Die sowjetische SDI-Junktimspolitik in Reykjavik.

Die sowjetische SDI-Junktimspolitik in Reykjavik.

Eine Beurteilung aus abschreckungskritischer Sicht

von Wolfgang Bruckmann

Vieles ist über den Gipfel von Reykjavik, der angeblich keiner war, gesagt und geschrieben worden. Analytisches fand sich darunter kaum. Im wesentlichen kreiste dabei die Debatte nach jenen denkwürdigen Tagen im Oktober 1986 um den Mittelstreckenbereich, will sagen um das sowjetische Junktim zu SDI und die sicherheitspolitische Bedeutung der „Null“-Lösung für die NATO. Während aus den unterschiedlichsten politischen Motiven Moskau aufgefordert wurde, das Junktim zwischen SDI und den INF-Waffen aufzugeben, wurde eine ähnliche Forderung für den Bereich der interkontinentalstrategischen nuklearen Offensivwaffen nicht erhoben. Bekanntlicherweise hat die Sowjetunion auch hier ein Junktim zu SDI hergestellt. Eine Problematisierung dieser Verhandlungsposition aus abschreckungskritischer Sicht ist mir jedenfalls nicht bekannt. Dieses Papier hat nun den Zweck, die Moskauer Junktimspolitik von Reykjavik distanziert zu betrachten und ihre militärstrategischen Hintergründe bloßzulegen.

Die politischen Schlußfolgerungen mögen für manche unbequem sein. Eine blockunabhängige Herangehensweise erfordert jedoch nicht nur eine Kritik an den amerikanischen Rüstungsplänen, wie etwa SDI -, sondern eben auch eine skeptische Beurteilung der sowjetischen Militärstrategie und -politik. Eine Auseinandersetzung mit dem „Krieg der Sterne“-Programm der USA ist an anderer Stelle nicht minder konsequent verfolgt worden.1

Strategische Raketenabwehr und interkontinentalstrategische Offensivwaffen

Der militärstrategische Zusammenhang zwischen SDI und den strategischen Atomwaffen – genauer: ballistische Raketen interkontinentaler Reichweite – besteht in der durchaus plausiblen Annahme, daß die Leistungsfähigkeit einer strategischen Raketenabwehr in dem Maße steigt, wie die Zahl der abzufangenden Raketen abnimmt. Die Sowjetunion fürchtet, daß im Falle einer Stationierung von Raketenabwehrsystemen die amerikanische Bereitschaft zu einem Erstschlag gegen das sowjetische Zweitschlagspotential zunehmen wird, da die in Folge beeinträchtigte sowjetische Vergeltungsfähigkeit durch die Wirkung einer strategischen Raketenabwehr auch noch so weit herabgesetzt werden könne, daß die Kriegsschäden in den USA als Folge des sowjetischen Zweitschlages gemessen am erreichten Kriegsziel (Beseitigung des Antagonisten) in der Wahrnehmung der amerikanischen Administration und der Militärs „akzeptabel“ werden könnten. Zumindest sei eine derartige Situation militärischer Überlegenheit zu politischen Erpressungsmanövern instrumentalisierbar.2

So richtig es ist, daß die Implementierung einer strategischen Raketenabwehr

  • verheerende Auswirkungen auf die strategische Stabilität entfalten könnte,
  • eine gigantische Verschwendung finanzieller, materieller und geistiger Ressourcen wäre,

also strikt abzulehnen ist, müssen doch die Prämissen des sowjetischen Szenarios und die angedrohten militärpolitischen Konsequenzen Moskaus – im wesentlichen die Erhöhung der Zahl strategischer Atomwaffen, um die gegnerische Abwehr zu saturieren 3 – kritisch hinterfragt werden:

a) Erstschlagszenarios sind in vieler Hinsicht als äußerst fragwürdig und auf falschen Prämissen beruhend kritisiert worden.4

Trotz aller technologischen Anstrengungen, die Vernichtungsfähigkeit gegen militärische Ziele – counter military potential (Command-, Control-, Communication- and Intelligence-Structures – C3I-, Raketenbasen, strategische Bomber, U-Boote) durch

  • die Erhöhung von Zielgenauigkeiten strategischer Atomwaffen (Circular Error Probability – CEP),
  • effektivere Atomsprengköpfe,
  • mehrfache Zielabdeckung (Redundanzen),
  • die Steigerung der Funktionstüchtigkeit, Einsatzbereitschaft und Durchdringungsfähigkeit von Atomwaffen,
  • Aufspüren gegnerischer U-Boote (Anti-Submarine-Warfare – ASW),- Effektivierung der C3I-Strukturen zu verbessern, steigen die Erfolgsaussichten eines „entwaffnenden Erstschlages“ in den Berechnungsmodellen der counterforce-Optionen zwar statistisch-theoretisch an, praktisch aber sind sie auf unabsehbare Zeit gering.5 Mehrere Gründe sind dafür ausschlaggebend:

    1. Alle Erstschlagszenarien sind Computersimulationen, deren empirische Relevanz nicht verifiziert werden kann – es sei denn unter den praktischen Bedingungen eines Atomkrieges! Testflüge von Trägersystemen sind nur bedingt aufschlußreich, da die Flugrouten aus naheliegenden politischen Gründen nicht über gegnerisches Territorium verlaufen 6; denn: die dort herrschenden, auf die Flugbahn einer ballistischen Rakete wirkenden besonderen geophysikalischen Bedingungen (Abnormalitäten im Gravitationsfeld der Erde, Beeinflussungen durch den Polmagnetismus) und klimatische Einflüsse (wechselnde Dichten höherer Atomsphären, wechselnde Windgeschwindigkeiten etc.) können nur durch Annäherungsverfahren in mathematischen Modellen und Kalkülen über die theoretische Flugbahn einer Rakete simuliert werden – Irrtümer inbegriffen.
    2. Auf Grund der mehrfachen Abdeckung militärischer Ziele – wie Raketensilos – können die von einer Atomexplosion ausgehenden Einflüsse (Hitze, Gesteinsregen, Druckwelle, starke elektromagnetische Strahlen) die zeitlich später eintreffenden Sprengköpfe vor ihrer Zielerreichung zerstören (fracticide effect), so daß wichtige Erstschlagziele möglicherweise unzerstört bleiben.
    3. Ein in umfassender Weise angelegter Erstschlag („disarming first Strike“) verlangt ein außerordentliches Maß an zeitlicher Koordination: Tausende von Sprengköpfen müssen zu exakt vorausberechneten Zeitpunkten ihr Ziel auch faktisch erreichen – trotz unterschiedlicher Flugbahnen, -zeiten, -geschwindigkeiten und -entfernungen. Möglichst alle gegnerische Atomwaffen befördernden U-Boote (SSBN) müssen unverzüglich aufgespürt und zerstört werden usw. usw. Niemand kann vorhersagen, ob die C3I-Systeme unter Krisenbedingungen dazu in der Lage sein werden.7
    4. Erstschlagsoptionen können durch Gegenmaßnahmen durchkreuzt werden (mobile ICBMs, Cruise Missiles, U-Boote in Binnengewässern etc.).
    5. Ein Zweitschlag kann bei ausreichenden Vorwarnzeiten (vor Eintreffen der „ersten Schläge“) vorweggenommen werden (launch-on-warning).
    6. Ob eine strategische Raketenabwehr einen – wenn auch ggf. geschwächten – sowjetischen Zweitschlag zuverlässig abfangen kann, muß ebenfalls bezweifelt werden 8 : Aufgrund der außerordentlichen Anforderungen an Hard- und Software, deren Erfüllung nur unter Kriegsbedingungen testbar wäre, gibt es systembezogene Leistungsgrenzen, die durch eine nicht vorhersehbare Zahl von Zielen (aufliegende Raketen oder Sprenköpfe) im Falle eines nur teilweise gelungenen amerikanischen Erstschlages überschritten würden, so daß der sowjetische Zweitschlag lediglich unvollkommen abgefangen werden könnte („Übersättigung“). Dies gilt in besonderer Weise dann, wenn der amerikanische Erstschlag aufgrund einer sowjetischen „launch-on-warning“-Strategie „ins Leere“ träfe.9 Aber selbst wenn aus amerikanischer Sicht alles optimal verliefe, bestünde für Moskau immer noch die Möglichkeit, die Abfangmanöver von SDI-Systemen durch Täuschungsmanöver zu durchkreuzen, nicht-ballistische Flugkörper oder solche mit gedrückten Flugbahnen zu verwenden oder die ABM-Systeme direkt zu attackieren.10
    7. In allen Erstschlagmodellen bleibt der Einsatz anderer, nichtnuklearer Massenvernichtungsmittel (B- und C-Waffen) außer Betracht.

Diese Argumente gelten im übrigen für alle Erstschlagszenarien, sowjetische amerikanische.

b) Strategische Stabilität ist jedoch nicht nur das Ergebnis materiell- rüstungstechnischer, sondern auch kognitiver Prozesse. Erstschlagszenarien mögen noch so unplausibel sein: solange innerhalb der Abschreckungsstruktur die waffentechnologische und strategisch-konzeptionelle Entwicklung von den jeweiligen „sicherheits“-politischen Eliten als Absicht des Gegners interpretiert wird, Erstschlagfähigkeit zu erlangen bzw. die zukünftige Qualität eines bestimmten Waffenpotentials als erstschlagfähig wahrgenommen wird, dann gewinnt dieser Umstand praktische Bedeutung und politische Relevanz – trotz falscher Prämissen.

Ist demnach das sowjetische Junktim, einer Reduzierung von strategischen Atomwaffen nur unter den Bedingungen zuzustimmen, daß die USA ihr SDI-Programm auf Forschung und Tests ausschließlich in Laboratorien beschränken, zwingend?

Diese Frage ist deshalb von enormer politischer Bedeutung, weil derzeit offenbar nur ein Verhandlungsansatz abrüstungsträchtig ist (d.h. eine Reduzierung und Abschaffung von strategischen und eurostrategischen Atomwaffen ermöglicht), der den Ausgleich zweier gegenläufiger Interessen bewirken würde, also:

  • die sowjetischen Erstschlagsbefürchtungen auszuräumen in der Lage ist,
  • das amerikanische SDI-Programm innerhalb der durch den ABM-Vertrag gesetzten Schranken unberührt läßt.

Mit anderen Worten: Es geht um die Suche nach einer weitestgehend abschreckungsimmanenten und pragmatischen Lösung des Problems.

Hier wird die Auffassung vertreten, daß der Schlüssel für einen Interessenausgleich in einer Abrüstungsmechanik läge, die – SDI vorerst außer Betracht lassend – vor allen Dingen die counterforce-Potentiale der Großmächte reduziert. D.h.: Eine 50%-Verringerung von strategischen Offensivwaffen innerhalb von 5 Jahren nach Abschluß eines Abkommens – wie von der Sowjetunion in Reykjavik vorgeschlagen 11 – müßte sich vor allen Dingen auf bestehende und geplante Systeme konzentrieren, die von der Sowjetunion in Kombination mit SDI als erstschlagsfähig eingestuft werden: Minuteman III, MX, Midgetman, Trident 2, Stealth-Bomber (ATB) und Cruise Missiles.12 Ausgeschlossen werden müßten ebenfalls technologische Entwicklungen, die aus den noch verbleibenden strategischen Offensivwaffen erstschlagsfähige Systeme machen würden. Dies bedeutet einen Verzicht der USA auf die satellitengestützte Lenkung ballistischer Raketen (NAVSTAR). Rüstungskontrollpolitisch unbedingt erfaßt werden müßten auch zweitschlagsbeeinträchtigende Entwicklungen im Bereich der Unterwasserkriegsführung (ASW).13

Es wird deutlich, daß der Sowjetunion nach einem erfolgten amerikanischen Erstschlag ohne MX weitaus mehr Sprenköpfe für einen Zweitschlag verblieben, als wenn es zu einem Einsatz der MX-Rakete käme.14

System Zielgenauigkeit (CEP) Sprengkraft (Y[kT]>) Zahl der Sprengköpfe(n) Zahl der
zerstörten Ziele; Wahrscheinlichkeit > 97 % [Summe nautical missiles/m]
Minuteman III Mk 12 0,120/220 170 kT 750 (3 MIRV) 150
Minuteman III Mk 12A 0,120/220 335 kT 900 (3 MIRV) 300
MX 0,054/100 300 kT 1000 (10 MIRV) 500
Trident II 0,075/130 475 kT 5184 (8-12 MIRV) 2376
Summe 3326
Quellen: eigene Berechnungen, Annahmen und Daten s. Fußnote 15

Ein mathematisch-statistisches Modell eines Erstschlagszenarios mit prädestinierten counterforce-Waffen (Minuteman III, MX, Trident II) kommt zu folgenden Ergebnissen:

Die Summe der mit hoher Wahrscheinlichkeit zerstörten Ziele (>97 %) gewinnt an Aussagekraft, vergleicht man sie mit der Zahl der für einen Erstschlag bedeutsamen sowjetischen counterforce-Ziele:

  • höchste militärische und politische Kommandozentralen: >100 16;
  • Silos von landgestützten Interkontinentalraketen: 1398 17;
  • Startbasen der sowjetischen Fernbomberflotte: 3 18
  • U-Boot-Basen: ca. 7 19.

Zusammen ergibt dies knapp 1500 erstrangige (Land-) Ziele. Selbst unter der Annahme, daß die Zahl der sowjetischen counterforce-Ziele in den nächsten Jahren zunähme, kann mit mathematisch-statistischer Plausibilität gesagt werden, daß alle in einem angenommenen „disarming first Strike“ anvisierten höchstrangigen Ziele mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 97 % zerstört werden könnten. Dabei sind nichtballistische, unbemannte (Cruise Missiles) und bemannte (strategische Bomber) Flugkörper mit dem in Zukunft radarrückstrahlungsminimierten Querschnitt („Stealth“) noch nicht einmal berücksichtigt. Auch diese werden Erstschlagsaufgaben übernehmen können.

