EU opfert ihre zivilen Stärken

EU opfert ihre zivilen Stärken

von Tilman Evers

Mit tausenden von Soldaten samt schwerem Gerät ist die EU derzeit in Bosnien und im Kongo präsent. Handelt es sich tatsächlich um Militärmissionen, die potentiell einen Feind zu bekämpfen haben? Dann reichen weder Truppenzahl noch Bewaffnung. Oder geht es im Kern um die polizeiliche Aufgabe, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern? Dann wären eine andere Doktrin, Schulung und Bewaffnung vonnöten. Ähnliches gilt für den Libanon-Einsatz europäischer Militärkräfte im Auftrag der UN.

Seit Jahren versucht die »Zivilmacht EU«, auch militärisch »glaubwürdig« zu werden. Friedensgruppen warnen vor dieser Militarisierung; sie haben Recht, aber anders als sie meinen: Das Ärgernis ist nicht, dass die EU zur Militärmacht werden könnte – das kann sie gar nicht – sondern dass sie dafür Ressourcen vergeudet, statt entschieden ihre zivilen Stärken auszubauen.

Genau diese zivilen Stärken haben die EU zu einer wirtschaftlichen Weltmacht und zum Ordnungsfaktor in Europa gemacht. Aber in dem Maße, in dem die Union international an Gewicht gewann, wurde auch die traditionell-staatliche Idee wiederbelebt, der außenpolitische Einfluss müsse durch militärische Muskeln gestärkt werden. Das Gegenteil ist der Fall.

Die militärische Komponente der Europäischen Union hat sich in Reaktion auf die Kriege im zerfallenden Jugoslawien herausgebildet. 1999 beschloss die Union, ihre bereits in Maastricht vereinbarte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu erweitern und dafür zivile wie militärische Instrumente der Krisenreaktion bereitzustellen. Eine konzeptionelle Basis dafür wurde in Planungspapieren entwickelt, die in der »Europäischen Sicherheitsstrategie« vom Dezember 2003 gipfelten. Sie räumt ein, dass keine der heutigen Konfliktursachen und Gefahren ausschließlich militärischer Natur seien, und bekennt sich zum Multilateralismus nach Maßgabe des Völkerrechts. Aber sie eröffnet der EU unter dem Begriff »friedenserzwingende Maßnahmen« zugleich die Möglichkeit, weltweit militärisch zu intervenieren, und das auch ohne UN-Mandat. Ähnlich ambivalent liest sich der Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags von 2004: Er bekennt sich zwar zu Frieden, Demokratie und Menschenrechten, enthält aber auch eine Art Aufrüstungsverpflichtung für die Mitgliedstaaten.

Auch in der Praxis sind die militärischen Fähigkeiten weit stärker als die zivilen entwickelt. So sind dem GASP-Sekretariat beim Ministerrat der EU derzeit 150 Militärexperten zugeordnet, während der Stab für zivile Krisenreaktion maximal 25 Personen umfasst, einschließlich des Leitungspersonals für Polizei-, Justiz- und Beobachtungsmissionen. Während heute in Bosnien und im Kongo 7.000 Mann stationiert sind, verfügen die laufenden Zivil- und Polizeimissionen in Bosnien und Mazedonien nur über 700 Kräfte. Das Verhältnis liegt also bei 10:1. Nimmt man die Einsätze europäischer Soldaten im Auftrag der UNO oder der NATO im Libanon, in Afghanistan und anderswo hinzu, wird das Übergewicht des Militärs noch krasser.

Noch 1999 beschloss die EU unter dem Eindruck ihrer Abhängigkeit von den USA im Kosovo-Krieg eine »Schnelle Eingreiftruppe« von 60 000 Mann für ein breites Spektrum von »humanitären« bis »friedenserzwingenden« Maßnahmen. Doch diese Truppe existiert bislang nur auf dem Papier; sie wäre angesichts disparater Militärtraditionen, Waffensysteme und Befehlsstrukturen kaum einsatzfähig. 2004 folgte daraufhin der Beschluss, 13 »Battle Groups« à 1500 Mann für »friedenserzwingende« Kampfeinsätze aufzustellen, die realistischerweise aus einzelstaatlichen Kampfverbänden oder bestehenden bi- oder tri-nationalen Eurocorps bestehen sollen.

Aber auch alle 13 künftigen Battle Groups zusammen machen mit knapp 20.000 Mann noch keine »Militärmacht« aus; jedes Mitgliedsland (außer Luxemburg) hat mehr Truppen. Und wenn von militärischen Fähigkeiten der Union die Rede ist, dann handelt es sich um freiwillig abgestellte Kontingente der Mitgliedsstaaten: Für jede Militärmission muss die EU sich die nötigen Truppen zusammen betteln. Es geht also nicht um militärische Großmacht-Geltung; die haben nur noch einzelne Mitgliedstaaten, nicht die Union.

Auch die enge Verzahnung mit der NATO sorgt dafür, dass die Europäische Union an größere Operationen kaum denken kann. Alle Schritte zum Ausbau ihrer »military capabilities« müssen mühsam mit der NATO abgestimmt werden. Derzeit gilt der Kompromiss, dass die EU auf die Planungs- und Führungseinrichtungen der NATO zurückgreifen kann, aber auf ein eigenes Planungszentrum verzichtet; zugestanden ist ihr eine »Civil-Military Cell« zur Koordinierung der militärischen mit zivilen Aspekten künftiger EU-Missionen. Damit bleibt die NATO das einzig relevante Militärbündnis in Europa, das darüber mit entscheidet, wozu und wie die EU ihre Militärkräfte einsetzt.

Warum also das Odium der Gewaltdrohung auf sich nehmen, wenn so wenig Realität dahinter steht? Man ahnt den Grund: Auch wenn die Battle Groups die Europäische Union nicht zur Militärmacht machen, so können sie doch wirkungsvoll etwa in einen afrikanischen Bürgerkrieg eingreifen. Die Union positioniert sich, mit aller Ambivalenz, als militärischer Weltpolizist, alternativ und konkurrierend zu den USA, mit besonderen Interessen im nahen geografischen Umfeld und in Afrika.

Was ist also gewollt: Militär oder Polizei? So richtig es ist, dass manche Privatmilizen allein durch gutes Zureden nicht zu entwaffnen sind, so richtig ist auch, dass sich keiner der vielen Gewaltkonflikte militärisch lösen lässt. Die Millionen von Kleinwaffen in aller Welt sind nur mit politisch-sozialen Mitteln zu neutralisieren, die Hisbollah kann nur auf politischem Wege eingebunden werden, das Zerstörungspotential des Terrorismus lässt sich nur politisch minimieren. Um in diesem Sinne politisch zu wirken, müsste die EU konsequent beim polizeinahen Blauhelm-Modell bleiben, statt durch eigenes Militär-Gebaren die Gewalt-Logik noch zu verstärken.

Statt in anachronistische Muster des überholten Nationalstaats zu verfallen, sollte die EU ihren weltweiten Einfluss als Zivilmacht stärken, indem sie ihre bewaffneten Kräfte als Völkerrechtspolizei unter dem Dach der zu reformierenden UN aufstellt. Der Unterschied läge nicht nur bei der Bewaffnung und den Entscheidungswegen, sondern vor allem im Denkansatz: Nicht militärische Interessen-Erzwingung, sondern zivile Rechts-Durchsetzung, im Rahmen politischer Lösungen mit diplomatischen Mitteln. Mit einem solchen Neuansatz könnte die EU sich weltpolitisch aufwerten, auch gegenüber den USA. »Humanitäre Interventionen« ließen sich glaubwürdiger von westlicher Interessenpolitik abgrenzen. Und im drohenden Konflikt zwischen westlicher und islamischer Welt könnte die EU glaubwürdiger vermitteln.

Natürlich ist das bestehende Völkerrecht keineswegs ideal, man denke nur an die skandalöse Interessenpolitik der Großmächte im Sicherheitsrat, an der die EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien mitwirken. Aber diesem Völkerrecht entgeht die EU ohnehin nicht: Da die ESVP einstimmige Entscheidungen erfordert, ist eine EU-Mission ohne Mandat der UN undenkbar; es genügt, dass ein einziges Mitgliedsland ein solches Mandat fordert. „Wir sind der Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet“, heißt es in der Sicherheitsstrategie der EU. Das wäre überzeugender, wenn man sich zu allererst an Geist und Buchstaben des Völkerrechts halten würde. Nur eine EU, die sich ohne Wenn und Aber der Autorität des Sicherheitsrats unterstellt, kann die Erweiterung und Reform dieses wichtigsten UN-Organs fordern. Warum also hält sich die EU das Hintertürchen offen, dass sie auch ohne UN-Mandat losschlagen könnte?

Die sicherste Gewähr gegen europäischen Militarismus liegt in den institutionellen Selbsthemmnissen der EU. Bisher haben die Mitgliedsstaaten relevante Souveränitätsanteile nur im Bereich von Wirtschaft, Handel und Finanzen an die EU übertragen. Sachwalter dieser »gepoolten« Wirtschaftssouveränität ist die Europäische Kommission, und nur sie hat den entsprechend großen Stab, ein Milliarden-Budget und politische Handlungsfähigkeit nach außen. Dagegen haben bei der GASP weiterhin die Mitgliedsstaaten das Sagen. Entscheidungen erfordern hier noch immer den Konsens aller Mitgliedsländer bzw. große Mehrheiten. Was als Gemeinsame Außenpolitik erscheint, ist eine mühsame Dauerkoordination zwischen 25 Hauptstädten.

Die EU-Außenpolitik hat zwei Köpfe

Andererseits wurde eigens für Belange der GASP beim Rat ein Sekretariat mit kleinem Stab und Budget geschaffen. Dieses Sekretariat mit seinen Untergremien hat unter Javier Solana als »Mister GASP« eine Eigendynamik entfaltet. Die Außenpolitik der EU hat also zwei Köpfe: Für die sozioökonomischen Bereiche die Kommission, für die Sicherheitspolitik den Rat. Beide Institutionen funktionieren nach unterschiedlicher Logik, so als gehörten sie verschiedenen, ja konkurrierenden Organisationen an. Eine kohärente EU-Außenpolitik, bei der wirtschaftliche und politische Instrumente ineinander greifen, ist so kaum möglich.

Das gilt auch für die entstehenden »military capabilities«: An ihnen sind zu viele Gulliver-Fäden einzelstaatlicher Eifersucht befestigt, als dass sie ohne einen mühsam auszuhandelnden Konsens auf kleinstem Nenner einsetzbar wären. In diesem Filter bleibt auf absehbare Zukunft alles hängen, was über einen (allenfalls »robusten«) Blauhelmeinsatz hinausgeht.

Die institutionelle Machtblockade hemmt aber nicht nur den Ausbau der militärischen, sondern auch der zivilen Instrumente. Hier stellen die Einzelstaaten der EU bislang nur einige Polizeikräfte, kaum aber die dringend benötigten Experten für Justiz und Verwaltung, Menschenrechte und Zivilschutz ab. Weil der Ministerrat für Fragen der Sicherheit, nicht aber für Strukturpolitik zuständig ist, darf er erst tätig werden, wenn eine Krise bereits ausgebrochen ist. Für Prävention und Nachsorge ist dagegen die Kommission zuständig.

Die neuesten Entwicklungen bestätigen die gegensätzlichen Tendenzen. In Abstimmung mit den europäischen Netzwerken zivilgesellschaftlicher Konfliktbearbeitung hat die Kommission die Grundzüge einer »Peacebuilding Partnership« beschlossen. Gegenüber dem Europäischen Parlament kündigte die Außenkommissarin Ferrero-Waldner an, man wolle die operative Fähigkeit für zivile Missionen ausbauen und dabei auch mit nichtstaatlichen Netzwerken zusammenarbeiten, die in fast allen Krisenregionen über vorzügliche Kenntnisse und Zugänge verfügen. Zudem hat die Kommission ein mit zwei Milliarden Euro dotiertes »Stabilitätsinstrument« geschaffen, das vielfältige Hilfsmaßnahmen bei Krisen oder Naturkatastrophen vorsieht.

Ganz anders die Entwicklung im Rat. Generalsekretär Solana hat dem Ratspräsidenten seine Absicht mitgeteilt, alle Abteilungen für militärisches wie ziviles Krisenmanagement im GASP-Sekretariat künftig dem militärischen Stab zu unterstellen. Auch über rein zivile Aktivitäten wie Polizeihilfe oder Rechtspflege würden somit Militärs befinden. Die Begründung klingt rein pragmatisch: Im Sekretariat gebe es weitaus mehr militärisches Personal, dem es oft an sinnvollen Aufgaben fehle, während die wenigen Zivilisten chronisch überlastet seien! Das zeigt, dass man die Unterschiede zwischen militärischen und zivilen Denkwelten entweder nicht kennt oder bewusst ignoriert. Bekannt ist, dass Großbritannien und besonders Frankreich die Militarisierung der ESVP vorantreiben. Beide Länder haben durchgesetzt, dass der Leiter der »Civil-Military Cell« ein Militär ist und nur sein Stellvertreter ein Zivilist.

Im Gefüge der EU lagen die operativen Funktionen bislang ganz überwiegend bei der Kommission; die sichtbare Tendenz, dass sich das Sekretariat des Rats zum zweiten operativen Zentrum neben und gegen die Kommission entwickelt, vermehrt die Inkohärenz statt sie zu mindern. Hier sind auch machtpolitische Ambitionen im Spiel: Für die Leitung künftiger Missionen möchte Solana im Regelfall einen Beamten seines Stabes nominieren; das würde den Einfluss der Mitgliedsländer mindern, die bisher über diese Besetzung mit entschieden haben. Und entgegen früheren Beschlüssen, wonach die Kommission beim Entwurf von Konzepten und Länderstrategien zu beteiligen ist, soll dafür nun Solanas Sekretariat allein zuständig sein.

Allerdings gibt es auch innerhalb des Rats unterschiedliche Bestrebungen. So will die finnische Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2006 die zivilen Aspekte der Konfliktbearbeitung voranbringen und lässt dazu die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft prüfen; erwartet wird, dass die deutsche Präsidentschaft ab 2007 diesen Ansatz fortführt. Das Sekretariat meidet dagegen weiterhin die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren.

Europa hat einen unvergleichlichen Reichtum an Erfahrungen und Ressourcen der nichtmilitärischen Konfliktbewältigung. Gerade vor dem Hintergrund der Vergangenheit ist die europäische Integration eines der erfolgreichsten Friedensprojekte der Weltgeschichte. Die dabei entwickelten Strukturen geteilter Souveränität sind weltweit einmalig und friedenspolitisch wegweisend. Die in der EU erprobten Verhandlungssysteme haben zu Stabilität und Wohlstand beigetragen. Ein Global Player ist die EU dank ihrer zivilen und nicht ihrer militärischen Mittel; nur hier liegen ihre Vorteile gegenüber der Militärmacht der USA und anderen geopolitischen Akteuren. Warum also sollte der zivile Riese ein militärischer Zwerg werden wollen?

