebsite netzpolitik.org bezweifelt die Schutzfunktion des deutschen Gesetzentwurfs für Whistleblower und sieht darüber hinaus in ihm Gefahren für die Informationsfreiheit (Semsrott 2018). Auffällig ist auch, dass die Begründungen aller dieser Planungen stark auf den ökonomischen Nutzen durch Whistleblowing abstellen. Moralische Konflikte werden weniger thematisiert. Damit dürfte Whistleblowing an den Hochschulen zunächst nicht signifikant zunehmen, zumindest nicht, solange die Arbeitsbedingungen für den akademischen Mittelbau dieselben bleiben.

Leider ist gleichzeitig die Zivilklauselbewegung abgeflaut. Die bundesweite Vernetzung gelingt nicht mehr regelmäßig. Das Bemühen um Kontrollinstanzen für Zivilklauseln hat wenig Erfolg. Geeignet wären etwa Senatskommissionen – solange die Senate nicht noch weiter in ihren Rechten beschnitten werden, im Austausch gegen eine immer höhere Professionalisierung der akademischen Selbstverwaltung.

Trotzdem: Es entstehen Dual-use-Kommissionen, beispielsweise nach der Einführung einer Zivilklausel ins Leitbild der Universität Erlangen-Nürnberg. In Bremen existiert eine wache Zivilgesellschaft, die den Bruch der Zivilklausel durch die Hochschule weiter in der öffentlichen Diskussion hält. Gegen die Pläne zur Reform des Landeshochschulgesetzes in NRW wird protestiert. Vorstellungen von unabhängiger Wissenschaft und einer anderen Hochschule sind auch gegen strukturelle Widerstände lebendig.

Literatur

BMBF (2016): Forschung für die zivile Sicherheit 2012-2017. Rahmenprogramm der Bundesregierung. Aktualisierte Auflage.

BMBF (2017): Fortschritt durch Forschung und Innovation – Bericht zur Umsetzung der Hightech-Strategie.

BMBF (2018): Industrie 4.0. Webseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung; Stand 6.3.2018.

Braun, L.Th. (2017): Rüstungsforschung aus Versehen. die tageszeitung, 6.9.2017.

Bundeswehrkarriere (2016): Ein IT-Studiengang – ausschließlich für Frauen. Website bundeswehrkarriere.de; Stand 6.3.2018.

European Commission (2016): Communication from the Commission to the European Parliament, the European Council, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions – European Defence Action Plan.

European Commission (2017): Horizon 2020 – Key findings from the interim evaluation.

European Commission (2018): Horizon 2020 Programme. Guidance – How to complete your ethics self-assessment. Version 5.3.

hochschule dual (2018): Bayerische Hochschulen stärken Zusammenarbeit im Bereich des dualen Studiums. Pressemitteilung von hochschule dual, 7.2.2018.

Koalitionsvertrag (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD.

Kreiß, Ch. (2018): Die gekaufte Wissenschaft. Süddeutsche Zeitung, 21.2.2018.

Leibniz-Gemeinschaft (2016): Contribution of the Leibniz Association to the Public stakeholder consultation. Interim evaluation of Horizon 2020. Brussels.

Mühlauer, A. (2018): Besserer Schutz für Whis­tleblower. Süddeutsche Zeitung, 17.4.2018.

NRW (2018): Eckpunkte zu einem Gesetz zur Änderung des Hochschulgesetzes.

Pauli, R. (2017): Steuergelder für die Waffenindustrie. Die tageszeitung, 10.1.2017.

Piotti, G. (2017): Europäische Forschungsförderung unter der Lupe – Ein Zwischenstand zur ersten Halbzeit von Horizon 2020. In: Keller, A.; Staack, S.; Tschaut, A.: Von Pakt zu Pakt? Perspektiven der Hochschul- und Wissenschaftsfinanzierung. Bielefeld: W. Bertelsmann, S. 83-90.

Semsrott, A. (2018): Wir veröffentlichen den Gesetzentwurf zu Geschäftsgeheimnissen – Fehlender Schutz für Whistleblower. netzpolitik.org; Stand 18.4.2018.

Sifo/Sicherheitsforschungsprogramm (2018): sifo.de (Website des BMBF für Die Neue Hightech Strategie – Innovationen für Deutschland; Stand 19.4.2018.

Stifterverband (2017): Transparenz bei der Zusammenarbeit von Hochschulen und Unternehmen.

TU München, Dieter Schwarz Stiftung (2018): Die Technische Universität München geht nach Baden-Württemberg – Mega-Stiftung für TUM-Campus Heilbronn. Pressemitteilung der Technischen Universität München und der Dieter Schwarz Stiftung, 7.2.2018.

Universität Siegen (2018): Die Fabrik der Zukunft. Pressemitteilung der Universität Siegen, 29.1.2018.

Dr. phil. habil. Cornelia Mannewitz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slawistik der Universität Greifswald, Mitglied des Geschäftsführenden Landesvorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Mecklenburg-Vorpommern und Mitglied des Bundesfachgruppenausschusses Hochschule und Forschung der GEW.

Mathematik und Krieg


Mathematik und Krieg

Forschung für die moderne Kriegsführung

von Thomas Gruber

Lückenlose Erdbeobachtung und Spionage, ferngesteuerte und (teil-) autonome technische Systeme sowie eine breite militärische Vernetzung – ohne aktuelle Forschungsergebnisse aus der Mathematik wären einige Grundpfeiler der modernen Kriegsführung undenkbar. Gleichzeitig hat die Mathematik vielerorts den Ruf einer rein theoretischen Wissenschaft. Ein Diskurs über die Verquickung zwischen der Mathematik und der Kriegsführung ist äußerst selten – sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Hochschulen. Lässt sich die militärische Verwertbarkeit primär mathematischer Forschung also vielleicht gar nicht nachvollziehen? Werden jene Konzepte und Methoden erst durch anwendungsbezogene Fächer, wie die Ingenieurwissenschaften oder die Informatik, auf den Kriegszweck zugeschnitten? Dieser Beitrag soll den Weg mathematischer Forschung in die moderne Kriegsführung anhand einiger Beispiele anschaulich machen. Der Fokus wird dabei soweit möglich auf der Situation in Deutschland liegen.

Schon lange sind mathematische Methoden und Berechnungsmodelle ein wichtiger Teil der Kriegsführung. In früheren Kriegen nahm die Mathematik dabei eher die Rolle einer Hilfswissenschaft ein (Booß-Bavnbek und Høyrup 2003, S. 2-3). Mit dem 14. Jahrhundert wurde beispielsweise die Trigonometrie (Dreiecksberechnungen mithilfe von Sinus, Kosinus und Tangens) ein fester Bestandteil der Schiffsnavigation. Berechnungen zur Flugbahn von Geschossen (Ballistik) ermöglichten die Entwicklung der ersten Kanonen in Europa. Beides entstammte allerdings nicht der damals aktuellen Forschung, es wurden lediglich bereits bekannte mathematische Methoden militärisch genutzt. Dies änderte sich erst mit dem Ersten Weltkrieg. Für den Krieg zu Wasser und in der Luft waren die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse gefragt – die Mathematik war wegbereitend für die U-Boot-Ortung mithilfe von Schallimpulsen (Sonar) und schuf die Grundlagen der Aerodynamik (ebd., S. 4). Dennoch wurden Mathematiker*innen auch hier eher als gute Ingenieur*innen und Rechner*innen eingesetzt.

Der Zweite Weltkrieg brachte dann die große Wende: Die Mathematik wurde zum kriegsentscheidenden Faktor. Mathematiker*innen entwickelten Ansätze zur Optimierung der Militärlogistik, griffen erfolgreich gegnerische Verschlüsselungssysteme an,1 brachten die Kernwaffe mit auf den Weg,2 entwarfen Vorhersagemodelle für Schlachtsituationen auf Basis der mathematischen Spieltheorie und ermöglichten die ersten Schritte in der militärischen Raumfahrt. Außerdem lieferten sie die Grundlagen für den größten Sprung in der Datenverarbeitung bisher: den Computer. Die neuen digitalen Rechner revolutionierten die Rechenzeiten in der für die Waffentechnik elementaren Ballistik, der Verschlüsselung von Nachrichten, der Optimierung und der Raumfahrt.

Auch im nationalsozialistischen Deutschland hatte die Mathematik erheblichen Einfluss auf die Kriegsführung (Segal 2003): Der Numeriker Gustav Doetsch arbeitete etwa in der Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring (inzwischen aufgegangen im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt); die Analytiker und Algebraiker Helmut Grunsky und Oswald Teichmüller befassten sich mit Chiffrierungstechniken kriegsrelevanter Nachrichten; Lothar Collatz und Alwin Walther arbeiteten an der Theorie zur Interkontinentalrakete »Vergeltungswaffe 2«, die unter der Leitung des Ingenieurs Wernher von Braun entwickelt und schließlich auf Städte wie London und Antwerpen abgefeuert wurde.

Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg verließ die Mathematik im Rahmen der militärischen Entwicklungen also das Terrain einer reinen Hilfswissenschaft. Während des Kalten Krieges nahm ihre Bedeutung im Wettrüsten zwischen Ost und West sogar noch zu. Zwar entstanden gerade technische Neuerungen – etwa in der Luft- und Raumfahrt oder bei Waffensystemen – nur im Zusammenspiel mit den Ingenieurwissenschaften, ohne zielgerichtete mathematische Forschung wären sie allerdings undenkbar gewesen.

Zur Mathematisierung der modernen Kriegsführung

Viele Konzepte der Kriegsführung, die im 20. Jahrhundert angeregt wurden, sind bis heute relevant, andere kamen hinzu. So wurde etwa die militärische Raumfahrt zur Erdüberwachung stetig ausgebaut, neue Verschlüsselungsschemata und Angriffe auf dieselben erlangten zunehmend Bedeutung, und im Bereich der Waffensysteme ergab sich ein Trend zur Automatisierung und zur Fernsteuerung. Befeuert wurde diese Entwicklung durch die enormen Fortschritte in der Informatik – kleinere Computer und innovative Softwareentwicklung wurden zu Wegbereitern einer Mathematisierung der modernen Kriegsführung. Im Folgenden sollen zwei Beispiele aus der deutschen Forschungslandschaft den Weg mathematischer Methoden in die konkrete militärische Anwendung veranschaulichen.

SAR-Lupe und die Universität Bremen

Schon länger vollziehen die westlichen Militärmächte einen Wandel von klassischen, schwerfälligen Interventionskriegen hin zu schnellen, teils hochspezialisierten Eingreiftruppen3 und »chirurgischer Kriegsführung«. Eine lückenlose und ständige Erdbeobachtung ist seitdem Mindestvoraussetzung für militärische Aktionen; als Mittel der Wahl dient hierfür meist der Spionagesatellit. Allerdings werden nationale Armeen und transnationale Bündnisse damit vor einige komplexe Aufgaben gestellt. So sind etwa klassische Bildgebungsverfahren, wie die Photographie, für militärische Satelliten ungeeignet, weil sie bei schlechtem Wetter und nachts keine zufriedenstellenden Ergebnisse liefern können; außerdem muss ein Verbund aus mehreren Satelliten in den Erdorbit geschickt werden, dessen Konstellation eine weitgehend lückenlose Beobachtung der Erdoberfläche und eventuell den mehrfachen Überflug besonders relevanter Regionen ermöglicht; zusätzlich sind die technischen Eigenheiten der Satelliten zu bedenken, die sich während des Fluges und der Erdumrundung ergeben, etwa die Empfangsreichweite der Bodenstationen und bei solarbetriebenen Satelliten strombedingte Ausschaltzeitpunkte der Sensorik.

Gerade die Problemstellungen zur maximalen Erdabdeckung und zu technisch bedingten Betriebszeiten bedürfen einer mathematischen Lösung: Die Komplexität der Probleme und die Vielzahl an offenen Variablen würde es unpraktikabel machen, jeden einzelnen Lösungsvorschlag auszuprobieren und auf seine Güte zu testen. Abhilfe schafft hier der mathematische Teilbereich der Optimierung: Zunächst wird die reale Problemstellung mit all ihren Variablen und Einschränkungen mathematisch modelliert und dann die Güte der Lösungsvorschläge Stück für Stück verbessert. Dieses Vorgehen verringert nicht nur die Rechenzeit, die für ein gewisses Problem aufgewendet werden muss, sondern macht viele Aufgaben überhaupt erst in realistischer Zeit lösbar.

Seit dem Jahr 2008 unterhält die Bundeswehr das System SAR-Lupe. Es besteht aus einem Verbund von fünf Aufklärungssatelliten, die mithilfe von Radartechnik Bilder der Erdoberfläche liefern, unabhängig von Wetter und Tageszeit. Entwickelt wurde SAR-Lupe vom Bremer Raumfahrtunternehmen OHB. Dabei lagen die Kompetenzen des Konzerns eher in den technischen Komponenten der Satelliten, einige der grundlegenden theoretischen Fragestellungen wurden deshalb in die mathematische Forschung ausgelagert. In den Jahren 2007 und 2008 beauftragte OHB diesbezüglich das Zentrum für Technomathematik der Universität Bremen mit zwei Drittmittelprojekten: Zum einen sollte die Satellitenkonstellation im All, zum anderen die Betriebszeitplanung (Beobachtungszeiten, Sendezeiten, Ruhezeiten, …) der Satelliten optimiert werden (Tietjen, Büskens und Knauer 2008). Die beteiligten Mathematiker*innen entwickelten zu beiden Problemstellungen Programme, die seitdem im SAR-Lupe-System Anwendung finden (OHB-Pressestelle 2008). Diese Forschungsarbeiten der Bremer Mathematiker*innen standen zweifellos im Zusammenhang mit der aktuellen Kriegsführung der Bundeswehr, obwohl die Universität Bremen zur Laufzeit der Projekte eine Zivilklausel besaß (Streibl 2012; AstA o.J.; Braun et al. 2015).

Kryptologie und die Universität Leipzig

Eine weitere wichtige Rolle spielt in der modernen Kriegsführung die Kryptologie, also die Erforschung von verschlüsselter Kommunikation und von Angriffen auf diese: Zum einen sind militärische Einheiten zunehmend vernetzt und müssen daher über sichere Kommunikationswege verfügen. Zum anderen können erfolgreiche Angriffe auf die Verschlüsselung des Feindes essentielle taktische Informationen liefern oder zur Sabotage militärisch oder zivil genutzter Technik befähigen – kryptologische Konzepte können daher kriegsentscheidend wirken. Eine wichtige Eigenschaft bei Angriffen auf verschlüsselte Kommunikation ist, dass jede Verschlüsselung in endlicher Zeit gebrochen werden kann. Genauer: Wenn Angreifer*innen einen verschlüsselten Text abfangen, wissen sie meist, welches grobe Konzept vom Feind zur Übersetzung von Klartext in Geheimtext genutzt wird, oft ist dieses Konzept sogar öffentlich bekannt. Was zum erfolgreichen Brechen des Systems (also der feindlichen Entschlüsselung einer Geheimnachricht) noch fehlt, ist eine Geheiminformation, die nur den eigentlich kommunizierenden Parteien bekannt ist: der »Schlüssel«. Wenn Angreifer*innen jeden möglichen Schlüssel ausprobieren und dabei überprüfen, ob ein sinnvoller Klartext entsteht, können sie das Verschlüsselungssystem brechen. Das gesamte Konzept lebt also davon, dass es einerseits so viele Schlüssel gibt, dass reines Ausprobieren nicht in einer sinnvollen Zeit zu Ergebnissen führt,4 andererseits aber auch davon, dass die Ver- und Entschlüsselung von Nachrichten durch die eigentlichen Kommunikationspartner*innen nicht zu lange dauert und damit praktikabel bleibt.

Aus diesen Gründen ist für die aktuellen militärischen Ansätze zur Kryptologie vor allem die rasante Entwicklung der digitalen Computertechnik seit den 1950er Jahren richtungsweisend: Zum einen können mithilfe eines Computers sehr viel mehr Schlüssel in einer gewissen Zeit überprüft werden, als durch einen Menschen. Zum anderen kann aber auch das Kryptosystem, also das Konzept zur Ver- und Entschlüsselung von Nachrichten, verkompliziert werden, ohne dass sich die Zeit zur Ver- und Entschlüsselung zwischen den eigentlichen Kommunikationspartner*innen merklich verschlechtert.

In der militärischen Praxis ergibt sich also eine logische Verwandtschaft zwischen Kryptologie und der Informatik (oder teilweise auch noch fundamentaler: den Ingenieurwissenschaften), denn die konkrete Programmierung der Kryptosysteme und die Schnelligkeit der verwendeten Hardware entscheiden mit über deren Sicherheit und Angreifbarkeit. Aber auch Angriffe auf die Verschlüsselung sind stark abhängig vom Einfallsreichtum der attackierenden Programmierer*innen und der Güte der Technik, über die sie verfügen. Was dabei wenig bekannt ist, ist die zentrale Rolle der Mathematik in der kryptologischen Praxis: Die Theorie neuer Kryptosysteme und der Angriffe auf dieselben stützt sich maßgeblich auf die aktuelle, rein mathematische Forschung, genauer: auf die Algebra. Die algebraische Forschung hilft, das Dilemma der kurzen Rechenzeiten zu umgehen. Die Idee ist, ein Kryptosystem so komplex zu gestalten, dass selbst die zukünftige Entwicklung schnellerer Rechner keine Angriffe möglich macht.

Ein Beispiel für ein algebraisches Konzept, auf dem viele Verschlüsselungstechniken basieren, ist der »diskrete Logarithmus« (Stinson 2006, S. 233-274). Mit seiner Unberechenbarkeit (oder Unbrechbarkeit) steht und fällt die Sicherheit vieler Kryptosysteme. Der Vorteil für militärische Akteur*innen ist hierbei, dass eine sichere Verschlüsselung auf Basis des diskreten Logarithmus möglich ist, bei fehlendem mathematischen Hintergrundwissen entstehen bei dessen Nutzung allerdings kritische Sicherheitslücken. Das heißt, auch aktuelle Erkenntnisse aus der algebraischen Forschung können sowohl die eigenen Kryptosysteme sicher als auch feindliche angreifbar machen. Diesen Umstand machte sich das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) zunutze, als es 2013 für gut 800.000 Euro beim Mathematischen Institut der Universität Leipzig eine Studie in Auftrag gab, die sich mit den „Möglichkeiten und Grenzen der Berechnung des diskreten Logarithmus“ befasste (Sächsisches Staatsministerium 2015, S. 3) – eines der am höchsten dotierten wehrrelevanten sächsischen Forschungsprojekte der letzten Jahre.

Drohnen, Lenkflugkörper und die Mathematik

Auch bei der Automatisierung von Waffentechnik ist die Mathematik ein wichtiger Faktor. Anhand von Lenkflugkörpern und Drohnen lässt sich diese Verbindung gut umreißen.

Lenkflugkörper (beispielsweise Luft-Luft- oder Flugabwehrraketen) werden etwa von einem Flugzeug oder Schiff auf ein bewegliches Ziel gefeuert, das sie selbstständig abfangen sollen. Der am weitesten verbreitete Ansatz ist dabei die so genannte Proportionalnavigation: Während des Fluges befindet sich das Geschoss stetig auf Kollisionskurs mit dem Ziel – auch eventuelle Ausweichmanöver des Feindes werden durch automatisches Nachjustieren der Flugrichtung durch den Lenkflugkörper ausgeglichen. In den ersten Luftzielflugkörpern wurde diese Eigenschaft rein technisch realisiert. Das Problem der automatischen Steuerung der Rakete war also zunächst ein ingenieurwissenschaftliches. Die zunehmend kleineren und kostengünstigeren Computer führten allerdings zu einer allgemeinen Digitalisierung von Waffensystemen, und spätestens seit den 2000er Jahren wird die Proportionalnavigation mithilfe algorithmischer Berechnungen verbessert, die von Systemen an Bord des Lenkflugkörpers durchgeführt werden (vgl. etwa Walter et al. 2014; Trottemant et al. 2010). Die Optimierung der Flugeigenschaften basiert größtenteils auf der mathematischen Kontrolltheorie, die die Grundlage der ingenieurwissenschaftlichen Regelungstechnik darstellt. Hierbei können einerseits potentielle Ausweichmanöver des Zieles früher erkannt und genauer abgeschätzt, andererseits Störungen im Flug der Rakete (also etwa plötzliche Windstöße oder andere Turbulenzen) weit besser ausgeglichen werden.

