Unabhängig vor und nach 1989


Unabhängig vor und nach 1989

Entwicklungen der Friedensbewegung in Ostdeutschland

von Alexander Leistner

In den turbulenten Gedenkjahren 2019 und 2020, als sich Friedliche Revolution und Wiedervereinigung zum 30. Mal jährten, spielte die Geschichte und Gegenwart der Friedensbewegung im Osten Deutschlands keine Rolle. Bei solchen Gelegenheiten wird deutlich, dass kollektives Erinnern häufig in Zäsuren denkt und im Fall der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR deren Bedeutung auf den ­Beitrag zum Untergang der SED-Diktatur reduziert wird. Dabei werden deren Anliegen ebenso verdeckt, wie das Fortleben der Bewegung nach 1989.

Die Geschichte der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR vor und nach 1989 ist in vielerlei Hinsicht die Geschichte einer eigenständigen Bewegung (vgl. Leistner 2016). Eigenständig gegenüber der Friedensbewegung in Westdeutschland, weil ihre angesichts scharfer Repression unwahrscheinliche und riskante (Schatten)-Existenz verschiedene Besonderheiten mit sich brachte. Eigenständig auch innerhalb eines Staates, der sich selbst als »Friedensstaat« verstand, weshalb die Aktiven viel Wert auf die Selbstbezeichnung »unabhängig« legen mussten. Die Besonderheiten der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR werden schon bei einem ersten oberflächlichen Blick sichtbar. Die Erinnerung an die bundesdeutsche Friedensbewegung ist geprägt von den bildträchtigen Massendemonstrationen wie bspw. 1983 im Bonner Hofgarten. In der Erinnerung an die unabhängige Friedensbewegung in der DDR fehlen dem gesamtdeutschen kollektiven Gedächtnis dagegen tief eingeprägte Bilder und Aktionen. Allenfalls Symbole werden in der Erinnerung wachgerufen, wie der Slogan »Schwerter zu Pflugscharen« nebst zugehörigem Aufnäher, oder Orte, wie die Leipziger Nikolaikirche als Raum für die Friedensgebete und Ausgangsort für die großen Proteste auf dem Leipziger Innenstadtring 1989. Das Fehlen öffentlichkeitswirksamer Bilder verweist auch auf das Fehlen einer DDR-weiten Öffentlichkeit. Mit der Ausnahme einiger westlicher Journalist*innen, kirchlicher und subkultureller Kreise sowie anderer an den Rand gedrängter Milieus hatten die Gruppen kaum eine Möglichkeit, die allgemeine Bevölkerung auf die eigene Existenz, geschweige denn die eigenen Inhalte, aufmerksam zu machen.

Entstehung einer Bewegung im Schatten

Die unabhängige Friedensbewegung formierte sich unter dem Dach und im Schutz- und Kommunikationsraum von Teilen der Evangelischen Kirche, die – als einzige von der SED unabhängige Großorganisation in der DDR – in eine (teilweise ungewollte) politische Stellvertreterrolle für kritische Gruppen hineinrutschte. Es hatte aber auch inhaltliche Gründe für diese Entwicklung, da in den ostdeutschen Landeskirchen recht früh nach der Staatsgründung eigenständige friedensethische Positionen entwickelt und in den folgenden Jahren mehr oder minder offensiv vertreten worden waren, sofern sie nicht kirchenpolitischen Rücksichtnahmen zum Opfer fielen. Hinzu kamen organisatorische Gründe, da die ersten Friedensarbeitskreise und Friedensseminare der 1970er Jahre an der kirchlichen Basis gegründet wurden und sich „auf die theologische Arbeit in den Kirchen und die legalen kirchlichen Strukturen“ (Neubert 1997, S. 299) stützen konnten. An vielen Stellen zählten auch Pfarrer*innen und kirchliche Mitarbeitende zu den Hauptakteur*innen. Schließlich rekrutierten sich die Gruppen anfänglich vor allem aus kirchlichen und kirchennahen Kreisen.

Der Protest, der sich ab Anfang der 1970er Jahre in diesem Schutzraum artikulieren konnte, war vergleichsweise still und, gemessen an freien Gesellschaften, unspektakulär. Dafür persönlich umso riskanter. Ein Beispiel soll das veranschaulichen. Am Abend des 13. Februar 1982 – dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens – saß die 17jährige Annette »Johanna« Ebischbach (später Johanna Kalex) bei ihren Eltern wie unter Hausarrest.1 Im West-Radio hörte sie, dass sich weit über 5000 Menschen in der Kreuzkirche und an der Ruine der Frauenkirche versammelten. Der Anstoß dazu war von Johanna und Freund*innen aus der Dresdner Hippieszene ausgegangen. Aufwühlende Monate lagen hinter ihr. Sie hatte stundenlange Stasi-Verhöre und Ermittlungen wegen »Herbeiführung einer illegalen Zusammenrottung«, für die bis zu acht Jahre Haft drohten, über sich ergehen lassen müssen. Was war passiert?

Persönliche Risiken: die Gruppe Wolfspelz

Die Erinnerung an die Bombardierung der Stadt war staatlich dominiert und von der Kalten-Kriegs-Propaganda gefärbt: von »angloamerikanischem Bombenterror« war die Rede. Im »Friedensstaat« DDR entstanden unterdessen unabhängige Friedensgruppen und in Dresden trafen sich Jugendliche, die von einem Frieden ohne Soldaten träumten und dafür auch aktiv wurden. Sie formulierten einen Aufruf, sich am Jahrestag der Bombardierung mit Kerzen an der Frauenkirche zu versammeln. Sie vervielfältigten ihn erst mühsam mittels Schreibmaschinendurchschlägen, später illegal im Ausbildungsbetrieb einer Mitstreiterin. Über Berlin, Leipzig und andere Städte verteilte er sich in alle Winkel der Republik – intensiv beobachtet von der Stasi, die erheblichen Druck auf die Jugendlichen ausübte. In ihrer Not wandten sie sich hilfesuchend an die lokale Kirchenleitung, die einen Kompromiss aushandelte. Um verbotene Ansammlungen zu verhindern, wurden die Menschen zu einem kirchlich organisierten Friedensforum in der Kreuzkirche umgeleitet. Die Jugendlichen hatten auf diese Veranstaltung nur noch wenig Einfluss. Die Wirkung des Aufrufs war immens. Tausende kamen, obwohl die Stasi alle Zufahrtswege nach Dresden kontrollierte und Unzählige an der Anreise hinderte (vgl. Neubert 1997, S 395f.) Auf Zettel konnten die Jugendlichen in der Kirche Fragen schreiben, die unter Applaus verlesen wurden – ein unschätzbarer Moment von Öffentlichkeit in der Diktatur (vgl. Büscher et al. 1982, S. 264ff.). Es ging in den Fragen um die Verweigerung des Wehrdiensts, um Forderungen nach einem »Sozialen Friedensdienst« als Alternative zur Wehrpflicht, um die atomaren Bedrohungen des Kalten Krieges. Hunderte zogen anschließend mit Kerzen zur Ruine der Frauenkirche. Die Berichte in den Westmedien über diese unerhört große Veranstaltung machten für die landesweit verstreuten Friedensaktivist*innen sichtbar, dass sie eine Bewegung mit einer wachsenden Mobilisierungsbasis waren. Das Forum markiert aber auch den Beginn einer Distanzierung zwischen den Kirchen und den engagierten Gruppen, die auf diesen Schutz angewiesen waren. Als der sächsische Bischof die junge Hippieschar als „Wölfe im Schafspelz“ bezeichnete, benannte die sich in »anarchistische Gruppe Wolfspelz« um und suchte eigene Wege.

Wurzeln und Strömungen der Bewegung bis 1989

Die Wurzeln der Bewegung reichen weit zurück und sind eng gebunden an die Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Die DDR entstand als Kriegsfolgengesellschaft auf den Trümmern des »Dritten Reichs«. Die neuen SED-Machthaber*innen regierten eine Bevölkerung, die in großen Teilen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht wenige von ihnen noch als »Volksschädlinge« angesehen hatte. Als Folge des Arbeiteraufstands von 1953 wurde das System der militarisierten, nach innen und außen gerichteten Herrschaftssicherung stalinistischer Prägung weiter gefestigt. Das Militär und die Militarisierung prägten das gesellschaftliche Leben, weshalb in der Forschung von der DDR auch als »militarisierte Organisationsgesellschaft« (vgl. Leistner 2016, S. 162ff.) gesprochen wird.

Zugleich war die Gesellschaft mentalitätsgeschichtlich betrachtet eine der »kleinen Leute« – geprägt von habitueller Konformität, mit nur wenigen Nischen für eine alternative Lebensführung und resistente oder renitente Sozialmilieus. Im Kontrast dazu hatte sich die Friedensbewegung in den 1980er Jahren als heterogenes, konfliktreiches, sich generational überlagerndes und zeitlich versetztes Nebeneinander von vier Strömungen ausdifferenziert, die sich idealtypisch folgendermaßen unterscheiden lassen:

  • Als »Kriegsablehnungsbewegung« der seit den 1970er Jahren entstandenen unabhängigen Friedensbewegung. Diese arbeitete teilweise seit Jahrzehnten, sie regte thematisch sich ausdifferenzierende Gruppengründungen an und hatte mit ihrer Haltung radikaler Gewaltablehnung einen entscheidenden Anteil am friedlichen Verlauf des Revolutionsherbstes. Getragen wurden diese Gruppen anfangs vor allem von Wehrdienstverweigerern und den sogenannten Bausoldaten.2 Anfänglich kreisten die Themen vor allem um Fragen von Wehrdienstverweigerung und zivilen Ersatzdiensten. Das Spektrum erweiterte sich rasch hin zu Ursachen der Eskalationslogik atomarer Bedrohung und, spätestens mit der Einführung des Wehrunterrichts 1978, um die innere Militarisierung der Gesellschaft. Die Gruppen arbeiteten kontinuierlich und entwickelten Arbeitsmaterialien zur Friedenserziehung und zur einseitigen Abrüstung.
  • Die aus dem real existierenden Sozialismus ausgebürgerten Utopien lebten, genährt von den weltweiten Aufbrüchen der 1960er Jahre und besonders dem Prager Frühling, in großen Teilen der Friedensbewegung als »Reformbewegung« fort, die für einen besseren Sozialismus und 1989 für einen »Dritten Weg« stritten.
  • Gegen die Zukunftslosigkeit, die Konformität und die kleinbürgerliche Enge der Gesellschaft der »kleinen Leute« entwickelte sich eine jugendkulturelle Rebellion. Diese vom Lebenshunger getriebene »Emanzipationsbewegung« suchte Nischen für alternative Lebensformen und Freiräume in einem Land, das sie als Gefängnis erlebten: „Sechs Stunden hoch, vier Stunden breit“.
  • Noch deutlicher wurde die Kluft zu den reformsozialistischen Idealen der älteren Aktivist*innen Ende der 1980er Jahre, als die anschwellende »Protestbewegung« die verschiedenen Gruppen noch stärker politisierte – wie es sich etwa in der Gründung der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« ausdrückte. Diese Politisierung markiert eine Wende hin zu mehr Konfrontations- und Risikobereitschaft all jener, die mit der DDR abgeschlossen hatten. Damit war der Weg bereitet für den Zusammenbruch der SED-Diktatur im Herbst 1989, der seinen Ausgang in den Friedensgebeten nahm.

Für den Fortgang der Ereignisse ist kaum zu überschätzen, wie stark die seit Jahren aktiven Gruppen seit Mitte der 1980er Jahre eine alternative Öffentlichkeit herstellten und durch riskante Aktionen in die Öffentlichkeit drängten; dadurch prägten sie die Sprache und Kultur der Revolution. Deren Nachdenklichkeit, Klarheit und Friedlichkeit ließen keinen Raum für Gewalt und Racheszenarien an jenen, die über Nacht ihre uneingeschränkte Macht verloren hatten.

Friedensbewegung nach 1989

War der Weg der Friedensbewegung mit der deutschen Einheit zu Ende? Es verblieben friedensbewegte Engagierte und Gruppen, die sich durch Vereinsgründungen oder neue Aufgabenschwerpunkte stabilisieren konnten. Auffällig ist zunächst die Marginalisierung der Friedensbewegung nach 1989 überall in der ehemaligen DDR. Zwischen 1989 und 1993 verschwanden in Ostberlin, Dresden, Leipzig und Halle weit mehr als die Hälfte dieser Zusammenschlüsse (vgl. Rucht/Blattert/Rink 1997, S. 75). Als Folgeprojekte, in Konkurrenz oder anlassbezogen, entstanden seit 1989 eine sehr begrenzte Zahl heterogener und unterschiedlich stabiler Projektgruppen innerhalb der nunmehr gesamtdeutschen Friedensbewegung:

  • Aktions- bzw. Protestgruppen, die sich über Netzwerkmobilisierung anlassbezogen bilden – etwa angesichts des zweiten Golfkriegs und aller folgenden protest­auslösenden Kriege;
  • Aktionsgruppen, die regelmäßig ritualisierte Protestaktionen organisieren und durchführen – den jährlichen Ostermarsch, das Friedensgebet zum Anti­kriegs­tag, die herbstliche Friedensdekade in den Kirchengemeinden;
  • Problembezogene Protestgruppen, deren Bezugsproblem dauerhaft »vor der eigenen Haustür« liegt – z.B. die Initiativen gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger-Heide und in der Kyritz-Ruppiner Heide;
  • Schließlich die Professionalisierung hin zur Friedensarbeit, die es erlaubt, das Friedensengagement zum Beruf zu machen – z.B. der 1990 gegründete »Friedenskreis Halle« oder das 1990 aus der Ökumenischen Versammlung heraus entstandene »Ökumenische Informationszentrum« in Dresden.

Sichtbar ist die Rolle von Akteur*innen und Konzepten der DDR-Friedensbewegung bei der Durchsetzung und Etablierung von Instrumenten »Ziviler Konfliktbearbeitung« wie dem »Zivilen Friedensdienst« als konkreter Alternative zu Formen militärischer Intervention. Dessen Etablierung wurde Mitte der 1990er Jahre u.a. von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg angestoßen, die ersten Ausbildungskurse von Trainer*innen mit eigener Geschichte in der DDR-Friedensbewegung durchgeführt.

Ebenso ist das Engagement in Protestnetzwerken sichtbar, etwa gegen Bundeswehrstandorte. Gruppen und Akteure der DDR-Friedensbewegung gehörten zum organisatorischen Kern der langjährigen Proteste gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger Heide und das Tiefflugübungs- und Bombenabwurfgelände in der Kyritz-Ruppiner Heide. Gerade der Protest gegen letztgenanntes »Bombodrom« wurde über Jahre zu einem lokalen Kristallisationspunkt der Friedensbewegung, in seiner Funktion dem Wendland für die Anti-Atomkraft-Bewegung nicht unähnlich. Gegründet wurde die Bürger­initiative von lokalen friedensbewegten Pfarrer*innen und Roland Vogt, damals Bevollmächtigter des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg für den Abzug der Sowjetischen Streitkräfte und für Konversion. Zwischen 1992 und dem endgültigen Rückzug der Bundeswehr im Jahr 2010 wurden kontinuierlich Protestaktionen durchgeführt, teils durch die Bürgerinitiativen vor Ort, teils durch antimilitaristische Gruppen, die – nicht ohne Konflikte – stärker auf Aktionen zivilen Ungehorsams drängten (vgl. Hoch/Nehls 2000).

Nicht zuletzt waren und sind Aktive der ehemaligen Friedensbewegung der DDR in inhaltlichen Auseinandersetzungen um friedenspolitische Selbstverständnisse und die Zukunft des politischen Pazifismus engagiert. Die Militärinterventionen Deutschlands in den frühen 2000er Jahren führten zu intensiv ausgetragenen Konflikten in der Bewegung. Paradigmatisch dafür steht die Debatte um einen Artikel des ehemaligen grünen Staatsministers Ludger Volmer von 2002, der der Friedensbewegung in ihrer Ablehnung einer Militärinvasion einen „abstrakt-gesinnungsethischen Pazifismus“ (Volmer 2002) vorwarf, der über einen „Nachkriegspazifismus der fünfziger und sechziger Jahre“ nicht hinausreiche und als Bewertungsmaßstab für die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen untauglich sei. Diese Frontstellung zwischen dem Rigorismus eines »gesinnungsethischen« und dem Pragmatismus eines »politischen Pazifismus«, die Volmer in dem Artikel zuspitzte, prägte selbst seit Jahren die friedensethischen Selbstverständigungsdebatten, in denen Vertreter der ehemaligen DDR-Friedensbewegung eine prominente Stellung einnahmen. So betonte der ehemalige Dresdner Superintendent Christof Ziemer, dass beide Haltungen aufeinander angewiesen seien: der »weisheitliche Pazifismus«, der die Zusammenarbeit mit dem Militär nicht ablehnt und die rigorose Gewaltablehnung eines »prophetischen Pazifismus« (vgl. Ziemer 1999).

Kirchliche Friedensarbeit nach 1989

Auch innerhalb der Kirchen blieb das Friedensthema umstritten. Der Kirchenhistoriker Klaus Fitschen sieht denn auch den politischen Protestantismus ostdeutscher Prägung seit 1989 zunehmend in der Defensive (Fitschen 2013). Trotz Kosovo-Krieg und Afghanistan-Einsatz verabschiedete die EKD erst 2007, den friedensethischen Debatten hinterherhinkend, eine Friedensdenkschrift (»Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen«), in der die friedensethischen Positionen des bundesdeutschen Protestantismus konkretisiert wurden. Bis dahin gab es nur die Denkschrift der EKD-West von 1981 und Stellungnahmen des DDR-Kirchenbundes, wobei Letzterer 1983 mit seiner „Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ eine überaus deutliche friedenspolitische Position verabschiedet hatte, die 1987 in den wegweisenden Beschluss »Bekennen in der Friedensfrage« mündete. „Die Reaktionen auf die Friedensdenkschrift von 2007 waren sehr unterschiedlich. Friedrich Schorlemmer kritisierte: ‚Friedenspolitische Erkenntnisgewinne durch Christen in der DDR werden in der Denkschrift ignoriert, als habe es sie nicht gegeben’ […]. Damit sprach Schorlemmer das seit der Wiedervereinigung bestehende Unbehagen jener Kreise an, die sich mit ihrer pazifistischen Entschiedenheit an den Rand gedrängt sahen.“ (Fitschen 2013, S. 45)

Differenzierte Bewegung heute

Seit 1989 hat sich die Bewegung von einst stark ausdifferenziert. Es lassen sich wiederum idealtypisch drei Flügel unterscheiden, wenngleich es in den konkreten Gruppen Überschneidungen gibt.

  • Der protestorientierte Flügel vertritt die Position rigoroser Kriegsablehnung. Vertreter*innen beteiligten sich an riskanten und öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Sie reisten Anfang der 1990er Jahre als lebende Schutzschilde in den Irak oder besetzten und entzäunten gewaltfrei das amerikanische Kommando-Zentrum für Europa (EUCOM) in Stuttgart oder den Atomwaffenstützpunkt in Büchel. Sie sind der Stachel im Fleisch einer kriegsgewöhnten Öffentlichkeit.
  • Für den diskursorientierten Flügel ist das Ringen um eine friedenspolitische Position angesichts der stark veränderten politischen Rahmenbedingungen charakteristisch. Er bemüht sich um eine Vermittlung zwischen Befürworter*innen militärischer Interventionen in Bürgerkriegsregionen und radikalen Gegner*innen militärischer Gewalt und um eine differenzierte Haltung in einer sicherheitspolitisch unübersichtlicheren Gegenwart.
  • Als Drittes unterscheide ich einen präventionsorientierten Flügel, der in gewisser Weise zwischen den beiden Polen steht. In ihm verbindet sich die Einsicht in die veränderte sicherheitspolitische Situation mit dem Drang, ganz praktisch etwas tun zu wollen. Eine entsprechende Konjunktur hatte denn auch das Thema »Zivile Konfliktbearbeitung im In- und Ausland« auch in der ostdeutschen Bewegung.

Wie ist die aktuelle Situation? Mit der Professionalisierung als staatlich finanzierte Entsendedienste ziviler Friedensfachkräfte hatten viele Initiativen zwischenzeitlich ihre friedenspolitische Bissigkeit verloren. Aber immer wieder beteiligten sich Gruppen und Organisationen an Kampagnen gegen Rüstungsexporte, für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland oder zuletzt für »zivile Alternativen in Syrien«. Die Friedensbewegung hält Themen wach, die – obwohl drängend – häufig von der Bildfläche verschwunden sind. Beachtenswert ist dabei die langjährige Kontinuität des Engagements für zivile Konfliktbearbeitung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens oder das Engagement gegen Rechtsextremismus. Die größte Leistung ist sicher der Beitrag der Friedensbewegung zur Friedlichen Revolution 1989, viel weniger sichtbar sind solche wie die erfolgreichen Proteste gegen das Bombodrom in Brandenburg: ein über Jahre geführter und breit verwurzelter Widerstand der damals noch jungen und nicht eben erfolgsverwöhnten Zivilgesellschaft in den neuen Ländern. Auch daran sollte – selbstbewusst – erinnert werden.

Anmerkungen

1) Eine etwas ausführlichere Biographie von Johanna Kalex und ihrem Wirken findet sich im Personenlexikon des Projektes »Jugendopposition in der DDR« von bpb und Robert Havemann Gesellschaft: www.jugendopposition.de

2) Bausoldaten waren eine Besonderheit des DDR-Rekrutierungssystems. Auf Druck religiöser Gruppen wurde der Dienst in waffenlosen Baueinheiten der NVA 1964 eingeführt. Er war neben Gefängnis die einzige Alternative für Kriegsdienstverweigerer.

Literatur

Büscher, W.; Wensierski, P.; Wolschner, K. (Hrsg.) (1982): Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978–1982. Hattingen: edition transit.

Fitschen, K. (2013): Der politische Protestantismus in Ost und West zwanzig Jahre danach: eine missglückte Wiedervereinigung? In: Pickel, G.; Hidalgo, O. (Hrsg.): Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen? Wiesbaden: VS Verlag, S. 39–46.

Hoch, S.; Nehls, H. (2000): Bürgerinitiative FREIe HEIDe. Bombodrom – nein Danke! Berlin: Espresso Verlag.

Leistner, A. (2016): Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Konstanz: UVK.

Neubert, E. (1997): Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.

Rucht, D.; Blattert, B; Rink, D. (1997): Soziale Bewegungen auf dem Weg zur Institutionalisierung. Zum Strukturwandel »alternativer« Gruppen in beiden Teilen Deutschlands. Frankfurt/M.: Campus.

Volmer, L. (2002): Was bleibt vom Pazifismus. Die alten Feindbilder haben ausgedient. Warum militärische Mittel nicht ganz verzichtbar sind. Frankfurter Rundschau, 7.1.2002.

Ziemer, C. (1999): Ein neues Gefühl von Sicherheit ist gefragt. Publik Forum, Nr. 14, S. 10.

Dr. Alexander Leistner, Soziologe, wohnt in Leipzig und leitet an der Universität Leipzig zwei Teilprojekte des BMBF-Forschungsverbundes »Das umstrittene Erbe von 1989« (www.erbe89.de).

Weltordnungskriege im Ost-West-Konflikt?

Weltordnungskriege im Ost-West-Konflikt?

von Jost Dülffer

Kommunismus versus Kapitalismus oder Demokratie versus Diktatur? Wenn das die einzigen Ordnungsmuster der Weltpolitik über fast fünfzig Jahre gewesen wären, könnte man sich den folgenden Beitrag sparen. Gezeigt werden soll vielmehr, dass Kriege dieser Zeit (und danach) komplexeren Mustern auf mehreren Ebenen folgten. Nur so kann man zu annähernd hinreichenden Erklärungen kommen.

Der »Kalte Krieg« wurde im Laufe der Jahre zunehmend zum globalen Krieg. Er machte sich nicht nur im Norden, sondern auch im Globalen Süden in allen Bereichen von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur bemerkbar. Die Entwicklungen, deren Dynamiken durch die bipolare Konfliktordnung des Kalten Krieges überlagert und bisweilen erst auf Dauer gestellt wurden, wiesen aber auch eine eigene lokale und regionale Logik auf, und zwar keineswegs nur im Globalen Süden. Dies traf bereits seit den imperialen Eroberungen des 19. Jahrhunderts zu, galt aber auch für die Dekolonisation nach den beiden Weltkriegen.

Eine längerfristige Sicht auf die regionalen Konflikte im 20. Jahrhundert könnte lohnend sein, die diese genuinen und z.T. verdeckt gehaltenen Strukturen internationaler Subsysteme in den Blick nimmt und damit auch die Möglichkeit schafft, die in den letzten Jahrzehnten wichtig gewordenen Konflikte und Kriege als neue Erscheinung älterer Problemlagen zu erkennen. Es könnte sein, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die einen entscheidenden Ausgangspunkt und Austragungsort in Europa hatten, so in längerer Perspektive weniger wichtig erscheinen und den bislang üblichen Blick von der nördlichen Halbkugel in den Süden verschieben.

Die beiden Weltführungsmächte USA und Sowjetunion und ihre Verbündeten trafen 1945 nur als Folge des sonst nicht zu stoppenden deutschen Hegemonial- und Rassenkrieges mitten in Europa aufeinander und schufen so die Voraussetzungen für die Entwicklung zum Kalten Krieg. Dieser Ost-West-Konflikt führte zur Bildung zweier Integrationsblöcke mit sehr unterschiedlichen Strukturen: „Das eine Imperium […] entstand durch Einladung, das andere durch Auferlegung“, formulierte John Lewis Gaddis.1 Zugleich luden beide Seiten mit zumindest propagandistischer moralischer Disqualifikation die jeweils andere Seite als »Reich des Bösen« auf – nicht erst durch Ronald Reagan.

Ich ziehe es vor, diese jahrzehntelange Auseinandersetzung (die sich, wenn auch in gewandelter Form, nach 1991 weiter beobachten lässt) als »Ost-West-Konflikt« zu bezeichnen, weil so dessen Intensivphasen mit dem Eindruck hoher Kriegsgefahr deutlicher hervortreten. Er beschränkte sich nicht auf Europa, sondern erstreckte sich von Beginn an auch auf Südost- und Ostasien (z.B. Indochina); in diesem Rahmen gab es etliche heiße Konflikte. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass zu einer Zeit, als man einen großen Krieg befürchtete, die eigentlichen »Kalten Kriege« an anderer Stelle stattfanden. Sie umfassten die Berlin-Blockade und den Koreakrieg 1948 bis 1951 – letzterer ein »heißer Krieg«, der auf Europa überzugreifen drohte –, die Berlin- und Kuba-Krisen 1959-1962 sowie die »Nachrüstungskrise« zwischen 1979 und 1984.2

Der Ost-West-Konflikt

Worum ging es im Ost-West-Konflikt, der von zahlreichen interpendenten Konfliktfeldern auf den Achsen Ost-West und Nord-Süd durchzogen war? Es war sicher ein ideologischer Konflikt, er lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Umfassendere Interpretationen3 betonen zwei Modernisierungsstrategien, die sich in Ost und West verschiedener Methoden des Werbens und der aggressiven Ausbreitung bedienten. Fasst man unter die Ausbreitung auch Bereiche wie Wirtschaft, Kultur, Technologie und vor allem die militärische Aufrüstung, lässt sich annähernd das gesamte (in sich pluralistische) Muster von Lebensweisen erfassen.

Weitere Differenzierungen sind angebracht, um den vielschichtigen, ordnungsrelevanten Konfliktlagen näher zu kommen. Erstens verfolgte die Länder des »Westens«, voran die USA, das umfassende Ziel, die Weltwirtschaft zu rekonstruieren und zum eigenen Vorteil zu organisieren. Aber das multinationale Wirtschafts- und Finanzsystem, das immer stärker die globalen Strukturen der Welt bestimmte, wurde nur noch bedingt durch staatliche Institutionen gestaltet oder gar kontrolliert.4 Transnationalität auch zivilgesellschaftlicher Provenienz entwickelte sich quer zu den bisherigen staatlichen Ordnungen, wurde aber auch zum Vehikel der Durchdringung von »Zweiter« und »Dritter Welt« durch die »Erste«.5 Zweitens waren die USA und die Sowjetunion zwar die entscheidenden internationalen Mächte, im Westen gab es aber mit den ehemaligen Kolonialmächten, allen voran Großbritannien und Frankreich, zwei Subzentren, die sich – zumal in Fragen der Dekolonisierung – nur mühsam den tendenziell antikolonialen USA unterordneten. Die Sowjetunion wiederum hatte seit den späten 1950er Jahren mit der massiven Konkurrenz der Volksrepublik China zu rechnen, die sich seither in allen regionalen Konflikten des Südens bemerkbar machte. Die relative Autonomie der Regionalmächte zeigte sich schon bei den Konflikten um Griechenland und Jugoslawien 1944 bis 1949.

Daher muss man bei vielen Konflikten, die nach 1945 zu Kriegen führten, die verschiedenen Akteure auf unterschiedlichen Ebenen und ihr Verhältnis zueinander berücksichtigen. Dazu zählten neben lokalen, ggf. ethnischen Gruppen, vor Ort auch Nachbarländer in der jeweiligen Region mit eigenen Führungsansprüchen und bisweilen auch die weltpolitischen Ordnungsmächte.6 Einer seriösen Forschung zum Ost-West-Konflikt sollte es also darum gehen, Konflikte und Kriege in einem Mehrebenensystem7 zu verorten und die darin enthaltenen divergenten Binnenlogiken in den Blick zu nehmen.

Verlagerung der Konflikte in den Globalen Süden

Im Ost-West-Konflikt fanden konventionelle Kriege ganz überwiegend im Globalen Süden statt, wobei zwischenstaatliche und innerstaatliche Kriegsformen sehr häufig ineinander übergingen.8 Zwischen 1945 und 1990 gab es etwa 20 Millionen kriegsbedingte Tote, 99 % davon in der »Dritten Welt«.9 Der Globale Norden – von »nur« ca. 200.000 Kriegsverlusten betroffen – muss im Vergleich damit als relativ friedlich gelten Die Gründe lassen sich hier nur anreißen: Die Teilung Europas entwickelte sich langsam, in der Regel situativ und ungeplant. Auf der einen Seite gab es die Tendenz, die auch nach 1945 weiter bestehenden lokalen und europäischen Gewaltkonflikte im Osten der Sowjetunion zu überlassen.10 So ließ der Westen die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR 1953 zu und entlarvte die noch im US-Wahlkampf 1952 vertretene Politik des »Roll back«, der Befreiung, als Illusion. Diese Akzeptanz der militärischen Herrschaftssicherung im gegnerischen Block setzte sich 1956 in Ungarn/Polen und 1968 in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) fort, führte jedoch bereits 1980/81 nicht mehr zur militärischen Niederschlagung der polnischen Solidarnosc-Bewegung.

Was sich schon im Zweiten Weltkrieg abgezeichnet hatte und von Winston Churchill und Josef Stalin informell anerkannt worden war, nämlich die Abgrenzung von Interessensphären, sicherte letztlich den Frieden in Europa. Am Verhandlungstisch wurden Entscheidungen getroffen, die einen weiteren großen Krieg nach den Verlusten des Zweiten Weltkrieges verhinderten. Spätestens mit dem atomaren Patt der frühen 1960er Jahre stabilisierte die Gefahr eines bewusst herbeigeführten Nuklearkrieges auf beiden Seiten den weiter aggressiv aufgeladenen Konflikt. Das war die europäische Ordnung des Kalten Krieges, die kriegsvermeidend wirkte.11 Weder die Sowjetunion noch die USA akzeptierten jedoch Parität im rüstungstechnischen Sinne, was ein groteskes Wettrüsten mit Trägersystemen und nuklearen Sprengköpfen zur Folge hatte; sie beachteten aber den territorialen Status quo.12 Die USA und die Sowjetunion machten Politik unter der Prämisse, dass ein notwendig eskalierender Nuklearkrieg nicht zu führen sei, drohten dennoch wiederholt verbal, zumal in der Doppelbeschlusskrise der 1980er Jahre, mit Krieg, was mehrmals zu fast fatalen Fehlinterpretationen führte. Die Methoden der Auseinandersetzung blieben daher auf die – im Osten und Westen je andere – Subversion und medial-kulturelle Einflussnahme beschränkt; es war aber gerade die westliche, auch an Menschenrechten orientierte Informations- und Kulturpolitik, die nachhaltig subversiv wirkte.

Die drohenden und akuten Kriege selbst verlagerten sich seit den 1950er Jahren stärker in die »Dritte Welt«. Dieser Terminus – ursprünglich einer des Aufbruchs13 – entwickelte sich bis heute zur Metapher für Abhängigkeit, Zerstörung und fortgesetzte Ausbeutung. Die Modernisierungsstrategien der »Ersten« und »Zweiten Welt« konkurrierten nun auch in diesen »Entwicklungsländern«, die geographisch nur zum Teil in der südlichen Hemisphäre liegen. Hier waren die Kalte-Kriegs-Imperien nicht schroff voneinander abgegrenzt, und hier engagierte sich die Sowjetunion wesentlich häufiger als im Norden »durch Einladung«, die USA stärker »durch Auferlegung«. Die USA, teilweise in Kooperation, häufig aber auch in Konkurrenz zu den (vormaligen) Kolonialmächten bzw. in deren Nachfolge, hatten sich zugleich mit ihrem Bestreben, die Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wieder anzukurbeln und sich Rohstoffquellen, vor allem Öl, zu erschließen, frühzeitig zum Aufbau eines Kranzes von maritimen Stützpunkten entschlossen, die ihnen starke Positionsvorteile einbrachten.14 Die Sowjetunion konnte sich demgegenüber auf in ihrem Sozialismus angelegte antiimperialistische Strategien stützen, die in der Dekolonisierung zum Wettbewerb mit der westlich-demokratischen Unterstützung (post-) kolonialer Eliten führte.

Es gab nur einen Krieg, in dem die Sowjetunion und die USA zwar unabhängig voneinander, aber unisono die antiimperialistische Karte zogen: Das war der 1956 von Frankreich, Großbritannien und Israel angezettelte Suezkrieg gegen Ägypten. Bei einem anderen, dem indisch-pakistanischen Krieg von 1966, agierte die Sowjetunion gar als von den USA erwünschter Friedensvermittler.15

Zumeist waren Konflikte weitaus antagonistischer. Sie begannen 1946 um den Iran oder die türkischen Meerengen und eskalierten erstmals im Koreakrieg 1950 bis 1953. Schon hier kann man kaum von einem »Stellvertreterkrieg« oder einem Krieg um die Weltordnung sprechen, andernfalls müsste der geographisch-hegemoniale Aspekt stärker betont werden. Der Koreakrieg hatte mehrfache Ursachen. So etablierten die beiden Großmächte nach 1945 zunächst sowjet- bzw. US-freundliche Machthaber im Norden bzw. Süden der Halbinsel, deren Alleinvertretungsanspruch von den Führungsmächten zunächst im Zaum gehalten wurde. Erst nach dem Sieg Mao Zedongs im chinesischen Bürgerkrieg 1949 erhielt der nordkoreanischen Präsident Kim Il-sung die sowjetische und zugleich die chinesische Unterstützung. Das war der Punkt, als die USA primär aus geostrategischen Gründen intervenierten und mit einem Mandat der Vereinten Nationen eine große »Koalition der Willigen« zustande brachten.16 Der hier und später noch oft gebrauchte Begriff des »Stellvertreterkrieges« trifft den Kriegsanlass und -grund nur unzureichend. Vielmehr müsste der geographisch-hegemoniale Aspekt stärker betont werden, wenn man von einem Ordnungskrieg sprechen will. Die USA erwogen in Korea mehrfach den Einsatz von Atomwaffen, stimmten aber letzlich im Juli 1953 einem ( bis heute anhaltender) Waffenstillstand auf der territorialen Basis der damaligen Kampflinien zu.

Lösungen nach Kriegen

Nach drei wichtigen kriegerischen Konflikten mit nachfolgender Teilung der Länder zeigten sich unterschiedliche nationale Friedenslösungen.

1. In Korea überdauerte die Existenz zweier Staaten das Ende des bisherigen Ost-West-Konflikts auch deshalb, weil die Volksrepublik China ein Interesse an der Stützung der spätkommunistischen Diktatur bewahrte. China hatte sich von einer weltrevolutionären Führungsmacht zu einer politisch-militärischen Weltmacht entwickelt, welche sich in den regionalen wie generellen Konflikten der Gegenwart auch als Militärmacht artikuliert. Ebenso wichtig wie dieser regionale Rahmen erscheint die Etablierung zweier sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Organisationsformen, von denen sich der Norden seither mit offenen, auch nuklearen, Kriegsrüstungen und -drohungen seiner Existenz versichert.