Einschränkend muß jedoch gesagt werden, daß diese Betrachtung nur von zwei Komponenten der strategischen Triade handelt. Die theoretische Erfolgsträchtigkeit eines „disarming first Strike“ hängt allerdings auch davon ab, inwiefern es gelänge, die gegnerischen atomwaffenbefördernden U-Boote auszuschalten. Es können jedoch beunruhigende technologische Entwicklungen beobachtet werden, so daß eine theoretische first-strike-Fähigkeit mit Hilfe der rasant fortschreitenden Anti-Submarine-Warfare-Technologie (ASW) in Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann.20

c) Welche Konsequenzen hätte der hier vorgeschlagene Verhandlungsansatz für die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik? Zunächst ist festzuhalten, daß ein wesentliches Ergebnis darin bestünde, daß tiefere Einschnitte bei den strategischen Atomwaffen vorgenommen würden, anstatt – wie es bisher die Praxis von Rüstungskontrolle war – vereinbarte Obergrenzen festzulegen. Also: Atomare Abrüstung statt kontrolliertet Aufrüstung. Neben der Reduzierung von US-counterforce-Waffen käme es außerdem nicht nur zu einem Abbau der sowjetischen Pendants (SS-18, SS-19, SS-25)21; das amerikanische SDI-Programm könnte auf diese Weise politisch delegitimiert werden, da amerikanische Erstschlagsbefürchtungen („window of vulnerability“) – so unplausibel sie auch sein mögen – gegenstandslos würden. Hinzu kommt, daß der hier vorgeschlagene Ansatz die Abrüstungsdebatte auf jene Waffen fokussiert, deren Abschaffung bzw. Entwicklungsstop sofort möglich wäre und die durch die Reagan-Administration selbst moralisch disqualifiziert wurden. Die Kritik am Zukunftsprogramm „SDI“ sollte dabei keineswegs vernachlässigt werden; die politische Forderung sollte weiterhin sein, den ABM-Vertrag einzuhalten und sein Regime zu stärken. Worum es dennoch geht, ist der Verzicht auf das Junktim „SDI und strategische Offensivwaffen“, vorausgesetzt, die nukleare Abrüstung folgte einer die counterforce-Waffen vorwiegend betreffenden Reduzierungsmechanik. Ein gewichtiger Einwand sei in diesem Zusammenhang noch diskutiert: Sind die hier vorgeschlagenen Maßnahmen verifizierbar?

Während beim Entwicklungssektor zukünftiger strategischer Offensivwaffen (durch Satellitenaufklärung kontrollierten Flugtestverbot militärischer ballistischer und nichtballistischer Flugkörper) und bei der Verschrottung vorhandener strategischer Atomwaffen (Satellitenaufklärung, internationale Kontrollkommissionen) die Abrüstung relativ einfach zu kontrollieren ist, 22 wäre die Einhaltungsüberprüfung verbotener oder eingeschränkter U-Boot-Kriegsführung und Satellitenlenkung von ballistischen und nichtballistischen Flugkörpern (NAVSTAR) zwar komplizierter, aber dennoch die Probleme nicht unlösbar:

Durch bestimmte Frequenzverbote und zahlenmäßige Begrenzung von Navigationssatelliten könnte die weltraumgestützte Lenkung von Flugkörpern unterbunden, 23 durch Seesanktuarien, zahlenmäßigen Abbau von Jagd-U-Booten und Einrichtung spezieller Unterwasserdetektoren zur Einhaltungsüberprüfung eines vereinbarten Abbaus von Sonartripoden die ASW-Fähigkeit vermindert bis vereitelt werden.24

d) Es ist nicht zu verhehlen, daß trotz der hier diskutierten Argumente für einen sowjetischen Verzicht auf ein Junktim offene Fragen geklärt werden müssen 25:

  1. Wird nicht durch eine Aufgabe des Junktims „SDI/strategische Offensivwaffen“ nur unter der hier vorgeschlagenen Abrüstungsmechanik ein neues Junktim eingeführt?
  2. Führt nicht ein Einlassen auf die erwogene Ebene zu einer nimmer endenden und daher wenig erfolgsträchtigen Debatte darüber, was nun eigentlich erstschlagsfähige counterforce-Waffen sind und was nicht, welche Systeme für einen Abbau infrage kämen und wie ihr Abbau verifizierbar wäre?
  3. Da die vorgeschlagene Lösung vor dem Hintergrund verschiedener Schwerpunktsetzung der Großmächte bei den strategischen Atomwaffen eine asymmetrische Herangehensweise erfordern würde, ist es fraglich, ob ein Konsens über Struktur und Gewichtung erzielbar wäre.

Diese Probleme müssen diskutiert werden, um die Erfolgsaussichten des hier vorgeschlagenen Ansatzes abschließend beurteilen zu können.

Strategische Raketenabwehr und Mittelstreckenraketen

a) In der Zeit vor dem Gipfel von Reykjavik hat es wiederholt Stellungnahmen hoher sowjetischer Politiker und Militärs gegeben, die für die Genfer Verhandlungen eine von SDI separierte Lösung im INF-Bereich nicht ausschließen wollten.26 Erst in Reykjavik schnürte Gorbatschow ein Gesamtpaket und stellte damit auch ein Junktim zwischen SDI und den INF-Systemen her. Diese Verhandlungsstrategie wurde offenbar weder vom Genfer Chefunterhändler der Sowjetunion. Karpov. noch von ihrem Sonderbotschafter Lomejko geteilt.27 Es gilt, diesen Widerspruch aufzuklären.

b) Die vor Reykjavik unzutreffende Moskauer Bereitschaft, ein von Weltraum- und strategischen Atomwaffen getrenntes INF-Abkommen abschließen zu wollen und dabei

  • die forward-based-systems der USA
  • die französischen und britischen Atomwaffen unberücksichtigt zu lassen,

ist das späte Eingeständnis einer militärstrategischen Bedeutungslosigkeit der SS-20 28 ; denn: sowjetische interkontinentalstrategische Systeme entfalten ebenfalls kontinentalstrategische Abschreckungswirkung, da sie auch über mittlere, d.h. eurostrategische Reichweiten eingesetzt werden können. Ein umgekehrter Zusammenhang besteht nicht. Mit anderen Worten: Eine für den mittleren Operationsradius konzipierte Rakete, wie die SS-20, erlaubt keinen Einsatz über interkontinentale Reichweiten, d.h. sie erreicht amerikanisches Territorium nicht (s. Abb. 4). Ihre zahlenmäßige Aufstockung als eine gegen SDI gerichtete Maßnahme wäre daher sinnlos. Das von sojwetischer Seite gelegentlich vorgetragene Argument, durch SDI stiege die Bedeutung britischer und französischer Atomwaffen und daher benötige Moskau ein dagegen gerichtetes Abschreckungspotential, ist nicht nur wegen des oben genannten Sachverhaltes fragwürdig. Entgegenzuhalten ist auch, daß die französischen und britischen Potentiale eigenständige Bestandteile nationaler und nicht amerikanischer counterforce-Einsatzplanung sind. Eine flankierende Funktion im Rahmen eines amerikanischen Erstschlages ist daher nur schwer vorstellbar.

Wenn aber zwischen SDI und den INF kein militärstrategischer Zusammenhang besteht, warum dann das sowjetische Junktim? Die Antwort führt über die gegenwärtige Einschätzung der Pershing II durch die UdSSR; denn: Würde Moskau die Anfang der 80er Jahre getroffene Beurteilung der Pershing als strategische Enthauptungswaffe beibehalten haben, ist das Junktim nicht mehr plausibel, da

  • die Sowjetunion dann immer noch ein existentielles Interesse daran haben müßte, gerade diese Waffen wegzubekommen und
  • durch die gleichzeitige Abrüstung der SS-20 das gegen SDI gerichtete Zweitschlagspotential interkontinentalstrategischer Systeme davon unberührt blieben.

Das Junktim ist der offenkundige Beleg dafür, daß die Pershing II von der UdSSR heute nicht mehr als Enthauptungswaffe im Rahmen eines amerikanischen Erstschlags beurteilt wird. Die sowjetische Bereitschaft, vor Reykjavik zu einem getrennten INF-Abkommen zu gelangen, hatte m.E. vorwiegend politische Gründe:

Die sowjetische Politik zielte auf die schwächste Stelle der geltenden NATO-Strategie: das Glaubwürdigkeitsdilemma eines mit Eskalationsrisiken bedachten Atomwaffenersteinsatzes zur „Verteidigung“ westeuropäischer Nichtatomwaffenstaaten. Letztere betrachten die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles als Instrument der Ankopplung an amerikanische „Sicherheitsinteressen“. Da dieses militärstrategische Problem der westeuropäischen Öffentlichkeit kaum nahe gebracht werden konnte, wurde der Popanz östlicher Überlegenheit aufgebaut und die „Nach“-Rüstung erfunden. Durch das Eingehen Gorbatschows auf das westliche Verhandlungsangebot der „Null“-Lösung zwang er die NATO, Farbe zu bekennen – und entlarvte die westliche Legitimations- und Durchsetzungsstrategie der „Nach“-Rüstung als großangelegtes Täuschungsmanöver zur Kaschierung (vermeintlicher) militärstrategischer Dilemmata. Die FAZ brachte es auf den Punkt: „Das Angebot einer Null-Lösung war für die Öffentlichkeit gedacht und im Vertrauen ausgebrochen worden, daß Moskau nicht bereit wäre, seine Mittelstreckenraketen total zu beseitigen.“29

Welche Gründe mögen Gorbatschow nun veranlaßt haben, die „Null“-Lösung mit einem Junktim zu SDI zu verknüpfen und damit dem Westen dieses politische Problem zu erlassen? Offenbar hat das Junktim einen höheren politischen Stellenwert als die Bloßlegung westlicher Strategiedefizite.

Meine These: Während die sowjetische Bekräftigung, den ABM-Vertrag die nächsten zehn Jahre einhalten zu wollen und in Übereinstimmung damit den USA Laborforschung und -tests von ABM-Systemen zu gestatten, auf den amerikanischen Kongreß und die amerikanische Öffentlichkeit zielt, soll das Junktim im Mittelstreckenbereich bewirken, daß die Regierungen und die Öffentlichkeit in den Stationierungsländern politischen Druck auf die Reagan-Administration ausüben, das SDI-Programm einzuschränken (s.o.), um auf diese Weise den Weg für eine Abrüstung der INF-Systeme freizumachen.

Das Junktim hat also eine SDI-Verhinderungsfunktion; es ist Teil des sowjetischen Verhandlungspokers.

c) Diese Verhandlungsstrategie geht von der Annahme aus, die betroffenen westeuropäischen Regierungen wollten auf die amerikanischen Mittelstreckenwaffen tatsächlich verzichten. Dies mag für die Cruise-Aufnahmeländer noch richtig sein (mit Ausnahme der Briten); für die jetzige Bundesregierung ist es unzutreffend. Im Gegenteil: Das sowjetische Junktim „spielt“ dem Stahlhelmflügel in der CDU/CSU geradezu in die Hände. Nicht genug: Solange die Pershing II und die Cruise nicht abgezogen werden, wird der Warschauer Vertrag die Dislozierung operativ-taktischer Raketen (SS-21, SS-23) in der DDR und der CSSR, die auf die Stationierungsräume der genannten INF-Systeme zielen, nicht rückgängig machen. Dieser Umstand wiederum wird von der Regierung als Legitimationsvehikel herangezogen, um eine „Nach“-Rüstung bei den Kurzstreckenraketen und den Aufbau einer taktischen Raketenabwehr in Westeuropa zu begründen. Der Kreis schließt sich.

Fazit

a) Zum Junktim SDI/Strategische Atomwaffen:

  • Der militärstrategische Begründungszusammenhang ist auf Grund der irrationalen Prämissen von Erstschlagszenarien fragwürdig.

Bei einem Verhandlungsvorschlag der den USA das SDI-Programm beläßt ohne es politisch zu akzeptieren – und einer die erstschlagsfähigen counterforce-Waffen betreffenden Abrüstungsmechanik folgt, wäre das sowjetische Junktim verzichtbar.

Der hier vertretene Ansatz würde entweder eine substantielle Abrüstungsperspektive bei den strategischen Atomwaffen eröffnen, deren politische Sogwirkung auch das SDI-Programm delegitimieren könnte, oder – einmal mehr – die Abrüstungsunwilligkeit der US-Administration demonstrieren.

Zum Junktim SDI/INF

Das Junktim ist in erster Linie verhandlungspolitisch motiviert; ein militärstrategischer Begründungszusammenhang besteht nicht.

Die westeuropäischen Aufnahmeländer der INF-Systeme sind das Objekt verhandlungspolitischer Kalküle der Großmächte. Dies ist politisch nicht akzeptabel. Trotz unserer eindeutigen Kritik an SDI: Auch das sowjetische Junktim ist zurückzuweisen.

Nachwort

„Die Sache kommt nicht vom Fleck, seit vielen Jahren nicht.“ (Georgi Arbatow) 30

„Ich komme sogar immer mehr zu dem Schluß, daß es schädliche Verhandlungen gibt, Verhandlungen nämlich, die ein Teil des Wettrüstens sind.“ (Georgi Arbatow) 31

Abkürzungsverzeichnis:

ABM
Anti-Ballistic-Missile
ASW
Anti-Submarine-Warfare
ATB
Advanced Technology Bomber
CEP
Circular Error Probability
C3I
Command, Control, Communication, Intelligence
CMP
Counter Military Potential
d
delivery system
H
Hardness
ICBM
Intercontinental Ballistic Missile
INF
Intermediate Nuclear Forces
K
Lethality (Kill-Faktor)
kT
kilo-tons
MIRV
Multiple Independently Reentry Vehicle
MX
Missile Experimental
n
Zahl der Sprengköpfe
NAVSTAR
Navigation Sattellite Timing and Ranging
p
penetration

PK

Probability to Kill
r
reliability
SLBM
Sea-Launched-Ballistic-Missile
SS
Surface to Surface
SSBN
Ballistic Missile Carrying Nuclear Powered Submarine
SSKP
Single Shot Kill Capability
td
target destroyed
w
warhead
Y
Yield

Anmerkungen

1 Wolfgang Bruchmann: Krieg der Sterne. Reagans Himmelfahrtkommando und Kohls Gefolgschaftstreue. Zur strategischen Bedeutung von „SDI“ und „EVI“, ihre rüstungskontrollpolitischen Folgen und Konsequenzen für eine politische Strategie der Friedensbewegung; in: Statt Krieg der Sterne Abrüstung auf der Erde. Analysen und Dokumente aus der Arbeit der Grünen im Bundestag, Bonn 1985Zurück

2 o.A.V.: Sternenkriege. Illusionen und Gefahren; Moskau 1985, S. 30/31Zurück

3 Committee of Soviet Scientists for Peace, against Nuclear Threat: A space-based anti-missile-system with directed energy weapons; Strategic, legal and political Implications; Moscow 1984, p. 21 ff.Zurück

4 Bunn, Matthew/Tsipis, Kosta: Die Unsicherheiten eines nuklearen Präventivschlages; Spektrum der Wissenschaft, Januar 1984, S.20 ff.Zurück

5 Roßbach, Stefan: Überlegungen zur Methodologie militärischer Kräftevergleiche, Ebenhausen 1986, S. 43 ff.Zurück

6 ebenda, S. 49Zurück

7 Krell, Gert/Lutz, Dieter: Nuklearrüstung im Ost-West-Konflikt; Baden-Baden 1980, S. 144 ff.Zurück

8 Labusch, Reiner: Erstschlagstrategie und Erstschlagfähigkeit; in: Weltraum ohne Waffen, Hrsg. ders., Maus, E., Send, W.; München 1984, S. 122 ff.Zurück

9 Steinbrunner, John: Vergeltungsschlag bei nuklearem Angriff; in: Spektrum der Wissenschaft, März 1983, S. 54 ff.Zurück

10 s. Fußnote 3Zurück

11 Gorbatschow, Michail: Ergebnisse und Lehren von Reykjavik; Moskau 1986, S. 11, 32Zurück

12 o.A.V.: Von wem geht die Gefahr für den Frieden aus? Moskau 1984, S. 32 ff.Zurück