Ein weiterer zentraler Faktor ist die Kontrolltheorie für den Einsatz von zunehmend automatisierten Aufklärungs- und Kampfdrohnen, vor allem wenn es um eigenständige Navigation geht, zum Beispiel beim vollautonomen Flug oder bei der automatischen Flugstabilisierung. Daneben kommt die Mathematik in Drohnen auch bei der Bildgebung zum Einsatz. Wurde z.B. ein Ziel erkannt und markiert, soll es auf den Kamerabildern und im weiteren Flug der Drohne automatisch verfolgt werden. Wenn sich allerdings mehrere bewegliche Objekte in einer Bildfolge finden oder der Sichtkontakt zwischen Kamera und Ziel kurzzeitig unterbrochen wird, kann die Verfolgung leicht fehlschlagen. Einen Ausweg aus dieser Problematik liefern stochastische (Stochastik: Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik) Schätzverfahren, die die Bewegungsrichtung des Ziels vorhersagen und damit eine störungsresistente Objektverfolgung (auch mehrerer Ziele gleichzeitig) möglich machen (vgl. etwa Quintero, Ludkovski und Hespanha 2016; Sheikh und Dodd 2010).

Fazit und Ausblick

In der modernen Kriegsführung werden noch zahlreiche weitere Methoden aus der Mathematik angewandt. Für viele verschiedene Aspekte der Luft- und Raumfahrt, des Fahrzeugbaus, der Waffentechnik, der Kryptologie, der Planungsunterstützung und der intelligenten Bildverarbeitung ist die Mathematik grundlegend wichtig. Die Wege der mathematischen Forschung in die konkrete Kriegsführung und damit auch die Erkennbarkeit der militärischen Relevanz einzelner Projekte sind dabei unterschiedlich: Es gibt Drittmittelkooperationen zwischen Universitäten und militärischen Akteur*innen, gezielte Förderung von Dual-use-Forschung (also Forschung, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar ist), Studierendenpraktika und Stellen für externe Abschlussarbeiten bei Rüstungskonzernen sowie militärisch initiierte Konferenzen und Wettbewerbe für Forscher*innen. In vielen Fällen lässt sich allerdings die Verbindung zwischen der Mathematik und der konkreten militärischen Anwendung einwandfrei nachvollziehen – vor allem von den beteiligten Forscher*innen und Universitäten.

So reiht sich die militärische und militärnahe mathematische Forschung ein in den generellen Trend zur Anpassung der Hochschulinstitute an die Wünsche privatwirtschaftlicher und staatlicher Geldgeber*innen. Die Bedeutung und die infrastrukturelle Ausstattung von Instituten und Fächern der angewandten Mathematik, etwa den Teilbereichen der so genannten Technomathematik oder Ingenieursmathematik sowie der Finanzmathematik, übertreffen die der reinen Mathematik inzwischen bei weitem.

Insgesamt ist aktuelle mathematische Forschung richtungsweisend für Methoden der modernen Kriegsführung, die sich in einem Spektrum von zumindest fragwürdig über jenseits jedweder Legalität bis hin zu vollkommen pervertiert einordnen lassen – beispielsweise ständige Erdüberwachung, Angriffe auf Verschlüsselungssysteme in der zivilen Kommunikation und Infrastruktur sowie Drohnentötungen auf der Basis von Handyortung. Zusätzlich hat der starke Anwendungsbezug auch direkte Auswirkungen auf die Inhalte und die Struktur der institutionalisierten Mathematik. Es gibt also genug Gründe, die Folgen der Verquickung zwischen Mathematik und Krieg breit zu diskutieren, sowohl in der Forschung als auch gesamtgesellschaftlich. Weiterführende Fragen, die sich dabei für beteiligte Forscher*innen und die interessierte Öffentlichkeit ergeben, sind etwa: Welche Verantwortung tragen Mathematiker*innen für die Folgen ihrer Forschung? Wie sind die Auswirkungen militärrelevanter Forschungsprojekte auf die Wissenschaftslandschaft zu beurteilen? Was sind zielführende Mittel, um die Verbindung zwischen Mathematik und militärischer Praxis zu kappen?

Anmerkungen

1) Das berühmteste Beispiel hierfür ist wohl die von den Nazis genutzte Chiffriermaschine »Enigma«, die von alliierten Mathematiker*innen in Bletchley Park entschlüsselt wurde.

2) Der Mathematiker John von Neumann beispielsweise war für den Durchbruch beim Implosionsmechanismus der Plutoniumbombe verantwortlich, die 1945 über Nagasaki abgeworfen wurde.

3) So regte etwa im Jahr 2002 US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erstmals eine schnelle Eingreiftruppe innerhalb der NATO an, deren Aufbau noch im selben Jahr beschlossen wurde und die seit 2004 einsatzfähig ist.

4) Eine passende Analogie ist beispielsweise die Sicherheit von Passwörtern: Nur wenn ein Passwort eine gewisse Länge hat, wird es für eine*n Angreifer*in quasi unmöglich, jedes einzelne mögliche Passwort auszuprobieren.

Literatur

Allgemeiner Studierendenausschuss (AstA) der Universität Bremen (o.J.): Zivilklausel, Rüstungsforschung und die Uni Bremen. asta.uni-bremen.de.

Booß-Bavnbek, B; Høyrup, J. (2003): Introduction. In: Booß-Bavnbek, B.; Høyrup, J. (eds.): Mathematics and War. Basel: Birkhäuser Verlag.

Braun, R. et al. (2015): Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden. W&F-Dossier 77.

OHB-System AG (2008): OHB-System AG mit Technologiepreis der Steinbeis-Stiftung geehrt. OHB-Pressestelle, 19.9.2008.

Quintero, S. A. P.; Ludkovski, M.; Hespanha J. P. (2016): Stochastic Optimal Coordination of Small UAVs for Target Tracking using Regression-based Dynamic Programming. Journal of Intelligent & Robotic Systems, Vol. 82, Nr. 1, S. 135-162.

Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (2015): Antwort auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Annekatrin Klepsch, Fraktion DIE LINKE, Drucksache 6/2688.

Segal, S. L. (2003): Mathematicians under the Nazis. Princeton: Princeton University Press.

Sheikh, A. M.; Dodd, T. J. (2010): Prediction-­Based Dynamic Target Interception Using Discrete Markov Chains. In: Al-Begain, ­Khalid; Fiems, Dieter; Knottenbelt, William J. (Hrsg.): Analytical and Stochastical Modeling Techniques and Applications. Berlin, Heidelberg: Springer. S. 339-350.

Stinson, D. R. (2006): Cryptography: Theory and Practice, Third Edition. Boca Raton, Florida: Chapman & Hall/CRC.

Streibl, R. (2012): Bremer Universität bestätigt Zivilklausel – Wichtiges Signal für Verantwortung in der Wissenschaft. W&F 1-2012, S. 58-59.

Tietjen, J.; Büskens, C.; Knauer, M. (2008): Time Schedule Optimization of Satellites. Proceedings in Applied Mathematics and Mechanics, Vol. 8, Nr. 1, S. 10805-10806.

Trottemant, E. J.; Scherer, C. W.; Weiss, M.; Vermeulen, A. (2010): Robust Missile Feedback Control Strategies. Journal of Guidance, Control, and Dynamics, Vol. 33, Nr.6, S. 1837-1846.

Walter, L.; Schlöffel, G.; Theodoulis, S.; Holzapfel, F.; Kostina, E. (2014): Multiple Shooting Condensing for Online Gain Scheduling in Interceptor Guidance. AIAA Guidance, Naviga­tion, and Control Conference, AIAA SciTech Forum.

Thomas Gruber promoviert zum Thema »Mathematik, Informatik und moderne Kriegsführung«. Er arbeitet für das Forum InformatikerInnnen für Frieden und gesellschaft­liche Verantwortung (FIfF) in der Redaktion von Wissenschaft und ­Frieden mit.

Friedensforschung im Dienst des Militärs?


Friedensforschung im Dienst des Militärs?

von Thomas Mickan

Um zu untersuchen und zu kritisieren, wie sich Friedensforschung in den Dienst des Militärs stellt, gibt es mindestens zwei Spuren. Wie unterscheiden sich diese, und wie können sie helfen, die eigene Verstrickung und Kompliz*innenschaft als Friedensforschende im möglichen Dienst des Militärs zu verstehen?

Die erste Spur der Kritik versucht die institutionellen, personellen, finanziellen oder politischen Verstrickungen zwischen Wissenschaft und Militär aufzudecken. Sie hebt den verdeckenden Mantel von Interessenskonflikten und legt den Finger in die Wunde, wo wissenschaftliche Standards aufgrund einer zu starken Verschränkung und Kompliz*innenschaft mit dem Militär leiden müssen. Militär wird hierbei vor allem als eine Institution, wie etwa die Bundeswehr mit dem Verteidigungsministerium und Entourage, verstanden.

Die zweite Spur der Kritik – darauf zu blicken, wie sich Friedensforschung in den Dienst des Militärs stellt – unterscheidet sich davon grundlegend. Um diese soll es im Folgenden hauptsächlich gehen. Militär wird hierbei nicht in seiner institutionellen Materialisierung verstanden, sondern in dessen Genese und Wirkung als Wissensregime: Wie wird Militär gedacht, wie entsteht unser Wissen von diesem und woraus zieht dieses Wissensregime seine weitgehende epistemische Unversehrtheit, als ein Gedanke, der gedacht werden kann und sich darin auch materialisiert sowie reproduziert.

Ein Wissensregime ist dabei mehr als etwa eine militärsoziologische Betrachtung von Gruppendynamiken, Gedanken zur Sicherheitskultur unterschiedlicher Streitkräfte oder wie sich eine Interventionskultur in der intervenierten sowie intervenierenden Gesellschaft verändert. Es sollte auch nicht vorschnell verknüpft werden mit anderen großen Begriffen der Friedensforschung, allen voran Krieg, Konflikt, Gewalt und Frieden, die ihre ganz eigenen hier nicht betrachteten Dynamiken mit sich bringen.

Militär als Wissensregime ist die Praxis eines Ensembles von Ermöglichungsbedingungen, eine von Normen, Prinzipien und Idealen geformte und scheinbar naturgegebene“ Lebenswelt (Butler 2010a). Eine darin anknüpfende Kritik soll nicht verstanden werden als „zu bewerten, welche Bedingungen, Praktiken, Wissensformen, Diskurse gut oder schlecht sind. Kritik zielt darauf, das spezifische System der Bewertung offenzulegen […] und zu zeigen, wie Wissen und Macht miteinander verwoben sind, so dass Gewissheiten bestehende Ordnungen affirmieren und alternative verwerfen“ (Thomas 2011). Wissenschaft im Dienste des Militärs so verstanden ergründet dann, wie auch Forschung dazu beiträgt, dass Militär überhaupt in seiner vermeintlichen Selbstverständlichkeit gedacht wird und wie dieses Denken überkommen oder besser gesagt dekonstruiert werden kann.

Das Pathologische entschleiern?

Warum aber ein Unbehagen an der ersten Spur? Ist es nicht mehr ausreichend und zeitgemäß, die Frage nach Interessen zu stellen? Soll es aus der Mode gekommen sein, herrschaftskritisch danach zu fragen, wie mächtige Interessengruppen und Staaten Geopolitik betreiben? Und was kann erkenntnisreicher sein, als „Kritische Friedensforscher [, die …] helfen, politische Apathie zu überwinden, […] verdeckte oder ideologisch verschleierte gesellschaftliche Konflikte bewußt zu machen [sowie …] eine nicht manipulierbare, politisch handlungsfähige Öffentlichkeit herzustellen“, wie es in der Wannsee-Erklärung zur Friedensforschung von 1971 hieß (zit. nach Bogerts et al. 2016)? Gerade kritische Zeitgenoss*innen kritisierten für die (auch durch den neoliberalen Umbau der Universitäten verursachte) Abkehr von der ersten Spur wahrscheinlich nicht zu Unrecht vehement die Entpolitisierung und vermeintliche Wertfreiheit einer heute vorherrschenden Friedensforschung (u.a. Ruf 2009; Strutynsky 2012; Nieth 2016).

Die Diskussionen, die sich daran anschlossen, sind ermüdend. Zumal die mit Verve vorgebrachte Kritik nur wenig verfing, und dennoch bleibt es ein Wagnis, diese Kritik zu kritisieren: Sie erweist nämlich ein feines Gespür für die Probleme der Disziplin, die aus einer institutionellen Kompliz*innenschaft entstehen. Jedoch steht dieser Suche nach den verborgenen Interessen, die es zu entlarven gilt, gerade dem eigenen Credo widersprechend ein Ausbleiben herzustellender erweiterter politischer Handlungsmacht entgegen. Denn im Entlarven stecken mindestens zwei bedrohliche Maximen, die uns in Ohnmacht erstarren lassen müssen: erstens, dass die Welt von Mächtigen beherrscht wird, deren Politik wir in so großen Zügen zu beschreiben haben, dass ein eigenes politisches Handeln auch als Wissenschaftler*innen von vornherein als aussichtslos erscheinen muss. Zweitens, dass die Camouflage der Macht und das falsche Bewusstsein der Menschen auch uns verdammt, entweder zu den einen oder anderen zu zählen oder aber in unserer Enthüller*innenrolle stets einer gefährlichen Hybris der Kritik und trügerischen „Erotik des Widerstandes“ (Dhawan 2015, S. 10 f.) zu unterliegen.

Zu Beginn der 1990er Jahre sprach der jüngst leider verstorbene Ekkehard Krippendorf davon, dass das Militär das Pathologische des Politischen sei, weil Militär in seiner Dummheit zu der einfachsten vermeintlichen Problemlösung greife. Dementsprechend: „Die Gegenwelt zu Militär, pathologischer Politik und Dummheit findet sich in Kunst und Wissenschaft, die uns die Komplexität von Mensch und Gesellschaft, Kultur und Geschichte immer wieder bewußt machen.“ (Krippendorf 1993, S. 91) Ohne Zweifel ist dabei, dass Krippendorf mehr als kritisch mit der eigenen Disziplin ins Gericht ging, dem (vermeintlich wiederherzustellenden) Ideal einer emanzipatorischen Friedensforschung bleibt jedoch auch er zumindest in diesem Ausschnitt verhaftet.

Beispiel: Militär als Instrument

Was kann nun aber mit der zweiten Spur der Kritik für die Frage von Wissenschaft im Dienst des Militärs angefangen werden? Wie kann ein verschrobenes Wort wie »Wissensregime« oder daran anschließend »epistemische Gewalt« hier nicht auch zu einer anderen Form von Ohnmacht führen – einer diskursiven Ohnmacht aus Langeweile und Unverständnis? (Zum Konzept von epistemischer Gewalt, siehe Interview mit Claudia Brunner auf S. 42.) Ich will dies an einem kleinen Beispiel skizzieren, das sowohl aus der strategischen Sprache von Politik in Deutschland (z.B. Review2014; Weißbuch BMVg 2016; PeaceLab2016; Koalitionsvertrag 2018) sowie aus der deutschsprachigen Friedensforschung kaum wegzudenken ist; ein bescheidenes Detail, das aber (wie alle dekonstruktivistischen Positionen) weit mehr sein will, als eine »Sprachpolizei«. Das gewählte Beispiel ist Militär verstanden als »Instrument«.

Hier ist nicht der Raum, um sich diskursanalytisch an einschlägigen Texten der Friedensforschung abzuarbeiten. Es geht mir schließlich nicht um eine quantitative Feststellung, wie weit ein Phänomen verbreitet ist, sondern um die Feststellung, wie es dazu beiträgt, dass wir Militär in einer bestimmten Weise denken, herstellen, ja überhaupt weiter denken und damit auch in dessen Materialität reifizieren und reproduzieren. Militär ist in dieser zweiten Spur der Kritik mehr als die konkrete Institution, es ist unabhängig einer gedachten Schranke zivil/militärisch auch in fast alle unsere Lebensbereiche eingeschrieben. Das können ganz alltägliche Dinge sein wie Kleidung, den Hausnummern an unseren Häusern, es kann sich in Form von militarisierten Landschaften in unsere Städte schreiben, es kann sich in medialen Welten abspielen, es kann sich eben auch in unserer Sprache oder gedrilltem Habitus wiederfinden, in generationsvererbten Traumata, dem Stumpf am Bein oder direkt in einer Kugel, die den Körper durchschlägt.

Das Bezeichnen von Militär als »Instrument« ist dann kein Verschleiern einer vermeintlichen Realität (wie es etwa die Wörter »Wirkmittel« oder »Kollateralschaden« durchaus sein können). Es ist vielmehr ein Wissensregime, das gewachsen, katalogisiert, normiert, sedimentiert und am allerwichtigsten veränderbar, da Teil politischer Praxis und Kämpfe ist. »Instrument« steht hier eher für eine Art Wissenscode, der bestimmte Vorstellung und Praxen von und über Militär ermöglicht oder verunmöglicht. Auch hier findet, wie bei der ersten Spur, eine Entpolitisierung statt, die Frage ist aber nicht mehr, wer macht warum etwas, sondern: Wie passiert etwas, und lässt es sich verändern? Militär als Instrument verstanden verschiebt nämlich vermeintlich alle Verantwortung, etwa auf politische Entscheidungsträger*innen. Anstatt einer Politisierung der Debatte über Militär zuträglich zu sein, führt es ganz im Gegenteil dazu, dass Militär als solches, als Problem qua Epistemität, keine Relevanz besitzt, diskursiv ausgeschlossen und damit gegen grundlegende Veränderungen immunisiert wird. Dazu tragen übrigens auch Debatten bei, die »alternative Instrumente« oder »Toolboxen« für Zivile Konfliktbearbeitung propagieren, weil sie sich ebenso dieses ausstrahlenden Codes bedienen.

Die Ausschlüsse sind dabei jedoch nicht lediglich verständlich, sondern epistemisch sogar mitunter zwangsläufig, weil, wie es Judith Butler ausdrückt, es „unter den derzeitigen geschichtlichen Bedingungen“ unmöglich ist, die „materielle Realität des [von der Friedensforschung viel beachteten; Anm. TM] Krieges von jenen Repräsentationsregimes zu trennen, durch welche diese materielle Realität wirksam wird“ (Butler 2010b, S. 35). Es könnte also sein, dass es unter den derzeitigen Wissens- und Sprachnormen vorerst unmöglich ist, Krieg und Militär konsequent voneinander getrennt zu denken. Um diese womöglich noch darüber liegenden Sedimente teilweise abzutragen, so mein Verdacht, kann ein anderes Verstehen von Militär als Wissensregime helfen. Es führt nämlich Militär zurück in den Bereich des Politischen, des Ideellen, der Idee, des Ensembles von Praktiken und Ermöglichungsbedingungen, die verändert werden können, bis hin zur Zersetzung des Wissensregimes Militär (vgl. Virilio 1984, S. 23).