2. In der deutschen Frage, an der gefährlichsten Nahtstelle des Kalten Krieges angesiedelt und mit einer sonst kaum erreichten Militärdichte in beiden deutschen Staaten, fiel mit dem Entzug der sowjetischen Unterstützung und damit der Preisgabe eines wesentlichen Elements bisherigen hegemonialen Einflusses in Osteuropa die Teilung weg und führte zur Vereinigung von 1990 mit den bekannten Folgen bis heute.

3. In Indochina erlangte Frankreich 1945 seine Kolonialherrschaft militärisch zurück, konnte sich jedoch trotz US-Hilfe nicht überall im Lande durchsetzen, sodass das Land nach der französischen militärischen Niederlage von 1954 bis 1975 in Vietnam geteilt war (daneben gehören Laos und Kambodscha zu Indochina). Trotz des Pariser Friedensvertrages von 1973 mussten sich die USA zwei Jahre später schmachvoller als zuvor bereits die Franzosen geschlagen geben. Das war singulär und führte zur Wiedervereinigung beider Teile Vietnams. Der Vietnamkrieg folgte der Logik nationaler Befreiungskriege und wurde, obwohl von der Sowjetunion und der Volksrepublik China unterstützt, entscheidend von der Regionalmacht selbst gegen das US-geführte Bündnis gewonnen.17 Nach einigen regionalen Anschlusskriegen zur Erlangung eine regionalen Machtbalance konsolidierte sich das vom Norden her vereinigte Vietnam, das inzwischen guten Austausch mit dem Westen pflegt.

Die Entwicklung dieser drei durch Krieg geteilten Staaten gibt also drei unterschiedliche Verlaufsformen wieder: erstens eine andauernde feindliche Teilung, zweitens den friedlichen Kollaps einer Seite und drittens einen siegreichen Vereinigungskrieg. Man wird daher nicht von einer »Ordnung« des Kalten Krieges sprechen können.

Gegenüber der »Dritten Welt« verfolgten Westen und Osten unterschiedliche Entwicklungspfade, die sie z.T. militärisch unterstützten. Gerade die USA ließen sich dabei von einer Strategie der Glaubwürdigkeit tragen und intervenierten bisweilen nur, um künftige Vorteile der Gegenseite auszuschließen. Die von der Eisenhower-Administration für Südostasien entwickelte Domino-Theorie bildete ein Modell, das angesichts einer weltweit wahrgenommenen kommunistischen Gefahr auf viele Konflikte übertragen wurde. Auf sowjetischer Seite gab es bisweilen ähnliche Perzeptionen18 oder zumindest verbreitete sie propagandistisch Feindbilder von US-imperialistischen Verschwörungen, die bis zu einem bedrohlichen westdeutschen Neofaschismus reichten. Das sowjetische Äquivalent für die US-Niederlage in Vietnam wurde der Afghanistankrieg von 1979 bis 1989. Er wurde von Moskau nicht als Expansionskrieg für eigenen Einfluss und Ordnung geführt, sondern aus einer grundsätzlich defensiven Position, um nicht jeden Einfluss in der Region zu verlieren – mit dem bekannten negativen Resultat.19

Befreiungs- und Staatenbildungskriege im Globalen Süden

Die Kriege im Globalen Süden waren in der Zeit des Ost-West-Konflikts zumeist Befreiungs- und postkoloniale Staatsbildungskriege. Die USA wie die Sowjetunion boten den vielfach europäisch sozialisierten Eliten mit der Berufung auf liberalkapitalistische oder sozialrevolutionäre Ansätze einen Referenzrahmen für eigene politische Programme, die ihrerseits dazu dienten, die jeweilige Unterstützung der Supermächte in regionalen Kriegen zu erlangen. Walt W. Rostows »Stages of Economic Growth« von 1960 trug bereits den Untertitel »An Anticommunist Manifesto«. Er konstruierte im Hinblick auf die »Dritte Welt« fünf Stufen normativ gedachter Entwicklung im westlichen Sinn bis hin zum sich selbst tragenden Wachstum. Rostow stieg in den späten 1960er Jahren im politischen Apparat bis zum Nationalen Sicherheitsberater der Vereinigten Staaten auf, seine »ordnende« Blaupause scheiterte aber schon in ihren Ansätzen bei den Aufbauprogrammen für Vietnam, die – da von Anfang an militärisch begleitet – die USA letztlich in den Krieg schlittern ließen.20

Tatsächlich verlief die Konkurrenz der zwei von den Weltmächten betriebenen Entwicklungspfade chaotisch, gewaltförmig und letztlich kontraproduktiv für ihre jeweiligen Ziele. Wie der Krieg um die Unabhängigkeit des Belgischen Kongo zeigte, reichte noch 1960/61 die sowjetische militärische Unterstützung der Regierung Lumumba nicht zu deren Absicherung, was die Ermordung Lumumbas im belgischen Interesse mit CIA-Unterstützung ermöglichte. Danach und vor allem seit den 1970er Jahren intensivierte sich aber das sowjetische Engagement in afrikanischen Kriegen von der Unterstützung in Stellvertreterkriegen bis hin zu direktem militärischem Eingreifen.

Am Horn von Afrika sowie in Mo­zambique und Angola wurden Kriege unterschiedlicher Befreiungsbewegungen von der Sowjetunion wie vom Westen auch militärisch durch Berater, Geld und Soldaten unterstützt. Bei der jeweils durchaus vorhandenen Absicht, die soziale Lage der Bevölkerung zu verbessern, ging es primär um die Ausweitung des Einflusses, nicht um territoriale Gewinne.21 Hinzu kam, dass sich die Volksrepublik China z.B. in Angola seit den 1970er Jahren gegen die Sowjetunion militärisch positionierte. Da die USA unter der Reagan-Administration intensiver gegen den sowjetischen Einfluss überall auf der Welt vorgingen, nahmen besonders die afrikanischen Kriege an Zerstörungskraft zu. „Es sieht so aus, dass Afrika unter dem hohen geopolitischen Einsatz der Supermächte und ihrer ideologischen Konfrontation gegen Ende des Kalten Krieges schwere Kollateralschäden erleiden musste.“ 22 Das scheint mir jedoch eine Beschreibung zu sein, die eher für die in Kauf genommenen Folgen als für die gezielten Absichten der Sowjetunion23 und/oder der USA galten.

Sicherung der Einflusssphären

Ein »grand design« zur Ausbreitung der eigenen Ordnungen durch Krieg spielte eine geringere Rolle als das Bestreben, nur nicht an Einfluss zu verlieren, gestützt durch den Glauben an die je eigene welthistorische Überlegenheit und ökonomische Interessen. Dabei gerieten die Supermächte häufig in ein regionales Machtsystem, das sie mit ihrem militärischen Führungsanspruch zu überwinden oder doch zumindest nach dem eigenem Sieg von der Sinnhaftigkeit von Krieg zu überzeugen hofften. Das ging und geht bis heute fast immer schief – unter den krachenden Misserfolgen der G.W. Bush-Administration zur Etablierung einer solchen Ordnung24 leidet nicht nur der Mittlere Osten bis heute.

Anmerkungen

1) Gaddis, J.L. (1997): We Now Know – Rethinking Cold War History. Oxford: Oxford University Press, S. 52.

2) Dülffer, J. (2004): Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991. München: Oldenbourg.

3) Westad, O.A. (2005): The Global Cold War – Third World Interventions and the Making of Our Time. Cambridge: Cambridge University Press. Auch insgesamt im Folgenden zum Globalen Süden.

4) Ferguson, N. et al. (ed.) (2011): The Shock of the Global – The 1970ies in Perspective. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

5) Iriye, A. et al. (2012): The Human Rights Revolution – An International History. Oxford: Oxford University Press.
ders.; Osterhammel, J. (Hrsg.) (2013): Geschichte der Welt 1945 bis heute – Die globalisierte Welt. München: C.H. Beck.

6) Für andere Zeiten entwickelt bei: Dülffer, J. u. a. (1986): Inseln als Brennpunkte internationaler Politik – Konfliktbewältigung im Wandel des internationalen Systems 1890-1984: Kreta, Korfu, Zypern. Köln: Wissenschaft und Politik.

7) Damit ist etwas anderes als das viel diskutierte Mehrebenensystem der europäischen Integration gemeint.

8) Typisierungen m Anschluss an Istvan Kende: Gantzel, K.J.; Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1992 – Daten und Tendenzen. Münster: LIT.

9) Painter, D.S. (1995): Explaining U.S. Relations with the Third World. In: Diplomatic History 19, Nr. 3, S. 525-548, hier S. 525.

10) Lowe, K. (2014): Der wilde Kontinent – Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950. Stuttgart: Klett-Cotta.

11) Das ist der Sinn des Titels von Gaddis, J.L. (1987): The Long Peace – Inquiries in the History of the Cold War. Oxford: Oxford University Press.

12) Maddock, S. (2010): Nuclear Apartheid – The Quest for American Atomic Supremacy from World War II to the Present. Chapel Hill: The University of North Carolina Press.

13) Dinkel, J. (2015): Die Bewegung Bündnisfreier Staaten – Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin/München/Boston: De Gruyter Oldenbourg.

14) Leffler, M.P. (1991): A Preponderance of Power – National Security, the Truman Administration and the Cold War. Stanford: Stanford University Press.
Als Einstieg zu Öl u.a.: Painter, D.S. (2010): Oil, Resources and the Cold War, 1945-1962. In: Leffler, M.P.; Westad, O.A. (eds.): The Cambridge History of the Cold War. Cambridge: Cambridge University Press, 3 Bände, hier I, S. 486-507.

15) Dülffer, J. (2006): »Self-sustained conflict« – Systemerhaltung und Friedensmöglichkeiten im Ost-West-Konflikt 1945-1991. In: Hauswedell, C. (Hrsg.): Deeskalation von Gewaltkonflikten seit 1945. Essen: Klartext, S. 33-60; für den indisch-pakistanischen Krieg S. 55-59.

16) Stueck, W.S. (2002): Rethinking the Korean War – A New Diplomatic and Strategic History. Princeton: Princeton University Press.

17) Frey, M. (2004): Die Geschichte des Vietnamkrieges. München: C.H. Beck, 7. Auflage.

18) Hilger, A. (Hrsg.) (2009): Die Sowjetunion und die Dritte Welt – UdSSR, Staatssozialismus und Antikolonialismus im Kalten Krieg 1945–1991. München: De Gruyter Oldenbourg.

19) Kalinovsky, A. (2011): A Long Goodbye – The Soviet Withdrawal from Afghanistan. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

20) Rostow, W.W. (1960): The Stages of Economic Growth – An Anticommunist Manifesto. Cambridge, Mass.: Cambridge University Press.

21) Westad, O.A. (Fußnote 4), S. 5.

22) Byrne, J.J. (2013): Africa’s Cold War. In: Robert McMahon (ed.) (2013): The Cold War in the Third World. Oxford: Oxford University Press, S. 101-123, hier S. 115.

23) Hilger, A. (Fußnote 18).

24) The White House (2002/2006): The National Security Stategy of the United States of America. Washington, D.C.

Prof. Dr. Jost Dülffer lehrte als Professor für Internationale Geschichte und Historische Friedens-und Konfliktforschung an der Universität zu Köln.

Der Autor dankt Claudia Kemper und Gottfried Niedhart für anregende Diskussionen zu diesem Beitrag.

Ukraine-Konflikt und geopolitische Eigentore

Ukraine-Konflikt und geopolitische Eigentore

von Uli Cremer

In der aktuellen geopolitischen Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland erweiterte Russland seine direkte Einflusssphäre und verleibte sich im März 2014 nach einem Blitzreferendum die Krim ein – zweifellos ein völkerrechtswidriger Akt. Nach westlicher Lesart ist der Kreml zudem für alle Eskalationen in der Ostukraine verantwortlich. Der Ministerpräsident der ukrainischen De-facto-Regierung, Jazenjuk, wirft Russland gar vor, den Dritten Weltkrieg anzetteln zu wollen. Nun fragen sich viele, wie der Westen mit der Situation umgehen soll. Schließlich will man die Angliederung der Krim nicht akzeptieren und anerkennen. Das hat die Weltgemeinschaft auch bei Nordzypern nicht getan, das 1974 mithilfe türkischer Truppen von Zypern abgetrennt wurde. Jene, die Russland die alleinige Verantwortung für die Eskalation zuweisen, finden jetzt müssten, anders als damals im Falle Nordzypern, gegen Russland militärische, wirtschaftliche und kommunikative Strafen verhängt werden.

Bereits beschlossen sind so genannte intelligente Sanktionen mit primär symbolischer Wirkung. Hauptvorteil solcher Sanktionen war und ist seit ihrer Erfindung vor gut 15 Jahren, dass sie fast nichts kosten – auch wenn gerne darauf verwiesen wird, dass sie die »Richtigen« träfen und die unschuldige Bevölkerung schonten. Allerdings wird die russische Regierung in ihrer Krimentscheidung von einer großen Mehrheit der Bevölkerung Russlands unterstützt. Insofern stellt sich die theoretische Frage, ob nicht auch umfassende Sanktionen die »Richtigen« träfen – von den Minderheiten abgesehen, die in Russland gegen die Annexion der Krim auf die Straße gehen.

Umfassende Wirtschaftssanktionen sind nicht zum Nulltarif zu haben. Länder, die solche Sanktionen gegen andere verhängen, fügen sich immer auch selbst Schaden zu. Wer sich mit Wirtschaftssanktionen näher befasst, weiß: Gegen kleine, schwache Staaten wirkt das Mittel, bei den großen Playern hingegen funktioniert es nicht. Daher wurden 2003, als die Bush-Regierung den Irak-Krieg begann, von niemandem ernsthaft Sanktionen gegen die USA in Erwägung gezogen. Zweifellos ist auch Russland als neuntgrößte Industrienation der Welt ein großer Player. Die FAZ weiß: „Wer eine Staatsverschuldung von nur 13 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) und Devisenreserven von mehr als 470 Milliarden Dollar verwaltet sowie mit einer von staatlich kontrollierten Konzernen dominierten Branche die zweitgrößten Erdgasreserven und die achtgrößten Erdölvorkommen der Erde abbauen lässt, der hat einen langen Atem.“ (Benjamin Triebe: Putin kann sich noch viele Scharmützel leisten. 23.4.2014) Zwar wird öffentlich gern hervorgehoben, die westlichen Sanktionen würden bereits jetzt die russische Wirtschaft schädigen (Rubelverfall, Abzug von Geldern). Das deklamierte Ziel ist aber ein politisches Nachgeben der russischen Regierung – und das ist in keiner Weise in Sicht.

Während es für die Europäische Union kurzfristig möglich war, auf syrische oder iranische Ölimporte zu verzichten, hat das Ausmaß der energiepolitischen Verflechtung und damit die Abhängigkeit von Russland eine andere Dimension. Unterbände die EU kurzfristig die Einfuhr von Öl und Gas aus Russland, ließe die nächste Weltwirtschaftskrise vermutlich nicht lange auf sich warten.

Eigentlich geht es bei der Debatte um das russische Gas um eine langfristige strategische Weichenstellung: Sollen Zusammenarbeit und Handel mit Russland in den nächsten Jahren auf homöopathisches Niveau heruntergefahren werden oder sollen die Beziehungen auf allen Ebenen intensiviert werden? Logische Begleiterscheinung der westlichen Abwendung von Russland wäre dessen stärkere Hinwendung zu China, inklusive der Realisierung entsprechender Pipelineprojekte – ein klassisches geopolitisches Eigentor also.

Grundsätzlich sind Kooperation und Handel ein guter Weg zum Verhindern von Kriegen und zum Einhegen von Konflikten. Man stelle sich einmal vor, es gäbe aktuell die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen EU und Russland nicht! Das unmittelbare Abdriften in konfrontative militärische Reaktionsmuster wäre vorgezeichnet. Deswegen ist es politisch wichtig, die Zusammenarbeit zu verteidigen. Die Debatte um alternative Lieferanten oder Energieautarkie führt in die falsche Richtung. Erneuerbare Energien müssen aus Umweltgründen ausgebaut werden und nicht, um »unabhängig von Russland« zu werden. Auch in der Energiepolitik gilt: Sicherheit gibt es nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit Russland. Deswegen sollten die EU-Staaten weiterhin Erdgas aus Russland beziehen.

Seitens derjenigen, die (auch) dem Westen Schuld an der Zuspitzung der Lage geben, wird gern und häufig auf die Ausdehnung der NATO nach Osten als Ursache für das russische Handeln verwiesen. Während sich der Warschauer Pakt 1991 aufgelöst habe, habe die NATO nicht nur weiter bestanden, sondern neue Mitglieder aus der Region der ehemals sowjetischen Einflusszone aufgenommen.

Putin sagte 2007 in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz, die NATO-Erweiterung sei „ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt“. Er sah die Erweiterung also nicht als akute militärische Bedrohung an. Das wäre auch ziemlicher Unsinn, und zwar aus drei Gründen:

1. Die militärischen Potentiale der NATO des Kalten Krieges waren gegen den Warschauer Pakt gerichtet. Das war die alte NATO, nennen wir sie mit NATO-Generalsekretär Rasmussen NATO 1.0. Seit 1991 wurde jedoch eine neue NATO, die NATO 2.0, geschaffen. Sinn ihrer Existenz sind nunmehr Militärinterventionen, also Einsätze der NATO jenseits ihrer Außengrenzen (Kosovo-Krieg), im Wesentlichen außerhalb Europas (Afghanistan-Krieg). Statt neue Waffen für einen eventuellen Krieg gegen Russland zu beschaffen, stellte die NATO auf schnell verlegbare Expeditionstruppen um. Die Manöverszenarien der NATO Response Force spielten nicht am Ural, sondern sehen Einsätze gegen kleine Staaten in Afrika oder Asien vor. Die neuen NATO-Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa traten der NATO 2.0 bei, und das fiel ihnen spätestens auf, als sie die ersten Truppen nach Afghanistan schickten.

2. Die NATO errichtete in den Beitrittsländern keine relevanten Stützpunkte. Selbst die 5.000 in Rumänien und Bulgarien stationierten US-Soldaten wären „für einen Überraschungsangriff auf Russland […] gar nicht geeignet“, sind vielmehr „für Einsätze außerhalb des KSE-Bereichs“ vorgesehen (Hannes Adomeit und Frank Kupferschmidt: Russland und die Nato. Berlin: SWP, März 2008, S.21).

3. Die NATO 2.0 verbündete sich im Rahmen der »Partnerschaft für den Frieden« bereits in den 1990er Jahren mit Russland. Ein NATO-Russland-Rat wurde gebildet, auch wenn dieser immer gerade dann, wenn man sich wieder einmal stritt, vorübergehend suspendiert wurde. Die NATO und Russland hielten gemeinsame Manöver ab. Und nicht zuletzt unterstützte Russland von Beginn an den Afghanistan-Krieg, insbesondere logistisch.

Die Charakterisierung der NATO-Osterweiterungen als »Eindämmungspolitik«, wie in NATO-kritischen Kreisen üblich, ist also unscharf bzw. alarmistisch. Eine militärische Eindämmung ist nur möglich, wenn auch die entsprechende militärische Infrastruktur bereitgestellt wird. Genau die hat die NATO in Hinblick auf Russland aktuell eben nicht. Entsprechend kann es zur Zeit nur um politische Reaktionen gehen.

Allerdings werden die Rufe nach militärischer Eindämmung schon seit einigen Wochen lauter, und so profitiert die NATO doch von der Ukraine-Krise. In Deutschland verlangte Ministerin von der Leyen: „Jetzt ist für die Bündnispartner an den Außengrenzen wichtig, dass die Nato Präsenz zeigt.“ (Spiegel Online, 22.3.2014) Andreas Schockenhoff, bis Anfang 2014 Russland-Koordinator der Bundesregierung, assistierte: „Es ist daher unerlässlich, dass die Nato für eine glaubwürdig kollektive Verteidigung unserer östlichen Bündnispartner auch eine permanente Verlegung von militärischen Fähigkeiten prüft.“ (Andreas Schockenhoff: Abschreckung ist kein Tabu. FAZ 28.4.2014) Und so sieht es auch Dominic Johnson, Leiter des Auslandsressorts bei der taz: „Die Nato sollte jetzt ihre weitgehend nutzlosen Rüstungsarsenale endlich dort in Stellung bringen, wo sie tatsächlich Schutz bieten könnten, nämlich in Osteuropa.“ (taz 30.4.2014)

Letztlich ginge es dabei um ein gigantisches Aufrüstungsprogramm. Die finanzielle Dimension wäre enorm: Eine dem Kalten Krieg vergleichbare „Infrastruktur an den heutigen östlichen Außengrenzen der Nato aufzubauen dürfte Hunderte von Milliarden Euro kosten“ (Niklas Busse: Krieg gegen Russland. FAZ 3.11.2008). Die Militärhaushalte müssten geradezu explodieren. Genau dies fordert taz-Korrespondent Klaus-Helge Donath: „Alle EU-Staaten sollten gemeinsam beschließen, den Verteidigungshaushalt um mindestens ein Drittel anzuheben, parallel zum Aufstocken konventioneller Streitkräfte und technologischer Innovationen […] Der Westen würde nur wiederholen, was US-Präsident Ronald Reagan in den 1980ern vorexerzierte. Totrüsten ohne Tote.“ (taz 29.4.2014)

Das NATO-Dilemma: Es wären Investitionen in militärische Projekte, die für Interventionen in Ländern des Südens größtenteils unbrauchbar wären. Einen Militärstützpunkt in Estland kann man nicht für eine Intervention im Sudan oder in Sierra Leone gebrauchen. Statt in die NATO 2.0 würde in die NATO 1.0 investiert. Im Ergebnis würde der Westen dem chinesischen Rivalen Terrain überlassen – ein weiteres geopolitisches Eigentor.

Zwar ist das Vertrauen zwischen den westlichen Regierungen und Moskau momentan am Nullpunkt angekommen. Eine militärische Zuspitzung à la Kalter Krieg ist bisher aber nicht erkennbar. Die Verlegung von Flugzeugen oder kleinen Truppenteilen nach Polen oder ins Baltikum sind keine substantielle Mobilmachung sondern reine Symbolpolitik. Das gilt auch für geplante Manöver in der Ukraine. Sofern der Westen keine geopolitischen Eigentore schießen will, hat die vom Zaum gebrochene militärpolitische Debatte diesen Sinn: Der politische Konflikt soll genutzt werden, um die Militäretats zu erhöhen, Waffen zu beschaffen und Truppenverbände aufzustellen, die gar nicht gegen Russland, sondern im Süden (z.B. in Afrika) eingesetzt werden können und sollen. Das ist die eigentliche Agenda. Als Kollateralschaden der Ukraine-Krise muss also mit steigenden Militäretats gerechnet werden.

Uli Cremer ist einer der Initiatoren der »Grünen Friedensinitiative« und Autor des Buches »Neue NATO: die ersten Kriege«.

Keine NATO des Ostens

Keine NATO des Ostens

Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit als eurasisches Großprojekt

von Peter Linke

Alle Hoffnungen auf eine »multipolare Welt« haben sich bislang nicht erfüllt. Die Welt von heute ist eher »nicht-polar« (Richard Haass) – mit all den daraus resultierenden Gefahren für globale und regionale Sicherheitszusammenhänge. Verstärkt richtet sich daher das Augenmerk auf Strukturen, die einer multipolaren Welt potentiell Vorschub leisten. Dabei von besonderem Interesse: Die Neustrukturierung des postsowjetischen Raums, die Herausbildung verschiedener postsowjetischer »Subräume«, ihr Verhältnis zueinander, die Konstituierung regionaler und subregionaler politischer Kulturen im Spannungsfeld zwischen säkularer Krise und religiöser Wiedergeburt sowie die dabei zutage tretende Rolle externer Akteure.

Im postsowjetischen Raumkonglomerat tummeln sich inzwischen nicht wenige Organisationen: von der so genannten GUAM (gegründet 1997 durch Georgien, die Ukraine, Aserbaidschan und Moldowa unter aktiver Mithilfe Washingtons) über die »Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit« (ODKB) – ein 2002 auf Initiative Moskaus aus der Taufe gehobener militärischer Beistandspakt, dem neben Russland Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan angehören – bis hin zur »Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft« (EwrAsES), deren Gründungsvertrag 2000 im kasachischen Astana von Belarus, Kasachstan, Kirgisien, Russland und Tadschikistan unterzeichnet wurde.

Die geostrategisch und geokulturell interessanteste Struktur ist und bleibt jedoch die »Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (russisch: SchOS).

Vorläufer der SchOS war die so genannte Schanghaier Fünfergruppe, deren Mitglieder China, Russland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan sich Mitte der neunziger Jahre in mehreren Abkommen zu „militärischer Vertrauensbildung und gegenseitiger Streitkräftereduzierung im grenznahen Raum“ verpflichtet hatten. Nach dem Beitritt Usbekistans konstituierte man sich 2001 zur SchOS. Hauptanliegen der neuen Organisation war „der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und Extremismus, die Förderung wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmerstaaten, die Gewährleistung von Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region sowie die Etablierung einer neuen, demokratischen und gerechten Weltordnung.“1 2004 gewährte die Organisation der Mongolei und 2005 Indien, Pakistan und dem Iran den Status von Beobachtern und erweiterte damit ihren geopolitischen Spielraum um ein Vielfaches.

Neben diversen Gesprächsforen verfügt die SchOS über zwei ständige Organe: ein Sekretariat in Peking sowie eine »Regionale Antiterrorstruktur« in Taschkent. Deutlich verstärkt hat sich in den letzten Jahren die sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der SchOS, was insbesondere in diversen multilateralen »Antiterror-Manövern« zum Ausdruck kommt.

Doch auch wirtschaftspolitisch rückt man immer enger zusammen. Jüngstes Beispiel: die zwischen Moskau und Peking im April 2009 vereinbarten Maßnahmen zur gemeinsamen Entwicklung des Russischen Fernen Ostens.

Wohin die weitere Reise der Organisation gehen soll, machte der Kreml vor wenigen Wochen deutlich, als er im ostrussischen Jekaterinburg den inzwischen 9. SchOS-Gipfel elegant mit dem 1. BRIC-Gipfel2 verband.

Insbesondere US-Strategen taten sich zunächst schwer damit, die SchOS ernst zu nehmen, verspotteten sie als „widersprüchlichste Organisation der Gegenwart“, die versuche, zu umfassen, was sich nicht umfassen lasse, und daher eine „Todgeburt“ sei.3 Ein Sinneswandel setzte erst 2005 ein, als die geopolitischen Schwergewichte Indien und Iran Beobachterstatus erhielten: Während sich einige Analysten damit begnügten, die SchOS als anti-amerikanische Verschwörung zu verteufeln, die einzig und allein das Ziel verfolge, Washington den Stuhl vor die eurasische Tür zu stellen, versuchten andere, mit Hilfe alternativer Konzepte wie dem eines »Greater Middle East« oder einer »Greater Central Asia Partnership for Cooperation and Development« der SchOS geopolitisch den Wind aus den Segeln zu nehmen. Unterstützung fanden Letztere insbesondere unter japanischen Kollegen, die SchOS durchaus aufgeschlossen gegenüberstanden und mit Vorschlägen wie dem einer »Eurasischen Interaktionsinitiative« danach trachteten, ihr eigenes Land sowie die USA und EU-Europa als »Dialogpartner« an die SchOS anzudocken. Mit Blick auf die Europäische Union ein durchaus kurioses Anliegen, zeigte sich diese doch an der neuen Struktur im Osten wenig interessiert. Ein Zustand, an dem sich bis heute wenig geändert hat.

Nüchtern betrachtet, ist die SchOS weder eine Todgeburt, noch eine Bedrohung für die »freie Welt«, sondern eine junge Organisation auf der Suche nach einem eigenständigen, unverwechselbaren Platz im künftigen transeurasischen Sicherheitsgefüge.

Eine »Organisation neuen Typs«

Laut Generaloberst Leonid Iwaschow, Präsident der Moskauer Akademie für geopolitische Probleme, strebt die SchOS als eine »Organisation neuen Typs« (Jewgenij Primakow) ein Sicherheitssystem an, das sich von dem der NATO, der ODKB und anderer militärischer Blöcke prinzipiell unterscheidet. Gleichzeitig bemühe sich die Organisation um ein eigenes Entwicklungsmodell, basierend auf einem System gemeinsamer, transzivilisatorischer Werte.

Dies sei besonders wichtig angesichts erheblicher Armut in vielen Mitgliedsländern sowie anhaltender ethnokonfessioneller Spannungen in der gesamten Region. Die SchOS brauche mehr als eine bloße Wachstumsideologie, sie brauche eine komplexe Entwicklungsstrategie, die die Veränderung der Wirtschaftstruktur in den einzelnen Mitgliedsstaaten zum Ziel habe und darauf orientiere, die Lebensqualität durch die Förderung von Kultur, Wissenschaft, Bildung sowie einer komfortablen Lebensweise bei gleichzeitiger Schonung der Natur nachhaltig zu verbessern.

Vor allem Russland mit seinen gewaltigen »Transformationsproblemen« habe dies frühzeitig erkannt. Es sei kein Zufall, so Iwaschow, dass gerade russische Diplomaten und Militärs bereits 1998 Kurs auf die Umwandlung der Schanghaier Fünfergruppe in eine stärker strukturierte Organisation genommen hätten. Dazu gedrängt habe sie eine zunehmend unipolare Weltordnung mit Hang zur Schaffung einer „Diktatur der militärischen Stärke“, aber auch die Dominanz liberaler Marktbeziehungen, in deren Folge die Zerrüttung der Weltwirtschaft, die Störung des globalen ökologischen Gleichgewichts sowie die Behinderung friedlichen zivilisatorischen Miteinanders eine neue, gefährliche Qualität angenommen hätten.

Einen Kontrapunkt habe man damals setzen, der individualistisch-konsumorientierten Gesellschaft des Westens eine Art Gegenentwurf präsentieren wollen: die Vision eines „zweiten Pols der Menschheit“, der aufgrund alternativer lebensphilosophischer Ansätze – basierend auf neuen Einsichten in das Verhältnis von Mensch und Natur sowie gemeinschaftsorientierten Wertmaßstäben – „harmonische Beziehungen zwischen Staaten und Zivilisationen“ aktiv befördere sowie ein „auf ausbalancierten Kräften und Potentialen fußendes Sicherheitssystem“ anstrebe.4 Mit der Gründung der SchOS habe man dieser Absicht erstmals praktisch Nachdruck verliehen. Die Suche nach einem komplexen Sicherheitsverständnis sei sehr schnell zum Markenzeichen der neuen Organisation geworden.

Russisch-chinesische Missverständnisse

Iwaschows Ausführungen verdeutlichen auf recht anschauliche Weise, welch gewaltige globalpolitischen Absichten russische Strategieplaner von Anfang an mit der SchOS verfolgten. Ein Ansatz, der aber von Strategieplanern anderer Mitgliedsländer, insbesondere Chinas, so nicht geteilt wird. Im Unterschied zu Russland war Chinas Engagement in der Organisation bislang eher taktischer Natur.

Seit Deng Xiaoping betrachtet Peking als zentrales Ziel seiner Außenpolitik, sich mit den entscheidenden internationalen Akteuren über eine (Neu-)Aufteilung der Welt in Interessen- und Verantwortungssphären zu verständigen, ohne dabei selbst eine globale Führungsrolle anzustreben oder (insbesondere gegenüber den USA) konfrontativ aufzutreten. Offiziell »Strategie der harmonischen Entwicklung« genannt, lässt dieser Ansatz letztlich wenig Raum für aktives globalpolitisches Engagement.

China weigere sich, Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Stabilität im Weltmaßstab zu übernehmen, begnüge sich mit stabilen Verhältnissen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, so Alexander Koltjukow, Chef des Instituts für Militärgeschichte des Russischen Verteidigungsministeriums. Der Weg dorthin führe aus Sicht der chinesischen Führung über die Anbindung der benachbarten Volkswirtschaften an die eigene Volkswirtschaft. Aus genau diesem Grunde verweigere sich Peking militärischen Blöcken oder wirtschaftlicher Integration nach dem Vorbild der EU; es bevorzuge, sämtliche politische und wirtschaftliche Fragen auf bilateraler Ebene zu klären.

Vor diesem Hintergrund sieht Koltjukow wesentliche Unterschiede im Herangehen Russlands und Chinas an mögliche Kooperationsformen im Rahmen der SchOS: Während Russland nach vertiefter Integration auf Grundlage einer teilweisen Delegierung staatlicher Souveränitätsrechte an supranationale Organe (etwa des ODKB oder der EwrAsES) strebe, weigere sich China, seine Souveränität mit irgendjemandem zu teilen. Pekings Interesse sei darauf gerichtet, gegenüber Moskau und Delhi eine Abgrenzung von Interessen- und Verantwortungssphären in der Region durchzusetzen. Russland freilich betrachte die ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken längst als Sphäre seiner Interessen.

Zentralasiatische Schaukelpolitik

Die offensichtlichen Interessengegensätze zwischen Russland und China verführten die Zentralasiaten selbst zu einer teilweise abenteuerlichen Schaukelpolitik, von der letztlich, wenn überhaupt, nur Dritte profitieren würden. Koltjukow: „Die zentralasiatischen Republiken sind noch nicht lange genug souverän, um wirklich bereit zu sein, in supranationalen Strukturen mitzuarbeiten. Von gefestigten außenpolitischen Traditionen kann keine Rede sein. Noch suchen die Staaten der Region nach einem eigenständigen, das bestehende Kräftegewicht berücksichtigenden Entwicklungspfad. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Suche zur Aufkündigung der strategischen Partnerschaft mit Russland führt…“5

Moskaus Integrationsverheißungen irritieren viele zentralasiatische Entscheidungsträger, ist deren Durst nach Souveränität doch längst nicht gestillt. Gleichzeitig beunruhigt sie Pekings massive wirtschaftliche Expansion in die Region. Um zwischen Integrationsdruck einerseits und wirtschaftlicher Überfremdung anderseits nicht zerrieben zu werden, spielen sie nur allzu gern die US-Karte.

Gefährlicher Bilateralismus der »Beobachter«

Den Scharaden der Vollmitglieder skeptisch gegenüberstehend, konzentrieren sich die vier Beobachter bislang auf die Pflege bilateraler Kontakte, was die Organisation nicht wirklich voranbringt: Delhi versteht die SchOS vor allem als Vehikel, preiswerter als je zuvor an russische Waffen zu gelangen, seine militärpolitische Präsenz in Zentralasien zu festigen (etwa durch den Ausbau des Luftwaffenstützpunktes Ajni in Tadschikistan) sowie den Einfluss Pakistans in der Region möglichst klein zu halten. Islamabad versucht mit Hilfe der Organisation nicht nur, seine gravierenden Energieprobleme in den Griff zu bekommen, sondern auch Delhis wachsendes Engagement in und um Afghanistan zu konterkarieren. Teheran nutzt seinen Beobachterstatus, um seine sicherheitspolitischen Aktivitäten in der Region zu diversifizieren sowie bei fortgesetzter Frontstellung gegen Washington die Integration der Islamischen Republik in die Weltwirtschaft voranzutreiben. Ulan-Bator hofft, über die SchOS zusätzliche Mittel zur Entwicklung seiner Verkehrs- und sonstigen Infrastruktur akquirieren zu können, ohne dabei (erneut) in allzu große Abhängigkeit von Moskau oder Peking zu geraten.

Mangelnde Abstimmung zwischen den »SchOS-Lokomotiven« Russland und China, latentes Misstrauen der »Kleinen« (Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien) gegenüber den »Großen« (Russland, China, Kasachstan) sowie ein die Organisation überwuchernder Bilateralismus, insbesondere zwischen den »Kleinen« und den Beobachtern verhindern bislang die tatsächliche Etablierung der SchOS als »Organisation neuen Typs«.

Strategische Reserven

Nach Meinung vieler Beobachter handelt es sich bei den o.g. Differenzen im Wesentlichen um Kinderkrankheiten einer noch im Werden begriffenen Struktur. Diese zu überwinden sollte der SchOS perspektivisch möglich sein, wurde sie doch als ein Instrument praktischer Vertrauensbildung konzipiert.

Als solches kann die Organisation einen einzigartigen Beitrag zum Abbau gegenseitiger negativer Klischees (etwa im Verhältnis Russland-China) bzw. Feindbilder (insbesondere im indisch-pakistanischen Kontext), zur Förderung multilateraler Sicherheitsarrangements zwischen Vollmitgliedern und Beobachtern, zu effektiver wirtschaftlicher Kooperation und damit ultimativ zur räumlichen Neustrukturierung Transeurasiens mit erheblich gesteigerten geopolitischen Handlungsoptionen, insbesondere für die Staaten Zentralasiens (direkter Zugang zum Meer dank strategischer Infrastrukturprojekte mit Pakistan und dem Iran etc.) leisten.