Und noch etwas gilt es zu beachten: Schon jetzt unterliegt die EU-Militärpolitik keiner parlamentarischen Kontrolle. Ihr weiterer Ausbau würde das Demokratiedefizit der Europäischen Union noch verstärken, und damit die Skepsis ihrer Bürger. „Die EU sollte Demokratie nicht anderswo erzwingen, sondern bei sich verwirklichen“, schreibt der Friedensforscher Johan Galtung. Eine bewaffnete Völkerrechtspolizei ließe sich demokratie- und gemeinschaftsverträglich gestalten; militärische Kulissen nicht. Eine weitere Militarisierung würde den Machtetatismus in die Union hineintragen und damit deren Risse vertiefen, ohne den außenpolitischen Einfluss Europas zu stärken.

Vergleich der Militärischen und Zivilen Fähigkeiten der EU

Zivile Fähigkeiten

nominell von Mitgliedsländern für zivile Einsätze zugesagt:

Polizei 5761 Kräfte
Justiz 631 Kräfte
Zivile Verwaltung 562 Kräfte
Zivilschutz 4988 Kräfte
Beobachter 505 Kräfte
Andere Gebiete 391 Kräfte
Insgesamt ca. 12.800 Kräfte

real:

Mitarbeiter im Generalsekretariat des Rats für kurzfristiges ziviles Krisenmanagement: max. 25
Mitarbeiter in der Kommission für langfristige zivile Krisenprävention und Friedenskonsolidierung: ca. 10

Militärische Fähigkeiten

nominell von Mitgliedsländern für militärische Einsätze zugesagt:

Rapid Reaction Force 60.000 Kräfte (bis 2010 zugesagt)
13 Battle Groups à 1500 = 19.500 Kräfte (ab 2007 zuges.) (jeweils x3 für Ablösung und Logistik)
Insgesamt min. 180.000, max. 240.000 Kräfte

real:

Militärpersonal im Generalsekretariat des Rats: min. 150
Europäische Verteidigungsagentur 80 Mitarbeiter
(2005, noch im Ausbau)
Europäisches Verteidigungs-Kolleg (im Aufbau) Anzahl der Mitarbeiter noch nicht bekannt
Martina Weitsch 2005, überarb. Tilman Evers 2006

Tilman Evers ist Privatdozent für Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin Wir danken der Redaktion von Le Monde diplomatique, für deren deutschsprachige Ausgabe (September 2006 S. 9) der Artikel geschrieben wurde, für die Nachdruckerlaubnis. Der Artikel wurde vom Autor für W&F an einigen Stellen aktualisiert und durch den Kasten ergänzt.

Militärpolitische Leitlinien zur zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC)

Militärpolitische Leitlinien zur zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC)

von NATO

An dieser Stelle war ein Interview zur zivil-militärischen Zusammenarbeit aus der Sicht der Bundeswehr vorgesehen. Die Fragen sind formuliert und die grundsätzliche Zusage für ein Interview liegt seit August vor. Aber leider gab es ein Terminproblem. Wie uns die Pressestelle der Bundeswehr mitteilte, steht uns „ein hochrangiger Experte der Bundeswehr“ zur Beantwortung unserer Fragen erst für die W&F-Ausgabe 1-2007 zur Verfügung. Um in der aktuellen Ausgabe aber zumindest einen Einblick in ein militärisches Grundverständnis von zivil-militärischer Zusammenarbeit zu vermitteln, haben wir uns entschlossen, hier das einschlägige NATO-Dokument MC 411/1 vom 18. Januar 2002 abzudrucken.1 Es erscheint uns weitgehend selbsterklärend.

Abschnitt 1 – Einführung

Allgemeines

1. Im Rahmen einer von der NATO durchgeführten militärischen Operation entfaltet sich ein breites Spektrum von Beziehungen zwischen den Streitkräften der Allianz und den Zivilbehörden, der Bevölkerung, anderen Organisationen und Einrichtungen. Die Art dieser Beziehungen hängt ab von der Art der durchgeführten Aktivitäten, weshalb innerhalb dieses Spektrums unterschiedliche Voraussetzungen gelten. Im Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit herrscht eine wechselseitige Abhängigkeit: Zunehmend ersuchen zivile Behörden um Hilfe durch militärische Mittel, andererseits ist die zivile Unterstützung für militärische Operationen wichtig.

Ziel

2. Mit diesem Dokument wird angestrebt, Leitlinien für die NATO-Militärpolitik zur CIMIC festzulegen.

Abschnitt 2 – Begrifflichkeit und Geltungsbereich

Zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC) bei Einsätzen

3. Veränderungen des Umfeldes, in dem die NATO operieren könnte, haben zur Entwicklung eines neuen Strategischen Konzepts (SC 99) geführt. Im SC 99 wird festgestellt, dass die Interaktion zwischen NATO-Streitkräften und dem zivilen Umfeld, in dem sie operieren, für den Einsatzerfolg wesentlich ist. Dies gilt sowohl für die kollektive Verteidigung (Collective defence operations, CDOs) als auch für Nicht-Artikel-5-Operationen zur Krisenbewältigung (Crisis response operations, CROs); allerdings ist dabei die höhere Wahrscheinlichkeit einer CRO gegenüber einer CDO zu unterstreichen. In MC 400/2 wird sogar festgestellt, dass Operationen zur Krisenbewältigung aufgrund ihrer multifunktionalen Natur erfordern, dass alle beteiligten militärischen und zivilen Einrichtungen und Organisationen ohne Einschränkung zusammenarbeiten.

4. CIMIC erleichtert die Zusammenarbeit zwischen einem NATO-Befehlshaber und allen Teilen des zivilen Umfelds innerhalb seines Gemeinsamen Einsatzgebiets (Joint Operations Area, JOA). CIMIC ist: Die der Unterstützung des Auftrags dienende Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen dem NATO-Befehlshaber und den zivilen Akteuren, die Bevölkerung vor Ort ebenso eingeschlossen wie kommunale Behörden und nationale, internationale und Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen.

Weitere Aspekte der zivil-militärischen Beziehungen

5. Zivile Notfallplanung (CEP). Im Allgemeinen dient die CEP (Civil Emergency Planning) dem Schutz und der Hilfe für die Bevölkerung, meist im Katastrophen- oder Kriegsfalle. Im aktuellen Sicherheitsumfeld besteht eine zentrale Funktion der CEP darin, im Hinblick auf die militärische Planung bei Artikel-5- und bei Nicht-Artikel-5-Operationen reaktionsfähig zu bleiben. Dafür ist Sorge zu tragen, indem Vorbereitungen zur Koordinierung ziviler Hilfseinsätze, die für den Einsatzerfolg nach wie vor wesentlich sind, eingeplant werden.

6. Militärhilfe (Military Assistance in Humanitarian Emergencies, MAHE). Im Falle der Katastrophenhilfe und der Hilfe in anderen zivilen Notfällen, die nicht mit NATO-Militäreinsätzen verbunden sind, können nationale militärische Potentiale zur Unterstützung der die Notfallhilfe beaufsichtigenden zivilen Behörden eingesetzt werden. Für diesen Fall sind in MC 343 die NATO-Leitlinien der Militärhilfe bei Internationaler Katastrophenhilfe [Military support for International Disaster Relief Operations] dargestellt; dort wird der Einsatz militärischer und ziviler Kräfte und Mittel in der Katastrophenhilfe [Military and Civil Defense Assets, MCDA] beschrieben. Der Nordatlantikrat (NAC) muss die Nutzung gemeinsamer alliierter militärischer Kräfte und Mittel für solche zivilen Aktivitäten genehmigen.

Im Falle von Artikel-5- oder Nicht-Artikel-5-Operationen kann es sein, dass sich Streitkräfte der Allianz mit ihrem Beitrag zur Krisenbewältigung durch Militäreinsätze auch mit humanitären Notlagen befassen müssen. Während humanitäre Hilfe primär eine Mission für die Host Nation (den »Aufnahmestaat« ) ist und in der Zuständigkeit der UN liegt, kann die Präsenz der die Militäroperationen durchführenden NATO-Streitkräfte dazu führen, dass die Allianz auf zivile Anforderungen rasch reagieren muss. In diesem Falle werden militärische Kräfte und Mittel für begrenzte Aufgaben im Rahmen des Potenzials durch die militärische Befehlskette und gemäß dem vom NAC genehmigten Operationsplan (OPLAN) zur Verfügung gestellt.

7. Unterstützung durch den Aufnahmestaat (Host Nation Support, HNS). Mit der HNS wird angestrebt, den NATO-Befehlshaber und die Entsendestaaten im verfügbaren Rahmen mit Material, Einrichtungen und Diensten zu unterstützen; dazu gehören auch der Schutz von Räumen und administrative Unterstützung gemäß den zwischen Entsendestaaten und/oder NATO und dem Aufnahmestaat getroffenen Vereinbarungen. Als solche erleichtert die HNS den Aufmarsch von Streitkräften in einem Operationsgebiet, indem die Aufnahme, die Sammlung und die Verlegung unterstützt werden. HNS kann ferner den für den Unterhalt und die Verlegung von Truppen erforderlichen Umfang von logistischen Verbänden und Material reduzieren, der sonst von den Entsendestaaten zu gewährleisten ist. Die CIMIC kommt in der Regel dann zum Tragen, wenn es darum geht, die Durchführung der HNS insbesondere im Hinblick auf die Nutzung von HNS-Ressourcen zu erleichtern.

Die Durchführung der CIMIC zur Unterstützung von Operationen

8. Allgemeines. NATO-Operationen müssen bei der Planung und Durchführung von Militäreinsätzen soziale, politische, kulturelle, religiöse, ökologische und humanitäre Faktoren berücksichtigen. Des Weiteren müssen NATO-Befehlshaber die Präsenz immer größerer Zahlen ziviler internationaler und Nichtregierungsorganisationen berücksichtigen. Unterschiede in Kultur und Auftrag zwischen den betroffenen militärischen und zivilen Organisationen können diese schwierigen Umstände noch komplizieren. Effiziente Beziehungen zwischen den militärischen und zivilen Behörden, Organisationen, Einrichtungen und Bevölkerungsgruppen im JOA herzustellen trägt dazu bei, den nicht-militärischen Beitrag zum Erreichen eines stabilen Umfeldes zu maximieren und Konflikte zu minimieren. Der NAC legt den Rahmen für die Beteiligung der im Einsatz befindlichen militärischen Kräfte an zivilen Aktivitäten fest.

9. Zwecke der CIMIC. Unmittelbarer Zweck der CIMIC ist es, die uneingeschränkte Zusammenarbeit von NATO-Befehlshaber und zivilen Behörden, Organisationen, Einrichtungen und Bevölkerung im Operationsgebiet des Befehlshabers zu etablieren und zu erhalten, um ihm die Erfüllung seines Auftrags zu ermöglichen. Dazu kann die direkte Unterstützung der Ausführung eines zivilen Plans gehören. Der langfristige Zweck der CIMIC besteht in ihrem Beitrag zur Schaffung und zum Erhalt von Bedingungen, die das Erreichen der mit den Operationen verbundenen Bündnisziele fördern.

10. Schnittstellen. Die CIMIC ist die Schnittstelle zu den zivilen Behörden und ist als Unterstützung sowohl für Operationen unter Anwendung von Artikel 5 (CDOs) als auch für Nicht-Artikel-5-Operationen (CROs) zu betrachten. Bei CIMIC handelt es sich also um einen in die Kommandostruktur integrierten Tätigkeitsbereich im Kontext des gesamten Operationsplans und nicht um eine eigenständige Aktivität.

11. Geltungsbereich. CIMIC bedeutet weder militärische Kontrolle ziviler Organisationen oder Einrichtungen noch das Umgekehrte. Bei CIMIC ist vorausgesetzt:

a. Das Militär ist in der Regel nur für sicherheitsbezogene Aufgaben und für die Unterstützung der entsprechenden zivilen Behörden – im Rahmen der Kräfte und Mittel – zur Durchführung ziviler Aufgaben zuständig, wenn dies (gegebenenfalls) zwischen dem betreffenden Militärbefehlshaber gemäß OPLAN und den zuständigen zivilen Behörden vereinbart wurde.

b. Unter außergewöhnlichen Umständen kann es notwendig sein, dass das Militär Aufgaben übernimmt, für die normalerweise eine geeignete zivile Behörde, Organisation oder Einrichtung verantwortlich ist. Solche Aufgaben werden nur übernommen, wenn eine geeignete zivile Institution nicht existiert oder nicht in der Lage ist, ihren Auftrag auszuführen, und sonst ein unzumutbares Vakuum entstehen würde. Das Militär muss darauf eingestellt sein, solche notwendigen Aufgaben, wenn es von der zuständigen zivilen Behörde darum ersucht und ihm von der NATO die Genehmigung dazu erteilt wurde, solange zu übernehmen, bis die geeignete zivile Behörde, Organisation oder Einrichtung zur Bewältigung dieser Aufgaben in der Lage ist.

c. Die Verantwortung für zivile Aufgaben wird der geeigneten zivilen Behörde, Organisation oder Einrichtung übertragen, sobald dies zweckmäßig ist; es geschieht möglichst reibungslos.

d. Es kommt häufig vor, dass das Militär Zugriff auf örtliche zivile Ressourcen haben muss. In solchen Fällen werden alle Anstrengungen unternommen, um nachteilige Auswirkungen auf die örtliche Bevölkerung, Wirtschaft, Umwelt, Infrastruktur oder die Arbeit humanitärer Organisationen zu vermeiden.

e. Es werden alle zweckmäßigen Maßnahmen ergriffen, um die Beeinträchtigung der Neutralität und Unparteilichkeit humanitärer Organisationen zu vermeiden.

12. Integrierte Planung. Das Obenstehende erfordert eine integrierte Planung sowie enge Arbeitsbeziehungen zwischen Militär und den geeigneten zivilen Organisationen und Einrichtungen vor und während eines militärischen Einsatzes. Diese Beziehungen werden sowohl im Operationsgebiet als auch auf der Ebene des Strategischen Kommandos oder darunter – wo die militärische Planung erfolgt – gepflegt. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es nicht immer möglich ist, solche Beziehungen oder Planungsmechanismen, selbst dort, wo sie existieren, auf formeller Ebene zu nutzen.