13 Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): Yearbook 1979, London 1979, p.427 ff.Zurück

14 s. Fußnote 8, S. 134 f.Zurück

15 Systemdaten:- International Institute for Strategie Studies (IISS): Military Balance 86/87, London 1966, p. 200 – Norris, Robert: Counterforce at See; The Trident II Missile, in: Arms Control Today; Ed. by Arms Control Association,9/86, p. 5 ff. – Kemp, Geoffrey: Nuclear Forces for Medium Powers, Part l: Targets and Weapon Systems, in: Adelphi Papers No.106, p. 6 – SIPRI: Yearbook 1982, London 1982, p. 279 – Soule, Robert: Counterforce Issues for the U.S. Strategie Nuclear Forces; Congressional Budget Office; Washington 1978, p. 5. Weitere Ausführungen und Erklärungen: s. Wolfgang Bruckmann: Marschflugkörper – auf dem Wege zur „first Strike capability“? Eine Studie über technologische Entwicklung, strategische Bedeutung und rüstungskontrollpolitische Implikationen der Cruise Missiles; Bonn 1983 Zurück

16 Berman, R. P.; Baker, J. C.: Soviet Forces Requirements and Responses, Brooking-Institute, Washington D.C.1982, p. 103/137. Die Verfasser geben die Anzahl von 60 US-National-Command-Authority-Centers an. Für die Sowjetunion dürften ähnliche Bedingungen gelten. Zurück

17 s. Fußnote 7, S. 96 Zurück

18 Department of Defense (DOD): Soviet Military Power, Washington 1981, p. 6 f. Zurück

19 Lutz, Dieter: Die Rüstung der Sowjetunion, Baden-Baden 1979, S. 116 ff. Zurück

20 Wit, Joel S.: Neue Systeme zur U-Boot-Bekämpfung, in: Spektrum der Wissenschaft, April 1981 S. 58 ff. Zurück

21 I.I.S.S.: Military Balance 1986/87, a.a.O., p. 204 Zurück

22 Hafemeister, David: Advances in Verification Technology, in: Bulletin of the Atomic Scientists,1/85, p. 35 ff. Zurück

23 Garwin, Richard: Antisubmarine Warfare and National Security, in: Scientific American, Vol. 227, No.1, July 1972, p. 14 ff. Zurück

24 Bernard T. Feld/Kosta Tsipis, The Future of the seabased deterrent Mass., 1973, passim. Zurück

25 s. Fußnote 21, p.200 ff.Zurück

26 Die Zeit, Nr.44, 24.10.86 Zurück

27 ebenda Zurück

28 Bundesminister für Verteidigung: Weißbuch 1983. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1983, S. 76 Zurück

29 FAZ 20.10.86 Zurück

30 s. Fußnote 26 Zurück

31 ebenda Zurück

Wolfgang Bruckmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundestagsfraktion der GRÜNEN

„Abschreckungsimmanent“ oder „Abschreckungskritisch“?

„Abschreckungsimmanent“ oder „Abschreckungskritisch“?

Zum Reykjavik-Beitrag von Wolfgang Bruckmann

von Wolfgang Zellner

Der Anspruch des Beitrags von Wolfgang Bruckmann (WB) besteht in der Beurteilung der „sowjetischen SDI-Junktimspolitik in Reykjavik“ „aus abschreckungskritischer Sicht“. Sein Ziel ist es nachzuweisen, daß die in Reykjavik von der sowjetischen Führung für die Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen bzw. die Halbierung der strategischen Atomwaffen aufgestellte Bedingung, auf SDI zu verzichten bzw. den ABM-Vertrag strikt einzuhalten, überflüssig, ja kontraproduktiv sei.

Zur Klärung der Begriffe: Unter einem Junktim kann man zwei verschiedene Qualitäten von Verbindung verstehen. Zum einen einen mehr oder weniger willkürlich, auf jeden Fall politisch hergestellten Zusammenhang zwischen einem Ziel und einem anderen. wobei dieser Zusammenhang nicht in der Sache selbst begründet liegt. Diesem Begriff von Junktim folgt WB. Zum anderen kann ein Junktim einen nicht oder schwer zu lösenden Sachzusammenhang ausdrücken. Ob Junktim im politischen Sinne oder als Sachzusammenhang: Jede Verkettung eines angestrebten (oder zugestandenen) Ziels mit einem anderen Ziel, das für die Erreichung des ersteren als Bedingung aufgestellt wird, folgt einer Logik, in der das Bedingungsziel der stärkere und ausschlaggebende Teil des Zusammenhangs ist. Unter Abschreckung verstehe ich die immer einseitige Bedrohung des einen durch einen anderen; dies impliziert notwendigerweise die eigene Nichtbedrohung, den eigenen Schutz. Eine Erhöhung der Abschreckungsdrohung kann daher direkt durch Erhöhung der offensiven Bedrohung oder indirekt durch Erhöhung des eigenen Schutzes erfolgen. Abschreckung bleibt immer einseitige Bedrohung, auch wenn sich beide Seiten gegenseitig bedrohen. Mutual assured destruction existiert nicht als gemeinsame Strategie, sondern lediglich als labile Resultante sich gegenseitig aufhebender einseitiger Bedrohungen.

Was das sowjetische Junktim in Reykjavik zwischen Null-Lösung und SDI betrifft, bin ich mit den Schlußfolgerungen von WB einverstanden. Zwischen INF und SDI besteht kein unmittelbarer militärstrategischer Zusammenhang, der Zusammenhang war vielmehr ein mit Blick auf die westeuropäische Haltung zu SDI verhandlungspolitisch gesetzter, der am 28.2.87 von der sowjetischen Führung politisch wieder gelöst wurde. Damit muß diese Frage hier nicht weiter behandelt werden.

Anders liegen die Dinge auf der strategischen Ebene. WB versucht auch hier nachzuweisen, daß ein zwingender militärstrategischer Zusammenhang zwischen strategischen Offensiv- und Defensivwaffen nicht gegeben sei und kommt in seinem „Fazit zum Junktim SDI/Strategische Atomwaffen“ zu dem Ergebnis: „Der militärstrategische Begründungszusammenhang ist auf Grund der irrationalen Prämissen von Erstschlagsszenarien fragwürdig.“ Deshalb wäre das sowjetische Junktim zwischen dem Verzicht auf SDI und der Halbierung der strategischen Offensivwaffen überflüssig.

Der Erörterung von Erstschlagsszenarien ist ein großer Teil des Papiers gewidmet. Die Ausführungen sind jedoch über weite Strecken im Urteil nicht so apodiktisch wie das eben zitierte Fazit, sondern schwanken in ihrer Charakterisierung von Erstschlagsszenarien zwischen „irrational“ und „nicht ausgeschlossen“.

Nach einer längeren Aufzählung von Gründen, warum Erstschlagsszenarien nicht funktionieren können, schreibt WB: „Erstschlagsszenarien mögen noch so unplausibel sein; solange innerhalb der Abschreckungsstruktur die waffentechnologische und strategisch-konzeptionelle Entwicklung von den jeweiligen sicherheitspolitischen Eilten als Absicht des Gegners interpretiert wird, Erstschlagsfähigkeit zu erlangen, (…) dann gewinnt dieser Umstand praktische Relevanz – trotz falscher Prämissen.“ Dies trifft natürlich nicht nur für die Einschätzung durch den Gegner zu, sondern auch für die Eigeneinschätzung einer Atomwaffenmacht bezüglich ihrer Möglichkeiten, das eigene Atomwaffenpotential einzusetzen. So forderte das Pentagon-Leitliniendokument 1982 trotz sicherlich völlig falscher Prämissen von den amerikanischen Streitkräften die Fähigkeit, „die gesamte sowjetische (und mit der Sowjetunion verbündete) militärische und politische Machtstruktur auszuschalten“ und darüber hinaus die sichere Vernichtung der „atomar und konventionell ausgerüsteten Streitkräfte und der Industrien, die für die militärische Macht von entscheidender Bedeutung sind.“1

Leider geht WB nur auf sowjetische Erstschlagsfähigkeit, nicht jedoch auf amerikanische Erstschlagsstrategien ein. Im Übrigen ist nicht primär die Frage handlungsrelevant, ob Erstschlagsstrategien irrational sind. Das sind sie immer, wie Atomwaffen überhaupt. Die Frage ist vielmehr, ob diese Irrationalität handlungsleitend wahrgenommen wird oder nicht. Daß dies eben nicht der Fall ist, zeigt WB mit einer ausführlichen Darlegung der Verbesserung der amerikanischen counterforce-Fähigkeiten durch die bis Mitte der 90er Jahre zulaufende Generation neuer strategischer Atomwaffen i.Z. mit den die U-Boot-gestützte Zweitschlagsfähigkeit der UdSSR bedrohenden, rapide gewachsenen amerikanischen Fähigkeiten zur U-Boot-Bekämpfung. Er kommt zu dem Schluß: „Es können jedoch beunruhigende technologische Entwicklungen beobachtet werden, so daß eine theoretische First-Strike-Fähigkeit mit Hilfe der rasant fortschreitenden Anti-Submarine-Warfare-Technologie (ASW) in Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann.“ Damit bestätigt WB einen militärstrategischen Zusammenhang zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zumindest als Gefahr für die unmittelbare Zukunft. Er reduziert ihn allerdings auf zwei Aspekte: Erstschlagsfähigkeit auf Grund der technologischen Entwicklung sowie die Erstschlagsbefürchtungen der UdSSR.

Dieser reduzierte, keineswegs aber aufgelöste Zusammenhang bildet den Hintergrund für den zentralen Vorschlag von WB: „Derzeit (ist) offenbar nur ein Verhandlungsansatz abrüstungsträchtig, (…) der den Ausgleich zweier gegenläufiger Interessen bewirken würde, also: – die sowjetische Erstschlagsbefürchtungen auszuräumen in der Lage ist; – das amerikanische SDI-Programm innerhalb der durch den ABM-Vertrag gesetzten Schranken unberührt läßt. M.a.W.: Es geht um die Suche nach einer weitgehend abschreckungsimmanenten und pragmatischen Lösung des Problems. Hier wird die Auffassung vertreten, daß der Schlüssel für einen Interessenausgleich in einer Abrüstungsmechanik läge, die – SDI vorerst außer Betracht lassend – vor allen Dingen die counterforce-Potentiale der Großmächte reduziert.“

Als erstes ist bei diesem Ansatz klärungsbedürftig, was gemeint sein soll: „SDI innerhalb des ABM-Vertrages“ oder „SDI vorerst außer Acht lassen“. Daß der Autor „SDI vorerst außer Acht lassen“ meint, bestätigt eine andere Textstelle, wo von einem „Verzicht auf das Junktim SDI und strategische Atomwaffen“ noch einmal die Rede ist, zumal „SDI innerhalb des ABM-Vertrages“ ja i.w. der sowjetischen Position gleichkäme. Zwei Aspekte sind an dieser Position bemerkenswert:

1. Aus der „abschreckungskritischen“ Sicht ist die Suche nach „weitgehend abschreckungsimmanenten Lösungen“ geworden. Der anfangs der Arbeit aufgestellte Anspruch ist damit aufgegeben, m.E. mit verheerenden Folgen.

2. WB stellt ein neues Junktim her zwischen der Reduzierung der Counterforce-Waffen um die Hälfte als Bedingung für das Außerachtlassen von SDI. In Frageform vermerkt er dies zwar selbst, verfolgt den Gedanken jedoch nicht weiter.

Damit drängt sich ein Vergleich auf zwischen dem sowjetischen Junktim und dem neu formulierten von WB:

Das sowjetische Junktim verknüpft zwei Dinge: Den Verzicht auf SDI mit der Halbierung der strategischen Offensivwaffen. Als bedingendes Ziel ist der Verzicht auf SDI der Dreh- und Angelpunkt der sowjetischen Position. Man könnte diese auch wie folgt formulieren: Wir reduzieren die offensive Bedrohung unter der Bedingung, daß keine neue defensive Bedrohung dazukommt. WB dreht das sowjetische Junktim um. Er sagt: Unter der Bedingung der Halbierung der strategischen Waffen unter besonderer Berücksichtigung der Counterforce-Waffen müßte man bereit sein, „SDI vorerst außer Betracht zu lassen“. Damit stellt er, ohne dies expressis verbis zu sagen, den ABM-Vertrag zur Disposition. Daran ändert nichts, daß WB weiter dafür plädiert, „den ABM-Vertrag einzuhalten und sein Regime zu stärken“, denn diese Zielsetzung hat wegen der angestrebten Außerachtlassung von SDI keine praktische Relevanz mehr.

Der Dreh- und Angelpunkt des neuen Junktims ist nicht mehr die Verhinderung einer neuen Bedrohung (SDI) durch das Festhalten am ABM-Vertrag, sondern der (noch zu diskutierende) Versuch einer Verringerung der offensiven Bedrohung durch Reduzierung der Counterforce-Waffen im Austausch gegen das Zugeständnis des de facto Gewährenlassens bei SDI. Käme ein Abkommen nach diesem Muster zustande, wäre das Wettrüsten auf der einen Seite gebremst und auf der anderen Seite – bei den modernsten Waffensystemen – beiderseits sanktioniert. Von den offensiven Möglichkeiten von Weltraumwaffen, die WB nicht erörtert, ganz zu schweigen.2

Von der logischen Struktur her – nicht den quantitativen Parametern – ist WBs Junktim baugleich mit dem amerikanischen Junktim in Reykjavik für eine zehnjährige Nichtkündbarkeit des ABM-Vertrages. Dort hatte die amerikanische Delegation als Bedingung für eine zehnjährige Unkündbarkeit des ABM-Vertrages gefordert, alle strategischen ballistischen Raketen abzuschaffen. Gemeint war damit allerdings eine Interpretation des ABM-Vertrages, die freies Testen im Weltraum erlauben und lediglich die Stationierung von ABM-Systemen verbieten würde. Diese sollte nach Ablauf der zehn Jahre erlaubt sein. Unter dem Strich bedeutete dies, SDI außer Acht zu lassen.

An dieser Stelle rächt sich bitter, daß WB die „abschreckungskritische Sicht“ verlassen hat zugunsten abstrakter abschreckungsimmanenter Lösungsmodelle, ohne zumindest jene politischen Möglichkeiten zu diskutieren, die etwa in den USA von denjenigen Kräften erörtert werden, die abschreckungsimmanent nach Lösungen suchen.

So wird an keiner Stelle des Papiers die Diskussion um den Versuch der Reagan-Administration aufgenommen, den ABM-Vertrag neu zu interpretieren. Aber gerade vom Scheitern dieses Versuches – und dafür spricht seit Senator Nunns Reden einiges – hängt wesentlich ab, ob es amerikanisch-sowjetische Verständigungsmöglichkeiten darüber geben kann, was der ABM-Vertrag erlaubt und was nicht. Die Voraussetzung, um dies überhaupt erörtern zu können, ist allerdings der politische Wille, am ABM-Vertrag festhalten zu wollen. Da WB dieses Ziel – nicht verbal, aber handlungsrelevant – aufgegeben hat, ist es kein Zufall, daß er die Interpretationsdebatte um den ABM-Vertrag, die ihn in die Problematik wieder zurückgeführt hätte, nicht aufnimmt. Ebenfalls nicht erörtert wird das im US-Kongreß bisher durchgehaltene ASAT-Testmoratorium, obwohl dies auch für die Beschränkung von SDI-Tests von Bedeutung ist.