Neuer Eurasismus

Auf diesem Wege könnte die SchOS tatsächlich zum Rückgrat eines alternativen eurasischen Sicherheitssystems werden, das transregionalen Verkehrsinfrastrukturprojekten ebenso viel Aufmerksamkeit entgegen bringt wie Initiativen zur nachhaltigen Bodennutzung oder kulturellen Selbstbehauptung. Damit würden sich der SchOS reale Handlungsoptionen weit über den eigenen, unmittelbaren Tätigkeitsrahmen hinaus eröffnen (Vernetzung mit OSZE, ASEAN/ARF etc.).

Die »eurasische Option« wird immer mehr zu einer Grundkonstante geopolitischen Denkens im postsowjetischen Raum. Bereits Mitte der 1990er Jahre trat der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew mit der Idee einer Eurasischen Union an die Öffentlichkeit. Auch wenn Nasarbajews Ansatz im Kreml zunächst eher skeptisch gesehen wurde, stieß er bei russischen Geostrategen sofort auf offene Ohren: Russland als einzige Kontinentalmacht mit massiver Territorialpräsenz in Europa und Asien sowie mit mehr eurasischen Nachbarn als irgendein anderer Staat, so der bekannte Moskauer Militärhistoriker Wjatscheslaw Simonin, könne entscheidend zur Schaffung eines einheitlichen und universellen »Eurasischen Systems der Sicherheit, Zusammenarbeit und Entwicklung« (EASBSR) auf Grundlage existierender institutioneller und nichtstaatlicher Organisationen beitragen, wobei der OSZE, der SchOS, dem ASEAN-Regionalforum (ARF) sowie dem Asien-Europa-Treffen (ASEM) eine Schlüsselrolle zukomme.

Dass dem Kreml derartige Gedanken nicht gänzlich fremd sind, demonstrierte Wladimir Putin erstmals im Dezember 2001, als er auf einer Pressekonferenz mit kargen Worten umriss, was faktisch einem eurasischen Sicherheitssystem vom Atlantik bis zum Pazifik gleichkam.

Wie ein derartiges System praktisch-konkret aussehen könnte, beschreibt Jahre später der Petersburger Geograph Jurij Krupnow. Seiner Meinung nach besteht die wichtigste geopolitische und diplomatische Aufgabe Russlands in den nächsten zwanzig Jahren in der Umwandlung Zentralasiens und des Mittleren Ostens – von Kasachstan bis Nordindien und dem Persischen Golf – in eine prinzipiell neue Makroregion, die für Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung auf Grundlage beschleunigter Industrialisierung und systemischer Zusammenarbeit zwischen Russland, Indien, China, dem Iran, Afghanistan, Pakistan, der Mongolei, Kasachstan, Turkmenistan, Kirgisien, Tadschikistan, Aserbaidschan und der Türkei steht. Ausgangspunkt eines solchen Makroprojektes müsse die Schaffung eines einheitlichen geoökonomischen und geokulturellen Raums sein, der weder geopolitische Grenzziehungen, noch nationale geostrategische Egoismen kenne. Fern jeder Instrumentalisierung durch einzelne Länder könne eine solche Makroregion den Kern eines zentraleurasischen gemeinsamen Marktes sowie ein Dialogforum für die in der Region beheimateten Zivilisationen und Völker bilden.

Spätestens die von Krupnow vorgeschlagene Bezeichnung »Neuer Mittlerer Osten« (NSW) für die geplante Makroregion macht deutlich, dass sie nicht zuletzt als Antwort auf die US-Konzeption eines »Greater Middle East« gedacht ist. Sie darauf zu reduzieren, wäre jedoch grundfalsch. In Krupnows Ansatz widerspiegelt sich vor allem der Versuch, auf eine Reihe für Russland sehr realer Herausforderungen mit einem ganzheitlichen Lösungsansatz zu reagieren:

Mobilisierung dringend benötigter externer Ressourcen für die Entwicklung des asiatischen Teils Russlands;

infrastrukturelle Entwicklung Sibiriens und des russischen Fernen Ostens, nicht zuletzt durch systematische Nutzung zentralasiatischer Arbeitskräfte;

Ausbau strategisch bedeutsamer Pipeline-Systeme und Transportkorridore, insbesondere durch enge Kooperation mit dem Iran;

nachhaltige Boden- und Wassernutzung, vor allem im sibirisch-zentralasiatischen Grenzgebiet;

Gewährleistung transregionaler Nahrungsmittelsicherheit;

Delegitimierung ethnischer Gewalt durch Kultivierung eines neuen Transkulturalismus.

Gesucht: Eine neue strategische Kultur

Insbesondere die letzten drei Herausforderungen bedingen einen Sicherheitsansatz, der weit über das hinausgeht, was gemeinhin als »vernetzte Sicherheit« bezeichnet wird. Ein solcher Ansatz müsste vor allem prophylaktischer Natur sein, was wiederum eine qualitativ neue strategische Kultur6 voraussetzt. Qualitativ neu bedeutet dabei nicht, das Militärische nachhaltig zu marginalisieren, sondern eher im Gesamtkoordinatensystem moderner sicherheitspolitischer Herausforderungen anders zu verorten.

Dem wiederum müsste ein neuer Gewaltbegriff zugrunde liegen, der dem zunehmend dualen Charakter moderner Waffensysteme ebenso Rechnung trägt, wie der wachsenden Komplexität von Mensch-Maschine-Systemen sowie praktischer künstlicher Intelligenz. Auf diesem Wege könnte ein nicht unwesentlicher Beitrag zur Formierung einer neuen, die Grenzen zwischen militärischer und nichtmilitärischer Selbstbehauptung des Menschen aufhebenden Ethik für das heraufziehende posthumane Zeitalter geleistet werden. Ein ideales Betätigungsfeld für die SchOS, will sie tatsächlich eine »Organisation neuen Typs« sein.

Die SchOS als Wiege einer neuen transeurasischen Zivilisation, basierend auf einer neuen strategischen Kultur – eine ehrgeizige Vision, aber dennoch realistisch unter der Voraussetzung, dass sich die beiden »Lokomotiven« der Organisation endlich ihrer kollektiven Potenz bewusst werden.

Höchste Zeit, dass beide »Großen« gemeinsam und in enger Abstimmung mit den nicht ganz so Großen sowie allen Beobachtern über Grundbausteine einer neuen strategischen Kultur für den transeurasischen Raum nachdenken. Moskaus Entscheidung vom April 2009, der wirtschaftlichen Expansion Pekings in Russlands Fernen Osten sowie nach Zentralasien nicht länger im Weg zu stehen, kann durchaus als eine vertrauensbildende Maßnahme gelten, ist jedoch noch kein Schritt hin zu einer wirklich neuen strategischen Kultur.

Notwendig wäre eine gewaltige intellektuelle Anstrengung in Sachen eurasischer Idee jenseits aller Nationalismen. Ein komplexes Geschichtsbewusstsein, die genaue Kenntnis der weltlichen und religiösen Traditionen Eurasiens sind dafür ebenso Voraussetzung wie ein fundiertes Gespür für neue und neueste Trends in Wissenschaft und Gesellschaft.

Woran es der SchOS nach wie vor ermangelt, ist eine Art Grand Strategy, eine Vision, die den Menschen Transeurasiens eine gemeinsame Zukunft verheißt, ohne sie ihrer individuellen Vergangenheit zu berauben.

Chinas Vision für die SchOS, kritisiert der bekannte chinesische Geostratege Jia Qingguo, bleibe abstrakt und schlecht definiert, da das Land nicht in der Lage sei, einen konkreten Wertekatalog vorzulegen, der sowohl Chinesen als auch andere Völker in den Mitgliedstaaten der Organisation ansprechen würde. Die Schwäche der SchOS, resümiert Leonid Iwaschow, bestehe darin, dass sie über keinerlei fundamentale Theorie zur Beschreibung eines derartigen transzivilisatorischen Gebildes verfüge, über keinerlei formierte philosophische Weltanschaung, Konzeptionen und Algorhythmen zur Strukturierung dieses gewaltigen Raums. Es bleibt also viel zu tun!

Weiterführende Literatur

Lusjanin, Sergej (2007): Wostotschnaja Politika Wladimira Putina (Die Ostpolitik Wladimir Putins), Moskwa, Wostok-Sapad.

Zhao, Quansheng (1996): Interpreting Chinese Foreign Policy, Oxford University Press.

Anmerkungen

1) Siehe Erklärung über die Gründung der SchOS vom 15. Juni 2001 unter www.sectsco.org/RU/show.asp?id=83.

2) Informelle Verabredung zwischen Brasilien, Russland, Indien und China, „neue ökonomische Programme zu erarbeiten“ sowie „die internationalen Finanzbeziehungen zu reformieren.“ (Dmitrij Medwedjew).

3) Siehe z.B. Thomas Ambrosio (2005): Challenging America´s Global Preeminence: Russia´s Quest for Multipolarity, Aldershot: Ashgate, S.138.

4) Leonid Iwaschow (2007): SchOS i geopolititscheskije interesy Rossii w Jewrasii (Die SchOS und die geopolitischen Interessen Russlands in Eurasien), in: Schanchajskaja Organisazija Sotrudnitschestwa i jejo rol w sosdanii alternatiwnoj besopasnosti w Asii (Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit und ihre Rolle bei der Schaffung einer alternativen Sicherheitsarchitektur in Asien), Moskwa, ROPZ, S.22.

5) Alexander Koltjukow (2008): Wlijanije Schanchajskoj organisazii sotrudnitschestwa na raswitije i besopasnost Zentralno-Asiatskowo regiona (Der Einfluss der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit auf die Entwicklung und die Sicherheit der zentralasiatischen Region), in: Schanchajskaja Organisazija Sotrudnitschestwa – k nowym rubesham raswitija (Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit – auf zu neuen Entwicklungshorizonten), Moskwa, IDW, S.282.

6) Im Sinne einer Garnitur aus „gemeinschaftlichen Glaubenssätzen, Annahmen und Verhaltensweisen, abgeleitet aus gemeinsam gemachten Erfahrungen und allgemein akzeptierten Erzählungen (mündlicher wie schriftlicher Art), die kollektive Identität stiften, das Verhältnis zu anderen Gruppen prägen sowie von zentraler Bedeutung bei der Wahl angemessener Mittel und Wege zum Erreichen von Sicherheitszielen sind.“ Siehe Darryl Howlett (2006): The Future of Strategic Culture, Defense Threat Reduction Agency, Advanced Systems and Concepts Office, 31 October 2006, S.3.

Peter Linke leitet das Moskauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Editorial

Editorial

von Randolph Nikutta

Vor drei Jahren wurde der Ost-West-Konflikt formal durch die Charta von Paris beendet, ist der riesige, heterogene Staatsverband UdSSR als Subjekt des Völkerrechts aus der Welt verschwunden, sind zahlreiche neue souveräne Nationalstaaten insbesondere auf dem europäischen Kontinent entstanden und ist Krieg mit all seinen grausamen Begleiterscheinungen in Europa wieder zur »Alltagsrealität« geworden. Die alte Ordnung auf dem europäischen Kontinent, die mittels eines nuklearen Abschreckungssystems mehr als 40 Jahre in recht fragiler Weise stabil im Sinne einer fehlenden militärischen Auseinandersetzung gehalten worden war, die machtpolitische Kontrolle der beiden deutschen Staaten gewährleistete und kriegsträchtige nationalstaatliche Alleingänge durch Eingliederung in hegemonial geführte Militärallianzen und ökonomische Integration unterband, ist definitiv zerfallen und muß durch eine neue sicherheits- und friedenspolitische Ordnung ersetzt werden.

Auf der einen Seite ist dies zweifelsohne eine große historische Chance, auf der anderen Seite sind die Hindernisse gewaltig, die sich einer neuen Friedensordnung in Europa entgegenstellen. Grundsätzliche Lösungen sind vor allem für die vielfältigen ökonomischen und sozialen Probleme, ethno-nationale Konflikte und Kriege im östlichen Europa gefordert, wenn eine langfristig aufrechtzuerhaltende gerechte europäische Friedensordnung Bestand haben soll. Doch den westlichen politischen und militärischen Entscheidungsträgern fehlt ganz offenbar der Mut zu innovativen, vorwärtsweisenden sicherheits- und friedenspolitischen Antworten und Konzepten. Die Phantasie- und Ratlosigkeit führt dazu, im praktischen Handeln Gewohnheiten und bewährte Einrichtungen zu konservieren.

So fällt den Regierenden der in der NATO zusammengeschlossenen westlichen Staaten nichts Besseres ein, als ausgerechnet die NATO ohne große Veränderungen ihrer Grundstruktur zum Kern europäischer Sicherheit zu erklären und eine Vergrößerung der Stola der Allianz beim Schneider in Auftrag zu geben, damit eines Tages die meisten osteuropäischen Staaten und eventuell auch Rußland darunter Platz finden. Die NATO hat die Frage der Mitgliedschaft osteuropäischer Staaten durch die Einrichtung des NATO-Kooperationsrates und des Programms »Partnerschaft für den Frieden« zunächst einmal vertagt, weil massive Interessensdivergenzen zwischen den NATO-Mitgliedsstaaten über die Erweiterung vorhanden sind.

Doch unabhängig davon, welche Minimal- oder Maximalkonzepte einer östlichen Erweiterung der NATO und des Grades der Einbindung Rußlands dabei gegenwärtig diskutiert werden, ist das ganze Palaver ein Wegweiser in die falsche Richtung. Der Politologe Czempiel bemerkte kürzlich zutreffend, daß Konzepte wie die »Partnerschaft für den Frieden« nicht zu den Ursachen vordringen, aus denen die Anwendung militärischer Gewalt zur Konfliktbearbeitung entsteht.

Die erfolgreiche Lösung der inneren Transformationsprobleme der nachkommunistischen Gesellschaften ist der entscheidende Schlüssel für eine zukünftige stabile Friedensordnung in Europa und nicht der Beitritt in eine westliche Militärallianz.

Ein Hauptproblem der Transformation der vormals staatssozialistisch organisierten Gesellschaften besteht darin, daß sie drei Aufgaben zur gleichen Zeit bewältigen müssen: der Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung nach dem Vorbild westlicher Marktwirtschaften, einer demokratisch orientierten Rechts- und Verfassungsordnung und die Verankerung neuer Regeln für soziale Integration, die die Achtung kultureller, religiöser oder ethnischer Verschiedenheit im Rahmen des Territorialgebiets einer Gesellschaft sicherstellen. Dies erfordert erhebliche finanzielle, politische und soziale Ressourcen und Unterstützung. Diese Transformationsprozesse nachkommunistischer Gesellschaften in Osteuropa zu fördern, sollte die vordringlichste Aufgabe westlicher Staaten sein. Denn dadurch wird die eigene Sicherheit erhöht und der Grundstein für eine stabile Friedensordnung auf dem Kontinent gelegt.

Leider klaffen deklaratorische und faktische Unterstützungspolitik westlicher Staaten gegenüber Osteuropa vielfach auseinander. So hat die EU zwar mit fast allen osteuropäischen Staaten Assoziationsverträge geschlossen, die Handelserleichterungen enthalten. Gleichzeitig verschlossen die EU-Staaten den osteuropäischen Ländern jedoch weitgehend den westeuropäischen Binnenmarkt für den Export ihrer Agrar-, Textil- oder Stahlprodukte.

Parallel zu der ökonomischen und politischen Entwicklung Osteuropas müssen Strukturen geschaffen bzw. gestärkt werden, innerhalb derer Konflikte zwischen den Staaten auf dem europäischen Kontinent auf gewaltfreiem Wege beigelegt werden können. Dies kann schwerlich die NATO sein, die ein nach außen gerichtetes Militärbündnis ist und keine institutionalisierten Mechanismen der internen Konfliktregulierung und vorbeugenden zivilen Konfliktbearbeitung kennt. Dafür bietet sich die politische Stärkung, Institutionalisierung und Weiterentwicklung der KSZE zu einer wirksamen Institution mit einer effektiven Entwicklungsagentur und einem – entsprechend dem Aufgabenfeld – personell und technisch ausgestatteten, funktionierenden und vorbeugenden zivilen Konfliktlösungsmechanismus an. Hier sollten die westeuropäischen Staaten, die USA und auch die mittel-osteuropäischen Staaten zur Förderung einer europäischen Friedensordnung neue Prioritäten setzen.

Ihr Randolph Nikutta

Russisches Militär

Russisches Militär

Träger des Nationalismus?

von Andreas Heinemann-Grüder

Seit den Wahlen im Dezember 1993 zur Staatsduma ist Wladimir Schirinowski zur medienwirksamen, Schrecken verbreitenden Symbolfigur der militanten Spielart des russischen Nationalismus geworden. Seine Wählerschaft wurde maßgeblich im Militär verortet. Keineswegs die Mehrheit, aber immerhin ein qualifiziertes Drittel der Militärangehörigen soll für Schirinowski gestimmt haben (sein Stimmenanteil bei den Listenwahlen betrug gesamtnational 23%).

Im folgenden möchte ich den Affinitäten zwischen dem russischen Nationalismus und im Militär verbreiteten bzw. vorherrschenden politischen Einstellungen nachgehen. Darüber hinaus werde ich die Interessen des russischen Militärs gegenüber den GUS-Staaten und Elemente ihrer praktischen Umsetzung aufzeigen. Wie ich darzulegen versuche, führt eine simple Gegenüberstellung von regierenden »Demokraten« und opponierenden »Nationalisten« nicht weit – wesentliche Elemente des russischen Nationalismus haben unter dem maßgeblichen Einfluß russischer Militärs bereits Eingang in die gegenwärtige Regierungspolitik gegenüber den GUS-Staaten gefunden. Dies soll nicht heißen, daß nicht weiterhin qualitative Unterschiede zwischen militanten Nationalististen (Schirninowski), autoritär gestimmten Großrussen (ehemaliger Vizepräsident Rutskoj) und dem Jelzin-Lager bestehen. Doch was geschieht, wenn Jelzin immer weitergehende Zugeständnisse an seine nationalistischen Herausforderer macht? Wird die bisherige Loyalität der russischen Militärführung gegenüber dem oberkommandierenden Präsidenten dann konditional, weil Jelzins Nachgeben als Zeichen seines Niedergangs interpretiert würde? Wieweit ist das Primat ziviler und demokratischer Kontrolle über das Militär gegeben? Welche Auswirkungen hätte ein politischer Machtwechsel zugunsten einer dezidiert autoritär-nationalistischen Regierung?

Worauf wir uns nach der Ära Jelzin einzustellen haben, läßt sich nur spekulativ erschließen. Im schlimmsten anzunehmenden Fall der Machtübernahme durch Schirinowski würde dessen mögliche Allianz mit dem Militär zweifellos zur realen Bedrohung für den Frieden Rußlands und seiner Nachbarn. Ohne Worst-Case-Szenarien skizzieren zu wollen muß aber festgehalten werden, daß die Wurzeln des russischen Nationalismus gleichwohl zu tief und breit sind, als daß sie mit den grotesken Eskapaden ihres führenden Repräsentanten abgetan werden könnten.

Eine Gesamtanalyse der Ursachen für das Aufkommen des russischen Nationalismus soll und kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Doch gilt es, einige Voraussetzungen für seine Brisanz und Grundelemente des russischen Rechtsextremismus in Erinnerung zu rufen. Die Auflösung der Sowjetunion, der radikale Bruch mit den politischen, ökonomischen, sozialen und ideellen Basisinstitutionen des »realen Sozialismus« und die dadurch verursachte Desintegration von Staat und Gesellschaft aktualisieren in besonderer Weise die Frage nach dem Werte- und Normensystem Rußlands (der »nationalen Identität«), dem Verfassungssystem und dem politischen Prozeß (der »politischen Kultur«).

Die Radikalität des durch Jelzins Regierung seit 1991 initiierten Systemwechsels zog eine politische Polarisierung nach sich, die sich bis Herbst 1993 vor allem im Machtkampf zwischen den Eliten der Exekutive, des Obersten Sowjets und dem Verfassungsgericht niederschlug, seitdem jedoch zunehmend eine zuvor noch weitgehend apathische Öffentlichkeit erfaßt. Die staatsstreichartige Auflösung des Obersten Sowjets im Herbst 1993 durch Jelzin verdeutlichte ein fundamentales Dilemma: Läßt sich der Systemwechsel demokratisch gestalten, wenn und solange substantielle Voraussetzungen der Demokratie wie ein sozial ausdifferenziertes Parteien- und Verbändesystem, die Anerkennung von rechtsstaatlichen Spielregeln und ein gesellschaftlicher Basiskonsens nicht gegeben sind, oder bleibt der Systemwechsel dann auf revolutionäre, autoritäre, extremistische Formen der Machtausübung angewiesen? Und ruft die Radikaltiät der Reformer nicht notwendig ebenbürtige, möglicherweise darüber hinaus schießende Gegenreaktionen hervor?

Die politische Polarisierung ist zweifellos auch ein soziales Phänomen – in die wachsende Kluft, die sich zwischen der kleinen, auf radikale Reformen orientierten Elitegruppe und dem neureichen »Business« auf der einen und breiten, marginalisierten Teilen der Bevölkerung auf der anderen Seite auftut, stoßen verschiedene nationalistische Gruppierungen hinein1. Die objektiven Probleme der Identitätsfindung, der Integration und der politischen Repräsentation einer sich schnell ausdifferenzierenden Gesellschaft werden von den Nationalisten keineswegs beantwortet, sondern gleichsam auf einen Ersatzschauplatz transferiert. Vereinfacht lassen sich drei Grundströmungen der russischen Rechten ausmachen – monarchistische, rückwärtsgewandte Gruppen, neokommunistische Parteien mit dem Ruf nach Wiederherstellung der Sowjetunion und schließlich aggressive nationalistische Vereinigungen. Gemeinsam ist allen Schattierungen der russischen Rechten ein Plädoyer für autoritäre Herrschaftsformen, die Ablehnung »westlicher« Demokratie und »Zivilisation«, das Führerprinzip, eine Verherrlichung des Militärs, die Behauptung einer russischen Großmachtrolle, die unreflektierte Idealisierung vergangener »Größe« und ein russophiler, bisweilen bis zur Xenophobie reichender Überlegenheitsdünkel.

Das russische Nationalbewußtsein erfährt gleichwohl höchst widersprüchliche Auslegungen: missionarisch, orthodox, monarchistisch, heidnisch, arisch, nationalbolschewistisch oder gar faschistisch soll die russische »Zivilisation« sein. Während die einen imperial denken und die Sowjetunion zumindest in Form von russisch dominierten Patron-Klient-Beziehungen wiedererstehen lassen wollen, möchten konservative Slawophile Rußlands Dominanz nur auf den slawischen Raum erstreckt sehen. Wieder andere rufen zur gänzlichen Trennung von den abtrünnigen ehemaligen Sowjetrepubliken auf; Rußlands Aufstieg werde durch die Alimentierung des »nahen Auslands« nur behindert. Faschistoid-xenophobische Strömungen, die es schon im Zarenreich gab, sind in jüngster Zeit ebenfalls wieder anzutreffen. Die »Demokraten« wiederum geben die zunehmende Diffusion der genannten nationalistischen Einflüsse in das eigene Lager als »gesunden Patriotismus« aus.

Nichts illustriert die Schärfe des russischen Integrationsproblems markanter als die Tatsache, daß nationalistische Parolen zur Schwundgröße innergesellschaftlicher Selbstvergewisserung werden konnten. Wie läßt sich das Militär vor diesem Hintergrund demokratisch einbinden und auf demokratische Grundwerte in der Wehrerziehung, innermilitärisch, bei politischen Meinungsäußerungen und im Verhalten gegenüber Nachbarstaaten verpflichten, wenn die Legitimität ziviler Herrschaft schwach, dafür die Versuche politischer Einflußnahme durch verschiedene Parteien jedoch umso ausgeprägter sind? Könnte das russische Militär zu einer intervenierenden Hilfstruppe des militanten russischen Nationalismus bzw. eines autoritären Regimes werden?

Politische Einstellungen im Militärapparat

Im Vordergrund der politischen Selbstäußerungen russischer Offiziere steht die Sicherung korporativer Interessen. Nach dem Auseinanderbrechen der einheitlichen Sowjetstreitmacht in verschiedene Nationalarmeen besteht das Gruppeninteresse vor allem in der sozialen Reproduktion. Die allgemeine Desillusionierung über die Segnungen der Demokratie, die Politikmüdigkeit und Zukunftsverdrossenheit hat sich auch auf die Armeeangehörigen übertragen2. Angesichts der politischen Orientierungslosigkeit, die mit der Auflösung der KPdSU entstand, und der Überholtheit alter Gruppenzuordnungen suchen Militärangehörige nach neuen Legitimationen. Die Berufung auf ruhmreiche Traditionen der russischen und der Sowjetarmee soll vor allem nach innen dem Prozeß der Demoralisierung, des Disziplinverfalls, der Erosion militärischer Sekundärtugenden, ja des verbreiteten Zweifels am Nutzen des Militärdienstes entgegenwirken.

Umfragen unter russischen Offizieren zufolge (als Vergleichsgruppe dienten Rüstungsbeschäftigte), die im Herbst 1992 durchgeführt wurden, äußerte sich die Mehrheit der Befragten gegen Kürzungen der Rüstungsausgaben (61<0> <>% dagegen, 18<0> <>% dafür). Die Westorientierung der russischen Außenpolitik befürworteten fast zwei Drittel der Rüstungsarbeiter, während unter den Offizieren 34<0> <>% dafür und 34<0> <>% dagegen waren und etwa eben so viele vor einer Antwort zurückscheuten. 75<0> <>% der Offiziere zogen den Staatsbesitz gegenüber dem Privatbesitz vor, nur 15<0> <>% äußerten sich für das Privateigentum. Unter den Offizieren gab es auch deutlich mehr Opponenten der großen Privatisierung: 72<0> <>% sprachen sich dagegen aus. In politischer Hinsicht unterschied sich das Offizierskorps signifikant von vorherrschenden Meinungsbildern in der übrigen Bevölkerung: von den Offizieren unterstützten 58<0> <>% die nationalpatriotische Opposition gegen Jelzin. Nur 25<0> <>% äußerten sich gegen die nationalpatriotische Opposition um den damaligen Vizepräsidenten Rutskoj. Keine der nationalpatriotischen bzw. agressiv nationalistischen Gruppierungen konnte freilich die Mehrheit der Offiziere für sich reklamieren3. Zwar zählte die Mehrheit der Offiziere zu den konservativen, reformbremsenden und staatsautoritären Kräften, doch nur etwa ein Drittel des Offizierskorps ließ sich dieser Umfrage zufolge den extrem nationalistischen Gruppen zuschlagen. Bei den Wahlen im Dezember 1993 sollte sich dieses Bild erstaunlich exakt bestätigen. Laut einer im Frühjahr 1993 veröffentlichten Studie würden allerdings sogar fast zwei Drittel der Offiziere ein Militärregime in Rußland bevorzugen4. Eine weitere Umfrage unter 50 Generälen und Admiralen, 6700 Offizieren und Fähnrichen, 1000 Zeitsoldaten sowie 1300 Soldaten in der Grundausbildung, die zwischen Dezember 1992 und November 1993 durchgeführt wurde, relativiert dieses besorgniserregende Bild allerdings in einer Hinsicht – im Durchschnitt nur 8<0> <>% der Befragten brachten überhaupt eine dezidierte Ergebenheit gegenüber politischen Parteien und Bewegungen zum Ausdruck. Gleichzeitig fühlten 35<0> <>% der Berufssoldaten Beunruhigung und Ungewißheit; 60-80<0> <>% der Soldaten und Offiziere waren mit ihrer materiellen und sozialen Lage unzufrieden5. Die soziale Unzufriedenheit schlägt sich also nicht automatisch in Politisierung, geschweige denn nationalistischen Leidenschaften nieder.

Ein quantitativ schwer bezifferbarer, allerdings lautstarker Anteil des Offizierskorps ist bereit, einem autoritär-nationalistischen Regime zu Diensten zu sein. Diese Bereitschaft geht freilich nicht so weit, daß eine eigenständige Machtübernahme angestrebt wird (geschweige denn aussichtsreich wäre). Bezeichnenderweise ist bisher einem autonomen Eingreifen des Militärs in die politischen, ökonomischen, sozialen und ethnischen Konflikte von den nationalpatriotischen Wortführern unter den Offizieren nicht das Wort geredet worden. Möglicherweise ist ihnen und ihren Verbündeten unter den extrem rechten Parteien bewußt, daß derartige Interventionen in die Innenpolitik das Militär vor innere Zerreißproben stellen würden, die seine tatsächliche Einsatzfähigkeit verhindern würden. Ein kohärentes Weltbild und ein eigenständiges politisches Programm lassen sich bei den führenden Militärs nicht feststellen. Obwohl hinreichende empirische Daten nicht verfügbar sind, kann davon ausgegangen werden, daß der Organisationsgrad, d.h. die Repräsentativität nationalpatriotischer Einstellungen und die Kohäsion der Offiziere, nicht ausreicht, um die politische Herrschaft autonom an sich zu reißen.

In Rußland existieren fast zwei Dutzend überwiegend reformfeindliche Offiziersorganisationen. Am prominentesten unter ihnen sind die Offiziersunion, die Kosakenunion, der Russische Nationalrat und die Offiziere für die Wiedergeburt Rußlands6. Die erste Organisation von Armeeangehörigen, die sich um soziale Belange kümmerte und gleichsam die »Perestroika von unten« in den Streitkräften verkörpert hatte – der gewerkschaftsähnliche Verband »Schit« (Schild) – hat sich gespalten und mittlerweile nur noch begrenzten Einfluß.

Zahlreiche Offiziersvereinigungen dienen der Traditionspflege, der Verteidigung der »Würde und Ehre« von Militärangehörigen und der Veranstaltung von Veteranentreffen, ohne jedoch explizit politische Ziele zu verfolgen. Die Repräsentativität und Verankerung der explizit nationalpatriotischen Verbände läßt sich schwer einschätzen. Der »Bund der Offiziere Rußlands« (Oberst Stanislav A. Terechov)7, die »Bewegung der Offiziere für die Wiedergeburt des Vaterlandes«, der »Koordinationsrat der Offiziersversammlungen Saschita«, die Russische Nationalistische Legion, Gruppen für militärpatriotische Erziehung der Bewegung »Russische Nationale Einheit«, die Abteilung der monarchistischen »Zarenwölfe« und der »Verein der Afghanistanveteranen« gehören indes zu den dezidiert nationalpatriotischen Gruppen8. Im 1991 gegründeten Bund der Offiziere Rußlands haben sich restaurativ-kommunistische, für eine Wiederbelebung der UdSSR eintretende und nationalpatriotische Berufsoffiziere zusammengeschlossen. Einige nationalpatriotische Parteien und Organisationen sollen sich bereits paramilitärische Strukturen zugelegt haben9. Die Tätigkeit nationalpatriotischer Offiziersverbände konzentriert sich auf einige Wehrbezirke.

Interessen des russischen Militärs gegenüber den GUS-Staaten

Eine scharfe Gegenüberstellung von nationalistischen und »demokratischen« Kräften in Bezug auf Rußlands nationale Interessen scheint seit 1993 kaum mehr gerechtfertigt, denn unter dem maßgeblichen Einfluß der Militärs hat sich Jelzins Regierung wesentliche Elemente des nationalistischen Stimmungsbildes zu eigen gemacht. Trotz aller Vielstimmigkeit und widersprüchlicher Botschaften lassen sich seit 1993 scharf akzentuierte Grundlinien erkennen, die einen sich verbreiternden außen- und sicherheitspolitischen Konsens zwischen Regierung und Opposition zumindest gegenüber dem sogenannten »nahen Ausland« anzeigen. Die Unterschiede zwischen dem nationalpatriotischen Lager, wie es bis Herbst 1993 vom ehemaligen Vizepräsidenten Rutskoj repräsentiert wurde, und den »Demokraten« erscheinen zunehmend marginal. Die 1992 noch bestimmende Kontroverse zwischen »Westlern« und »national-patriotischen Kräften«, zwischen »Atlantikern« und »Eurasiern« ist mittlerweile deutlich zugunsten letzterer entschieden.

Es läßt sich eine Konsensbildung aus zwei Elementen erkennen. Auf der einen Seite soll die globale Großmacht-Partnerschaft mit den USA auf den Feldern der Abrüstung, Rüstungskontrolle, des Waffenhandels, der Proliferationsabwehr und der Zusammenarbeit bei Regionalkonflikten wie dem arabisch-israelischen oder in Bosnien gestärkt werden. Auf der anderen Seite möchte Rußland eine Aufteilung von Interessensphären zwischen der NATO und sich selbst in Bezug auf das Territorium der früheren Sowjetunion und darüber hinaus einiger mittel-osteuropäischer Staaten: Rußlands Vorherrschaft im »nahen Ausland« soll anerkannt und nicht durch eine Ausweitung von NATO-Versicherungen herausgefordert werden.

Die Übernahme von Sowjettruppen durch Rußland blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Verständnis nationalstaatlicher Interessen Rußlands – die Militärpräsenz außerhalb der Russischen Föderation präjudizierte geradezu ein großrussisches Verständnis nationaler Interessen. Die militärische Erbschaft wurde zudem von einer Führung angetreten, die Rußland keinesfalls als einen gleichberechtigten Nationalstaat, sondern als eine militärische Großmacht mit regionalem Dominanzanspruch betrachtet. Nach dem Rückzug aus Osteuropa und dem Verlust des cordon sanitaire der westlichen GUS-Anrainerstaaten wurden die russischen Streitkräfte zur Projektionsfläche für den Erhalt einer russischen Großmachtrolle. Rhetorische Figuren wie »Ordnungsmacht«, »Garant der Sicherheit«, »Großrußland« und »friedenschaffende Kräfte« verhüllen dabei nur dürftig den Anspruch auf eine Generalermächtigung für imperiale Praktiken.

Offenkundig ist unter führenden russischen Militärs die Vorstellung einer regionalen Führungsrolle Rußlands, auch jenseits der Grenzen der russischen Föderation, tief verwurzelt. Zunächst noch unabhängig von den blutigen Konflikten in den früheren Südrepubliken der Sowjetunion sollte die russische Militärmacht gegen westliche Einmischung sowie als Puffer gegen den islamischen Extremismus in den zentralasiatischen Staaten dienen10. Wohlfeile Bedrohungsszenarien wie z.B. ein Zusammenschluß der zentralasiatischen Republiken (Kasachstan, Turkmenistan, Kirgisien, Tadschikistan und Usbekistan) zu einem türkisch-beeinflußten Bund, der sich der militärischen Kontrolle Rußlands entziehen würde, waren schnell bei der Hand.11 Die russische Presse steigerte sich in eine Islamophobie hinein, die den real vorherrschenden Tendenzen in den zentralasiatischen Staaten keineswegs entspricht12

Insbesondere der Verweis auf die »geopolitischen« Interessen Rußlands im Kontext der Debatten um die Militärreform und um die Konfliktpolitik an Rußlands Südflanke belegt die Kontinuität eines russischen Großmachtanspruches, der von der Sowjetunion übernommen wurde. Der Verweis auf die »Geopolitik« sollte den Anspruch auf eine militärisch untersetzte weltpolitische Rolle Rußlands im Konzert der Mächte USA, Deutschland, England, China und Frankreich aufrechterhalten. Da keine politischen und ökonomischen, geschweige denn zivilisatorische Ressourcen zur Bekräftigung eines geopolitischen Aktionsradius zur Verfügung stehen, wird der Großmachtanspruch durch eine Kombination militärischer Machtmittel mit der Ausnutzung von inneren Konfliktlagen in anderen GUS-Staaten und wirtschaftlichem Reintegrationsdruck untermauert.