Abschnitt 3 – Politik

Allgemeines

13. Im Sinne des Bündnisses gründet sich die CIMIC auf die Führung durch den Nordatlantikrat (NAC). Auf dieser Grundlage sind in erster Linie die NATO-Militärbehörden (NMAs) für die Planung und Durchführung von CIMIC-Aktivitäten innerhalb ihres Operationsraumes verantwortlich. Falls erforderlich, stimmen sich die NMAs mit den zuständigen Ausschüssen des Nordatlantikrats ab.

14. Die CIMIC-Doktrin, operative Erfordernisse sowie Verfahren und Standards werden folgendermaßen abgestimmt:

a. Das Hauptziel der Allied Joint Publication AJP-9 – der »NATO Civil-Military Cooperation (CIMIC) Doctrine« – besteht in Richtlinien für die Planung und Durchführung der CIMIC zur Unterstützung von Operationen, an denen NATO-Streitkräfte beteiligt sind. Wenngleich dieses Dokument in erster Linie zur Verwendung durch NATO-Streitkräfte gedacht ist, gilt die Doktrin gleichermaßen für Operationen, die von Koalitionen aus NATO- und Nicht-NATO-Staaten durchgeführt werden.

b. Gegebenenfalls wird die CIMIC in Dokumente über operative Erfordernisse und Einsatzaufträge einbezogen.

c. Es werden auf die Interoperabilität bezogene Standards und Verfahren entwickelt und durchgeführt, um ein CIMIC-Potenzial zu erzielen, das interalliierten und teilstreitkraftübergreifenden Erfordernissen genügt und die Integration nationaler Potenziale ermöglicht.

d. Innerhalb der gesamten integrierten Kommandostruktur der NATO sollten die CIMIC-Stabselemente gestärkt werden.

e. Die NATO-Staaten sollten eigene CIMIC-Potenziale zur Unterstützung der CIMIC-Doktrin, -Erfordernisse und -Verfahren entwickeln, wie durch die Streitkräfteplanung festgelegt.

Abstimmung und Zusammenarbeit

15. Die CIMIC muss ein integraler Bestandteil der gesamten Operation sein, was enger Abstimmung mit anderen militärischen Potenzialen und Maßnahmen bedarf.

16. Um den größten Nutzen aus der CIMIC zu ziehen, ist ein einheitliches Vorgehen notwendig. Die nationalen CIMIC-Aktivitäten und die CIMIC-Aktivitäten der NATO in einem Operationsgebiet sollten eng aufeinander abgestimmt und konfliktfrei gestaltet werden, ohne die Erfordernisse der unteren Führungsebenen zu beeinträchtigen. Am besten sind Kommandoregelungen, die eine koordinierte Führung von CIMIC-Aktivitäten erleichtern.

17. Dem Gesamtziel sind Spannungen zwischen politischen, militärischen, humanitären, ökonomischen und anderen Komponenten der zivil-militärischen Beziehungen abträglich. Um solche potenziell instabilen Situationen zu verhindern und zu entschärfen, ist Transparenz von grundlegender Bedeutung, weil sie Vertrauen schafft und das gegenseitige Verständnis fördert. Deshalb ist die CIMIC-Interaktion mit zivilen Behörden und Organisationen, wann immer möglich, von Transparenz bestimmt.

18. Die CIMIC bietet eines von mehreren wirksamen Instrumenten, die dem Befehlshaber zum Erreichen der Gesamtziele zur Verfügung stehen. Um dieses Potenzial aber weitestgehend auszuschöpfen, ist es wichtig, dass militärische und zivile Organisationen, sofern möglich, gemeinsame und übereinstimmende Ziele festlegen. Diese sind bereits in einem frühen Stadium der Planung zu ermitteln, gemäß politischer Vorgaben, die die militärischen Befehlshaber in die Planung zur Durchführung ihrer Einsätze einbeziehen müssen.

19. Die notwendige Zusammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Organisationen und Einrichtungen bei Einsätzen sollte durch Kontakte auf Arbeitsebene und die wechselseitige Teilnahme an CIMIC-Seminaren, Schulungen und Übungen unterstützt werden.

Abschnitt 4 – Zuständigkeiten

Zuständigkeiten des Militärausschusses

20. Die speziellen Zuständigkeiten des NATO-Militärausschusses sind folgende:

a. Dafür Sorge zu tragen, dass CIMIC-Aspekte gegebenenfalls in andere MC-Leitlinien und -Dokumente einbezogen werden.

b. Orientierung für die Durchführung der CIMIC zu bieten, da sie sich auf militärische Operationen, Übungen und Schulungen bezieht.

c. Innerhalb der NATO und erforderlichenfalls in enger Kooperation mit an der Partnerschaft für den Frieden teilnehmenden Staaten/truppenstellenden Nicht-NATO-Staaten die Zusammenarbeit und Abstimmung in allen CIMIC-Angelegenheiten zu fördern.

d. Den NAC zu beraten und gegebenenfalls bei ihm Rat einzuholen.

e. Nach Bedarf die Strategischen Befehlshaber zu führen.

Zuständigkeiten der Strategischen Befehlshaber

21. Die speziellen Zuständigkeiten der Strategischen Befehlshaber sind die folgenden:

a. Das CIMIC-Potenzial in ihrem Befehlsbereich zu entwickeln und/oder auszubauen.

b. Die CIMIC-Konzepte, -Pläne und -Verfahren in Übereinstimmung mit den Weisungen des Militärausschusses zu entwickeln, abzustimmen und zu aktualisieren.

c. In ihrer Kommandantur und den nachgeordneten Kommandobehörden die CIMIC-Stäbe (oder vergleichbare) sowie geeignete Schnittstellen zu zivilen Organisationen einzurichten.

d. Dafür Sorge zu tragen, dass die nachgeordneten Kommandobehörden über die Doktrin, Orientierung und standardmäßigen Arbeitsabläufe verfügen, die zur Durchführung von CIMIC-Plänen gemäß der NATO-Krisenvorsorge erforderlich sind.

e. Den politischen Behörden der NATO die Anforderungen an die CIMIC zur Unterstützung militärischer Operationen zu übermitteln.

f. Die Durchführung der CIMIC nach Genehmigung durch den Militärausschuss zu koordinieren und zu beaufsichtigen.

g. Anträge für Forschung und Entwicklung zur Verbesserung der CIMIC-Projekte anzuregen.

h. Standards für Schulungen zu entwickeln und CIMIC-Schulungen in Manövern durchzuführen.

i. CIMIC-Krisenvorsorge zur Genehmigung durch den MC/NAC zu prüfen und zu entwickeln.

Anmerkungen

1) Quelle: NATO International Military Staff. MC 411/1 (18-Jan-2002): NATO Military Policy on Civil-Military Cooperation

Helfer in Uniform?

Helfer in Uniform?

Militäreinsätze in der humanitären Hilfe

von Peter Runge

Im Juli 2006 ordnete Verteidigungsminister Franz-Josef Jung an, dass sich die deutschen Soldaten in Afghanistan nur noch in gepanzerten Fahrzeugen bewegen dürfen. Hintergrund dieses Befehls ist die dramatische Verschlechterung der dortigen Sicherheitslage. Noch nie seit der Einsetzung der »International Security Assistance Force« (ISAF) durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Ende 2001 sind so viele Menschen in Afghanistan Terrorangriffen zum Opfer gefallen: Mehr als 1.700 Menschen, darunter auch 60 ausländische Soldaten, wurden seit Beginn des Jahres 2006 getötet.1 Auch die Bundeswehrsoldaten in Kabul und in Nordafghanistan sind zunehmend zur Zielscheibe von Sprengstoff- und Raketenanschlägen geworden. Im Juli 2006 meldete die Bundeswehr, dass im laufenden Jahr bereits mehr Attentate auf die deutschen ISAF-Truppen verübt worden seien als im ganzen Jahr 2005. Interne Lageberichte sprechen von einer „neuen Qualität der Gefährdung“2 für die Bundeswehr im Norden Afghanistans, der bisher als friedlich galt. Auch die in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen sind in den Sog der zunehmenden Gewalt geraten. Offensichtlich werden sie von den Taliban und anderen terroristischen Gruppierungen als Teil der westlichen Interventionsstrategie wahrgenommen. Im Jahr 2005 wurden 31 Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen ermordet; 2004 waren es 24, darunter fünf Helfer von Médecins sans Frontières (MSF). Die Organisation beschloss darauf hin, alle Hilfsmaßnahmen in Afghanistan einzustellen, und verwies auf eine zunehmende Instrumentalisierung der humanitären Hilfe durch die von den USA geführte Koalition in Afghanistan. Amerikanische Streitkräfte hatten im Südosten des Landes Flugblätter verteilt, in denen die Bevölkerung zur Kooperation im Antiterrorkampf aufgefordert wurde. Im Gegenzug wurden weitere Nahrungsmittelpakete in Aussicht gestellt, im Falle der Nichtkooperation die Einstellung der Hilfslieferungen angedroht. Kaum ein Beispiel könnte die Instrumentalisierung der humanitären Hilfe besser illustrieren als dieser Versuch, humanitäre Hilfe in militärisch-strategische Überlegungen einzubetten.

Die jüngsten Angriffe auf die Mitarbeiter/innen von humanitären Hilfsorganisationen in Afghanistan zeigen, dass die Grenzen zwischen militärischen und humanitären Akteuren zunehmend verwischt werden. Die deutschen Hilfsorganisationen haben sich klar gegen eine Vermischung von humanitärer Hilfe und militärischen Zielsetzungen in Afghanistan ausgesprochen.3 Welche Gründe haben die humanitären Hilfsorganisationen dafür? Wie sind die bisherigen Erfahrungen deutscher Nichtregierungsorganisationen (NRO) in der Zusammenarbeit mit der Bundeswehr?

Grundlagen der humanitären Hilfe

Humanitäre Hilfe richtet sich an die Opfer von Krisen und Katastrophen und hat zum Ziel, Leben zu retten und menschliches Leid zu mildern. Sie wird unabhängig von der ethnischen, religiösen und politischen Zugehörigkeit der Opfer geleistet. Humanitäre Hilfe wird seit jeher von zivilen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen geleistet, die nach ihrem Selbstverständnis und Rechtsstatus eigenständig und politisch unabhängig handeln und allein den humanitären Prinzipien und dem humanitären Völkerrecht verpflichtet sind. Die normativen Grundlagen in der humanitären Hilfe beruhen in erster Linie auf den Genfer Konventionen von 1949, den Zusatzprotokollen von 1977, dem Völkergewohnheitsrecht sowie auf den Grundsätzen, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung im Rahmen ihrer bald 150jährigen Geschichte erarbeitet haben. Der »Verhaltenskodex für die Internationale Bewegung vom Roten Kreuz und Roten Halbmond und nichtstaatliche Hilfswerke in der Katastrophenhilfe«, der von mehr als 300 Hilfsorganisationen unterzeichnet wurde, definiert zehn Grundprinzipien für das Verhalten von Hilfsorganisationen und ihres Personals als Qualitäts- und Leistungsstandards in der humanitären Hilfe. Im Zentrum dieser humanitären Prinzipien stehen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Hilfe.

Zivil-militärische Zusammenarbeit

Verschiedene sicherheitspolitische Dokumente, von den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« aus dem Jahr 2003, über die Europäische Sicherheitsstrategie (Solana-Doktrin) bis hin zum Entwurf für das Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und der Zukunft der Bundeswehr, zeigen, dass der Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee („Armee im Einsatz“) in vollem Gange ist und zukünftig die Reaktion auf internationale Konflikte, asymmetrische Bedrohungen, Terrorismus und Massenvernichtungswaffen im Mittelpunkt deutscher Sicherheitsfragen stehen. Die Ausdehnung des Mandats der Bundeswehr kulminierte in der Aussage des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck, dass die Sicherheit der Bundesrepublik auch am Hindukusch verteidigt werde.4

In der Öffentlichkeit wird die Umstrukturierung der Bundeswehr auch mit neuen Anforderungen im Bereich der Krisenbewältigung und der humanitären Hilfe legitimiert. Dementsprechend ist auch der Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit ausgebaut worden. So hat die Bundeswehr ein eigenes »Civil-Military Cooperation« (CIMIC)-Konzept entwickelt, das die Zusammenarbeit militärischer Dienststellen mit zivilen Behörden, Institutionen und Einrichtungen beschreibt und in dessen Aufgabenspektrum nach militärischem Verständnis auch die humanitäre Hilfe fällt. Hauptzweck von CIMIC ist die »force protection«: die Unterstützung der Truppe durch vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber der lokalen Bevölkerung. Zu diesen einsatzbegleitenden Maßnahmen der Streitkräfte können auch unmittelbare Hilfeleistungen an die Bevölkerung, zum Beispiel die Reparatur von Schulen oder Krankenhäusern oder das Verteilen von Schulheften oder Nahrungsmitteln, gehören. Aus Sicht der Streitkräfte sind solche »hearts and minds«-Aktivitäten ein probates Mittel, um die eigene Sicherheit zu erhöhen. Nach seinem letzten Besuch in Nordafghanistan im Juli 2006 sagte Verteidigungsminister Jung, dass man der Bevölkerung in Afghanistan „verdeutlichen müsse, dass die deutschen Soldaten Gutes täten, dann ließen auch die Terroranschläge nach.“5

Für die deutsche Diskussion über zivil-militärische Zusammenarbeit sind die 2004 eingerichteten »Provincial Reconstruction Teams« (PRTs) in Afghanistan besonders relevant. Nach dem Konzept der Bundesregierung sollen nach dem Motto „Keine Entwicklung ohne Sicherheit“ rund 500 Bundeswehrsoldaten in den nordafghanischen Städten Kunduz und Faizabad den Wiederaufbau, den Demokratisierungsprozess und die Autorität der Zentralregierung in Kabul sichern helfen. Auch die zivilen Akteure sollten ursprünglich in die Bemühungen um den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau eingebunden werden. Bei den deutschen Hilfsorganisationen ist dieses Konzept auf wenig Gegenliebe gestoßen. Zwar wird von der Bundesregierung der „erfolgreich praktizierte zivil-militärische Ansatz der regionalen Wiederaufbauteams“6 hervorgehoben, aber in der Praxis der Zusammenarbeit hat sich eine sichtbare – auch räumliche – Trennung der entwicklungs- und sicherheitspolitischen Komponenten durchgesetzt. Eine Auswertung der Erfahrungen aus der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Rahmen der deutschen PRTs steht jedoch noch aus.