Ausblick und zarte Begegnungen

Wo nun aber suchen nach Veränderung, nach einem anderen Verhältnis von Friedensforschung im Dienst des Militärs außer wie skizziert in der Sprache? Einen wunderbaren Ausblick bieten die entstehenden »Critical Military Studies« (einführend: Basham et al. 2015; im Deutschen bereits 2006 ähnlich Virchow und Thomas), zu denen neben der publizierten Forschung im gleichnamigen Journal bereits auch weitere einschlägige Beiträge erschienen sind. Allerdings finden sich gerade im Journal besonders zarte Begegnungen in Form der so genannten „Encounter“ wieder (Bulmer, Hyde 2015, S. 79). Hier wird in einer reduzierten, aber offenen Form die alltägliche Einschreibung des Militärs gesucht; es werden Brücken geschlagen zu verschiedensten wissenschaftlichen, aktivistischen, literarischen Methoden. Stets jedoch mit dem Ziel, Schichten eines Wissensre­gimes Militär abzutragen, die eigene Verstricktheit und Kompliz*innenschaft hinterfragend aufzuzeigen und das Erleben in Kontexte eines einfachen Verstehens und gleichzeitig von Kritik einzubinden. Vor allem ermutigt und ermächtigt es, Militär als vielfältige Form von Gewalt, die uns so alltäglich ist, aber eigentlich unerträglich sein müsste, immer wieder neu herauszufordern, abzutragen und zur Diskussion zu stellen.

Für die Frage von Friedensforschung im Dienst des Militärs ist ferner das Konzept der »epistemischen Gewalt« besonders anregend, weil es uns hilft, Gewaltdimensionen zu verknüpfen, meine eigene Verstrickung in die Macht sowie Kompliz*innenschaft zur Gewalt erfassbar werden zu lassen, um einen anderen Umgang entwickeln zu können.

Literatur

Auswärtiges Amt (2014): Review2014 – Krise, Ordnung, Europa. Abschlussbericht.

Auswärtiges Amt/Global Public Policy Institut (2017): PeaceLab 2016. Krisenprävention weiter denken.

Basham, V.; Belkin, A.; Gifkins, J. (2015): What is Critical Military Studies. Critical Military Studies, Vol. 1, Issue 1, S. 1-2.

Bogerts, L.; Böschen, S.; Weller, C. (2016): Politik, Protest, Forschung – Wie entstand die Friedensforschung in der BRD? W&F 1-2016, S. 12-15.

Bulmer, S.; Hyde, A. (2015): An introduction to Encounters. Critical Military Studies, Vol. 1, Issue 1, S. 79.

Bundesministerium der Verteidigung (2016): Weißbuch der Bundeswehr.

Bundesregierung (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD.

Butler, J. (2010a): A Carefully Crafted F**k You – Nathan Schneider interviews Judith Butler. Guernica a magazine of art & politics, 15.3.2010.

Butler, J. (2010b): Raster des Krieges – Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt am Main: campus.

Dhawan, N. (2015): Die unerträgliche Langsamkeit des Wandels – Das Phantasma einer Stimme des Volkes und die Erotik des Widerstandes. In: Phantasma und Politik, Publikation der Abschlussveranstaltung der Veranstaltungsreihe »Phantasma und Politik«, Berlin: HAU (Hebbel am Ufer), S. 10-13.

Krippendorf, E. (1993): Das Militär als Pathologie des Politischen. In: ders. (Hrsg.): Militärkritik. Frankfurt am Main: suhrkamp, S. 82-93.

Nieth, J. (2016): Friedensforschung in der BRD. In: Chrome, E.: Friedensforschung in Deutschland. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung, S. 10-38.

Ruf, W. (2006): Quo vadis Friedensforschung? In: Baumann, M. et al. (Hrsg.): Friedensforschung und Friedenspraxis. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, S. 42-56.

Strutynski, P. (2012): Sechs Thesen zur kritischen Friedensforschung. In: Chrome, E. (2016): Friedensforschung in Deutschland. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung, S. 54.

Thomas, T. (2011): Poststrukturalistische Kritik als Praxis von Grenzüberschreitungen. In: dies.; Hobuß, S.; Henning, I.; Kruse, M. (Hrsg.): Dekonstruktion und Evidenz – Ver(un)sicherungen in Medienkulturen. Sulzbach/Taunus: U. Helmer, S. 27.

Virchow, F.; Thomas, T. (2006): Banal Militarism – Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen. Bielefeld: transcript, S. 25-48.

Virilio, P. (1984): Der reine Krieg – Im Gespräch mit Sylvère Lotringer. Leipzig: Merve.

Thomas Mickan ist Politikwissenschaftler, Beirat der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied der W&F-Redaktion.

Eine schleichende Indienstnahme


Eine schleichende Indienstnahme

»Zivile« Forschung für militärische Zwecke

von Nicole Gohlke

Bundesweit wird an öffentlichen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen militärisch relevante Forschung betrieben. Auftraggeber sind die Bundesregierung, die Bundeswehr, ausländische Verteidigungsministerien sowie private Rüstungskonzerne. Das gesamte Ausmaß lässt sich nur schwer einschätzen, da viele Details und Verträge Geheimsache sind. Zudem wird militärisch relevante Forschung im Rahmen von Sicherheitsforschung mit dem Label »dual-use« versehen und bekommt dadurch einen zivilen Anstrich. Doch die Geschichte lehrt uns, wie wichtig es ist, die Vereinnahmung von Wissenschaft für nichtfriedliche Zwecke kritisch zu beleuchten.

Verteidigungsbezogene Forschung (Rüstungsforschung) ist in Deutschland nicht Bestandteil der allgemeinen öffentlichen Forschungsförderung des Bundesministeriums für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (BMBF). Sie wird als Ressortforschung des Bundesministeriums für Verteidigung (BMVg) als „Fachforschung zur Erfüllung seines Fachauftrages im Rahmen der nationalen Sicherheitsvorsorge“ in Auftrag gegeben (Bundestagsdrucksache 17/3337). Diese Forschung wird jedoch nicht immer an militärische Einrichtungen oder private Rüstungsfirmen vergeben, sondern das BMVg vergibt auch eine relevante Anzahl von Forschungsaufträgen an zivile Institutionen, wie die öffentlichen Hochschulen und die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen.

Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen der LINKEN im Bundestag ergaben, dass das Finanzvolumen der vom BMVg an öffentliche Hochschulen vergebenen Aufträge seit 2000 deutlich zugenommen hat: Es stieg von vier Mio. Euro im Jahr 2000 auf jährlich sieben Mio. Euro im Jahr 2010 und blieb bis 2015 auf diesem Niveau konstant.1 So wurde in den Jahren 2014/15 an Hochschulen beispielsweise die Weiterentwicklung von Radarsystemen betrieben, die Software für Robotersysteme optimiert, an der automatischen Zielerkennung über und unter Wasser und an der Energieautonomie von Soldat*innen geforscht (Bundestagsdrucksache 18/7977). Damit sind die zivilen öffentlichen Hochschulen mittendrin in der Entwicklung topmoderner Kriegstechnologie. Finanziell abhängig sind sie davon nicht: Die sieben Mio. Euro verteilt auf 28 Hochschulen bundesweit stellen im Vergleich zu jährlichen Drittmitteleinnahmen von vielen hundert Mio. Euro keine zentrale Einnahmequelle dar.

Weitere militärische Forschungssaufträge erhalten die Hochschulen zudem von den verschiedenen technischen Dienststellen der Bundeswehr, beispielsweise von der »Wehrtechnischen Dienststelle für Schiffe und Marinewaffen, Maritime Technologie und Forschung 71« (WTD71) oder dem »Wehrwissenschaftlichen Institut für Werk- und Betriebsstoffe« (WIWeB). Deren Aufträge haben sich ebenfalls deutlich erhöht: Waren es 2000-2010 noch 250.000 Euro im Jahresmittel, stieg das Auftragsvolumen bis 2015 um das Sechs- bis Achtfache auf 1,5 bis 2,5 Mio. Euro an.2

Militärische Forschungsaufträge werden des Weiteren von privaten Unternehmen an öffentliche Hochschulen vergeben; die Bundesregierung gibt dazu keine Auskunft, sondern verweist auf die Verantwortung der Länder. Abfragen in den Ländern verlaufen jedoch auch meist ergebnislos – hier beruft man sich auf die Hochschulautonomie. Hochschulleitungen ihrerseits können sich auf das Vertragsgeheimnis mit privaten Auftraggebern zurückziehen.

Mangelnde Transparenz und öffentliche Kontrolle

In welchem Ausmaß Rüstungsforschung an den außerhochschulischen Forschungseinrichtungen betrieben wird, lässt sich ebenfalls kaum überblicken, da die Bundesregierung auch diesbezüglich keine Informationen über Auftragsvolumina seitens privater Rüstungsfirmen zur Verfügung stellt.

Sicher ist, dass das BMVg einen beträchtlichen Teil seiner Ressortforschung durch Wissenschaftler*innen an Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft erledigen lässt, vornehmlich an den Instituten der ehemaligen militärischen Forschungsinstitution FGAN, die seit 2009 den Kern des Fraunhofer-Verbunds für Verteidigungs- und Sicherheitsforschung (VVS) bildet; wehrtechnisch relevante Forschung findet jedoch auch an Fraunhofer-Instituten außerhalb des VVS regelmäßig statt. An die sieben Institute des VVS gingen in den Jahren 2014-2015 jährlich etwa 50 von den 56 Mio. Euro, die vonseiten des BMVg an die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen flossen.3 Nimmt man die ähnlich dimensionierte Grundfinanzierung der VVS-Institute mit 60 bzw. 63 Mio. Euro in 2014 bzw. 2015 hinzu, kommt ein ansehnlicher Betrag zustande, den die – eigentlich dem Bildungsministerium angegliederten – zivilen Forschungseinrichtungen vom Verteidigungsministerium bekommen. Die Wehrwissenschaftlichen Dienststellen der Bundeswehr haben zudem das Finanzvolumen ihrer Aufträge an außerhochschulische Forschungseinrichtungen zwischen 2010 und 2015 im jährlichen Mittel vervierfacht; die jährlich etwa 4,5 Mio. Euro machen die Bundeswehr im Vergleich zum Verteidigungsministerium jedoch zu einer eher kleinen Auftraggeberin.4

Die fehlende Transparenz ist problematisch, weil sie eine Militarisierung des zivilen Hochschul- und Forschungsraums ermöglicht, der ohne konkrete Kenntnis der Daten nur in Einzelfällen (Marischka 2017) und auch dann nur schwer entgegenzuwirken ist.

Zivil-militärische Sicherheits­forschung seit Jahren Realität

Jahrelang bestritt die Bundesregierung mehr oder minder, dass das Programm »Forschung für zivile Sicherheit« des BMBF eine gewisse Nähe zur Rüstungsindustrie aufweist, und wollte die offensichtliche Überschneidung von ziviler und militärischer Forschung von der Hand weisen (Bundestagsdrucksachen 17/12172; 18/241; 18/851 und 18/8355). Dabei basiert dieses Programm als Teil der »Hightech-Strategie« auf dem EU-Programm »Horizont 2020«, in dessen strategischer Ausrichtung Synergieeffekte zwischen ziviler und militärischer Forschung oder entsprechenden Akteuren ausdrücklich erwünscht sind (Europäische Kommission 2015, S. 43-49). Vonseiten der Bundesregierung wurde eine entsprechende Dual-use-Agenda spätestens in einer Stellungnahme des Wissenschaftsrates von 2007 deutlich. Der Wissenschaftsrat sollte für die Bundesregierung eine Einschätzung abgeben, wie die oben bereits erwähnten wehrtechnisch ausgerichteten FGAN-Institute in die zivile Forschungslandschaft eingebunden werden und damit von Synergieeffekten profitieren könnten. Das Ergebnis war 2009 die Eingliederung der FGAN-Institute in die Fraunhofer-Gesellschaft. In seiner Stellungnahme schrieb der Wissenschaftsrat zum Programm »Forschung für die zivile Sicherheit«: „Das geplante Sicherheitsforschungsprogramm wird vom BMBF in enger Kooperation mit den Ressorts, insbesondere mit den Bundesministerien des Innern, der Verteidigung und für Wirtschaft und Technologie, konzipiert. Das BMBF strebt eine ressortübergreifende, strategische Bündelung der Forschungsaktivitäten an und sieht dazu unter anderem eine enge Zusammenarbeit von Wehrtechnik und ziviler Sicherheitstechnik vor.“ (Wissenschaftsrat 2007, S. 12)

Es ist daher nicht verwunderlich, dass beispielsweise in elf Verbundprojekten des Programms »Forschung für zivile Sicherheit 2012-2017« Unternehmen, die eine Rüstungs- oder Wehrtechnik-Sparte unterhalten, mit öffentlichen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen kooperieren. Darunter befinden sich Bruker Optik GmbH, Airbus DS Airborne Solutions GmbH, Atlas Elektronik Group, Rheinmetall Defence, Atos IT Solutions and Services und Airbus Defence & Space (Cassidian) sowie die Universität der Bundeswehr München, um nur einige zu nennen. Die Aussage der Bundesregierung, im Rahmen dieses Programms würden ausschließlich „Forschungsprojekte mit einer zivilen Ausrichtung sowie einem zivilen Anwendungsgegenstand“ gefördert (Bundestagsdrucksachen 18/8355 und 18/10773), bleibt darum sehr fragwürdig.

Zu den organisatorischen Verflechtungen kommen überdies personelle Überschneidungen: Leiter*innen einzelner wehrtechnisch orientierter Fraunhofer-Institute sind gleichzeitig Inhaber*innen von Lehrstühlen an öffentlichen Hochschulen. So werden enge Verflechtungen finanzieller und wissenschaftlicher Art aufgebaut (Marischka 2017). Außerdem nimmt die Bundeswehr auch direkt Einfluss auf Forschung und Lehre an Hochschulen: An neun öffentlichen Hochschulen haben Offiziere der Bundeswehr Lehraufträge, Lehrstühle oder leitende Funktionen (Bundestagsdrucksache 18/8355), allerdings auch jenseits klassischer »militärischer« Themen.5

Seit Ende 2016 deutet sich nun eine gewisse Kursänderung an: Statt die Sicherheitsforschung in Deutschland mit einem rein zivilen Label zu versehen, legte das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) im Dezember 2016 ein 7,5 Mio. Euro schweres Innovationsprogramm »Unterstützung von Diversifizierungsstrategien von Unternehmen der Verteidigungsindustrie in zivile Sicherheitstechnologien« auf (BMWi 2016). Besondere Bedeutung haben so genannte Verbundprojekte, die eine Kooperation von Rüstungsfirmen mit Unternehmen der zivilen Sicherheitsindustrie und zivilen Forschungsstätten vorsehen. Es bleibt abzuwarten, in welchem Maße die öffentlichen »Forschungsstätten« im Zuge dessen finanzielle Anreize erhalten, Rüstungsforschung zu betreiben.

Zivilklauseln als wichtiges Instrument

Die beschriebenen Entwicklungen bleiben jedoch nicht unwidersprochen. Studierende, Wissenschaftler*innen und Professor*innen setzen sich gemeinsam mit Gewerkschaftsgliederungen und Friedensinitiativen vor Ort dafür ein, dass Hochschulen zivile Einrichtungen bleiben und der Militarisierung Einhalt geboten wird. Die Zivilklausel-Bewegung kann nach jahrelangem mühsamem Engagement inzwischen über 60 Zivil- und Friedensklauseln an verschiedenen Hochschulen vorweisen (dazu Braun, R. et al. 2015). Doch die Klauseln werden regelmäßig verletzt.

Einer der bekanntesten Fälle dürfte die Uni Bremen sein, die zwar eine Friedensklausel hat, sich aber dennoch in einer Auseinandersetzung um einen vom Rüstungshersteller OHB gesponserten Lehrstuhl befindet. Bezeichnend dafür, wie Geheimhaltung und Intransparenz sogar zu einer unbeabsichtigten Beteiligung an Rüstungsforschungsvorhaben führen können, ist die im September 2017 aufgedeckte Verwicklung der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen, die sich 2015 der ausschließlich zivilen Forschung verschrieben hat, in die Entwicklung einer Panzerfabrikationshalle in der Türkei. Aus dem Auftrag war angeblich weder erkennbar, dass der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall beteiligt war, noch, dass es sich um eine Produktionsstätte für militärische »Spezialfahrzeuge« handelte (Tillack 2017).

Von den Aufträgen des BMVg an 28 verschiedene Hochschulen in den Jahren 2014 und 2015 gingen acht an Hochschulen mit einer Zivil- oder Friedensklausel in ihren Statuten oder in der geltenden Landesverfassung. Damit setzen sich sowohl die Bundesregierung als auch Hochschulleitungen über die Vorgaben von Ländern und Hochschulgremien hinweg und ignorieren solche Klauseln. Die Bundesregierung begründete auf Nachfrage ihr Verhalten damit, keine Kenntnisse über die Existenz von Zivil- oder Friedensklauseln zu besitzen (Bundestagsdrucksachen 18/851, 18/8355).

Dieses Unwissen scheint die Bundesregierung inzwischen überwunden zu haben. Am 21. Dezember 2016 kündigte sie in ihrem »Strategiepapier zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland« an, mit „Ländern, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie Hochschulen in einen ergebnisoffenen Dialog über die Verwendung von sog. Zivilklauseln“ zu treten (Bundesregierung 2016). Der zahlenmäßige Anstieg von Zivilklauseln scheint von der Bundesregierung als potentielles Hindernis gesehen zu werden, ihre Strategie der Verquickung von Sicherheits- und Verteidigungsindustrie voranzutreiben. Interessanterweise werden ebenso die momentan etwa 13 Banken, die sich quasi eine Zivilklausel auferlegt haben, indem sie keine Finanzgeschäfte in den Bereichen Herstellung, Handel oder Export von Waffen tätigen, in dem Strategiepapier aufs Korn genommen; ihnen wird eine Prüfung der „Zweckmäßigkeit“ ihrer Zivilklauseln angekündigt (ebenda; urgewald 2016).

Auch wenn Zivilklauseln rechtlich nicht bindend sind und regelmäßig unterlaufen werden, sind sie dennoch Ausdruck der Überzeugung vieler Wissenschaftler*innen, Studierender, Professor*innen und auch Politiker*innen, dass zivile und militärische Forschung nicht weiter verwoben werden sollten. Wichtig ist deshalb, die Forderungen nach Zivilklauseln auszuweiten und auch für die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen zu stellen. In Hamburg hat die LINKE Bürgerschaftsfraktion jüngst gefordert, dass die Hansestadt mit den örtlich ansässigen Fraunhofer-Instituten nur noch zusammenarbeiten oder sie fördern solle, sofern diese sich Zivilklauseln geben (Stemmler 2017).

DIE LINKE im Bundestag fordert, dass Wissenschaft und Forschung an öffentlichen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen transparent sein müssen und die Entscheidungsfreiheit von Wissenschaftler*innen, sich nicht an Rüstungs- oder militärischer Forschung zu beteiligen, von der Bundesregierung unbedingt respektiert werden muss.

Die Entscheidung der nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, die für alle Hochschulen in NRW geltende landeseigene Zivilklausel abzuschaffen, ist demgegenüber ein Rückschritt, gegen den sich bereits Widerstand formiert.

Anmerkungen

1) In den Jahren 2010-2015 wurden seitens des BMVg Aufträge im jährlichen Durchschnitt von etwa sieben Mio. Euro an öffentliche Hochschulen erteilt (Bundestagsdrucksachen 18/7977 und 18/851); zwischen 2000 und 2010 waren es noch 4,1 Mio. Euro im jährlichen Mittel (Bundestagsdrucksache 17/3337).

2) Dies entspricht einem jährlichen Durchschnitt von etwa 1,5 Mio. Euro. In den Jahren 2010-2014 waren es im Vergleich dazu 2,5 Mio. Euro im Jahresmittel (Bundestagsdrucksache 18/851), in den Jahren 2000-2010 jedoch nur 0,25 Mio. Euro im Jahresmittel. Von den 29 seit 2014 betroffenen Hochschulen haben fünf eine Zivil- oder Friedensklausel in ihren Statuten.