Was den Abbau der Counterforce-Waffen im Rahmen der Halbierung der strategischen Waffen angeht, nennt WB auf amerikanischer Seite die Systeme Minuteman III, MX, Midgetman, Trident 2, Stealth-Bomber und Cruise Missiles. Das sind diejenigen Systeme, aus denen die US-Streitkräfte im Jahr 2000 zu über zwei Dritteln bestehen sollen. Wie dieser Entwicklungstrend mit dem Abbau der Counterforce-Waffen, der ja der Dreh- und Angelpunkt des Vorschlags von WB ist, in Einklang zu bringen ist, wird nicht erläutert. „Rüstungskontrollpolitisch unbedingt erfaßt müßten zudem nach Auffassung von WB die ASW-Fähigkeiten werden, da sie die U-Boot-gestützte Zweitschlagsfähigkeit bedrohen.

Wie hier allerdings die Verifizierung laufen soll, die im Grunde genommen nur darin bestehen könnte, die ASW-Fähigkeiten des Gegners – und damit gut gehütete Militärgeheimnisse – zu kennen, bleibt trotz einiger Vorschläge im Dunkel. Insgesamt erscheint das Untemehmen, prioritär die Counterforce-Waffen zu reduzieren, wenig praktikabel und vielmehr wahrscheinlich, was WB (in Frageform) selbst befürchtet: „… eine wenig erfolgträchtige Debatte darüber, was nun eigentlich erstschlagsfähige Counterforce-Waffen sind und was nicht.“

Nicht mehr nachzuvollziehen ist daß WB trotz dieser Zweifel und trotz de; Einsicht, daß „Raketenabwehr verheerende Auswirkungen auf die strategische Stabilität entfalten könnte“ und „also strikt abzulehnen ist“, festhalten kann an einem Ansatz, der für die in ihrem Erfolg fragwürdige Reduzierung von Counterforce-Waffen den Aufbau einer Raketenabwehr konzediert.

Der Fehler an WBs Arbeit ist nicht der anfangs gesetzte abschreckungskritische Ansatz, sondern ganz im Gegenteil die Tatsache, daß der Autor diesen Anspruch im Verlauf der Arbeit völlig zugunsten von „pragmatischen“ Lösungen aufgegeben hat, die keinerlei Verbindung zum Ausgangspunkt mehr aufweisen. Der Vorschlag, wider besseres Wissen den Aufbau einer neuartigen Bedrohung aus dem Weltraum zuzulassen zugunsten eines Abbaus von Bedrohung auf der Erde, ist kein Weg heraus aus den tödlichen Bedrohungen der atomaren Abschreckung, sondern im Gegenteil geeignet, die Abschreckung zu stärken und das Wettrüsten auf die modernsten Sektoren zu verlagern.

Es gibt m.E. durchaus Möglichkeiten, pragmatische und abschreckungsimmanente Lösungen mit der Perspektive der Überwindung der atomaren Abschreckung zu verbinden. Einen solchen Denkansatz sehe ich in dem Versuch, auf der Grundlage des ABM-Vertrags in der bisherigen Interpretation auszuhandeln, welche konkreten Tests erlaubt sind und welche nicht und dabei im Detail kompromißbereit vorzugehen. Einen solchen Vorschlag hat die Union of Concerned Scientists gemacht.3 Die Voraussetzung für jede solche Lösung ist aber, nichts zur Disposition zu stellen, was schon einmal erreicht worden ist, keine Drohung neu aufzubauen, auf deren Nichteinsetzung man sich schon einmal verständigt hat. Das gilt zu allererst für den ABM-Vertrag.

Anmerkungen

1 Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/82, S. 1014.Zurück

2 Vgl. Jürgen Altmann, Laserwaffen, HSFK-Report 3/1986, S. 18f.Zurück

3 Vgl. Gert Kren u.a., Von der Rüstungskontrolle zur Abrüstung? HSFK-Report 1/1987, S. 47. Zurück

Wolfgang Zellner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro von Katrin Fuchs, SPD-MdB.

Spiel´s nicht nochmal, Henry! Thesen zur amerikanischen Außenpolitik nach Reykjavik

Spiel´s nicht nochmal, Henry! Thesen zur amerikanischen Außenpolitik nach Reykjavik

von Bernd Greiner

Es lohnt sich eben doch, die Klassiker zu lesen. Sie lassen Illusionen erst gar nicht aufkommen und ersparen manche herbe Enttäuschung. Wer heute die Klassiker außenpolitischer Meinungsbildung – „Foreign Affairs“, „Foreign Policy“ und die diversen Publikationen das Council of Foreign Relations – aufschlägt, wird sich hüten, vorschnell die Totenglocken das Reaganismus zu läuten. Wer heute den Weg der „alten Elite“, allen voran Henry Kissingers, verfolgt, wird an der These vom bevorstehenden „Machtwechsel in Washington“ keinen Gefallen finden.

Vorschnelle Urteile über die politische Entwicklung in den USA haben nach Reykjavik wieder Konjunktur. Vom Bankrott der Regierung ist die Rede, wenn Reagan eine Krise nicht innerhalb einer Woche telegen beigelegt hat; werden Kabinetts- und Stabsmitglieder ausgetauscht, scheinen bereits neue politische Kräfte das Feld zu erobern. Wer Rüstungskontrolle nicht in Bausch und Bogen verdammt, wird als Förderer der lange ersehnten Abrüstung gefeiert. Frühlingserwachen aller Orten – der Durchbruch zu neuen Ufern ist demnach nur noch eine Frage der Zeit. Dergleichen Einschätzungen besagen weniger über die politische Realität in den USA als über die Wunschbilder ihrer Kommentatoren. Nach der Wahl Reagans im November 1980 waren viele versucht, die politische Schubkraft der „konservativen Revolution“ zu überschätzen; heutzutage überschätzen sie das Durchsetzungsvermögen der Kritiker Reagans.

Zugegeben: Es tut sich einiges am Potomac. Parteien und Öffentlichkeit streiten wie seit Jahren nicht mehr um die Grundlagen der Außenpolitik. Die Regierung wird ähnlich schonungslos, bisweilen hämisch kritisiert wie Lyndon Johnson in den letzten Monaten seiner Amtszeit oder Richard Nixon auf dem Höhepunkt des Watergate-Skandals. Die Opposition genießt es offensichtlich, ihren konservativen Gegnern deren eigene Melodie vorzuspielen: Amerika hat sich wieder einmal isoliert, ist im Kampf um die „Freiheit“ zum schuldbeladenen Komplizen von Terror und Tyrannei geworden, an die Stelle politischer Berechenbarkeit ist kleinkarierter Wankelmut getreten. Und zu allem Überfluß hat die Führung des Landes wieder einmal klammheimlich eine „Regierung innerhalb der Regierung“ aufgebaut und mit deren Hilfe hinter den Kulissen allerlei dunkle Geschäfte abgewickelt.

Die Waffenschiebereien an den Iran und die Finanzierung der Contras in Nicaragua waren nicht die Ausnahme, sondern für längere Zeit die Regel. Aufträge dieser Art gehörten zum politischen Alltag der „Cowboys“ im Nationalen Sicherheitsrat. Cowboys mögen als Kultursymbole recht nützlich sein, wenn sie aber versuchen, über alle kontrollierenden Instanzen hinweg Außenpolitik zu betreiben, schicken Kongreß und Medien den Sheriff. Und gegen Gary Cooper hat Ronald Reagan schon immer schlecht ausgesehen: von Oliver North und all den anderen „Helden“ ganz zu schweigen.

Aber es ist verfrüht, schon jetzt das „high noon“ für Reagan auszurufen. Der Präsident ist zweifellos in größeren Schwierigkeiten als jemals zuvor in den 80er Jahren. Seit „Irangate“ gelten alte Loyalitäten nicht mehr, selbst ehedem verläßliche kalte Krieger kommen ins Grübeln. Wer sich heute in Washington als außenpolitischer Globalist und Interventionist vorstellt, erntet nicht unbedingt Beifall. Gewichen sind die Souveränität und das strotzende Selbstbewußtsein vergangener Jahre. Fast ängstlich fragen die Sprachrohre des Neokonservatismus nach der Zukunft des „außenpolitischen Konsens“. All dies signalisiert Krisenstimmung, Unsicherheit und Schwäche. „Bankrott“, „Machtwechsel“ oder „Kräfteverschiebung“ können freilich daraus noch nicht abgelesen werden. Wieso muß gleich Konkurs anmelden, wer sein Konto überzogen hat? Parlamentarische Kontrollkommissionen und Medien mögen Reagan „mangelnden Professionalismus“ vorwerfen – in der Tat die schlechteste Note, die im politischen und wirtschaftlichen Betrieb der Vereinigten Staaten zu vergeben ist. Zu einer Anklage wegen Amtsmißbrauch reicht aber auch dieses Zeugnis (noch) nicht.

Reagan sucht augenblicklich krampfhaft nach Auswegen, die Opposition nach Alternativen. Beide mischen ihre Karten neu. Wie und ob sie damit erfolgreich sein werden, ist völlig ungewiß. Altes bricht auf, angestaute Kritik entlädt die Konstellation gerät in Bewegung. Wer über Zukunft und Perspektiven spricht, kann allenfalls Hypothesen vorstellen und Konturen möglicher politischer Modelle benennen. Eines dieser „Modelle“ ist als Mixtur dreier politischer Linien vorstellbar und setzt sich aus Elementen des Reaganismus, aus Entwürfen der neuen Mehrheit in der demokratischen Partei und aus Überlegungen der traditionellen „Elite“ im Nordosten des Landes zusammen.

1. Janus in Reykjavik

Während des Treffens Reagan-Gorbatschow im Oktober 1986 wurden die Reichweite und die Grenzen der augenblicklichen amerikanischen Kompromißlinie deutlich. Die „International Herald Tribune“ veröffentlichte am 18.2.1987 den bislang detailliertesten Bericht über diese „bizarrsten Verhandlungen mächtiger Staatsoberhäupter in der neueren Geschichte“. Daraus geht hervor, daß die amerikanische Seite nicht im mindesten bereit war, auf zentrale Bestandteile ihres atomaren Offensivpotentials oder gar auf SDI zu verzichten. Der Waffenmix aus Angriffs- und Verteidigungssystemen bleibt weiterhin das oberste Gebot. Dies schließt freilich nicht aus, daß aus politischen Gründen gewisse Waffentypen zur diplomatischen Disposition gestellt werden.

Gorbatschow eröffnete die Verhandlungsrunde: alle offensiven strategischen Waffen werden um die Hälfte reduziert; beide Seiten verschrotten die in Europa stationierten Mittelstreckenraketen (ohne Rücksicht auf britische und französische Systeme) und nehmen neue Verhandlungen über einen atomaren Teststopp auf; der ABM-Vertrag bleibt für zehn weitere Jahre in Kraft und wird „eng“ ausgelegt, d.h. die Entwicklung von Weltraumwaffen bleibt auf Laboratorien beschränkt. Die Antwort der amerikanischen Delegation (formuliert von Richard Perle aus dem Pentagon und Robert Linhard vom Nationalen Sicherheitsrat) verdeutlichte schon frühzeitig die unüberbrückbaren Gegensätze. Eine Verlängerung des ABM-Vertrages um zehn Jahre kommt nur in Frage, wenn beide Seiten während dieser Zeit alle offensiven ballistischen Raketen vernichten. Die USA lehnen es ab, alle offensiven Waffen abzurüsten, und werden – so die offizielle Lesart der Reaganschen Position – auf unabsehbare Zeit nicht auf Atomwaffen verzichten können. SDI-Forschung und Entwicklung muß auch außerhalb des Labors erlaubt sein. Darüber hinaus nehmen die USA das Recht in Anspruch, nach Ablauf der Zehnjahresfrist ein Raketenabwehrsystem im Weltraum zu stationieren.

Die sowjetische Reaktion war absehbar. Wenn nur ballistische Raketen abgerüstet werden, bleibt ein Restpotential offensiver Atomwaffen zurück, die jederzeit gegen das Territorium der UdSSR eingesetzt werden können (z.B. Cruise Missiles und atomwaffentragende Langstreckenbomber). Mit einem SDI-System kombiniert, eröffnen diese Offensivwaffen neue Möglichkeiten nuklearer Kriegsführung. Und wieso soll die UdSSR ihr einzig mögliches Gegengewicht zu SDI – nämlich Interkontinentalraketen – verschrotten, ohne daß die USA sich im Gegenzug zu einem Verzicht auf SDI bereiterklären?

Reagan war offensichtlich nicht gewillt, auf Gorbatschows Einwände einzugehen, und stellte auch keine weitere amerikanische Beratung über dieses Problem in Aussicht. Er packte seine Papiere und erklärte die Sitzung für beendet.

Nur ein „Verrückter“ – so Gorbatschow später – hätte die amerikanischen Vorstellungen akzeptieren können. So viel zu der Mär, in Reykjavik seien durchgreifende Vereinbarungen „greifbar nah“ gewesen.

Aber das Treffen auf Island hat noch ein zweites Gesicht. Die amerikanische Delegation war in der Erwartung angereist, hauptsächlich über Mittelstreckenwaffen und Atomtests zu verhandeln. Man glaubte, diese Gespräche von SDI und den strategischen Waffen „abkoppeln“ zu können. Eine Null-Lösung für Pershing II und Cruise Missiles sowie SS 20 hätte schon in Reykjavik vereinbart werden können. Freilich wollten die Amerikaner damit nicht einen übergreifenden Abrüstungsprozeß in die Wege leiten. Es ging ihnen in erster Linie darum, an einem kontroversen Gegenstand den „politischen Willen“ zur Rüstungskontrolle zu demonstrieren und damit die anhaltende Kritik an zentralen Waffenprogrammen wie SDI und an der „Modernisienung“ des strategischen Arsenals (MX, Midgetman, Trident II) zu neutralisieren. Um im Bild des „Raketenschach“ zu bleiben: die Mittelstreckenraketen sind das politische Bauernopfer, um die Dame im Spiel zu retten. Schon im Frühjahr 1986 war nämlich klargeworden, daß das Pentagon-Budget im Kongreß und in den Bewilligungsausschüssen zunehmend unter Druck geraten würde. Nach sieben Jahren kontinuierlicher Expansion sanken 1986 die Militärausgaben erstmals wieder (von 295 Milliarden Dollar auf 286 Milliarden Dollar). Im Zeichen der Haushaltssanierung waren weitere Kürzungen nicht auszuschließen. Auch forderte die demokratische Kongreßmehrheit immer lauter konkrete Ergebnisse auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle.