Verschiedene Akteure haben bereits Versuche unternommen, die Möglichkeiten und Grenzen zivil-militärischer Zusammenarbeit – auf der Grundlage der humanitären Prinzipien – in Form von Richtlinien zu beschreiben. Die wichtigsten sind die vom »Office for the Coordination of Humanitarian Affairs« (OCHA) der Vereinten Nationen (VN) veröffentlichten »Oslo Guidelines«, die die zivil-militärische Zusammenarbeit in Naturkatastrophen und politischen Konflikten beschreibt. Die »Oslo Guidelines« unterstreichen, dass militärische Aktivitäten grundsätzlich nicht mit VN-Aktivitäten in der humanitären Hilfe vermischt werden sollen. Darüber hinaus soll sich das Militär – falls es im Bereich der humanitären Hilfe eingesetzt wird – so schnell wie möglich wieder aus diesem Bereich zurückziehen. Das Problem der »Oslo Guidelines« ist die mangelnde Umsetzung: Da die Richtlinien nicht-bindend sind und sich die Streitkräfte in der Regel auf ihren politischen Auftrag berufen, ist ihre Wirkung begrenzt.

Instrumentalisierung der humanitären Hilfe

Humanitäre Hilfe ist Hilfe für die Opfer von Krisen und Katastrophen, kein Hilfsmittel für Regierungen zur Legitimation ihrer Außenpolitik. Der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck begründete im Jahr 2003 die Ausweitung des Bundeswehrmandats in Afghanistan auf Kunduz auch damit, dass Hilfsorganisationen geschützt werden müssten. Aus Sicht der Hilfsorganisationen ist ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie die Verankerung in der lokalen Bevölkerung der beste Schutz. Doch der Ruf aus der Politik nach militärischem Schutz wird lauter, seitdem die humanitären Helfer zunehmend zur Zielscheibe von Anschlägen werden. Hilfsorganisationen haben die Erfahrung gemacht, dass verstärkte militärische Präsenz nicht unbedingt mehr Sicherheit bringt. Aus Sicht von Hilfsorganisationen unterliegen Streitkräfte immer einem politischen Auftrag, verfolgen militärische Ziele und werden daher von den Konfliktparteien auch nicht als unparteiisch wahrgenommen. Wo Soldaten aus politisch-militärischen Gründen als Helfer auftreten, werden auch schnell den zivilen Helfern politisch-militärische Interessen unterstellt.

Die Anschläge auf die Vereinten Nationen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere Hilfsorganisationen in Afghanistan haben dazu geführt, dass die Helfer inzwischen ihre Zugehörigkeit zu einer Hilfsorganisation aus Sicherheitsgründen verbergen. Sie haben ihre Aufkleber von den Fahrzeugen entfernt und tragen nicht mehr die T-Shirts mit dem Logo ihrer Organisation. Je mehr die Helfer sich unter den Schutz von Streitkräften begeben und damit „im Windschatten militärischer Interventionen“7 agieren, desto eher werden sie von den Feinden dieser Intervention bedroht. In ihrem Einsatz für die Opfer von Krisen und Katastrophen müssen die Hilfsorganisationen die Unabhängigkeit der humanitären Hilfe immer wieder behaupten und gegen eine politische Instrumentalisierung verteidigen.

Fazit

Hilfsorganisationen und Streitkräfte haben unterschiedliche Mandate. Die Erfahrungen der deutschen Hilfsorganisationen in Afghanistan, aber auch in anderen Ländern wie Somalia, Bosnien oder Kosovo, haben gezeigt, dass die Verknüpfung von militärischen Zielen und humanitärer Hilfe, insbesondere in bewaffneten Konflikten, sehr problematisch ist.8 Streitkräfte sind für die Sicherheit zuständig, zivile Akteure für Programme der humanitären Hilfe, des Wiederaufbaus und der Entwicklungszusammenarbeit. Hilfsorganisationen und Streitkräfte sollten sich komplementär auf die Aufgaben konzentrieren, die ihren Fähigkeiten entsprechen. Zusammengefasst lassen sich die Erfahrungen der Hilfsorganisationen folgendermaßen auf den Punkt bringen: Das Militär kann bei Naturkatastrophen zwar subsidiär humanitäre Hilfeleistungen erbringen oder logistische Unterstützung leisten, wenn aufgrund des Umfangs oder der besonderen Umstände der Katastrophe zivile Hilfsorganisationen nicht allein oder schnell genug Hilfsmaßnahmen auf den Weg bringen können, wie bei der Tsunami-Katastrophe Ende 2004. Streitkräfte sollten aber auf keinen Fall in politischen Krisenregionen im Bereich der humanitären Hilfe tätig werden, in denen ein militärischer Auftrag den Prinzipien humanitären Handelns explizit entgegensteht.

Um die Debatte über Militäreinsätze in der humanitären Hilfe zu versachlichen, ist es aus Sicht der Hilfsorganisationen dringend erforderlich, die CIMIC-Aktivitäten der Bundeswehr unabhängig zu evaluieren. Eine Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes könnte der Auftakt sein.

Anmerkungen

1) Bewährungsprobe für die NATO, Frankfurter Rundschau, 1.8.2006.

2) Deutsche als Zielscheibe, Der Spiegel, 3.7.2006.

3) VENRO: Bewaffnete humanitäre Hilfe ist falsche Politik, Pressemitteilung vom 30.09.2004, vgl. www.venro.org

4) Vgl. Pressemitteilung des Bundesministeriums der Verteidigung vom 5.12.2002.

5) Die Leute müssen verstehen, dass wir Gutes tun, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.7.2006.

6) Deutscher Bundestag, Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan, 2005.

7) Vgl. Misereor, Brot für die Welt, Evangelischer Entwicklungsdienst: Entwicklungspolitik im Windschatten militärischer Interventionen? Aachen, Bonn, Stuttgart, 2003.

8) VENRO hat 2003 ein Positionspapier erarbeitet, das ausführlich die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen und Streitkräften analysiert. Vgl. VENRO: Streitkräfte als humanitäre Helfer? Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen und Streitkräften in der humanitären Hilfe, Bonn 2003, vgl. http://www.venro.org

Peter Runge ist Referent für Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe beim Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO).

Entwicklungspolitik – nur ein anderes Label für Sicherheitspolitik?

Entwicklungspolitik – nur ein anderes Label für Sicherheitspolitik?

von Stephan Klingebiel

Das Verhältnis von Entwicklung und Sicherheit ist kein grundlegend neues konzeptionelles Thema. Ähnliches gilt für die konkreten Schnittstellen von verschiedenen außenorientierten Politiken – allen voran der Entwicklungs-, Außen- und Sicherheitspolitik. Auch in der Vergangenheit spielte beispielsweise die Frage zumindest implizit eine wesentliche Rolle, welche Rahmenbedingungen mit Blick auf Stabilität und Frieden vorhanden sein müssen, damit Entwicklung überhaupt möglich ist. Frühere Debatten begriffen dieses Verhältnis aber vorrangig als abstrakte Interdependenz.1 In den aktuellen Debatten seit Beginn der 2000er Jahre wird dagegen sehr viel unmittelbarer die Zusammenführung in konzeptioneller und praktisch-politischer Hinsicht erörtert.2

Die Unterschiede der aktuellen Diskussionen zu älteren Debatten gehen über die praktische Relevanz deutlich hinaus. Der immense Wandlungsprozess des Sicherheitsbegriffs ist dabei von besonders großer Bedeutung. Das staatszentrierte Sicherheitsdenken ist in vielen Bereichen einem völlig neuen Sicherheitskonzept gewichen. Sicherheit wurde von einem auf staatliche Stabilität orientierten Konzept zu einem auf den einzelnen Menschen bezogenen protektiven Ansatz in der internationalen Debatte grundlegend weiterentwickelt. Hier haben die Debatten vor allem in den Vereinten Nationen (The Resonsiblity to Protect – 2001, High-Level Panel on Threats Challenges and Change – 2004, Bericht des UN-Generalsekretärs »In Larger Freedom« – 2005)3 wesentliche Weichenstellungen vorgenommen.

Praktische Konsequenzen im politischen Handeln sind zwar nicht gleichermaßen vorhanden, lassen sich aber durchaus in verschiedenen Bereichen belegen. Der Wandel der ehemaligen Organization of African Unity (OAU) zur African Union (AU), die vom Prinzip der Nichteinmischung ausdrücklich Abstand genommen hat, ist hierfür ein anschauliches Beispiel (vgl. Klingebiel 2005). Für die Zukunft könnte sich auch die Entscheidung der Vereinten Nationen vom Dezember 2005 als wegweisend herausstellen, eine Peacebuilding Commission (PBC) zu etablieren, die vor allem auf verbesserte Koordination der unterschiedlichen Akteure und auf integrierte Strategien in Post-Konflikt-Situationen abzielt.

Viele Implikationen des sich verändernden Denkens und neuer Entwicklungs- und Sicherheitskonzepte lassen sich bislang kaum abschätzen. Dies gilt beispielsweise für den Umgang mit Staaten, die dauerhaft nicht ausreichend in der Lage sind, ihr (im besten Fall legitimes) Gewaltmonopol herzustellen. Hier findet zunehmend eine Konfrontation mit alten Denkmustern statt: Unter welchen Umständen soll oder muss sogar mit solchen Gruppen interagiert oder kooperiert werden, die zwar über Instrumente der Gewalt verfügen, aber staatlich nicht legitimiert sind? Wie kann mit staatlichen Repräsentanten umgegangen werden, die möglicherweise ein staatliches Gewaltmonopol sicherstellen können, deren Legimitat aber unzureichend ist? Hier haben vielfältige Debatten4 begonnen, die in einem direkten und zum Teil auch indirekten Zusammenhang zum Entwicklung-Sicherheits-Nexus stehen.

Von »Human Security« bis »Integrated Missions«

Für die konzeptionellen Debatten hat sich der Begriff der human security zu einem Schlüsselbegriff entwickelt.5 Konstitutiv für das human security-Konzept ist der Schutz von Menschen bzw. Individuen. Damit unterscheidet sich das Konzept wesentlich vom Terminus der nationalen Sicherheit (national security), der die staatliche Sicherheit in den Mittelpunkt stellt. Protagonisten eines engen human security-Verständnisses stellen gewaltförmige Bedrohungen (Bürgerkriege etc.) in den Mittelpunkt. Protagonisten eines breiten human security-Verständnisses beziehen zusätzlich andere Bedrohungen und Risiken für den Menschen wie Naturkatastrophen und Hunger in ihr Begriffsverständnis ein. Das Konzept von human security kann allerdings unabhängig davon, ob eine eher enge oder breite Betrachtung gewählt wird, auf einer allgemeinen Zielebene eine integrative Zielperspektive befördern, da das Zielverständnis immer auf den Schutz von Individuen ausgerichtet ist.

Entwicklungs-, Sicherheits- und Außenpolitik haben sich ebenfalls auf der politisch-praktischen Ebene innerhalb von wenigen Jahren rasch verändert. Für die Entwicklungspolitik sind Sicherheitsthemen in das unmittelbare Blickfeld gerückt; außenpolitische Aspekte haben damit insgesamt für die Entwicklungspolitik an Bedeutung gewonnen. Umgekehrt hat Sicherheitspolitik zunehmend mit Entwicklungs- und Transformationsländern und deren Stabilität bzw. Fragilität zu tun. Sicherheitspolitische Herausforderungen im Sinne von Landesverteidigung an den eigenen Grenzen sind mittlerweile für eine Reihe von OECD-Ländern von deutlich geringerer Relevanz. Neue Gefährdungen und Bedrohungen werden statt dessen identifiziert, die ganz wesentlich durch ihre globale Relevanz und ihre Entgrenzung gekennzeichnet sind.6 Dies gilt unter anderem durch die Bedrohungen aufgrund des internationalen Terrorismus, denen durch traditionelle verteidigungspolitische Muster kaum beizukommen ist.

Vor diesem Hintergrund findet eine Annäherung von Entwicklungs- und Sicherheitspolitik auch bei einzelnen Maßnahmen und Konfliktsituationen statt. Insbesondere durch umfassende Mandate für Friedensmissionen gibt es zahlreiche Berührungspunkte zwischen zivilen und militärischen Aufgaben. Friedensmissionen haben heute vielfach schwierige Aufgaben beim Aufbau und bei der Stabilisierung von staatlichen Strukturen zu erfüllen (Demokratische Republik Kongo, Kosovo, Afghanistan etc.). Entwicklungspolitik spielt dabei oftmals und zunehmend eine wichtige Rolle. So genannte Integrated Missions nehmen einen wichtigen Platz ein.7 Die Entwicklungspolitik hat es deshalb mit einer wachsenden Zahl von Situationen zu tun, in denen Schnittstellen zu militärischen Akteuren zu gestalten sind.

Die Gleichzeitigkeit von militärischen und zivilen Aufgaben und Akteuren in Friedensmissionen ohne ausreichende Verknüpfungen ist unbefriedigend. Ein bloßes Verschmelzen von entwicklungspolitischen und militärischen Ansätzen und Aktivitäten ist allerdings weder sinnvoll noch wünschenswert. Es kommt vielmehr darauf an, solche Situationen und Bereiche zu identifizieren, wo ein besser abgestimmtes und teilweise auch gemeinsames Planen, Handeln und Monitoring sinnvoller und wirkungsvoller ist (Beispiel: Sicherheitssektorreformen).

Mittlerweile besteht zwar ein weitgehender Konsens darüber, dass kohärente Ansätze der verschiedenen Politikfelder notwendig sind, um mit Sicherheitsherausforderungen und komplexen Friedensmissionen konstruktiv umzugehen. Das bedeutet keineswegs, dass Unterschiede der verschiedenen Akteure verblassen. Vielmehr sind u.a. die konkreten Zielsetzungen (Beziehen sich beispielsweise Schutzmaßnahmen primär auf die eigene Truppe oder die lokale Bevölkerung? etc.), Abläufe und Zeithorizonte (In welchen Zeitdimensionen wird der »Erfolg« einer Mission bewertet? Wann soll oder kann ein externer Akteur ein Gebiet verlassen? etc.) sehr verschieden.

In formaler Hinsicht versucht auch die offizielle Definition dessen, was als öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance / ODA) zu bezeichnen ist, dem neuen Aufgabenspektrum der Entwicklungspolitik an einigen Punkten Rechnung zu tragen. Im März 2005 entschied der Entwicklungsausschuss (Development Assistance Committtees / DAC) der OECD die Anpassung der bisherigen ODA-Kriterien. Demnach sind nun Ausgaben beispielsweise zur Förderung der Kontrolle von Budgets im Sicherheitsbereich durch zivile bzw. demokratische Mechanismen »ODA-fähig«.