3) Die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen bekamen 2014-2015 56 Mio. Euro im jährlichen Mittel, was 89 Prozent des Finanzvolumens aller Drittmittelaufträge entsprach (Bundestagsdrucksache 18/7977), 2010-2014 91 Mio. Euro im jährlichen Mittel, was 93 Prozent des Gesamtfinanzvolumens entsprach (Bundestagsdrucksache 18/851), und 2000-2010 36 Mio. Euro im jährlichen Mittel (Bundestagsdrucksache 17/3337).

4) In den Jahren 2010-2014 waren es im Vergleich dazu 1,1 Mio. Euro im Jahresmittel (Bundestagsdrucksache 18/851);

5) Entsprechende Kooperationen gab/gibt es u.a. in den Bereichen BWL, Internationale Beziehungen, Krisenmanagement, Gesundheitsökonomie, Virologie (Kampfstoffe), Zeitgeschichte, Medizingeschichte, Musikwissenschaften, Sicherheitsforschung, maritime Logistik (eigene Recherche).

Literatur

Braun, R et al. (2015): Zivilklauseln – Lernen und Forschen für den Frieden. W&F Dossier 78.

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2016): Richtlinie zum Innovationsprogramm »Unterstützung von Diversifizierungsstrategien von Unternehmen der Verteidigungsindustrie in zivile Sicherheitstechnologien«. Veröffentlicht im Bundesanzeiger am 20.12.2016.

Bundesregierung (2016): Strategiepapier zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland. Berlin, 21.12.2016, S. 8.

Bundestagsdrucksache 17/3337 (2010): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Jan van Aken, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 17/12172 (2013): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Jan Korte, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/241 (2013): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Jan van Aken, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/851 (2014): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Diana Golze, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/7977 (2016): Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/8355 (2016): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Bundestagsdrucksache 18/10773 (2016): Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 19. Dezember 2016 eingegangenen Antworten der Bundesregierung.

Europäische Kommission (2015): Dual Use – Förderungsleitlinien für Regionen und KMU.

Marischka, C.: Fraunhofer IOSB – Dual-Use als Strategie. Wie das Verteidigungsministerium nach Anschluss an die Wissenschaft suchte und in Karlsruhe fündig wurde. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung, IMI-Studie 2/2017.

Stemmler, K.: Forschung wird immer weiter ausgelagert. junge welt, 6.6.2017.

Tillack, H.-M.: Deutsche Uni an Planung für Panzerfabrik in Türkei beteiligt. Stern, 30.8.2017.

urgewald e.V. (2016): Die Waffen meiner Bank. Sassenberg.

Wissenschaftsrat (2007): Stellungnahme zur Neustrukturierung der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften e. V. (FGAN).

Nicole Gohlke, MdB, ist hochschul- und wissenschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

Grenzen von ZIMIK in Afghanistan

Grenzen von ZIMIK in Afghanistan

von Robert Lindner

Immer wieder wurde in jüngerer Zeit in W&F-Artikeln auf die Probleme verwiesen, die sich aus der von der Bundesregierung gewünschten und geförderten zivil-militärischen Zusammenarbeit (ZIMIK), also der Kooperation von zivilgesellschaftlichen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen mit dem Militär, ergeben. Robert Lindner beleuchtet dieses Thema gezielt im Kontext des Afghanistankriegs.

Im Oktober 2010 präsentierte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) das Ergebnis einer repräsentativen dimap-Studie über die Einstellung der Deutschen zum Regierungsansatz der »vernetzten Sicherheit«.

Zum Hintergrund: Vor fast einem Jahr kündigte Entwicklungsminister Dirk Niebel öffentlich an, die Vergabe von Fördermitteln an private Hilfsorganisationen künftig von deren Bereitschaft abhängig zu machen, in Afghanistan mit der Bundeswehr zusammenzuarbeiten. Sein Ministerium setzte diese Ankündigung im Mai 2010 mit der Einrichtung einer »NRO-Fazilität Afghanistan« um, eines mit zehn Millionen Euro ausgestatteten Finanzierungsinstrumentes für private Entwicklungsorganisationen, die sich bei der Kooperation zum Konzept der »vernetzten Sicherheit« bekennen müssen. Der entwicklungspolitische Dachverband VENRO äußerte heftige Kritik an einer derartigen Konditionierung von Hilfsgeldern und protestierte gegen jeglichen Druck auf zivilgesellschaftliche Organisationen, ihre Arbeit in eine politisch-militärische Gesamtstrategie einzufügen. VENRO sieht durch die BMZ-Politik die grundlegenden Arbeitsprinzipien deutscher Nichtregierungsorganisationen (NRO) bedroht, nämlich Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und die ausschließliche Orientierung an den Bedürfnissen der Not leidenden Menschen.1

Hans-Jürgen Beerfeltz, Staatssekretär im BMZ, sah bei der Präsentation des Umfrageergebnisses den neuen Kurs seines Ministeriums bestätigt: „In der Diskussion um den von der Bundesregierung vertretenen Ansatz der vernetzten Sicherheit in Afghanistan sprechen sich der Umfrage zufolge 81 Prozent der Deutschen für eine Abstimmung zwischen Hilfsorganisationen und der Bundeswehr bei der Entwicklungsarbeit aus. […] Lediglich 14 Prozent der Befragten lehnen eine Abstimmung zwischen zivilen und militärischen Partnern in Ländern wie etwa Afghanistan ab. Dieses Votum zeigt deutlich, dass die in jüngster Zeit insbesondere von NRO vorgebrachte Kritik am vernetzten Ansatz der Bundesregierung im weit überwiegenden Teil der Bevölkerung keinen Rückhalt findet.“ 2

Hier sind dem Staatssekretär offensichtlich in der Hitze der in den vergangenen Monaten scharf geführten Auseinandersetzung zwischen seinem Ministerium und einem Teil der entwicklungspolitischen NRO-Szene die Begriffe und Maßstäbe durcheinander geraten: Viele Hilfsorganisationen verweigern nämlich mitnichten jegliche Interaktion mit militärischen Akteuren wie der Bundeswehr, etwa wenn es um logistische Abstimmung geht, die weder die Sicherheit des eigenen Personals noch die ihrer Zielgruppen gefährdet. Etwas in dieser Art werden wohl auch die 81 Prozent der Befragten bei ihrer zustimmenden Antwort im Sinn gehabt haben.

Eine Kooperation im Sinn der »vernetzten Sicherheit« geht jedoch weit über streng limitierten Informationsaustausch hinaus. Obwohl es bislang von Seiten der Bundesregierung keine umfassende und schlüssige Darlegung des Begriffes der »vernetzten Sicherheit« gibt,3 handelt es sich dabei offenbar um eine sicherheitspolitische Agenda, die durch ein „koordiniertes Vorgehen aller Beteiligten und die Integration aller Instrumente, der zivilen und der militärischen“,4 umgesetzt werden soll. Sicherheitspolitik ist aber für die große Mehrheit der deutschen entwicklungspolitischer NRO definitiv keine Leitlinie ihrer Arbeit.

Wäre in der Umfrage etwa gefragt worden, ob man die Unabhängigkeit der Hilfsorganisationen von militärischer Einflussnahme befürworten würde, hätte vermutlich eine ähnlich große Zahl von Bürgerinnen und Bürger mit »Ja« geantwortet.

Die beschriebenen Vorgänge deuten darauf hin, dass die Bundesregierung ihr Engagement in Afghanistan zunehmend unter sicherheitspolitische Maßgaben stellt, anstatt Priorität auf zivile Mittel zu legen und konsequent eine friedliche Entwicklung zu fördern. Wie die Vorgänge um die BMZ-Umfrage zeigen, sollen zudem nicht mehr nur die »Köpfe und Herzen« der Menschen in Afghanistan, sondern vor allem auch jener in Deutschland gewonnen werden.

Mit vereinten Kräften für Stabilität und Sicherheit?

Auch wenn die Bundesregierung für ihre Sicherheitspolitik speziell zu Afghanistan eine eigenständige Rolle beansprucht, ist ihr Konzept der »Vernetzten Sicherheit« doch nichts wesentlich anderes als eine etwas zahmere Ausprägung des innerhalb der NATO unter Führung der USA entwickelten »Comprehensive Approach« – eines Ansatzes, der derzeit in Afghanistan im Sinne einer militärisch geführten »Counterinsurgency«-Strategie („shape, clear, hold and build“), zu Deutsch »Aufstandsbekämpfung«, angewendet wird. Diese Strategie basiert auf der Annahme, dass asymmetrische Konflikte wie in Afghanistan nicht mehr alleine mit militärischen Mitteln zu gewinnen sind.

Dies mag zutreffend sein, wenn vorrangig mit Kategorien wie »Sieg« oder »Niederlage« operiert wird. Im Zeitalter der »neuen Kriege« handelt es sich jedoch oftmals um langwierige Konflikte mit sehr komplexen Ursachen, die sich von lokalen Streitigkeiten zu militärisch organisierten Aufstandsbewegungen und wieder zurück entwickeln können. Derartige Konflikte lassen sich in der Regel nur dann dauerhaft beenden, wenn ihre Ursachen beseitigt werden, nicht, indem lediglich eine kurzfristige Reduktion des Gewaltniveaus angestrebt wird. Allgemein gilt: Zivilen Probleme sollte mit zivilen Mitteln, Sicherheitsproblemen mit polizeilichen oder militärischen Mitteln begegnet werden. Besonders gefährlich wird es, wenn zivile Maßnahmen wie humanitäre Hilfe oder Entwicklungshilfe als taktische Mittel einer Sicherheitsstrategie begriffen und dementsprechend instrumentalisiert werden.

Die Bundesregierung setzt bei ihrer Begründung des »vernetzten Ansatzes« voraus, es gebe für Politik, Militär und Nichtregierungsorganisationen eine „gemeinsame Verantwortung für ein gemeinsames Ziel“.5 Verfechter dieses Ansatzes folgern daraus, zivile und militärische Akteure müssten an einem Strang ziehen. Worin soll aber diese angebliche Gemeinsamkeit bestehen? Aus dem Bundesverteidigungsministerium wurde dazu in der Vergangenheit erklärt, es gehe darum, „die Stabilisierung von Kriegs- und/ oder Krisengebieten zu verwirklichen“.6 »Stabilität« ist der Schlüsselbegriff einer sicherheitspolitischen Doktrin, wie sie dem Strategischen Konzept der NATO zugrunde liegt.

Unabhängige Hilfsorganisationen setzen sich jedoch andere Prioritäten, nämlich vor allem den Bedarf der Not leidenden Menschen. Stabilität kann für die Ausübung ihrer Arbeit förderlich sein, ist aber kein Selbstzweck – auch unter der Schreckensherrschaft der Taliban gab es eine gewisse Stabilität, dies aber um den Preis schlimmster Menschenrechtsverletzungen. Viele Hilfsorganisationen konnten übrigens auch unter diesen schlimmen Bedingungen zumindest eingeschränkt operieren, auch vorher schon, während des sowjetisch-afghanischen Kriegs und des darauf folgenden Bürgerkriegs.

Die Kontroverse um die zivil-militärische Kooperation ist keineswegs neu. Spätestens seit den Balkan-Einsätzen der 1990er Jahre gibt es in Deutschland eine intensive Debatte um »integrierte Missionen« unter dem Dach der Vereinten Nationen, bei denen parallel »robuste« (auf Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta mandatierte) Kampfeinsätze, Not- und Entwicklungshilfe sowie Staatsaufbau durchgeführt werden. Im Unterschied zu den (gemäß Kapitel VI operierenden) Blauhelmen in Post-Konfliktsituationen sind Militärkräfte nach Kapitel VII keine neutralen Akteure, sondern selbst Konfliktparteien.

Innerhalb der entwicklungspolitischen Gemeinschaft gibt es seit Jahren einen Diskussions- und Klärungsprozess darüber, ob, wann und in welcher Weise NRO mit solchen robusten Militärkräften kooperieren sollen. In Bezug auf Afghanistan wird diese Diskussion vor allem um die von der NATO eingeführten Provincial Reconstruction Teams (PRTs, Regionale Wiederaufbauteams) geführt.7

Oberste Leitlinie der unter dem Dach von VENRO organisierten Hilfsorganisationen ist beim Umgang mit Konfliktparteien stets die Wahrung ihrer eigenen Unabhängigkeit und damit die Akzeptanz bei ihren Zielgruppen, also jenen Menschen, die sie mit ihrer Arbeit erreichen wollen. Unsere Erfahrung zeigt: Werden wir von diesen Menschen oder von Gewaltakteuren, die in ihrem Umfeld operieren, nicht mehr als unparteilich wahrgenommen, geraten häufig nicht nur unsere eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und unsere einheimischen Partner in große Gefahr, sondern auch die Empfänger unserer Hilfe, indem sie von militanten Kräften zu »Kollaborateuren« der Gegenseite und damit zu vermeintlich legitimen Angriffszielen erklärt werden.

Ausgehend vom »Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006« sind Bundesregierung und Bundeswehr darum bemüht, zivilgesellschaftliche Akteure als Partner für vernetzte Sicherheitskonzepte zu gewinnen. Einzelne nichtstaatliche Hilfsorganisationen haben daraufhin eigene Grundsätze für die zivil-militärische Zusammenarbeit formuliert8 und sind in einen Dialog mit Politik und Militär eingetreten, um Möglichkeiten und Grenzen derartiger Interaktionen auszuloten. Zum Beispiel diskutierten im November 2008 bei einem Afghanistan-Symposium in Bad Boll Vertreter von Ministerien, Bundeswehr und Nichtregierungsorganisationen darüber, in welchen konkreten Situationen welche Art von Informationen ausgetauscht werden können. Auf dem Podium bestand am Ende weitgehende Einigkeit, dass dieses sensible Thema keine Polemisierung verträgt und von allen Beteiligten ein hohes Maß an Verantwortung bei der Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben verlangt.9

Sicherheit in Afghanistan und die Arbeit unabhängiger Hilfsorganisationen

Trotz der Verstärkung der internationalen Streitkräfte von 90.000 im vergangenen Jahr auf aktuell rund 140.000 konnten die Aufständischen keineswegs zurückgedrängt und die Sicherheitslage beruhigt werden. Im Gegenteil: Die bewaffneten oppositionellen Gruppen haben mittlerweile mehr als die Hälfte des Landes unter Kontrolle oder üben dort starken Einfluss aus, und zwar nicht mehr nur im Süden und Osten, sondern zunehmend auch im Norden, im zentralen Bergland und im Westen. In einem Drittel des Landes hat die afghanische Regierung so gut wie nichts zu sagen. Entsprechend ist es den Taliban gelungen, in weiten Teilen Afghanistans faktisch Regierungsfunktionen auszuüben.

Die Sicherheitslage wird immer dramatischer. Leidtragend ist vor allem die Zivilbevölkerung. 2010 ist das Jahr, in dem seit Ausbruch der Kämpfe am meisten Zivilisten ums Leben gekommen sind oder verletzt wurden. UN-Schätzungen zufolge ist die Zahl der zivilen Todesopfer auf 2.412 angestiegen, was einer Steigerung um 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2009 entsprechen würde.10

Im ersten Halbjahr 2010 haben im Vergleich mit dem Vorjahr die zivilen Opfer durch Angriffe von bewaffneten Oppositionsgruppen um 53 Prozent zugenommen. Dem gegenüber hat die Zahl der Opfer als Folge von alliierten Militäroperationen um 30 Prozent abgenommen.11 Hier scheint sich der Befehl von ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal vom Juli letzten Jahres (2009) zur Reduzierung von Luftangriffen und anderen Kampftaktiken, die zu besonders vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung führen und die Menschen verbittern (z.B. nächtliche Hausdurchsuchungen), positiv ausgewirkt zu haben. Allerdings hat Presseberichten zufolge die ISAF-Führung registriert, dass seit dem Beginn der zweiten Jahreshälfte (zumeist helikoptergestützte) Luftangriffe wieder signifikant zunehmen und dementsprechend die zivilen Opferzahlen ansteigen.12

Besonders gefährlich ist die Lage der Bevölkerung dort, wo groß angelegte Militäroperationen durchgeführt werden. Im Verlauf der im Sommer 2010 begonnenen alliierten Operation »Hamkari« in der Provinz Kandahar sind bereits zahlreiche Menschen bei den Kämpfen ums Leben gekommen, wurden verletzt oder mussten fliehen. So hat das Mirwais-Krankenhaus in Kandahar im vergangenen August und September doppelt so viele Menschen mit Schussverletzungen behandelt wie in den gleichen Monaten im Vorjahr. Außerdem haben in Afghanistan nicht nur in besonders umkämpften Gebieten Morde und Anschläge sowie entsprechende Drohungen gegen Stammesälteste, Dorfvorstände oder andere Personen zugenommen, die verdächtigt werden, mit alliierten Kräften oder Regierungsstellen zu kooperieren. Nach Angaben der Vereinten Nationen resultieren derzeit etwa 14 Prozent aller zivilen Todesopfer aus politisch motivierten Morden. Im Mai und Juni 2010 wurde dabei ein Spitzenwert von 18 pro Woche erreicht, so dass von einer regelrechten Rache- und Einschüchterungskampagne gesprochen werden kann. Der Bürgermeister von Kandahar-Stadt drückte die Lage seiner Mitbürger so aus: „Jeder hier ist ein Ziel.“

Die Sicherheitslage hat sich nicht nur im Süden, sondern auch im Norden des Landes verschärft. Zivile Todesopfer haben dort um 136 Prozent zugenommen.13 So operieren extremistische Gruppen mittlerweile auch in früher relativ sicheren Provinzen wie Takhar und Badakhshan.

Und auch Angehörige von Hilfsorganisationen geraten immer mehr ins Schussfeld. Im Vergleich zu 2009 sind in 2010 47 Prozent mehr NRO-Mitarbeiter ums Leben gekommen. Entführungen haben um 60 Prozent zugenommen, und zwar vor allem konzentriert auf den Norden.14 Oxfam verlor zum Beispiel Ende August 2010 bei einem Sprengstoffanschlag im Distrikt Shar-i-Buzurg im Westen der Provinz Badakhshan zwei afghanische Mitarbeiter, ein weiterer wurde verletzt. Die Deutsche Welthungerhilfe musste 2007 aus Sicherheitsgründen ihr Büro in Kundus schließen und zog sich 2009 auch aus der Nachbarprovinz Takhar zurück, nachdem dort ein afghanischer Mitarbeiter bei einem Sprengstoffanschlag ums Leben gekommen war. Acht Minenräumer, die einer Partnerorganisation der deutschen NRO medico international angehörten, kamen 2008 und 2009 bei Überfällen ums Leben; weitere 80 Mitarbeiter wurden entführt und kamen erst nach langwierigen Verhandlungen wieder frei. Die Kölner NRO medica mondiale musste Ende 2008 ihre Rechtsberatung von Frauen in Kandahar einstellen, weil ihre Arbeit zu gefährlich geworden ist.

Trotz dieser schlimmen Entwicklungen gibt es jedoch auch vorsichtig positive Zeichen. So wurden in letzter Zeit die meisten entführten NRO-Angehörigen später wieder freigelassen, und in einigen Landesteilen sind bewaffnete aufständische Gruppen zunehmend bereit, unabhängige Hilfsorganisationen unbehelligt arbeiten zu lassen.

Anders als vielfach angenommen, behandeln Taliban und andere aufständische Gruppen nichtstaatliche Hilfsorganisationen keineswegs pauschal als feindliche Kräfte. Es ist erkennbar, dass Militante in vielen Fällen sehr wohl differenzieren, ob NRO unabhängig arbeiten und ob sie entsprechende Distanz zu Konfliktparteien wahren oder nicht.