Bereits in einem frühen Stadium der Diskussion über die Sicherheitsinteressen Rußlands (also im Frühjahr 1992) erlebte der diametral zu den Imperativen des »Neuen Denkens« stehende »Realismus« (d.h. die Betonung der Machtattribute und der geopolitischen Machtbalance) eine Renaissance13. Gewiß bestimmen die Geographie, die Demographie, die Religionen, natürliche Ressourcen, die Ökologie, die Infrastruktur und das sozio-ökonomische System auch Rußlands »geopolitische« Lage. Doch verleitet die Betonung objektiver Gegebenheiten zu einem vermeintlichen Determinismus und zur Geringschätzung von Interdependenz und subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten. Die Funktion der Wiederbelebung eines »realistischen« Diskurses im Kontext der Bestimmung von Sicherheitsinteressen wird vor allem im Kontrast zum »Neuen Denken« sichtbar:

  • Anstelle der Orientierung auf den Westen werden Rußlands Lage »zwischen zwei Kontinenten und drei Ozeanen« und der asiatische Vektor betont14. Die Besinnung auf »Geopolitik« impliziert zugleich einen russischen Sonderweg.
  • Statt sich normativ von KSZE-Werten leiten zu lassen und sich auf nichtmilitärische Konfliktregelung zu orientieren, finden die Geographie und die Machtattribute wieder Erwähnung. Galten dem »Neuen Denken« innere Reformen, Modernisierung und die Rechtsstaatlichkeit als Voraussetzungen zukunftsweisenden Außenverhaltens, so versucht der »realistische« Diskurs durch Rückbesinnung auf das militärische Potential den Großmachtstatus auch unabhängig von innergesellschaftlichen Machtressourcen zu bewahren.
  • Keineswegs zufällig geht die »geopolitische« Identitätssuche mit der Reanimierung alter Bedrohungsbilder einher, namentlich der Klage über eine US-amerikanische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Rußlands und einer Begrenzung russischer Souveränität in der Stunde ökonomischer Schwäche und politischer Instabilität15. In vielfältigen Variationen erscheint Rußland als umzingelte, stärkungsbedürftige und um Verbündete ringende Festung. Das aus dem Kalten Krieg bekannte Amerikabild einer feindseligen, infiltrierenden, unheilbringenden und an Rußlands Erniedrigung interessierten Macht lebt unterschwellig in diesem Kontext wieder auf.

Rußland möchte die GUS-Staaten als Verteidigungsraum aufrechterhalten; Rußlands Außengrenzen seien eigentlich die der GUS. Gewiß stellt die Durchlässigkeit der inneren GUS-Grenzen und die russische Unfähigkeit, ein eigenes Grenzregime aufzubauen, ein bedrohliches Einfallstor für Waffen- und Drogenschmuggel, illegalen Handel und unkontrollierte Migrationsbewegungen dar. Zwischen dem verständlichen russischen Interesse an einem gemeinsamen Grenzregime der GUS-Staaten und dem Aufbau und Unterhalt eines Netzes von Militärstützpunkten mit Offensivfähigkeiten sowie der Einmischung in innere Angelegenheiten bleibt jedoch zu unterscheiden. Und in der Tat haben die russischen Truppen in Aserbaidschan, Tadschikistan, Moldawien und Georgien in den vergangenen drei Jahren wiederholt und massiv die innenpolitischen Machtverhältnisse zu eigenen Gunsten zu beeinflussen versucht. Ob das russische Militär dabei immer an politische Abstimmungsprozesse und Entscheidungen zwischen dem Außenministerium, dem Sicherheitsrat und dem Staatskomitee bzw. jetzigen Ministerium für Nationalitätenfragen gebunden blieb oder eigenmächtig handelte, läßt sich im Einzelfall schwer belegen.

Bei der Analyse des Realverhaltens schälen sich einige wiederkehrende Grundmuster heraus. Bereits im Frühjahr 1992 wurde sowohl durch Äußerungen des russischen Verteidigungsministers Gratschow als auch durch die Diskussionen um die Militärdoktrin eine Schutzgarantie gegenüber allen russischen Staatsbürgern im Ausland von den russischen Streitkräften reklamiert. Im Unterschied zum Entwurf der Militärdoktrin hat deren endgültige Fassung allerdings den Schutzanspruch nicht mehr auf alle, die sich Rußland in irgendeiner Weise zugehörig fühlen, ausgedehnt. Ob alle russischsprachigen Menschen im Ausland zugleich als russische Staatsbürger angesehen werden, bleibt somit offen. Befürchtet wird, daß es zu einer erheblichen Migration unter den 25 Millionen Russen kommt, die außerhalb der Russischen Föderation (insbesondere aus Moldova, den transkaukasischen Republiken und den zentralasiatischen Republiken) oder als Minderheiten in einzelnen Regionen Rußlands leben (insbesondere in Tatarstan, Baschkirien und Mordwinien)16.

Wie akut die Bedrohung von russischen Minderheiten tatsächlich im Einzelfall ist, läßt sich von außen schwer beurteilen. Im abchasischen Fall und in der Dnestr-Region drängte sich freilich der Eindruck auf, daß die Bedrohung dort lebender Russen absichtlich in krassen Farben geschildert wurde, um intervenieren zu können. Im Kern impliziert der militärische Schutzanspruch gegenüber Russen im Ausland die Begrenzung der Souveränität aller GUS-Staaten, die russische Minderheiten beherbergen. Dem Gedanken, daß die russischsprachigen Minderheiten außerhalb Rußlands – wollen sie denn nicht nach Rußland migrieren – längerfristig nur zu loyalen Staatsbürgern ihrer jeweiligen Staaten werden können und deshalb deren politische Integration zu fördern wäre, steht die Instrumentalisierung der Russen für militärische Präsenzinteressen entgegen.

Das russische Militär möchte zweifellos in den Südregionen der ehemaligen Sowjetunion stabile, berechenbare Machtverhältnisse installiert sehen. Die Regime-Instabilität und Zerrüttung der Sicherheitsapparate in Tadschikistan und Georgien haben in Rußland eine legitime Sorge vor Kontrollverlust hervorgerufen. Doch das russische Interesse an Stabilität in den südlichen Anrainerstaaten wird mit politischen Bedingungen verknüpft. Das russische Konfliktverhalten ist deshalb außerordentlich widersprüchlich – die Unterstützung für die Konfliktparteien im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt oder im abchasisch-georgischen wechselte mehrfach, je nach dem, welche Seite den russischen Interessen gerade dienlich zu sein schien.

Konsens scheint unter Rußlands Entscheidungsträgern (nicht nur den Militärs) darin zu bestehen, daß eine Ausdehnung der Einflußsphären der Türkei oder anderer islamischer Staaten auf die Südregionen der ehemaligen Sowjetunion verhindert werden soll. Die zeitweilige Unterstützung Armeniens gegenüber Aserbaidschan und die russische Mithilfe beim Sturz des protürkischen aserbaidschanischen Ministerpräsidenten Eltschibej im Jahre 1993 sprechen hierfür eine deutliche Sprache. Darüber hinaus möchte Rußland das Recht zum Unterhalt von Militärstützpunkten in allen ehemals sowjetischen Südrepubliken eingeräumt bekommen.

Rußland hat ein ausgeprägtes Interesse, ein Netz von Militärstützpunkten in den kaukasischen Republiken, Zentralasien, Moldawien und Weißrußland dauerhaft aufzubauen. Doch nur einige ehemalige Sowjetrepubliken wollen Rußland das Recht einräumen, Stützpunkte zu unterhalten. Mit Tadschikistan, Kasachstan, Armenien und Georgien bestehen mittlerweile Stationierungsabkommen. Doch Turkmenien, Usbekistan, die Ukraine und, selbstredend, die baltischen Staaten möchten die russische Militärpräsenz so bald wie möglich beendet sehen. Im Gegenzug zum Erhalt militärischer Stützpunkte wird von russischer Seite den Vertragspartnern Unterstützung beim Aufbau nationaler Armeen und der Regimestabilisierung offeriert. Letztlich geht es der russischen Militärpolitik jedoch um eine übergreifende militärpolitische Integration des postsowjetischen Raumes unter russischer Führung.

Eine der gängigen Legitimationsformen für die großrussische, extensive Definition »vitaler Interessen« und Einflußsphären besteht im reziproken Bezug auf NATO-Konzeptionen, die Sicherheitsinteressen ihrerseits weit außerhalb des NATO-Vertragsgebietes definieren.

Erheblichen Druck hat Rußland auch gegenüber Nichtmitgliedern der GUS ausgeübt, um sie zur GUS-Mitgliedschaft und zum Beitritt zum Taschkenter Abkommen vom Mai 1992 über Sicherheit und Zusammenarbeit zu bewegen, wobei sowohl ökonomische wie militärische Pressionen angewendet wurden. Dies trifft etwa für die Politik gegenüber Georgien, Aserbaidschan und Moldawien zu.

Der Ruf nach einer russischen Vormachtstellung auf dem Territorium der gesamten ehemaligen Sowjetunion enthält neben der offensichtlichen Botschaft noch eine verdeckte: Die UNO, die KSZE und potentielle oder tatsächliche ausländische Einflußmächte (USA, Türkei, Saudi-Arabien, Irak, Iran, Pakistan und Jordanien) sollen der russischen Einflußzone nach Möglichkeit ferngehalten werden. Seit Frühjahr 1993 bemühte sich Jelzin um eine Generalermächtigung der UNO für »friedenschaffende« Einsätze russischer Truppen im GUS-Raum. Der Vorstoß verfolgte eine dreifache Intention: Rußland durch ein UNO-Mandat von dem Ruch neoimperialer Praktiken zu befreien, die Westmächte fernzuhalten und angesichts der Unwilligkeit der anderen GUS-Staaten zur militärischen Lastenteilung finanzielle Unterstützung von der UNO zu erhalten.

Russisches Militär als »friedenschaffende« Kraft

Die Unbestimmtheit des Status russischer Streitkräfte außerhalb der Russischen Föderation (immerhin 600 000 Soldaten), hält in den unfreiwilligen Stationierungsländern die Befürchtungen vor russischer Dominanz wach. Die russischen Vorposten waren nicht nur häufig Waffenlieferanten für Separatisten-Gruppen (Moldawien, Abchasien) und Werbestützpunkte für Söldner, sondern sie nahmen durch Kampfhandlungen gegen reguläre Truppen, gegen irreguläre Verbände, aber auch gegen zivile Einwohner an der Konflikteskalation teil.

Russische Einheiten erweisen sich so in Drittstaaten häufig als Konfliktpartei, weil sie von wenigstens einer konfliktbeteiligten Seite als offene oder indirekte Unterstützer der gegnerischen Seite aufgefaßt werden.

Bezeichnend für das russische Konfliktverhalten ist das Übergewicht des militärischen Faktors im Verhältnis zur unterentwickelten zivilen Konfliktregulation. Unvorbereitet auf politische und diplomatische Missionen, erweist sich die russische Militärpräsenz in Konfliktzonen häufig weniger als Befriedung denn als konfliktverschärfend.

Der Auftrag und der Charakter der »friedenschaffenden Kräfte« innerhalb von GUS-Staaten ist umstritten. Seit Juli 1992 finden »friedenschaffende«-Einsätze in Südossetien (gebildet aus russischen, georgischen sowie nord- und südossetischen Einheiten), in der Dnestr-Region und seit Ende November 1992 in Tadschikistan statt. Ein Vergleich »friedenschaffender Kräfte« mit entsprechenden Peacekeeping-Kräften (friedenserhaltenden) der KSZE oder der UNO ist nur begrenzt möglich – sie sind ohne Abstimmung in der GUS gebildet worden, sie operieren ohne Zustimmung aller Konfliktbeteiligten und ohne vorherigen Waffenstillstand, sie übersteigen in manchen Fällen in ihrer Kampfstärke die Kräfte der anderen Konfliktparteien und operieren in Nachbarschaft zu russischen Truppenteilen, die direkt in die Konflikte involviert sind und sie werden als Alternative zu den von Georgien und Moldova bevorzugten KSZE- bzw. UNO-Friedenstruppen eingesetzt17.

Sowohl die russischen Armeen wie die hauptsächlich von Russen gebildeten »friedenschaffenden Kräfte« beschränken sich keineswegs auf die Funktionen eines unparteiischen Dritten. Vielmehr werden »friedenschaffende« Missionen als Mittel der Sicherung von militärischen Einflußzonen betrachtet18. Mit neutralen Friedenstruppen, die die international sanktionierte Aufgabe haben, Konfliktparteien zu trennen, Waffenstillstände zu überwachen, humanitäre Hilfe zu gewährleisten und Bedingungen für friedliche Konfliktbearbeitung zu schaffen, hat die Praxis der russischen bzw. russisch-dominierten »friedenschaffenden Kräfte« wenig gemein19.

Die extensive Definition russischer Sicherheitsinteressen und der unverhüllte Anspruch auf das Territorium der früheren Sowjetunion als Einflußzone wurde mit Präsident Jelzins Auftreten vor der »Bürgerunion« schon Anfang März 1993 in den Rang offizieller Politik erhoben. Jelzin erklärte, daß der Moment gekommen sei, an dem die entsprechenden internationalen Organisationen, darunter die UNO, Rußland Sondervollmachten als Garant des Friedens und der Stabilität auf dem Territorium der früheren UdSSR bereitstellen sollen20.

Die Praxis der russischen »friedenschaffenden Kräfte« belegt die Notwendigkeit einer multilateralen rechtlichen Aufgabenzuweisung. Zu klären wäre u.a., in welche Konflikttypen diese Kräfte intervenieren sollen, welche politischen Mechanismen ihrem Einsatz vorgeschaltet sein müssen und ob die Einsatzgebiete sich auf alle GUS-Konfliktregionen, nur auf die Mitgliedsstaaten des in Taschkent gebildeten Sicherheitsrates oder auch auf die Russische Föderation erstrecken sollen.

Eine offene Mißachtung der staatlichen Unabhängigkeit von anderen GUS-Staaten ist derzeit nicht zu erwarten. Eine formelle Wiedererrichtung der Sowjetunion scheint unwahrscheinlich. Von einer direkten Verantwortung für die Machtausübung in Nachbarstaaten wird Rußland ebenfalls zurückscheuen. Vielmehr läßt sich am Verhalten gegenüber Georgien, Moldova und Aserbaidschan bereits eine Mischung aus wirtschaftlichen und politischen Pressionen und der militärischen Instrumentalisierung von inneren Konfliktlagen auf der einen und Gratifikationen auf der anderen Seite beobachten.

Demokratische oder nationalistische Tugenden?

Das Militär ist – durchaus in Fortführung sowjetischer Tradition – keineswegs gewillt, eine eigenständige politische Rolle jenseits ziviler Legitimität wahrzunehmen. Für eine aktive Beteiligung der Militärführung am Sturz Jelzins oder gar an der Inthronisation Schirinowskis oder Rutskojs zum Präsidenten – vergleichbar dem Umschwung der Reichswehrführung 1932/33 zugunsten Hitlers – lassen sich keine Indizien finden. Für ein derart entschiedenes Votum reicht der diffuse Einfluß nationalpatriotischer Grundstimmungen weder im mittleren Offizierkorps noch in der militärischen Führung aus. Die militärische Führung ist hauptsächlich mit der inneren Kohäsion und der Rekonstruktion der Streitkräfte befaßt. Die Durchsetzung des Moskauer Führungsanspruchs und der Kontrolle über die von der Sowjetunion übernommenen Verbände im »nahen und fernen« Ausland, die Überwindung der innermilitärischen Destabilisierung, die Militärreform und eine betonte innenpolitische Neutralität im Konflikt der Verfassungsorgane beherrschten die Politik des russischen Oberkommandos und Verteidigungsministeriums. Der anfängliche Unwille zur Intervention während der gewaltsamen Auflösung des Obersten Sowjets im Oktober 1993 illustrierte, wie sehr die militärische Führung auf die Bewahrung innerer Kohäsion, die Entwicklung von Professionalismus und innenpolitische Neutralität bedacht wahr21. Innenpolitisch ist die Verfügbarkeit des Militärs – und zwar sowohl für Jelzin wie einen möglichen autoritären Nachfolger – aufgrund des Widerwillens in der militärischen Führung, gegenüber ethnischen Minderheiten, in sozialen Konflikten oder bei politischen Zusammenstößen Stellung zu beziehen, beschränkt.

Das Militär hat in den Jahren 1992/93 seinen Einfluß als politische Interessengruppe währenddessen vornehmlich auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik ausbauen können. Die Unterstützung des Militärs für Jelzin während der dramatischen Erstürmung des Obersten Sowjets Anfang Oktober 1993 hat den Einfluß des Militärs als Interessengruppe gestärkt. Die billigende Hinnahme des innenpolitischen Reformkurses durch das Militär entgilt Jelzin augenscheinlich mit Zugeständnissen an dessen großrussische Rhetorik, sozialpolitischen Gratifikationen und stärkeren Einspruchsrechten des militärischen Establishments bei Haushaltsentscheidungen. Der politische und militärische Dominanzanspruch Rußlands auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion und die Renaissance großrussischer »Geopolitik« sind unter dem Einfluß nationalpatriotisch denkender und handelnder Militärs zur Leitlinie russischer Politik gegenüber dem »nahen Ausland« geworden. Unter den gesellschaftlichen Kräften Rußlands, die eine russische Dominanz im GUS-Rahmen restituieren wollen, nehmen russische Militäreliten insofern einen herausragenden Platz ein, als sie ein öffentlichkeitswirksamer und mit eigenen Machtmitteln ausgestatteter Teil des Staatsapparates sind.

Da für eine institutionelle Kontrolle, die Depolitisierung des Militärs und seine innere Demokratisierung – trotz einiger Fortschritte22 – gegenwärtig noch nicht wirksame Instrumente entwickelt worden sind, wird, wie es scheint, die Loyalität des Offizierskorps gegenüber der Regierung hauptsächlich durch den Interessenkonsens in Bezug auf die nationalstaatlichen Interessen im »nahen Ausland«, soziale Zugeständnisse und Zuschläge beim Wehretat erkauft. Diese Interessenallianz bleibt jedoch als Grundlage für das zivile Primat über das Militär fragil und ist im Falle einer Machtübernahme durch extrem nationalistische Kräfte auch für aggressivere Gangarten in der Außenpolitik instrumentalisierbar. Beunruhigend ist vor allem der Umstand, daß angesichts der Demoralisierung, der Disziplinprobleme, sozialer Sorgen und der Korruption in den russischen Streitkräften inhaltsarme nationalistische Parolen und Emotionen – zuweilen mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche – zur neuen vereinigenden korporativen Ideologie der Armee erhoben werden, und zwar vorwiegend anstelle aktiver Loyalität gegenüber rechtsstaaatlichen, demokratischen Grundwerten und den Prinzipien der KSZE. Es besteht die Gefahr, daß – wie in vordemokratischen Gesellschaften schlechthin – die Armee erneut zur Schule, ja der Geburtsstätte der Nation avanciert. Jene Parteien und Bewegungen, die sich auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet haben, vernachlässigten bisher sträflich ihre Aufgabe, die demokratischen Institutionen zur »Schule der Nation« auch für das Militär zu machen. So findet ein Wettlauf mit der Zeit statt: Gelingt es in der Jelzin noch verbliebenen Zeit, die Armee zusammen mit der Gesellschaft zu demokratisieren, oder schaffen es die »patriotisch« sich drapierenden Nationalisten in den Streitkräften, ihre Sekundärtugenden an die Stelle der demokratischen Primärtugenden zu setzen? Vom Ausgang dieses Wettlaufs hängt es ab, ob die im Vorhof der Macht angelangten Präsidentschaftsanwärter Schirinowski und Rutskoj in den Innenhof gelangen – ohne die Unterstützung der Armee würden sie keinen Erfolg haben. Jelzin hat mit der am 12. Dezember 1993 per Volksentscheid gebilligten Verfassung ein mächtiges, auch die Streitkräfte bindendes Instrument in die Hand bekommen. Ob der Grundrechtekatalog der Verfassung oder nationalistische Parolen zur integrierenden Ideologie der Streitkräfte werden, ist jedoch noch nicht entschieden.

Anmerkungen

1) Siehe Wendy Slater, Russia, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report, vol.3, No.16, 22.4.1994, 23-27; grundlegend zu Ideen und Organisationen der russischen Rechten: Walter Laqueur, Der Schoß ist fruchtbar noch. Der militante Nationalismus der russischen Rechten, München 1993. Zurück

2) Centr voenno-sociologiceskich, psichologiceskich i pravovych issledovanii Vooruzennych Sil, Spravocno-analiticeskij material o moralno-psichologiceskom sostojanii licnogo sostava Vooruzennych Sil, Moskva 1992 (unveröffentlichtes Manuskript). Zurück

3) Fond »Obsestvennoe mnenie«; Serija issledovanij »Monitor«, proekt »narod i politika«, rukovoditel N. Kljamkin, Moskva 1992 Zurück

4) Siehe Moscow News 7.2.1993. Zurück

5) Aleksandr Zilin und Tat`jana Skorobogatenko, Esli zavtra vojna…, in: Moskovskie Novosti Nr.2, 9.-16.1.1994. Zurück

6) Siehe Moscow News 7.2.1993 und Siegfried Fischer, Zerfall einer Streitmacht, Bremen 1992, 278. Zurück

7) Vgl. Interview mit Stanislav Terechov in: Der Spiegel 45/1992, 196. Zurück

8) Eine Kurzbeschreibung der verschiedenen Offiziersverbände findet sich in: Ustavom dumat` ne zapresceno, in: Rossija 9/1993. Zurück

9) Vgl. Vladimir Lopatin, Armija i gosudarstvo, in: Novaja Ezednevnaja Gazeta 16.4.1993. Zurück

10) R. Mustafin, Islamskij faktor. On bespokoit mnogich, in: Krasnaja Zvezda 9.4.1992; S.Pecorov, Ju. Tegin, Islamskij ekstremizm: novyj vyzov dlja Rossii?, in: Krasnaja Zvezda 21.4.1992. Zurück

11) Semen Novoprudskij, Novyj Turkestan kak zasita ot diktata Moskvy i ot tadzikskoj smuty, in: Nezavisimaja Gazeta 6.1.1993 Zurück

12) Uwe Halbach, Heinrich Tiller, Rußland und seine Südflanke, in: Aussenpolitik 11/1994, 156-165, hier 162. Zurück

13) General I.S. Danilenko, Geopliticeskoe polozenie Rossii i problema ee voennoj bezopasnosti, in: Voennaja Akademija generalnogo staba, Voennnaja Bezopasnost` Rossii, Moskva 1992, 64. Zurück

14) A.S. Sinajskij, Geopolitika i nacionalnaja bezopasnost` Rossii, in: Voennaja Mysl` 10/1992, 5. Zurück

15) E.A.Pozdnjakov, Nacionalno-gosudarstvennye interesy Rossii, in: Voennaja Akademija generalnogo staba, Voennnaja Bezopasnost Rossii, Moskva 1992, 71 und ders. Sovremennye geopoliticeskie izmenenija i ich vlijanie na bezopastnost` i stabilnost` v mire, in: Voennaja Mysl` 1/1993, 11-17. Zurück

16) Viktor Perevedencev, Russians outside Russia: potential refugees?, in: Moscow News 15.1.1993. Zurück

17) Suzanne Crow, Russian peacekeeping: Defense, diplomacy, or imperialism, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report 18.9.1992, 38. Zurück

18) Vgl. Suzanne Crow, Russia seeks leadership in regional peacekeeping, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report 9.4.1993, 28ff. und dies., Russia Promotes the CIS as an International Organization, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report, vol.3, no.11, 18.3.1994, 33. Zurück

19) Vgl. Suzanne Crow, The Theory and Practice of Peacekeeping, in: Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report, 18.9.1992, 31-36. Zurück

20) Reakcia v Kieve i Tbilisi po povodu vystupenia presidente Rossii na sezde »Grazdanskogo sojuza«, in: Izvestia 3.3.1993. Zurück

21) Siehe dazu auch Brian D. Taylor, Russian Civil-Military Relations After the October Uprising, in: Survival, vol.36, no.1, Spring 1994, 3-29 und Hans-Henning Schröder, Eine Armee in der Krise, Köln, Bericht des BIOST 45/1993 sowie H.Tiller und H.H.Schröder, Machtkrise und Militär. Die russischen Streitkräfte während des Machtkampfes zwischen Präsident und Parlament im Herbst 1993, Köln, Bericht des BIOST 46/1993. Zurück

22) Siehe dazu Robert Arnett, Russia after the Crisis. Can Civilians Control the Military, in: ORBIS Winter 1994, 41-57. Zurück

Dr. Andreas Heinemann-Grüder, Historiker und Politikwissenschaftler, arbeitet am Institut für Politikwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin, 10117 Berlin, Ziegelstr. 13c, Tel.: 030/284 31 530.

Perspektiven der Erweiterung der NATO und die Interessen Rußlands

Perspektiven der Erweiterung der NATO und die Interessen Rußlands

Auslandsaufklärung der Russischen Föderation*

von Forschungsinstitut für Friedenspolitik

Dies ist ein offenes Dokument der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation, es ist ihre Einschätzung und Analyse einer der aktuellsten Fragen der Gegenwart – die Probleme der Erweiterung der NATO um den nicht mehr existierenden Warschauer Vertrag. Früher »war alles einfach«: es fand ein Kampf zweier Blöcke statt. Heute gibt es diesen Kampf zum Glück nicht mehr. Aber wie wird die Sicherheit der verschiedenen Staaten in der Periode der Postkonfrontation gewährleistet – davon hängt das Schicksal Europas und der Welt im ganzen ab. Die unterbreitete Variante, die in diesem Dokument einer Betrachtung unterzogen wird – das ist die Vergrößerung des Geltungsbereiches jenes Blockes, der den Westen in der Periode des Kampfes verkörperte. Inwieweit ist das gerechtfertigt, ist solch eine Entscheidung optimal? Die Auslandsaufklärung legt ihren Standpunkt zu diesem Problem unter Berücksichtigung ihrer ganzen Vielschichtigkeit und Kompliziertheit dar.

Ich denke, daß die im Dokument zum Ausdruck gebrachten Einschätzungen nicht nur Anhänger finden werden, sondern auch solche, die sie – wenn auch nur teilweise – nicht teilen. Wir sind darauf vorbereitet.

Wahrscheinlich entsteht die Frage nach den Quellen der in dieser Analyse enthaltenen Angaben. Ich sag es direkt: das sind sowohl offene Informationen als auch jene, die man durch spezifische Mittel der Aufklärung erhalten hat. Das Wichtigste liegt, wie man sich vorstellen kann, in den Schlußfolgerungen der Analytiker der Auslandsaufklärung, die sie auf der Grundlage der eingegangenen Angaben gezogen haben, und diese Schlußfolgerungen sind einheitlich. Rußland ist nicht gleichgültig bezüglich der Entwicklung der Ereignisse, die seine Interessen berühren. Rußland hat allen Grund, den Verlauf dieser Ereignisse mit möglichen Veränderungen in der geopolitischen und militärischen Lage zu messen. Das erneuerte Rußland hat ein Recht darauf, daß seine Meinung Berücksichtigung findet.

Der Direktor der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation

Akademiemitglied E. Primakow

Die Frage der möglichen Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO nach Mittel- und Osteuropa ist eine der Schlüsselfragen bei der Bestimmung des zukünftigen Antlitzes der europäischen Sicherheit, der Kräfteverteilung auf dem Kontinent in der Periode der Postkonfrontation. Die Bewegung der Staaten Mittel- und Osteuropas (MOE-Staaten) in Richtung NATO berührt die Interessen Rußlands und erfordert eine sorgfältige Analyse.

1. Probleme der Erweiterung

1.1 Allgemeines Herangehen der NATO an die Mitgliedschaftsbedingungen der MOE-Länder in der Allianz

Es gibt allen Grund anzunehmen, daß die Aufnahme der MOE-Länder in die NATO in den USA und den Staaten Westeuropas als eines der wichtigen Probleme angesehen wird, vom Charakter deren Lösung in vielerlei Hinsicht die reale Entwicklung der internationalen Beziehungen in der Periode der Postkonfrontation abhängt. Zugunsten der Aufnahme dieser Länder in die NATO werden folgende Argumente vorgebracht:

nach der Beendigung des »kalten Krieges« ist es für die Stabilisierung der Lage in Europa auf einem qualitativ neuen Niveau notwendig, im Westen und Osten des Kontinentes die Unterschiede in den Systemen zur Gewährleistung der Sicherheit zu beseitigen;

das beständige Bestreben der MOE-Länder zum Eintritt in die NATO kann nicht ignoriert werden, ohne daß jenen politischen Kräften Schaden zugefügt wird, die sich in der Führung der genannten Länder nach Westen orientieren;

die sehr wahrscheinliche Einbeziehung der NATO in die Regelung von Konflikten in Mittel- und Osteuropa diktiert die Notwendigkeit der Vervollkommnung der Kontrollmechanismen zur Lage in der Region, einschließlich des z.Z. ruhenden Systems der politischen Konsultationen, die Vorbereitung einer einheitlichen Infrastruktur, die Erarbeitung einer Ordnung des Zusammenwirkens auf dem Gebiet der Verteidigung und des Aufbaus von Streitkräften;

die Mitgliedschaft der MOE-Länder in der NATO wird als Alternative zur Formierung eigener subregionaler Sicherheitsstrukturen angesehen, die bei bestimmten Lageveränderungen in entsprechende Strukturen der GUS hineingezogen werden könnten.

Bei der Diskussion der Frage über die Erhöhung der Mitgliedszahl der Nordatlantischen Allianz wird die Aufmerksamkeit auf den rein militärischen Aspekt des Problems gerichtet. Hierbei wird unter Berücksichtigung der gegenwärtigen geopolitischen Situation der Schwerpunkt auf die Verlagerung der NATO-Grenzen gelegt. Vor dem Hintergrund der in den GUS-Ländern bestehenden innenpolitischen Instabilität wird diese Situation nach Einschätzungen der NATO-Führung durch die Möglichkeit der Existenz mehrerer Nuklear-Staaten auf dem Territorium der früheren UdSSR charakterisiert.

Die Verschiebung der NATO-Grenzen unter solchen Bedingungen wird als Ausfüllung eines »Sicherheitsvakuums« in Mittel- und Osteuropa betrachtet. NATO-Generalsekretär Wörner ist der Meinung, daß es ein »tragischer Fehler« wäre, die Bitten der MOE-Länder um die Gewährung von Garantien für ihre Stabilität und Sicherheit zurückzuweisen, die nur die NATO zu geben in der Lage ist.

Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung ist eine detaillierte Analyse der dargelegten Motive zur Erweiterung der NATO notwendig, um die realen Auswirkungen der angelaufenen Prozesse auf die Interessen Rußlands aufzudecken.

Im Zusammenhang damit kann man die Schlußfolgerung ziehen, daß die unverzügliche Aufnahme der MOE-Staaten als vollberechtigte Mitglieder in die NATO von ihrer Führung nicht als zweckmäßig angesehen wird. Hierbei berücksichtigen die NATO-Leute folgende Umstände:

übereilte und nichtvorbereitete Schritte in diese Richtung können zu einem Rückfall in die Politik der Konfrontation auf dem Kontinent führen;

die Aufnahmekandidaten in die Allianz werden mit einer Reihe von zwischenstaatlichen, darunter territorialen, Widersprüchen belastet, was die inneren Schwierigkeiten in der NATO erhöht, die schon in der gegenwärtigen Form bestimmten Schaden von den angespannten, wenn nicht feindlichen Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei nimmt;

die Erweiterung der zahlenmäßigen Zusammensetzung der NATO um jene Länder, die das westliche Niveau des Verständnisses der Aufgaben der internationalen Sicherheit nicht erreicht haben und die keine Erfahrungen in der Harmonisierung ihrer nationalen Interessen mit denen einer Koalition haben, kann zu einer Senkung der Effektivität der Führungsmechanismen der NATO führen und die Durchführung einer abgestimmten Politik beim von den Alliierten praktizierten Prinzip der Einstimmigkeit erschweren;

Rußland kann Korrektive in seinen nach Europa gerichteten Kurs einbringen, indem es die Erweiterung der NATO um die MOE-Länder als die Schaffung eines »Cordon Sanitaire« interpretiert, der seine Integration in ein einheitliches Europa behindert;

der Eintritt der Länder Mittel- und Osteuropas in die Nordatlantische Allianz bewegt auch andere Staaten, analoge Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird es schwierig, sie abzulehnen, ohne daß den Beziehungen mit ihnen Schaden zugefügt wird. Aber im Falle der Aufnahme z.B. der Ukraine in die NATO ohne Rußland entsteht eine neue geopolitische Lage, die fähig ist, den Widerstand Moskaus hervorzurufen;

die Reorganisation, die Umschulung und die Umrüstung der Armeen der MOE-Länder erfordert bedeutende Ressourcen und einen langen Zeitraum;

die MOE-Länder sind nicht vorbereitet, die ihnen durch eine NATO-Mitgliedschaft auferlegten zusätzlichen finanziellen und materiellen Ausgaben zu tragen;

die Erweiterung der NATO ruft die Notwendigkeit einer Umarbeitung der ausbalancierten Entwicklungsprogramme der Allianz auf einigen Gebieten (Ausstattung der Kriegsschauplätze, wissenschaftliche Forschungsarbeit, gemeinsame Militärproduktion, militärische und operative Einsatzbereitschaft) hervor, schafft im Verlauf der Ausarbeitung einer neuen Militärstrategie der Allianz zusätzliche schmerzhafte Probleme, besonders zu solch »sensiblem« Punkt wie die Rolle der Nuklearkomponenten, vor allem der taktischen.

Schließlich werden die rein juristischen Hindernisse für die schnellste Aufnahme neuer Mitglieder in die Allianz untersucht. Sie sind vor allem mit den Besonderheiten des Funktionierens des Mechanismus der Zusammenarbeit in einer Koalition und ihren völkerrechtlichen Grundlagen verbunden. So gibt es in der NATO praktisch einen Konsens in der Frage gegen eine sofortige Ausweitung der Gültigkeit von Artikel 5 des Nordatlantischen Vertrages auf die MOE-Länder, der seinem Wesen nach einen automatischen Ablauf des Zusammenwirkens der Allianz mit dem Ziel der Abwehr einer Aggression vorsieht.

Die Gegenüberstellung der beiden aufgeführten Gruppen von Argumenten läßt den Schluß zu, daß der Eintritt neuer Mitglieder in die NATO einen Prozeß darstellt, der aus einigen Etappen besteht. Für die Zeit der »Vorbereitungsperiode« können sie einen Zwischenstatus erhalten, der sich von einer vollberechtigten Mitgliedschaft durch ein niedrigeres Niveau der Integration ihrer nationalen Streitkräfte in die Militärstrukturen der Koalition, durch einen eingeschränkten Zugang zur Beratung und zur Annahme gemeinsamer Entscheidungen, durch einen flexiblen Grad der Teilnahme an der Finanzierung und Realisierung gemeinsamer Programme und – als wichtigstes – durch den Umfang der Garantien der Allianz auf dem Gebiet der Verteidigung unterscheidet.

Als die wahrscheinlichste Variante der Erweiterung der Nordatlantischen Allianz kann man die anfängliche Einbeziehung der »Visegrad-Gruppe« in diesen Prozeß ansehen. Berücksichtigt wird, daß Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei bedeutende Erfahrungen beim Zusammenwirken auf dem Gebiet der Sicherheit sowohl untereinander als auch mit den westlichen Nachbarn gesammelt haben. Sie haben einen ausreichend gefestigten Mechanismus bi-und multilateraler Konsultationen zu einem breiten Kreis politischer und militärischer Fragen geschaffen. Die Staaten der »Visegrad-Gruppe« haben sich nach Einschätzung des Westens mehr als andere auf dem Weg der Festigung demokratischer Institutionen und der Annahme westlicher Werte bewegt. Doch sogar in Bezug auf diese Länder gibt es praktisch keine Möglichkeit ihrer sofortigen Aufnahme mit den Rechten eines vollberechtigten Mitglieds in die Allianz.

In der NATO hat sich kein Konsens zu dem von ihrer Führung unterbreiteten »evolutionären Schema der Bewegung der Allianz nach Osten« herausgebildet. Dieses Schema sah vor: 1. die Gewährung des Status als assoziiertes Mitglied für Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn; 2. Entwicklung einer militärischen Zusammenarbeit mit Bulgarien und Rumänien; 3. Festigung der strategischen Verbindungen mit Rußland und der Ukraine. Bei allgemeiner Zustimmung in der Frage, in einer langfristigen Perspektive die MOE-Länder in dieser oder jener Form in die Allianz aufzunehmen, herrscht das Streben vor, diesen Prozeß nicht zu forcieren.

Groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine prinzipielle Entscheidung, die die Perspektive der NATO-Erweiterung bedeutet, schon auf dem im Januar 1994 bevorstehenden Treffen der Staats-und Regierungschefs der Mitglieder der Allianz angenommen wird. Ein wichtiges Element der unterbreiteten Deklaration kann die Auflistung der Kriterien werden, deren Einhaltung für alle zukünftigen Mitglieder obligatorisch ist: Verzicht auf territoriale Ansprüche; Achtung der Rechte nationaler Minderheiten; Treue zur friedlichen Regelung von Streitfragen und zu den demokratischen Prinzipien des Staatsaufbaus und zu Marktreformen; Errichtung der Bürgerkontrolle über die Streitkräfte usw.