Risiken der Annäherung

Die Erweiterung der entwicklungspolitischen Agenda um sicherheitsrelevante Themen schafft neue Handlungsspielräume. Diese Handlungsspielräume bestehen im Hinblick auf Sicherheit etwa darin, dass Einfluss genommen werden soll auf die zentralen Entwicklungshindernisse durch Instabilität, physische Unsicherheit und Gewaltkonflikte. Die Ansatzmöglichkeiten und der potentielle Nutzen sollen zudem durch ein Einwirken auf andere Politikfelder und das mögliche Zusammenwirken und ggf. Kooperieren mit diesen Akteuren erweitert bzw. verbessert werden. Kofi Annan hat in diesem Sinne in seinem Bericht »In larger Freedom« auf die sich gegenseitig verstärkenden Effekte von Entwicklung, Sicherheit sowie Menschenrechten hingewiesen: „Not only are development, security and human rights all imperative; they also reinforce each other.“ (Secretary-General 2005: 5).

Tatsächlich stellt sich die berechtigte Frage, welche Konsequenzen hiermit für die Entwicklungspolitik verbunden sein können. Kritische Analysen betonen die mögliche Unterordnungsgefahr für die Entwicklungspolitik unter eine militärisch geprägte sicherheitspolitische Agenda. Die »Versicherheitlichung« (Securitization) steht deshalb im Mittelpunkt der kritischen Debatten aus entwicklungspolitischer Sicht.8

Zielkonflikte und Risiken einer entwicklungspolitischen Unterordnung unter militärisch geprägte Ziele und Strategien sind in vielen Bereichen plausibel und in einer Reihe von Beispielen belegbar. Diese Zielkonflikte und Risiken müssen allerdings kein prinzipielles Argument gegen die Sinnhaftigkeit eines neuen konzeptionellen Verständnisses von Sicherheit und Entwicklung sowie eines veränderten Zusammenwirkens von Entwicklungs- und Sicherheitspolitik sein.9

Zwei Beispiele können das »Versicherheitlichungs«-Risiko verdeutlichen. Erstens: Die Rolle etwa der amerikanischen Entwicklungspolitik im Zusammenhang mit den amerikanischen Provincial Reconstructions Teams (PRTs) in Afghanistan oder mit der Politik im Irak belegt solche Gefahren, bei denen entwicklungspolitische Akteure einem militärischen Ansatz untergeordnet werden.10 Zweitens: Eine ausschließlich oder vorrangig an einem sicherheitspolitischen und geostrategischen Denken orientierte Länderauswahl in der Entwicklungspolitik würde zu einem Rückzug aus solchen Ländern und Themen (Armutsreduzierung u.ä.) führen, die keine (direkt) ersichtliche sicherheitspolitische Relevanz hätten.

Entwicklungs- und Sicherheitspolitik stehen zwar in einem Spannungsverhältnis zueinander, das allerdings nicht zwangsläufig zu einem Unterordnungsverhältnis und zu einer Versicherheitlichung der Entwicklungspolitik führen muss. Insbesondere die internationalen Debatten über ein neues Sicherheitsverständnis tragen zu einer größeren gesamtpolitischen Verantwortung bei, um für gefährdete Bevölkerungsgruppen Schutz einfordern und gewähren zu können. Der Bericht des UN-Generalsekretärs »In Larger Freedom« ist hierfür ein deutlicher Beleg.

Im Hinblick auf politische Strategien und das operative Handeln der beteiligten Akteure kommt es entscheidend auf die konkrete Gestaltung an. Die Überwindung der bisherigen Distanz zwischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik ist vielfach eine wichtige Voraussetzung, um wirksameres Handeln in bezug auf lang- und kurzfristiges krisenpräventives Handeln, ein konstruktives Konfliktmanagement sowie einen wirksamen Umgang mit Post-Konflikt-Situationen zu ermöglichen. Entscheidend ist deshalb ein sinnvolles Schnittstellenmanagement der relevanten Akteure zu definieren.

Zukünftige Themen in der Debatte

Für die Weiterentwicklung der Debatte stellen sich verschiedene konzeptionelle und politisch-strategische Fragen. Sie beziehen sich auf

  • die Debatte über das Verhältnis von Sicherheit und Entwicklung in theoretischer Hinsicht,
  • politische Strategien sowie
  • konkrete politikfeldübergreifende Vorgehensweisen.

Verhältnis von Sicherheit und Entwicklung

In theoretischer Hinsicht sind die Kausalitäten zwischen Sicherheit und Entwicklung bislang nur unzureichend reflektiert worden. Die Debatte über human security hat allerdings bei der Terminologie und vor allem den unterschiedlichen Prämissen (individuelle vs. staatliche Sicherheit) mehr Klarheit erzeugt. Das genaue Wechselverhältnis und die konkreten Kausalitätsketten zwischen Entwicklungs- und Sicherheitsdimensionen sind aber bislang nur unzureichend analysiert worden. Dies zeigt sich auch an den Debatten, die eine Prioririsierung von Sicherheit gegenüber Entwicklung unter dem Stichwort »security first« in bestimmten Phasen einfordern.11

Politische Strategien

Im Hinblick auf Modelle von politikfeldübergreifenden Strategien und Ansätzen sind die bislang vorhandenen und ausgewerteten Erfahrungen gering. Untersuchungen sind bisher oftmals vorrangig deskriptiv ausgerichtet. Inwieweit integrative Politikansätze tatsächlich einen Mehrwert erzeugt haben, lässt sich eher vermuten als belegen.

Politikfeldübergreifende Vorgehensweisen

Ähnliches gilt für konkrete Maßnahmen und Operationen. Entwicklungsorientierte Friedensmissionen und andere integrativ ausgerichtete Vorgehensweisen sind noch ein vergleichsweise neues Experimentierfeld. Welche Implikationen Unterschiede militärischer und ziviler Organisationskulturen auf das Zusammenwirken haben, ist beispielsweise für das operative Vorgehen von größter Bedeutung.12 Entsprechend lückenhaft sind die vorhandenen Untersuchungen über diese Vorgehensweisen und deren Wirkungen und ihr Mehrwert gegenüber früheren Ansätzen.

Literatur

Brock, Lothar (2004): Der erweiterte Sicherheitsbegriff: Keine Zauberformel für die Begründung ziviler Konfliktbearbeitung, in: Die Friedens-Warte, Heft 3-4, Band 79, S. 323-344

Dalgaard-Nielsen, Anja (2006): Culture of Cooperation? Civil-Military Relations in Danish Homeland Security, (Danish Institute for International Studies), Kopenhagen

Debiel, Tobias / Stephan Klingebiel / Andreas Mehler / Ulrich Schneckener (2005): Between Ignorance and Intervention, Strategies and Dilemmas of External Actors in Fragile States, (Policy Paper 23, Development and Peace Foundation) Bonn

Deutsches Institut für Entwicklungspolitik / Deutsche Atlantische Gesellschaft (2006): Die NATO als Kooperationspartner für die Entwicklungspolitik: Neue Konzeptionen zivil-militärischer Zusammenarbeit, Tagungsbericht, Bonn

Duffield, Mark (2001): Global Governance and the New Wars: The Merging of Development and Security, London / New York

Duffield, Mark (2006): Human Security: Linking Development and Security in an Age of Terror, in: Klingebiel (Hg.) 2006), S. 11-38

Eide, Espen Barth / Anja Therese Kaspersen / Randolph Kent / Karen von Hippel (2005): Report on Integrated Missions: Practical Perspectives and Recommendations, o.O.

Faust, Jörg / Dirk Messner (2005): Europe’s New Security Strategy: Challenges for Development Policy, in: The European Journal of Development Research Vol. 17, Nr. 3, S. 423-436

High-Level Panel (on Threats Challenges and Change) (2004): A More Secure World: Our Shared Responsibility (document A/59/565), New York

Human Security Centre (2005): Human Security Report 2005, War and Peace in the 21st Century, New York / Oxford

ICISS (International Commission on Intervention and State Sovereignty) (2001): The Responsibility to Protect, Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Ottawa

Junne, Gerd / Willemijn Verkoren (eds.) (2005): Postconflict Development, Meeting New Challenges, Boulder / London

Kaldor, Mary (1999): New and Old Wars: Organized Violence in a Global Era, Cambridge

Kent, Randolph (2005): The Governance of Global Security and Development: Convergence, Divergence and Coherence, (King’s College), London (mimeo)

Klingebiel, Stephan (Hg.) (2006): New Interfaces between Security and Development: Changing Concepts and Approaches (DIE Studies, Nr. 13), Bonn

Klingebiel, Stephan (2005): Regional Security in Africa and the Role of External Support, in: The European Journal of Development Research Vol. 17, Nr. 3, S. 437-448

Klingebiel, Stephan / Katja Roehder (2004): Development – Military Interfaces, New Challenges in Crises and Post-conflict Situations, Bonn

Maihold, Günther (2005): Die sicherheitspolitische Wendung der Entwicklungspolitik: Eine Kritik des neuen Profils, in: Internationale Politik und Gesellschaft, Nr. 4/2005, S. 30-48

Münkler, Herfried (2002): Die neuen Kriege, Reinbeck

Secretary-General (2005): In Larger Freedom: Towards Development, Security and Human Rights for All, Report of the Secretary-General, (A/59/2005), New York

Thakur, Ramesh (2006): The United Nations, Peace and Security: From Collective Security to the Responsibility to Protect

Tschirgi, Necla (2006): Security and Development Policies: Untangling the Relationship, in: Klingebiel (Hg.) (2006), S. 39-67

Weiss, Thomas G. (2005): Military-Civilian Interactions, Humanitarian Crises and the Responsibility to Protect, Lanham u.a.

Anmerkungen

1) Allerdings ist die Debatte über das zivil-militärische Verhältnis für den Bereich der humanitären Hilfe bereits seit langer Zeit auch in praktischer Hinsicht ein vieldiskutiertes Thema. Dies gilt für die militärische Seite in zweifacher Hinsicht: Militärs übernehmen zum Teil logistische Aufgaben (Transport von Hilfsgütern etc.) und sie wirken an der Sicherheitssituation in einem Hilfsgebiet mit. Durch beide Aufgaben gibt es eine lange Beschäftigung mit dem Verhältnis der humanitären Hilfe zu militärischen Akteuren (siehe beispielsweise Weiss 2005: 7 ff.)

2) Für einen Überblick siehe Klingebiel (Hg.) (2006), Klingebiel / Roehder (2004), Tschirgi (2006).

3) Vgl. ICISS (2001); High Level Panel (2004); Secretary-General (2005).

4) Um nur einige der laufenden Debatten stichwortartig zu benennen: states within states, non state armed groups, Umgang mit traditionellen Autoritäten, Transformation autoritärer / totalitärer Systeme. Einen knappen Überblick zu einigen dieser Debatten ist zu finden bei Debiel / Klingebiel / Mehler / Schneckener (2005).

5) Siehe zu dieser Debatte beispielsweise Human Security Centre (2005), Thakur (2006) Brock (2004) sowie Duffield (2006).

6) Siehe zu dieser Debatte Kaldor (1999) und Münkler (2002).

7) Vgl. hierzu Eide et al. (2005).

8) Siehe stellvertretend die Beiträge von Brock (2004) und Maihold (2005) zu der Debatte etwa in Deutschland.

9) Vgl. z.B. die Debatte im Zusammenhang mit der Europäischen Sicherheitsstrategie bei Faust / Messner (2005).

10) Vgl. z.B. Klingebiel / Roehder (2004).

11) Siehe hierzu z.B. die Beiträge bei Junne / Verkoren (eds.) (2005). Bei vielen Debatten zu diesem Punkt wird der Stellenwert von subjektiven Perspektiven für das zivile Leben (Arbeitsplätze, Zugang zu sozialen Grunddiensten etc.) für die unmittelbare Sicherheitssituation nur unzureichend einbezogen. Dies bedeutet umgekehrt nicht, dass originäre Sicherheitsanliegen nicht relevant sind, sondern deutet wiederum auf die starke Interdependenz von Sicherheit und Entwicklung hin.

12) Siehe zum Beispiel einige Überlegungen aus dem Vorgehen der dänischen Politik. (vgl. Dalgaard-Nielsen (2006).

Dr. Stephan Klingebiel leitet die Abteilung »Governance, Staatlichkeit, Sicherheit« am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Bonn. Seine derzeitigen Arbeitsschwerpunkte sind der Nexus von Entwicklung und Sicherheit, nichtsstaatliche Gewaltakteure, die afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur sowie Reform der entwicklungspolitischen Kooperation mit Subsahara-Afrika.

Hilfsorganisationen im Geflecht staatlicher Interessen

Hilfsorganisationen im Geflecht staatlicher Interessen

von Thomas Seibert

Im Kosovo hat sich bestätigt, was sich nach dem Irak-Krieg andeutete – Hilfsorganisationen werden in staatliche »humanitäre Interventionen« integriert. Damit verlieren sie nicht nur ihren Nimbus der Neutralität. Vor allem erfüllen NGOs einen der Hauptzwecke von Interventionen: Im Zusammenspiel mit dem militärischen Einsatz helfen sie bei der Abwehr von Flüchtlingsströmen in Not- und Katastrophenfällen.
Mit Beginn des als »humanitäre Intervention« deklarierten NATO-Kriegs kam es im Kosovo zu Massenvertreibungen: Serbische Milizen, Guerillaoperationen der UCK und die Angriffe der NATO-Luftwaffe zwangen 680.000 Menschen zur Flucht in die Nachbarstaaten.1 Die serbische Polizei trieb die Flüchtlingstrecks ins Grenzgebiet oder brachte sie per Bus und Bahn direkt zu den Grenzübergängen. In enger Kooperation mit internationalen Hilfs- und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) errichtete die NATO dann auf mazedonischem und albanischem Gebiet ein ausgedehntes System von Auffanglagern. In ihnen waren den Flüchtlingen Kontakte zur Außenwelt so gut wie unmöglich, BesucherInnen gelangten erst nach strengen Einlasskontrollen und langen Wartezeiten in die von hohen Drahtzäunen umschlossenen und von bewaffneten Polizeipatrouillen mit scharfen Hunden bewachten Lager.2

Damit übten die NGOs quasi-staatliche Funktionen in der Festsetzung und Kontrolle der Internierten aus: Sie überwachten den »Grenzverkehr«, sammelten und erfassten die erschöpften, desorientierten und z. T. traumatisierten Menschen und organisierten deren Verteilung in die bis weit ins Landesinnere Mazedoniens und Albaniens gestaffelten Zeltstädte. In den Lagern sicherten die NGOs die Unterbringung, Ernährung und medizinische Versorgung der Vertriebenen.3

Natürlich war es unter den gegebenen Umständen gerechtfertigt und erforderlich, den Opfern Unterkunft und Hilfsgüter bereitzustellen. Entgegen der eigenen Verpflichtung auf »humanitäre Neutralität« wurden die NGOs aber politisch und materiell zur Kriegspartei. Politisch, weil sich die allabendlich live gesendeten Bilder des Lagerelends und der engen Kooperation von NATO- und NGO-Personal bestens in die militärhumanistische Propaganda der »internationalen Staaten- und Wertegemeinschaft« einfügte. Materiell, weil ohne die Hilfsdienste der NGOs der Fortgang der Kampfhandlungen unmöglich geworden wäre, mehr noch, weil die Lager selbst zum Einsatz im Kampf der Kriegsparteien wurden.