Dies gilt eingeschränkt auch für die Zivilbevölkerung, um deren »Hearts and Minds« von allen Seiten gerungen wird. Denn auch gut gemeinte Hilfsprojekte in Konfliktgebieten, die von Militärs selbst durchgeführt oder gefördert werden, stellen häufig eher eine Gefährdung als einen Nutzen für die Menschen dar. Eine gemeinsame Studie von CARE, dem afghanischen Bildungsministerium und der Weltbank ergab, dass die Mehrheit der befragten Afghanen ihre Kinder äußerst ungern in Schulen schicken, die von PRTs errichtet worden sind, da sie dort eine erhöhte Gefahr von Angriffen befürchten. Ein Gemeindevertreter in Daikundi sagte zu den Forschern: Wir sind sehr arm und benötigen dringend Entwicklungsprojekte, aber wir wissen, dass überall dort, wo die internationalen Truppen hingehen, ihnen die Taliban folgen.“ 15 UN-Vertreter sprechen gar von einer »Gegenstrategie« der Aufständischen, militärisch verantwortete Aufbauprojekte bevorzugt anzugreifen.

Zivile Hilfe, die im Zuge einer militärisch geprägten Strategie der Aufstandsbekämpfung eingesetzt wird, um den Rückhalt des Gegners in der Bevölkerung zu schwächen, ist aber nicht nur gefährlich, sondern in der Regel auch wenig effektiv. Forschern der Tufts-Universität in Boston zufolge gibt es zudem nur wenige Hinweise, dass militärisch dominierte Projekte für mehr Stabilität sorgen würden – im Gegenteil, dadurch würde häufig die Korruption befördert, die Legitimität afghanischer Regierungsinstitutionen beschädigt und auch die Glaubwürdigkeit der internationalen Akteure untergraben.16

Eine große Schwäche von militärisch geprägter Hilfe ist häufig die Konzentration auf das eigene Operationsgebiet und die Auslegung der Maßnahmen auf kurzfristige anstatt längerfristige Effekte. Meist handelt es sich um kleine Vorhaben, mit denen möglichst schnell die lokale Infrastruktur verbessert werden soll (Quick-Impact-Projekte). Die Bevölkerung soll dadurch vorgeführt bekommen, dass sie von der Anwesenheit der fremden Truppen profitiert. Damit soll die Sympathie der Bevölkerung gewonnen und indirekt die Sicherheit der eigenen Soldaten erhöht werden (Force Protection). Ob das betreffende Projekt im jeweiligen sozialen und ethnischen Kontext überhaupt tragfähig ist und ob es auch noch in mehreren Monaten oder Jahren funktioniert, wenn der Militäreinsatz vielleicht schon beendet ist, ist hingegen oft nachrangig.

Zwar gibt es Versuche, durch verstärkte Einbeziehung der Betroffenen in die entsprechenden Maßnahmen grundlegende Konzeptions- und Ausführungsmängel zu vermeiden (zum Beispiel im Rahmen des von der Bundesregierung geförderten »Provincial Development Fund«-Programms), aber aus entwicklungspolitischer Sicht wäre das Geld wesentlich besser in kontinuierliche Entwicklungsarbeit statt in sporadische und oft genug kurzlebige Kleinprojekte angelegt.

Selbst eine häufig zitierte Studie der Freien Universität Berlin, die im Auftrag des deutschen Entwicklungsministeriums über mehrere Jahre hinweg die Wirksamkeit zivil-militärischer Projekte in Nord-Afghanistan untersucht hat,17 sieht den Nutzen von Quick-Impact-Projekten kritisch. Diese seien zwar recht gut geeignet, um schnell Kontakt zur Bevölkerung zu gewinnen, aber relativ unwirksam, um das Ansehen der ausländischen Truppen zu erhöhen. Ausschlaggebend dafür sei vielmehr deren Fähigkeit, für Schutz und Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. „Mehr Hilfe vermindert nicht das Bedrohungsgefühl“, so die Autoren der Studie. Außerdem sei Entwicklungshilfe generell nur wenig geeignet, die Sicherheit (bzw. das Sicherheitsempfinden) der Zivilbevölkerung zu erhöhen. Im Gegenteil fühlten sich viele Befragte, die von Hilfsprojekten erreicht wurden, sogar stärker bedroht, da sie befürchteten, dass ihre Gemeinschaften dadurch vermehrt zum Angriffsziel von Aufständischen würden.

Grundlagen und Standards für die zivil-militärische Zusammenarbeit

Es gibt zahlreiche allgemein anerkannte Prinzipien und Richtlinien, die die Zusammenarbeit zwischen Hilfsorganisationen und militärischen Akteuren in der humanitären Hilfe regeln. Genannt seien hier zum Beispiel der Verhaltenskodex der Rot-Kreuz-/Rot-Halbmond-Bewegung, die Oslo Guidelines, der EU-Konsens zur humanitären Hilfe und das Sphere-Handbuch. Überall dort wird klar die Trennung von humanitärem und militärischem Mandat verlangt. Nur in streng definierten Ausnahmefällen dürfen militärische Akteure selbst Nothilfe leisten. Für Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere von staatlicher Seite, gelten die humanitären Prinzipien nicht oder nur eingeschränkt. Da viele große Hilfsorganisationen aber sowohl in der Not- als auch in der Entwicklungshilfe engagiert sind, orientieren sie sich in der Praxis in allen ihren Tätigkeitsfeldern am Gebot der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit – wer humanitäre Hilfe leistet, kann seine dort praktizierten Grundsätze nicht bei der Entwicklungsarbeit aufgeben, ohne seine gesamte Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Was Afghanistan betrifft, haben sich die Vereinten Nationen, NRO, NATO-geführte Truppen und die afghanische Regierungsarmee im August 2008 auf spezifische zivil-militärische Richtlinien für humanitäre und militärische Akteure verständigt.18 Darin sind die grundlegenden humanitären Prinzipien wiederholt und auf die konkrete Situation in Afghanistan angepasst. Zum Beispiel wird auf das Recht von Hilfsorganisationen verwiesen, keine Informationen an das Militär weiterzugeben, wenn diese für militärische Zwecke eingesetzt werden und das Leben von Zivilisten gefährden könnten (vgl. Kasten S.41).

Eine wichtige Errungenschaft der Richtlinien besteht zum Beispiel darin, dass die NATO-geführten Provincial Reconstruction Teams angewiesen wurden, keine humanitäre Hilfe zu leisten, außer sie werden von den zuständigen zivilen Behörden eigens dazu aufgefordert. Die Richtlinien beziehen sich ferner auf ein Dokument des PRT Executive Steering Committee von 2007, das ausdrücklich darauf hinweist, dass humanitäre Hilfe nicht für politische Zwecke, Kontaktpflege oder für »Hearts and Minds«-Zwecke eingesetzt werden darf. Schließlich haben die Richtlinien auch bewirkt, dass seit Mai 2009 NATO-Truppen keine weißen Fahrzeuge mehr benutzen dürfen, um von unabhängigen humanitären Akteuren unterschieden werden zu können. Leider bestehen noch immer erhebliche Umsetzungsdefizite, und es gibt keinen Überprüfungsmechanismus, so dass die Einführung der Richtlinien bestenfalls als halber Erfolg bezeichnet werden kann. Hier auf internationaler Ebene, z.B. innerhalb der NATO, für Abhilfe zu sorgen, wäre eine äußerst verdienstvolle Aufgabe für Bundesregierung und Bundeswehr.

Ausgewählte Empfehlungen für politische und militärische Akteure im Kontext der NATO

1. Schutz der Zivilbevölkerung

Bei Militäroperationen verstärkt auf die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten achten und nur verhältnismäßige Gewalt einsetzen (z.B. Reduzierung bzw. sorgfältigere Vorbereitung von Luftangriffen und nächtlichen Hausdurchsuchungen; keine Stationierung von Truppen nahe an Bevölkerungszentren).

Bei Militäroperationen sicherstellen, dass der Zugang von unabhängigen Hilfsorganisationen zur hilfsbedürftigen Bevölkerung nicht gefährdet wird.

2. Zivil-militärische Beziehungen

Klare Trennung von militärischem Einsatz und zivilem Aufbau; keine Instrumentalisierung von Projekten und Akteuren der Entwicklungshilfe.

Im Zuge des laufenden Übergabeprozesses der internationalen Gemeinschaft eine Strategie zur Beendigung der PRTs entwickeln; keine Weiterführung der PRTs unter neuer Trägerschaft, etwa der afghanischen Nationalarmee.

Konsequente Umsetzung der »Zivil-militärischen Richtlinien für Afghanistan« (Siehe Anm. 17 des Hauptartikels) und Weiterentwicklung des bestehenden Überprüfungsmechanismus.

3. Sicherheitssektorreform

Kein weiterer Aufbau von Dorfmilizen und anderen paramilitärischen Kräften wie z.B. im Rahmen des Afghan Public Protection Program (AP3) oder der Afghan Local Police (ALP); stattdessen mehr Anstrengungen zum Ausbau der regulären Sicherheitskräfte entsprechend internationaler Standards (Qualität statt Quantität).

4. Entschädigung von zivilen Opfern alliierter Militäroperationen

Einheitliche und umfassende Umsetzung der im Juni 2010 beschlossenen ISAF-Entschädigungsrichtlinien und Verbesserung des bestehenden Untersuchungsgremiums zu zivilen Opfern (Civilian casualty tracking cell).

Harmonisierung mit der Entschädigungspraxis der afghanischen Regierung.

5. Entwicklungshilfe

Parallel zur Beendigung der PRTs Ausbau der Kapazitäten von lokalen zivilen Einrichtungen und Organisationen, um selbstbestimmt Entwicklungsprojekte planen und durchführen zu können.

Anmerkungen

1) VENRO: Stellungnahme zur Ausschreibung des BMZ zur NRO-Fazilität Afghanistan im Rahmen des Titels »Förderung privater deutscher Träger«, 30.06.2010; www.venro.org/ fileadmin/redaktion/dokumente/Dokumente_ 2010/Home/Juli_2010/VENRO-Stellung nahmr_AFG-Fazilitaet_final.pdf.

2) Pressemitteilung des BMZ vom 20.10.2010: Umfrage: Was halten die Deutschen vom Ansatz der vernetzten Sicherheit und einer stärkeren Beteiligung deutscher Firmen an Entwicklungsprojekten?; www.bmz.de/de/presse/ aktuelleMeldungen/2010/oktober/20101020_umfrage/index.html.

3) Das »Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006« widmet dem Begriff der »vernetzten Sicherheit« zwar einen eigenen Abschnitt, bleibt aber eine umfassende Definition schuldig. Ergänzende Erläuterungen dazu finden sich im Anhang der Ausschreibung des BMZ für die neue Fazilität, siehe bengo-Sonderausgabe Rundbrief – Mai 2010: NRO-Fazilität Afghanistan; www.bengo.de/fileadmin/user_upload/redaktion/Downloads/Rundbrief-Archiv/Vernetzte_Sicherheit-DefBMZ.pdf.

4) bengo-Sonderausgabe Rundbrief – Mai 2010. op.cit.

5) Ibid.

6) Generalmajor Bühler: Das Konzept der vernetzten Sicherheit aus der Perspektive des BMVg. Vortrag bei der Tagung »Gesicherte Entwicklung? Zunehmende Verschränkung von Sicherheits- und Entwicklungspolitik «, Bad Boll, 3.-4. November 2008; www.ev-akademie-boll.de/fileadmin/res/otg/670108-buehler.pdf.

7) VENRO: Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan. Eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen Hilfsorganisationen. VENRO-Positionspapier 1/2009; www.venro.org/fileadmin/Publikationen/Afghanistan-Positionspapier_ PRT.pdf.

8) Deutsche Welthungerhilfe: Zusammenarbeit mit militärischen Kräften (englischsprachige Version). Standpunkt Nr. 1/2008; www.welthungerhilfe.de/fileadmin/media/pdf/Englische_Seite/Policy_paper_CIMIC_ neu2.pdf.

9) Evangelische Akademie Bad Boll: Gesicherte Entwicklung? Die zunehmende Verschränkung von Sicherheits- und Entwicklungspolitik als Herausforderung für die Praxis. Tagung am 3.-4. November 2008; Online-Dokumentation auf www.ev-akademie-boll.de/.

10) AFP-Meldung vom 2.1.2011; www.google. com/hostednews/afp/article/ALeqM5iJTNK gqA1cpHyk8KjYMaUWqQMSWw?docId=CNG.fcc9574b9436174206d9a85a1ded8062.531.

11) UNAMA Human Rights, Mid-Year Report 2010: Protection of Civilians in Armed Conflict. August 2010; http://unama.unmissions.org/Default.aspx?tabid=4529.

12) Los Angeles Times vom 1.11.2010: Afghan civilian deaths caused by allied forces rise; http://articles.latimes.com/2010/nov/01/world/la-fg-afghan-civilians-20101102. Der Bericht bezieht sich auf einen internen ISAF-Bericht über den Zeitraum 2008-2009.

13) UNAMA Human Rights, Mid-Year Report 2010. op.cit.

14) The Afghanistan NGO Safety Office (ANSO): ANSO Quarterly Data Report, Q3. October 2010; www.afgnso.org/index_files/Page595.htm.

15) Action Aid, Afghanaid, CARE, Oxfam und andere: Quick Impact, Quick Collapse – The Dangers of Militarized Aid in Afghanistan; www.oxfam.de/publikationen/quick-impact-quick-collapse.

16) Andrew Wilder und Stuart Gordon: Money can’t buy America Love. Foreign Policy, December 1 2009; www.foreignpolicy.com/ articles/2009/12/01/money_cant_buy_ america_love.

17) Federal Ministry for Economic Cooperation and Development (BMZ): Assessing the Impact of Development Cooperation in North East Afghanistan 2005 – 2009. Final Report. Die Studie wurde von Christoph Zürcher, Jan Böhnke und Jan Koehler vom Sonderforschungsbereich 700 der Freien Universität Berlin durchgeführt; www.bmz.de/en/ publications/type_of_publication/evaluation/evaluation_reports_since_2006/BMZ_Eval049e_web.pdf.

18) Guidelines for the Interaction and Coordination of Humanitarian Actors and Military Actors in Afghanistan (2008); PDF-Datei unter http://ochaonline.un.org/OchaLinkClick.aspx? link=ocha&docId=1112406.

Robert Lindner ist Mitarbeiter der Entwicklungsorganisation Oxfam Deutschland und arbeitet dort als Politikberater für Humanitäre Hilfe und Rüstungskontrolle. Dieser Beitrag wurde für das Akteurs-Symposium »Zivile und militärische Akteure in Afghanistan – getrennt im Einsatz für ein gemeinsames Ziel?« im CIMIC-Zentrum in Nienburg im November 2010 geschrieben.

Den Krieg zivilisieren?Zwei Standpunkte

Den Krieg zivilisieren?
Zwei Standpunkte

von Cornelia Brinkmann und Wolf-Dieter Narr

W&F bat eine Autorin und einen Autor, für uns ihren je unterschiedlichen Standpunkt zur »zivil-militärischen Zusammenarbeit« zu formulieren. Cornelia Brinkmann begründet, warum sie für eine Fortsetzung der Kooperation zwischen zivilen Akteuren mit militärischen Strukturen ist, empfiehlt aber dringend praktische und konzeptionelle Änderungen in der Umsetzung. Wolf-Dieter Narr lehnt die Kooperation von Zivilen mit dem Militär aus pazifistischer Sicht grundsätzlich ab, da zivile Konfliktbearbeitung in einem gewaltgestützten Kontext nicht möglich sei.

Gleichzeitig getrennt und vereint in Afghanistan?

von Cornelia Brinkmann

Die Entwicklung der zivil-militärischen Zusammenarbeit entscheidet sich weder allein am Grünen Tisch noch ausschließlich in der Praxis. Sie wird sich vielmehr aus dem Zusammenwirken von konzeptionellen Diskussionen, politischen Diskursen im In- und Ausland und konkreten Projekten aller beteiligten Akteure formen. Dass es hierbei erhebliche Versäumnisse gibt, macht sich in der Praxis durch Ungereimtheiten, Widersprüche und Unverständnis bemerkbar. Durch die zivile Perspektive auf einige zentrale Spannungsfelder der zivil-militärischen Zusammenarbeit in Afghanistan sollen Empfehlungen abgeleitet werden, wie dieses Feld praktisch und konzeptionell weiterentwickelt werden kann.

In Deutschland findet aktuell eine Diskussion unter dem Stichwort »Vernetzte Sicherheit« statt. Das Konzept wurde 2006 im »Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr« vorgestellt. Darunter wird eine noch engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer, wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher und nachrichtendienstlicher Instrumente der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung verstanden. In diesem Konzept findet zwar verbal eine Aufwertung der zivilen Komponente statt, allerdings wird sie als nachgeordneter Beitrag zur militärischen Sicherheitspolitik angesehen. Die Perspektiven, Standards und Erfahrungen von zivilgesellschaftlichen Akteuren und ihre Potentiale zur Sicherung von Frieden und Entwicklung hingegen finden kaum Eingang in die aktuelle Diskussion. Hier ist eine inakzeptable Unterordnung des Zivilen angelegt, die erheblich von einer zivil-militärischen Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe entfernt ist.

Dennoch hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) jüngst eine »Entwicklungsoffensive« zur Förderung von Projekten privater deutscher Träger in Afghanistan damit verbunden, dass diese im Einklang mit dem Afghanistan-Konzept der Bundesregierung und dem Konzept der »Vernetzten Sicherheit« stehen. Ein Blick auf Beispiele der dortigen Praxis zeigt die – häufig subtilen, häufig drastischen – Wechselwirkungen von internationalem zivilen und militärischen Handeln.

So benutzte das Militär in der Anfangsphase des Afghanistan-Konflikts u.a. weiße Fahrzeuge, weiß gilt international jedoch als Symbolfarbe für zivile internationale Akteure. Die lokale Bevölkerung wurde so über die Zugehörigkeit der Fahrzeuge getäuscht. Diese Praxis wurde erst nach heftiger Kritik von Organisationen der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit zögerlich verändert.

Darüber hinaus beansprucht das Militär in Afghanistan immer mehr eine Rolle in genuin zivilen Tätigkeitsfeldern der Entwicklungszusammenarbeit oder humanitären Hilfe. Ziel ist es dabei, sich bei der Bevölkerung und den örtlichen Machthabern ein wohlwollendes und damit sicheres Umfeld zu schaffen und strategische oder militärische Vorteile zu erzielen. Das Militär baut Schulen, Brücken, Brunnen, leistet medizinische Dienste und verteilt Decken und Lebensmittel. Militärs nehmen auch an Gründungs- und Eröffnungszeremonien von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit teil. Diese Strategie ist unter den Nichtregierungsorganisationen und in der Diskussion über die zivil-militärische Zusammenarbeit höchst umstritten, denn die zivilen Projekte des Militärs sind mit dem partner- und prozessorientierten Ansatz einer Entwicklungszusammenarbeit kaum vereinbar. Fragen einer nachhaltigen Entwicklung werden gegenüber rein militärischen Sicherheitsinteressen zurückgestellt.

In diesem Kontext kann die lokale Bevölkerung nur schwer zwischen Projekten des Militärs und internationaler Organisationen unterscheiden, was dem militärischen Sicherheitsinteresse durchaus dienlich sein kann, aber für die Zivilen ein erhöhtes Sicherheitsrisiko bedeutet. Dieses Vorgehen ist unverantwortlich gegenüber den Menschen und Organisationen, die sich auf eine Tätigkeit in Afghanistan eingelassen haben.

Empfehlungen aus friedenspolitischer Sicht

Zur Bewertung der zivil-militärischen Zusammenarbeit können aus friedenspolitischer Sicht einige Schlussfolgerungen gezogen werden.