Seit dem „Irangate“-Skandal steht Reagan noch stärker unter Druck. Wenn er überhaupt politischen Bewegungsspielraum zurückgewinnen will, muß er rasch handeln. Er braucht noch 1987 einen Durchbruch – spätestens mit Beginn des Wahlkampfes für die neue Präsidentschaft wird der alte Amtsinhaber nur noch zu Repräsentationszwecken eingesetzt. Es gibt also durchaus Chancen für eine Null-Lösung – nicht zuletzt auch deshalb, weil aus den Reihen des Militärs keine unüberwindbaren Widerstände zu erwarten sind. Im Pentagon wurde nämlich von jeher die Position vertreten, im Zweifelsfall die militärischen Funktionen von Pershing II und Cruise Missiles an andere Systeme zu delegieren.

Es ist durchaus möglich, in den kommenden Monaten aus der jahrelang verfahrenen Situation auszubrechen – und ein solcher Schritt dürfte nicht geringgeschätzt werden. Denn noch ist nicht darüber entschieden, ob Reagans Kalkül aufgeht und ein Bauernopfer die „Dame SDI“ rettet. Jedes Abkommen entwickelt eine eigene politische Dynamik. Diese Unsicherheit muß Reagan eingehen, will er aus der innenpolitischen Defensive herauskommen, oder dem Druck der sowjetischen Angebote außenpolitisch Paroli bieten. Noch scheint der Preis nicht zu hoch zu sein.

Was aber folgt auf Reagan? Wie sind die Aussichten, den eben begonnenen Prozeß weiterzuführen? In Welcherverfassung präsentieren sich die Kräfte, die den jetzigen Präsidenten ablösen wollen?

2. Wer hat Angst vor Michail Gorbatschow?

So lautet das Stück, das die Kritiker Reagans augenblicklich der interessierten Öffentlichkeit darbieten. Die Hauptrollen sind mit der Prominenz des „nordöstlichen Establishment“ besetzt. Die alten Eliten, die unter Reagan scharenweise an die Provinzbühnen verbannt worden waren, gastieren wieder in ihren Stammhäusern. Die „off-Broadway“-Zeiten scheinen vorerst vorbei. Die bisherigen Vorstellungen lassen noch keine grundsätzliche Abkehr von der Reaganschen Außenpolitik erkennen. Gerade die Überlegungen zur Politik gegenüber der UdSSR müssen mißtrauisch stimmen. „Wer hat Angst vor Michail Gorbatschow?“, fragen sich die meinungsbildenden Foren – „Foreign Affairs“ und „Foreign Policy“ allen voran – seit Monaten. Ihr bislang einstimmiges Votum lautet: niemand im Westen braucht sich zu fürchten. Es gibt keinen Grund, vorschnell Positionen zu räumen oder einen gänzlich neuen Kurs einzuschlagen. Die USA können weiterhin aus selbstsicherer Position und im Bewußtsein der Stärke Politik betreiben. Michael Mandelbaum vom „Council of Foreign Relations“ und Strobe Talbott von „Time Magazine“ verweisen in der Winterausgabe von „Foreign Affairs“ auf die vorgeblich positiven Wirkungen des SDI-Programms. Reykjavik habe wie kein anderes Datum bewiesen, daß die USA mit diesem Programm Druck ausüben können und daß die Sowjetunion bereit sei, substantielle Zugeständnisse zu machen. Der Spielraum sowjetischen Nachgebens sei noch keineswegs ausgereizt, denn erst allmählich dämmere der Moskauer Führung, wie entschlossen der Westen auf die hemmungslose sowjetische Aufrüstung reagiere.

Selbstverständlich wählt man moderate Töne, um diese Sichtweise vorzutragen. Ganz Establishment, haben Talbott und Mandelbaum das schrille Vokabular der Parteigänger Reagans nicht nötig. In der Sache aber übernehmen sie die Argumentationsmuster der Reaganauten oder tischen Uraltes als neue Erkenntnis auf – im Zweifelsfall als Erkenntnis, die erst in Reykjavik offenbar wurde. So ist beispielsweise die These vom „diplomatischen Wert“ bestimmter Waffenprogramme (mindestens) so alt wie das Nuklearzeitalter: die Atombombe mußte dazu herhalten, die UdSSR in Polen zum Nachgeben zu zwingen (was dann doch nicht geschah); die Wasserstoffbombe schien geeignet, die sowjetische Ökonomie in die Knie zu zwingen und damit eine weitere Aufrüstungsrunde zu verhindern (auch hier sind die Ergebnisse bekannt); was die Interkontinentalraketen und folgende Programme politisch bewirken sollten, ist an dieser Stelle unerheblich – wichtig ist nur, daß sie außer sinnloser Rüstung nichts bewirkten. Dies hat sich mittlerweile auch überall herumgesprochen – außer in jenen Kreisen, die eine „Alternative zu Reagan“ aufbauen wollen.

Robert Kaiser von der „Washington Post“ reiht sich mit seinem Aufsatz (ebenfalls in „Foreign Affairs“) forsch in die Reihe politisierender Philosophen ein. Er will Zukünftiges denken und landet dabei jenseits aller Geschichte. Postmodern vom Scheitel bis zur Sohle, mahnt er zur historischen Gelassenheit. Epochales kündigt sich an – der endgültige Abstieg der sozialistischen Weltmacht. Gorbatschow als tragischer Held – Julius Cäsar und Hamlet in einem – erkennt die Zeichen der Zeit, kann aber den Gang der Dinge nicht mehr ändern. Er verwaltet den ökonomisch-technologischen Abstieg und muß ohnmächtig mitansehen, wie sich der ideologisch-moralische Zusammenhalt seiner Gesellschaft allmählich verflüchtigt. Zynisch und fatalistisch werden all jene, die selbst unter Breschnew noch an den Sieg des Weltkommunismus glaubten. Selbstverständlich ist für Dramatik in diesem Stück gesorgt: denn auch im Niedergang stellt die UdSSR ihre Expansionsinteressen über alles. Vorsicht ist also geboten. Aber der westliche Held wird in keine Falle tappen, wenn er sich seiner Stärke bewußt wird und sie moderat einsetzt. Auf- und abgeklärt kann er den Rückzug und die allmähliche Anpassung des Gegners zur Kenntnis nehmen und sich endlich dem Wichtigsten widmen: der Erlösung der Menschheit durch „high technology“. In der Tat: in einem solchen Film hätte Ronald Reagan einstmals die Hauptrolle spielen können.

Weniger lyrisch, aber in der Sache ähnlich gehaltvoll argumentieren F. Stephen Larrabee und Allen Lynch in der jüngsten Nummer von „Foreign Policy“ (Winter 1986/87). Sie sind mit ihren Überlegungen nah am politischen Puls des „nordöstlichen Establishment“. Insbesondere glauben sie den Beweis erbringen zu können, daß auch Gorbatschow der Erbsünde sowjetischer Außenpolitik verfallen ist. Er will Europa von den USA „abkoppeln“ – nur raffinierter als der bärbeißige Gromyko, der das schurkische Unterfangen am Ende seiner Amtszeit noch nicht einmal mehr verbergen wollte. Nein, Gorbatschow säuselt und lockt. Handels- und Technologieaustausch mit der EG, militärische Eigenständigkeit Westeuropas, Null-Lösung bei den Mittelstreckenwaffen – das Repertoire des Taschenspielers ist reichhaltig. Kaum auf Seite drei ihres Manuskriptes angelangt, haben sie in einer Position selbst Ronald Reagan rechts überholt. Reykjavik war und ist ihnen ein ganz besonders gefährliches Pflaster, denn Null-Lösung bedeutet Abkopplung Europas von den USA, und Abkopplung wiederum signalisiert den Anfang vom Ende alles Politischen. Larrabee und Lynch schreiben weniger über Gorbatschow als über die Ur-Angst der Eliten im amerikanischen Nordosten. Der „Atomschirm“ für und über Europa ist ihnen heilig, jeder Haushaltstitel dafür billig. Auf diesem Altar werden im Zweifelsfall auch alle Bedenken gegen SDI geopfert.

Wer also hat Angst vor Michail Gorbatschow? Nur wer seine eigene Courage fürchtet. Und dergleichen Charaktere sind in den USA bekanntlich dünn gesät. Sie kommen – wie das Beispiel Henry Kissinger zeigt – unter den Intellektuellen des politischen „main stream“ überhaupt nicht vor.

3. Machiavelli im Exil

Henry Kissinger ist der Primus der alten Eliten, die sich von Reagan betrogen fühlen und seit Neuestem den Emporkömmlingen der „Neuen Rechten“ wieder die Plätze streitig machen. Sie werden den Machiavelli der Ivy League nicht wieder ins Rennen schicken; aber als Ratgeber ist er nach wie vor sehr gefragt. Der Professor aus Harvard bleibt also ein politisches Thema.

Die Erfahrung lehrt, daß Kissingers Rat in der Regel auf die Mehrheitsmeinung unter der künftigen Präsidentschaft schließen läßt. Wie kaum ein anderer in der amerikanischen Nachkriegspolitik verfügt er über ein ausgeprägtes Gespür, atmosphärische Veränderungen und das Entstehen neuer politischer Konstellationen frühzeitig wahrzunehmen. Während seine Konkurrenten sich noch der alten Herrschaft andienen, nimmt er bereits Witterung auf und stellt sich auf die kommenden Mehrheitsverhältnisse ein. Posten, Einfluß und Ansehen haben ihm stets Recht gegeben. Ende der 50er Jahre trat er rechtzeitig mit seinem Buch „Nuklearwaffen und Außenpolitik“ hervor und sicherte sich damit einen prominenten Platz unter den Kritikern der „massiven Vergeltung“. „Begrenzter Krieg“ auf den Schauplätzen der Dritten Welt war das Thema. Wenige Jahre später hatte die Entdeckungam politischen Sternenhimmel auch einen Namen: „flexible Reaktion“. Von der Regierung Kennedy aus der Taufe gehoben, wurde sie unter Lyndon Johnson zum Dogma. Kissinger hatte es geschafft. Nicht länger mußte er dem Nationalen Sicherheitsrat langweilige Traktate über psychologische Kriegsführung abliefern, die dann doch im Papierkorb landeten. Jetzt endlich war er zum „defense intellectual“ aufgestiegen und stand am Beginn einer großen Karriere. Die Gemeinde hörte ihm zu. Als andere noch davon träumten, Vietnam in die Steinzeit zurückzubomben und „Detente“ noch nicht im politischen Sprachschatz vorkam, thematisierte Kissinger die „Entspannung“. Wenn die USA ihre weltpolitische Isolation durchbrechen wollten, dann mußten sie die Beziehungen zur UdSSR und zur VR China neu gestalten. Von „Kooperation statt Konfrontation“ und vom „Zwang zur Zusammenarbeit“ war die Rede. Richard Nixon konnte es nicht überhören. Als er sein erstes Kabinett bildete, hatte sich der Professor aus Harvard schon selbst berufen. Steiler ging es nimmer: nationaler Sicherheitsberater, später Außenminister und in den Watergate-Jahren der heimliche Präsident.

Seit dieser Zeit lebt Kissinger – mehr oder weniger schmollend und wenigstens in dieser Haltung mit Helmut Schmidt vergleichbar – im Exil. Er hält Vorträge, reist umher und bildet immer noch Meinung. Schon Jahre ist es her, als er der Vergangenheit abschwor. Die zwischen 1968 und 1973 diskutierten Modelle der Entspannungspolitik sind längst vergessen; das Establishment der Ostküste, einst auch liberalen Abweichungen wohlgesonnen, ist nach Rechts gerückt. Die Amtsperioden Reagans taten das ihre. Was aber rät Kissinger für die Zukunft? Spürt er wieder das neue Zentrum der Macht? Erahnt er, welche Programme und Konzepte bald gefragt sein werden? Es ist zu befürchten. Er vermittelt schon wieder – diesmal zwischen der alten Reagan-Mehrheit und den traditionellen Eliten.

Beispielhaft für diese Vermittlung ist eine in „Newsweek“ am 2.3.1987 veröffentlichte Analyse über den „Umgang mit Gorbatschow“. Was zur Zeit des Vietnam-Krieges nur Linksradikale sagen durften, wird jetzt zum Thema: daß die Außenpolitik eines Landes Ausdruck seiner inneren Verfassung ist. Und da schwant Kissinger Düsteres: ein innenpolitisch erfolgreicher Gorbatschow wird das Land stärken, eine starke UdSSR expandiert und verursacht Spannungen, Spannungen kommen nur dem Totalitarismus zugute und mindern die Sicherheit der westlichen Demokratien. Man sieht die Dominos schon wieder reihenweise fallen. Hatte Kissinger in früheren Tagen oft noch eine überraschende argumentative Wende parat, so spricht er die Politik der Stärke heute akzentfrei. SDI ist der Brennpunkt westlicher Strategie, und wer dies (wie einige windelweiche Eurpäer) noch nicht begriffen hat, versteht eben nichts von Politik. Und eine Null-Lösung bei Mittelstreckenwaffen kann wahrlich nur politischen Amateuren einfallen. Druck, nicht Zugeständnisse sind das Gebot der Stunde. Wann hat man die UdSSR je in solchen Schwierigkeiten gesehen? Wer diese Großmacht disziplinieren will, muß es jetzt tun. Noch scheint der Mantel der Geschichte nicht an Washington vorbeigerauscht.

Es ist müßig, die Feinheiten aus Kissingers Analyse vorzutragen. Er ist von einem „neuen Denken“ so weit entfernt wie sein historisches Vorbild Metternich von der Mitgliedschaft im Jakobinerclub.

Man mag der Meinung sein, daß im einen oder anderen Fall Ansätze und Gedanken vertreten werden, die Anlaß zur Hoffnung geben können. Man mag auch auf eine weitere Differenzierung hoffen, denn schließlich hat der Kampf um die nächste Präsidentschaft noch gar nicht recht begonnen. Und man mag schließlich einwenden, jede der hier vorgestellten Positionen sei für sich genommen oder in jedweder Kombination noch immer besser als eine Fortsetzung des Reagan-Kurses. Stimmt. Und dennoch scheint sich auch am Beispiel der außenpolitischen Diskussion zu bestätigen, daß in den 80er Jahren die politischen Richtungswechsel in den USA langsamer über die Bühne gehen als früher. Das Alte kann sich allen Fehlern und Skandalen zum Trotz sehr lange halten, phasenweise sogar regenerieren. Es profitiert vom Opportunismus und der Perspektivlosigkeit seiner langjährigen Kritiker. In den USA fehlt im bürgerlichen Lager seit langem eine politisch treibende Kraft, die vom Skandal der regierenden Elite nicht nur phasenweise profitieren will und sich weigert, mit politischen Almosen über die Runden zu kommen. Keine Gruppierung ist in der Lage, den Schächeanfall des Reaganismus zu nutzen, die alten Verhältnisse aufzumischen und Neues aufzubauen. Die demokratische Partei und die sie tragenden Kräfte werden auf absehbare Zeit an dieser Aufgabe scheitern. Jedenfalls drängt sich diese Schlußfolgerung nach einer Lektüre der Klassiker auf.