Zusammen damit muß berücksichtigt werden, daß eine stufenweise Mitgliedschaft in der NATO durch den Nordatlantischen Vertrag nicht vorgesehen ist, zu dessen allgemeiner Revision die Alliierten nicht geneigt sind.

1.2. Nuancen im Herangehen einzelner Mitgliedsländer der NATO

Die Gemeinsamkeit des prinzipiellen Herangehens an das Problem der Erweiterung der NATO schließt spezifische Besonderheiten in den Positionen einzelner Mitgliedsländer der Allianz nicht aus. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen folgende Fragen, zu denen es Meinungsverschiedenheiten gibt:

die Fristen der Annahme eines prinzipiellen Beschlusses über die Erweiterung der NATO;

die Zusammensetzung der Antragsteller und die Formen ihrer Eingliederung oder Assoziierung mit der Allianz;

die völkerrechtlichen und zeitlichen Rahmen dieses Prozesses;

der Inhalt der »Übergangs-Periode« für die Eingliederung neuer Staaten in die NATO;

der Mechanismus der Integration der Antragsteller, die Notwendigkeit und Reihenfolge der Ausnutzung der Zwischenstrukturen, insbesondere der Institutionen der europäischen Sicherheit (EG, WEU, NATO-Kooperationsrat, KSZE);

der Charakter und der Grad der Berücksichtigung des russischen Faktors im Verlauf der europäischen Umgestaltung in der Periode der Postkonfrontation.

Man muß bemerken, daß die Ansichten der westlichen Partner zu dem genannten Problem ständig korrigiert werden, gemeinsam »geölt« und an neuen Momenten in der internationalen Lage gemessen werden, darunter an »Signalen« aus Moskau. (…)

1.4 Über die Position der MOE-Länder zu den Fragen der NATO-Mitgliedschaft

Die Haupttriebkraft des Prozesses der Erweiterung der NATO sind die Kandidaten für den Beitritt in die Allianz selbst – die MOE-Länder. Im Streben, sich mit der Nordatlantischen Allianz zu vereinen, nutzen sie folgende Argumentation:

die jugoslawische Krise hat gezeigt, daß Europa unter den neuen Bedingungen eine Zone internationaler Konflikte geworden ist; »tektonische Verwerfungen«, genährt durch ethnische, religiöse und ökonomische Widersprüche, können sich auf das Territorium anderer MOE-Staaten ausbreiten;

die Entwicklung der Lage auf dem Territorium der früheren UdSSR zeigte einerseits eine unzureichende Effektivität der auf den Mechanismen der kollektiven Sicherheit der GUS beruhenden Anstrengungen zur Verhütung und Regelung von Krisen und militärischen Konflikten und andererseits eine reale Bedrohung für Mittel- und Osteuropa aus der »nicht voraussehbaren Lage« in der Russischen Föderation, in der Ukraine, in Moldova und den baltischen Ländern;

die bestehenden Strukturen internationaler Sicherheit, darunter die UNO und die KSZE, sind als Instrument zur Gewährleistung von Frieden und Stabilität in Europa ungenügend wirksam, und die Vorstellungen über die Möglichkeit der raschen Schaffung eines auf ihrer Grundlage beruhenden Systems kollektiver Sicherheit im europäisch-asiatischen Raum erwiesen sich als illusorisch;

die Osteuropäer selbst sind nicht in der Lage, effektive Strukturen zu schaffen, die sie vor einer miltärischen Bedrohung und möglichen Erschütterungen von außen bewahren sollen: sogar die Mitglieder der »Visegrad-Gruppe«, die in militärischer Beziehung weiter entwickelt sind, stießen bei ihrem Versuch, zumindest eine Art eigener Verteidigungsallianz zu schaffen, auf unüberwindliche politische, wirtschaftliche, organisatorische und technische Schwierigkeiten;

der Beitritt der MOE-LÄnder in die NATO kann die Garantie der Unumkehrbarkeit des von ihnen eingeschlagenenen Kurses auf Annäherung an den Westen werden, der auf der Gemeinsamkeit der politischen Ziele und der sozial-ökonomischen Werte beruht;

der Status als Mitglied der Nordatlantischen Allianz gibt den MOE-Ländern die Möglichkeit, ein Maximum ökonomischer Vorteile zu erhalten und voll die Vorteile der »Diversifikation« ihrer Politik zu nutzen.

Die Unterschiede in den Positionen der Osteuropäer werden durch den Grad ihrer Bereitschaft zur Erfüllung der Forderungen der Allianz sowie durch das mit ihnen erreichte Niveau der Zusammenarbeit bestimmt. Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung sind die innenpolitischen Umstände weniger bedeutsam.

2. Die Interessen Rußlands

Vom Standpunkt der Interesses Rußlands hat das Problem der NATO-Erweiterung mehrere Aspekte, die man im Prozeß der Entwicklung der Beziehungen mit der Nordatlantischen Allianz, mit Mittel- und Osteuropa und den Ländern des nahen Auslands berücksichtigen muß.

2.1. Die Perspektiven der Nordatlantischen Allianz

Nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung erfordert die Analyse des Einflusses des Prozesses der NATO-Erweiterung auf die Interessen Rußlands vor allem prognostische Einschätzungen, die mit der Möglichkeit der Evolution dieser Allianz nach Beendigung des »kalten Krieges« verbunden sind.

Die offiziell unterbreiteten Ziele und logischen Impulse, bedingt durch die reale Lage, diktieren die Transformation der Allianz aus einer militärpolitischen Gruppierung, die auf die Abwehr einer Bedrohung von außen gerichtet war, in ein auf den Prinzipien der kollektiven Sicherheit beruhendes Instrument der Sicherung des Friedens und der Stabilität. Im vorliegenden Kontext wird auch die Aufgabe der Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO in östliche Richtung untersucht. Wobei nach Meinung von Experten der Auslandsaufklärung Moskau viele Befürchtungen, die mit dem Eintritt der MOE-Länder in die NATO verbunden sind, genommen oder abgeschwächt würden, wenn es Garantien einer vorhergehenden Entwicklung des Prozesses der Veränderung der Funktionen der Allianz oder der parallelen Erweiterung der politischen Funktionen der NATO und ihres geographischen Umfanges gäbe. Doch diese Garantien fehlen.

Vor allem gibt es keine ausreichende Klarheit in der Frage zu den Perspektiven der Transformation der NATO. In der Allianz hat sich bisher noch kein genaues Verständnis zu ihrer Rolle und ihrem Platz im System der internationalen Beziehungen in der Periode der Postkonfrontation herausgebildet. Die Diskussionen zu den Fragen der politischen Strategie der NATO haben eher einschätzenden, vorläufigen Charakter. Gleichzeitig sind unter den atlantischen Partnern wesentliche Abweichungen darin sichtbar, was das Verhältnis von Aufgaben und Vollmachten auf dem Gebiet der Sicherheit der NATO und anderer internationaler Institutionen betrifft.

Eine Realität ist auch das Fortbestehen von Stereotypen des Blockdenkens, die besonders einer Reihe von Vertretern der militärischen Führung der westlichen Länder und der Allianz im ganzen eigen sind. Eine dieser Stereotypen ist damit verbunden, daß die UdSSR, deren Kern Rußland darstellte, lange Jahre als die Hauptursache der militärischen Bedrohung für die Existenz der westlichen Zivilisation betrachtet wurde.

Ausgehend von ihrem ursprünglichen Charakter ist die NATO auf die strategische Planung des »worst case« gerichtet, was sich auf den Charakter und die Details der operativen Dokumente, des militärischen Aufbaus und der Einsatzbereitschaft der nationalen Streitkräfte sowie der der Koalition auswirken muß. Für die Überwindung dieser »Resterscheinungen« ist offensichtlich eine längere Zeitspanne nötig. Unterdessen vollzieht sich der psychologische Bruch nicht schmerzlos und trifft auf den Widerstand einflußreicher Vertreter von führenden Kreisen des militärischen Establishments, der akademischen Welt und des Militärisch-Industriellen Komplexes der NATO-Staaten.

Man darf auch die Trägheit des Wettrüstens nicht außer acht lassen, der die ständige Aufrechterhaltung eines »Feindbildes« – und sei es auch nur das eines potentiellen – im Bewußtsein der Öffentlichkeit verlangt. Das wird untersetzt durch die reale Besorgnis der Führer der wichtigsten NATO-Länder, daß es zu einer möglichen Einschränkung der Beschäftigungsrate auf den militärischen Gebieten der Wirtschaft, der Wissenschaft und der zukünftigen wissenschaftlichen Forschungsarbeit kommt. Nicht selten werden im Westen Befürchtungen zum Ausdruck gebracht, daß es unter den Bedingungen der »Euphorie der Postkonfrontation« zu einem Auseinanderbrechen des Militärindustriellen Komplexes und zum Verlust des erreichten technischen Niveaus und der Profitquellen kommt.

Das Streben der MOE-Länder, durch den Eintritt in die NATO den Westen zur aktiven Unterstützung bei der Lösung ihrer innen- und außenpolitischen Probleme heranzuziehen, kann einen unerwarteten Effekt geben. Die Nordatlantische Allianz, die sich in komplizierte, durch scharfe Kämpfe bestimmte Prozesse in den osteuropäischen Staaten hineinziehen läßt, kann vor der objektiven Notwendigkeit stehen, seine Politik zu verhärten. Die Transformation der NATO in eine universelle friedenschaffende und stabilisierende Kraft kann sich hinziehen. Auf jeden Fall existiert die Gefahr, daß dieser Prozeß und die Erweiterung der Allianz nicht synchron verlaufen. Darin liegt die Gefahr für die Interessen Rußlands, da solche Asynchronität die Chancen für eine endgültige Überwindung der Spaltung des Kontinents verringern und zu einem Rückfall in die Politik der Blöcke führen kann – und das unter den Bedingungen der Annäherung des Geltungsbereiches der NATO an die unmittelbaren Grenzen der Russischen Föderation.

2.2. Geopolitische Aspekte

In dem Verständnis, daß die Verlagerung des Geltungsbereiches der NATO an die Grenzen Rußlands eine bestimmte Besorgnis der Russischen Föderation hervorruft und im Streben, solch einer Reaktion die Schärfe zu nehmen, benutzen die Anhänger des Anschlusses der MOE-Länder an die NATO folgende Argumentation:

die durch die NATO abgesicherte Zone der internationalen Stabilität wird auf die Staaten ausgeweitet, die unmittelbar an das Territorium der früheren UdSSR grenzen. Damit nimmt die Nordatlantische Allianz die Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Friedens und die Verhinderung von Konflikten in dieser Region auf sich;

die Befürwortung des Kurses auf die Erweiterung ihres quantitativen Bestandes durch die Nordatlantische Allianz selbst zwingt sie, eine deutlichere Position zu den Grundfragen der europäischen Umgestaltung in der Periode nach dem »kalten Krieg« einzunehmen, eindeutig die Ziele und den Charakter der zukünftigen Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation und den anderen GUS-Mitgliedern zu erläutern, den Prozeß des Neudurchdenkens der politischen Rolle der NATO zu beschleunigen und wirksame Maßnahmen zur Transformation des Blockes in ein Instrument zur Gewährleistung allgemeiner Sicherheit zu ergreifen;

die Erweiterung der NATO um die MOE-Länder eröffnet auch Rußland den Weg in die Allianz.

Letzteres Argument wird besonders am Vorabend des im Januar stattfindenden NATO-Gipfeltreffens hervorgehoben. Unterdessen kamen Experten zu dem Ergebnis, daß in den Vorschlägen an die Adresse Rußlands in Bezug auf eine Partnerschaft mit der NATO bisher keine Linie zur Schaffung eines Mechanismus zur Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit sichtbar wird, der nach seinem Bestand und seinen Funktionen den Bedingungen der Periode der Postkonfrontation entspricht. Die Idee eines solchen Mechanismus wird im Westen diskutiert. Von Spezialisten in den Vereinigten Staaten wird beispielsweise die Möglichkeit untersucht, in der gegenwärtigen Etappe eine Organisation der kollektiven Sicherheit zu schaffen, die etwas zwischen der NATO einerseits und KSZE und UNO andererseits darstellt.

In der Tat hat für Rußland jener Fakt prinzipielle Bedeutung, in welche Allianz und mit welchen Funktionen es eintreten und welche partnerschaftlichen Beziehungen es mit ihr herstellen kann.

NATO-Generalsekretär Wörner unterstrich bei seinem Auftritt am 29. Oktober d.J. auf der Konferenz »Aufrechterhaltung des Friedens in Europa« in Madrid, an der Experten von NATO, WEU, EG und KSZE teilnahmen, eine Reihe von Momenten, die, wenn nicht Besorgnis, so doch zusätzliche Fragen provozieren. Er erklärte, daß zusammen mit der Gewährleistung der gemeinsamen Verteidigung der Mitglieder der Allianz ihr Hauptziel in der gegenwärtigen Situation in der Aufrechterhaltung des strategischen Gleichgewichts in Europa besteht. Die zweite Aussage kann man als Fortsetzung zur Erfüllung einer der globalen Funktionen der NATO aus der Periode der Konfrontaion des »kalten Krieges« unter neuen Bedingungen interpretieren. Falls das zutrifft, erfordert die Verlagerung der Grenzen der Nordatlantischen Allianz an die Grenzen Rußlands entweder seine militärische Stärkung, was nicht den zu lösenden Aufgaben der wirtschaftlichen Entwicklung entspricht oder das Einverständnis zur Asymmetrie auf dem Gebiet der Sicherheit, was ebenfalls den Interessen der Russischen Föderation widerspricht.

Nach einer anderen Aussage Wörners wird es eine der wichtigsten Funktionen der NATO werden, Stabilität in die MOE-Länder und nach Mittelasien zu »projizieren«. Wenn die »Partnerschaft« oder eine andere Form der NATO-Erweiterung die Einbeziehung der Staaten Mittelasiens in ihren Geltungsbereich beinhaltet, so kann das nicht ohne Grund in Rußland als Alternative zum entstehenden System der kollektiven Sicherheit im Rahmen der GUS interpretiert werden. Die Ausweitung des Geltungsbereiches der NATO auf zwei Regionen, die von Westen und vom Süden unmittelbar an die Russische Föderation grenzen, ist in der Lage, begründeten Verdacht dahingehend hervorzurufen, daß sich eine für Rußland höchst nachteilige geopolitische Lage herausbildet.

2.3. Militärische Aspekte

Natürlich darf es für solche plumpen Behauptungen, wie sie während der Periode des »kalten Krieges« gängig waren (zum Beispiel über die scharfe Konfrontation zwischen Ost und West, NATO und Warschauer Vertrag) keinen Platz mehr geben. Schwierig ist es, anzunehmen, und falsch wäre es, davon auszugehen, daß die geographische Erweiterung der NATO der Bildung eines Brückenkopfes dient, der darauf abzielt, Rußland oder seinen Verbündeten einen Schlag zu versetzen. Dieser Schluß ist jedoch nicht mit jenem identisch, daß das Vorrücken der NATO nach Osten nicht die Interessen der militärischen Sicherheit Rußlands berührt.

In letzter Zeit kamen im Westen verschiedene Auslegungen der Position der russischen Armee zu dieser Frage in Umlauf. Insbesondere tauchten Vermutungen über das Streben der Generalität auf, ihren »wachsenden Einfluß« auf die Regierung Rußlands auszunutzen und ihr einen harten Kurs auf dem Gebiet der Gewährleistung der nationalen Sicherheit »aufzuzwingen«. Gleichzeitig muß man berücksichtigen, daß die eigene Bestimmung und die fachlichen Aufgaben der Streitkräfte die Spezifik ihres Standpunktes zum Problem der Ausweitung des Geltungsbereiches der NATO nach Osten prädestiniert. Es ist offensichtlich, daß die militärische Führung Rußlands Aufmerksamkeit auf folgendes richten muß:

1. Die Tatsache, daß im Ergebnis der NATO-Erweiterung die größte Militärgruppierung der Welt, die über ein umfangreiches Angriffspotential verfügt, sich in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen befindet, erfordert ein grundlegendes Neudurchdenken aller Verteidigungskonzeptionen, der Neuformierung der Streitkräfte, eine Überprüfung der operativen Pläne für die Kriegsschauplätze, die Entfaltung einer zusätzlichen Infrastruktur, die Neudislozierung der großen Militärkontingente und die Veränderung der Einsatzpläne und des Charakters der militärischen Ausbildung. Diese Maßnahmen sind vom russischen Standpunkt eine objektive Notwendigkeit und müssen unabhängig davon realisiert werden, daß die NATO politisch nicht mehr als Gegner betrachtet wird. Ohne jeden Zweifel würde in einer ähnlichen Situation auch von der gegenüberliegenden Seite ein analoges Herangehen festgelegt werden.

2. Die Realisierung der aufgeführten Maßnahmen, zumal in gedrängten Fristen, zieht zweifellos eine Überbeanspruchung des Staatshaushaltes und eine Schwächung der Verteidigungsfähigkeit Rußlands in der Periode der strukturellen Umgestaltung und der Verlegung der führenden Gruppierungen der Streitkräfte nach sich.

3. Man kann nicht übersehen, daß unter solchen Bedingungen folgende Bedrohung entsteht: Gefahr des Verzögerns der Fristen und des Bruchs der vorhandenen Programme zur Senkung, Reorganisation und Professionalisierung der Streitkräfte, ihrer Ausstattung mit modernen intelligenzintensiven, teuren Waffensystemen. Ein Zurückbleiben auf diesem Gebiet würde eine wesentliche Einschränkung des Kampfpotentiales der Streitkräfte Rußlands im Vergleich mit dem Niveau der führenden Militärmächte bedeuten.

4. Im Falle der Unfähigkeit der Regierung Rußlands, eine normale Finanzierung, Vervollständigung, die materiell-technische Absicherung und den sozialen Schutz der Streitkräfte zu sichern, kann eine Unzufriedenheit von Armeekreisen entstehen, was weder im Interesse der politischen noch der militärischen Führung Rußlands, noch des Landes insgesamt liegt.

Man darf auch jenen Fakt nicht ignorieren, daß die Erweiterung der NATO dazu führt, daß ihr Geltungsbereich auch jenen Teil des europäischen Kontinents umfaßt, in dem die zwischenstaatlichen Grenzen im Ergebnis des zweiten Weltkrieges verändert wurden. Dabei vollzieht sich solch ein Prozeß unter Bedingungen, daß im Ergebnis der Herausbildung neuer Staaten in Europa die Vereinbarungen von Helsinki, die den Status quo fixieren, nicht mehr gültig sind bzw. wesentlich geschwächt werden. Folglich kann man meinen, daß unter den neuen Bedingungen die NATO der alternative Garant der Nachkriegsgrenzen sein wird. Zusammen mit den positiven Momenten hat das auch eine negative Seite. Viele Experten verbinden die »Evolution der Erweiterung« der Nordatlantischen Allianz mit der wachsenden Bedeutung der BRD in der NATO. Die »Vorbereitungsperiode« des Eintritts der MOE-Länder als vollberechtigte Mitglieder in die NATO ist auch eng mit der Aktivierung ihrer auf bilateraler Grundlage basierenden militärischen Zusammenarbeit verbunden. Eine Reihe ausländischer Politologen kommt zu dem Schluß, daß die Erhöhung der Mitgliedszahl der Allianz dazu führt, daß sich die BRD auf dem europäischen Kontinent aus einem »Importeur« von Sicherheit in ihren »Exporteur« verwandelt. Im Zusammenhang damit gibt es Grund zu der Annahme, daß bei der Bearbeitung der Frage über die Erweiterung der NATO bestimmte Kreise in Deutschland diesen Prozeß vom Standpunkt der weiteren Entwicklung der Lage zu den Nachkriegsgrenzen betrachten.

Eine ganze Reihe von Fragen auf diesem Gebiet ist nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit anderen Staaten verknüpft. Versuchen zum Beispiel nicht diese oder jene Kräfte in Rumänien, die Idee der Vereinigung mit Moldova groß aufzuziehen, diesen Prozeß zu forcieren und sich dabei auf seine Mitgliedschaft in der NATO zu stützen und dabei die Interessen der Dnjestr-Region zu ignorieren? So oder so ist der Schluß berechtigt, daß unter den Bedingungen der NATO-Mitgliedschaft der MOE-Länder das Niveau der Internationalisierung von Streitfragen und Konflikten, darunter territorialen, wächst.

Die Erweiterung der NATO um die »Visegrad-Gruppe« stimuliert die baltischen Staaten zum Eintritt in die Nordatlantische Allianz. Daraus kann eine Situation entstehen, daß der Schwerpunkt ihrer Zusammenarbeit mit dem Westen sich in den militärischen Bereich verlagert. Das könnte als eine Herausforderung Rußlands betrachtet werden, dessen geopolitische Interessen einer Militärpräsenz von Drittstaaten in dieser Region widerspricht.

Die Führung der Nordatlantischen Allianz unterstreicht, daß die Schaffung eines »Cordon Sanitaire« in den MOE-Ländern, der Rußland von Westeuropa trennen würde, nicht zu ihren Absichten gehört. Dennoch kann sich das unabhängig von den subjektiven Absichten der NATO-Führer vollziehen. Auf jeden Fall entsteht mit dem Beitritt der MOE-Länder in diese Organisation objektiv eine Barriere zwischen Rußland und dem übrigen Teil des Kontinents.

Man muß auch berücksichtigen, daß die Veränderung des Mitgliedsbestandes der NATO unvermeidlich zur Untergrabung einer Reihe von Verpflichtungen der Allianz führt, die sich aus multilateralen Verträgen und Abkommen, darunter aus dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa ergeben, dessen Einhaltung zur Stabilität und Sicherheit auf dem Kontinent beiträgt.

Bekanntlich wurde der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa auf der Konzeption der gleichen Sicherheit aufgebaut und verfolgte das Ziel, bis Ende 1995 ein Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte zwischen beiden Staatengruppierungen (NATO und früherer Warschauer Vertrag) durch die Errichtung von gleichen Obergrenzen nach Anzahl der Kampftechnik der Bodentruppen und der Luftstreitkräfte zu erreichen. Im Falle der Erweiterung der NATO um Länder des früheren Warschauer Vertrages wird das Prinzip des Kräftegleichgewichtes verletzt. So würden die Quoten der konventionellen Streitkräfte nicht nur der potentiellen neuen NATO-Mitglieder, sondern auch von GUS-Ländern, vor allem aber Rußlands in Frage gestellt – darunter auch an den Flanken.

Außerdem entstünde das Problem der wesentlichen Korrektur von Gruppenverpflichtungen in Bezug auf die Weitergabe von Bewaffnungen und der Überprüfung ihrer Obergrenzen zwischen den Staaten der »Visegrad-Gruppe« (Artikel VII), zu Fragen der Kontrolle und Durchführung von Inspektionen (Artikel XIV) und andere.

Man muß bemerken, daß beliebige Korrekturen des Vertrages, die Rußland in den letzten 1 1/2 – 2 Jahren in bi- und multilateralen Verhandlungen angestrebt hat, auf den harten Widerstand und die negative Reaktion der NATO trafen. So wurde die Botschaft von Rußlands Präsident Jelzin (September 1993) an die Führer der NATO-Staaten, die den Vorschlag zur Überprüfung der Einschränkungen für die Streitkräfte Rußlands an den Flanken beinhaltet (Artikel V), von der Führung der Allianz praktisch zurückgewiesen. Es gibt zahlreiche Beweise dafür, daß diese Position des Blockes bis Ende 1995, dem Zeitpunkt des Auslaufens der Reduzierung der konventionellen Streitkräfte, die auf dem Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa basiert, beibehalten wird.

2.4. Innenpolitische Aspekte

Man kann die Möglichkeit einer ungünstigen Auswirkung der Erweiterung der NATO auf die innenpolitische Lage in Rußland sowie auf die Psyche der Russen nicht ignorieren. Die gesellschaftliche Meinung in der Russischen Föderation formierte sich lange Zeit in einem Anti-NATO-Geist. Sie kann nicht mit einem Mal geändert werden. Im Zusammenhang damit wird die Ausweitung des Geltungsbereiches der Nordatlantischen Allianz auf die früheren verbündeten Staaten der UdSSR in der gegenwärtigen Etappe von einem bedeutenden Teil der Gesellschaft als »Annäherung der Gefahr an die Grenzen der Heimat« betrachtet. Das kann den antiwestlichen Kräften in der Russischen Föderation einen Impuls geben, sie mit Argumenten für zielgerichtete Versuche zur Diskreditierung des Regierungskurses zu versorgen. Unter solchen Bedingungen kann es im Land zur Wiedergeburt der Idee der »belagerten Festung« und von isolationistischen Tendenzen mit sich daraus ergebenden negativen Folgen für die Durchführung des Reformkurses kommen.

In Rußland muß also die gesellschaftliche Meinung zur Akzeptanz der NATO als Struktur der europäischen Sicherheit und Stabilität und nicht als eine feindliche Kraft wachsen, die zur politischen und militärischen Festigung ihrer Überlegenheit über den Hauptgegner im »kalten Krieg« drängt.

Auf der Grundlage der erfolgten Analyse, die in Abhängigkeit vom Eingehen neuer Angaben selbstverständlich korrigiert wird, sind die Experten der Auslandsaufklärung zu folgenden Schlußfolgerungen gelangt:

unter den Bedingungen der Periode der Postkonfrontation und des Fehlens einer sogenannten Blockdisziplin, die bis zur Auflösung des Warschauer Vertrages bestand, ist Rußland im Recht, den souveränen Staaten Mittel- und Osteuropas vorzuschreiben, ob sie in die NATO oder eine beliebige andere internationale Vereinigung eintreten dürfen;

den Interessen Rußlands würde eine Synchronisierung des Prozesses der Erweiterung des Geltungsbereiches der NATO mit der Veränderung des Charakters dieser Allianz und mit der Anpassung ihrer Funktionen an die Besonderheiten der gegenwärtigen Etappe der historischen Entwicklung entsprechen;

der Prozeß des Eintritts der MOE-Staaten in die NATO, sein Charakter, die Fristen, die Rechte und Pflichten der neuen Mitglieder, müssen unter Berücksichtigung der Meinung aller interessierten Seiten, darunter Rußlands, gestaltet werden. Dazu gehören auch die Perspektiven der Festigung der Grundlagen der kollektiven Sicherheit auf dem Kontinent, die Entwicklung einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit, aber auch die Notwendigkeit der Gewährleistung von Garantien einer bedingungslosen Einhaltung der abgeschlossenen internationalen Abkommen durch alle Länder, die die Mitgliedschaft in der NATO anstreben.

nur die Berücksichtigung der aufgeführten Faktoren würde die Schaffung von Voraussetzungen und günstigen Bedingungen für ein Zusammenwirken der Russischen Föderation mit der NATO, und der Überführung ihrer Beziehungen auf das Niveau einer echten Partnerschaft ermöglichen;

in der gegenwärtigen Etappe müßte eine vielfältige Politik einer allseitigen Entwicklung der Zusammenarbeit mit allen internationalen Institutionen durchgeführt werden, die fähig sind, der Schaffung eines einheitlichen Systems kollektiver Sicherheit in Europa zu dienen.

Anmerkung

*) Es handelt sich hier um eine auszugsweise Dokumentation einer Stellungnahme der Auslandsaufklärung der Russischen Förderation, Moskau 1993. Übersetzung aus dem Russischen im Auftrag des Forschungsinstituts für Friedenspolitik e.V. von Werner Heiden, Berlin. Die vollständige Fassung ist erhältlich bei: Forschungsinstitut für Friedenspolitik e.V., Lohgasse 3, Postfach 1251 D-82352 Weilheim Tel.: (0881) 4586, Fax: (0881) 2080, Einzelpreis DM 8,– FF-Mitglieder DM 5,–; FF-Dokumentation 4-94

Die Kernwaffen in der Ukraine

Die Kernwaffen in der Ukraine

von Lars C. Colschen

Zu den sicherheitspolitisch schwerwiegenden Problemen, die von einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ausgehen, gehören die dort angehäuften Kernwaffen. Die Ukraine ist neben Rußland, Weißrußland und Kasachstan eine der vier ehemaligen Sowjetrepubliken, auf deren Territorium Kernwaffen stationiert sind. Die Implosion eines Kernwaffenstaates und die daraus resultierenden Konflikte sind ein geschichtlicher Präzedenzfall, und das nukleare Nichtverbreitungsregime verfügt über keine Mechanismen, um damit adäquat umgehen zu können.

Die internationale Anerkennung Rußlands als alleiniger Rechtsnachfolger der Sowjetunion bedeutet, daß keine andere ehemalige Sowjetrepublik einen Status als Kernwaffenstaat beanspruchen kann. Im Gegensatz zur Ukraine lassen Weißrußland und Kasachstan keinen ernsthaften Zweifel an der Erfüllung der für alle drei Staaten gleichermaßen geltenden internationalen Verpflichtungen zur Kernwaffenfreiheit. Weißrußland ist am 22.7.93 formal Mitglied des NPT als Nichtkernwaffenstaat geworden, nachdem das weißrussische Parlament START I und den NPT gleichzeitig im Februar 1993 vorbehaltlos ratifiziert hatte. Das kasachische Parlament hat beide Schritte am 2.7.92 (START I) und am 13.12.93 (NPT) vollzogen. Aus beiden Staaten hat der Abzug der Kernwaffen ohne signifikante Verzögerungen begonnen. Es kann davon ausgegangen werden, daß beide Staaten noch 1995 kernwaffenfrei sein werden.1

Die Existenz von Kernwaffen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bedeutet eine zweifache Herausforderung für das Nichtverbreitungsregime: die externe und die interne Proliferation.

Externe Proliferation bezieht sich erstens auf die geschwächten nationalen Exportkontrollen bei gleichzeitig gestiegenem Anreiz zu Nuklearexporten aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs und zweitens auf die Gefahr des »brain drain« von Nuklearexperten in Staaten mit Kernwaffenambitionen. Die hier bearbeitete interne Proliferation bezieht sich auf die Gefahr der Entstehung nicht-russischer Kernwaffenstaaten auf dem Territorium der früheren Sowjetunion. Unter diesen befinden sich in der Ukraine die meisten Kernwaffen, nukleartechnischen Anlagen und Nuklearwissenschaftler. Zum nuklearen Erbe der Sowjetunion in der Ukraine gehören fünfzehn Leistungsreaktoren mit 13,8 GWe, zwei Forschungsreaktoren (200 kWth und 10 MWth), sowie ein Metallurgie-Chemie Komplex für die Produktion von Zirkonium, Hafnium und Schwerwasser. Das Potential von Nuklearwissenschaftlern in der Ukraine wird von russischer Seite auf etwa 1.000 eingeschätzt.2

Außerdem befanden sich nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Herbst 1991 insgesamt 176 strategische Nuklearraketen (130 ICBMs vom Typ SS-19 mit je sechs und 46 ICBMs vom Typ SS-24 mit je zehn Sprengköpfen) mit 1.240 Sprengköpfen und 42 schwere Tupolev-Bomber auf den Basen Chmelnizki und Perwomajsk, die mit insgesamt 592 luftgestützten Cruise Missiles (ALCMs) vom Typ AS-15 ausgestattet sind.3 Diese Bomberflotte setzt sich zusammen aus 22 Tupolev-95 (»Bear«) mit jeweils 16 AS-15 ALCMs und 20 Tupolev-160 (»Blackjack«) mit jeweils 12 AS-14 ALCMs. Mit den insgesamt 1832 Nuklearsprengköpfen wäre die Ukraine die weltweit drittgrößte Kernwaffenmacht.

Die Nichtverbreitungspolitik der Ukraine

Die erste kernwaffenbezogene Aktivität der ehemaligen Ukrainischen SSR war eine am 24.10.91, also vor der formalen Auflösung der Sowjetunion, vom Parlament verabschiedete Erklärung, die die Kernwaffenfreiheit der Ukraine als Ziel setzt und das Kontrollrecht über die auf ihrem Territorium befindlichen Kernwaffen beansprucht.4

p>Am 21.12.91 wurden in einem »Agreement on Joint Measures on Nuclear Arms« in Alma Ata erstmals im Rahmen des am 8.12.91 in Minsk gegründeten CIS (Commonwealth of Independent States) die vollständige nukleare Abrüstung unter internationaler Kontrolle (Art. 6) und der NPT-Beitritt der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans als Nichtkernwaffenstaaten festgeschrieben (Art. 5).5 Alle taktischen Kernwaffen sollten bis Juli 1992 nach Rußland transferiert werden (Art. 6). Am 30.12.91 vereinbarten die CIS-Staaten in Minsk im »Agreement on Strategic Forces«, alle strategischen Kernwaffensysteme unter ein gemeinsames Kommando der CIS zu stellen (Art. 3) und sie bis Ende 1994 unter gemeinsamer Kontrolle zu verschrotten (Art. 4).

Am 12.3.92 deutete sich erstmals ein ukrainischer Sonderweg an, als der ukrainische Präsident Kravtschuk bezweifelte, daß die nach Rußland zu transferierenden Waffen dort auch vernichtet würden. Er ordnete die Einstellung des Abzuges der 2.600 bis 3.000 taktischen Kernwaffen an und forderte deren Vernichtung unter internationaler Kontrolle. Der Abzug dieser Waffensysteme wurde aber später fortgesetzt und am 6.5.92 beendet6.

Am 23.5.92 haben die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan ein START I-Zusatzprotokoll unterzeichnet, das sogenannte »Lissabonner Protokoll« (LP). Das Protokoll ist ein integraler Bestandteil des START I-Vertrages und das zentrale Instrument hinsichtlich der nuklearen Abrüstung der Ukraine. Es reflektiert die veränderte politische Situation und verleiht START I eine multilaterale Struktur. Das LP enthält rechtlich bindenden Verpflichtungen zur Kernwaffenfreiheit, die an zwei Kriterien gemessen wird: Den (1) Transfer aller Kernwaffen nach Rußlan7d und (2) den Beitritt zum NPT als Nichtkernwaffenstaaten in der »kürzest möglichen Zeit« (Art. V). Dennoch hat das ukrainische Parlament zunächst weder START I ratifiziert, noch ist die Ukraine dem NPT beigetreten.

Im Gegenteil. Sie schuf noch 1992 innerhalb ihres Verteidigungsministeriums ein Zentrum für die administrative Kontrolle über die Kernwaffen8. Im November 1992 folgte die präsidiale Anordnung, den Transfer der strategischen Waffensysteme nach Rußland zu unterbrechen9. Diese Entscheidung reflektierte ein taktisches Verhalten von Präsident Kravtschuk, der auch nach der Unterzeichnung des LPs, ungeachtet ihres späteren Schicksals, zunächst die Kernwaffen unter ukrainische Kontrolle stellen wollte, um deren Einsatz durch Rußland blockieren zu können10.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt haben die in der Ukraine stationierten Kernwaffen den historisch begründeten Konflikt zwischen Rußland und der Ukraine, die bis 1991 über 300 Jahre nahezu ununterbrochen unter russischer und sowjetischer Unterdrückung litt, weiter intensiviert. In einem weiteren Schritt »nationalisierte« das ukrainische Parlament, die Verkhovna Rada, am 2.7.93 mit 226 zu 15 Stimmen mit der Verabschiedung der »Guidelines for the Foreign Policy of Ukraine« die auf ihrem Territoritum stationierten Kernwaffen11.

Dieser »Nationalsierungsbeschluß« wurde von der Ukraine als widerspruchsfrei gegenüber den NPT-Verpflichtungen perzipiert, da der Begriff »Besitz« (property) im Vertragwerk nicht geregelt sei12.

Tatsächlich hat die unabhängige Ukraine keine Kernwaffen empfangen, entwickelt oder produziert (NPT, Art.II) und ist laut NPT auch kein Kernwaffenstaat, da sie vor 1967 keinen Nukleartest durchgeführt hat (Art.IX,3). Der NPT enthält keine Bestimmungen, um eine solche Situation adäquat bearbeiten zu können.

Am 30.7.93 erklärte Präsident Kravtschuk, daß START I die modernen 46 SS-24 auf ukrainischem Territorium nicht beträfe und über deren Zerstörung nach der START-Ratifizierung separat verhandelt werden müsse13. Für zusätzliche Unklarheiten sorgte der Umstand, daß die Kernwaffenkategorien im Lissabonner Protokoll (LP) nicht differenziert aufgeführt sind, was der Ukraine ungewollt einen Interpretationsspielraum eröffnet hat. Die am 15.7.93 begonnene Deaktivierung der Kernwaffen betraf dann auch ausschließlich die SS-1914.

Die Regierung erklärte dazu, daß »natürlich« zuerst die alten, noch mit Flüssigtreibstoff betriebenen SS-19 reduziert würden. Der Grund für die Deaktivierung waren auch nicht die internationalen Denuklearisierungsverpflichtungen, sondern der bedenkliche Sicherheitszustand der SS-19. Die Deaktivierung wurde ohne parlamentarische Zustimmung vorgenommen15.

In einer bilateralen Abkommen zwischen der Ukraine und Rußland vom 3.9.93 wurde der vollständige Abzug der Kernwaffen innerhalb von zwei Jahren nach der START I-Ratifizierung vereinbart. Die Vereinbarung wurde aber drei Wochen später von Rußland annulliert, da von ukrainischer Seite der Vertragstext verändert worden war. Der Transfer „aller Sprengköpfe“ wurde dabei durch den Terminus „alle Sprengköpfe betroffen von START I“ ersetzt. Da aber START I aus ukrainischer Sicht die 46 SS-24 nicht betrifft, würde das Abkommen der Ukraine gestatten, Kernwaffen zu behalten16.

Am 18.11.93 hat das ukrainische Parlament dann START I unter Vorbehalt ratifiziert. Deren Umsetzung wurde an insgesamt dreizehn Bedingungen geknüpft. Artikel V des LPs wird dabei weiterhin als nicht bindend betrachtet, die administrative Kontrolle nicht aufgegeben, und die Kernwaffen sollen solange im Besitz der Ukraine verbleiben, wie sie sich auf ihrem Territorium befinden. Ein weiterer gravierender Vorbehalt besteht darin, daß nur 36<0> <>% der Trägersysteme und 42<0> <>% der Sprengköpfe innerhalb der von START I vorgesehenen Frist von sieben Jahren abgerüstet werden sollen17.

Diese Prozentzahlen entsprechen den in START I vorgesehenen Reduktionen für das gesamte ehemalige strategische Arsenal der Sowjetunion (von 10.271 auf 6.000 Kernsprengköpfe und von 2.500 auf 1.600 Trägersysteme). Das Parlament widersetzte sich damit dem Willen von Präsident Kravtschuk, entsprach aber den Forderungen der rechtsradikalen »Rukh«-Partei, die sich schon im Februar 1993 für eine solche proportionale Abrüstung ausgesprochen hatte18.

Eine gleichmäßige Quotierung für alle vier Staaten läßt sich aber aus dem LP nicht herleiten, da Artikel V explizit den Beitritt der Ukraine, Kasachstans und Weißrußlands zum NPT als Nichtkernwaffenstaat verlangt und nur Rußland den NPT-Status als Kernwaffenstaat zugesteht. Diese Abrüstungsquote würde es der Ukraine ermöglichen, alle modernen SS-24 und etwa 600 weitere Sprengköpfe zu behalten.

Den ständigen Forderungen von Kravtschuk nach zusätzlichen finanziellen Kompensationen und Sicherheitsgarantien zur Erfüllung des LP wurde am 13.1.1994 in Moskau mit der Unterzeichnung eines trilateralen Vertrages mit den USA und Rußland Rechnung getragen. Dabei wurden der Ukraine zusätzliche finanzielle (Geld für die nuklearen Materialien aus den abgerüsteten Kernwaffen, Kreditzusagen und Wirtschaftshilfen) und sicherheitspolitische (Grenzgarantien und nukleare Sicherheitsgarantien) Zugeständnisse gemacht19.

Die Sicherheitsgarantien der USA, Rußlands und des United Kingdom unterscheiden sich inhaltlich nicht von den ohnehin existierenden Garantien dieser Kernwaffenstaaten. Sie sind aber speziell auf die Ukraine zugeschnitten und harmonisiert worden.

Sie werden erst wirksam, wenn die Ukraine ihre Verpflichtungen aus dem LP erfüllt hat20. Diese neuerlichen Zugeständnisse kann die Ukraine als einen Erfolg ihrer hinhaltenden Politik werten, da eine vorbehaltlose START-Ratifizierung dieses trilaterale Abkommen nicht erforderlich gemacht hätte. Das Abkommen sieht zudem vor, daß in einer ersten zehnmonatigen Phase (bis Mitte Oktober 1994) 200 Sprengköpfe nach Rußland gebracht werden sollen. Tatsächlich sind im März 1994 zwei Zugladungen mit je 60 Sprengköpfen aus Pervomaysk nach Rußland transferiert worden.

Aber Kravtschuk kritisierte im März 1994 das Ausbleiben der russischen Brennstäbe, drohte mit der Einstellung der Sprengkopflieferungen nach Rußland und warnte, daß die vollständige Erfüllung der ukrainischen Verpflichtungen nur möglich wäre, wenn sie durch die ökonomischen Kompensationen gleichzeitig ausgeglichen würden21.

Es läßt sich eine Diskrepanz zwischen den internationalen vertraglichen Vereinbarungen einerseits und deren Umsetzung andererseits feststellen. Auf der Ebene der deklaratorischen Politik strebt die Ukraine unzweifelhaft die Erfüllung des LPs an. Aber in der Praxis ist weder der Abzug aller Kernwaffen nach Rußland gesichert, noch zeichnet sich ein ukrainischer NPT-Beitritt als Nichtkernwaffenstaat ab.

Die START I-Ratifizierung vom 18.11.93 hat wegen der Vorbehalte die Frage nach dem künftigen Status der Ukraine in bezug auf Kernwaffen nicht geklärt22. Auch die trilaterale Vereinbarung vom 13.1.1994 bedarf einer parlamentarischen Ratifizierung, die auf einen ungenannten Termin nach den Parlamentswahlen am 27.3.94 hinausgeschoben wurde.

Innenpolitischer Hintergrund

Es existieren im ukrainischen Parlament drei Gruppierungen, zwischen denen hinsichtlich des Umgangs mit dem nuklearen Erbe der Sowjetunion substantielle und teilweise nicht vereinbare Positionsdifferenzen bestehen. Hier liegt auch eine Teilbegründung für die widersprüchlichen Erklärungen aus der Ukraine.

(1) Die radikal-nationalistische Rechte, insbesondere die Parteien »Ukrainischer Kongreß der nationaldemokratischen Kräfte« und »Rukh«, intendiert nach dem von ihr durchgesetzten Nationalisierungsbeschluß, diese Waffen zu behalten. Sie strebt den Status als Kernwaffenmacht an und will das LP nicht erfüllen. Speziell die »Rukh« hat Kravtschuk jedwede Autorität aberkannt, nukleare Abrüstungsverträge zu unterzeichnen23.

Sowohl das LP als auch das trilaterale Abkommen wurden von der Rechten abgelehnt. Sie geht davon aus, daß die Ukraine ihre Staatsgrenzen ohne Kernwaffen nicht hinlänglich sichern kann. Die Kernwaffen können nicht vollständig liquidiert werden, solange die staatliche Existenz der Ukraine bedroht ist. Dazu müsse die Ukraine über eine signifikante nukleare Abschreckung verfügen24.

Zudem sei unverständlich, warum Rußland Kernwaffen besitzen dürfe und die Ukraine als souveräner, international anerkannter Staat dieses Recht nicht besäße25. Die Rechte wird unterstützt von der einflußreichen ukrainischen Offiziersunion mit ihren etwa 50.000 Mitgliedern26.

(2) Demgegenüber zielt die extreme Linke darauf ab, die Kernwaffen vollständig nach Rußland zu transferieren und alle internationalen Verpflichtungen zu erfüllen. Sie strebt einen dauerhaften kernwaffenfreien Status für die Ukraine an. Sie bestreitet nicht nur die Abschreckungsfunktion der Kernwaffen, sondern deren Existenz wird vielmehr als eine existentielle Gefahr perzipiert, da sie Rußland zu einem Präventivschlag verleiten könnte27.

(3) Dazwischen existieren verschiedene Gruppen, die keinen monolithischen Block bilden. Sie wollen ebenfalls alle internationalen Verpflichtungen erfüllen und streben eine kernwaffenfreie Ukraine an. Sie unterscheiden sich von der Linken dadurch, daß sie durch eine hinhaltende Politik diese Prozesse verzögern und die Kernwaffen als »bargaining chip« einsetzen, um sowohl militärische Sicherheitsgarantien, als auch ökonomische Zugeständnisse aus der Aufgabe der Kernwaffen zu ziehen.

Diese Position wird auch von der Regierung und Präsident Kravtschuk getragen. So betrachtet Kravtchuk die Kernwaffen nicht als militärischen Aktivposten, sondern als »material wealth«28. Kravtschuk begründet diese Ansprüche mit der desolaten wirtschaftlichen Entwicklung und dem niedrigen Wohlstandsniveau der Bevölkerung, die jahrzehntelang unter dem extensiven nuklearen Rüstungsprogramm der Sowjetunion gelitten hat und durch den Abrüstungprozeß finanziell zusätzlich belastet würde. Die von der Regierung verfolgte Hinhaltepolitik zielt darauf ab, trotz der Verpflichtungen aus dem LP weitere finanzielle und sicherheitspolitische Zugeständnisse seitens Rußland und des Westens aus der Aufgabe der Kernwaffen zu ziehen. Nach wie vor erhält sich die Ukraine alle Handlungsoptionen für den Fall, daß ihre zusätzlichen Kompensationsforderungen nicht erfüllt werden sollten. Insgesamt ist diese Taktik aus ukrainischer Sicht bisher als erfolgreich zu bewerten, wie das trilaterale Abkommen beweist. Eine Fortsetzung dieser Taktik durch Präsident Kravtschuk ist nicht auszuschließen.

Der von der internationalen Staatengemeinschaft ausgeübte Druck wird von Kravtschuk als unverständlich und unverhältnismäßig bewertet. Er verweist darauf, daß auch andere Staaten über Kernwaffen und geheime Kernwaffenprogramme verfügen und nicht dem NPT beigetreten sind. Der politische Druck auf diese Staaten fiele aber ungleich geringer aus, und die Kernwaffenprogramme würden von der Staatengemeinschaft hingenommen oder sogar gefördert29.

Eine Militärdoktrin, aus der sich Rückschlüsse auf die künftige Nichtverbreitungspolitik ziehen ließen, existiert nicht, obwohl sich eine Vorlage seit Anfang 1993 in der parlamentarischen Beratung befindet. Erste Entwürfe wurden von Teilen des Parlamentes als »zu pazifistisch« abgelehnt30.

Die Parlamentswahlen

Die Parlamentswahlen vom 27.3.94 haben einen weiteren potentiellen Konflikt offensichtlich werden lassen. Die Polarisierung hat zugenommen, da die extremen Parteien durchweg Stimmenanteile und damit Parlamentssitze hinzugewinnen konnten.

Zudem offenbarten die Wahlen eine starke regionale Polarisierung. In der Ostukraine gewannen besonders die moskautreuen Kommunisten und andere Parteien des linken Spektrums, die eine stärkere Anlehnung an Rußland und teilweise sogar einen Anschluß an Rußland propagieren. Dagegen dominierten die extreme Rechte und moderaten Nationalisten in der Westukraine. Sie orientieren sich nach Westeuropa. Die Machtposition des Zentrums und der Demokraten und damit der ohnehin instabilen Regierung um Präsident Kravtschuk wurde weiter geschwächt. Auch andere reformorientierte Parteien verloren Sitze in der Verkhovna Rada. Das konfrontative Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative hat sich weiter verschärft31. Keine Gruppierung konnte sich durchsetzen, und das Parlament bleibt weitgehend entscheidungsunfähig. Die innenpolitische Situation hat sich auch durch die wirtschaftliche Krise weiter zugespitzt. Ein Bürgerkrieg und ein Auseinanderbrechen der Ukraine sind angesichts der politischen Gegensätze zwischen dem Osten und Westen der Ukraine nicht auszuschließen.

Einfluß der USA/des Westens

In den USA und anderen NATO-Staaten besitzt die horizontale Nichtverbreitung von Kernwaffen eine hohe politische Priorität. Ein NPT-Beitritt der Ukraine würde die Chancen für eine von den USA angestrebte unbegrenzte NPT-Verlängerung erhöhen und wäre eine Bestätigung der Vitalität des nuklearen Nichtverbreitungsregimes. Ziel des Westens ist es, daß aus der Auflösung der Sowjetunion letztlich mit Rußland nur ein Kernwaffenstaat hervorgeht. Dennoch wurde, als sich der Zerfall der Sowjetunion abzeichnete, die ukrainische Kernwaffenproblematik von der Bush-Administration zunächst nicht thematisiert. Bush warnte lediglich vor einem »selbstmöderischen Nationalismus« und galt seitdem als Gegner eines souveränen ukrainischen Staates. Die diplomatischen Anstrengungen wurden auf Rußland und Präsident Yeltzin konzentriert. Erst als die Probleme bezüglich der Kernwaffen auf ukrainischem Boden virulent wurden, wurde der Ukraine eine intensive diplomatische Aufmerksamkeit zuteil. Die dann einsetzenden Bemühungen der USA verstärkten in der Ukraine die Perzeption, daß Kernwaffen eine Schlüsselfunktion besitzen, um politische Aufmerksamkeit zu erreichen. Die Clinton-Administration hat die Bemühungen für eine kernwaffenfreie Ukraine intensiviert und die bilateralen Beziehungen, z.B. durch die Bildung einer bilateralen Arbeitsgruppe für Verteidigungsfragen, ausgebaut32.

Zudem profitiert die Ukraine anteilmäßig von den vom US-Congress gebilligten Finanzhilfen im »Safe and Scure Dismantlement Program« (SSD), dem sogenannten »Nunn-Lugar Act«, für eine vertragsgemäße Vernichtung der Kernwaffen. Von der Gesamtsumme waren zunächst $ 175 Mill. für die Ukraine vorgesehen. Weitere $ 155 Mill. wurden der Ukraine als Wirtschaftshilfe zugesagt33.

Die ursprüngliche US-Politik, erst Geld zu vergeben, nachdem die Ukraine START I vorbehaltlos ratifiziert hat und dem NPT als Nichtkernwaffenstaat beigetreten ist, wurde im Frühjahr 1993 aufgegeben, um die begonnene Deaktivierung der SS-19 finanziell abzusichern34.

Am 4.3.94 erklärte die Clinton-Administration eine Aufstockung der Zuschüsse auf insgesamt $ 700 Mill. (je $ 350 Mill. für den nuklearen Abrüstungsprozeß und als Wirtschaftshilfe)35.

Die finanziellen Erfordernisse für den Denuklearisierungprozeß in der Ukraine sind umstritten. Die Ukraine bezeichnet die genannten Finanzhilfen als unzureichend. Ursprüngliche Forderungen der Ukraine beliefen sich auf $ 1,5 Mrd.36. Sie stiegen bald auf $ 2,8 Mrd.37.

Solche Forderungen waren für die USA inakzeptabel. Sie waren aber bereit, der Ukraine den Erlös aus dem Verkauf der nuklearen Materialien, geschätzte $ 1-2 Milliarden, zukommen zu lassen38.

Offiziell betrachtet die Clinton-Administration die Existenz einer unabhängigen und starken Ukraine als in ihrem Interesse liegend.

Aber die vorbehaltlose Erfüllung der Verpflichtungen aus dem LP wurde von den USA zu der essentiellen Vorbedingung für „erfolgreiche und langfristige Beziehungen zwischen beiden Staaten“ gemacht. Bis dahin seien Kooperationen in allen Politikfeldern, inklusive wirtschaftlicher Vereinbarungen, nur sehr begrenzt möglich39.

Dies gilt insbesondere für eine über die Sicherheitsgarantien hinausgehende sicherheitspolitische Kooperation. Bisher wurde in diesem Zusammenhang explizit der Begriff der »security guarantees« vermieden, da sie eine NATO-ähnliche »Schutzschirmlösung« nahelegen würde40.

Ein NPT-Beitritt der Ukraine mit einem Sonderstatus als „transitional country with nuclear weapons“, wie er von Verteidigungsminister Morozov im Juli 1993 vorgeschlagen wurde, ist für die USA inakzeptabel. Die Clinton-Administration bedient sich dabei einer Mixtur aus politisch-diplomatischem Druck einerseits, sowie ökonomischen Anreizen und politischen Zusagen andererseits (»carrot and stick approach«)41.

Auch die NATO hat die Ukraine mehrfach dazu aufgefordert, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Die Drohung mit dem Ausschluß der Ukraine aus dem North Atlantic Cooperation Council (NACC42) wurde aber nicht realisiert, da die NATO sich entschied, die Ukraine durch eine Politik der Einbindung zu beeinflussen43.

Allerdings wäre es undenkbar, so der belgische Außenminister Claes, die von der NATO geplante »Partnership for Peace«-Initiativ44e auch der Ukraine anzubieten, solange diese sich weigert, ihre Verpflichtungen zu erfüllen.

Der Einfluß Rußlands

Für die Ukraine sind sowohl die politische Situation in Rußland als auch die Politik Rußlands gegenüber der Ukraine wesentliche Einflußfaktoren bei der Bestimmung der eigenen Nichtverbreitungspolitik. Bereits am 4.11.92 hatte der russische Oberste Sowjet zwar START I gebilligt, stellte die Ratifizierung aber explizit unter den Vorbehalt der Beitritte der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans zum NPT als Nichtkernwaffenstaaten. Auch Sicherheitsgarantien wurden zunächst an die vorbehaltlose START-Ratifizierung geknüpft45. Im trilateralen Abkommen gab Rußland dann aber doch die von der Ukraine geforderten Sicherheitsgarantien ab. Rußland weigert sich aber, die vorbehaltliche START I-Ratifizierung der Ukraine anzuerkennen. Um zusätzlichen Druck auszuüben, erklärte das russische Verteidigungsministerium im November 1993, daß Rußland die Annahme der ukrainischen Kernwaffen bald verweigern müßte, weil sie zu unsicher werden würden und deren Auseinandernehmen zu gefährlich würde46.

In einem bilateralen Abkommen wurde im Austausch für die transferierten Kernwaffen vereinbart, Brennstäbe für den Betrieb ziviler Kernkraftwerke an die Ukraine zu schicken. Dabei wird das hochangereicherte Uran (HEU) aus den ukrainischen Sprengköpfen auf Kosten der USA zu Brennstäben mit niedrig angereichertem Uran (LEU) verarbeitet47.

Trotz solcher eigenen Beziehungen werden die amerikanisch-ukrainischen politischen Beziehungen in Rußland skeptisch beurteilt. Die russische Regierung betrachtet insgesamt eine Strategie des politischen Drucks prinzipiell als erfolgversprechender als den »carrot and stick approach« der USA48.

Neben diesen Aktivitäten auf offizieller Ebene versuchen russische Altkommunisten und Nationalisten den ukrainisch-russischen Konflikt weiter zu schüren. Sie unterstützen die Kräfte in der Ukraine, die für eine »Kernwaffenmacht Ukraine« sind. Ihre Motivation beziehen sie dabei aus ihrer Gegnerschaft zum noch nicht ratifizierten START II-Vertrag. Eine Ukraine mit Kernwaffen würde eine solche Ratifizierung in Frage stellen. Allerdings dürfte ein fortgesetzter Denuklearisierungsprozeß in Rußland und eine kernwaffenfreie Ukraine ein geringeres sicherheitspolitisches Risiko bedeuten als keine Umsetzung von START II und eine nuklear bewaffnete Ukraine.

Ein russischer Präventivschlag für den Fall, daß die Ukraine die Kernwaffen auf Dauer zu behalten gedenkt, ist (noch) kein Bestandteil der russischen Politik. Derartige Reaktionen können aber auch nicht ausgeschlossen werden, zumal sich Moskau in seiner neuen Militärdoktrin nach wie vor einen nuklearen Erstschlag vorbehält und das »nahe Ausland« zu seinem alleinigen Einflußbereich deklariert49. Trotz des trilateralen Abkommens enthält die russische Politik insgesamt weniger kooperative Elemente und zielt eher darauf ab, die Ukraine im internationalen System politisch zu isolieren.

Folgen eines Scheiterns der Denuklearisierung der Ukraine

(a) Abrüstungspolitische Konsequenzen: Die zeitliche Entkopplung von START-Ratifizierung und NPT-Beitritt als Nichtkernwaffenstaat kann zur Verzögerung des START-Gesamtprozesses führen. Rußland und die USA werden ohne die Erfüllung beider Bedingungen aus dem LP durch die Ukraine auch nicht das Folgeabkommen START II ratifizieren können, da START II auf START I basiert50.

Insofern wäre die Umsetzung beider START-Verträge und damit die erst vor wenigen Jahren zumindest auf quantitativer Ebene eingeleitete Umkehr des vertikalen Proliferationsprozesses gefährdet.

Für den 1995 stattfindenden Aushandlungsprozeß über eine NPT-Verlängerung wären sowohl eine Entscheidung für einen Status als Kernwaffenstaat als auch eine über 1995 hinausgehende Verzögerungstaktik der Ukraine eine schwere Hypothek.

Eine nuklear bewaffnete Ukraine würde die Effektivität und Nützlichkeit des NPT und auch des Nichtverbreitungsregimes in Frage stellen. Ein möglicher ersatzloser Zusammenbruch des NPT könnte das gesamte Nichtverbreitungsregime zerfallen lassen, da dann auch andere Staaten Ambitionen entwickeln könnten, nuklear zu proliferieren. Ein anderes Szenario bestünde darin, daß sich die Mehrheit der Staaten nur für eine kurzzeitige Verlängerung des NPT ausspricht, um die Regulierung der Kernwaffenfrage in der Ukraine abzuwarten. Inwieweit ein Kernwaffenstaat Ukraine darüber hinausgehend einen »Dominoeffekt« auslösen könnte, ist abhängig von schwer kalkulierbaren Reaktionen anderer Akteure, aber nicht auszuschließen.

(b) Folgen für die Ukraine: Scheitern alle Bemühungen um eine kernwaffenfreie Ukraine, wäre sie nicht nur vertragsbrüchig geworden, sondern würde als Folge diplomatisch und politisch isoliert und ein Paria im internationalen System werden. Mit eigenen Kernwaffen wären wirtschaftliche und politische Sanktionen durch die internationale Staatengemeinschaft verbunden, die sich durch einen »Sitz am Tisch« der Kernwaffenstaaten – wenn die Ukraine diesen überhaupt erhalten würde – schwerlich aufwiegen ließen. Aus dieser Perspektive hätte die Ukraine mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Daher wäre ein solcher Schritt vor der ukrainischen Bevölkerung nur dadurch zu rechtfertigen, wenn mit der Aufgabe der Kernwaffen gleichzeitig die staatliche Existenz durch Rußland unmittelbar bedroht wäre. In diesem Fall würde ein eigenes Kernwaffenarsenal als legitim perzipiert und würde allen internationalen Sanktionen übergeordnet werden. Die Kernwaffen würden unabhängig von ihrer Funktionsfähigkeit bereits eine gewisse Abschreckungsfunktion erfüllen, weil sie auch bei hoher Unsicherheit hinsichtlich ihres Zustandes einen nicht kalkulierbaren Faktor darstellen würden. Andererseits würden sich ukrainische politische Entscheidungsträger und Militärs langfristig kaum mit einer solchen Außenwirkung zufriedengeben, sondern sicherstellen wollen, daß die Kernwaffen einen hohen Verläßlichkeitsgrad aufweisen. Dabei müßte die Ukraine, neben erheblichen finanziellen und organisatorischen Kosten, auch die »positive operative Kontrolle« über »ihre« Kernwaffen erlangen und technische Fragen hinsichtlich der Wartung dieser Kernwaffen lösen.

Fazit

Insgesamt befanden sich die Akteure, die an der Effektivität und Aufrechterhaltung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes interessiert sind, in einer politischen Dilemmasituation. Sie konnten die drastischen politischen Veränderungen nach der Implosion der Sowjetunion und die drohende Gefahr der Entstehung neuer Kernwaffenstaaten nicht ignorieren. Gleichzeitig haben die politischen Bemühungen um eine Beseitigung der in der Ukraine stationierten Kernwaffen dazu geführt, daß sich die Ukraine ihrer tatsächlichen Machtposition erst richtig bewußt geworden ist. Sie haben somit ungewollt zu der unkalkulierbaren und widersprüchlichen Nichtverbreitungspolitik der Ukraine beigetragen. Die Bush-Administration machte den Fehler, die Ukraine zu einem Zeitpunkt zu vernachlässigen, als sie internationale Unterstützung für ihre Souveränitätsbestrebungen und ihre Etablierung als Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft suchte. Der Ukraine wurde erst politische Aufmerksamkeit geschenkt, als sich die Kernwaffen auf ihrem Territorium sich bereits zu einem manifesten Problem der nuklearen Nichtverbreitung entwickelt hatten. Die Erhöhung des internationalen politischen Gewichtes eines ökonomischen Krisenlandes hat dazu beigetragen, daß dieser Staat nicht wie vorgesehen von den Kernwaffen zügig Abschied nimmt. Eine kernwaffenfreie Ukraine sieht sich in der Gefahr, in eine relative Bedeutungslosigkeit abzurutschen, wie dies den meisten anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion bereits widerfahren ist. Die Kernwaffen werden, neben der Schwarzmeerflotte, vielfach als das sichtbarste Attribut der ukrainischen Staatlichkeit betrachtet. Aus dieser Perspektive ist eher das politische Verhalten Kasachstans und Weißrußlands bemerkenswert, nicht das der Ukraine.

Der Konflikt um die Kernwaffen in der Ukraine verläuft auf drei interdependenten Ebenen:

(1) Auf der innenpolitischen Ebene zwischen den politischen Gruppierungen im ukrainischen Parlament. Dort stehen sich teilweise unvereinbare Positionsdifferenzen gegenüber. Dazu besteht die Gefahr eines Bürgerkrieges und eines Auseinanderbrechens der Ukraine.

(2) Auf der bilateralen Ebene zwischen Rußland und der Ukraine. Sie ist geprägt durch die historischen Erfahrungen der Ukraine und die Perzeption einer existentiellen Bedrohung durch Rußland.

(3) Auf der multilateralen Ebene zwischen der Ukraine und den anderen START I-Vertragspartnern, speziell den USA und Rußland. Hier geht es um die vertragsgemäße Implementation der Vereinbarungen aus dem LP und die nachträglich damit verknüpften finanziellen und sicherheitspolitischen Bedingungen der Ukraine.

(ad 1) Die Wahlen vom 27.3. haben keiner parlamentarischen Gruppierung zum Sieg verholfen. Die Polarisierung im Parlament hat sich weiter verstärkt. Die Nichtverbreitungspolitik bleibt unklar und mehrere Szenarien sind denkbar. Wenn die radikal-nationalistischen Rechte die politische Macht übernehmen würde, bestünden wenig Aussichten für eine Verbesserung der politischen Beziehungen mit Rußland, und auch die Bemühungen der anderen Vertragsstaaten um eine START I-Implementierung und einen NPT-Beitritt der Ukraine blieben wahrscheinlich ergebnislos. Verlöre Kravtschuk die Präsidentschaftswahlen am 26.6.94 zudem an einen Vertreter der radikal-nationalistische Rechten, verschlechterten sich die Chancen für eine kernwaffenfreie Ukraine weiter. In diesem Fall wäre ein Szenario am wahrscheinlichsten, in dem die Ukraine versucht, die »positive Kontrolle« über die Kernwaffen zu erlangen und die perzipierte Bedrohung seitens Rußland nuklear abzuschrecken. Dann würden weder negative noch positive wirtschaftliche und politische Sanktionen die Ukraine zur Aufgabe der Waffen bewegen können. Eine Erweiterung des »nuklearen Schutzschirmes« auf die Ukraine durch die USA oder eine vollständige Denuklearisierung Rußlands wären hier mögliche, aber mittelfristig unwahrscheinliche Lösungsmöglichkeiten.

Bliebe die jetzige Regierung an der Macht, sind weitere Verzögerungstaktiken beim Abzug der Kernwaffen, verknüpft mit neuerlichen finanziellen und (sicherheits)politischen Forderungen, nicht auszuschließen.

Neben der Polarisierung in der Verkhovna Rada gefährden innenpolitische Konflikte speziell zwischen der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit (rund 40 Millionen) und der starken russischen Minderheit (etwa 14 Millionen) die staatliche Einheit der Ukraine und stellen einen weiteren Unsicherheitsfaktor hinsichtlich eines geordneten und planmäßigen Transfers aller Kernwaffen nach Rußland dar. Hinzu kommt die Wirtschaftkrise, die den sozialen Frieden gefährdet. Auch unter diesem Gesichtspunkt kann jede weitere Verzögerung des Denuklearisierungsprozesses folgenschwer sein.

(ad 2) Die Chancen für eine kernwaffenfreie Ukraine sind eng mit der politische Situation in Rußland verknüpft und müssen solange als gering eingeschätzt werden, wie die instabile politische Lage in Moskau anhält oder sich noch verschärft. Verbessern sich die diplomatischen Beziehungen zu Rußland und stabilisiert sich dort die politische Situation, würde auch die militärische Bedrohung im Parlament geringer eingeschätzt, was wiederum die Chancen für eine vertragsgerechte START-Implementierung und einen NPT-Beitritt erhöhen würde.

Die Sicherheitsbedürfnisse der Ukraine sind legitim und von der Regelung der Kernwaffenfrage nicht zu trennen. Das entscheidende Kriterium ist die ukrainische Perzeption. Die Notwendigkeit eines Schutzes gegenüber Rußland ist in Politik, Militär und der Bevölkerung weit verbreitet. Dies ist Ausdruck großen Mißtrauens gegenüber dem übermächtigen Nachbarn. Eine kernwaffenfreie Ukraine mit einem nuklear bewaffneten Rußland wird vielfach als existentielle Bedrohung empfunden. Eigene Kernwaffen sollen diese Unterschiede nivellieren.

Zudem vermindern Wahlerfolge von Parteien mit imperialistischen Ambitionen in Rußland, wie die der »Liberaldemokratischen Partei« von Schirinowski, die Aussichten auf bessere bilaterale Beziehungen. Wenn zudem der »Westen« die Ukraine sicherheitspolitisch nicht stärker einbindet, könnte sich die Ukraine um Alternativen bemühen, ihre nationale Sicherheit allein und gegebenenfalls mit Kernwaffen zu gewährleisten.

(ad 3) Die USA und Rußland haben mit dem trilateralen Abkommen und den zusätzlichen Sicherheitsgarantien gekoppelt mit finanziellen Anreizen erreicht, daß die Ukraine sich zu ihren Verpflichtungen aus dem LP erneut bekannt hat. Das trilaterale Abkommen wird vielfach als der letzte Mosaikstein bei der Konfliktlösung um die Kernwaffen in der Ukraine betrachtet.

Es ist aber fraglich, ob diese multilateralen Aktivitäten die anderen beiden Konfliktebenen hinreichend beeinflussen können, um die Umsetzung dieser Verpflichtungen zu gewährleisten.

Ist dies nicht der Fall, besteht die Gefahr, daß der Einfluß, der von den anderen beiden Ebenen auf die Gesamtproblematik ausgeht, dafür sorgt, daß die Chancen einer vertragsgemäßen Umsetzung nicht entscheidend steigen können. So kann auch das trilaterale Abkommen das ukrainische Mißtrauen gegenüber Rußland nicht beseitigen oder die innenpolitischen Positionsdifferenzen aufheben.

Eine enge sicherheitspolitische Kooperation mit dem Westen oder gar ein NATO-Beitritt der Ukraine würden erfolgversprechender darauf hinwirken können, daß eine nukleare Abschreckung gegen Rußland auch vom ukrainischen Parlament mehrheitlich nicht mehr als erforderlich perzipiert wird, ist aber wegen der politischen Reaktionen aus Rußland unrealistisch.

Um das Ziel einer kernwaffenfreien Ukraine erreichen zu können, ist eine erfolgreiche Bearbeitung der Konflikte auf allen drei Ebenen unabdingbar. Ein erster Schritt auf diesem Weg wären vertrauensbildende Maßnahmen zwischen der Ukraine und Rußland. Zweitens kann eine intensivere und gezieltere Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft dazu beitragen, den sozialen Frieden wiederherzustellen und einen Zerfall des Staates verhindern. Die bislang zugesagten Wirtschaftshilfen und Kredite sind nicht ausreichend.

Unter dem Gesichtspunkt, daß ein ukrainischer Bürgerkrieg jederzeit ausbrechen kann, sollten die Anstrengungen zur gleichzeitigen Regulierung aller drei Konfliktebenen unverzüglich verstärkt werden.

Ausblick

Die bestehenden Konflikte um die Kernwaffen in der Ukraine lassen nur wenige unzweifelhafte Aussagen über die künftige ukrainische Nichtverbreitungspolitik zu. Solange die innenpolitischen Verhältnisse in der Ukraine und Rußland so instabil bleiben, scheinen selbst bindende politische Vereinbarungen, inklusive des LPs und des trilateralen Abkommens, keine Gewähr dafür zu bieten, daß die Ukraine letztlich kernwaffenfrei wird (und bleibt). Die Ukraine ist innerhalb des nuklearen Nichtverbreitungsregimes derzeit kein verläßlicher Akteur.

Psychologisch betrachtet wird es immer schwieriger, die Ukraine von der Aufgabe der Kernwaffen zu überzeugen, desto länger sich Politiker, Militärs und Bevölkerung als Kernwaffenstaat wahrnehmen.

Da die Ukraine ihre abrüstungspolitischen Verpflichtungen bezüglich der SS-24 anders interpretiert als hinsichtlich der SS-19 und Bomber, können auch die ersten beiden Transfers von je 60 Sprengköpfen kein Indiz dafür sein, daß die Ukraine sich auf dem Weg zur Kernwaffenfreiheit befindet. Die modernen SS-24, die für sich allein ein Abschreckungspotential darstellen, werden den Kardinalpunkt in diesem Konflikt darstellen. Bleibt die bisherige Regierung an der Macht, sind weitere Verzögerungen verknüpft mit neuen Forderungen wahrscheinlich. Solche Verzögerungen können aber angesichts der instabilen innenpolitischen Situation in der Ukraine dazu führen, daß ein Bürgerkrieg in einem Staat mit Kernwaffen stattfindet. Kommt die extreme Rechte an die Macht, kann dies zu einer Konfrontation mit Rußland führen, bei der die dann in der Ukraine verbliebenen Kernwaffen die Art und Weise der Konfliktaustragung entscheidend prägen können.

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Anmerkungen

1) Arms Control Today, März 1994, S. 24. Zurück

2) Schröder, 1992, S. 46-47. Zurück

3) Bezüglich der Bomberanzahl und Sprengköpfe existieren unterschiedliche Zahlenangaben. Alle hier genannten Zahlenangaben beziehen sich auf: The International Institute for Strategic Studies, »Military Balance, 1993-1994«, London, October, 1993, S. 240-243. Zurück

4) Lockwood, April 1994, S. 20. Zurück

5) UNIDIR Newsletter, 1993, S. 31-32. Zurück

6) Magenheimer, 1993, S. 136. Zurück

7) In der CIS ist die Zerstörung der Kernwaffen aus technischen Gründen nur in Rußland möglich. Zurück

8) Magenheimer, 1993, S. 136. Zurück

9) Kiselyov, März 1993, S. 30. Zurück

10) Coll, 1993. Zurück

11) Potter, 1993, S. 101. Zurück

12) UNIDIR Newsletter, 1993, S. 53. Zurück

13) Lockwood, September 1993, S. 25. Zurück

14) IISS, 1993, S. 91. Zurück

15) Lockwood, September 1993, S. 30. Zurück

16) Trust and Verify, Oktober 1993, S. 1-2. Zurück

17) Trust and Verify, December 1993, S. 1. Zurück

18) Potter, 1993, S. 104. Zurück

19) Arms Control Today, März 1994, S. 23. Zurück

20) Arms Control Today, März 1994, S. 22-23. Zurück

21) Arms Control Today, April 1994, S. 20. Zurück

22) Sollte die Ukraine Kernwaffen behalten, wird die Wartung dieser Waffensysteme ein wesentliches Problem. Dabei figuriert das Material Tritium an prominenter Stelle. Da es sich um tritiumabhängige thermonukleare Kernwaffen handelt und Tritium mit einer jährlichen Rate von 5,5<0> <>% zerfällt, muß dieser Zerfall in bestimmten Zeitabständen kompensiert werden. Es befinden sich aber keine Tritiumproduktionsanlagen in der Ukraine. Siehe dazu: Colschen, 1994, S. 23-28. Zurück

23) Shapiro, 1994. Zurück

24) Potter, 1993, S. 102-103. Zurück

25) Kiselyov, März 1993, S. 30. Zurück

26) Lockwood, Mai 1993, S. 23. Zurück

27) Hoagland, 1993. Zurück

28) Reuter, 3. Dezember 1993. Zurück

29) UNIDIR Newsletter, Juni/September 1993, S. 48. Zurück

30) Magenheimer, Heinz, 1993, S. 38. Zurück

31) IHT, 20. April 1994. Zurück

32) Smith, 8.Juni 1993. Zurück

33) Goshko, Dezember 1993. Zurück

34) Lockwood, November 1993, S. 28. Zurück

35) Greenhouse, 5.-6.März 1994. Zurück

36) Bohlen, Januar 1993. Zurück

37) Katz, Oktober 1993. Zurück

38) Nelan, Juni 1993, S. 23. Zurück

39) Lockwood, Mai 1993, S. 24. Zurück

40) Hoagland, 1993. Zurück

41) Keeny, 1993, S. 2. Zurück

42) Im NACC kooperieren NATO-Staaten und die Mitglieder der früheren Warschauer Paktes auf militärischer Ebene. Zurück

43) Reuter, 2. Dezember 1993. Zurück

44) Diese NATO-Initiative soll die militärischen und politischen Beziehungen zu den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes weiter vertiefen. Zurück

45) Nelan, Juni 1993, S. 23. Zurück

46) Associated Press, 1.12.1993. Zurück

47) Arms Control Today, März 1994, S. 21. Zurück

48) Brown, 1993, S. 28. Zurück

49) Spiegel, November 1993, S. 168-169. Zurück

50) START II befindet sich in den USA seit dem 15.Januar 1993 und in Rußland seit dem 2.März 1993 in der parlamentarischen Beratung. Zurück

Lars C. Colschen ist Diplom-Politologe, seit 1990 Mitglied von IANUS/Darmstadt. Dienstliche Adresse: IANUS, Schloßgartenstraße 9, 64289 Darmstadt, Tel.: 06151-163016, FAX: 06151-164321.