So zeigen die Beispiele, dass das Militär den Anspruch, ein sicheres Umfeld für zivile Aktivitäten zu schaffen, nicht erfüllt und sich stattdessen die Sicherheitsrisiken für Zivile erhöhen. Dies führt dazu, dass internationale Organisationen große Probleme haben, geeignetes Personal für Afghanistan zu gewinnen. Afghanische MitarbeiterInnen weigern sich aus Sicherheitsgründen, für internationale Organisationen in die Region zu fahren. Dies schränkt den Gestaltungsspielraum für zivile Aktivitäten auf lokaler Ebene ein, da Projekte nicht betreut werden können und damit die bereitgestellte Hilfe nicht bei den Bedürftigen so ankommt, wie es von ziviler Seite gewünscht und geplant ist. Aus diesem Grund ist für Zivile eine der wichtigsten (Sicherheits-)Regeln: Abstand halten vom Militär.

Weiter hat sich die Sicherheitslage für die afghanische Bevölkerung selbst und damit auch die Lebensqualität verschlechtert. Da in der internationalen Diskussion die Sicherheit von Ausländern stets im Vordergrund steht, gewinnen Afghanen den Eindruck, dass dem Leben von Internationalen ein höher Wert beigemessen wird als dem von Afghanen, mit katastrophalen Folgen für die Glaubwürdigkeit der ausländischen Partner und ihrer Projekte. Die Alltagssicherheit sollte deshalb auch für normale Afghanen absolute Priorität haben, damit Gestaltungsspielräume für zivile Veränderungsprozesse entstehen können. Die Erfahrung zeigt, dass Sicherheit vor allem durch Afghanen selbst durchgesetzt und abgesichert werden muss. Die afghanischen Partner müssen daher stärker in die Verantwortung genommen werden, sich für die Sicherheit ihrer eigenen Bürger einzusetzen. Aus diesem Grund ist die Auswahl und Begleitung geeigneter lokaler PartnerInnen ein Schlüssel für nachhaltige gesellschaftliche Veränderungsprozesse.

Ferner müssen die Ressourcen für zivile und militärische Maßnahmen endlich in eine vernünftige Balance gebracht werden. Rainer Glatz, Generalleutnant und Befehlshaber des Einsatzführungskommandos in Potsdam, sprach am 24.10.2009 im Tagesspiegel in einem Interview zu Afghanistan davon, dass lediglich 20% des Engagements aus dem militärischen, aber 80% aus dem zivilen Bereich kommen müssten. Diese Forderung klingt plausibel und müsste eine erhöhte Aufmerksamkeit für und Aufwertung der zivilen Komponenten nach sich ziehen. In der Praxis wird in Deutschland aber durch die aktuelle Diskussion um »vernetzte Sicherheit« das Zivile dem Militärischen untergeordnet. Weiterführende Konzeptbeiträge aus dem zivilen Raum sind daher dringend erforderlich.

Gemeinsam planen, aber getrennt handeln!

Während unstrittig erscheint, dass eine ressortübergreifende Abstimmung bei der Planung von Programmen gefördert werden sollte, bleibt offen, wie sich die unterschiedlichen institutionellen Vorgaben und Abläufe, die jeweiligen Qualitätsmaßstäbe von Programmen und Projekten, die unterschiedlichen Standards der methodischen Durchführung, die jeweiligen Qualifikationen und Haltungen von MitarbeiterInnen und die Beiträge der lokalen PartnerInnen miteinander vereinbaren lassen. Die Einrichtung einer eigenständigen Institution oder eines eigenständigen Ministeriums zur Förderung des zivilen Engagements in Konfliktregionen sollte aufgebaut werden, damit Konzepte und Entscheidungen aufeinander abgestimmt werden können.

Abstimmungs- und Kommunikationsprozesse vor Ort sind notwendig, allerdings sollten sie diskret erfolgen und stets berücksichtigen, dass zivile Organisationen und Militärs unterschiedliche Ziele verfolgen, unterschiedliche Zielgruppen ansprechen und unterschiedliche Aktivitäten durchführen. Zivile und militärische Mandate folgen unterschiedlichen Prämissen, und ihre Vermischung stellt keine Stärkung der jeweiligen Ansätze, sondern eine Schwächung dar. Auf der lokalen Ebene muss daher konsequent auf eine klare Trennung von militärischem und zivilem Engagement geachtet werden, u.a. sollten keine Gebäude gemeinsam genutzt werden, und Fahrzeuge und Kleidung sollten sich klar unterscheiden.

Trotzdem: internationales Militär ist wichtig

Trotz der erheblichen Sicherheitsrisiken und bei aller Kritik an dem kulturell unsensiblen Auftreten der Militärs: Moderate, mutige und veränderungsinteressierte Afghanen der Zivilgesellschaft betonen, dass ihnen durch die Präsenz des ausländischen Militärs Gestaltungsspielräume für gesellschaftliche und politische Veränderungen geschaffen werden, die ihnen die lokalen und häufig gewaltbereiten Machtakteure ansonsten nicht zugestehen würden. Dies funktioniert für sie allerdings nur so lange, wie das Militär eine Basisakzeptanz bei Politik und Bevölkerung hat.

Wer die einheimischen zivilgesellschaftlichen Akteure bei ihren politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsbemühungen unterstützen will, sollte ihre Perspektive auf das Militär respektieren. Differenzierte Positionen dieser Art müssen zudem in ein angepasstes Konzept der zivil-militärischen Zusammenarbeit integriert werden.

Friedens- und konfliktsensible Projekte

Internationale Akteure, ihre Partner vor Ort und die gemeinsamen Aktivitäten werden von Afghanen sehr intensiv im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf lokale Machtbeziehungen analysiert. Jeder Kontakt von Afghanen zu Internationalen, egal durch wen, wird Auswirkungen auf das lokale Machtgefüge haben und daher Reaktionen auslösen.

Im Kontext der humanitären Hilfe in Krisenregionen kamen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass durch internationale Beiträge lokale Konflikte u.U. verlängert oder intensiviert, sogar neue geschaffen werden können. In einem weltweitem Konsultationsprozess mit Praktikern unterschiedlicher Organisationen wurden die Beobachtungen diskutiert und unter der Überschrift »Do No Harm« veröffentlicht. Zentrale Ergebnisse sind:

Jede Intervention im Kontext eines Konfliktes hat Auswirkungen auf den Konflikt selbst.

Der Konfliktkontext wird bestimmt durch trennende Faktoren (dividers) und verbindende Faktoren wie lokale Potentiale für den Frieden (connectors).

Jede Intervention steht in einer Wechselwirkung mit beiden Faktorengruppen, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.

Der Transfer von Ressourcen durch eine Intervention wirkt auf den Konfliktkontext zurück (Verteilungseffekte, Markteffekte, Substitutionseffekte, Missbrauchseffekte, Legitimierungseffekte).

Implizite ethische Botschaften einer Intervention wirken auf den Konfliktkontext, z.B. kulturelle Eigenheiten, Lebensstandard, die Verwendung von Ressourcen, Missachtung und Konkurrenz unter externen Akteuren, Ohnmacht, Anspannung und Misstrauen, unterschiedliche Wertigkeit von Menschenleben, Dämonisierung und Viktimisierung durch Öffentlichkeitsarbeit oder der Einsatz von Waffen und Macht.

Es gibt immer alternative Optionen.

Diese Erkenntnisse des »Do No Harm«Ansatzes haben in Afghanistan hohe Relevanz. Sie sollten daher unbedingt sowohl von den zivilen als auch von den militärischen Akteuren bei der Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung berücksichtigt werden.

Cornelia Brinkmann ist Gründungs- und Vorstandmitglied des Forum Ziviler Friedensdienst e.V. sowie Projektreferentin von »zivik«. Seit 2000 arbeitet sie als friedenspolitische Beraterin zu Themen der Friedenskonsolidierung, zivilen Konfliktbearbeitung und Konflikttransformation mit Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Trägern, seit 2005 auch in Afghanistan. Seit 2010 auch Geschäftsführerin von Steps for Peace – Institut für Peacebuilding gGmbH.

Pazifismus bedeutet die Absage an Staat und Militär – oder nichts

von Wolf-Dieter Narr

Aus pazifistischer Sicht kann es keine »gute« und »zivile« Konfliktbearbeitung geben, so sie denn in einen von Grund auf falschen – gewaltgestützten – Kontext eingebettet ist. Dies gilt besonders, sofern »zivile« Konfliktbearbeitung mit militärischen Akteuren kooperiert. Sie hält damit, ungeachtet aller durchaus vorstellbarer wohlfeiler Absichten, allein ein System aufrecht, das Gewalt androht und ausübt. Allenfalls färbt sie es schön. Im Folgenden hierzu einige Überlegungen sowie ein Plädoyer, derlei (Selbst-)Täuschungsversuchen eine Absage zu erteilen – ja aus pazifistischer Sicht erteilen zu müssen. Stattdessen sind andere Wege zu suchen und zu finden.

Matthias Claudius’ Schreckensruf hallt durch die menschlichen Jahrtausende: „S´ ist Krieg, s´ ist Krieg!“

I. »Zivilisatorisch«, auf den menschverändernden Spitzen der Innovationen, gilt im Jahr 2010 unverändert: „Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier, aber Menschenopfer unerhört.“ Verändert haben sich allein die globalen Ausmaße, die panoptische und die paninformationelle Guckkastenbühne; außerdem die wissenschaftlich-technologisch abstrakter, perfekter, geheimdienstlich noch intensiver instrumentierten mörderischen Produktionsverhältnisse der Kriege. Allein darin sind die alles andere als »neuen Kriege« »asymmetrisch«. Ist man infolge historisch erfahrenem und analytisch Ursachen ermitteltem Verstand, verbunden mit einer nicht durch die Banalität von Kriegen eingeschläferten Emotion zum Schluss gekommen, zu allen Arten kollektiver, meist zirkulärer Gewalt von Menschen gegen Menschen ein entschiedenes und hier unerbittliches NEIN zu sagen, was bleibt dann anders als schiere Verzweiflung? Oder kann man etwas tun? Worin könnte solches pazifistisch eindeutiges und klares Tun bestehen?

II. Mehrfach vertrackt. Wo könnte man ansetzen? Darf man berührungsängstlich pingelig sein, wenn es um existentielles Doppel zu tun ist: Krieg zu vermeiden oder einen währenden gewaltfrei durch zivile Hilfsaktionen zu unterwandern, dabei zugleich einzelne Menschen zu retten, die sonst kriegsverloren zugrunde gingen? Können diese hehren Absichten nicht um den Preis des »Guten« eine Zusammenarbeit mit dem Militär rechtfertigen?

Entgegen steht bestem Willen und ihm entspringenden Hilfsaktionen die kriegerische Durchdringung von Staat, Ökonomie und Gesellschaft. Dies ist in einem Maße der Fall, dass sich kaum noch Inseln und Handlungsstücke finden, die nicht kriegstümlich, wenn nicht gleichgeschaltet, so doch vor- und parallel geschaltet werden könnten. So könnte es geschehen und ist sintemal der Fall gewesen, dass die besten Absichten und an sich selbst nicht zu kritisierenden Handlungen, schon infolge des Kontextes, in dem sie stattfinden, zu kriegerischen Zwecken umfunktioniert werden. Nicht erst Christa Wolfs »Kassandra«, schon ihre mythische Vorgängerin wusste, über den trojanischen Krieg hinaus erfahren, dass Kriegszeiten durch Vorkriegs- und Nachkriegszeiten zu einer unendlichen Geschichte werden. In Zeiten restlos durchdringender Globalisierung kann man sich noch weniger als früher darauf verlassen, Krieg und kriegsvor- und nachbereitende Funktionen und Institutionen unterscheiden zu können. In Sachen Militär und Polizei kann man geradezu nach einer Juso-Formel Ende der sechziger Jahre von einer vermengten Doppelstrategie (und -taktik) sprechen. Deutsch behauptete »Sicherheitsinteressen« – so der weiland Verteidigungsminister mimende Herr Struck – werden bekanntlich nicht nur am Hindukusch mörderisch wahrgenommen. Die wirtschaftlich und energiepolitisch volltrunkenen Interessen werden im Kontext von EU, NATO oder auch der UN weltweit verfolgt.

Von ihnen lassen sich friedliebende Bürgerinnen und Bürger täuschen: Man sei militärisch, »entwickelnd« als Hilfe zur Selbsthilfe, wirtschafts- und außenpolitisch auf vielen humanitären Wegen unterwegs. Man müsse schließlich den talibangefährdeten Afghanen endlich die freiheitliche demokratische Grundordnung beibringen. Diese funktional peinlich engen Entdifferenzierungen werden ergänzt durch die Exklusionen der etablierten und sich etablierenden Staaten, im Rahmen verschärfter globaler Konkurrenz: Inmitten dieses herrschaftsinteressenvollen Kuddelmuddels sind Chancen genuiner friedenserpichter Handlungen nicht zu erspähen. Gerade darum ist es notwendig, dass Konzepte und Ansätze friedlicher Konfliktbearbeitung nach ihrer eigenen pazifistischen Logik entwickelt werden. Ihre Vertreterinnen und Vertreter dürfen sich um der Friedenssache und der dafür neuen Denk- und Handlungsformen willen nicht auch nur annähernd in die Nähe zu militärisch gerichteten Herrschaftswirklichkeiten begeben. So sehr es vielen prächtig friedensvoll Gesinnten zu wünschen wäre – und ich sage das als alter Kerl, pensioniert (!), nicht altersarriviert: Arbeit, Anerkennung und die nötigen Moneten sind pazifistisch im Rahmen der etablierten Institutionen, in ihrer Nähe, von ihnen geduldet, gefördert, nicht zu haben.

III. Kriege als äußerstes Mittel. Dass Kriege Menschen entmenschen, indem sie morden und gemordet werden – Soldaten SIND Menschen, auch wenn ihre Traumata und Tode kaum kümmern –, ist eine alte Erfahrung. Allein in der kurzlangen Moderne hat man darum immer erneut Schritte unternommen, Kriege zu hegen. Ihnen sollte, wenn sie schon nicht zu verhindern waren, eine zivil begrenzte Form gegeben werden. Das hebt mit dem modernen Völkerrecht an, geht übers Rote Kreuz und die Haager Landkriegsordnungen, endet mit der Gründung der UNO 1945 und schließlich dem International Criminal Court.

Wahrheitsgemäß muss man feststellen: Jenseits einzelner wichtiger Modifikationen haben alle »Zivilisierungen« die grausame, in der Zwischenzeit apparativ eigendynamisch gewordene Furie der Kriege und den Interessenhunger nach neuen Kriegen nicht gebändigt, sie haben ihm nicht einmal Schlingen angelegt. Die Art, wie humane Maßgrößen, wie Menschenrechte und Demokratie mit philosophischem Goldkragen als Fahnentusch für Kriege missbraucht werden – darum ist, pazifistisch das unschöne Adjektiv »humanitär«“ gebrauchstabu –, macht vollends kund: Um der Menschen und ihres Friedens darf man sich auf noch so »fortschrittliche« Institutionen und »Errungenschaften« keine Sekunde verlassen.

IV. Und auch noch der STAAT. Die Erfolgsgeschichte ist bewunderungswert. dass es dem Interessenkomplex, genannt moderner Staat, und seinem Herzen, dem Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit, gelungen ist, fast global zur zweiten, zur bürgerlich verinnerlichten Natur zu werden. Sähe man pazifistisch mit darum umso schärferen historisch gegenwärtigen Augen hin, müsste auffallen: Die vorab allgemein, auch völkerrechtlich legitimierten Handlungen des Gewaltmonopols und seiner Knechte, um SEINEN immer mit Gewalt unterlegten oder unmittelbare Gewalt übenden Frieden im Staatsinnern und expansiv nach außen herzustellen, sind ihrerseits vor allem Schuld an der ungebrochenen Kontinuität der Kriege.

Das heißt erneut, unmäßig verkürzt: Pazifistisch kann man sich auf keine der staatlichen Institutionen verlassen. Auch »zivile« Konfliktbearbeitung wird im heutigen Staat nicht als grundsätzliche Alternative, sondern nur als eine Ergänzung zur traditionellen Interessenspolitik verstanden. Durch die Verknüpfung mit dem Militär steht im Hintergrund jedes Dialogs und aller Versöhnungsarbeit die Gewaltoption, mit der keinesfalls altruistische Ziele im Kontext westlicher Einsätze auch ohne Rücksicht auf den Dialogpartner durchgesetzt werden.

Anders und mehr noch: Es kommt in der Vorstellungskraft und dort, wo man tätig ist, darauf an, andere soziale Organisationsformen zu finden, die nicht, indem sie soziale Probleme letzterstlich gewaltsam zerschlagen, Gewalt heckende Zustände noch und noch erhalten.

V. „…ihr lasst den Armen schuldig werden“. Aus den heute weltweit durchstaateten (und mehr noch: durchkapitalisierten) Gesellschaften kann niemand »französischen Abschied« nehmen. Auch passiv und »unpolitisch« immer gilt: Mit gefangen, mit gehangen. Was aber bleibt einem Pazifisten? Im friedenspolitischen Sisyphosgeschäft gibt’s täglich Arbeit in Fülle – Camus zufolge soll Sisyphos ein glücklicher Mensch gewesen sein. Von Berührungsängsten und mit ihnen kann man nicht leben. In dem, was man tut und wie man es betreibt, kann man jedoch friedenspolitisch nur so verfahren, durchgehend, im Ziel und vor allem in den Mitteln: menschenrechtlich, basisdemokratisch, selbstbestimmt. Dazu sind die möglichen Wirkungen des Tuns und sein Kontext mitzubeachten. Da aber friedenspolitisches Tun weder beginnt, wenn die Waffen sprechen, noch endet, wenn sie noch als Minen Menschen zerstören, kennt seine Praxis keine Grenze. Im engeren Zusammenhang friedenspolitischer Aktivitäten sind folgende Markierungen und Kautelen zu beachten.

1. Die erste Aufgabe besteht darin, dem etablierten Goodspeak oder den inflationären Euphemismen nicht zu erliegen oder sich selbst mit solchen zu täuschen à la »Versöhnungs«-Gerede. Der etablierte Täuschungs-, ja Lügenaufwand just in einer informationstollen Zeit ist so groß, dass man sich ihm nie ein für alle Mal entziehen kann.

2. Vorsicht ist geboten, wenn man eine Aufgabe übernehmen will, deren Kontext selbst die beste eigene Arbeit unkenntlich macht. Dem Hasen ist der Pakt mit einem Löwen trotz des letzteren wunderschöner Mähne abzuraten. Ist die »zivile« Konfliktbearbeitung zudem erst einmal in das bestehende Arsenal der Instrumente herrschender Interessenspolitik integriert, so wird sie ihre Fähigkeit verlieren, den militärischen Konfliktaustrag grundsätzlich zu kritisieren. Der Kampf um eine Entmilitarisierung der Welt wäre verloren.

3. Sich durch nötige finanzielle Mittel und/oder Anerkennungen wohl tuender Art nicht verführen lassen. Das ist am schwersten. In aller Regel geraten nicht primär selbst finanzierte oder aus kenntlichen kleinorganisatorischen Quellen bestrittene Handlungen auf die schiefe Ebene. Ist man einmal finanziell gefangen, ist ein Entkommen schwer möglich. Darum empfiehlt es sich, dass sich Einzelne und Gruppen wechselseitig kontrollieren.

4. Am Ziel einer Welt ohne Krieg kann auf verschiedene Weise im Großen und Kleinen von jeder und jedem gearbeitet werden. Assoziativ zu verfahren, empfiehlt sich. In eigenen, nicht staatlich oder kapitalstiftlerisch gewirkten Assoziationen. Im Kleinen, im eigenen Beruf, überall, kann das ratio und emotio einende Wissen darum, dass der pazifistische Weg human richtig ist, die eigene Person frei machen und diejenigen, mit denen man zu tun hat. Wohlgemerkt: Es gibt nicht mehrere Pazifismen verschiedener Prozente. Es gibt nur einen wurzelpackenden – und der verträgt sich nun einmal nicht mit gewaltgestützter Interessensdurchsetzung aktueller Prägung. Von der ist Distanz zu wahren. Selbst wenn ein derartiger Pazifismus darob verfassungs-, alias staatsschützerisch auffiele.

Wolf-Dieter Narr ist Mitbegründer des Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.

Zivilklausel für alle Hochschulen

Zivilklausel für alle Hochschulen

Handlungsbedarf gegen Militarisierung von Forschung und Lehre

von Natascha Bisbis

An den großen Universitäten wird im technisch-naturwissenschaftlichen, aber auch zunehmend im sozialwissenschaftlichen Bereich für militärische Zwecke geforscht. Die Senate der Technischen Universität Berlin und der Universitäten Bremen, Oldenburg, Dortmund und Konstanz haben bereits Anfang der 90er beschlossen, die Beteiligung an Wissenschaft und Forschung mit militärischer Nutzung abzulehnen. Sie gehören damit zu einer deutlichen Minderheit von Universitäten, die eine Zivilklausel haben. Das belegt eine Umfrage, die im Auftrage der Naturwissenschaftler-Initiative an den 80 größten deutschen Universitäten durchgeführt wurde. Doch damit nicht genug: Die Umfrage zeigt auch auf, wie an einigen Universitäten mit einer Zivilklausel versucht wird, diese zu umgehen.

Aufgrund der Intransparenz im Bereich der deutschen Rüstungsforschung an Universitäten wurde 1996 eine Umfrage vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung an den Fachbereichen der Informatik durchgeführt. Es wurde nach der Existenz einer Zivilklausel („nur für friedliche und zivile Zwecke“) gefragt und danach, ob an den jeweiligen Fachbereichen der Informatik Forschungsprojekte mit Rüstungsunternehmen oder militärischen Einrichtungen, wie der NATO, der Bundeswehr oder der Bundeswehrverwaltung liefen.

Damals wurde festgestellt, dass die TU Berlin, die Uni Oldenburg, die Uni Tübingen und die Uni Dortmund Zivilklauseln haben.1 Diese Umfrage beschränkte sich auf Universitäten mit einem Informatik-Fachbereich. Ende Mai konnte eine weitere bundesweite Erhebung nach dem Vorhandensein von Zivilklauseln abgeschlossen werden. Die Informationen wurden an den 80 größten Universitäten bei der Pressestelle abgefragt.

Das Ergebniss der Umfrage:

Übermittlung von Auszügen aus den Beschlüssen der TU Berlin und der Universitäten Konstanz, Bremen, Dortmund, Oldenburg und Kassel.

Verweis auf Leitbilder der HU Berlin und TU Ilmenau.2

Keine Rückmeldung von der FU Berlin, der TU Chemnitz und den Universitäten Göttingen, Osnabrück, Bielefeld, Bochum, Flensburg und Frankfurt am Main.

Keine Stellungnahme der Universität Düsseldorf.

Alle anderen Universtäten gaben an, keine Zivilklausel zu haben.

Demnach haben weniger als zehn Prozent der deutschen Universitäten eine Zivilklausel.

Initiativen für eine Zivilklausel

Bundesweit werden Stimmen und Proteste für eine Forderung nach Zivilklauseln laut. Studierende und Gewerkschaften wehren sich gegen die zunehmende Einflussnahme der Privatwirtschaft und des Rüstungssektors über Drittmittelprojekte an den Universitäten sowie gegen die zunehmende Beteiligung der Bundeswehr an der Lehre.

In Baden-Württemberg hat sich die LandesStudierendenVertretung den Forderungen des Bildungsstreikbündnisses des Landes und den Gewerkschaften angeschlossen, die die Einführung von Zivilklauseln fordern.3 Die Juso-Hochschulgruppe Stuttgart will eine Zivilklausel im Landeshochschulgesetz verankern.4 In Niedersachsen und in Hessen gab es seit 1994 einen solchen Passus im Hochschulgesetz. Dieser wurde 2002 gestrichen. Zurzeit bemühen sich die Linksfraktionen im niedersächsischen und hessischen Landtag um die Wiederaufnahme der Zivilklausel.

Neuer Beschluss zur Zivilklausel

Der Senat der Universität Tübingen beschloss auf Initiative der Studierenden im Rahmen des Bildungsstreiks eine Zivilklausel als Präambel zur Grundordnung. Seit Semesterbeginn wird an der gewissenhaften Umsetzung dieser neu eingeführten Zivilklausel gezweifelt. Die Berechtigung der Lehrveranstaltung »Angewandte Ethnologie und Militär« mit der Bundeswehrbeschäftigten Dr. Monika Lanik als Lehrbeauftragte wird kontrovers diskutiert. In einem offenen Brief an die Uni-Leitung heißt es, in dieser Lehrveranstaltung würden „Methoden aufgezeigt, wie Ethnologen bei Konflikten (zum Beispiel in Afghanistan) für die Streitkräfte unterstützend tätig werden können, um solche Kriege führ- und gewinnbar zu machen“. Verteidiger der Lehrveranstaltung behaupten, es ginge ausschließlich darum, „die Methoden und Ethikdiskussion des aktuellen Einsatzes von Ethnologen im Militär zu erarbeiten“.5

Mit Verweis auf die Zivilklausel hatten Studentenproteste im April 2010 eine Podiumsdiskussion mit Wolfgang Ischinger, Chef der NATO-Sicherheitskonferenz, verhindert. Nach Mitteilung der Pressestelle der Uni Tübingen existiert eine Zivilklausel. Deren Aufnahme in Drittmittelverträge sei bislang nicht vorgesehen.

Auseinandersetzung um Zivilklausel

Am Karlsruher Institut für Technologie KIT (Campus Nord), dem ehemaligen (Kern)Forschungszentrum Karlsruhe (FZK), gilt seit dessen Gründung eine Zivilklausel, die jegliche Betätigung für militärische Zwecke verbietet. Am KIT (Campus Süd), der ehemaligen Universität Karlsruhe, ist diese Klausel nicht wirksam, was die Zusammenarbeit mit dem Militär grundsätzlich ermöglicht. Seit Bekanntwerden der Pläne für den Zusammenschluss wird heftig darüber debattiert, die Zivilklausel auf das gesamte KIT zu übertragen. Trotz vollständiger Verschmelzungspläne wurde eine Teilklausel beschlossen. „Eine schizophrene Regelung, die keinen Bestand haben kann“, so der Friedensaktivist und ehemalige Betriebsratsvorsitzende des FZK Dietrich Schulze. Schon Anfang letzten Jahres hat er anhand von Fakten das Puzzle eines entstehenden militärisch-industriellen Forschungskomplexes KIT Karlsruhe zusammen gesetzt.6 Der Technikwissenschaftler, Whistleblower und Friedensforscher Subrata Ghoshroy vom MIT sprach am KIT vor den streikenden Studierenden und plädierte für den Verzicht auf Militärforschung. Anhand der Fakten über das vollständig militarisierte MIT zeigte er, dass das dem universitären Geist und der Freiheit von Lehre und Forschung elementar widerspricht.7 Mit über 100 Persönlichkeiten, darunter dem Bürgermeister von Hiroshima, unterzeichnete er einen Internationalen Appell für den Verzicht auf Militärforschung am KIT und Unterbindung von Kernforschung und Waffenforschung unter einem Dach.8 Der Appell ist bisher von der Landes- und Bundesregierung unbeachtet geblieben.

Nicht nur wegen der besonderen Geheimhaltungsnotwendigkeit, sondern auch wegen moralischer Bedenken wird Studierenden, deren Arbeiten Teil eines Rüstungsprojektes bilden, der kriegerische Hintergrund oft verschwiegen. Seit Jahrzehnten verdeckt und seit Herbst 2008 trotz Vertuschung durch die Uni-Leitung und Abstreiten durch die Landesregierung aufgedeckt, ist das Nachrichtentechnische Institut der Universität in Militärforschung eingebunden, aktuell in Kommunikations-Software für multinationale Interventionstruppen. Die Studierenden der Uni Karlsruhe haben in einer Urabstimmung mit 63% für die Zivilklausel votiert. Inzwischen hat sich eine »Initiative gegen Militärforschung an Universitäten« gebildet, in der Studierende, Gewerkschaften und Friedensleute zusammen arbeiten – siehe Webdokumentation.9

Bestehende Zivilklauseln und Praxis

Der Große Senat der Universität Konstanz hatte 1991 die Zivilklausel gegen den Willen der damaligen Landesregierung eingeführt. Dieser wegweisende Beschluss, der aufgrund von Berichten über damalige Doktorandenproteste an der Uni Tübingen Anfang des Jahres wiederentdeckt wurde, gilt bis heute.

Technische Universität Berlin

An der Technischen Universität Berlin ist seit 1991 eine Zivilklausel wirksam. Die starke Verstrickung der TU Berlin mit dem Militär des Dritten Reiches und die Ablösung des Alliiertenstatus gaben Anlass zur Einführung dieser Selbstverpflichtung, um eine verantwortungsvolle und friedliche Forschung und Lehre auch zukünftig sicher zu stellen. Heute steht allerdings fest, dass an der TU Berlin zwischen 2000 und 2003 wehrmedizinische und 2005/2006 wehrtechnische Drittmittelprojekte vom Bundesverteidigungsministerium gefördert wurden.10 Das aktuell von Bundesministerien und Privatwirtschaft finanzierte Airshield Projekt (im Programm »Forschung für die zivile Sicherheit«) beschäftigt sich mit der Entwicklung von Unmanned Aerial Vehicle (UAV) Systemen. Außer der TU Berlin sind die Unis Dortmund, Siegen und Paderborn daran beteiligt. „Häufig wird argumentiert, Drohnen würden zur Bekämpfung und Früherkennung von Staus, Überschwemmungen und Waldbränden entwickelt. Ihr primäres Einsatzfeld ist jedoch Strafverfolgung und Krieg. Ausgerüstet mit entsprechenden Kameras können Porträtaufnahmen aus bis zu 3000 Metern Höhe gemacht werden“ schreibt der AStA der TU.11 Der Akademische Senat der TU Berlin hat im Februar 2010 einstimmig die Einrichtung des neuen Zukunftsfeldes »Zivile Sicherheitsforschung« beschlossen. Die Pressestelle der TU schreibt in einer Einladung des sog. Think Tanks, dass es sich mit „sicherheitsrelevanten Forschungen, wie Sicherheit in Warenketten, biometrischen Erkennungssystemen, der Vertrauenswürdigkeit in IT-gestützten Medizinsystemen und „eGovernment“, also dem Regieren und Verwalten mit Unterstützung moderner Informationstechnologien“ beschäftigen wird. Hier wird sehr deutlich wie das Konzept »dual use« benutzt wird, um zivile Forschung mit militärischen Zwecken zu durchdringen um sie gesellschaftsfähig zu machen. Die kleine Anfrage, die der AStA vor einem Jahr im Senat stellte, ist unbeantwortet und deshalb ist unbekannt, ob noch Drittmittel vom BMVg an die TU Berlin fließen.

Universität Oldenburg

Die Universität Oldenburg verweist auf ihre Grundordnung, in der deutlich gemacht wird, dass sie sich friedlichen Prinzipien verpflichtet fühle. Aber auch hier gibt es Verstöße gegen diese Grundordnung. Wissenschaftler des sozialwissenschaftlichen Instituts der Universität Oldenburg entwickeln Strategien für westliche Militärinterventionen in Entwicklungsländern. Die mittlerweile sogar von der Bundesregierung als Krieg benannten Militäreinsätze, wie etwa in Afghanistan, werden hier als groß angelegte »Sozialreformprojekte« gesehen. Die Aufgabe der Wissenschaftler besteht darin, den Besatzungsmächten kulturelles Verständnis näherzubringen, was u.a. als Hilfsmittel dienen soll zur „Durchsetzung eines Gewaltmonopols“ – auch unter Inkaufnahme ziviler Opfer. Auf deutscher Seite gebe es einen Nachholbedarf an Wissen, das die ehemaligen Kolonialmächte noch gespeichert hätten.12 Das Forschungsprojekt nennt sich »Netzwerk Interventionskultur« und daran beteiligt sind die Universität Marburg, der Sonderforschungsbereich 700 der Freien Universität Berlin und der maßgeblich von der Bundeswehr gestaltete Studiengang »Military Studies« an der Universität Potsdam. Der »Sonderforschungsbereich 700« forscht daran, wie sich Kontrolle und Sicherheit in instabilen Gebieten mit besonders hohem Widerstandspotenzial durchsetzen lassen und an der Akzeptanz für Interventionskriege. Die taz schreibt: „Auch entwickelte Rechts- und Wohlfahrtsstaaten enthalten Räume begrenzter Staatlichkeit, in denen die Durchsetzungsfähigkeit politischer Entscheidung nur begrenzt vorhanden ist“… Man müsse nur an die ‚Berlin-Neukölln‘-Problematik denken, heißt es weiter. „Da geht es nur um Regierbarkeit und die Durchsetzung von Regeln, überhaupt nicht um die Lage der Menschen“, kritisiert Friedens- und Konfliktforscherin Mechthild Exo.13

Universität Bremen

Nach Senatsbeschluss 5113 der Universität Bremen von 1986 ist „jede Beteiligung an Wissenschaft und Forschung mit militärischer Nutzung bzw. Zielsetzung“ abzulehnen und alle „Mitglieder der Universität“ sind aufgerufen, „Forschungsthemen und -mittel abzulehnen, die Rüstungszwecken dienen können.“ Und im Senatsbeschluss 5757 von 1992 wird die „Verpflichtung […] auf zivile Forschung und […] Unterstützung von Rüstungskonversionsprozessen“ bekräftigt. Bereits 2005 protestierte der AStA der Universität gegen Werbung der Fa. Rheinmetall Defence in Praxisbörsen und zivilmilitärische Zusammenarbeit der Uni mit dem Rüstungsprojekt »SAR-Lupe« und dem universitären »Zentrum für Kognitionswissenschaften« für militärische Bildaufklärung.14 Jetzt setzen sich Wissenschaftler, Gewerkschafter und Vertreter aus Kirchen und Friedensbewegung für eine zivile Forschung an der Universität Bremen ohne militärische Ziele ein (Initiative Ziviles Bremen). Sie protestieren gegen die Verknüpfung von Umweltforschung mit militärischen Projekten und Überwachung von Grenzen.15

Technischen Universität Dortmund,

Der Senat der Technischen Universität Dortmund, erklärt die Pressesprecherin, habe in einem Beschluss eine Selbstverpflichtung festgehalten, „dass die Forschung an der TU Dortmund ausschließlich zivilen Zwecken dient und auch zukünftig keine Forschungs- und Entwicklungsvorhaben durchgeführt werden, die erkennbar militärischen Zwecken dienen“. Eine entsprechende Klausel, so die Pressesprecherin der TU Dortmund, ist in den Verträgen der TU Dortmund aufgenommen. Allerdings sollen Kopien oder Textauszüge des Beschlusses, sowie das Datum des Beschlusses geheim bleiben. Im Anhang ist die in der Literatur16 bekannte Fassung von 1991 wiedergegeben. Fest steht, dass wehrmedizinische Forschung im Zeitraum 2000-2004 vom BMVg finanziert wurde.

Proteste gegen Militärforschung

Nur zwei Beispiele seien im Kontext herausgegriffen. An der Universität Potsdam, so der Pressesprecher, gäbe es keine Zivilklausel, da es auch keine Schnittstellen mit der Rüstungsforschung im engeren Sinn gibt. Im WS 2007 wurde jedoch der Studiengang »Military Studies« an der Universität Potsdam eingeführt, zusammen mit zwei Instituten der Bundeswehr, dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt und dem Sozialwissenschaftlichen Institut (SWI). Dort beschäftigen sich die Studierenden vier Semester mit Militär, Krieg und organisierter Gewalt. Die taz titelt: „Diplom-Feldherr in vier Semestern“.17 Gegen die Einführung des Studiengangs gab es beachtliche Studentenproteste. In einem offenen Brief fragen kritische Studierende „inwiefern im Zuge der Kooperation mit militärischen Einrichtungen eine freie und kritische Wissenschaft möglich sein kann“. Die Befürchtung: Bei Seminaren, deren Lehrinhalte von Bundeswehrmitarbeitern gestaltet werden, komme grundsätzliche Kritik an den Einsätzen zu kurz. Durch eben solche »Governance-Konzepte« werden Sozial- und Geisteswissenschaften für Kriegspolitik missbraucht.

Im Mai 2008 gab es an der Universität Kassel heftige Studentenproteste gegen eine Vortragsreihe mit Vertretern der NATO und des Rüstungskonzerns EADS. Die Studierenden sind der Meinung, die Uni gehe mit dem Thema Rüstung und Militär an der Universität Kassel zu leichtfertig um.18 Eine Arbeitsgruppe der Studierenden beantragte beim Senat Forderungen zur Einführung einer Zivilklausel. Im Januar dieses Jahres wurden daraus Teile in vager Form per Beschluss übernommen. Der wichtigste Teil im Sinne einer Zivilklausel wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, sie stehe im Gegensatz zu den Prinzipien der Freiheit von Lehre und Forschung.

Dieses Argument ist durch ein Gutachten des Verfassungsrechtlers Eberhard Denninger widerlegt.19 Er kommt zu dem Schluss, dass Zivilklauseln als selbstverpflichtende Senatsbeschlüsse oder als Hochschulgesetze mit dem auf Frieden ausgerichteten Grundgesetz übereinstimmen.

Die Landes-ASten-Konferenz (LAK) Hessen kritisiert die im Hochschulpakt 2010-2015 vorgesehene Budgetkürzung der Hessischen Hochschulen. Nicht zuletzt ist der Drittmittelzwang eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Lehre und Forschung.20

Diese wenigen Beispiele bezeugen, wie stark und dennoch heimlich die Militarisierung der Hochschulen fortschreitet. Sowohl in der Lehre als auch in der Forschung, in Technikbereichen sowie in Sozial- und Geisteswissenschaften ist das Militär präsent und nimmt aktiv Einfluss.

Vernetzung ist notwendig

Um die vereinzelten Proteste bundesweit zu koordinieren, findet ein erstes Vernetzungstreffen aller Hochschul-ASten und aktiver Studierender am 9. Juli an der Uni Braunschweig statt. Ziel ist es, die Aufklärung, Aufdeckung und Bewusstmachung von militärischer und zivilmilitärischer Forschung an Hochschulen und die Kampagne »Zivilklauseln für alle Hochschulen« voranzubringen.