Manche NGOs haben den Status der Kriegspartei sogar willentlich und offensiv akzeptiert. Dabei ging der Chef des Notärztekomitees Cap Anamur, Rupert Neudeck, so weit, die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa – und d.h. die reale Alternative zur Lagerinternierung – kategorisch abzulehnen, weil „mit dem Ausfliegen“ ein Signal gesetzt würde, „dass man den Kosovo nicht zurückhaben“ wolle. Deswegen solle nicht „die Erwartung geweckt (werden), es könnten am Ende Hunderttausende nach Mitteleuropa kommen“ (Dietrich/Glöde, S. 116, siehe Anm.1). Inniger kann die Zusammenarbeit zwischen politischem Staat und »ziviler Gesellschaft« gar nicht ausfallen: Das im hilfserprobten Humanitarier personifizierte Weltgewissen legitimiert in einem Atemzug den Angriffskrieg der »Staatengemeinschaft«, das Menschen verachtende Flüchtlingsregime im eigenen Land und die ethnizistisch-rassistische Ideologie, die beide, den Krieg und das Flüchtlingsregime, miteinander vermittelt.

Unmittelbar nach Kriegsende kehrte der Großteil der Flüchtlinge ins Kosovo zurück, wo Anfang Juni ‘99 64 % der Häuser schwer und weitere 20 % leicht beschädigt, 40 % der Wasserversorgung durch Viehkadaver und Leichen kontaminiert und 80 % der Kornproduktion vernichtet waren. Unter diesen Bedingungen richtete die NATO ein Protektorat ein, dessen Verwaltung offiziell der United Nations Mission in Kosovo (UNMIK) übertragen wurde. Deren Statthalter – an ihrer Spitze Bernard Kouchner, Gründer und langjähriger Präsident der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen – teilten sich die Macht von Anfang an mit der »Kosovo-Befreiungsarmee« UCK.4

Im Protektoratsregime fällt den NGOs eine zentrale Rolle zu. Als in den NATO-Staaten große Teile der Mittel aus den Etats für Entwicklungszusammenarbeit für den Kosovo umgewidmet wurden, zogen die auf staatliche Fördermittel angewiesenen NGOs reihenweise mit – auch hier unter dem Banner der »Neutralität«. Damit sind sie nicht nur der NATO-Politik dienstbar, sondern zugleich dem serbischen Regime und der UCK: Die massiven Geldzuwendungen zerstören den Rest der noch während des Krieges lebendigen Institutionen der albanischen »Parallelgesellschaft«, die so viele Jahre der Belgrader Diktatur widerstanden hatten. An deren Stelle treten jetzt finanziell potente und technisch perfekte ausländische NGOs – allein im gesundheitspolitischen Bereich sind es mittlerweile 300 Büros. Um deren Arbeit untereinander zu koordinieren, ist das Kosovo nicht nur in getrennte »Schutzzonen« der einzelnen Besatzungsmächte, sondern auch in sog. »Areas of Responsibility« (AOR) unterteilt worden, die jeweils unter Federführung einer NGO stehen.5 Gemäß eines vom UNHCR aufgestellten Plans koordinieren diese Organisationen die Verteilung der Lebensmittel und Hilfsgüter, entweder in Eigenarbeit oder in Zusammenarbeit mit sog. Private Volunteer Organisations (PVOs). Die Arbeit in solchen Organisationen ist zur einzig sicheren Einkommensquelle vieler Kosovaren geworden – und nicht wenige der PVOs sind Unterorganisationen der UCK.

Lehren aus dem letzten Krieg

Dem Krieg ums Kosovo kommt in mehrfacher Hinsicht paradigmatische Bedeutung zu. Zunächst einmal ist sichtbar geworden, wie die dominanten Staaten der Neuen Weltordnung diese Ordnung verteidigen werden. Sichtbar wurde auch, wer dabei zu den »Hauptfeinden« zählt: Menschen, die vertrieben werden oder sich Unterdrückung, Ausbeutung und materieller Not durch Migration entziehen wollen. Die Weltordnungspolitik der NATO-Staaten ist zu einem erheblichen Teil eine rassistisch und ethnizistisch begründete Migrationspolitik. Sichtbar wurde zuletzt, dass eine so verstandene Weltordnungspolitik auf einer »public private partnership« beruhen wird, deren Kern die systematische Integration von NGOs bildet.

Dreh- und Angelpunkt der Migrationspolitik ist die Ersetzung des in der Genfer Konvention niedergelegten individuellen Rechts auf Asyl durch die freiwillige und zeitlich begrenzte Aufnahme von bestimmten Kontingenten ethnisch definierter Flüchtlingsgruppen. Vorab soll allerdings dafür gesorgt werden, dass das Gros der potenziell Asylsuchenden den eigenen »Heimatboden« gar nicht erst verlassen kann. Wie das zu organisieren ist, wurde erstmals während des Golfkriegs von 1991 im Irak vorgeführt: Nach dem Waffenstillstand zwischen dem Regime Saddam Husseins und der US-amerikanisch dominierten Anti-Irak-Koalition kam es zu Aufständen der schiitischen und der kurdischen Minderheit. Die Aufständischen rechneten auf die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft, die während des Kriegs massiv zur Erhebung gegen Hussein aufgerufen hatte. Allerdings blieb jede Hilfe aus: Die Anti-Irak-Koalition hatte mit der Schwächung des Diktators bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Regimes selbst und vor allem bei Wahrung der territorialen Einheit des Irak ihr Ziel erreicht. Die humanitären Koalitionäre sahen tatenlos zu, als die irakische Luftwaffe Napalm und Phosphor gegen die Aufständischen einsetzte und nachrückende Truppen die Überlebenden in die Flucht trieben. Wenig später saßen rund 400.000 eingekesselte kurdische Flüchtlinge vor der verschlossenen türkischen Grenze fest. Statt die Türkei gemäß den Verpflichtungen der Genfer Flüchtlingskonvention zur Öffnung ihrer Grenzen zu nötigen, richtete die NATO auf irakischem Territorium – d.h. im Kriegsgebiet selbst und damit unter neuerlicher Verletzung der Flüchtlingskonvention – mehrere kleine Schutzzonen – die sog. Save Havens – ein, in die die Flüchtlinge im Rahmen der Operation »provide comfort« zurückgeführt wurden.

In den nun von verschiedenen kurdischen Milizen kontrollierten Gebieten bildeten die Kurdische Demokratische Partei (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) eine Koalitionsregierung. Das kurdische Autonomiegebiet blieb allerdings vollständig von den Hilfsdiensten und -lieferungen der internationalen NGOs abhängig, denen zugleich jede offizielle Kooperation mit der kurdischen Regierung untersagt war. Weil die meisten NGOs an einer solchen Kooperation auch gar nicht interessiert waren, bildete sich recht bald eine Parallelstruktur von kurdischer Autonomie einerseits und NGO-Protektorat andererseits.

Dabei investierten die NGOs Millionen Dollar in Hilfs- und Entwicklungsprojekte, die ohne Zustimmung, ja oft auch ohne jede Absprache mit den kurdischen Selbstverwaltungsorganen durchgeführt wurden. Diese ermöglichten den alliierten Regierungen direkte Interventionen in die autonomen Gebiete: Unter dem Vorwand, die Verwendung ihrer Hilfsmittel kontrollieren zu wollen, reisten Regierungsdelegationen aus den USA oder Europa frei im Land umher und entfalteten dabei eine umfangreiche Schattendiplomatie, in der sie gemeinsam mit den NGOs und kooptierten kurdischen Führern die Angelegenheiten entschieden, die eigentlich von der gewählten Regierung und dem gewählten Parlament zu entscheiden gewesen wären. Dabei unterhielt bspw. das der US-Regierung angeschlossene Office for Desaster Aid (OFDA) zur Begleitung der mit jährlich 30 Millionen Dollar finanzierten Nothilfeprojekte landesweit eine eigene Verwaltungsstruktur, der – offiziell zur »Projektevalution« – auch Offiziere des US-Militärs angehörten.

Der geballten ökonomischen und politischen Macht der aus Nothilfebudgets finanzierten UN- und NGO-Strukturen hatte die kurdische Autonomie wenig entgegenzusetzen. Dabei beschränkte sich das Gros der NGOs darauf, Notunterkünfte und provisorische Wasserversorgungssysteme einzurichten und tonnenweise Nahrungsmittel und Medikamente zu verteilen, statt den Wiederaufbau von Produktionsanlagen, die Schaffung von dauerhaften Erwerbsmöglichkeiten und die Förderung autonomer sozialer Strukturen zu unterstützen. Einzelne Versuche, die Projektarbeit politisch mit der kurdischen Autonomie abzustimmen und sich dabei an deren Maßgaben auszurichten, wurden massiv behindert und unterdrückt. Dabei kam es zu einer breiten Koalition, in der das Regime in Bagdad mit den ebenfalls durch kurdische Oppositionsbewegungen angefochtenen Regimes in Teheran und Ankara und die »internationale Staatengemeinschaft« – EU und USA – zwanglos zusammenwirkten. Gemeinsames Ziel war die Stabilisierung der im Krieg neu justierten Herrschaftsverhältnisse, die zu diesem Zeitpunkt eben nur noch durch die kurdischen Autonomieansprüche bestritten wurden. (s. Kasten).

Was 1991 noch ein durch unmittelbare Not begründeter und insofern tatsächlich humanitär gerechtfertigter Bruch mit der Genfer Konvention war, ist im Kosovo methodisches Kalkül und Strategie geworden. Politisches Ziel ist nicht mehr der Schutz von, sondern der Schutz vor Flüchtlingen. Die systematische Abschottung der »Festung Europa« vor der »Flüchtlingsgefahr« ist der wahre Erfolg der »humanitären Intervention«.6

Die Erfahrungen der »humanitären Intervention« in Jugoslawien und ihrer Vorläufe im Irak und anderswo hat die NATO anlässlich ihres 50. Jahrestags offiziell zur Strategie erhoben. Das Neue Strategische Konzept skizziert ein „breites Spektrum militärischer und nichtmilitärischer Risiken“ für die Sicherheit des Bündnisses (Das strategische Konzept des Bündnisses. Presse- & Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin 24, 3.5.99). Dazu gehören: „Ungewissheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses (…), ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, (…) die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten (…), Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen. Die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte, kann ebenfalls Probleme für die Sicherheit und Stabilität des Bündnisses aufwerfen.“ Dieses wahrhaft globale Bedrohungsszenario erfordere „militärische Fähigkeiten, die für das gesamte Spektrum vorhersehbarer Umstände wirksam sind.“

In diesem Szenario fehlen nur noch die NGOs. Und tatsächlich ziehen auch hier einige gleich mit: So schlägt etwa ein von der Forschungs-NGO Centre for European Policy Studies (CEPS) erstelltes Arbeitspapier der EU-Kommission vor, Kroatien, Albanien, Mazedonien, Bosnien und einem von Milosevic befreiten Jugoslawien ab 2000 bzw. 2002 den Status von »New Associate Members« (NAM) zu verleihen – eine Art virtuelle EU-Mitgliedschaft ohne jegliches Mitbestimmungsrecht. Bis zum Jahr 2006 sollen die NAMs bis zu 5 Milliarden Euro erhalten. Diese Gaben sollen allerdings an die bedingungslose Unterwerfung unters Regime der Zentralbank und „an die Zustimmung zu den jeweils erforderlichen Kontrollen und Maßnahmen durch die EU gekoppelt“ werden. Dazu zählt insbesondere eine „EU-polizeiliche oder paramilitärische Aufsicht an Häfen und Grenzen, um die Korruption ein für allemal zu beseitigen.“ Mit Bezug auf die für die Einreise der MigrantInnen nach Europa zentralen Häfen Albaniens schlägt das NGO-Papier vor, dass „die Zollposten von EU-Zollämtern nicht nur beraten, sondern geführt werden, Polizeikräfte und paramilitärische Einheiten, vorzugsweise aus Griechenland und Italien, könnten den Zustrom illegaler Migration kontrollieren, insbesondere den über das Adriatische Meer, dem an der Albanischen Küste viel effektiver zu begegnen wäre, als nachts Schnellboote auf offener See zu jagen. Die einheimischen Polizeikräfte könnten eine Zeitlang von EU-Bürgern geführt und durch paramilitärische Kontingente geschützt werden.“ (CEPS, A System for Post-War-South-East-Europe. Brüssel, Mai 1999; zit. nach Dietrich/Glöde, S. 55f.)

Allerdings sind nicht alle NGOs dem Marsch ins Kosovo gefolgt. So haben die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt, medico international und WEED den Krieg der NATO strikt verurteilt und die „emanzipatorischen Teile der Zivilgesellschaft“ in einer gemeinsamen Erklärung aufgefordert, „alles in ihren Möglichkeiten Stehende zu unternehmen, um den demokratischen Kräften innerhalb Jugoslawiens und der anderen Länder der Region in ihrem Widerstand gegen die eigenen nationalistischen Regime wie gegen die militarisierte Großmachtpolitik der NATO-Staaten beizustehen.“ Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat sich zwar im Kosovo engagiert, in einer öffentlichen Erklärung aber demonstrativ auf die Finanzierung ihrer Hilfsleistungen durch staatliche Gelder verzichtet. Und in einem dem Koordinierungsausschuss Humanitäre Hilfe, einem Beratungs- und Vermittlungsgremium von Bundesregierung und NGOs, vorgelegten »Positionspapier« verwahren sich die im Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) zusammengeschlossenen NGOs ausdrücklich gegen den „zunehmenden Trend zur Verstaatlichung und Instrumentalisierung der humanitären Hilfe“ im Zusammenhang mit dem „Umbau der Bundeswehr zu einer militärischen Interventionstruppe, die in Europa und den angrenzenden Regionen im Rahmen der EU, NATO oder UNO Krisen bewältigen und politisch-strategische Interessen der Bundesregierung durchsetzen soll.“7 Im Weiteren begründet VENRO seine Position jedoch damit, dass die »neutralen« NGOs die anfallenden Aufgaben doch effizienter und kostengünstiger erledigen könnten als das Militär und andere staatliche Organisationen.