Dr. Bernd Greiner ist beschäftigt bei der Stiftung „Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“ in Hamburg.

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

„Zeit des Übergangs“ ist der Beitrag des US-Politikers Paul Walker in diesem Heft überschrieben.

In der Tat: Wir befinden uns in einer eigenartig unentschiedenen Situation. Das konservative Lager, das entscheidend von der Wirtschaftskrise in den 70ern profitierte, ist noch stark genug, um sich an der Macht zu halten, doch für die Durchsetzung der eigentlich intendierten Politik schwinden die Kräfte. Die Opposition hat seit Anfang der 80er Jahre die konservative Dynamik auf zentralen Politikfeldern sukzessiv gebrochen und neue Chancen eines Übergangs eröffnet zu einer abrüstungsorientierten Politik. Dabei markieren die Verschiebungen im sozialdemokratisch-ökologischen Block in Fragen der Friedens- und Abrüstungspolitik das zentrale Ereignis. Hier liegt zugleich die große Schwäche: Ohne eine inhaltlich klare, perspektivreiche Verbindung der Fragen der Abrüstungs-, Sozial- und Ökologiepolitik mit der Wirtschaftspolitik kann die Macht des weiter auf Aufrüstung setzenden konservativen Blocks nicht gebrochen werden. Noch entfalten Programme das „Umbaus der Industriegesellschaft“ oder „Arbeit und Umwelt“ kaum mobilisierende Wirkung. Auch fehlt es – denkt man an die kläglichen Kürzungskonzepte der SPD zum Rüstungsetat an konzeptioneller Präzision.

Bis Reykjavik gab es vielleicht noch ein wenig Kredit für die Behauptung der Konservativen, gerade ihre Aufrüstungspolitik werde zu ernsthaften Verhandlungen und zur Rüstungskontrolle führen. Nunmehr ist offensichtlich: Die Aufrüstung auf selten der NATO – und vor allem SDI – soll nicht zur Abrüstung, sondern zur militärischen Überlegenheit fahren. Und es ist auch deutsch geworden, wie unmittelbar die wissenschaftlich-technischen „Fortschritte“ in der Welt der Waffen zum Hemmnis für eine friedliche Zukunft geworden sind.

Der „dialogische Imperativ“ (Th. Sommer), der die USA und die UdSSR an den Verhandlungstisch gebracht hat, folgt nicht allgemein-menschlicher Vernunft. Vielmehr muß dieser immer wieder auf die Sprünge geholfen werden: durch die Bewegung der Betroffenen.

Die Ära der Entspannung der siebziger Jahre und die Friedensbewegung der achtziger Jahre haben offenbar einen Keim gelegt, der nicht auszurotten ist. Daher geraten die Aufrüstungsbefürworter zunehmend unter Druck. Nur mühsam läßt sich noch kaschieren, daß das Streben nach militärischer Überlegenheit und Abrüstung nicht zusammengehen. Doch genau dies wird weiter versucht werden. Für dieses Geschäft eignen sich Kohl und Genscher.

Sie werden weiter „ernsthaft und hart arbeiten“, „intensiv verhandeln“, auf „positive Signale aus dem Osten“ warten und dgl. mehr. Dahinter mag auch das Bestreben stecken, die schwierige Balance der Abschreckung nicht aus dem Gleichgewicht kippen zu lassen. Doch vor allem geht es um Beschwichtigung und Druckentlastung: laßt uns nur machen.

Der grundlegende Irrtum liegt in der Vorstellung, die Friedensbewegung zerfalle. Die wunderbare Demonstration in Hasselbach hat jedoch deren Vitalität unter Beweis gestellt. Nach Reykjavik gilt mehr denn je: Nötig ist eine eigenständige Friedensbewegung. Ihre Aufgabe besteht jetzt besonders darin, die konkreten Möglichkeiten für die Durchsetzung von Abrüstung zu nutzen. Es ist gut, wenn sich der 1. Internationale Naturwissenschaftler-Kongreß in Hamburg mit dem Thema „Wege aus dem Wettrüsten“ beschäftigt. Sehr konkrete Vorschläge werden unterbreitet werden. Dies wird immer mehr die zukünftige Stärke der Friedensbewegung sein (die ja zunächst von der legitimen Angst vor den Raketen genährt wurde und einen Abwehrkampf führte): ein positives Abrüstungsprogramm zu erarbeiten und zu vertreten.

Dies muß auch der Leitgedanke bei den bevorstehenden Bundestagswahlen sein: Abrüstung wählen.

Ihr Paul Schäfer

Deckname »Northwoods«

Deckname »Northwoods«

Wie US-Generäle eine Intervention gegen Kuba planten

von Jürgen Rose

Spätestens seit der Schweinebucht-Invasion im April 1961 konnten kaum noch Zweifel bestehen, dass die USA entschlossen waren, ihre revolutionäre Nachbarschaft auf Kuba los zu werden. Doch wie weit dabei die politischen Absichten in konkrete militärische Planungen übergingen – dies blieb bisher eher der Spekulation überlassen. Nun aber belegt ein seit kurzem zugängliches Dokument des US-Generalstabs, wie präzise und detailliert die Szenarien einer Kuba-Intervention ausgearbeitet waren. Selten wird man Zeuge eines solchen Offenbarungseids.

Selbstredend gibt es auf der Welt nichts Dümmeres als Verschwörungstheorien, und natürlich kann es sich bei Verschwörungstheoretikern nur um Narren handeln, die sich für keine Absurdität und keinen Verdacht zu schade sind. Weil dieses Axiom heutzutage im politischen wie medialen Diskurs kaum mehr hinterfragt wird, braucht man Verschwörungstheoretiker auch nicht ernst zu nehmen. Sie disqualifizieren sich gewissermaßen selbst – so das Totschlagargument all derer, die gern regierungsamtlicher Verlautbarung folgen, ohne sich an selbst verschuldeter Unmündigkeit zu stören. Dabei weiß jeder, der sich nur ein einziges Mal mit dem Thema Krieg und Medienmanipulation befasst hat, dass die Wahrheit vor und in jedem Krieg das erste Opfer bildet.

So zum Beispiel, als 1898 eine angebliche Terrorattacke auf den amerikanischen Kreuzer USS Maine, die sich nachträglich als simple Kesselexplosion entpuppte, von der US-Regierung als Vorwand für einen längst geplanten Eroberungskrieg gegen die Kolonialmacht Spanien genutzt wurde. An dessen Ende waren Kuba, Hawaii, Puerto Rico und die Philippinen von den Vereinigten Staaten unterworfen. Amtlich erwiesen ist auch, dass im Sommer 1964 der US-Zerstörer Maddox im Golf von Tonking nie von der nordvietnamesischen Marine angriffen wurde – dennoch erteilte der US-Kongress dem damaligen Präsident Lyndon B. Johnson eine Blankovollmacht für das flächendeckende Bombardement Nordvietnams. Auch Henry Kissinger hat in seinen Memoiren offenbart, wie perfide er als Außenminister zusammen mit Präsident Nixon Ende der sechziger Jahre die Öffentlichkeit in den USA und der Welt über die völkerrechtswidrige Bombardierung von Laos und Kambodscha zu täuschen verstand.

Und schließlich steht seit September 2000 in einer Studie, die das »Project for the New American Century« unter dem Titel »Rebuilding America´s Defenses« publiziert hat, der Satz: „Further, the process of transformation, even if it brings revolutionary change, is likely to be a long one, absent some catastrophic and catalyzing event – like a new Pearl Harbor.“ (Ferner wird der Transformationsprozess, selbst wenn er revolutionären Wandel mit sich bringt, wahrscheinlich lange dauern, mangels eines katastrophalen und katalytischen Ereignisses – wie eines neuen Pearl Harbors). Die Autoren, zu denen unter anderem Paul Wolfowitz, Eliot Cohen, Bill Kristol, Robert Kagan und Dov Zakheim zählen, müssen wahrlich prophetische Gaben besessen haben, denn exakt ein Jahr später, am 11. September 2001, ereignete sich „das Kolossalverbrechen“ (Helmut Schmidt) von New York und Washington. Neuesten Umfragen zufolge soll mittlerweile ein Drittel der Amerikaner nicht mehr an die regierungsamtliche Version von 9/11 glauben – das wären immerhin mehr als 80 Millionen Menschen, soviel wie ganz Deutschland Einwohner hat! Was beweist, dass man zwar ziemlich viele Menschen lange Zeit gedanklich vereinnahmen kann, aber wohl nicht alle auf ewig. Nichtsdestoweniger laufen völlig unbeirrbar die Hohepriester der Regierungspropaganda mit ihren willigen journalistischen Handlangern im Gefolge durch die Arena des Medienzirkus und diffamieren jeden Zweifel einer kritischen Öffentlichkeit als graue Verschwörungstheorie.

Da trifft es sich, dass jüngst die Sperrfrist für ein einstmals mit dem Geheimhaltungsvermerk »TOP SECRET« versehenes Memorandum des Pentagon für eine unter dem Decknamen »Northwoods« geplante Operation abgelaufen ist. Verfasst wurde die Studie vom US-Generalstab und am 13. März 1962 von General L. L. Lemnitzer unterzeichnet, damals Generalstabschef der US-Streitkräfte und später Oberbefehlshaber der NATO in Europa. Als Motiv des Dossiers wird angegeben: „Rechtfertigung für eine militärische Intervention der USA in Kuba“.

Hinter der hölzern-bürokratisch klingenden Formulierung verbirgt sich ein sensationeller Inhalt. Quasi auf dem Silbertablett serviert wird nicht irgendeine »Verschwörungstheorie«, sondern wie aus dem Lehrbuch das ganz reale Szenario einer Verschwörung. Was dem US-Verteidigungsminister in diesem Memorandum von seinen Generälen dargelegt wird, ist nichts anderes als eine glasklare Strategie, wie eine US-Regierung vorgehen sollte, um dank des Zusammenspiels von Propagandaaktionen und verdeckten Geheimdienst- und Militäroperationen den Vorwand für eine Intervention der USA gegen Kuba zu schaffen. Aufschlussreich ist dabei, mit welchem Nachdruck der US-Generalstab die unumschränkte Federführung beansprucht, um seine Planungen auch umsetzen zu können. Die Lektüre der detaillierten Liste krimineller Handlungen, welche die Militärs der US-Regierung da unterbreiten (siehe unten), macht schlechterdings fassungslos. Was mit Northwoods konzipiert wurde, war nichts anderes als blanker Staatsterrorismus, verübt von einer Supermacht, die angeblich nichts sehnsüchtiger wünscht, als weltweit Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu verbreiten.

Dass dieses Staatsverbrechen letztlich nicht wie vorgesehen stattfinden konnte, dürfte Resultat der »Raketenkrise« vom Herbst 1962 gewesen sein, als die Sowjetunion mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen auf Kuba bis an den Rand eines Atomkrieges ging, um die USA von einem Überfall auf die Karibikinsel abzuschrecken. Die damals zwischen den beiden Supermächten getroffenen Vereinbarungen haben für Jahrzehnte die Existenz eines unabhängigen Kubas gesichert. So gesehen könnte es an der Zeit sein, die Geschichte des Kalten Krieges im Lichte dieser und anderer nun ruchbar gewordener Planungen, von denen die Operation Northwoods lediglich die Spitze des Eisberges bilden dürfte, neu zu schreiben. Wichtiger noch wird es allerdings sein, die politischen Ereignisse in Ländern auf der Zielliste der USA – wie Iran, Venezuela, Syrien, Bolivien oder Nordkorea – genau zu beobachten. Wenn überhaupt, dann vermag allein die Aufmerksamkeit einer kritischen Öffentlichkeit den Ambitionen von Politikern wie Cheney oder Rumsfeld Einhalt zu gebieten.

Als am 13. März 1962 General Lemnitzer, der Vorsitzende der vereinigten Stabschefs der US-Armee, sein Memorandum an Verteidigungsminister Robert McNamara schickt, geht es vor allem darum, wie die Umstände für eine Intervention gegen Kuba durch – wie es wörtlich heißt – „Provokation“ der Kubaner und „Täuschung“ der Weltöffentlichkeit herbei geführt werden können. Wir dokumentieren in Auszügen die Liste der Maßnahmen des Cuba Project (Deckname »Northwoods«), die seinerzeit als geeignet galten, dieses Ziel zu erreichen.

1. Da es wünschenswert wäre, legitime Provokation als Basis für eine US-Militärintervention in Kuba zu benutzen, könnte ein Täuschungsplan … ausgeführt werden, um zunächst kubanische Reaktionen zu provozieren. Belästigungen und Täuschungsaktivitäten sollen die Kubaner überzeugen, dass eine Invasion bevorsteht. Unsere militärische Bereitschaft während der Ausführung des Planes würde es uns erlauben, schnell von Übungen zur tatsächlichen Intervention überzugehen, sobald die kubanischen Reaktionen dies rechtfertigen.

2. Eine Serie gut koordinierter Vorfälle wird geplant, die in und um Guantanamo herum stattfinden und den Eindruck erwecken sollen, als seien sie von feindlichen kubanischen Streitkräften ausgeführt worden.

a) Vorfälle, um einen glaubhaften Angriff zu fabrizieren (nicht in chronologischer Ordnung)

(1) Gerüchte streuen (viele). Heimlich Radio verwenden.

(2) Uns freundlich gesonnene Kubaner in Uniform über den Zaun klettern und einen Angriff auf den Stützpunkt starten lassen.

(3) Unsere Kubaner als Saboteure innerhalb des Stützpunkts festnehmen.

(8) Angriffsgruppen gefangen nehmen, die sich von See oder aus der Nähe von Guantanamo-City nähern.

(9) Gruppe von Milizionären gefangen nehmen, die den Stützpunkt stürmen.

(10) Sabotage eines Schiffes im Hafen durch Brandstiftung.

(11) Schiff in der Nähe des Hafeneingangs versenken, Bestattungen abhalten für angebliche Opfer.

b) Die Vereinigten Staaten würden mit offensiven Operationen reagieren, um die Wasser- und Stromversorgung zu sichern, und sie würden Artillerie- und Granatwerferstellungen zerstören, die den Stützpunkt bedrohen.

c) Die Vereinigte Staaten beginnen mit groß angelegten Militäroperationen.

3. Ein Vorfall, der an die »Maine«* erinnert, könnte in verschiedenen Varianten arrangiert werden:

a) Wir könnten ein US-Schiff in der Guantanamo-Bucht in die Luft jagen und Kuba verantwortlich machen.

b) Wir könnten ein unbemanntes Schiff irgendwo in den kubanischen Gewässern in die Luft jagen. Wir könnten arrangieren, dass ein solcher Vorfall in der Nähe von Havanna oder Santiago wie das spektakuläre Resultat eines kubanischen Luft- oder Seeangriffs aussieht. Die Präsenz kubanischer Flugzeuge oder Schiffe, die aufklären wollen, was es mit dem Schiff auf sich hat, könnte als überzeugender Nachweis genommen werden, dass das Schiff angegriffen wurde. Die Nähe zu Havanna oder Santiago würde die Glaubwürdigkeit besonders für jene Menschen erhöhen, die die Explosion gehört oder das Feuer gesehen haben. Die Vereinigten Staaten könnten eine von Kampftruppen unterstützte See-/Luftrettung folgen lassen, um die »überlebenden« Mitglieder einer nicht-existierenden Mannschaft zu evakuieren. Verlustlisten in US-Zeitungen würde eine hilfreiche Welle nationaler Empörung hervorrufen.