Anmerkungen

1) http://fiff.informatik.uni-bremen.de/ruin/forsch.htm (1996)

2) http://www.hu-berlin.de/ueberblick/leitbild/ http://www.tu-ilmenau.de/universitaet/wir-ueber-uns/leitbild/

3) http://www.stattweb.de/files/civil/Doku20100323.pdf

4) http://www.jusos-stuttgart.de/downloads/Zivilklausel.pdf

5) Schwäbisches Tagblatt 16.4.2010, junge Welt 20.4.2010

6) Hochschulen und Militärforschung – Friedenswerkstätten oder zivilmilitärische Forschungskomplexe, Wissenschaft & Frieden 2009-3, unsere zeit 30.1.2009 und 8.1.2010, Ossietzky 6/2010

7) junge Welt 1.12.2009, Badische Neueste Nachrichten 2.12.2009

8) http://www.inesglobal.com/campaigns.phtml#cpid493

9) http://www.stattweb.de/files/DokuKITcivil.pdf

10) Antwort Bundesregierung 21.8.2008 auf Kleine Anfrage der Linksfraktion Drs 16/10156

11) AStA TU Berlin info #17, Oktober 2009

12) german-foreign-policy »Interventionskultur« 20.5.2010, Ossietzky 11/2010

13) http://www.taz.de/1/zukunft/schwerpunkt-uni/artikel/1/unkritischer-umgang-mit-regierungsgeld/ (8.2.2010)

14) Rüstungsforschung an der UniWehrsität, Uni-Buch 2008, S.76-78 http://www.asta.uni-bremen.de/wp-content/uploads/2008/11/unibuch2008kleiin.pdf

15) Nur friedliche Forschung – Initiative will ‚Dual Use‘ stoppen, taz 20.2.2010 http://ziviles-bremen.noblogs.org/

16) Der Streit um die Zivilklausel, BdWi-Schriftenreihe Nr. 15 1991, S.312 http://www.stattweb.de/files/civil/Doku20100127.pdf

17) http://www.taz.de/1/berlin/artikel/1/diplom-feldherr-in-vier-semestern/ (11.102007)

18) http://www.kritischeuni.de/wp-content/uploads/2009/07/abk_dokumentation1.pdf „Studierende fordern zivile Uni“, junge Welt 13.1.2010

19) http://www.boeckler.de/pdf/mbf_gutachten_denninger_2009.pdf

20) http://hessen.uebergebuehr.de/news/?uuid=5050db26-e98a-41d4-9b54-89ff020ac267

Dipl.-Ing. Natascha Bisbis absolviert an der FU-Berlin ein Zweitstudium Biologie und Mathematik fürs Lehramt. Die oben beschriebene Umfrage hat sie im Auftrag der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative für Frieden und Zukunftsfähigkeit e.V. durchgeführt.

Afghanistan: Militarisierung der Hilfe

Afghanistan: Militarisierung der Hilfe

von Jürgen Lieser

Als der neue Entwicklungsminister Niebel, kaum im Amt, verlauten ließ, dass Hilfsorganisationen sich andere Geldgeber suchen müssten, wenn sie nicht mit der Bundeswehr in Afghanistan zusammenarbeiten wollten, ging ein Schrei der Entrüstung durch parlamentarische Opposition, NRO-Szene und entwicklungspolitisch interessierte Öffentlichkeit. Dabei hatte Niebel nur etwas auf den Punkt gebracht – zugegebenermaßen diplomatisch nicht sehr geschickt verpackt –, was schon unter der vorherigen Regierung längst gängiges Credo war: nämlich das Konzept der »Vernetzten Sicherheit« oder, wie es im NATO-Jargon heißt, des »Comprehensive Approach«.

Anlass und Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Konzeptes der »Vernetzten Sicherheit« als neues Leitbild staatlicher internationaler Sicherheitspolitik waren die Terroranschläge vom September 2001. Damals erklärte die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall, der bis heute andauert, und es folgte kurz darauf die ebenfalls bis heute andauernde Militärintervention in Afghanistan. Deutschland begründet sein militärisches Afghanistan-Engagement mit der Bündnistreue innerhalb der NATO und mit dem Struck`schen Axiom von der Sicherheit Deutschlands, die auch am Hindukusch verteidigt wird. Immerhin wird jetzt auch im politischen Sprachgebrauch von Krieg oder zumindest von »kriegsähnlichen Zuständen« gesprochen. Das ist zwar nicht ausschlaggebend für die Debatte, bringt aber ein Stück mehr Ehrlichkeit in die Diskussion. Dies ist vor allem gegenüber den Soldaten wichtig, die in Afghanistan täglich ihr Leben riskieren. Sie, die Soldaten, haben schon längst begriffen, dass sie keine »Entwicklungshelfer in Uniform« sind, die Brunnen bohren und Schulen bauen dürfen. Das Engagement ziviler Hilfsorganisationen, die ebenfalls unter hohem Risiko in Afghanistan arbeiten, tritt in der politischen Debatte um die Afghanistan-Strategie meist in den Hintergrund gegenüber dem Bundeswehreinsatz. In dieser Wahrnehmung spiegelt sich auch das Missverhältnis zwischen dem militärischen und dem zivilen Aufwand wider, den Deutschland in Afghanistan betreibt.

»Vernetzte Sicherheit«, so wie sie z.B. im Weißbuch der Bundeswehr von 2006 definiert ist, meint das koordinierte Zusammenwirken politischer, militärischer und ziviler Kräfte, um sicherheitspolitische Ziele durchzusetzen. Allerdings räumt das Weißbuch ein, dass Sicherheit nicht „allein durch Streitkräfte gewährleistet werden“ kann (Kapitel 1.4). Auch Verteidigungsminister von Guttenberg weiß, dass die political correctness im Falle von Afghanistan verlangt darauf hinzuweisen, dass der Konflikt allein mit militärischen Mitteln nicht zu lösen ist, und dass der zivile Wiederaufbau Vorrang haben muss. Warum aber dann weiter mit der Dominanz des Militärischen und der Strategie, durch weitere Truppenaufstockungen in Afghanistan zum Erfolg zu kommen? Warum die zunehmende Unterordnung des zivilen Engagements unter das militärische? Das genau nämlich meint Niebel mit seinem Erpressungsversuch der Hilfsorganisationen. Das ist auch das Ziel der so genannten Provincial Reconstruction Teams, der angeblich so zivilen Wiederaufbauteams, die zu 95 Prozent aus Soldaten und nur zu fünf Prozent aus zivilen Mitarbeitern bestehen.

Das Konzept der »Vernetzten Sicherheit« und die dafür eingeforderte zivil-militärische Zusammenarbeit führt notwendigerweise zu einer Instrumentalisierung ziviler Hilfe für militärische Ziele bzw. zu einer Militarisierung der Hilfe. Es kommt zu einer unseligen Verwischung der Grenzen zwischen den Aufgaben von Streitkräften, die politischer Natur sind, und dem humanitären Mandat ziviler Hilfsorganisationen. Für die NRO ist politische Unabhängigkeit aber eine unverzichtbare Voraussetzung, um in gewaltsamen Konflikten Hilfe nach den humanitären Prinzipien leisten zu können. In Afghanistan führt diese Verwischung der Grenzen zwischen militärischem und zivilem Engagement, wie es im PRT-Konzept zum Ausdruck kommt, auch dazu, dass Hilfsorganisationen als verlängerter Arm der ISAF-Truppen angesehen und damit zur Zielscheibe gewaltsamer Übergriffe werden. Nicht nur für die Unabhängigkeit, sondern auch für den Selbstschutz der Hilfsorganisationen ist es daher angeraten, auf eine konsequente und sichtbare Arbeitsteilung zu achten und eine Zusammenarbeit mit den ISAF-Truppen zu meiden.

Jürgen Lieser ist stellvertretender Vorsitzender von VENRO (Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V.). Vorher war er viele Jahre Leiter der Katastrophenhilfe bei Caritas-Intenational.

»Im Einzelfall« auch gegen Streikende

»Im Einzelfall« auch gegen Streikende

Eine Kleine Anfrage zum Repressivcharakter der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit

von Frank Brendle

Zivil-Militärische Zusammenarbeit (ZMZ) ist seit Jahren das Mantra der offiziösen »Sicherheitspolitik«.1 Militärs und Politiker beschwören vor allem den zivilen Nutzen (der in der Unterstützung ziviler Behörden durch das Militär – etwa bei Naturkatastrophen – liege), aber auch den militärischen (Unterstützung militärischer Behörden durch zivile Kräfte). Eindeutig ist: ZMZ bewirkt, dass innenpolitisch relevante Tätigkeiten der Bundeswehr ihren Ausnahmestatus verlieren und institutionalisiert werden.

In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion2 weist die Bundesregierung empört die Behauptung der Linken-Politikerin Ulla Jelpke zurück, es gebe einen „Kontext der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit zu einer Kriegspolitik“ – und stellt diesen Kontext wenige Sätze später selbst her, indem sie aus dem Weißbuch der Bundeswehr zitiert: „Effiziente Landesverteidigung erfordert verlässliche regionale Strukturen sowie Zivil-Militärische Zusammenarbeit bei Nutzung vorhandener Kapazitäten. Das Konzept der zivilen Verteidigung wird vor diesem Hintergrund fortentwickelt und das Konzept der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit weiter ausgebaut.“

ZMZ bringt angeblich einen Mehrwert für den zivilen Katastrophenschutz. Es läge nahe, das zu überprüfen. „Die Bundeswehr kann den zuständigen Behörden auf Anfrage im Einzelfall eine ergänzende Hilfestellung gewähren“, heißt es in der Anfragebeantwortung. Das war aber auch bisher schon möglich. Statt empirisch begründeter Angaben über den Nutzen der ZMZ erfährt man lediglich Allgemeinplätze. Es wird auf die flächendeckende Verfügbarkeit der Bundeswehr hingewiesen, eine „Verkürzung der Reaktionszeit“ behauptet, die Vertrautheit der Beauftragten der Bundeswehr für die ZMZ (BeaBwZMZ, also der Anführer der lokalen Reservistenkommandos) mit den örtlichen Begebenheiten angeführt. Doch ob Hilfeleistungen nun tatsächlich beschleunigt erfolgen, ob es einen messbaren Fortschritt gibt, das wird an keiner Stelle belegt. Die jetzige und die frühere Struktur des Katastrophenschutzes seinen „nicht vergleichbar“, heißt es lapidar. Von Defiziten im Katastrophenschutz, die Auslöser für die ZMZ gewesen waren, will die Bundesregierung nichts wissen.

Die Etablierung der ZMZ-Strukturen ist mittlerweile weitgehend abgeschlossen, sämtliche Kreis- und Bezirksverbindungskommandos (KVK/BVK) sind aufgestellt.3 Einige »weiße Flecken« gibt es vor allem in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, wo nur rund die Hälfte der Kommandos mit der kompletten Zahl der Offiziere besetzt sind; erklärbar ist dies durch das Fehlen einer »gewachsenen« Reservistenstruktur. Mit der Akzeptanz der ZMZ-Offiziere zeigt sich die Bundesregierung zufrieden. So verfügten nahezu alle BVK und KVK „über Büroinfrastruktur in Anlehnung an die jeweiligen Katastrophenschutzbehörden“ und würden regelmäßig zu deren Zusammenkünften herangezogen. „Aspekte der ZMZ, die auf Ablehnung oder Skepsis stoßen, sind nicht bekannt“, heißt es – das Problembewusstsein der zivilen Behörden lässt wohl zu wünschen übrig bzw. wird von der Hoffnung verdrängt, mit Hilfe der Bundeswehr an den eigenen Kapazitäten sparen zu können. In neun Bundesländern gibt es auf Länderebene zusätzliche Koordinierungsgremien, über deren Zusammensetzung mit Ausnahme Baden-Württembergs derzeit nichts Näheres bekannt ist: Dort sitzen auch US- und französische Militärs mit am Tisch.4

Einsatzrelevanz?

Der in den letzten Jahren zu beobachtende Trend einer rasant zunehmenden Zahl von „Amtshilfeleistungen“ nach GG 35 I hielt auch 2009 an.5 Es ist anzunehmen, dass die verstärkte Anfrage kommunaler Behörden eine Folge des intensiven Kontaktes zu den Reservistenkommandos ist. In Abgrenzung zu den Ausführungen Feiningers (vgl. W&F 3/2009) wertet der Autor dies (noch) nicht als offenen Verfassungsbruch, da das Bundesministerium der Verteidigung als Behörde durchaus Amtshilfe leisten dürfe.

Relevant ist vielmehr die Frage, ob die Tätigkeiten der Bundeswehr einen „Einsatzcharakter“ haben, d.h. ob sie die Grundrechte der BürgerInnen tangieren. Und genau das wird bei der ZMZ mit eingeplant. So antwortete die Bundesregierung auf die Frage der Linksfraktion, ob Maßnahmen ergriffen würden, um auszuschließen, „dass die ZMZ-Strukturen zur Unterstützung polizeilicher Repressivmaßnahmen gegen Streikende und/oder Demonstrantinnen und Demonstranten herangezogen werden“, mit einem knappen „Nein“. Weiter führte sie aus: „Die Beurteilung, ob Großereignisse sowie damit in Zusammenhang stehende Demonstrationen Anlässe für die Zusammenkunft von Katastrophenschutzstäben sein können, obliegt den für die örtliche polizeiliche und nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr zuständigen Landesbehörden.“ Auch ZMZ-Tätigkeiten bei Streiks im Transport, Energie- oder Sanitätssektor sowie bei der Müllabfuhr werden als möglich bezeichnet: Dies sei dem „jeweiligen konkreten Einzellfall vorbehalten“. Alles geschehe „im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben“, heißt es. Das schlösse aus, dass Soldaten ein polizeiliches Vorgehen gegen Streikende unterstützten oder als Streikbrecher agierten. Allerdings ist der Verfassungsrahmen schon beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm bis zum Anschlag gedehnt worden – unter Einbindung der ZMZ-Strukturen.

Etliche Juristen – auch aus dem Umfeld der Bundeswehr – sind der Ansicht, dass Unterstützungsleistungen für die Polizei, wie sie etwa in Heiligendamm geleistet wurden, nicht mehr von GG 35 I gedeckt sind. Welche Rechtsauffassung den ZMZ-Kommandos vermittelt wird, will die Regierung aber nicht offen legen, sie teilt nur pauschal mit: „Die Vermittlung der einschlägigen Rechtslage … ist sichergestellt“.

785 Reservisten sowie 489 zivile Mitarbeiter der Katastrophenstäbe erhielten bis Juli 2009 gemeinsame Schulungen in der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz.6 Die Ausbildung umfasst u. a. „Kenntnisse über die Schnittstellen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit“. Zivilen Katastrophenschützern werden die Weisheiten des Weißbuchs eingebläut, denn das „Gesamtlernziel“ lautet: „Der Teilnehmer soll aus den weltpolitischen Veränderungen der neunziger Jahre die entwickelte neue Sicherheitsstrategie Deutschlands kennen lernen. Der Schwerpunkt wird auf die drei Akteure (Bevölkerungsschutz, Polizei und Bundeswehr) und deren Vernetzung gelegt.“ Dies bestätigt erneut den „Kontext zu einer Kriegspolitik“.

Bewältigung von Menschenmassen

Die bisherige Tätigkeit der ZMZ-Kommandos lässt keinen Zweifel daran, dass es längst nicht nur um Katastrophenschutz geht. Rund die Hälfte aller Anlässe, bei denen die ZMZ geprobt wurde, waren sogenannte Großereignisse: In Mecklenburg-Vorpommern der G8-Gipfel 2007, in Bremen der Evangelische Kirchentag 2008, in Schleswig-Holstein das Seglertreffen »Nautics« 2006. In Niedersachsen war es der »Tag der Niedersachsen«, in Hessen der »Hessentag«, in Nordrhein-Westfalen die Love Parade in Dortmund und der »Sicherheitstag« 2008. In Baden-Württemberg wurden im April 2009 gleich sieben KVK/BVK zum NATO-Gipfel in Anspruch genommen.

Die andere Hälfte waren »klassische« Katastrophen-Hilfseinsätze. Es gibt, wie ausgeführt, keine Hinweise darauf, dass diese nicht auch nach altem Schema hätten gelingen können. Eindeutig ist nur, dass die ZMZ zur Bewältigung größerer Menschenansammlungen genutzt wird.

Informelle Strukturen

Ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist die Herausbildung schwer kontrollierbarer informeller Strukturen. Die ZMZ-Reservisten sind ausdrücklich aufgefordert, mit dem zivilen Behördenpersonal zu fraternisieren und auch außerhalb von Katastrophenlagen engen Kontakt zu unterhalten. Von Relevanz dürfte dies gerade in ländlichen Gegenden sein und überall dort, wo der BeaBwZMZ zugleich in Personalunion örtlicher Feuerwehrchef oder gar Bürgermeister ist.

ZMZ soll auch das Verbundenheitsgefühl der Reservisten untereinander stärken, indem die Bundeswehr »wieder ein Gesicht« in Gegenden erhält, wo es ansonsten keine Ansprechbarkeit für Reservisten gibt. Das dürfte auch dem Reservistenverband Aufschwung verleihen, der eine wesentliche Rekrutierungsbasis für die ZMZ darstellt. Der Verband fordert, per Verfassungsänderung Inlandseinsätze zuzulassen, und ist politisch stark rechts orientiert, was sich unter anderem in einer regen Zusammenarbeit mit geschichtsrevisionistischen Traditionsvereinen und Kameradschaften ausdrückt (Kyffhäuserbund, Bayerischer Soldatenverein, Kameradenkreis der Gebirgstruppe usw.).

Die ZMZ-Reservisten sind hoch motiviert und entwickeln auch Veranstaltungen in Eigenregie. So meldet das Streitkräfteunterstützungskommando, das KVK Lörrach habe „zum internen Teambuilding“ eine Informationsveranstaltung durchgeführt: Geladen war ein Verfassungsschutzmitarbeiter, der in seinem Vortrag „über die Auswirkungen der rechts- und linksradikalen Bewegungen im Lande sprach“. Ein Zufall, dass die Reservisten dieses Breafing über „Extremisten“ im November 2008, also nur wenige Monate vor dem NATO-Gipfel, erhielten?

Weil es hin und wieder verwechselt wird, sei hier darauf hingewiesen: Es sind weniger die aus 12 Reservisten bestehenden Kreis- und Bezirksverbindungskommandos, von denen Einsätze zu befürchten sind. Ins Gewicht fällt vielmehr die institutionalisierte, permanente Einbindung von Soldaten in zivile Strukturen. Die Polizei kann auf dem kurzen Dienstweg Leistungen anfordern, die, würden sie zuvor öffentlich bekannt, (womöglich) verweigert würden.

Diese Strukturen haben vor allem die Funktion, als Vorauskommando zu fungieren. Sie sind dauerhaft vor Ort, behalten die zivilen Behörden im Auge, melden das Lagebild ihren Vorgesetzten und können ggf. nachrückende Streitkräfte einweisen. Genauso wirken sie darauf hin, zivile Behörden und Organisationen in militärische Planungen einzubetten: Im bayerischen Schwarzenbach wurde im Oktober 2009 ein als Folge des Afghanistan-Krieges dargestellter Terrorangriff auf einen Bundeswehrstützpunkt im Inland simuliert. Reservisten mit Sturmgewehren schlugen die Angreifer unter hohen Verlusten zurück – deren Behandlung oblag den zivilen Rettungskräften, die Gewehr bei Fuß standen (Feuerwehr, Bergwacht…).

Durch ZMZ erhält die Bundeswehr Einblick in Katastrophenpläne und Bereitschaftsstand ziviler Rettungskräfte wie auch in polizeiliche Lageeinschätzungen zum Beispiel im Vorfeld von Großdemonstrationen. Spätestens dann, wenn die Bundeswehr zu offenen, bewaffneten Repressivmaßnahmen im Inland übergeht, sind solche Informationen unverzichtbar. Die ZMZ-Strukturen sind deswegen ein elementarer Schritt auf dem Weg zu Inlandseinsätzen.

Anmerkungen

1) Vgl. den Beitrag von Peter Feininger in W&F 3/2009, S.20-24.

2) Bundestagsdrucksache 16/13970.

3) Zur Struktur der ZMZ siehe FN 1.

4) Landtag Baden-Württemberg, Drucksache 14/531.

5) Vgl. Frank Brendle, »Wo viel los ist, ist auch die Bundeswehr«, W&F 3/2009, S.25-27.

6) Zusätzlich besuchten 1853 Reserve-Stabsoffiziere den Stabsdienstlehrgang an der Schule für Feldjäger und Stabsdienst der Bundeswehr.

Frank Brendle ist Journalist, Historiker und Landesgeschäftsführer der DFG-VK Berlin-Brandenburg.