Formal gesehen soll das Neutralitätsgebot der humanitären Hilfe den NGOs die »überparteiliche« Parteinahme auf der Seite der Opfer politischer Konflikte ermöglichen. Ihrer Instrumentalisierung für die Weltordnungs- und Flüchtlingsabwehrpolitik können die NGOs aber nur entgehen, wenn sie ihre Neutralität in einer umfassenden Staats-, Gesellschafts- und Herrschaftskritik begründen. Diese muss eine Bestimmung der internationalen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse einschließen, in der imperialistische Strategien – und um solche handelt es sich beim Neuen Strategischen Konzept der NATO ebenso wie bei der im Balkan, in Osteuropa und im Mittelmeerraum praktizierten Politik einer konzentrisch gestaffelten EU-Erweiterung – auch als solche benannt werden. Für eine dergestalt aufgeklärte Neutralität schließt die Parteinahme auf der Seite der Opfer dann auch die kritische Solidarität mit den Parteien ein, in denen diese ihre Interessen selbst zu organisieren suchen – ein stets prekärer Schritt, mit dem NGOs unvermeidlich ins Handgemenge geraten, auch ins Handgemenge mit dem eigenen Neutralitätsgebot. Herrschaftskritik muss sich deshalb auch und gerade auf die Machteffekte der humanitären Hilfe selbst richten: Dort, wo sie von Herrschaftsstrategien funktionalisiert wird, aber auch dort, wo sie solcher Funktionalisierung in kritischer Solidarität mit denen zu entkommen sucht, die sich ihrer Beherrschung widersetzen.

web-Adressen

von Migrationspolitischen Institutionen bzw. Nicht-Regierungs-Organisationen, die die Abschottung der Festung Europa konzeptionell und technisch unterstützen:

Inter-governmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies (IGC): www.igc.ch

International Organisation on Migration (IOM): www.iom.int

International Centre for Migration Policy Development (ICMPD): www.icmpd.org

Cenre for European Policy Studies (CEPS): www.ceps.be

Informationen der UNO bzw. des United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA): www.relief.web.int.

Gegeninformationen: Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM): www.berlinet.de/mh/ffm medico international: www.medico.de

Möglichkeiten zum Eingreifen: kein mensch ist illegal: www.deportation-alliance.com www.libertad.de/projekte/depclass/demo

Neutrale NGOs?

Die Hilfsorganisation medico international beteiligte sich 1991 an der NGO-Hilfe für die im Rahmen der Operation »provide comfort« zurückgeführten kurdischen Flüchtlinge und setzte dabei die bis dahin für medico-Verhältnisse immense Summe von über 10 Millionen DM ein, von denen 7 Millionen aus Mitteln des Auswärtigen Amtes stammten. Gegen die Direktiven der Bundesregierung suchte medico jedoch die enge Kooperation mit den Organisationen und Institutionen der kurdischen Autonomie und beteiligte sich etwa am flächendeckenden Aufbau der Gesundheitsversorgung in der Region um die Stadt Suleymania. Von hieraus wurden in den folgenden Jahren jeweils zwischen 2 und 4 Millionen DM umgesetzt – ein erheblicher Teil davon für den Auf- und Ausbau der Selbstverwaltungsorgane. Damit widersetzte sich medico nicht nur der eigenen Regierung, sondern – und hier zeigt sich das Dilemma eines politisch verstandenen NGO-Engagements – geriet wider Willen auch zwischen die innerkurdischen Fronten. Die Selbstverwaltungsstrukturen der Region Suleymania waren nämlich durch die PUK besetzt, deren Koalition mit der KDP immer brüchiger wurde. 1994 zerbrach die Koalition zwischen KDP und PUK; für die KDP wurde medico jetzt – objektiv nicht ganz zu Unrecht – zum Gegner im internen Krieg. KDP-Chef Barzani beschwerte sich bei der EU und beim Auswärtigen Amt und wurde dabei von der türkischen Regierung unterstützt, die die medico-Aktivitäten in den kurdischen Flüchtlingslagern auf türkischem Boden unterbinden wollte. Die Bundesregierung drohte mit der Streichung jeglicher Zuschüsse, wenn medico nicht auf den Pfad humanitärer Neutralität zurückkehren würde. Als die türkische Regierung den medico-MitarbeiterInnen den Zugang nach Suleymania sperrte, war das Kurdistan-Projekt gescheitert. Das Büro wurde geschlossen und mitsamt den diversen Einzelprojekten an eine eilends aufgebaute kurdische NGO übergeben.

Weil die Errichtung einer substanziellen kurdischen Autonomie unmöglich war, verstärkten sich in der Folge noch die Raub- und Kriegsökonomie und die clangesellschaftlichen Strukturen. Als sich 1996 die KDP offen mit dem irakischen Regime verbündete und die bis dahin von der PUK gehaltene Stadt Erdil eroberte, löste das eine Massenflucht von Zehntausenden KurdInnen aus den von der PUK kontrollierten Gebieten in Richtung Iran aus. In solchen und ähnlichen Konflikten bleibt den Flüchtlingen kaum etwas anderes übrig, als sich der einen oder anderen Partei anzuschließen. Können Hilfsorganisationen vor diesem Hintergrund Neutralität bewahren?

Weitere Informationen zur gegenwärtigen Lage der KurdInnen im Irak über www.medico.de sowie über www.wadinet.de . Empfehlenswert noch immer die Broschüre Flucht aus dem »sicheren Hafen«, Begleitheft zu einer Fotoausstellung, die HAUKARI – Arbeitsgemeinschaft für internationale Zusammenarbeit organisiert hat.
Infos über: HAUKARI e.V., Wrangelstr. 46, 10997 Berlin, Tel. 030/6121457, Fax 030 – 61702107

Anmerkungen

1) Für diese und die folgenden Zahlenangaben vgl. Helmut Dietrich/Harald Glöde, Kosovo. Der Krieg gegen die Flüchtlinge, Hrsg. von der Forschungsstelle Flucht und Migration, Berlin 2000.

2) In einem Lager in Albanien verwalteten österreichische Militärs in Kooperation mit österreichischen NGOs (Rotes Kreuz, Malteserorden, Caritas, Diakonie) ca. 1000 Flüchtlinge und setzten zu deren Überwachung und Schutz neben Wachtürmen und dreifachem Stacheldrahtverhau beinahe 500 Soldaten ein.

3) Im Netz zwischen den NATO-Truppen, den diversen Regierungen und den NGOs kommt der in Genf ansässigen International Organization for Migration (IOM) eine zentrale Rolle zu. Sie ist die international führende zwischenstaatliche Institution der Migrationspolitik, und zwar sowohl in logistischer, operationaler wie in konzeptioneller Hinsicht. Wo immer Kriege, Aufstände, Aufstandsbekämpfung oder diktatoriale Repression zu Massenfluchten führten, war die IOM zur Stelle – nach eigener Auskunft stets dem „Prinzip“ verpflichtet, dass „eine humane und geregelte Migration zugleich den Migranten und der Gesellschaft dient“.

4) Die UCK sollte eigentlich gleich nach Waffenstillstand demobilisiert und entwaffnet werden. Als die »warlords« die Herausgabe der Waffen verweigerten, wandelten UNMIK und NATO die Guerilla in ein hilfspolizeiliches Kosovo Corps um. Sie wurden ausgebildet zu einer »civilian emergency and humanitarian force«. Bis jetzt ist die künftige »humanitarian force« jedoch vornehmlich in den nun gegen SerbInnen und Roma gerichteten »ethnischen Säuberungen« engagiert.

5) So fiel unmittelbar nach Kriegsende die Region Pec an Mercy Corps International, die Region Djakovica an die Organisation Solidarité, die Region Prizren an die Catholic Relief Services, die Region Urosevac an CARE, die Region Gnjilane an das International Rescue Committee, die Region Pristina gemeinsam an Action Against Hunger und die Organisation Children’s Aid Direct und die Region Mitrivica an Oxfam.

6) Da ist es nur konsequent, dass in der EU aufgenommene Flüchtlinge aus dem Kosovo und aus Bosnien in ihre »Schutzzonen« abgeschoben werden. Diese bieten gegenüber dem Kurdenprotektorat in den KDP- bzw- PUK-Gebieten, in die nicht mehr nur kurdische, sondern mittlerweile auch irakische Asylsuchende abgeschoben werden, die sich bis nach Europa durchschlagen konnten, den Vorteil, unmittelbar von den Kommandeuren der NATO und den Agenturen europäischer Hilfsorganisationen verwaltet zu werden.

7) Humanitäre Hilfe von Staats wegen? Positionspapier des VENRO zur Klausurtagung des Koordinierungsausschusses Humanitäre Hilfe vom 16.-18. Juni 2000.

Thomas Seibert ist Mitarbeiter von medico international.
Der Artikel ist zuerst erschienen in iz3w 248/00. Er wurde vom Autor für W&F überarbeitet.

ZKB und ZFD

ZKB und ZFD

Ergänzung oder Alternative zu militärgestützter Politik?

von Andreas Buro

Erfreulicherweise haben in den letzten Jahren die Diskussionen und Aktivitäten zu den Themen Zivile Konfliktbearbeitung (ZKB) und Ziviler Friedensdienst (ZFD) nicht nur in Deutschland stark zugenommen. Der Begriff der ZKB findet zunehmend Eingang in die öffentliche Diskussion ebenso wie der des ZFD, der für viele sehr konkret vorstellbar ist. Eine Plattform ZKB wurde gebildet. Das Forum ZFD wurde gegründet und hat sich der Verwirklichung solcher Dienste und Projekte verschrieben. Es ist selbstverständlich, dass mit dieser neuen Orientierung der vergangenen Dekade viele Fragen und Schwierigkeiten auftauchen. Einer der zentralen Diskussionspunkte betrifft die Frage, ob denn die Entfaltung der anvisierten Alternative überhaupt möglich sei angesichts der benötigten finanziellen Mittel, die realistischerweise nur aus den öffentlichen Kassen kommen könnten.

Der Autor geht in diesem Artikel einer zweiten Grundsatzproblematik nach, nämlich der Gefahr, ZKB und ZFD könnten leicht in den Sog militärgestützter Politik kommen und die ursprüngliche Motivation und Zielrichtung, eine Alternative zum politisch-militärischen Konfliktaustrag anzustreben, verlieren. Mit dieser Problematik wird das Verhältnis von ZKB zu Staat, militärgestützter Politik und zum Militär angesprochen.

Der General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz beschreibt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eindringlich, dass Krieg und damit auch das jeweilige Militär Mittel der Politik seien: „Wir behaupten dagegen, der Krieg ist nichts anderes als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen mit Einmischung anderer Mittel, um damit zu behaupten, dass dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas ganz anderes verwandelt wird, sondern dass er in seinem Wesen fortbesteht, wie auch seine Mittel gestaltet sein mögen, deren er sich bedient, und dass die Hauptlinien, an welchen die kriegerischen Ereignisse fortlaufen und gebunden sind, nur seine Lineamente sind, die sich zwischen den Kriegen durch bis zum Frieden fortziehen. Und wie wäre es anders denkbar? Hören denn mit den diplomatischen Noten je die politischen Verhältnisse verschiedener Völker und Regierungen auf ? Ist nicht der Krieg bloß eine andere Art von Schrift und Sprache ihres Denkens?« (Carl von Clausewitz: Vom Kriege, TB-Ausgabe Berlin 1980, S. 674/5, zit. nach Senghaas, Dieter: Rückblick auf Clausewitz, in: Günter Dill (Hg.): Clausewitz in Perspektive, Frankfurt-Berlin-Wien 1980)

Über das Werk von Clausewitz und seinen historischen Erfahrungshintergrund ist viel debattiert worden (s. z.B. Dill, G. ebd.). Wichtig ist in unserem Zusammenhang Clausewitz' Sichtweise der engen Verbindung zwischen Politik und Krieg sowie von Militär als einem ständigen Instrument zur Gestaltung von Politik. Freilich wird man nach den Erfahrungen des totalen Krieges die großen Unterschiede zu den feudalen Kriegen im 18. und 19. Jahrhundert zu beachten haben, insbesondere dass der Krieg »das letzte Mittel« sei, auf das die Konflikteskalationsleitern sich ausrichten. Der ständig weitere Ausbau von Rüstung nach Zerstörungskraft und kontinentüberschreitenden Einsatzmöglichkeiten in der Gegenwart ist trotzdem eine deutliche Bestätigung des Satzes von Clausewitz, dass der Krieg bloß eine andere Art von Schrift und Sprache der Politik sei. Dies gilt auch, wenn die Politik auf den Samtpfoten der bewaffneten Friedenslyrik von Stufe zu Stufe auf die »humanitäre Intervention« zuschreitet. Krieg wird so zwar als Sonderfall wahrgenommen, ist aber als Option ein ständiges Element von Politik. Wir sprechen deshalb von militärgestützter Politik.

Solche Politik hat selbstverständlich nicht nur Militär als Mittel ihrer Verwirklichung, sondern viele andere Optionen, die im Konfliktfall dem »letzten Mittel« vorgelagert sind und in ihrer Anwendung von dem »letzten Mittel« bestimmt werden. Diese Grundsituation lässt sich am Verlauf des NATO-Jugoslawien-Krieges von 1999 gut erkennen. Ohne die Option des Krieges, der von der NATO mit großen Siegeschancen kalkuliert werden konnte, wären Scheinverhandlungen wie in Rambouillet/Paris undenkbar gewesen. Man hätte ernsthaft um Kompromisse ringen müssen.

Das Militär hat sich viele zusätzliche Bereiche angelagert

Aber nicht nur die Politik, sondern auch das Militär selbst hat sich im Laufe der historischen Entwicklung eine Fülle zusätzlicher Mittel und Instrumente angegliedert. Hier mögen Stichworte genügen: Das Sanitätswesen zur Wiederinstandsetzung beschädigter SoldatInnen. Der riesige Bereich der Ingenieurskunst, der in der Entwicklung immer neuer Waffensysteme sich zu engagieren hat. Die Psychologie für Propaganda und psychologische Kriegsführung. Die Informationstechnologie zur Erkundung/Spionage, Führung von Streitkräften, Lenkung von Waffensystemen usw. Militär benötigt ferner Katastrophenschutzsysteme, GeographInnen, LandeskundlerInnen, MeteorologInnen usw. Es dürfte kaum einen Bereich geben, der nicht in dieser oder jener Weise dem Militär für seine Vorbereitung auf mögliche Kriege zugeordnet worden ist.