4. Wir könnten eine kommunistisch-kubanische Terrorkampagne in der Gegend von Miami, in anderen Städten Floridas oder sogar in Washington entwickeln. Die Terrorkampagne sollte auf kubanische Flüchtlinge zielen, die in den Vereinigten Staaten Schutz suchen. Wir könnten ein Boot mit kubanischen Flüchtlingen versenken, das sich auf dem Weg nach Florida befindet (real oder simuliert).

Die Explosion einiger Plastikbomben an sorgfältig ausgesuchten Stellen, die Festnahme kubanischer Agenten und die Veröffentlichung vorbereiteter Dokumente, die das Eingreifen Kubas belegen, wären hilfreich, um von einer verantwortungslosen Regierung sprechen zu können.

5. … Wir könnten die Empfindlichkeit der Luftwaffe der Dominikanischen Republik gegenüber Verletzungen ihres Luftraums ausnutzen. »Kubanische« B-26 oder C-46 könnten nachts Zuckerrohrfelder in Brand schießen. Brandbeschleuniger aus dem Sowjetblock könnten gefunden werden. Das könnte verbunden werden mit »kubanischen« Botschaften an den kommunistischen Untergrund in der Dominikanischen Republik und »kubanischen« Waffenlieferungen, die gefunden oder beschlagnahmt werden.

6. Von US-Piloten geflogene MIG-ähnliche Flugzeuge könnten für zusätzliche Provokation sorgen. Belästigung der zivilen Luftfahrt, Angriffe auf Schiffe und die Zerstörung eines unbemannten US-Militärflugzeuges durch einen Jet, der wie eine MIG aussieht, wären nützliche Begleitmaßnahmen. Eine passend gestrichene F-86 würde Flugpassagiere überzeugen, dass sie eine kubanische MIG gesehen haben, besonders wenn der Flugkapitän diese Tatsache verkündet …

8. Es ist möglich, einen Vorfall zu inszenieren, der überzeugend demonstriert, dass ein kubanischer Jet ein Charterflugzeug angegriffen und abgeschossen hat, das auf dem Weg von den Vereinigten Staaten nach Jamaika, Guatemala, Panama oder Venezuela war. Das Ziel und den Flugplan würde man so wählen, dass Kuba überflogen werden muss. Die Passagiere könnten College-Studenten sein, die in die Ferien fliegen, oder irgendeine andere Gruppe mit einem gemeinsamen Interesse an einem Charterflug.

a) Auf dem Luftwaffenstützpunkt Eglin wird ein Flugzeug in Farbe und Nummerierung als exaktes Duplikat eines Zivilflugzeuges hergerichtet, das im Namen eines von der CIA kontrollierten Unternehmens registriert ist. Zu einem bestimmten Zeitpunkt würde das Duplikat das Original ersetzen und mit den ausgewählten Passagieren beladen, die alle mit sorgfältig präparierten und aufgenommenen Namen an Bord gehen. Das tatsächlich registrierte Flugzeug würde in eine unbemannte Drone** verwandelt werden.

b) Die Abflugzeiten der Drone und des anderen Flugzeuges werden so festgesetzt, dass sie südlich von Florida einander sehr nahe kommen. Von diesem Zeitpunkt an begibt sich das mit Passagieren beladene Flugzeug auf eine sehr niedrige Flughöhe und landet dann auf einem Neben-Rollfeld des Luftwaffenstützpunkts Eglin, wo Vorkehrungen getroffen worden sind, die Passagiere zu evakuieren und das Flugzeug wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu verwandeln. Währenddessen folgt die Drone dem offiziell angegebenen Flugplan. Über Kuba wird die Drone auf der internationalen Notruf-Frequenz ein May Day aussenden und zur Kenntnis geben, dass sie von kubanischen MIG-Kampfflugzeugen angegriffen wird. Der Notruf wird unterbrochen von der Zerstörung des Flugzeuges, die wir durch ein Radiosignal auslösen. Auf diese Weise werden die Notruf-Empfangsstationen in der westlichen Hemisphäre den Vereinigten Staaten mitteilen können, was passiert ist, anstatt dass die USA versuchen, den Vorfall zu »verkaufen«.

9. Es ist möglich, einen Vorfall zu inszenieren, der den Anschein erweckt, dass MIGs des kommunistischen Kuba einen Jet der US-Luftwaffe über internationalen Gewässern in einem unprovozierten Angriff abgeschossen haben.

a) Ungefähr vier oder fünf F-101 Kampfflugzeuge werden hintereinander in einer Formation vom Luftwaffenstützpunkt Homestead in Florida in die Nähe Kubas fliegen. Ihr Auftrag wird darin bestehen, Luftverteidigungsübungen zu simulieren …

b) Ein vorher genau instruierter Pilot würde am Ende der Formation mit beträchtlichem Abstand zu den anderen Flugzeugen fliegen. In der Nähe Kubas würde dieser Pilot funken, dass er von kubanischen MIGs getroffen worden sei und abstürze. Danach würde er keinen Funkspruch mehr senden. Der Pilot würde dann in extrem niedriger Höhe westwärts fliegen und auf einem sicheren Stützpunkt, etwa dem Neben-Rollfeld von Eglin, landen. Der Jet würde von vorbereitetem Personal in Empfang genommen, verstaut und mit einer neuen Nummer versehen. Der Pilot, der den Auftrag mit falscher Identität ausgeführt hätte, würde seine wahre Identität wieder annehmen und an seinen Arbeitsplatz zurück kehren. Pilot und Flugzeug wären also verschwunden.

c) Zur Zeit des angeblichen Abschusses würde ein U-Boot oder ein kleines Schiff Teile einer F-101, von einem Fallschirm etc., ungefähr 15 bis 20 Meilen von der kubanischen Küste entfernt auflesen und sich entfernen. Die Piloten, die nach Homestead zurückkehren, würden glauben, einen echten Vorfall erlebt zu haben. Weitere Bergungsschiffe und Bergungsflugzeuge würden losgeschickt werden. Sie würden weitere Flugzeugteile finden.

(*) US-Kreuzer, der 1898 im Hafen von Havanna angeblich wegen eines Attentats, tatsächlich durch eine Kesselhavarie, explodierte

(**) unbemanntes Flugzeug

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen. Sein Artikel wurde zuerst veröffentlicht in der Ost-West-Wochenzeitung »Freitag«, 22. September 2006, S.7.

Kommunikation als Deeskalationsstrategie

Sozialliberale Ostpolitik:

Kommunikation als Deeskalationsstrategie

von Gottfried Niedhart

Die Themen und Schwerpunkte der friedenswissenschaftlichen Forschung, die unter der normativen Vorgabe von Gewaltreduktion und Friedenswahrung steht, entstammen zumeist den Konflikten der Gegenwart. Bei der Suche nach Konfliktlösungen sehen sich sozialwissenschaftlich orientierte und zugleich empirisch arbeitende Friedensforscher zu Fallstudien gezwungen, die der Vergangenheit entstammen.1 Parallel dazu interessieren sich Historiker mit ihren zeitlich und räumlich begrenzteren Fragestellungen für Hypothesen- und Theoriebildungen der sozialwissenschaftlichen Nachbarwissenschaften.2 Insgesamt gesehen wird man eher von Koexistenz als von Interdisziplinarität sprechen müssen. Im Folgenden handelt es sich um die Beschreibung eines historischen Einzelfalls, der als Beispiel für einen gelungenen Konfliktabbau in den internationalen Beziehungen gilt.

Der Ost-West-Konflikt trat im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren in eine Phase, die mit den Begriffen Entspannung oder Détente bezeichnet wird und die den weiteren Verlauf des die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschenden Weltkonflikts entscheidend veränderte.3 Unterhalb der Ebene der Supermächte – aber von Bedeutung auch für die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen – spielte die Bundesrepublik Deutschland dabei eine zentrale Rolle. Ihre »neue« Ostpolitik führte zu einer Normalisierung ihrer Beziehungen mit der Sowjetunion und den übrigen Staaten des Warschauer Pakts.4 Als „vielfach vernetzte Ausgleichsmacht“5 hatte die Bundesrepublik einen bedeutsamen Anteil an der Deeskalation des Ost-West-Konflikts.

Im Unterschied zu Asien blieb der Ost-West-Konflikt in Europa unterhalb der Schwelle zum Krieg. Zugleich wurde er von den Zeitgenossen zunächst keineswegs als Konflikt verstanden, wie man ihn aus der Geschichte der internationalen Politik als Interessenkonflikt herkömmlicher Art kannte. Schon den Autoren des Schlüsseldokuments NSC-68, das für die Einstellung der USA gegenüber der Sowjetunion im Frühjahr 1950 richtungweisende Bedeutung hatte, stand vor Augen, der amerikanischen Öffentlichkeit verdeutlichen zu müssen, dass der Kalte Krieg ein »wirklicher Krieg« war, in dem das Überleben der freien Welt auf dem Spiel stand.6 In der Bundesrepublik, die ein Produkt des Kalten Kriegs war, überwog in den 1950er Jahren eine ähnliche Sichtweise. Bundeskanzler Adenauer nahm zwar nicht an, die Sowjetunion suche ein kriegerisches Abenteuer. Ihre Politik folge allerdings „Welteroberungsplänen“ und sie wolle Westdeutschland „im Wege des Kalten Krieges“ vereinnahmen. Eine Lösung des Konflikts war für Adenauer nur als Ergebnis westlicher Überlegenheit denkbar: „Erst muss der Westen einschließlich der USA so stark sein, dass die Russen Angst haben. Dann erst kann man mit den Russen verhandeln.“7

Nachdem sich der Kalte Krieg mit den Krisen um Berlin und Kuba zwischen 1958 und 1962 gefährlich zugespitzt hatte, wurden Vorstellungen entwickelt, wie man zu einer Einhegung des Konflikts, vielleicht sogar zu seiner Entschärfung kommen könnte. Ohne den Ost-West-Konflikt beenden zu können, gelang es doch, ihn in eine Phase der Entspannung zu überführen, in der an die Stelle der Konfrontation das Bemühen um antagonistische Kooperation8 trat. Die Bundesrepublik spielte dabei zunächst die Rolle eines Nachzüglers, weil sie aufgrund deutschlandpolitischer Orthodoxien nur schwer aus den Konfliktmustern des Kalten Kriegs herausfinden konnte. Mit der neuen Ostpolitik, die schrittweise mit der Regierung der Großen Koalition 1966/67 einsetzte, um mit der sozialliberalen Regierung 1969/70 den Durchbruch zu erzielen, gelangte die Bundesrepublik in eine Schlüsselposition und nahm eine entspannungspolitische Pionierrolle ein.9 Sie stand dabei im Schatten von zwei Kriegen: dem Zweiten Weltkrieg, der in Europa von Deutschland ausgegangen war und gut zwanzig Jahre nach seinem Ende im kollektiven Gedächtnis der Europäer noch überaus präsent war; und dem Kalten Krieg, der sich auf Deutschland und Europa gelegt hatte und das Land wie den Kontinent teilte. In dieser Lage hatte die Ostpolitik eine doppelte Funktion. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg war sie Versöhnungspolitik, im Hinblick auf den Kalten Krieg verstand sie sich als Deeskalationspolitik. Darüber hinaus aber versuchte die Bundesrepublik die Entspannungspolitik zu nutzen, um aus dem Schatten der Kriege herauszutreten und auf die Überwindung der aus beiden Kriegen resultierenden Teilung Europas hinzuwirken.

Beschreibt man den Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren als Durchbruch zur Deeskalation des Ost-West-Konflikts, so ist gleichzeitig generell daran zu erinnern, dass jede Deeskalation nicht bereits die Lösung des Konflikts bereithält. Tatsächlich blieben 1969/70 die Konfliktfelder (Rüstungspolitik, Politik in der Dritten Welt, Menschenrechtspolitik) allesamt erhalten. Wie sich herausstellen sollte, war die Ost-West-Entspannung alles andere als ein linearer Prozess. In den unvermeidlichen Rückschlägen lag ein reales, vor allem aber psychologisch wirksames Gefahrenpotential, das die Gefahr des Rückgriffs auf älteres Konfliktverhalten heraufbeschwor. Dass es auch in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, die vielfach als zweiter Kalter Krieg bezeichnet werden, nicht zu einem Rückfall in den Kalten Krieg der 1950er Jahre kam, ist auf die Formen der Annäherung und des Kompromisses zurückzuführen, die in der Phase der Détente praktiziert worden sind.10

Auch die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesregierung war nicht frei von Ambivalenzen. Denn die Bundesrepublik hielt als revisionistischer Staat, der sie bis 1990 war, daran fest, dass die Teilung Deutschlands und Europas überwunden werden sollte – und zwar unter westlichen Vorzeichen. Zugleich aber änderten sich die Wahrnehmung der Sowjetunion und die Einstellung zu ihr grundlegend, so dass neue Formen des Umgangs miteinander entwickelt werden konnten. Der Ostpolitik lag ein Stufenkonzept zugrunde. Primär und kurzfristig ging es auf der Grundlage des Status quo und des Gleichgewichts um vertraglich abgesicherte Kooperation, die den Ost-West-Konflikt deeskalieren sollte und an die Stelle des Kalten Kriegs die Konfliktform der Détente treten ließ.11 Der Zustand der Détente blieb ein Konfliktzustand, weil der Status quo zwar respektiert, jedoch nicht legalisiert werden sollte. Längerfristig ging es nicht um die Deeskalation des Ost-West-Konflikts, sondern um seine Auflösung. Präziser als Egon Bahr in seiner Rolle als Vordenker der Ostpolitik es tat, konnte es nicht formuliert werden: „Das Hauptziel der sowjetischen Europapolitik ist die Legalisierung des Status quo. Das Hauptziel unserer Politik ist die Überwindung des Status quo. Es handelt sich hier um einen echten Gegensatz der Interessen.“12

Bevor im Folgenden näher auf den verständigungspolitischen Ansatz der Ostpolitik als Beitrag zur Deeskalation des Ost-West-Konflikts eingegangen wird, ist nachdrücklich zu betonen, dass diese friedenspolitisch fraglos höchst bedeutsame Seite der Ostpolitik nicht isoliert betrachtet werden darf. Sie stellte den deutschen Beitrag zu einem Gesprächsfaden dar, der auch von der Sowjetunion entwickelt wurde, verstand sich aber als Schritt in einem dialektisch angelegten Prozess, den Bahr als Pressesprecher des West-Berliner Senats in der bekannten Tutzinger Rede schon 1963 in die Formel »Wandel durch Annäherung« gegossen hat. Die „Überwindung des Status quo“ war demnach daran gekoppelt, dass „der Status quo zunächst nicht verändert werden soll.“ Auch Willy Brandt als Berliner Regierender Bürgermeister sprach 1963 in Tutzing. Sein Text war zurückhaltender, wenn auch in der Sache nicht weniger deutlich. In Abgrenzung zur bisherigen Deutschlandpolitik, die mit dem Bau der Berliner Mauer definitiv gescheitert war, plädierte er für „Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“. Ungewöhnlich offen fügte er hinzu, worin das strategische Ziel bestehen sollte, nämlich in der „Transformation der anderen Seite.“13 Kontakte zum Osten, die deutscherseits die Hinnahme von durchaus schmerzhaften Nachkriegsrealitäten voraussetzten, waren das zureichende Minimum,14 um die als Bedrohung wahrgenommenen Fronten auflockern zu können. Um sie überwinden zu können, bedurfte es eines Wandels in den Ländern des Warschauer Pakts. Er war nur als gradueller und friedlicher Wandel vorstellbar. Aus östlicher Sicht und nicht zuletzt in den Augen der DDR-Führung handelte es sich gleichwohl um eine »Aggression«, wenn auch eine „auf Filzlatschen.“15

Das Interesse der Länder Osteuropas an Verträgen über die territoriale Ordnung in Europa, an wirtschaftlicher Kooperation und Technologietransfer war stärker als die Befürchtungen, die gegenüber dem »Sozialdemokratismus« gehegt wurden.16 Dem entsprach in Bonn der Wunsch, die deutsch-deutsche Grenze durchlässiger zu machen und die Lage in und um Berlin zu verbessern. Diese Interessenkonstellation bot gute Rahmenbedingungen, damit sich die Politik der Ost-West-Kommunikation entfalten konnte.17 Dass auch die Sowjetunion „ihrer eigenen Interessen wegen nicht nur Konfrontation, sondern auch Kommunikation“ wünschte, gehörte zu den Kernüberzeugungen, von denen die Ostpolitik ausging.18 Kommunikation war ein Schlüsselbegriff, der in den Politikanalysen Brandts immer wieder auftauchte. Der Bau der Berliner Mauer war für Brandt ein untrügliches Zeichen, dass neue Ansätze entwickelt werden mussten, um „die Erstarrung der Fronten zwischen Ost und West“ aufbrechen zu können. An die Stelle der Festungsmentalität auf beiden Seiten wollte er seit 1962/63 den „Austausch“ zwischen Ost und West setzen, nach „gemeinsamen Projekten“ suchen, „so viele sinnvolle Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“ herstellen, „wie jeweils erreichbar sind“: „Wir brauchen soviel reale Berührungspunkte und soviel sinnvolle Kommunikationen wie möglich.“19

Von der Programmatik zur operativen Politik war es – wie stets – ein beschwerlicher Weg. Nur ein langer Atem konnte helfen, die im Kalten Krieg verfestigten Einstellungsmuster zu verändern und an ihre Stelle »kommunikative Methoden« zu setzen.20 Dazu gehörte die Signalisierung von Verständigungs- und Versöhnungsbereitschaft durch Erklärungen und Gesten. Die eigene Bereitschaft zur Kommunikation erfolgte in der Erwartung, sie werde entsprechende Reaktionen des Gegenübers auslösen. Solche Erklärungen setzten auf Seiten der Bundesrepublik schon mit den geheim gebliebenen Fühlungnahmen Adenauers in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft ein, als er auf der Basis des Status quo mit der Sowjetunion ins Gespräch kommen wollte. Die Friedensnote der Regierung Erhard und die Aussetzung der Hallstein-Doktrin für die Staaten des Warschauer Pakts durch die Regierung der Großen Koalition waren weitere einseitige Bekundungen, die Sprachlosigkeit des Kalten Kriegs überwinden zu wollen.

Die Kanzlerschaft Brandts zeichnete sich durch eine konsequente und wirkungsvolle Fortsetzung dieser Schritte aus. Die Anerkennung der DDR als Staat, die gut vorbereitete Aufnahme von Verhandlungen mit der Sowjetunion und Polen waren kommunikative Akte neuer Qualität. Brandts Kniefall schließlich am Mahnmahl des Warschauer Ghettos war ein wortloses, als Ausdruck der Körpersprache aber umso wirksameres Signal, „am Abgrund der deutschen Geschichte“21 neue Formen der Kommunikation entwickeln zu wollen. Solchen öffentlichen Bekundungen von Kommunikationsbereitschaft war seit Anfang 1969, als der durch die sowjetische Okkupation der Tschechoslowakei ausgelöste Schock langsam in den Hintergrund rückte, eine dichte Folge von Kontakten auf der diplomatischen Ebene vorausgegangen, bei denen Möglichkeiten einer deutsch-sowjetischen Annäherung ausgelotet wurden. Die Zeit, „in der das direkte Gespräch mit der sowjetischen Führungsetage nicht existierte,“22 war zu Ende gegangen. Im Dezember 1969 wurde eine neue Etappe erreicht, als die Verhandlungen über einen Gewaltverzicht in Moskau begannen und zudem eine direkte Nachrichtenverbindung zwischen dem Kreml und dem Kanzleramt eingerichtet wurde. Wie der kurz zuvor zwischen Washington und Bonn verabredete »back channel« eröffnete sie „die Chance, neben den förmlichen Gesprächen einen informellen Kontakt zu entwickeln.“23

Was die kommunikative Infrastruktur betraf, so hatte sich die Lage seit den frühen 1960er Jahren deutlich verbessert. Persönliche Begegnungen häuften sich und über den »Kanal« konnten Nachfragen und ergänzende Informationen weitergegeben werden. Blieb die Frage, ob sich dialogische Situationen in ausreichender Zahl und von angemessener Länge institutionalisieren ließen und in der Folge Kommunikation zu einer dauerhaften Erfahrung werden konnte. Würde sich Brandts Hoffnung erfüllen, die er als Außenminister in der Großen Koalition im August 1967 geäußert hatte? Er wollte „den Dialog intensivieren“ und „damit mehr als nur eine Unterbrechung in dem Duell zwischen Ost und West erreichen.“24

Das sichtbarste Zeichen für verbesserte Kommunikation waren vertragliche Vereinbarungen, die die Phase der Entspannung deutlich und – wie sich zeigen sollte – unumkehrbar von der Phase des Kalten Kriegs unterschieden sein ließ. Sie erstreckten sich zunächst auf die Bereiche Wirtschaft und Politik, bald aber auch auf den humanitären und kulturellen Sektor. Die Grunderfahrung bestand darin dass kommunikative Signale erwidert wurden. Auch stieg die Fähigkeit zur vorurteilsfreieren Bewertung von Informationen der jeweils anderen Seite. Schon vor den Bundestagswahlen 1969 war eine SPD-Delegation unter Leitung von Helmut Schmidt aus Moskau mit dem Eindruck zurückgekommen, es werde dort an einem „glaubwürdig“ erscheinenden Gesprächsfaden gesponnen und es gebe Anzeichen für die Bereitschaft zur „Institutionalisierung von Austausch und Zusammenarbeit.“25 Im Oktober 1973 ging Schmidt, der sich durchaus als Skeptiker gegenüber zu hoch gesteckten Erwartungen über die Wirkung der Entspannungspolitik verstand, so weit, von einer Entschärfung der Blockkonfrontation zu sprechen. Die „traditionellen Kategorien Ost und West“ hätten „an Bedeutung verloren.“26

Schmidt hatte natürlich nicht vergessen, dass der Antagonismus des Ost-West-Konflikts andauerte. Was sich aber verändert hatte, waren Art und Umfang der Kontakte. Man konnte „Erfahrungen“ sammeln, so Egon Bahr schon im Herbst 1970, „wie man miteinander reden kann. Was die Intensität, die Offenheit und die Ernsthaftigkeit angeht, war dies erstmalig seit dem Ende des Krieges.“27 Bahr sagte nicht: Seit dem Ende des Kalten Kriegs. Doch handelte es sich auch darum. Die Kontrahenten waren jetzt zunehmend in der Lage, auf Bedrohungsperzeptionen und Feindbilder alter Prägung zu verzichten und sich über wechselseitige Wahrnehmungen – auch und gerade, wenn sie differierten – zu verständigen. Dadurch war es möglich, Fehlwahrnehmungen zu reduzieren. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser gänzlich neuen Dialogerfahrung stellte die Begegnung Brandts mit Breschnew in dessen Sommerresidenz in Oreanda auf der Krim im September 1971 dar. Auf sowjetische Einladung wurde ohne starre Tagesordnung über die internationale Lage insgesamt und den Stand der Ost-West-Beziehungen im besonderen gesprochen – ein präzedenzloser Vorgang, der in der Bundesrepublik und im westlichen Bündnis für enormes Aufsehen sorgte. Brandt nutzte die Gesprächschance selbstbewusst, aber er ließ keine Illusionen aufkommen. „Schwierige Themen“ seien „erst andiskutiert“ worden. Das „eigentlich Neue“ bestand für Brandt in der Art des Umgangs miteinander. Beide Seiten wüssten jetzt genauer, wo es „Übereinstimmungen, Annäherungen, Unterschiede“ gebe.28

Pointiert formuliert, handelte es sich um die Verwestlichung der Kommunikation in den Ost-West-Beziehungen. Sei es auf der Yacht des Präsidenten in Washington, wo die Unterredungen zwischen Kissinger und dem sowjetischen Botschafter Dobrynin gelegentlich stattfanden, sei es ein Motorboot, mit dem Breschnew und Brandt einen Ausflug auf das Schwarze Meer hinaus machten – auch die Orte ließen erkennen, dass sich die Ost-West-Gespräche vom Verhandlungsduell zum offener werdenden Dialog entwickelt hatten.

Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass sich wenn auch nicht mehr Feinde, so doch Gegner gegenübersaßen. Aber genau darin – im Wandel vom Feind zum Gegner – bestand der Fortschritt, den die Détente gegenüber dem Kalten Krieg darstellte. Entspannungspolitik und Gegnerschaft waren miteinander verschränkt. „Auch in der Phase der Entspannung,“ so wurde dem sowjetischen Botschafter in Bonn Ende Oktober 1970 bedeutet, blieben „Kommunisten Kommunisten“ und „Sozialdemokraten Sozialdemokraten.“29

Anmerkungen

1) Ein Beispiel ist die in letzter Zeit zu beobachtende Flut von Arbeiten zur Theorie des Demokratischen Friedens. Siehe z. B. Elman, Miriam F. (ed.): Paths to Peace: Is Democracy the Answer? Cambridge, Mass. 1997; Huth, Paul K./Allee, Todd L.: The Democratic Peace and Territorial Conflict in the 20th Century, Cambridge 2002; Lipson, Charles: Reliable Partners. How Democracies Have Made a Separate Peace, Princeton/Oxford 2003; Rasmussen, Mikkel V.: The West, Civil Society and the Construction of Peace, Houndmills/New York 2003.

2) Siehe etwa Ziemann, Benjamin (Hg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002; Wegner, Bernd (Hg.): Wie Kriege entstehen, Paderborn 2000; ders. (Hg.): Wie Kriege enden, Paderborn 2002.

3) Als Überblick Loth, Wilfried: Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung, München 1998.

4) Allgemein dazu Bender, Peter: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung, München 1995.

5) Hanrieder, Wolfram F.: Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, Paderborn 1995, S. 448.

6) Im Schlussabsatz heißt es: „[…] the Cold War is in fact a real war in which the survival of the free world is at stake.“ Foreign Relations of the United States 1950, Bd. 1, S. 292.

7) Belege bei Niedhart, Gottfried/Altmann, Normen: Zwischen Beurteilung und Verurteilung: Die Sowjetunion im Urteil Konrad Adenauers. In: Foschepoth, Josef (Hg.): Adenauer und die Deutsche Frage, Göttingen 1988, S. 104, 107, 109.

8) Zum Begriff siehe Link, Werner: Der Ost-West-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Stuttgart 1988.

9) Zum neuesten Stand der Diskussion siehe Schönhoven, Klaus: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969, Bonn 2004; Niedhart, Gottfried/Bange, Oliver: Die »Relikte der Nachkriegszeit« beseitigen. Ostpolitik in der zweiten außenpolitischen Formationsphase der Bundesrepublik Deutschland im Übergang von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 415-448.

10) Hanhimäki, Jussi M.: Ironies and Turning Points: Détente in Perspective. In: Westad, Odd Arne (ed.): Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London 2000, S. 326-342.

11) Für die Ebene der Supermächte, deren Vorgaben den Rahmen auch für die Ostpolitik vorgaben, vgl. Garthoff, Raymond: Détente and Confrontation. American-Soviet Relations from Nixon to Reagan, 2. Aufl. Washington 1994.

12) Aufzeichnung Bahrs als Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt vom 18.9.1969. Akten zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1969, S. 1040.

13) Die Reden Brandts und Bahrs in der Evangelischen Akademie Tutzing am 15.7.1963 finden sich in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe, Bd. 9, S. 565ff. und 572ff.

14) In Anlehnung an Czempiel, Ernst-Otto: Das zureichende Minimum: der negative Friede. In: Jens, Walter/Matthiessen, Gunnar (Hg.): Plädoyers für die Humanität. Zum Gedenken an Eugen Kogon, München 1988, S. 173-176.

15) Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 157, 159; Uschner, Manfred: Egon Bahr und seine Wirkung auf uns. In: Lutz, Dieter S. (Hg.): Das Undenkbare denken. Festschrift für Egon Bahr, Baden-Baden 1992, S. 129.

16) Dazu u.a. Bahr, Zeit, S. 547ff.

17) Birnbaum, Karl E.: The Politics of East-West Communication in Europe, Farnborough 1979.

18) Willy Brandt in einem im Februar 1969 veröffentlichten Artikel. Zit. bei Schönhoven, Wendejahre, S. 408.

19) Brandt unter Rückgriff auf eine Rede, die er im Oktober 1962 an der Harvard Universität gehalten hatte, am 15.7.1963 in Tutzing. Wie oben Anm. 13, S. 567.

20) Haftendorn, Helga: Versuch einer Theorie der Entspannung. In: Sicherheitspolitik heute II/1975, S. 232.

21) Brandt, Willy: Erinnerungen, Frankfurt 1989, S. 214

22) Bahr, Zeit, S. 251.

23) Bahr, Zeit, S. 283. Vgl. auch Keworkow, Wjatscheslaw: Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Berlin 1995.

24) Zit. bei Schönhoven, Wendejahre, S. 382.

25) So Helmut Schmidt Ende August 1969 während einer Parteiratssitzung der SPD. Zit. bei Niedhart, Gottfried: Revisionistische Elemente und die Initiierung friedlichen Wandels in der neuen Ostpolitik 1967-1974. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 249.

26) Ebd. S. 263.

27) Ebd. S. 255.

28) Ebd. S. 256.

29) Ebd. S. 257.

Prof. Dr. Gottfried Niedhart lehrt am Historischen Institut der Universität Mannheim