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Sozialpsychologische Überlegungen

von Andreas Zick • Ulrich Wagner • Wolfgang Maser

Die Autoren nehmen im folgenden Stellung zur (sozial-)psychologischen Dynamik des Ideologieverlustes und der Wiederbelebung von »braunem Gedankengut« im Zusammenhang mit dem Ende der West-Ost-Konfrontation Stellung – vornehmlich mit Bezug auf die Länder Mittel- und Osteuropas. Zu dieser Thematik gibt es natürlich verschiedene Perspektiven, und eine sozialpsychologische Einschätzung kann nur eine unter vielen sein. Auch ist den Autoren bewußt, daß ihr Beitrag aus westlicher Perspektive erstellt wurde. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen eingeschränkten Sichtweisen, insbesondere aus einer östlichen Perspektive, ist erforderlich und erwünscht.

Die alten Systeme des Ostblocks waren nicht geliebt, und es ist zu vermuten, daß eine Identifikation mit den Systemen, vor allem in ihrer Endphase, bei den meisten Bürgerinnen und Bürgern der Staaten des ehemaligen Ostblocks kaum gegeben war. Das zeigen jedenfalls die Bilder: Erinnert sei an den Jubel der DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft, oder an die Szenen, die sich bei Öffnung der Mauer abspielten. Die Systeme hatten in vielen Staaten des Ostblocks zuvor scheinbar nur durch mehr oder weniger offenen physischen Druck ihre Existenz gesichert1; die Akten der Sicherheitsbehörden und der Versuch, die Bevölkerung zu gegenseitigen Spitzeln zu machen, zeugen davon. In der Endphase ihrer Existenz konnten die Ostblock-Staaten diese Kontrolle offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten, die Auflösung war damit programmiert.

Der Zusammenbruch des Ostblocks und seine Inszenierung wurden im Westen so vermittelt, als blieben in großer Zahl Menschen des Typus »Kaspar Hauser« zurück, Menschen ohne spezifische Sozialisationserfahrungen, die nun zu uns kämen, um sich darin unterweisen zu lassen, wie man sich die Errungenschaften westlicher Zivilisationen zunutze macht. Entsprechend äußerte sich der neue Bundespräsident aller Deutschen, Roman Herzog, noch 1994 in seiner ersten Rede am 23. Mai an die Ostdeutschen gerichtet: „Ich bin froh, daß Sie wieder bei uns sind.“ Bekehrungsmythen wurden aufgefrischt im Westen und im Osten, zumindest soweit die Debatte eine Kolonialisierung des europäisch-christlichen Teils des ehemaligen Ostblocks erfaßt. Herzog in derselbe Rede: „Und ich sage es an die Menschen in den neuen Bundesländern. Sie müssen begreifen (sic), daß Sie für uns (!) keine Last, sondern daß Sie für uns ein Gewinn sind.“ (unsere Hervorhebungen).

Selbst wenn den alten Systemen von ihren Bürgerinnen und Bürgern wenig Sympathie entgegengebracht wurde, so muß man dennoch davon ausgehen, daß die Lebensformen und -muster in den Staaten des ehemaligen Ostblocks Spuren in den Weltbildern hinterlassen haben, die durch den politischen Umbruch nicht einfach ausgelöscht sind.

Diese Spuren werden umso offensichtlicher, je deutlicher wird, daß sich die hohen Erwartungen und teilweise unrealistischen Hoffnungen im ökonomischen und ideellen Bereich für einen großen Teil der Bevölkerung vorläufig nicht werden einlösen lassen. Die Vorstellung, die Menschen des Ostens hätten nichts von ihrer Geschichte in ihre Biographie integriert, wird jetzt zunehmend von den meisten Beteiligten als Absurdität erkannt.

Eine gleichberechtigte Partizipation an den politischen Gestaltungsmöglichkeiten des neuen Gesamtsystems – wenn es denn ein solches wirklich gibt – wird zunehmend schwieriger: Zu viele Entscheidungsprozesse werden vom West-System abhängig, Entscheidungspositionen sind von Westlern besetzt; die Möglichkeit der Verhandlung über die Form eines gemeinsamen Systems erweist sich als eine kurzfristige Utopie der Übergangszeit. Das anvisierte Expertensystem, das zum Aufbau des Neuen installiert wird, ist nahezu ausschließlich westlich besetzt, personell wie ideologisch. Visionen weichen Krisenmanagements, die im wesentlichen nach ökonomischen Prinzipien vorgehen und folglich soziale Prozesse und Deformierungen nur soweit in Rechnung stellen, als deren Folgekosten unmittelbar abzusehen sind: So werden Ausschreitungen gegen Minderheiten in ihren ökonomischen Auswirkungen auf internationale Handelsbeziehungen verrechnet.

Die ursprünglichen Erwartungen sind vermutlich aber nicht nur gedämpft oder enttäuscht, sie sind in vielen Bereichen auch einer tiefen Hoffnungslosigkeit gewichen. Arbeitslosigkeit als Massenphänomen bespielsweise, in den sozialistischen Staaten früher weitgehend unbekannt und bei den Menschen nur als abstrakte Kategorie repräsentiert, wird nun plötzlich wesentlicher Bestandteil des eigenen Lebens und der persönlichen Zukunft, ihre ökonomischen und psychischen Konsequenzen gehören jetzt zur unmittelbaren Erfahrung, oder zumindest zur Bedrohung.

Umbruch und Identität

Die Zusammenbrüche im ehemaligen Ostblock haben ganz wesentlich auch Veränderungen tradierter sozialer Bindungen zur Folge. Dies gilt insbesondere für verschiedene Formen der Kollektivierung, der Gruppenzusammenschlüsse. Zugehörigkeiten zu makro- und mikrosozialen Gruppen sind identitäts- und selbstwertstiftend. Gruppen definieren die soziale Identität ihrer Mitglieder (Tajfel & Turner, 1986). Die makrosozialen Kollektive – die übergeordneten Systeme, der Ostblock, der Sozialismus – sind verschwunden. Auch sie waren vermutlich für die Selbstdefinition relevant, selbst wenn dies wenig bewußt war und geleugnet wird. Identitätsrelevant war der Zusammenschluß des Ostblocks vermutlich gerade deshalb, weil er sich wesentlich aus der Abgrenzung gegen den Westen definierte: Gruppen sind identitätsstiftend in ihrer Abgrenzung von anderen Gruppen; ein äußerer Feind verbindet2. Selbst wenn Bürgerinnen und Bürger des ehemaligen Ostblocks die scharfe, von der offiziellen Politik verabreichte Ost-West Dichotomie abgemildert und entdramatisiert haben mögen, ermöglichte eine solche Ost-West Dichotomie doch ein Bewußtsein von einer eigenen kollektiven Identität3, selbst dann, wenn man deren Attribute in bestimmten Bereichen, vornehmlich der Ökonomie, der politischen Partizipation und der Menschenrechtsfrage kritisierte.

Oberflächlich betrachtet scheinen vom Zusammenbruch des Ostblocks über die Auflösung der Ost-West Dichotomie hinaus nur solche Bindungssysteme betroffen zu sein, denen Verbindungen zum System nachgesagt wurden, Parteiinstitutionen und deren Einflußbereiche. Bei genauerer Analyse wird jedoch deutlich, daß von dem Wegfall der systemtragenden Organisationen auch andere Bindungssysteme berührt sind. In der ehemaligen DDR beispielsweise gab es verschiedene DDR-typische mikrosoziale Gruppierungen und Verbände, die bis zum Kleintierzüchterverein reichten, denen identitätsbildende Funktionen zugeschrieben werden müssen (Voigt & Meertens, 1992) und die die Bedürfnisse der Menschen nach Solidarität und Kontakt befriedigen konnten. Teilweise existierten solche Gruppierungen weitgehend unabhängig von den staatlichen Systemen, auch wenn diese ständig um die Kontrolle solcher mikrosozialen Einheiten bemüht waren, z.B. durch die Rekrutierung von Spitzeln. Mit der Auflösung der makropolitischen Konfrontation verschwanden auch viele dieser mikrosozialen Bindungssysteme.

Der beschriebene Prozeß der Auflösung traditioneller Bindungen wird verstärkt und beschleunigt durch Verarmung, Wanderung und das Umsichgreifen einer Ideologie der individuellen Aufwärtsorientierung. Auch diese Faktoren berühren unmittelbar die mikrosozialen Bereiche, d.h. den Austausch sozialer Beziehungen, ohne den Umweg über die makropolitischen Strukturen und deren Zusammenbruch (Beck, 1986). In einigen Lebensbereichen scheint es noch Ersatz zu geben. So z.B. in kirchlichen oder gewerkschaftlichen Organisationsformen, die an die Stelle ehemaliger Kollektive treten. Aber auch diese können nicht die Verluste für alle ausgleichen.

Welche Prognosen für die Zukunft ergeben sich, wenn die geschilderte Situation empirisch zutrifft? Zwei Entwicklungslinien zeichnen sich ab: Die Suche nach neuen Orientierungsmustern, vornehmlich auf der rechten Seite des politischen Spektrums, und die Rückbesinnung auf alte Strukturen und Werte. Zwischen diesen Entwicklungslinien gibt es eine Reihe von Ähnlichkeiten und Überlappungen, die wir hier jedoch nicht weiter verfolgen wollen (vgl. dazu z.B. Rokeach, 1960; Altemeyer, 1981).

Rechte Reaktionen

Im rechtsextremen politischen Spektrum und in der rechtsextremen politischen Szene bieten sich für viele Menschen, oftmals Jugendliche, neue Muster an, die eine hohe Orientierungs- und Identifikationsfunktion versprechen: Rechtsextreme Ideologien überzeugen vor allem durch die Einfachheit ihrer Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Entwicklungen, durch die Betonung von Ausgrenzung der Anderen (vgl. Adorno et al., 1950; Heitmeyer, 1987, 1989, 1990) bieten sie gleichzeitig die Chance zur Partizipation für diejenigen, die sich dem Kollektiv zurechnen können; rechtsextreme Ideologien üben soziale Kohäsionskräfte aus (vgl. dazu auch Schumann 1990; Siegler, 1992; Vollbrecht, 1992). Vor dem Hintergrund zunehmender Wanderungsbewegungen in der Welt wird sich Ausgrenzung vor allem gegen Einwanderer richten: Migranten »bedienen« die Ideologie der Einheit und die Propaganda der Bedrohung und Benachteiligung. Die Zurückweisung von Einwanderern schafft die Einheit derjenigen, die sich gegen diese Einwanderer glauben zur Wehr setzen zu müssen. Als besonders zynische Form der Ausgrenzung erweist sich eine Überzeugung, wonach gerade Zuwanderer die Ostdeutschen daran hindern, »richtige« Deutsche zu werden: Eine solche Ideologie suggeriert, daß die neuen Bürgerinnen und Bürger wenigstens im Bereich der Ausschließung sozialer Gruppen mitwirken dürfen.

Rechtsradikale Orientierungen stellen verlorene Kollektive scheinbar wieder zur Verfügung: Mit faktisch zunehmendem Ausschluß von der Partizipation wird auf nationale, ethnische und rassische Kollektive zurückgegriffen. Die Marginalisierten gewinnen wieder Mitgliedschaften, nationale und rassische Identitäten, und damit scheinbar psychische Sicherheit und Überlegenheit. Rechtsextreme Ideologien knüpfen an Deklassierungsgefühlen an, sie fallen damit vermutlich besonders bei den Verunsicherten und Benachteiligten des Ostens auf fruchtbaren Boden4. Da die Verarmung, die die Wanderungsbewegungen mit auslöst, nach Osten hin zunimmt, werden sich rechtsradikale Ausgrenzungen, Ablehnungen, Diskriminierungen und Aggressionen von den meisten geographischen Punkten aus weiter gegen »Ostler« richten.

Rückorientierungen

Die Rückorientierung und Besinnung auf tradierte, vormals möglicherweise abgelehnte Beziehungsstrukturen und Denkweisen, ihre zunehmend positivere Bewertung durch viele Bürgerinnen und Bürger des ehemaligen Ostblocks, zeigt sich in einer Reihe von Beispielen, wie der Unterstützung alter Seilschaften, politischen Reorganisationen oder auch nur im Wiederaufleben der Jugendweihe in den Neuen Ländern. Kollektive Rückbesinnung auf traditionelle Muster und Versuche zur Restauration alter Strukturen sind insbesondere dann wahrscheinlich, wenn Benachteiligung als kollektive Benachteiligung verstanden wird5 und wenn die Grenzen dieses von Benachteiligung betroffenen Kollektivs entlang der tradierten Staats- oder Ost-West-Grenzen gezogen werden. Ein solcher Prozeß scheint in vielen Bereichen des ehemaligen Ostblocks eingesetzt zu haben; er äußert sich auch in der in Deutschland geläufigen »Ossi-Wessi« Klassifikation.

Die Gefahr ist groß, daß Rekonstruktionen alter Systemgrenzen und Ideologien und die damit verbundene Ausgrenzung nach außen vom Westen aufgegriffen werden und in der expliziten Benennung und differenzierenden Behandlung dieser Randgruppen enden6. Wäre das die Konsequenz einer selbsteingeleiteten Abgrenzung, würde kollektive Diskriminierung damit auf Dauer zementiert. Die so verstärkten Deklassierungen ließen sich dann auch noch leichter als bisher mit nationalen, ethnischen oder rassischen Abgrenzungsstrategien verbinden und würden schließlich zu einer weiteren Hinwendung zu rechtsextremen Orientierungsmustern führen. Auf der anderen Seite könnten Rückbesinnungen und Rekonstruktionen aber auch ein solches Gewicht erlangen, daß sie politische Gestaltungskraft gewinnen und den Ausgang für Veränderungen darstellen7. Damit eröffnete sich vielleicht eine Möglichkeit, zumindest partiell eine demokratische Teilhabe aller Betroffenen an der politischen Gestaltung des propagierten gemeinsamen Ost-West-Systems zu gewährleisten.

Perspektiven: Partizipation und Universalität

Welche Zukunftsperspektiven ergeben sich aus dem beschriebenen Szenario? Wie sind zunehmende physische und psychische Benachteiligungen abzuwenden? Die Antwort ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren, von denen die meisten jenseits sozialpsychologischer Antworten liegen. Notwendige Voraussetzung für den Abbau von Benachteiligung ist natürlich der Ausgleich des ökonomischen Ost-West-Gefälles. Ökonomischer Ausgleich allein ist jedoch nicht hinreichend. Es ist nicht zu erwarten, daß lediglich die geographisch gleichmäßigere Verteilung der ökonomischen Ressourcen innerhalb des Gesamtsystems Anfälligkeiten für extremistische Ideologien austrocknet. Orientierungs- und Identitätsverluste werden durch ökonomische Verbesserungen der individuellen Lebenssituation allein kaum kompensiert; eine zunehmende ausschließliche Orientierung auf die Verbesserung der individuellen ökonomischen Lebenslage könnte sogar eine Zunahme von Orientierungsverlusten nach sich ziehen (Beck, 1986).

Eine Perspektive, wonach allein »der Markt« mit gespenstischer Eigendynamik die einzelnen Interessen zu einem Gesamtinteresse und zum »Glück aller« zusammenschmiedet (zu dieser Form des Sozialutilitarismus vgl. Rich, 1985; Nutzinger, 1986), ist nicht haltbar. Bei der Entwicklung einer gemeinsamen Perspektive ist auch solchen Gütern Rechnung zu tragen, die über die engere ökonomische Organisation des Lebens hinausgehen. Dies betrifft vor allem die Möglichkeit zur politischen Partizipation. Politische Partizipation zählt zu den ideellen Eckpfeilern politischer Kultur; sie umfaßt sowohl die Möglichkeit, sich als Bürger durch öffentliche Diskussionen an der Entscheidung gesellschaftlicher Bewegungsrichtungen zu beteiligen als auch die Mitwirkung von Verbänden, Gewerkschaften, Kirchen und vergleichbaren Gruppierungen unterhalb der makropolitischen Ebene.

Organisationen, Gruppen und Verbände sind Ausdruck einer pluralistischen Demokratie und Zeichen einer Akzeptanz von Multiperspektivität, auch wenn diese in den Staaten des ehemaligen Ostblocks z.T. in Mißkredit geraten sind.

Eine Rückorientierung auf wie immer definierte nationale Einheiten würde erhebliche kontraproduktive Anteile mit sich bringen, da eine solche Rückorientierung Affinitäten zu nationalistischen bis hin zu rechtsextremistischen Ideologien mit den darin enthaltenen Ausgrenzungsbestrebungen impliziert. Das bedeutet aber nicht, daß historisch gewachsene kulturelle Einheiten, Regionen, nicht wieder an Bedeutung gewinnen könnten und damit identitätsstiftend würden (Lilli, 1984). Notwendige Voraussetzung wäre aber, daß eine Besinnung auf Regionalität immer auch die gleichzeitige Orientierung auf das gemeinsame Ziel der Schaffung eines menschenwürdigen Lebens für alle beinhaltet8, innerhalb Europas und darüber hinaus.

Wer solche Formen politischer Diversität und Partizipation bejaht, kann den beteiligten Bürgern natürlich nicht vorschreiben, welche inhaltlichen Maßgaben sie in die zukünftige gemeinsame Geschichte einzubringen haben. Für die Bürger des Ostens gilt ebenso wie für die des Westens ausschließlich eine Minimalforderung: der Verzicht auf die gewaltsame Durchsetzung von Gruppeninteressen, die Akzeptanz des Pluralismus und der öffentlichen Diskussion. Die Antworten auf Fragen danach, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, welche politischen, sozialen und ökologischen Verhältnisse wir an die zukünftigen Gesellschaften weitergeben wollen usw., sind weitgehend offen. Man wird allerdings erwarten müssen, daß sich die Positionen nicht mehr wie bislang nach westlichen versus östlichen Einstellungen kategorisieren lassen. Wenn das gelänge, würden Schritte in Richtung auf eine Integration gegangen, eine Integration, die eben nicht unilaterale Assimilation meint, sondern eine Entwicklung in eine zivile Gesamtgesellschaft (Walzer, 1987, 1992a, 1992b), einer Gesellschaft mit offenen und konfliktorientierten Debatten über mögliche gemeinsame Ziele.

Der zu Zeiten der Existenz des Ostblocks staatlich geltend gemachte klassenorientierte und verengte Internationalismus könnte etwa in modifizierter Form zu einem wichtigen Impuls einer gemeinsamen politischen Kultur werden, enthielt er doch die auch in Teilen des Westens reklamierte Menschenrechtsperspektive einer universalen Verantwortung, die als notwendige Korrektur von Selbstinteresse fungieren sollte (vgl. Huber & Tödt, 1988). In Zeiten des Systemvergleichs stritt man darum, ob die individuellen oder die sozialen Menschenrechte den Kern ausmachten. Teilweise wurden diese in unterschiedlichen Menschenrechtspakten (Heidelmeyer, 1992) verabschiedet und dienten der Legitimation des jeweiligen Systems, das sich so die moralische Überlegenheit auf die Fahnen schrieb (Maaser, 1992). Der Zusammenbruch der politischen Blöcke bietet jetzt die Chance einer ideologischen Entlastung.

Literatur

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Anmerkungen

1) French & Raven (1959) unterscheiden verschiedene Grundlagen für die Machtausübung (vgl. auch Raven, 1992). Ein wichtiges Merkmal von Machtausübung auf der Basis von Bedrohung und Bestrafung ist, daß die Kontrollierten zur Machterhaltung ständig zu überwachen sind. Im Gegensatz dazu ist Machtausübung auf der Basis von Identifikation mit dem Machtapparat von Überwachung relativ unabhängig. Die Beeinflußten folgten auch dann, wenn keine unmittelbare Kontrolle und die damit implizierten Sanktionsmechanismen gewährleistet sind. Zurück

2) Kollektive wie staatliche Systeme oder Blöcke können als Gruppen beschrieben werden (Turner et-al., 1987; Wagner & Zick, 1989). Potentielle Gruppenmitglieder identifizieren sich um so stärker mit ihrer Gruppe, je stärker sie diese durch äußere Feinde bedroht sehen (Wagner & Ward, 1993). Gleichzeitig grenzen sie sich zunehmend von fremden Gruppen, Staaten, Blöcken ab (Sherif & Sherif, 1969; Tajfel & Turner, 1986). Zurück

3) Dieselbe Argumentation gilt natürlich auch für die westlichen Staaten. Zurück

4) Die Verbreitung rechtsradikaler Überzeugungen ist natürlich nicht allein ein Problem des Ostens. Spielen bei ihrer Genese im Osten vermutlich reale ökonomische Verlusterfahrungen eine wichtige Rolle, stehen im Westen eher Befürchtungen von Wohlstandsverlusten im Vordergrund. Zurück

5) Die Theorie Relativer Deprivation unterscheidet zwischen individueller und kollektiver Relativer Deprivation (Runciman, 1966; Gurr, 1970; zur Übersicht vgl. auch Taylor & Moghaddam, 1987). Die individuelle Deprivation, d.h. die Empfindung individueller Benachteiligung, ist mit psychischen und psychosomatischen Schwierigkeiten verbunden. Die kollektive Deprivation, die Empfindung von Benachteiligung für Kollektive, zu denen ein Gefühl der Zugehörigkeit besteht, ist dagegen mit politischen Aktivitäten verbunden (z.B. Walker & Mann, 1987). Zurück

6) Der Labeling Approach (z.B. Stryker, 1981) beschreibt, wie als Abweichler Klassifizierte erst infolge einer solchen Klassifikation zu Abweichlern werden. Zurück

7) Moscovicis (1979) Theorie zum Minderheiteneinfluß liefert wichtige Hinweise für die Durchsetzung solcher Strategien. Zurück

8) Die Einführung gemeinsamer übergeordneter Ziele hat sich als erfolgreiche Strategie zur Reduktion von Intergruppenkonflikten erwiesen (Sherif & Sherif, 1969; Hewstone & Brown, 1986). Der britische Sozialpsychologe Rupert Brown hat darüber hinaus experimentell dokumentiert, daß die Verfolgung eines gemeinsamen übergeordneten Ziels durch zwei oder mehr Gruppen besonders dann zur Konfliktreduktion beiträgt, wenn die originären Beiträge der beteiligten Gruppen identifizierbar bleiben (vgl. z.B. Brown & Wade, 1987). Auf diese Weise wird eine Gefährdung der sozialen Identität, die über die Gruppenmitgliedschaft definiert sind, durch die Auflösung der Gruppengrenzen vermieden. Wir halten eine solche Strategie zwar im Grundsatz für sinnvoll, sie ist in der Realität aber problematisch: Zu lange hat ein Südafrikanisches Apartheidsystem die Ausgrenzung von Schwarzen genauso begründet. Zurück

Andreas Zick, Universität Gesamhochschule Wuppertal, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften; Ulrich Wagner, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Psychologie; Wolfgang Maser, Ruhr-Universität Bochum, Evangelisch-Theologische Fakultät

Friedenswissenschaft und Kalter Krieg

Friedenswissenschaft und Kalter Krieg

Politische Impulse und wissenschaftliche Erträge

von Corinna Hauswedell

Welche Fragen stellen und welche »Lehren« ziehen FriedensforscherInnen und in der Friedensthematik engagierte WissenschaftlerInnen anderer Disziplinen nach dem Wegfall eines ihrer zentralen Gegenstände, und wie reflektieren sie rückblickend ihre Ansätze und Methoden in der Bearbeitung desselben? Die Antworten werden keine Aussagen über die Friedensforschung erlauben, erhellen aber mindestens Trends und Kontroversen in einer – nach 25 Jahren erneut – um ihre Existenz wie um ihr kritisches Potential besorgten Wissenschaftsrichtung.

Die Diskussion über eine Neubewertung des Kalten Krieges und seiner einzelnen Dimensionen, ist im Gange. Manche Fragen, besonders die, welche Rolle die konfrontativen bzw. die kooperativen Aspekte für die insgesamt unerwartete Transformation der bipolaren Weltkonstellation von 1949-1989 gespielt haben, können erst nach Öffnung der Archive tiefergehend beantwortet werden. Für den vorliegenden Beitrag wurde 1992 eine Befragung unter vierzig FriedenswissenschaftlerInnen durchgeführt, die sich meist seit vielen Jahren mit Aspekten des Themas befaßt haben1.

Friedensforschung zwischen »oben« und »unten«

„… Friedensforschung … ist erst im Atomzeitalter entstanden. Erst als die Möglichkeiten der Vernichtung so ungeheure Dimensionen angenommen hatten, daß keine Verblendung mehr über die Irrationalität von Krieg hinwegtäuschen konnte, begannen kleine Gruppen von Wissenschaftlern…“ 2. Vielleicht liegt bereits im zeitlichen Abstand zu der Gründungsursache, die Georg Picht in seiner bekannten Taufansprache „Was heißt Friedensforschung“ 1971 nannte, ein Problem für die Friedensforschung, das sie bis heute begleitet: Der Widerspruch zwischen als notwendig erkannter Fundamentalkritik an Militär und Krieg einerseits und pragmatischer Einflußnahme auf eine weiterhin konfliktträchtige Wirklichkeit andererseits. Als am Ende der sechziger Jahre in Deutschland Friedensforschung institutionalisiert wurde, war der Ost-West-Konflikt zur globalen atomaren Bedrohung eskaliert. In den USA hatten zwei Jahrzehnte Kalter Krieg neben einer militärkritischen auch eine starke den Status quo begleitende arms-control-Forschung hervorgebracht, an die es Anschluß zu gewinnen galt. Daß die deutsche Friedensforschung als „Kopfgeburt“ begann, bei der die „Regierung als Mäzen“ (E.-O. Czempiel) auftrat, und der „Übervater Heinemann“ (U. Albrecht) das Geleit übernahm, schwächte nach Meinung mancher FriedensforscherInnen von Beginn an den moralischen Impuls einer neuen auch auf Alternativen in der Politik gerichteten Wissenschaftsrichtung3. Gleichwohl bedeuteten frühe Beiträge wie die von Dieter Senghaas zum System der Abschreckung oder von Ekkehart Krippendorff zum Verhältnis von Militär und Staat eine kritische, auch Utopiebildung einschließende Grundlegung der Friedensforschung. Mit der Diskussion um das „System organisierter Friedlosigkeit“ 4 wurde in der Disziplin der Internationalen Beziehungen die Infragestellung der Rüstungsdynamik eingeleitet (E. Jahn)5. Zahlreiche Untersuchungen zum militär-industriellen Komplex, die Neugründung der Kriegsursachenforschung6, aber auch Johan Galtungs Einführung der Kategorie der »strukturellen Gewalt«7 wiesen über den Ost-West-Konflikt hinaus, indem innergesellschaftliche Herrschaftsstrukturen und Dominanzverhältnisse, aber auch der Nord-Süd-Konflikt thematisiert wurden.

Im Verlauf der siebziger Jahre etablierten sich, gefördert von der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK), die beiden Forschungsschwerpunkte Ost-West-Konflikt und Nord-Süd-Konflikt. Manche FriedensforscherInnen sehen mehr innovative Impulse in der Nord-Süd-Konflikt-Forschung, vor allem bedingt durch Galtungs Thesen und die Dependenzia-Theorien der Dritte-Welt-Forschung (z.B. L. Brock). Im Ost-West-Konflikt-Schwerpunkt bildeten sich mit der Kritik der Rüstungsdynamik (vor allem in der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, HSFK) und der Konzeptionierung der Entspannungspolitik in Europa (vor allem im Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, IFSH) zwei Themenfelder heraus, in denen zwar mit den Denkmustern und Strategien des Kalten Krieges gebrochen, aber die Ost-West-Blockkonstellation nicht prinzipiell in Frage gestellt wurde (C. Rix). Konfliktregulierung, nicht Konfliktlösung (W. Link), wurde unbewußt oder gewollt eine Maxime friedenswissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Kalten Krieg. Der Anspruch vieler Friedensforscher, „Veränderungswissenschaft“ (E. Jahn) zu betreiben, wurde so sehr bald pragmatisch verkürzt. Zahlreiche produktive Einzelstudien zu den verschiedenen Aspekten der waffentechnischen Entwicklung, des Rüstungswettlaufs und seiner Begrenzung entstanden ebenso wie eine umfangreiche Begleitforschung zur Entwicklung einer Sicherheits- und Friedensstruktur in Europa8.

Schwerpunktbildung und Themenwahl waren in starkem Maße bedingt durch die international einzigartige staatliche Anbindung der deutschen Friedensforschung und ihre Prägung durch die sozialliberale Regierungspolitik9. Das doppelte Dilemma dieser besonderen Politiknähe, angreifbar zu sein sowohl von nichtstaatlichen, auf größere Unabhängigkeit drängenden Kritikern als auch aus den Reihen der konservativen Opposition, wurde zu einem Merkmal deutscher Ost-West-Konfliktforschung. Ein wirkungsgeschichtlich interessanter Blick in die Pressearchive der Friedensforschungsinstitute zeigt, daß den Medien der seit 1973 vorwiegend zwischen SPD und CDU geführte Streit um die Inhalte und Förderungspraxis der DGFK häufig eine umfangreichere Berichterstattung wert war als die Themen der Friedensforschung.10

Zu einfach erscheint es m.E. jedoch, die Friedensforschung entweder nur noch als „Legitimationsdisziplin“ wahrzunehmen oder ihren zunehmenden „Alibicharakter“ zu beklagen11 greift m.E. zu kurz. Einerseits konnten, wie noch zu zeigen sein wird, gerade wegen ihrer Politiknähe manche Forschungsbeiträge zumindest mittelbaren Einfluß nehmen auf den friedenserhaltenden Aspekt der Status-Quo-Politik. Die DGFK-geförderten Institutsprofile, das IFSH explizit politikberatend (nicht erst seit der Übernahme durch den SPD-Politiker Egon Bahr 1985) und auf europäische Sicherheitspolitik konzentriert, die HSFK stärker auf den akademischen Backround der Frankfurter Universität und »Schule« bauend und thematisch breiter angelegt, halfen, eine kleine kenntnisreiche Gruppe von SpezialistInnen und ein entsprechendes Know-How zu entwickeln. So resümieren heute selbst Kritiker in der Friedensforschungsgemeinde: „In den 70er Jahren hat die Friedensforschung dazu beigetragen, die auf geradezu skandalöse Weise parlamentarisch nicht hinterfragte Monopolexpertise der professionellen Militärs zu durchbrechen.“ (P. Lock). Beiträge zu einer friedenswissenschaftlichen Professionalisierung leisteten in einer gewissen Abgrenzung zu den Ost-West-Mainstream-Themen auch andere Einrichtungen; so die kirchlich getragene Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), die schon früh den vor allem politikwissenschaftlichen Ansatz der DGFK als zu eng kritisierte (F. Solms, C. Eisenbart). Auch in dem von Carl Friedrich von Weizsäcker geleiteten Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt entstanden zahlreiche Arbeiten, die über die aktuelle Politik hinauswiesen12. Von der Berghof-Stiftung gefördert wurden in den 70er Jahren bereits Untersuchungen zur grundlegenden Bewertung von Rüstung, Militär und Gesellschaft in Ost und West; zudem entstand hier (wie auch im Rahmen der HSFK) ein eigener Zweig „Friedenspädagogik und Konfliktbearbeitung“, der Friedenserziehung sowie die Vermittlung friedenswissenschaftlicher Ergebnisse für eine breitere Öffentlichkeit neu akzentuierte.

Bei aller Vielfalt der Ansätze und trotz der Leistung der Friedensforschung, „den Paradigmenwechsel vom Sieg im Ost-West-Konflikt zur friedlichen Konfliktbearbeitung“ (E.-O. Czempiel) mitvollzogen zu haben, war um 1980 der gesellschaftverändernde Anspruch der Frühzeit deutlich zurückgegangen. Utopieverlust, pragmatischer Forschungsalltag und institutionelle Segmentierung wurden zwar im Rahmen der Jahrestagungen der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) immer wieder kritisch reflektiert; aber es gelang beispielsweise nicht, jenseits der geförderten Institutsstrukturen in größerem Umfang an den Hochschulen in Forschung und Lehre Fuß zu fassen. Die wenigen Lehrstühle in Friedensforschung entstanden fast alle in der Politikwissenschaft im Bereich der Internationalen Beziehungen. Zwar mochten strukturelle Hemmnisse im Wissenschaftsbetrieb der Bundesrepublik interdisziplinäre Ansätze besonders benachteiligen – in den USA gab es eine andere Entwicklungstendenz13 –, aber auch die individuellen Möglichkeiten von WissenschaftlerInnen für eine Integration friedenswissenschaftlicher Themen im jeweiligen Fach wurden nicht immer genutzt.

Die 80er Jahre

Gegenüber den erkennbaren Anstößen in den 70er Jahren „spielte die Friedensforschung in 80er Jahren keine innovative Rolle, sie hechelte der Poltik hinterher“ (E. Jahn). Die frühen 80er Jahre waren durch eine Schwächung der institutionellen Friedensforschung bei gleichzeitiger politischer Zuspitzung der Ost-West-Konfrontation und einer immensen Belebung der öffentlichen friedenspolitischen Diskussion gekennzeichnet. Die damaligen Kontroversen über die Situationsbeurteilung (Abschied von der Entspannung, zweiter Kalter Krieg) widerspiegelten die (teilweise bis heute anhaltenden) Unsicherheiten der Friedensforschung über den Stellenwert von Konfrontation und Kooperation im Ost-West-Konflikt (C. Rix). Daß in der Opposition gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen erneut die Kritik der nuklearen Abschreckung Pate stand, und dies schließlich den sicherheitspolitischen Konsens in der Bundesrepublik so nachhaltig erschütterte, hielt die Friedensforschung gegenüber der vehement agierenden Friedensbewegung eher auf Distanz. Man wollte das Rad nicht noch einmal neu erfinden (B. Kubbig, G. Krell). Eine strikte Trennung zwischen akademischer Forschung und Bewegung hielt man auch der Wissenschaftlichkeit der Ergebnisse wegen für unerläßlich (E.-O. Czempiel). Friedenswissenschaftliche Arbeiten wurden zwar zu einer „wichtigen Ressource für die Medien“ (U. Albrecht) und prägten so den „elaborierten öffentlichen Diskurs der 80er Jahre“ mit (F. Solms); und punktuell stellten Friedensforscher ihr Spezialwissen auch in Aktionen der Friedensbewegung zur Verfügung. Explizit war »Handlungsorientierung« die Leitlinie des 1982 von Alfred Mechtersheimer gegründeten Forschungsinstitut für Friedenspolitik in Starnberg. Die Krise der vor allem »nach oben« orientierten Friedensforschung wurde dagegen in der Schließung der DGFK (1983) durch die neue konservative Bundesregierung manifest: eine politische Gründung wurde – unter veränderten politischen Vorzeichen – wieder aufgehoben (K.-H. Koppe).

Fast zur gleichen Zeit entstanden aus der Friedensbewegung heraus an akademischen Disziplinen orientierte Wissenschaftler-Initiativen, vorwiegend aus den nicht sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen: die Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW), die Naturwissenschaftler-Initiative Verantwortung für den Frieden, das Forum InformatikerInnen für gesellschaftliche Verantwortung (FIFF), die Initiativen der PsychologInnen, PädagogInnen und KuturwissenschaftlerInnen. Sie verstanden sich zwar meist (zumindest zunächst) nicht als Teil der Friedensforschung (E. Richter, H.-P. Dürr, A. Schaper, P. Starlinger), entwickelten aber neben ihrem unmittelbaren friedenspolitischen Engagement eine umfangreiche friedenswissenschaftliche Tätigkeit mit spezifischen Merkmalen. Dazu zählten die Einrichtung multidisziplinärer Ringvorlesungen an den Hochschulen, die Entwürfe von Seminarprogrammen für den Lehrbetrieb der jeweiligen Fächer, die Implementierung fachübergreifender Forschungsprojekte. Während zum Zeitpunkt der Gründung dieser Initiativen in der etablierten Friedensforschung die gleichen Berührungsvorbehalte wie gegenüber der Friedensbewegung vorherrschten, überwiegt in Rückblicken eine positive Würdigung dieser Initiativen (z.B. E. Bahr, D. Lutz). Anerkannt werden vor allem ihre aufklärerische Wirkung in der Öffentlichkeit, aber auch fachliche Innovationen u.a. in der Kriegsfolgenanalyse, Feindbildperzeption, Rüstungstechnikkritik und Konversion. Neben den aktuellen politischen Gründen und moralischen Motiven, die zahlreiche Wissenschaftler zu dieser neuen kritischen Befassung mit Rüstung und Krieg veranlaßten, waren es m.E zu Beginn der 80er Jahre Themenkomplexe wie die ökologischen und technologischen Implikationen (nicht nur) der Rüstungsdynamik, die einen disziplinären Zuwachs über das vorwiegend sozialwissenschaftliche Know-How der Friedensforschung hinaus auf den Plan riefen.

Die Ausarbeitung der Gemeinsamen Sicherheit, ein Auftrag aus der Politik an die Friedensforschung (E. Bahr), aber auch Arbeiten an einzelnen Sicherheitskonzepten wie der Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit (H.-P. Dürr) wiesen auf Alternativen zur Raketenstationierung hin, ohne freilich – insofern eine Parallele zu den 70er Jahren – die Auflösung der Blöcke zu antizipieren. Während dies Teile der Friedensbewegung nach 1983 forderten, sahen manche FriedensforscherInnen darin eine „Gefährdung des Status quo“ der relativen Sicherheit (C. Rix). Andere Anstöße aus der Friedensbewegung werden allerdings von vielen FriedenswissenschaftlerInnen, vor allem der jüngeren Generation, nicht bestritten: Die verstärkte Aufnahme sozialpsychologischer Fragen (H.-M. Birckenbach), Feindbildforschung, die zivillogische Kritik am Militär (W. Vogt), die Betonung der Analyse der gesellschaftlichen neben den zwischenstaatlichen Konflikten (C. Rix). Hierzu gehört auch die Begründung feministischer Forschungsansätze in der Friedensforschung (E. Senghaas-Knobloch, H.-M. Birckenbach)14. Eine Auffächerung der Fragestellungen, eine beginnende Kooperation zwischen institutioneller Friedensforschung und den WissenschaftlerInnen-Initiativen15 begleiteten einen Selbstverständigungsprozeß in der Friedensforschung am Ende der 80er Jahre16. Rückblickend stellen manche FriedensforscherInnen die Frage, ob nicht eine stärkere Zusammenarbeit mit den nichtstaatlichen Akteuren der sozialen und Bürgerbewegungen in West und Ost den FriedensforscherInnen eine größere Nähe zu den politischen Umbrüchen am Ende des Kalten Krieges ermöglicht hätte (u.a. E. Krippendorff, U. Albrecht).

Politische Denkansätze, Alternativkonzepte, Bewußtseinswandel

In keinem Punkt stimmten die GesprächspartnerInnen der Befragung so weitgehend überein wie in der Skepsis gegenüber dem generellen politischen Einfluß der Friedensforschung auf die Politik. Mittelbare Einflüsse, Beiträge zu einer politischen Klimaveränderung mit Rückwirkungen sowohl im Handeln der Entscheidungsträger als auch im öffentlichen Bewußtsein sind unumstritten. Aber selbst da, wo FriedensforscherInnen mit der erklärten Absicht der Einflußnahme den Weg der Politikberatung erfolgreich beschritten – im internationalen Rahmen ist hier z.B. die Gutachtertätigkeit von WissenschaftlerInnen des Stockholm International Peace Research Institutes (SIPRI) für Studien der UNO zu nennen (L. Brock, H. Wulf) –, sind der Wirkungsanalyse unter anderem aus Opportunitätsgründen der Verschwiegenheit Grenzen gesetzt.

Selbstkritisch wurde von manchen Friedensforschern ein zu geringes Engagement für die öffentliche Propagierung der eigenen Ergebnisse anläßlich konkreter politischer Ereignisse bilanziert; so stellte Karlheinz Koppe im Interview die Zurückhaltung der AFK in der Arbeit mit öffentlichen Erklärungen, Memoranden etc. den umfangreichen Kampagnen der Initiativen der NaturwissenschaftlerInnen und der IPPNW gegenüber17. Die politische Wirkung des seit 1987 einmal im Jahr gemeinsam von den drei Instituten HSFK, FEST, IFSH herausgegebenen Friedensgutachtens liegt weniger in seiner politikberatenden als vor allem in seiner Funktion als Medienressource.

Die folgenden Skizzen politischer Impulse der Friedensforschung im Kalten Krieg spiegeln die hier aufgeführten Probleme der Wirkungsanalyse. Die Beispiele sind zu einem Teil der institutionellen Friedensforschung, zu einem anderen den Wissenschaftler-Initiativen zuzurechnen.

Die Konzeption der »Gemeinsamen Sicherheit«

Das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit, das seinen ersten politischen Ausdruck im Palme-Bericht 1982 fand, ist vielleicht das in seiner Entstehungsgeschichte typischste Produkt einer »von oben« induzierten Friedensforschung. Egon Bahr, verwies auf den politischen Impuls von Olof Palme 1980, der ihn, Bahr, als Politiker und Noch-Nicht-Friedensforscher aufforderte, „über die Gesetze der Sicherheit im Atomzeitalter neu nachzudenken“. Das IFSH orientierte seinen Forschungsschwerpunkt in den 80er Jahren vorrangig an diesem Thema. Viele KollegInnen würdigen zwar den Beitrag zur »Klimaveränderung« und die „Umdefinition von Sicherheit auf Frieden“ (E. Jahn), die Kritik richtet sich aber zugleich auf das Befangenbleiben in der militärischen Dimension des Konflikts, bemängelte, daß die Gemeinsame Sicherheit keine über die Blockkonstellation hinausweisende friedenspolitische Strategie aufwies18. Das erste politische Produkt, die Arbeit der Palme-Kommission, bezeichnet Olof Palme im Vorwort nichtsdestoweniger als „einzigartig“, weil erstmals Vertreter aus Ost, West, Nord und Süd zu einer Gefahrenanalyse zusammenkamen.

Im deutsch-deutschen Dialog inspirierte das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit ab etwa 1986 die Einrichtung einer staatlich geförderten Friedensforschung in der DDR, die sich weitgehend auf dieses Thema konzentrierte19. Aber auch im politischen Bereich bei der Erarbeitung des Papiers von SPD und SED für eine gemeinsame Streitkultur von 1986/87 ist die gedankliche Patenschaft der Gemeinsamen Sicherheit – bis hin zur Namensgebung – unverkennbar. Daß der letzte Außenminister der DDR, Markus Meckel, 1990 den Friedensforscher Ulrich Albrecht zum Leiter seines Planungsstabes machte, sagt indirekt auch etwas über das Wirken dieser Konzeption.

Egon Bahr berichtete, eine Begegnung mit Michail Gorbatschow im Frühjahr 1986 habe ihn den Eindruck gewinnen lassen, daß wohl auf dem Wege über das Mitglied der Palme-Kommission Georgij Arbatov der Kreml-Chef näher mit der Gemeinsamen Sicherheit bekannt wurde und dies dann zu seiner eigenen Sache gemacht habe.

Das »Neue Denken«

Dem Einfluß der Friedenswissenschaft auf das »Neue Denken« in der Sowjetunion nachzugehen, erscheint besonders interessant, da hier die Weichen für die schließliche Beendigung der Ost-West-Konfrontation gestellt wurden. Sowohl aus den Reihen der etablierten Friedensforschung (u.a. E. Bahr, U. Albrecht) als auch seitens einzelner Wissenschaftler aus den Initiativen (H.-P. Dürr, E. Richter) wurden in den Interviews Anstöße und Ebenen der Begegnung identifiziert, die auch von sowjetischen Zeitzeugen in ähnlicher Weise interpretiert werden. Hans-Peter Dürr berichtete über seine Mitarbeit in einer sowjetischen Physikergruppe unter Leitung von Jewgenij Welichow, dem Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften in Moskau, in der seit 1985, auch gestützt durch amerikanische Wissenschaftler, das SDI-Konzept kritisiert und die Problematik Gorbatschow nahegebracht wurde. Ein wichtiger Impuls für die Verlängerung des atomaren Teststops durch Gorbatschow sei vom 6.Weltkongreß der IPPNW im Juni 1986 ausgegangen20. Valentin Falin sagte für die Zeit ab etwa 1982, „in der Sowjetunion waren die Steine weicher“, und meint den Einfluß von Friedensbewegung und Friedenswissenschaft21. Gorbatschow führt selbst als eine für diese Erfahrung wichtige Quelle das internationale Moskauer Forum mit dem Titel „Für eine Welt ohne Kernwaffen – Für das Überleben der Menschheit“ im Februar 1987 an: „..(dort)…hatte ich Gelegenheit, Stimmung, Gedanken und Ideen einer internationalen intellektuellen Elite kennenzulernen… Ich habe über die Ergebnisse des Kongresses mit meinen Kollegen vom Politbüro gesprochen, und wir haben beschlossen, einen wichtigen Kompromiß zu machen: Das Paket von Reykjavik aufzuschnüren und das Problem der Mittelstreckenraketen in Europa von anderen Problemen zu trennen“ 22. Welche Rolle diese in der internationalen Politik ungewöhnliche Bereitschaft Gorbatschows, Stimmen »von unten«, und zwar Antworten, nicht nur Fragen, wahrzunehmen (E. Richter), für die Beendigung der Konfrontation gespielt hat, wäre im einzelnen, auch nach Öffnung der Archive zu klären.

Alternative sicherheitspolitische Konzepte

Auf einer anderen Ebene liegen friedenswissenschaftliche Impulse für einzelne alternative politische Konzepte, vor allem im Bereich der Abrüstung bzw. Rüstungskontrolle, deren positive Bewertung eben wegen des damit verbundenen Pragmatismus auch umstritten ist.

Immer wieder genannt wurde in der Befragung die Internationale Pugwash-Bewegung, der es u.a. wegen der Beteiligung amerikanischer und sowjetischer Naturwissenschaftler gelang, im Klima des Kalten Krieges auf informellen Wegen Einfluß auf einige der Rüstungskontrollabkommen der 60er und 70er Jahre zu nehmen. Gedankliche Vorarbeiten zum Atomwaffensperrvertrag kamen z.B. schon in den späten 50er Jahren aus den Reihen von Pugwash (K.-H. Koppe). Die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, bei der es traditionell eine tendenzielle Kooperation der Regierungen der „Großen“ gab (C. Eisenbart), ist schon früh von friedenswissenschaftlichen ExpertInnen begleitet worden23. Und so sehr die Erörterung dieses Themas immer durch die Hegemoniepolitik der beiden Hauptkontrahenten im Ost-West-Konflikt geprägt war, wies sie durch die Nord-Süd-Dimension sowie die technologischen und die ökologischen Aspekte immer darüber hinaus (C. Eisenbart).

Ein Beispiel für das Zusammenwirken von Friedensforschern und friedensbewegten Naturwissenschaftlern ist die Arbeit an Konzepten der defensiven Verteidigung, die dann zu der politikfähigen Ausformung der sogenannten Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit (STRUNA) führte24. Dürr erinnerte an die Zusammenarbeit an diesem Thema mit Albrecht von Müller und Horst Afheldt am Weizsäcker-Institut in Starnberg im Rahmen einer Arbeitsgruppe der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) seit 1982Fn25. Früh und „mit großer Resonanz“ seien Ergebnisse an ausgewählte Politiker herangetragen worden; der Versuch, das Thema im Rahmen des ersten Naturwissenschaftler-Kongresses 1983 im Mainz zu plazieren, habe dort eine ähnliche Abwehr provoziert – „Keine Umwege über Umrüstung“ – wie bei manchen FriedensforscherInnen. Hans-Peter Dürr erläuterte sein Verständnis dieser Arbeit wie folgt: Die damalige Diskussion zwischen Wissenschaftlern und Militärs der westlichen und östlichen Seite über Streitkräftestärken habe überraschend weitreichend die gegenseitigen Bedrohungswahrnehmungen und ihre Hintergründe offengelegt. Vieles spräche dafür, wenn man der Rüstungsdynamik und möglichen Gegenstrategien auf die Spur kommen wolle, die beiden Ebenen, das »Erbsenzählen« einer schrittweisen Reduktion von Waffenpotentialen mit einer weitergehenden Bewußtseinsveränderung in Richtung vollständiger Abrüstung nicht für unvereinbar zu halten.

Einige Grundgedanken der STRUNA haben in Form der Vorsorge vor Überraschungsangriffen Eingang gefunden in das Mandat und die Verträge der Wiener VKSE-Verhandlungen. Dies gilt auch für Ergebnisse der seit Mitte der 80er Jahre an der Bochumer und Hamburger Universität vor allem von Physikern und Völkerrechtlern betriebenen interdisziplinären Verifikationsforschung26.

Mit Sicherheit gibt es mehr Beispiele dafür, daß Friedenswissenschaft besonders auch in Abrüstungsverhandlungen nicht wirksam wurde. Forderungen nach qualitativer Rüstungskontrolle oder darüberhinausgehende Entmilitarisierungskonzepte27 hatten auch am Ende des Kalten Krieges kaum eine Chance politischer Umsetzung. Daß man aber seit 1989 auch in der Politik auf ein friedenswissenschaftliches Potential neben den genannten Gebieten z.B. in der Konversionsforschung zurückgreifen kann, ist ein Ergebnis der jüngeren Kooperation gesellschaftswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Ansätze, die bewußt versuchen, konkrete Lösungsansätze mit längerfristigen Strategien zu verbinden28.

Wissenschaftliche Erträge – Exemplarisch

Die Grenzen zwischen politischen Impulsen und im engeren Sinne wissenschaftlichen Erträgen der Friedensforschung sind, wie angedeutet, fließend.

Auf die Impulse, die die Friedensforschung zum Ost-West-Konflikt für die Theoriebildung in den Internationalen Beziehungen gegeben hat kann hier nur pauschal verwiesen werden29.

Die folgenden Ausführungen sollen sich auf die theoretische Befassung mit dem Ost-West-Konflikt innerhalb der Friedensforschung beschränken, sowie eine knappe Übersicht neuerer multi- und interdiziplinärer friedenswissenschaftlicher Ansätze in den 80er Jahren geben.

Die Reflexionen über theoretische Modelle des Ost-West-Konflikts an dessen Ende haben zu einer Annäherung einiger früher deutlicher unterschiedener Positionen geführt30. Bereits in den 80er Jahren hat sich ein Nebeneinander verschiedener Erklärungsansätze zumindest bezüglich der „Schichten“ (E.-O. Czempiel) des Konfliktes als Sicherheits-, Hegemonial-, Macht- und Ideologiekonflikt angebahnt. Die AFK-Tagung von 1986 „Ost-West-Konflikt – Wissen wir wovon wir sprechen?“ hatte mit den beiden Hauptreferenten Imanuel Geiss und Renate Damus bewußt zwei WissenschaftlerInnen eingeladen, die nicht aus dem engeren Umfeld der Friedensforschung kamen. Die unkonventionellen Thesen, insbesondere die Widerlegung der „Legende von der Systemkonkurrenz“ durch den industriegesellschaftskritischen Ansatz von Renate Damus, brachten also eine gewisse Innovation31.

Eine Fortsetzung der Diskussion über das Autismus-Modell, das noch heute die meisten FriedensforscherInnen für den zentralen Theoriebeitrag halten, fand jedoch immer weniger statt.

So ist an die Friedensforschung selbst die Frage zu stellen: War nicht der Übergang zu einer vor allem die Konfliktregulierung, nicht die Konfliktüberwindung beinhaltende Theoriebildung schon in der Autismustheorie angelegt? „Die Interpretation des Abschreckungssystems als Produzent und Exponent autistischer Feindschaft bleibt im wesentlichen zunächst auf einer deskriptiven Ebene“ 32. Solche Formulierungen von Dieter Senghaas riefen eine Kritik hervor, die heute, wo es wieder um die Zukunft der Abschreckung geht, wieder Berechtigung hat: „Senghaas hinterfragt an keiner Stelle ernsthaft die gesellschaftlichen Bedingungen der Abschreckungspraxis“ 33, schrieb Erhard Forndran schon vor über zwanzig Jahren und plädierte dann allerdings für eine konsequent-pragmatische Abrüstungspolitik. Auch in der jüngeren Friedensforschungsgeneration wird heute vielfach die Meinung vertreten, die gesellschaftliche Analyse des Ost-West-Konflikts, einschließlich einer Herrschaftskritik auf beiden Seiten, sei völlig unterbelichtet gewesen (u.a. U. Wasmuht, P. Lock, aber auch E.-O. Czempiel). Mit den inneren Verhältnissen der Sowjetunion hat sich lange Zeit nur die Gruppe um Egbert Jahn befaßt. Die eigentlich in der Abschreckungskritik angelegten Fragen nach dem subjektiven Faktor, nach der Sozialpsychologie des Konflikts fanden nur vereinzelt Platz in der Forschung: „Da internationale Politik, insbesondere der Ost-West-Konflikt, eine sehr viel geringere Erfahrungshaltigkeit zuläßt als innergesellschaftliche Beziehungen, förderte gerade die spezifische politische Struktur des Ost-West-Konfliktes mit ihrer Dynamik des »Entweder-Oder« eine sozialpsychologische Konfliktbewältigungsstrategie, die als »Externalisierung« bezeichnet werden kann.“(E. Senghaas-Knobloch)34

Kontrovers in den Positionen und zugleich ein uneingelöstes Forschungsdesiderat35 ist nach wie vor die militärische Seite des Ost-West-Konflikts: Die Einschätzungen schwanken zwischen einer Bewertung als „Epiphänomen“ (W. Link), „abgeleitetem Konflikt“ (E.-O. Czempiel) und „Eigendynamik“ (D. Lutz u.a.).

Die NaturwissenschaftlerInnen, und auch InformatikerInnen, die sich seit Beginn der 80er Jahre mit ihrer Kenntnis der waffen- und informationstechnologischen Entwicklung in den friedenspolitischen und -wissenschaftlichen Diskurs einschalteten, haben diese Dimension eher erkannt. Sowohl in der kritischen Atomwaffenforschung (z.B. über die zivil-militärische Ambivalenz der Plutoniumgewinnung), als auch in der Lasertechnikentwicklung (z.B. das SDI-Programm) und bei den modernen elektronischen Waffen wurden Zusammenhänge zwischen den die Technologieentwicklung und die Rüstungsdynamik antreibenden anderen gesellschaftlichen Faktoren neu analysiert36. Eine weitere Rolle spielten naturwissenschaftliche Untersuchungen zu den Atomkriegsfolgen unter dem Stichwort „Nuklearer Winter“. Die gutbesuchten Kongresse der Medizinerorganisation IPPNW popularisierten dieses Thema und verwiesen auf die globalen Implikationen des modernen Krieges, z.B. die Zusammenhänge von Militär und Ökologie. Viele dieser gesellschafts- und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mündeten in einer gemeinsamen Analyse und These von der Verwundbarkeit der modernen Industriegesellschaft (W. Vogt, B. Stepanek) und der Inkompatibilität von Risikogesellschaft und Militär37. Es gab hierzu zwar wichtige inhaltliche Vorläufer wie die bereits erwähnte Weizsäcker-Studie von 1971 und Arbeiten zur Ökologischen Sicherheit am Ende der 70er Jahre38, aber erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre kam es zwischen den in der Ökologie- und Friedensbewegung arbeitenden WissenschaftlerInnen zu einer engeren Kooperation, wurde der „Frieden mit der Natur“ zunehmend als eine notwendige Erweiterung des gesellschaftlichen Friedensengaments verstanden.

Die Frage nach der ethischen Begründung für Wissenschaft sowie nach dem Verhältnis von Wissenschaft und politischer Moral hat durch die Friedensdiskussion in den 80er Jahren neue Impulse erhalten. Unterschiedliche Akzente und Positionen wurden diesbezüglich aus den Reihen der etablierten Friedensforschung und den Mitgliedern der Wissenschaftler-Initiativen vertreten; während in der Friedensforschung häufig die strikte Trennung von Moral (und friedenspolitischem Engagement) und Wissenschaft betont wurde (B. Moltmann), ging es den NaturwissenschaftlerInnen meist gerade um das Hereinholen ethischer Kriterien in die eigene Disziplin (Schaper).

In Ergänzung zu den Ergebnissen der Befragung erbringt eine Auswertung der friedenswissenschaftlichen Tätigkeit und Literatur in der zweiten Hälfte der 80er bei größerer (in mancher Hinsicht an die Frühzeit der Friedensforschung erinnernder) Auffächerung auch eine zunehmende Kooperationsbereitschaft in den Themen und Fragestellungen der etablierten Friedensforschung und der Wissenschaftler-Initiativen. In diesem Zeitraum ist allgemein eine Intensivierung friedenswissenschaftlicher Arbeit in den einzelnen Disziplinen zu registrieren – über die bereits genannten hinaus in der (Rüstungs-)Ökonomie, im Völkerrecht, in der Geschichtswissenschaft, der politischen Psychologie und Friedenspädagogik – sowie ein Hinzukommen anderer theoretischer Ansätze wie des Feminismus' sowie stärkere Bemühungen zu multi- und interdisziplinärer Zusammenarbeit39. Eine wesentliche Voraussetzung für die bis in die frühen 90er Jahre reichende Kontinuität der neueren, nicht etablierten friedenswissenschaftlichen Ansätze lag m.E. in den entwickelten Strukturen der Wissenschaftler-Initiativen: Regelmäßige Kongresse, eine Verankerung von Forschungsprojekten an einzelnen Hochschulen, und nicht zuletzt eine selbstständige Publizistik.

Es bleibt abzuwarten, ob und in welcher Weise der etablierten Friedensforschung, deren staatliche Förderung heute grundsätzlich zur Disposition steht, sowie den friedenswissenschaftlichen Impulsen aus den 80er Jahren, die durch die Friedensbewegung inspiriert waren, der »Paradigmenwechsel« in die 90er Jahre gelingen wird. Die Prägungen durch die Denkmuster und Rahmenbedingungen des Ost-West-Konfliktes sind nachhaltig; ihre (selbst)kritische Aufarbeitung stellt jedenfalls eine Voraussetzung für eine an den neuen Konfliktfeldern orientierte Friedenswissenschaft dar.

Der vorliegende Beitrag erscheint in erweiterterter Fassung in: Arnolt Sywottek (Hrg.): Der Kalte Krieg – Vorspiel zum Frieden?, Jahrbuch für Historische Friedensforschung, 2. Jg., Münster i.E.

Anmerkungen

1) Die in Klammern aufgeführten Namen geben die InterviewpartnerInnen wieder. Zurück

2) Georg Picht, Was heißt Friedensforschung? München 1971, S.13. Zurück

3) Vergl. auch Arnold Sywottek, Die Bundesrepublikanische Ost- und Deutschlandpolitik der sechziger Jahre, in: Peter Lock (Hg.), Frieden als Gegenstand von Wissenschaft, Frankfurt/M. 1982, S.88. Zurück

4) Dieter Senghaas, Abschreckung und Frieden, Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Frankfurt/M. 1969. Zurück

5) Übereinstimmend wird von allen Interviewpartnern Senghaas' Kritik an der atomaren Abschreckung als zentraler Theoriebeitrag der Friedensforschung zum Ost-West-Konflikt gewertet. Zurück

6) Vergl. u.a. Ulrich Albrecht, Theoreme vom Militär-Industriellen-Komplex – eine kritische Bestandsaufnahme, in: Wilfried von Bredow/Gerd Kade (Hg.), Abrüstung. Politische Voraussetzungen, sozio-ökonomische Folgen. Aufgaben der Wissenschaftler, Köln 1978; ders., Rüstungskonversionsforschung, Baden-Baden 1979; Carola Bielfeldt, Rüstungsausgaben und Staatsinterventionismus. Das Beispiel Bundesrepublik Deutschland 1950-1971, Frankfurt/M. 1977; Klaus Jürgen Gantzel, System und Akteur. Beiträge zur vergleichenden Kriegsursachenforschung, Düsseldorf 1972. Zurück

7) Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975. Zurück

8) Programmatisch hierfür besonders die von der DGFK angestoßene Studie: Gerda Zellentin (Hg.), Annäherung, Abgrenzung und friedlicher Wandel in Europa, Boppard/Rh. 1976. Zurück

9) Vergl. auch Ingo Arend, Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK), Genesis-Programmatik-Scheitern. Mag.Arbeit, Bonn 1986. Einige Aktualisierungen bei: Ders., Die politische Geschichte der Friedensforschung in der Bundesrepublik. Eine kommentierte Dokumentation, in: Leviathan 2/1990, S.280-292. Zurück

10) Vergl. Arend, Pol. Geschichte (Anm.9), S.287. Zurück

11) Wolf Graf von Baudissin, Probleme der Friedens- und Konfliktforschung. in: Lock (Hg.) (Anm.3), S.6.. Zurück

12) Exemplarisch sei hier genannt die vielbeachtete Studie Carl Friedrich von Weizsäcker (Hg.), Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971. Er selbst habe für seine Arbeit „das Wort Friedensforschung nie aktiv benützt“, schrieb er im Zusammenhang mit der Befragung. Zurück

13) Vergl. u.a. Ulrich Albrecht, Friedensforschung an technischen Hochschulen in Amerika, Arbeitspapier aus dem Berliner Projektverbund der Berghof-Stiftung, Berlin 1987 Zurück

14) Vergl. Tordis Batscheider, Friedensforschung und Geschlechterverhältnis – Zur Begründung feministischer Fragestellungen in der kritischen Friedensforschung, Marburg 1993. Zurück

15) Diese Kooperation erstreckte sich auf gemeinsame Vorlesungsreihen, Kongreßbeteiligung und zunehmend auch Forschungsprojekte. Vergl. dazu Corinna Hauswedell, Friedensforschung und Friedenswissenschaft an den Hochschulen, Neue Entwicklungstendenzen und Perspektiven, in: Ulrike Wasmuht (Hg.), Friedensforschung – Eine Handlungsorientierung zwischen Politik und Wissenschaft, Darmstadt 1991. Zurück

16) Vergl. u.a. W.Graf/I.Horn/Th.H.Macho (Hg.), Zum Wissenschaftsbegriff der Friedensforschung, Ergebnisse einer Umfrage, Wien 1989; Karlheinz Koppe/Dieter Senghaas (Hg.), Friedensforschung in Deutschland, Lagebeurteilung und Perspektiven für die 90er Jahre, Bonn 1990. Zurück

17) Das erste gemeinsame Memorandum aus dem Kreise von 30 SozialwissenschaftlerInnen und NaturwissenschaftlerInnen, das die Darstellung neuer friedenswissenschaftlicher Fragestellungen mit forschungspolitischen Konsequenzen verbindet, erschien bei Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (Hg.), Friedenssicherung in 90er Jahren – Neue Herausforderungen für die Wissenschaft, Bonn 1992. Zurück

18) Vergl. z.B. Gerda Zellentin, Gemeinsame Sicherheit – Widersprüche zwischen Idee und Rahmenbedingungen, Ziel und Mitteln, in: Christiane Rix (Hg.), Ost-West-Konflikt – Wissen wir, wovon wir sprechen?, Baden-Baden 1987, S.236-260. Zurück

19) Erste Anstöße vergl. Max Schmidt/Wolfgang Schwarz, Frieden und Sicherheit im nuklearkosmischen Zeitalter. in: IPW-Berichte 9/86, S.1-12. Der Wissenschaftliche Rat für Friedensforschung der DDR bildete in engerer Kooperation mit dem Institut für Wissenschaft und Politik (IPW), Berlin (Ost), den institutionellen Rahmen der DDR-Friedensforschung. Eine Bilanzierung aus der Sicht von 1990 nehmen vor Klaus Benjowski/Max Schmidt, DDR-Friedensforschung im Wandel, in: Wasmuht (Hg.) (Anm.15), S.211-222. Zurück

20) Vergl. Hans-Peter Dürr, Das Netz des Physikers, München 1988, S.466 ff. Zurück

21) Im einzelnen erwähnte Falin aus Politik und Wissenschaft gemischte Einflüsse: Pugwash, den Bergedorfer Gesprächskreis, die Gremien der Sozialistischen Internationale, Einzelpersonen wie Bahr, Brandt, McNamara. Zurück

22) Michail Gorbatschow, Perestroika, Die zweite russische Revolution, München 1987, S.196. Zurück

23) Vergl. hierzu die Geschichte des entsprechenden Projektes bei der FEST sowie den Non-Proliferationsschwerpunkt bei IANUS (Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Sicherheitspolitik) an der TH Darmstadt. Zurück

24) Einen auch öffentlich kontroversen politischen Niederschlag fand dies in der Veröffentlichung des SPD-Politkers Andreas von Bülow, Das Bülow-Papier, Strategie vertrauenschaffender Sicherheit-Strukturen in Europa – Wege zur Sicherheitspartnerschaft, Frankfurt 1985. Zurück

25) Es schloß sich die Gründung einer „Pugwash Study Group on Conventional Forces in Europe“ an, die eine Internationalisierung der Debatte beförderte. Zurück

26) Vergl. div. Publikationen aus dem Projekt der Ruhr-Universität Bochum „Integrierte Forschung und Lehre zu Fragen der Friedenssicherung, Abrüstung und Rüstungskontrolle“, u.a. Jürgen Altmann/Bernhard Gonsior, Nahsensoren für die kooperative Verifikation der Abrüstung konventioneller Waffen, in: Sicherheit und Frieden 2/1989, S.77-82; sowie aus der Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit in der Universität Hamburg, u.a. Christian Drewniok, Der Einsatz von Satelliten zur Erdbeobachtung, CENSIS-REPORT-3-91, Hamburg 1991. Zurück

27) Z.B. umfassendere Konversionskonzepte wie bei Ulrich Albrecht, Zur Konversion der Rüstungsdymnamik, Projektskizze Berghof-Stiftung Berlin 1990. Zurück

28) Siehe Christiane Lammers/Kathleen Battke/Corinna Hauswedell (Hg.), Handbuch Friedenswissenschaft. ExpertInnen, Institutionen, Hochschulangebote, Literatur, Bonn/Marburg 1993. Zurück

29) Vergl. die Überblicksdarstellung von Dieter Ruloff, Theorien der Ost-West-Beziehungen, in: Volker Rittberger (Hg.), Theorien der internationalen Beziehungen, Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Opladen 1990; vergl. auch den Bericht von der Fachtagung der Sektion Internationale Politik der DVPW, 13.-15.3.1991: Christoph Hüttig, Das Ende des Ost-West-Konflikts als Problem der Theorie internationaler Beziehungen, in: PVS, 32.Jg., H.4/1991, S.663-667. Die Theorieentwicklung kritisch beurteilt in einer Übersicht bis zur Mitte der 80er Jahre Ernst-Otto Czempiel, Der Stand der Wissenschaften von den Internationalen Beziehungen und der Friedensforschung in der BRD, in: PVS-Sonderheft 17/1986, S.250-263. Zurück

30) Werner Link, Der Ost-West-Konflikt, 2.Aufl. Stuttgart 1988; Dieter Senghaas, Friedensprojekt Europa, Frankfurt/M. 1992, S.83ff.; Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, München 1991. Zurück

31) Renate Damus, Die Legende von der Systemkonkurrenz, in: Rix (Hg.), Ost-West-Konflikt (Anm.18), S.75-98. Zurück

32) Senghaas, Abschreckung und Frieden (Anm. 4), S.193. Zurück

33) Erhard Forndran, Abrüstung und Friedensforschung. Kritik an E.Krippendorff, D.Senghaas, T.Ebert, Düsseldorf 1971, S.48. Zurück

34) Eva Senghaas-Knobloch, Zur Bedeutung des subjektiven Faktors in der europäischen Umbruchsituation, in: Francisca Vidal (Hg.), Wider die Regel, Erörterungen anl. des 50.Geburtstages von Wolfgang Burisch, Mössingen-Talheim 1991, S.36. Zurück

35) Schon 1987 kam Gert Krell in einer Bilanzierung der wissenschaftlichen Diskussion über Rüstungsdynamik an der HSFK zu der Aussage: „Was fehlt ist ein neues Gesamtbild zur Theorie der Rüstungsdynamik, das einmal die Geschichte des Rüstungswettlaufs im Ost-West-Konflikt differenziert politologisch aufarbeitet und zum zweiten Forschungen über andere Rüstungswettläufe einschließlich der Zeit vor 1945 integriert.“ In: Gert Krell, Friedensforschung in Hessen, Zur Geschichte und Entwicklung der HSFK, Frankfurt/M. 1987, S.32. Zurück

36) Vergl. die Forschungsergebnisse der IANUS-Gruppe an der TH Darmstadt; eine Übersicht in: Zwei Jahre IANUS, Struktur, Ergebnisse und Perspektiven, IANUS-Arbeitsbericht, Darmstadt 1990; sowie vor allem folgende Publikationen aus dem FIFF: Joachim Bickenbach/Reinhard Keil-Slawik/Michael Löwe/Rudolf Wilhelm (Hg.), Militarisierte Informatik, Marburg 1985; Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann (Hg.), Ein sauberer Tod, Informatik und Krieg, Marburg 1991. Zurück

37) Im Juni 1990 fand zu diesem Thema unter Federführung der Hamburger Gruppe der Naturwissenschaftler-Initiative ein Kongreß statt, dessen Ergebnisse dokumentiert sind bei Gerd Knies/Bernhard Gonnermann/Erich Schmidt-Eenbohm, Betriebsbedingung Frieden, Herausforderungen der Hochtechnologie-Zivilisation für eine nachmilitärische Ära, Berlin 1990.; vergl. auch den erstmalig von ost- und westdeutschen FriedenswissenschaftlerInnen gemeinsam veröffentlichten Reader: Bernhard Gonnermann/Alfred Mechtersheimer (Hg.), Verwundbarer Frieden, Zwang zu gemeinsamer Sicherheit für die Industriegesellschaften Europas, Berlin 1990; zum Theorem der Inkompatibilität vergl. auch Wolfgang Vogt (Hg.), Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der Legitimitätskrise, Baden-Baden 1987, S.21-57. Zurück

38) Vergl. u.a. Friedensforschung und Ökologie. Kolloquium des Konzils der Friedensforscher, Bonn 13.11.1980, DGFK-Hefte Nr.14, Bonn 1981. Zurück

39) Aus der Fülle von Forschungergebnissen und Publikationen sollen hier exemplarisch genannt werden: Klaus Schomacker/Peter Wilke/Herbert Wulf, Alternative Produktion statt Rüstung, Gewerkschaftliche Initiativen für sinnvolle Arbeit und sozial nützliche Produkte, Köln 1987; Lutz Köllner/Burckhardt J.Huck (Hg.), Abrüstung und Konversion, Politische Voraussetzungen und wirtschaftlichen Folgen in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1990; Dieter S.Lutz (Hg.), Völkerrecht und Friedensordnung, Diskussionsbeiträge, Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik Heft 59, Hamburg 1991; Jörg Calließ (Hg.), Gewalt in der Geschichte, Düsseldorf 1983; Reiner Steinweg (Red.) Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung, Friedensanalysen 23, Frankfurt/M. 1990; Reiner Steinweg/Christian Wellmann (Red.), Die vergessene Dimension internationaler Konflikte: Subjektivität, (Friedensanalysen 24), Frankfurt/M. 1990; Christoph Schulte (Hg.), Friedensinitiative Philosophie: Um Kopf und Krieg, Widersprüche, Darmstadt/Neuwied 1987; Hans-Jürgen Häßler/Heiko Kauffmann (Hg.), Kultur gegen Krieg, Hrg. von der Initiative Kulturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung in Ost- und West, Köln 1986; Hanne-Margret Birckenbach, Friedensforschung und ihre feministischen Ansätze: Möglichkeiten der Integration, AFB-Texte, Bonn 1990. Zurück

Corinna Hauswedell ist Historikerin und Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden, Bonn.