Die Auflösungskriege im ehemaligen Jugoslawien, die zu NATO-dominierten Protektoraten führten, zeigen nun, dass auch zur Kriegsnachsorge spezielle Kräfte benötigt werden, um es der Politik zu ermöglichen, die dortigen durch den Krieg zugespitzten Verfeindungen zu entschärfen, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu verbessern, um so die Protektorate überhaupt regierbar zu machen. Diese Leistungen kann das Militär nicht erbringen. SoldatInnen mit ihrer kriegsorientierten Ausbildung können PolizistInnen nur mangelhaft ersetzen und für Versöhnungsarbeit sind sie überhaupt nicht trainiert. Was liegt näher, als zivile »Friedensdienste« hierfür auszubilden und einzusetzen. Diese Funktionen könnten sogar auch »zivilgesellschaftliche« Gruppierungen zum Teil übernehmen, die vom Staat unabhängig ihre Projekte besonders im Bereich der »Nachsorge« verfolgen.

Dilemma der Friedens- und Versöhnungsarbeit

Ein potenzielles Dilemma der Friedens- und Versöhnungsarbeit wird erkennbar:

ZKB und ZFD können sich in Arbeitszusammenhänge begeben oder durch die Umstände gedrängt werden – auch ohne finanziell abhängig zu sein –, in denen sie nicht mehr die von ihnen ursprünglich angestrebte Überwindung militärgestützter Politik verfolgen, sondern in eine Rolle als Hilfskraft für die herrschende Politik geraten. Besonders gefährdet scheint mir der Bereich der humanitären Hilfe zu sein, der nicht friedenspolitisch kalkuliert ist. Einen Fingerzeig für solche Integrationsbemühungen in die herrschende Politik lieferten die ersten »Friedensdienst«-Gesetzentwürfe von SPD und CDU, die im Wesentlichen auf einen technischen Hilfsdienst zielten.

Die Gefahr einer Vereinnahmung für andere Zwecke durch die herrschende Politik ist seit der Bundestagswahl 1998 gestiegen. Von vielen Seiten richteten sich große Hoffnungen auf eine neue Friedenspolitik einer rot-grünen Bundesregierung. Im Koalitionsvertrag war von der Außenpolitik, die Friedenspolitik sein sollte, die Rede. Dort versprach die rot-grüne Regierung, sich „mit aller Kraft um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregulierung“ zu bemühen. Nach fast zwei Jahren zeichnen sich jedoch ganz andere Weichenstellungen ab.

Aufrüstung und Vorbereitung auf Kriege als dominante Politikorientierung

Die erste rot-grüne Weichenstellung ist die deutsche Beteiligung am NATO-Jugoslawien-Kosovo Krieg. Sie liegt auf der Linie der früheren Kohl-Politik, systematisch alle rechtlichen und psychologischen Beschränkungen aus der Zeit nach 1945 in Hinblick auf die nationale Verwendung des deutschen Militärs abzubauen. Damit sollte Deutschland sein militärisches Potenzial in gleicher Weise wie die ehemaligen Siegermächte zum Einsatz bringen können. Der letzte Stein zur militärischen Gleichheit war der Kampfeinsatz der Bundeswehr in einem gemeinsamen Krieg mit den NATO-Alliierten. Diese Politik diente und dient nicht nur einer militärgestützten Außenpolitik, sondern auch der Stärkung der hegemonialen Position Deutschlands in der EU. Es kann nun auch seine militärische Komponenten ohne Abstriche in den Integrationsprozess einbringen.

Die zweite große Weichenstellung ist die Entscheidung der EU-Regierungen, die EU so weitgehend aufzurüsten, dass sie von den USA unabhängig Interventionskriege führen kann. Dies bringt die EU zu einer permanenten qualitativen Konkurrenzaufrüstung mit den USA, dem Ausbau einer EU-europäischen Rüstungsindustrie und einem ständigen, wahrscheinlich anschwellenden Rüstungsexport. Rot-Grün marschiert also mit großen Schritten auf die weitere und sich verstärkende Militarisierung der Außenpolitik zu.

Dem entspricht drittens, dass Rot-Grün bisher keine wesentlichen Anstrengungen gemacht hat, den OSZE-Raum zu einer Gesamteuropäischen Friedensordnung mit der Fähigkeit zu ziviler Konfliktbearbeitung auszubauen, wie es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in der Charta von Paris einmal vorgesehen war. Stattdessen wird die NATO als militärische »Ordnungsmacht« nach Osten erweitert. Das »Gemeinsame Haus Europa« verbleibt als Bauruine, auch wenn Berlin der OSZE ein paar mehr Millionen (Gegenwert von etwa 1-2 Panzerwagen) zur Verfügung stellt.

Berlins Förderung ziviler Konfliktbearbeitung ist dazu kein Gegengewicht

Der in der Friedensbewegung gut bekannte grüne Bundestagsabgeordnete Winni Nachtwei hat am 14.02.00 eine Übersicht zur »Förderung ziviler Interventionsfähigkeiten« der Berliner Regierung vorgelegt. Er nennt darin

  • die Förderung eines Zivilen Friedensdienstes in der Entwicklungsarbeit. Die Mittel hierfür werden in 2000 auf 17,5 Mio. DM erhöht. Eine Bundesförderung für die Ausbildung von 15 Personen für den NGO-ZFD ist eingeplant.
  • Ausbildung für zivile OSZE- und VN-Missionen betreibt das Auswärtige Amt in 14-Tage-Kursen, die 2000 auf dreistufige Lehrgänge erweitert werden sollen. 250 Personen sollen ausgebildet werden. Die Mittel steigen von 0,6 auf 2,1 Mio. DM. „Dabei wird die enge Kooperation mit bestehenden zivilen und militärischen Ausbildungsträgern (Polizei, Bundeswehr, Forum-ZFD) gesucht.“
  • Mitwirkung der BR an dem Beschluss der OSZE in Istanbul, bis Mitte 2000 »Schnelle Einsatzgruppen für Expertenhilfe und Kooperation« (REACT) sowie ein Operationszentrum zur Führung ihrer z.Zt. 19 Operationen aufzustellen. In diesem Zusammenhang steht die Bezuschussung des neugegründeten Zentrums für OSZE-Forschung in Hamburg durch das Auswärtige Amt. Es soll die Wirksamkeit verschiedener OSZE-Instrumente und die Institutionenbeziehungen bei Frühwarnung und Krisenbewältigung untersuchen.
  • Auf deutsche und schwedische Initiative beschloss der Rat der EU im Dezember 99 in Helsinki, einen »Mechanismus zur nicht-militärischen Konfliktbewältigung« zu schaffen und dafür einen Aktionsplan zu erstellen.
  • Das AA habe die Mittel zur „Unterstützung von internationalen Maßnahmen auf den Gebieten Krisenprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung“ von 8,6 auf 28,6 Mio. DM erhöht. Hier werden höchst unterschiedliche Aktivitäten genannt, die zumindest zum Teil in den Bereich diplomatischer Aufgaben fallen. Aufgrund von Sparmaßnahmen wurden allerdings deutsche Botschaften auch in Krisengebieten geschlossen.
  • Eine Konferenzserie der BR zu »Smart sanctions – der nächste Schritt: Waffenembargos und Reisesanktionen«. Nachtwei fügt wörtlich hinzu: „Dass sich die Bundesregierung auch in der Praxis um eine Effektivierung von Sanktionen bemüht, zeigt die Politik der Staatengemeinschaft gegenüber dem Milosevic-Regime, wo sich die Bundesregierung für eine Aufhebung pauschaler Sanktionen (Ölembargo) und eine Stärkung gezielter Sanktionen (Einfrieren von Konten, Visabann für das Milosevic-Umfeld) einsetzt.“ Hat eigentlich der Versuch die Regierung in Belgrad zu stürzen etwas mit ziviler Konfliktbearbeitung zu tun?
  • Die Unterstützung der Friedens- und Konfliktforschung und den Aufbau einer unabhängigen Stiftung hierfür.

Nachtwei folgert, obwohl die Finanzausstattung im Vergleich zum Militär „lächerlich gering“ erscheinen müsse, begänne die Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung zu wachsen.

Zivile Ergänzung der militärgestützten Politik?

Im Gegensatz zu Nachtwei sehe ich ganz andere Infrastrukturen wachsen. In seinem Vorwort zu der AA-Broschüre »Ausbildung für internationale Einsätze« bringt Ludger Vollmer, grüner Staatsminister im AA, die Grundorientierung auf den Punkt: „Die Kosovo-Missionen von NATO, OSZE und VN machen zugleich deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit von militärischen, polizeilichen und zivilen Komponenten in einem Einsatzgebiet sind.“ (S.7) Damit wird unmissverständlich ausgedrückt, es gehe nicht um die Entfaltung einer Alternative zur militärgestützten Außen- und Sicherheitspolitik, sondern um deren Perfektionierung. Der militärischen Komponente, die nachweislich viele Leistungen in einem besetzten Gebiet nicht selbst erbringen kann, soll eine zivile Komponente hinzugefügt werden. PolizistInnen, JuristInnen, Verwaltungspersonal bis hin zu Versöhnungsfachleuten, die das militärisch durchgesetzte Protektorat am Laufen halten sollen. Eine solche Ergänzungspolitik liegt durchaus in der Tradition des Militärs, sich viele eigentlich zivile Bereiche zuzuordnen. Ist aber dadurch der Charakter von militärgestützter Politik verändert worden? Im Gegenteil! Es handelt sich um Effektivierung von Militärpolitik, die auf diese Weise weitere Elemente der Politik durchdringt. So auch den rot-grünen Kurs mit seiner überwältigenden Orientierung auf militärische Aufrüstung.

Wo existiert denn eine zivile friedenspolitische Strategie Berlins? Etwa für Montenegro, das die DM als Zahlungsmittel für sein jugoslawisches Teilgebiet eingeführt hat und wo die NATO Belgrad schon wieder unverhohlen militärisch droht? Etwa für die Türkei, die im Kosovo angeblich für die Menschenrechte militärisch kämpfen durfte, die sie im eigenen Land systematisch unterdrückt? Während die PKK-KurdInnen einseitig einen Waffenstillstand verkündet haben, belohnt Berlin diese wichtige, ja dramatische friedenspolitische Weichenstellung mit einer verstärkten PKK-Verfolgung und KurdInnen-Abschiebung. Gleichzeitig liebäugelt es mit der Lieferung von 1.000 Panzern.

Der Stabilitätspakt für Südosteuropa, den die Friedensbewegung schon lange vor dem Kosovo-Krieg gefordert hatte, kommt zumindest gegenwärtig kaum voran. Offensichtlich sitzt für dieses zivile Projekt das Geld nicht so locker wie für Aufrüstung und Militärinterventionen. Auch hat man Serbien den Zugang zu diesem wichtigen Projekt versperrt und ist damit alten Mustern des militärischen Freund-Feind-Denkens treu geblieben. Doch ohne Einbezug Serbiens wird es auf dem Balkan keine Stabilität geben. Auch die Effektivierung von Embargo-Maßnahmen, die Nachtwei unter der Kategorie »zivile Konfliktbearbeitung« anpreist, kann da nicht weiter helfen. Offensichtlich ist Rot-Grün zu kurz gesprungen und voll im Militärgehege gelandet. Das alles bedeutet, Berlin setzt ganz vorrangig auf den Ausbau der militärgestützten Politik. ZKB und ZFD sollen unter diesen Umständen nur ein Bestandteil dieser Politik sein.

Zivile Konfliktbearbeitung als unabdingbarer Orientierungsrahmen

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, ferner angestoßen durch den Golfkrieg und die Balkankriege, werden zivile und gewaltfreie Konzeptionen in den Diskussionen der Friedensbewegung zunehmend in einem Gesamtkonzept »Ziviler Konfliktbearbeitung« (ZKB) als einem Orientierungsrahmen zusammengeführt. In ihm sollen internationale, staatliche und gesellschaftliche AkteurInnen mit unterschiedlichen Instrumenten je spezifische Aufgaben übernehmen. Dieses normative Gesamtkonzept richtet sich nicht auf Sieg oder Niederlage. Es ist kein Nullsummenspiel, in dem die eine gewinnt, was der andere verliert. Es orientiert sich darauf, dass alle KonfliktpartnerInnen gewinnen sollen und zwar durch die (Wieder)Herstellung ihrer Fähigkeit zur Kooperation bei der Lösung von Konflikten. Der Zivile Friedensdienst ist darin eine wichtige Komponente, soll er doch nicht nur ein Instrument zur Friedensarbeit, sondern auch eines der friedenspolitischen Sozialisation der Gesellschaft werden.

Wenn Formen der Zivilen Konfliktbearbeitung mehr und mehr den kriegerisch-militärischen Konfliktaustrag verdrängen und schließlich ganz beseitigen sollen, so ist dies nur möglich, wenn alle Ebenen der nicht-militärischen AkteurInnen bei Konflikten einbezogen werden. Dazu gehören selbstverständlich sowohl die staatliche Ebene als auch die der internationalen AkteurInnen. Das Verhältnis der zivilgesellschaftlichen TrägerInnen von ZFD zu ihnen wird einen kooperativen und konfliktbereiten Charakter haben müssen. Kooperativ, weil nur gemeinsam ZKB als Alternative zum militärischen Konfliktaustrag zu erreichen ist. Konfliktbereit, weil Staaten und internationale, staatlich-zivile Institutionen einen zivil-militärisch ambivalenten Charakter haben. In ihnen selbst wird der Kampf zwischen zivilen und militärischen Optionen ausgetragen.

Die eigentliche Kontrahentin der ZKB ist nicht das Militär, sondern die militär-gestützte Politik der Nationalstaaten und ihrer Bündnisse. Sie instrumentalisiert das Militär für ihre Zwecke, wobei sie selbst vom Militär zum Teil instrumentalisiert wird. Diese Darstellung entspricht ganz der zivil-militärischen Ambivalenz der Politik, welche sowohl mit Mitteln der ZKB als auch mit militärischen Mitteln in ihren Aktivitäten auftritt. Die militär-gestützte Politik ist also zu überwinden. Eine Kooperation mit ihr würde sie nur stärken. Deshalb dürfen ZKB und ZFD keine Kooperationsverhältnisse mit Militär und militärgestützter Politik eingehen. Selbstverständlich kann man mit RepräsentantInnen dieser Bereiche diskutieren, aber es gilt den eigenen Weg in der eigenen Logik im Sinne von ZKB zu gehen.

Die von Regierungs- und Militärseite immer wieder ins Spiel gebrachte Kooperation von ZFD und Militär dürfte vielmehr dem Wunsch zu verdanken sein, das wichtige Instrument ZFD der eigenen Kontrolle zu unterstellen. So würde aus dem Ansatz für eine Alternative der Konfliktbearbeitung eine erweiterte Palette militärisch-ziviler Handlungsoptionen. Dies jedoch steht im Widerspruch zu allen Zielen, die zu den Bemühungen um eine Alternative zum militärischen Konfliktaustrag geführt haben.

Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie