Nichts als die Wahrheit?
Über die Kreativität der Unwahrheit im Kontext von Krieg und Gewalt
von María Cárdenas Alfonso, Andrea Nachtigall, Johannes Nau und Wolfram Wette
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden
und dem Arbeitskreis Historische Friedensforschung
Nichts als die Wahrheit?
Über die Kreativität der Unwahrheit im Kontext von Krieg und Gewalt
von María Cárdenas Alfonso
Seit jeher werden Kriege als effektives Mittel angesehen, um staatliche Interessen zu verteidigen bzw. auszubauen, und gelten als letzte Stufe der zwischenstaatlichen Eskalation von Konflikten. Doch da mit einem Krieg auch hohe innenpolitische Kosten verbunden sind (auf der gesellschaftlichen Ebene ebenso wie auf der individuellen), hängt die Initiierung einer militärischen Auseinandersetzung in hohem Maße von der Unterstützung durch die Bevölkerung ab. Die Wahrnehmung der Bevölkerung, »angegriffen zu werden« und »sich verteidigen zu müssen« ist insofern ein essentielles Requisit, um einen Krieg legitimieren und durchsetzen zu können.
Daher verwundert es nicht, dass im Krieg nicht nur jedes Mittel recht ist, sondern auch Lügen und Manipulationen ein zentrales, strategisches Instrument sind, um die Wahrnehmung Anderer zu beeinflussen. So wird der Krieg nicht zuletzt durch die Deutungshoheit über Realität (und Geschichte) gewonnen und somit zum Spielball akuter (inter-) nationaler Interessen.
Das vorliegende Dossier befasst sich mit der Frage, wie heute und in der Vergangenheit die nationale und internationale Politik von Kriegslügen beeinflusst und manipuliert wird und wurde, unter welchen Rahmenbedingungen und mit Hilfe welcher Strategien Kriegslügen ihre Wirkung entfalten und welche Einflussmöglichkeiten es gibt.
Mit Blick auf unsere individuelle Entscheidungspraxis wird uns bewusst, wie abhängig unser Urteilsvermögen und unsere Emotionen von unserer Wahrnehmung sind, die wiederum von (Fehl-) Informationen geprägt wird. Informationen bestimmen maßgeblich unsere Entscheidungsfreiheit und damit auch die Qualität unserer Entscheidungen. Auf der politischen Ebene können erfolgreiche Lügen schwerwiegende Folgen haben, was auch die Info-Boxen in diesem Dossier verdeutlichen.
Für die Heranführung an die Klassiker der strategischen Unwahrheit zur Manipulation relevanter Akteure im Krieg beginnt das Dossier mit einem Artikel von Wolfram Wette, der aus einer historischen Perspektive Methoden, Strategien und Akteure von Kriegslügen betrachtet.
Aus einer aktuellen Perspektive zeigen Andrea Nachtigall am Beispiel des »Embedded Feminism« und Johannes Nau am Beispiel Gaddafis auf, wie relativ die Bedeutung scheinbar universeller Werte und Normen in der internationalen Politik ist und wie sie für nationale Interessen zweckentfremdet werden kann – nicht nur mit Blick auf die Frage, welche Beachtung den Menschenrechten in bewaffneten Konflikten geschenkt wird, sondern auch, in welchem Zusammenhang und von welchen Akteuren ihre Implementierung verlangt wird. So zeigt sich, dass oft erst mit Rekurs auf die Menschenrechte, also im Sinne einer »Responsibility to Protect«, eine militärische Auseinandersetzung überhaupt legitimiert werden kann. In anderen Kontexten wiederum werden und wurden Menschenrechtsverletzungen ad acta gelegt und stattdessen die vermeintlich relevante Beziehung zu einem politisch stabilen Partner in einer sonst instabilen Region in den Vordergrund gestellt. Die Debatte um Militäreinsätze zum Schutz der Menschenrechte ist mit Vorsicht zu genießen, da mit der propagierten »Zivilisierungsabsicht« oft weniger der Wunsch der Emanzipation, als vielmehr neokoloniale Interessen einhergehen.
Der letzte Artikel von María Cárdenas untersucht die Voraussetzungen, unter denen sich Kriegslügen und -propaganda bewegen und multiplizieren: Unter welchen Umständen funktionieren Kriegslügen in einer medial vermittelten Gesellschaft? Welche strukturellen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen müssen vorhanden sein, damit die Bevölkerung sich ein eigenes Bild schaffen und eventuelle Kriegslügen entlarven kann – und dies möglichst »medienwirksam«? Welche Rolle spielen hierbei die Massenmedien als Akteur einerseits und Vermittler zwischen Regierung und Regierten andererseits? Welche Möglichkeiten bieten sich den Journalisten, um in kriegerischen Auseinandersetzungen ihrer Kontrollfunktion gerecht werden zu können? Der letzte Beitrag soll insofern auch den Blick für die Relevanz einer kritischen Öffentlichkeit schärfen.
Historische Kriegslügen
von Wolfram Wette
Aischylos (525-456 v. Chr.), der griechische Dichter und Schöpfer der griechischen Tragödie, erkannte den Zusammenhang bereits in voller Klarheit: „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“ 1 Diese Erkenntnis ist seitdem in verschiedenen Varianten vieltausendfach wiederholt worden. Das kann kein Zufall sein. Es muss damit zusammen hängen, dass die historische Wirklichkeit den Sachverhalt immer wieder bestätigt hat.
Durch die leidvollen Erfahrungen in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts, jetzt auch schon des 21., sind wir allerdings mehr als einmal belehrt worden, dass die Weisheit des Aischylos einer Erweiterung bedarf: Die Wahrheit stirbt nicht erst »im Krieg«, sondern schon in der Entstehungsphase einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Während eines Krieges waren die Führungseliten eines kriegführenden Landes jeweils bestrebt, die Glaubwürdigkeit ihrer Rechtfertigungsbehauptungen durch ihre Kriegspropaganda permanent zu untermauern. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges – um diesen Fall zu nehmen2 – kam dann nicht etwa die Wahrheit auf den Tisch, sondern die Verschleierung der Wahrheit, respektive der Kampf um die Wahrheit, setzte sich weiter fort. Der in Deutschland nach 1918 erbittert geführte Meinungskampf über die Kriegsschuldfrage bietet dafür reiches Anschauungsmaterial.3
Kriegsmetaphysik
Wenn der Begriff »Kriegslüge« fällt, denkt man gewöhnlich an einen Auslöser, einen konkreten Anlass, wie zum Beispiel die Ermordung des österreichischen Thronfolgers im Juli 1914, der hernach zur Kriegsursache stilisiert wurde. Bei dieser Betrachtungsweise wird häufig vergessen, dass es im Hintergrund eine Weltsicht gab, die gleichsam als Humus diente, auf dem die aktuelle Kriegslüge erst gedeihen konnte. Gemeint ist ein bestimmtes Denken über »den« Krieg im Allgemeinen. Dieses Denken, das besonders im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts weit verbreitet war, bezeichne ich als Kriegsmetaphysik. Gemeint sind die Vorstellungen, »der« Krieg sei »der Vater aller Dinge«, oder er sei ein Naturereignis, das ausbreche wie ein Vulkan und das von Menschen nicht gebändigt werden könne; oder der Krieg sei von Gott gewollt, womöglich ein »Gottesgericht«; oder aber – als linke Variante –, er sei ein gleichsam »naturnotwendiges« Produkt des Kapitalismus beziehungsweise des Imperialismus.4
In klassischer Weise formulierte zur Zeit des deutschen Kaiserreiches der preußische Generalstabschef Helmut von Moltke d. Ä. die zeitgenössische konservativ-militaristische Kriegsmetaphysik: „Der Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. […] Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen.“ 5 Sätze wie dieser führten bei den Menschen zu der fatalistischen Grundhaltung, dass Kriege offenbar immer wiederkehren und daher nicht verhindert werden könnten.
Spätestens seit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert verfolgten Aggressoren das Ziel, die eigene Verantwortung für die Entfesselung kriegerischer Gewalt vor der eigenen Bevölkerung zu verschleiern. Sie wussten, dass das eigene Lager nur durch eine Verteidigungslüge für den Krieg mobilisiert werden konnte. Der Krieg musste als eine gerechte Sache erscheinen, und als gerecht wurde nur die Verteidigung des eigenen Landes gegen einen Aggressor angesehen. Es galt also, das eigene Land als das angegriffene hinzustellen, den Feind ins Unrecht zu setzen und ihm die Kriegsschuld aufzubürden. Wenn in der Regel alle kriegführenden Mächte die Menschen ihres Landes mit einer Verteidigungspropaganda mobilisierten, so bedeutete dies allerdings nicht, dass es sich dabei durchgängig um Kriegslügen handelte. So befanden sich etwa die von Hitler-Deutschland überfallenen Länder Europas zweifellos in einer Verteidigungssituation.
Friedrich II, König von Preußen, von seinen Bewunderern auch als »der Große« bezeichnet, gab im Jahre 1740 seiner Armee den Befehl zum Angriff auf Schlesien, das er, ganz der Machtpolitiker, dem preußischen Staat einverleiben wollte, bevor der Rivale Österreich zum Zuge kam. Das war der Beginn des so genannten Ersten Schlesischen Krieges (1740-1742). Während die Angriffshandlungen bereits im Gange waren, schrieb Friedrich seinem Minister Heinrich Graf von Podewils: „Ich habe den Rubikon überschritten, mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel.“ Nun sei es Sache des Ministers, sich im Nachhinein eine »justa causa« auszudenken, also einen »gerechten Grund«, ein Rechtfertigungsmotiv.6 Im Hinblick auf die internationale Öffentlichkeit konstruierte er einen erbschaftsrechtlichen Anspruch, der mit der herrschenden Lehre vom gerechten Krieg nicht zu kollidieren schien. So wurde versucht, die aggressive und rechtswidrige Politik des preußischen Königs zu kaschieren.7
Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck manipulierte im Jahre 1870 die »Emser Depesche« in der Weise, dass der französische Kaiser Napoleon III dadurch in die Rolle des Aggressors gedrängt wurde und Deutschland den Krieg erklärte.8 In den Augen der deutschen Öffentlichkeit ergab sich dadurch die Lage, dass Bismarck die angegriffenen Deutschen verteidigte. Verborgen blieb, dass er selbst es gewesen war, der auf den deutsch-französischen Krieg hingearbeitet hatte, weil er ihn zur Schaffung des preußisch-deutschen Nationalstaats brauchte.
Theobald von Bethmann Hollweg, Reichskanzler unter Kaiser Wilhelm II, verbreitete in der Julikrise von 1914 durch geschickte Regie den Eindruck, Deutschland bleibe nichts anderes übrig, als auf die russische Generalmobilmachung zu reagieren und sich zu verteidigen. Mit dieser Manipulation drängte er die zögernde Sozialdemokratie, die noch kurz zuvor Friedenskonferenzen und Friedensdemonstrationen organisiert hatte, dazu, eine Verteidigungssituation anzunehmen. Nicht nur die Konservativen, sondern auch die oppositionelle SPD-Reichstagsfraktion bewilligten daraufhin die Kriegskredite. Im Interesse der Landesverteidigung schloss die SPD einen so genannten Burgfrieden mit dem Kaiser und seiner Regierung.9 Der Chef des Marinekabinetts, Admiral Georg von Müller, freute sich über den gelungenen Coup: „Stimmung glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen.“ 10
Am 1. September 1939 eröffnete das im Danziger Hafen liegende deutsche Linienschiff »Schleswig-Holstein« mit seinen schweren Geschützen das Feuer auf die polnische Westerplatte – ohne jede Kriegserklärung. Gleichzeitig ließ Hitler einen Angriff polnischer Soldaten auf den oberschlesischen Sender Gleiwitz vortäuschen. Deutsche Staatsbürger in polnischen Uniformen griffen die Radiostation an, um den NS-Propagandisten Stoff für ihre Ablenkungspropaganda zu liefern. Hitler verkündete noch am selben Tag in einer Reichstagsrede seine Verteidigungslüge, deren Kernsätze lauteten: „Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.“ 11 Hitler hatte diesen Krieg von langer Hand geplant, seine Ziele aber vor der deutschen Öffentlichkeit verborgen, indem er zwischen 1933 und 1938 – zur allgemeinen Irreführung – eine geschickte Friedenspropaganda betrieb.12 Der deutsche Angriff auf Polen ist das vielleicht bekannteste Beispiel für die Ablenkungsmanöver, mit denen sich der eigentliche Angreifer zum Angegriffenen machen möchte.
Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht in einer Stärke von drei Millionen Mann die Sowjetunion, die sich aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 in Sicherheit wiegte. Hitler und sein Propagandaminister Joseph Goebbels präsentierten an diesem Tage wiederum eine Verteidigungslüge. Die Sowjetunion, so behaupteten sie, habe eine aggressive Politik betrieben. Sie habe ihre Armeen an ihrer Westgrenze aufmarschieren lassen, habe damit die Abmachungen des Freundschaftsvertrages mit Deutschland gebrochen und „in erbärmlicher Weise verraten“. „Heute“, behauptete Hitler, „stehen rund 150 russische Divisionen an unserer Grenze. […] Damit aber ist nunmehr die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten.“ Nun sei das Schicksal Europas, des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes in die Hand der deutschen Soldaten gelegt. Damit war die Präventivkriegslegende geboren.13 Glaubte man der NS-Propaganda, so hatte Deutschland wieder einmal nur »zurückgeschossen«.
Auch der amerikanische Vietnamkrieg von 1964 bis 1975 begann mit einer Lüge. Die amerikanische Regierung unter dem demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson suchte und fand einen Vorwand, um in den Krieg gegen Nordvietnam einzutreten. Es handelte sich um den so genannten Tonkin-Zwischenfall vom 2. und 4. August 1964. Angeblich hatten nordvietnamesische Kriegsschiffe im Golf von Tonkin (vor Nordvietnam) zwei US-Zerstörer beschossen. Nun ordnete Präsident Johnson »Vergeltungsbombardements« gegen Ziele in Nordvietnam an. Hernach ließ er sich vom amerikanischen Kongress eine Generalvollmacht zur Ausweitung des Krieges geben. Dieser sollte bis 1975 dauern und mit einem Sieg der nordvietnamesischen Kriegspartei enden.14 Die amerikanischen Soldaten mussten gedemütigt und fluchtartig das Land verlassen.
Der iranisch-irakische Krieg von 1980 bis 1988 wird als Erster Golfkrieg bezeichnet. In diesem Krieg unterstützten die Regierungen der westlichen Länder den irakischen Diktator Saddam Hussein insgeheim. Als die irakische Armee im Jahre 1990 in Kuwait einmarschierte, antworteten die USA und einige Verbündete mit dem Zweiten Golfkrieg. Um diesen Krieg vor der Öffentlichkeit zu legitimieren und um im eigenen Lager Kriegsbereitschaft zu mobilisieren, erfand die US-amerikanische Administration unter Präsident George Bush sen. nun eine neue Sprachstrategie: die Dämonisierung des Gegners.15 Der irakische Diktator und vormalige Verbündete Saddam Hussein wurde jetzt als „Hitler des Orients“ bezeichnet. Präsident Bush sen. selbst war der Stichwortgeber. In einer Rede vom 8. November 1990 sagte er, die irakischen Truppen hätten sich in Kuwait „ungeheuerliche Akte der Barbarei“ zuschulden kommen lassen, „die nicht einmal Adolf Hitler begangen hat“.16 Damit verschaffte Bush dem Saddam-Hitler-Vergleich eine weltweite Resonanz. In Deutschland führte dieser Vergleich, der auf eine Gleichsetzung hinauslief, zu großen Irritationen.17
54 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kämpften erstmals wieder deutsche Soldaten im Ausland, nämlich gegen das serbische Rest-Jugoslawien. Dies geschah im Rahmen der Nato, aber ohne UNO-Mandat. Es handelte sich um einen Angriffskrieg, der weder vom Völkerrecht noch vom Grundgesetz (Artikel 26) gedeckt war. Rest-Jugoslawien hatte Deutschland weder angegriffen noch ging von ihm eine Bedrohung aus. Der damalige Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) legitimierte den deutschen Militäreinsatz, der in historischer Perspektive einen schwerwiegenden Tabubruch darstellte, mit historischen Erfahrungen aus der NS-Zeit. Nur brachte er diese jetzt ganz anders als bislang üblich ins Spiel.18 Er habe nicht nur gelernt „Nie wieder Krieg!“, argumentierte er im Deutschen Bundestag, sondern auch „Nie wieder Auschwitz!“ Das war eine historisch unhaltbare, aber politisch wirkungsmächtige historische Analogie.19 Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) präsentierte der internationalen Öffentlichkeit seinerzeit einen »Hufeisenplan«, der angeblich beinhaltete, dass die serbische Regierung die Albaner systematisch aus dem Kosovo vertreiben wolle. Tatsächlich war dieser Plan frei erfunden.20 Es handelte sich also um eine der üblichen Kriegslügen.21
Diese Wende in der Kriegsbegründung wurde später als »Menschenrechts-Bellizismus« bezeichnet, als Krieg für die Menschenrechte. Aus dieser Argumentation wurde dann die politische Strategie der »Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect) entwickelt, die 2005 die Zustimmung fast aller Mitgliedsländer der Vereinten Nationen fand.22 Wegen der erwiesenen Missbrauchsgefahr, beispielsweise im internationalen Militäreinsatz gegen Libyen 2011, hat sich diese Strategie jedoch bereits als problematisch erwiesen.
Der Dritte Golfkrieg von 2003 wurde seitens der Regierung Bush jun. zunächst als militärische Antwort auf den terroristischen Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 gerechtfertigt (»War on Terror«) – obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte. Später wurde, wie schon 1990/91, die grausame Diktatur des irakischen Präsidenten Saddam Hussein zur Begründung herangezogen. Präsident Bush führte im Gefolge des Irak-Kriegs auch die Begriffe »Schurkenstaat« und »Achse des Bösen« ein. Damit machte er einmal mehr seine dichotomische Weltsicht deutlich: Hier die Guten und Willigen, dort die Bösen, die notfalls bekriegt werden müssen. Um die Gefährlichkeit von Saddam Hussein weltweit zu verdeutlichen, rückte die US-Propaganda erneut Saddam-Hitler-Vergleiche in das Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Schließlich operierte die US-Propaganda mit der Behauptung, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen und sei daher eine Bedrohung für die ganze Welt. Auch diese Behauptung sollte sich später als Lüge zum Zwecke der (präventiven) Kriegführung entpuppen.
Militärzensur: das systematische Totschweigen der Kriegswirklichkeit
Kriege sind eine extrem lebensfeindliche Angelegenheit. In ihnen fügen sich Menschen, die sich nicht kennen, den denkbar schwersten Schaden zu. Sie nehmen sich – und vielen nicht kämpfenden Zivilisten – gewaltsam Leben und Gesundheit. Wer als Staatsmann oder Militär eine kriegerische Auseinandersetzung plant oder in Kauf zu nehmen bereit ist, hält die Darstellung der Kriegswirklichkeit für einen subversiven Akt. Das musste Erich Maria Remarque mit seinem Buch »Im Westen nichts Neues« ebenso erfahren wie der Hamburger Lehrer Wilhelm Lamszus mit seinem 1912 erschienenen Zukunftsroman »Das Menschenschlachthaus«.23 Lamszus wurde von der reaktionären Presse als „schlechter Deutscher“ und als „vaterlandsloser Geselle“ verunglimpft. Der Kronprinz verlangte seine Entlassung aus dem Schuldienst. Auf Remarque prasselten wütende Reaktionen der nationalistischen Presse nieder. Der Kriegsschriftsteller Franz Schauwecker qualifizierte seinen Roman als „Kriegserlebnis eines Untermenschen“, und dessen Gesinnungsgenosse Georg Friedrich Jünger meinte herablassend, der Roman ergehe sich „in schwächlichen Klagen gegen den Krieg“.
Da sich die grausame Wirklichkeit des Krieges öffentlich nicht sehen lassen kann, muss sie versteckt werden. Militärs schotten ihr Tätigkeitsfeld seit jeher mit einem fast undurchdringlichen Gestrüpp von Geheimhaltungsvorschriften ab. Sie behaupten, die Geheimhaltung sei eine »Kriegsnotwendigkeit«; der Feind müsse im Unklaren gelassen werden über die eigenen Absichten und Möglichkeiten. Für die Mobilisierung und Aufrechterhaltung von Kriegsbereitschaft in der Bevölkerung des eigenen Landes ist die Verschleierung der Kriegsrealität von zumindest ebenso großer Bedeutung.
In den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts übernahm die Militärzensur die Aufgabe, die Weitergabe kriegsrelevanter Informationen sowie die Berichterstattung über die Kriegsrealität möglichst vollständig zu unterbinden. So durften beispielsweise Bilder von getöteten deutschen Soldaten sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg nicht veröffentlicht werden. Im Hinblick auf die Verschleierung der Kriegsrealität nimmt der amerikanische Vietnamkrieg (1964-1975) eine Sonderstellung ein. Er war der einzige Krieg, über den die westlichen Kriegsberichterstatter offen und unzensiert schreiben durften. Das hatte einen juristischen Hintergrund: Weil die US-Regierung keine förmliche Kriegserklärung ausgesprochen hatte, trat auch das Gesetz über die Militärzensur nicht in Kraft.24 Daher konnte in diesem Krieg auch über die Verluste der amerikanischen Streitkräfte berichtet werden, unterstützt durch beeindruckende Filmszenen und Fotos. Diese Berichterstattung zerstörte die Moral der amerikanischen Heimatfront. Ein Großteil der Bevölkerung der USA entzog der Regierung schließlich ihre Unterstützung. So wurde dieser Krieg – bildlich gesprochen – in erster Linie in den amerikanischen Fernsehzimmern verloren. Seit den Erfahrungen des Vietnamkriegs gaben die Militärs das Informationsmonopol nie mehr aus der Hand. Sie bestimmten nun wieder allein, was die Medien berichten und was die Bevölkerung erfahren durfte, wohl wissend, dass Berichte über das Töten und die Todesangst von den Menschen ferngehalten werden müssen, wenn die Moral nicht zusammenbrechen soll.
Anmerkungen
1) zitate.de/autor/Aischylos.
2) Vgl. Hellmut von Gerlach: Die große Zeit der Lüge. Der Erste Weltkrieg und die deutsche Mentalität (1871-1921). Bremen, 1994.
3) Siehe wikipedia.org/wiki/Kriegsschuldfrage.
4) Vgl. Wolfram Wette: Kriegstheorien deutscher Sozialisten. Marx, Engels, Lassalle, Bernstein, Kautsky, Luxemburg. Stuttgart, 1971.
5) Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Grafen Helmut v. Moltke, Bd. III. Berlin, 1892/93, S.154. Zum historischen Kontext vgl. Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Frankfurt/M., 2008, S.102f.
6) Vgl. Reiner Steinweg (Hrsg.): Der gerechte Krieg. Christentum, Islam, Marxismus. Frankfurt/M., 1980.
7) Theodor Schieder: Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche. Berlin, 1983, S.144 f.
8) Siehe im Einzelnen Eberhard Kolb: Der Kriegsausbruch 1870. Politische Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten in der Julikrise 1870. Göttingen, 1970.
9) Vgl. Susanne Miller: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf, 1974; sowie Lothar Wieland: Die Verteidigungslüge. Pazifisten in der deutschen Sozialdemokratie 1914-1918. Bremen, 1998.
10) Notiz Admiral v. Müllers vom 1.8.1914, zit. nach Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1973, S.672.
11) Hitlers Rundfunkrede vom 1.9.1939. In: Max Domarus: Hitler. Reden 1932 bis 1945, Bd. II, Erster Halbband: 1939-1940. Wiesbaden, 1973, S.1315.
12) Vgl. Wolfram Wette: Die propagandistische Mobilmachung für den Krieg. In: Wilhelm Deist, Manfred Messerschmidt, Hans-Erich Volkmann, Wolfram Wette: Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik. Frankfurt/M., 1989, S.117-161.
13) Vgl. Gerd R. Ueberschär, Lev A. Bezymenskij (Hrsg.): Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese. Darmstadt, 1998. Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.): Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Frankfurt/M., 2011.
14) Bernd Greiner: Aus gegebenem Anlass. Ein Krieg, der mit einer Lüge begann und im Desaster enden musste. In: Mittelweg 36, 5/2007, S.4-16. ders.: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburg, 2007.
15) Wolfram Wette: Ein Hitler des Orients? NS-Vergleiche in der Kriegspropaganda von Demokratien. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 4/2003, S.231-242.
16) Zit. nach John R. MacArthur: Schlacht der Lügen. Wie die USA den Golfkrieg verkauften. München, 1993, S.83.
17) Vgl. Wolfram Wette: Hitler des Orients?, op.cit., S.234-236.
18) Vgl. Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991-1999. Opladen, 2002. Und ders.: Der Nationalsozialismus im öffentlichen Diskurs über militärische Gewalt. Überlegungen zum Bedeutungswandel der deutschen Vergangenheit. In: Wolfgang Bergem (Hrsg.), Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs. Opladen, 2003, S.171-185.
19) Vgl. dazu Egbert Jahn: Nie wieder Krieg! Nie wieder Völkermord! Der Kosovo-Konflikt als europäisches Problem. Mannheim, 1999.
20) Vgl. Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999. Baden-Baden, 2000.
21) Siehe die WDR-Dokumentation von Jo Angerer und Mathias Werth: Es begann mit einer Lüge. 2001.
22) Siehe wikipedia.org/wiki/Schutzverantwortung.
23) Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg. Hamburg, Berlin, 1912.
24) Winfried Scharlau: Wie realistisch schildern Medien den Krieg, die Täter und die Opfer? In: Thomas Kühne und Horst Gleichmann (Hrsg.): Massenhaftes Töten. Krieg und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen, 2004, S.383-393, hier S.390.
Wolfram Wette, Prof. (em.) Dr. phil., Historiker, 1971-95 Militärgeschichtliches Forschungsamt, dann Universität Freiburg; Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung (AKHF); Mitherausgeber der Reihen »Geschichte und Frieden« und »Frieden und Krieg«; Ehrenprofessor der russischen Universität Lipezk.
»Embedded Feminism«
Frauen(rechte) als Legitimation für militärische Intervention
von Andrea Nachtigall
Kriegerisches Handeln mit dem vermeintlichen Wohle und Schutz von Frauen (und Kindern) zu legitimieren, ist nicht neu. Wie feministische und genderbezogene Forschungen zeigen, dominieren in Kriegskontexten seit Jahrhunderten zumeist dichotome, stereotype Geschlechterrollen und -bilder: Männer sind die aktiven Handlungsträger, sie töten, kämpfen, beschützen oder verhandeln, wohingegen Frauen zumeist die Rolle des passiven (potentiellen) Opfers und der Leidtragenden des Krieges zufällt. Diese dominanten Identitäten werden häufig für die Begründung politischen Handelns zur Vorbereitung oder während eines Krieges gezielt mobilisiert und verstärkt, um staatliche und militärische Gewalt zu legitimieren. So evoziert der stete Verweis auf das weibliche Opfer nicht nur das Bild des männlichen Täters, sondern verlangt implizit oder explizit nach einem – traditionell ebenfalls männlich gedachten – Retter und Beschützer. Der Verweis auf bedrohte »FrauenundKinder«, wie Enloe (1990) diese wiederkehrende Diskursfigur pointiert bezeichnet hat, kann in diesem Sinne dazu dienen, die Kampfkraft der eigenen Soldaten anzuspornen und die »heldenhafte« Männlichkeit des Eigenen gegen die »barbarische« und »frauenfeindliche« Männlichkeit des Feindes abzugrenzen.
Neu an der im »Krieg gegen den Terror« verwendeten Argumentation ist also nicht der Verweis auf das weibliche Opfer, sondern die Verknüpfung mit dem Thema Frauenrechte bzw. die Explizitheit, mit der nunmehr feministische Diskursfragmente, wie die Forderung nach Gleichstellung und Emanzipation der (afghanischen) Frau, in die Begründungsmuster staatlicher und militärischer Politik eingebunden werden. Krista Hunt spricht (in Anlehnung an die in Militär und Kampfgeschehen »eingebetteten« Journalisten) passend von einem »embedded feminism« (2006), mit dem der Afghanistankrieg moralisch begründet wurde und mit dem eine breite Zustimmung innerhalb der Bevölkerung – auch unter Feministinnen und Frauenrechtlerinnen – erreicht werden konnte (vgl. auch Nachtigall/Dietrich 2003).
Das Auftauchen der afghanischen Frau in Politik und Medien, verbunden mit dem Ruf nach Frauenrechten, setzt jedoch nicht unbedingt ein nachhaltiges Interesse an ihrer tatsächlichen Situation und deren Veränderung voraus (vgl. Klaus/Kassel 2008, S.275). Zumeist blieb es bei oberflächlichen und plakativen Absichtsbekundungen, weswegen man besser von pseudo-feministischen Argumentationsmustern sprechen müsste.
Während die politische und mediale Vereinnahmung und Instrumentalisierung von Frauen(rechten) im Zuge des Afghanistankrieges bereits einige kritische Aufmerksamkeit erfahren hat (z.B. Kassel 2004; Maier/Stegmann 2003; Nachtigall 2012), ist jedoch nur geringes Augenmerk auf den weiteren Verlauf und Veränderungen der diskursiven Legitimationsfigur gelegt worden. Diese Lücke soll hier mit zahlreichen Beispielen aus der deutschen Printmedien-Berichterstattung zum Afghanistan- und Irakkrieg geschlossen werden. Zu diesem Zweck wurde eine stichprobenartige Analyse verschiedener deutscher »Leitmedien« – Der Spiegel (Spiegel), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die tageszeitung (taz), Bildzeitung (Bild) – vorgenommen, die nicht nur die Berichterstattung über die »offizielle Kriegszeit«, sondern auch die Post-Konflikt-Berichterstattung umfasst. Wie sich anhand des Materials zeigen lässt, kann der Verweis auf bedrohte »FrauenundKinder« bzw. das Thema Frauenrechte eine legitimierende, aber auch eine delegitimierende Funktion erfüllen.
Die Funktionalisierung und Instrumentalisierung (pseudo-) feministischer Argumente im Rahmen der Begründung und (De-) Legitimierung kriegerisch-militärischen Handelns geschieht dabei in beabsichtigter wie unbeabsichtigter Weise. So wird in den untersuchten Medien vielfach ein expliziter Zusammenhang zwischen Leid und Unterdrückung der Frau und der Notwendigkeit eines Krieges zu Gunsten der Frauen bzw. zur Implementierung oder Wiederherstellung von Frauenrechten hergestellt. Häufiger noch wird dieser Begründungszusammenhang indirekt nahe gelegt, zum Beispiel durch die spezifische Art und Weise, wie über Frauen (und Männer) in Afghanistan und Irak während des Kriegsgeschehens berichtet wird. Die diskursanalytische Perspektive interessiert sich hier jedoch weniger für mögliche Intentionen einzelner Journalist_innen, sondern für die überindividuellen Deutungsmuster, die in der Berichterstattung (re-) produziert werden und die einen Krieg als illegitim oder legitim erscheinen lassen können.
Afghanistankrieg
Die Burka als Kriegsargument und die entschleierte Afghanin als Symbol der Befreiung
Nach dem 11. September, insbesondere im Vorfeld und Verlauf des Afghanistankrieges, war plötzlich quer durch die deutschsprachige und internationale Medienlandschaft von den durch die Taliban unterdrückten afghanischen Frauen zu lesen – direkt oder indirekt verbunden mit dem Appell, die Afghaninnen von ihrem Leid zu erlösen. Der afghanischen Ganzkörperverschleierung, der Burka, kommt in diesem Kontext eine zentrale, symbolisch aufgeladene Bedeutung zu: Sie stellt das vordergründige Merkmal der Darstellung dar; kaum ein Text, eine Bildunterschrift oder ein Foto kommen ohne Verweis auf die Burka bzw. die generelle Bezugnahme auf das Thema Verschleierung aus. Die Burka gilt als untrügliches Zeichen schlimmster patriarchaler Unterdrückung durch die Taliban und eines fundamentalistischen Islams schlechthin. „Die Burka ist nicht eine rückständige Kleiderordnung, sondern macht aus Frauen blindes, hilfloses, konturloses Vieh.“ (taz 12.10.2001) Bis auf wenige Ausnahmen wird die Afghanin als zutiefst gedemütigte und traumatisierte Frau dargestellt, die passiv und leidend ihr Schicksal unter der Burka erduldet. In den Medien werden ihr jegliche Freiheiten, Entscheidungs- oder Handlungsoptionen abgesprochen; kaum mehr vorstellbar ist (aus westlich-okzidentalistischer Perspektive), dass diese Frauen überhaupt ein lebenswertes Leben führen. So ist beispielsweise von der „entmündigenden Burka“ (Spiegel 48/2001) oder auch – in Anspielung auf das Gewicht einer Burka – von „sieben Kilo Schmach“ (FAZ 19.9.2001) die Rede, die ihre Trägerinnen zwinge, „wie lebendig begraben durchs Leben zu gehen“ (ebd.). Wiederholt wird auf die körperlichen und seelischen Qualen afghanischer Frauen verwiesen, die von den Taliban „geknechtet“ und „unterjocht“ (FAZ 29.10.2001; Spiegel 41/2001) und zu „Sklavinnen“ gemacht worden seien (FAZ 19.9.2001).
Die Darstellung der afghanischen Frau wird dabei konstant mit dem Thema Islam bzw. dem islamistischen und frauenfeindlichen Regime der Taliban verknüpft, so dass die Afghanin als spezifisch islamische Frau und damit als »Andere« des Westens sichtbar gemacht wird. Effekt dieser Darstellungsmuster ist die Konstituierung einer grundlegenden, hierarchischen Differenz zwischen islamischer und westlicher Frau, wobei auf das altbekannte Stereotyp der »unterdrückten Muslimin« als Opfer des »orientalischen Patriarchats« bzw. eines »frauenfeindlichen Islam« rekurriert wird (vgl. Pinn/Wehner 1995). Die Zu- und Festschreibung der Opferrolle verunmöglicht zudem, afghanische Frauen in ihren tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen und damit als eigenständige Akteurinnen und politische Subjekte anzuerkennen. Dass es auch in Afghanistan widerständiges Denken und Handeln gegeben hat, zeigt zum Beispiel das Engagement der Gruppe RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan).
Die Viktimisierung der afghanischen Frau und die Dämonisierung des Feindes über eine brutale und fehlgeleitete Hypermaskulinität sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Die »barbarische Frauenfeindlichkeit« der Taliban bildet in allen Medien das zentrale Thema, an dem die Verabscheuungswürdigkeit und Gefährlichkeit des Gegners festgemacht werden. (Sexualisierte) Gewalt gegen Frauen und eine extreme Frauenfeindlichkeit werden dabei ausschließlich als Merkmal des »orientalisierten Anderen« dargestellt und fungieren als definitiver Beweis seiner kulturellen Rückständigkeit. Wiederholt werden die Taliban als frauenfeindliche Vergewaltiger und Unterdrücker herausgestellt. „Taliban-Krieger vergewaltigen Afghanistans schöne Töchter“, lautet beispielsweise eine Schlagzeile der Bildzeitung (27.9.2001), oder: „Taliban-Terror! Wie Mädchen in Afghanistan leiden müssen“ (Bild 20.10.2001). Gleichzeitig wird durch die Art der Darstellung das Bild einer auf Freiheit und Gleichheit beruhenden westlichen (Geschlechter-) Ordnung als »zivilisatorisches Gegenmodell« zu der als besonders abartig und frauenverachtend gekennzeichneten (islamischen) Männerherrschaft der Taliban (implizit) gestärkt.
Diese Deutungsmuster haben Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Beurteilung (außen-) politischen Handelns, insbesondere im Hinblick auf die Legitimität des militärischen Vorgehens. Die wiederholt herausgestellte »barbarische Frauenfeindlichkeit« des Feindes lässt ein militärisches Einschreiten – parallel zu den offiziellen Begründungsmustern des Krieges – aus humanitären und ethischen Gründen gerechtfertigt und geradezu unausweichlich erscheinen. Der Rekurs auf kolonialistische Wahrnehmungsmuster, demzufolge sich der »weiße Mann« als zivilisatorisch überlegen imaginiert, der die »Wilden« von der »Barbarei« befreien müsse, ist dabei unverkennbar. So schreibt Franz Josef Wagner in seiner täglichen Kolumne der Bildzeitung, die diesmal mit der Überschriebt „Liebe Mama“ an seine Mutter – stellvertretend für alle Mütter – adressiert ist: „Mama, wir bombardieren Afghanistan, weil wir auch die afghanische Frau befreien müssen.“ (30.10.2001)
Während vor und im Verlauf des Krieges das Thema Verschleierung der afghanischen Frau bzw. Zwangsverschleierung durch die Burka im Vordergrund der Berichterstattung standen, rückt mit dem »Etappensieg« in Kabul Anfang November 2001 das Motiv der Entschleierung in den Mittelpunkt. In der Darstellung der Medien scheint es geradezu zu einer euphorischen Massenentschleierung zu kommen, bei der sich die afghanischen Frauen enthusiastisch der verhassten Burka entledigen und damit zugleich ihr wahres Gesicht hinter dem Schleier als modebewusste und geschminkte Frau offenbaren. Der in Wort und Bild vollzogene Prozess der Entschleierung wird dabei kontinuierlich mit einer Rhetorik von Befreiung und Freiheit verknüpft: „Auf den Basaren fanden die Frauen, die zögerlich ihre Burkas abzuwerfen begannen, wieder Lippenstift und modische Kleidung. Kein Zweifel: Hier war ein Großteil des Landes befreit worden.“ (Spiegel 47/2001)
Der symbolische Charakter der Darstellung spiegelt sich insbesondere in der Bilderpolitik wider: Nach dem Sturz des Talibanregimes zirkulieren in den Medien zahlreiche Fotos von glücklich entschleierten afghanischen Frauen, die die Burka abgelegt oder angehoben haben, und verleihen dem Krieg im Nachhinein einen moralischen Mehrwert. Die Fotos sind allesamt auffallend ähnlich aufgebaut: Zu sehen ist stets eine Frau mit einer über den Kopf hochgeschlagenen Burka oder einem Kopftuch inmitten einer gesichtslosen Menge von Frauen, die nach wie vor die Burka tragen. Häufig stehen die Fotos ohne expliziten Bezug zum Text, d.h. sie begleiten die Kriegsberichterstattung, ohne dass in den Artikeln überhaupt auf die spezifische Situation der Frauen eingegangen würde. Die Bedeutung der Fotos erschließt sich primär über den Kontext, insbesondere aus den Bildunterschriften, so z.B.: „Befreite afghanische Frauen: Über Jahre gequält“ (Spiegel 48/2001), „Afghanische Frauen nach dem Fall von Kabul: Lippenstift wiederentdeckt“ (Spiegel 47/2001) und: „Nach fünfjährigem Versteckt unter dem Ganzkörperschleier endlich wieder im Straßenbild von Kabul: Lächelnde Frauen“ (taz 15.11.2001). Die Fotos der »entschleierten Afghanin« kreieren die Erwartungshaltung eines Vorher und Nachher (Dietze 2006, S.228). Die Botschaft verheißt: Eine Frau ist bereits entschleiert, die anderen werden bald folgen. Mehr noch als die textlichen Ausführungen vermitteln die Fotos Authentizität, sie scheinen unmittelbar und unmissverständlich zu belegen, dass der Krieg (doch) etwas Gutes bewirkt hat: die Entschleierung (= Befreiung) der afghanischen Frau, die wiederum stellvertretend für die Befreiung der afghanischen Nation steht.
Unter der Burka kommt stets eine jugendlich wirkende, strahlende und glücklich lächelnde Frau zum Vorschein; wodurch das Stereotyp der schönen und exotischen Orientalin unter dem Schleier assoziiert wird. Zum anderen wird die Darstellung der afghanischen Frau fortlaufend mit einem modernen »westlichen« Weiblichkeitsideal kontrastiert, das zugleich als Maßstab und stille Norm fungiert. „Das neue Leben der Mädchen im befreiten Kabul. Sie träumen von Lippenstift und bunten Kleidern“, lautet etwa eine Schlagzeile der Bildzeitung (15.11.2001).
Auch wenn die Fotos nunmehr unverhüllte Personen und individuelle Gesichter zeigen, wird die Anonymität der Darstellung nicht durchbrochen; keine der entschleierten Frauen kommt selbst zu Wort oder wird mit vollem Namen benannt.
Auch in der Berichterstattung über die politische Situation in Afghanistan nach dem Sturz des Talibanregimes offenbart sich der symbolische Gehalt der fotografischen Repräsentationen. So nimmt die Bildzeitung auf die weiblichen Delegierten der Petersberg-Konferenz Bezug: Sie zeigt Sima Wali und greift in der Überschrift erneut das Stereotyp der »geheimnisvollen orientalischen Schönheit« auf: „Wer ist die schöne Afghanistan-Unterhändlerin?“ (1.12.2001). Auf politische Ansichten, Ziele oder Forderungen der weiblichen Delegierten wird hier, wie in den meisten anderen untersuchten Medien, nicht näher eingegangen. Konkrete politische An- und Absichten werden lediglich von den männlichen Protagonisten geäußert – bzw. in der medialen Wiedergabe berücksichtigt. So werden die männlichen Konferenzteilnehmer in der Regel namentlich, mit Lebenslauf und politischem Hintergrund vorgestellt, einzeln interviewt und nach ihren politischen Absichten befragt (z.B. Spiegel 48/2001), die Frauen nur im Bild gezeigt
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die afghanische Frau wurde in den Medien weniger als Individuum wahrgenommen, sondern fungiert als Symbol für den Erfolg des Krieges und den »demokratischen« Neubeginn in Afghanistan. Auch die Thematisierung von Gewalt gegen Frauen bzw. die medial herausgestellte Empörung über die Missachtung von Frauenrechten durch die Taliban sowie die zum Beweis einer neuen Ordnung gezeigten »befreiten« und »entschleierten« Frauen bedeuten nicht zwangsläufig ein wirkliches Interesse an den Belangen der afghanischen Frauen, ihren Lebensrealitäten und der nachhaltigen Umsetzung der Forderung nach Frauenrechten.
Ein erstes Indiz dafür ist das selektive Auftauchen des Themas. Die afghanische Frau und der Verweis auf die Missachtung bzw. die Forderung nach Wiederherstellung von Frauenrechten kommen in der Berichterstattung vor allem in spezifisch thematischen Konstellationen vor und sind zudem auf einen zeitlichen Rahmen von wenigen Monaten begrenzt. Sie stehen vor allem dann auf der Agenda, wenn es um die vermeintliche Brutalität und Frauenfeindlichkeit des Gegners bzw. des Islams im Allgemeinen, das Ende der Talibanherrschaft sowie die Motive und Gründe des eigenen, außenpolitischen Handelns geht.
Des Weiteren fällt die weitgehende Ignoranz gegenüber afghanischen Frauen als aktiv und politisch Handelnde und damit als Akteurinnen und Subjekte des Diskurses ins Auge. Es überwiegt eine homogenisierende Perspektive, die die afghanische Frau primär auf die Rolle des hilflos ausgelieferten Opfers – der Taliban, des Islams oder des Krieges – reduziert. Dass eine Afghanin als Individuum, mit Namen, Beruf und eigenen Ansichten vorgestellt wird, bleibt im Kontext der gesamten Berichterstattung eine Randerscheinung. Afghanische Frauen erhalten in den Medien nur selten eine eigene Stimme; sie werden nur selten zu ihren politischen Ansichten direkt befragt, noch werden ihre spezifischen Interessen, Erfahrungen und Einschätzung in der Berichterstattung berücksichtigt. Politische Meinungen von Frauen werden zudem sehr selektiv wiedergegeben. So wurden z.B. Berichte der Organisation RAWA über die Grausamkeit der Taliban wiederholt zitiert – nicht jedoch ihre grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem Krieg. Mehrfach wurde herausgestellt, dass sich afghanische Frauen für mehr Frauenrechte einsetzen wollten, aber was sie darunter genau verstehen, wie sie sich die Umsetzung vorstellen, was ihre zentralen Ziele sind etc. ist für die Medien nicht von Bedeutung. Die reale Verbannung der afghanischen Frau aus der Öffentlichkeit wiederholt sich somit in dem medialen Sprechen über die afghanische Frau, in der ihr abermals Handlungsmacht aberkannt und eine eigene Stimme verweigert werden.
Dass das mediale Interesse an der Situation der afghanischen Frau genauso schnell wieder abebbte, wie es begonnen hatte, kann als weiterer Beleg für die Oberflächlichkeit und Symbolhaftigkeit der Darstellung interpretiert werden. Kaum jemand scheint sich heute noch für die Umsetzung der zuvor proklamierten Frauenrechte oder die tatsächliche Lage der afghanischen Frau zu interessieren. Die Forderung, Frauen in die politische Neugestaltung Afghanistans verstärkt einbeziehen zu wollen, blieb kaum mehr als ein Lippenbekenntnis. Die vormals in den Medien für ihren tapferen Widerstand gegen die Taliban gelobte Frauenorganisation RAWA wurde zu den offiziellen Nachkriegs-Verhandlungen auf dem Petersberg noch nicht einmal eingeladen, was für die Medien keinerlei Notiz oder Empörung mehr Wert war. Auch die Tatsache, dass lediglich zwei der Minister_innenposten an Frauen vergeben wurden, scheint der zuvor noch lautstark verkündeten Forderung, Frauen sollten in der neuen gesellschaftspolitischen Ordnung eine zentrale Rolle spielen, Genüge getan zu haben.
Irakkrieg
Der Feind als ein Regime frauenquälender Schurken
Der Bezug auf bedrohte oder leidende Frauen und Kinder stellt auch in dem zweiten im Namen des »Krieg gegen den Terror« geführten Krieges im Irak (offizielle Dauer 20.3.-14.4.2003) eine vordergründige Diskursfigur dar, allerdings mit anderen Vorzeichen. Die Berichterstattung über die ersten Wochen des Irakkrieges wird von einer ausgeprägten Bilderpolitik begleitet, in der Frauen, Mädchen und Kinder als Kriegsopfer, Notleidende und Flüchtlinge im Vordergrund stehen. „Am schlimmsten leiden Iraks Kinder“, titelt die Bildzeitung (31.3.2003) und präsentiert vier großformatige Fotos, die weinende und verletzte Kinder zeigen. Dieselben oder ähnliche Agenturfotos sind auch in der taz (z.B. 31.3.2003), FAZ (z.B. 31.3.2003) und im Spiegel (z.B. 15/2003) zu finden. Die Fotos zeigen überwiegend Mütter mit ihren kleinen Kindern auf der Flucht oder einzelne verletzte Kinder, wobei daran appelliert wird, dass Kinder als besonders schutzbedürftig gelten. Der Bildausschnitt ist zumeist so gewählt, dass individuelle Gesichter, geprägt von einem Ausdruck der Verzweiflung und des Schreckens, im Vordergrund stehen. Die Art und Weise der visuellen Darstellung ist von Bedeutung: „Mitleid und Mitgefühl stellen sich bei Fotos ein, auf denen identifizierbare Einzelpersonen dargestellt werden“, halten Kirchner et al. (2002, S.36) anlässlich der Berichterstattung über den Kosovokrieg fest. Diese Tradition setzt sich auch in der Irakkriegsberichterstattung fort. So werden flüchtende Männer eher als Teil einer großen Masse gezeigt, während die Ikonisierung des Leidens Frauen und Kindern bzw. Mädchen vorbehalten bleibt. Der Bezug auf »FrauenundKinder« als Opfer von Kriegsgewalt, Flucht und Vertreibung erfüllt in diesem Kontext eine den Krieg delegitimierende Funktion.
Im Unterschied zum Afghanistankrieg fällt besonders auf, dass die Symbolik des Schleiers bzw. das Narrativ von Verschleierung und Entschleierung stark in den Hintergrund tritt. Kaum noch wird in den Texten und Bildunterschriften auf die Verschleierung der irakischen Frau Bezug genommen, selbst dann nicht, wenn auf den Fotos verschleierte Frauen zu sehen sind. Das kann damit zusammenhängen, dass die Verknüpfung des Irakkrieges mit dem Feindbild Islam weniger vordergründig ist als im Afghanistankrieg.
Der Verweis auf Frauenunterdrückung und (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen fungiert innerhalb der Irakkriegsberichterstattung in erster Linie als Beleg für eine krankhafte Grausamkeit einzelner Männer, weniger als Zeichen für die vermeintliche Rückständigkeit und Barbarei einer ganzen Gesellschaft (Taliban) oder religiösen Kultur (Islam), wie es im Afghanistankrieg der Fall war. Gewalt gegen Frauen und Frauenfeindlichkeit werden vielmehr als ein individualistisches Kennzeichen einzelner Machthaber dargestellt, allen voran als Merkmal von Saddam Hussein und seinen beiden Söhnen. Nur selten wird jedoch die Diskussion über Motivation und Beweggründe des Krieges explizit mit dem Verweis auf die Wiederherstellung oder Einführung von Frauenrechten verknüpft. Die Legitimationsfigur des »embedded feminism« entfaltet ihre Wirkmächtigkeit eher indirekt. So wird die Abscheulichkeit des Feindes, ähnlich wie bei der Dämonisierung der Taliban, vor allem mit der Entrechtung von Frauen und brutaler (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen und Mädchen begründet. Häufig sind stark dramatisierende Berichte über Vergewaltigungen, Folter und Hinrichtungen von Frauen, um den »alltäglichen Horror« zu illustrieren: „Dies ist ein Regime, das alle Fußknochen eines zweijährigen Mädchens einzeln zerbricht, um seine Mutter zu zwingen, den Aufenthaltsort ihres Mannes preiszugeben. […] Dies ist ein Regime, das eine Frau, eine Tochter oder andere weibliche Verwandte wiederholt vor den Augen eines Mannes vergewaltigt.“ (Spiegel 5/2003) Saddam Husseins Sohn Udai wird als gefürchteter „Frauenschreck“ und „brutaler Playboy“ bezeichnet, dem die Frauen willkürlich ausgeliefert seien (alles Spiegel 25/2003). Saddam und seine Söhne ließen Frauen täglich zu ihrem eigenen Vergnügen entführen, foltern und töten, wird wiederholt betont (ebd.). Und die Bildzeitung berichtet: „Frauen, die sich im privaten Kreis gegen Saddam ausgesprochen hatten, wurden in Folterkellern wochenlang nackt gehalten, geschlagen, vergewaltigt.“ (14.2.2003)
Trotz der zumeist ablehnenden Haltung der deutschen Medien zum Irakkrieg erscheint der Krieg durch die permanente Fokussierung auf die Situation der irakischen Frauen doch zumindest moralisch gerechtfertigt, und für die Frauen einen positiven Nebeneffekt mit sich zu bringen. Wenn Saddam Hussein und seinen Söhnen das Handwerk gelegt wird, kehrt auch für die irakischen Frauen wieder Frieden ein, ließe sich der Subtext der Berichterstattung zusammenfassen.
Kurz vor dem von US-Präsident Bush sen. im April 2001 verkündeten Sieg tauchen in den Medien ebenfalls kurzzeitig Fotos und Erzählungen von geretteten und befreiten Frauen und Mädchen auf. Am 10.4.2003 zeigt die Bildzeitung zwei großformatige Fotos, die erneut die im kollektiven Bildgedächtnis fest verankerten Bilder aktualisieren. Gezeigt wird ein US-Soldat mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. Bildunterschrift: „Ein Bild des Friedens. Ein US-Soldat hält fürsorglich ein kleines Mädchen, das bei den Kämpfen in Bagdad leicht verletzt wurde“. Gleich daneben sieht man das Foto einer in die Kamera strahlenden jungen Frau, die ihren Daumen empor streckt. Bildunterschrift: „Daumen rauf! Ein irakisches Mädchen begrüßt die alliierten Truppen“. Auch im Text ist wiederholt von den glücklichen Frauen die Rede: „Nach drei Wochen Bombenangriffen ruft eine Frau US-Soldaten weinend zu: ‚Wir lieben euch’.“ Der Rückgriff auf die altbewährten (Geschlechter-)Stereotypen von frauenfeindlichen Schurken und heldenhaften Soldaten auf der einen, geretteten »FrauenundMädchen« auf der anderen Seite, verleiht so auch dem Irakkrieg – trotz aller Kritik – im Nachhinein einen positiven Nutzen.
Die Schleiersymbolik in der Irakkriegsberichterstattung ist zudem keineswegs so eindeutig auf die Lesart Zwang und Unterdrückung festgelegt wie es im Afghanistankrieg der Fall war. Zu beobachten ist ein wiederkehrendes Bildmotiv, welches zumeist ohne Textbezug auftritt. Die Fotos zeigen schwarz verschleierte und schwer bewaffnete irakische Soldatinnen. Die Bildunterschriften setzen die Fotos regelmäßig in Zusammenhang mit dem »Terror-Regime« und assoziieren eine bevorstehende Gefahr (für die USA). So wird etwa betont, dass es sich bei den Frauen um Sympathisantinnen Saddam Husseins handele, die sich in einem „Protestmarsch gegen die USA“ (Spiegel 5/2003) befänden und dass ein Bürgerkrieg sowie Racheaktionen gegen die USA bevor stünden. Auch die taz verfolgt eine ähnliche Bilderpolitik: Schwarz verschleierte Frauen mit großen Gewehren zieren die Titelseite am 26.3.2003, darunter heißt es: „In der Stadt Jusifija, 30 Kilometer südlich von Bagdad gelegen, rufen bewaffnete Frauen antiamerikanische Parolen“. In keinem der Artikel wird jedoch auf die bewaffneten Frauen und Soldatinnen eingegangen. Völlig ohne Textbezug symbolisieren die (verschleierten) kampfbereiten Frauen eine besondere Gefahr für die USA und den Westen. Wie schon im zweiten Golfkrieg erscheinen irakische Soldatinnen als „unweibliche Amazonen mit Killerinstinkt“ (Kassel/Klaus 2008, S.270), von denen eine besondere Bedrohung auszugehen scheint. Die Opferrolle schwenkt in „fanatische Guerillaaktivität“ (ebd.) um – ein Motiv, welches für die Darstellung von Frauen in Kriegskontexten – wenn sie als Handelnde, Kämpfende und (potentielle) Täterinnen in Erscheinung treten – ebenfalls Tradition besitzt.
Frauen als stumme Warnung vor dem Truppenabzug
Die Situation der Frauen in Afghanistan und im Irak sowie das Thema Frauenrechte rücken im Verlauf der Konflikt-Berichterstattung immer weiter in den Hintergrund. Afghanische oder irakische Frauen tauchen in den Medien nur noch zu spezifischen Anlässen auf, zum Beispiel, wenn es um das Thema freie Wahlen geht oder wenn parlamentarische Abstimmungen über die Verlängerung des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr anstehen. So wird die Berichterstattung über die Parlamentswahlen in Afghanistan (18.9.2005) oder die Wahlen im Irak (30.1.2005) von Fotos begleitet, die Frauen auf dem Weg zum Wahllokal oder nach erfolgter Stimmabgabe mit blau oder violett gefärbten Zeigefingern (zur Kennzeichnung, dass die Wahl erfolgt ist und um Wahlbetrug zu vermeiden) zeigen (z.B. FAZ 31.1.2005). Die Fotografien der Frauen haben erneut überwiegend Symbolcharakter: Die anonymen Frauen auf den Fotos werden zum Zeichen des geglückten demokratischen Neubeginns des Landes – bei gleichzeitigem Schweigen über die reale Lage der Frauen, ihre Interessen oder Forderungen. So zeigt die taz am 31.1.2005 unter der Schlagzeile „Irak schreitet zur Demokratie“ verschiedene Fotos von Frauen (und Männern) mit dem charakteristischen »Wahlfinger«, den sie „stolz und zufrieden“ (Bildunterschrift) in die Kamera halten. Im Innenteil der Zeitung wird der Bericht fortgesetzt, begleitet von einem Foto, das zwei Frauen bei einer Sicherheitskontrolle vor einem Wahllokal zeigt – wiederum ohne dass die Lage der Frauen Gegenstand des Artikels wäre oder Frauen selbst zu Wort kämen. Auch die Berichterstattung über die Parlamentswahlen in Afghanistan wird vor allem mit weiblichen Wählerinnen bebildert, die vor einem Wahllokal Schlange stehen (z.B. taz 19.9.2005; FAZ 19.9.2005).
Geht es um die Mandatsverlängerungen des Afghanistaneinsatzes und damit verbunden um die Bestimmung des militärischen Auftrages und der konkreten Aufgabenfelder der Bundeswehr vor Ort, ist kaum noch von der Lage der Frauen oder der Einführung von Frauenrechten zu lesen. Dies war zu erwarten, nachdem die Situation der afghanischen Frauen bereits nach dem formalen Kriegsende für die Medien kaum noch von Interesse war. Andere militärische Aufgaben wie die Verteidigung der Sicherheit, Terrorbekämpfung oder Stabilisierung des Landes stehen nunmehr im Vordergrund. Auch der Verweis auf die Burka, die vormals so oft als die schlimmste Form der Frauenunterdrückung und Missachtung der Menschenrechte skandalisiert wurde, taucht in den Texten und Bildunterschriften heute nicht mehr auf. Niemanden scheint es zu verwundern, dass die afghanische Frau die Burka gar nicht abgelegt hat, wie es noch im November 2001 in allen Medien freudig prophezeit wurde.
Das Symbol Burka ist jedoch aus den Medien nicht völlig verschwunden – die Burka bleibt vielmehr als »stille Warnung« präsent. Auf nahezu jedem Foto, das deutsche Bundeswehrsoldaten in Afghanistan zeigt, ist auch eine »Burka-Frau« zu sehen – sei sie auch noch so klein und in weiter Ferne. Die Burka-Symbolik hat sich offensichtlich etabliert und bedarf keiner expliziten textlichen Begleitung mehr. Trotzdem bleibt die »Burka-Frau« als symbolische Referenz erhalten, ihre hartnäckige Präsenz auf den Fotos fungiert wie eine beständige Wiederholung der etablierten Legitimierungsfigur »Krieg für Frauenrechte« bzw. als stumme Mahnung, dass der Militäreinsatz (vermeintlich) auch für die afghanischen Frauen geführt wird.
Literatur
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Enloe, Cynthia (1990): Womenandchildren: Making Feminist Sense of the Persian Gulf Crisis. In: Village Voice, 25. September, S.29-32.
Hunt, Krista (2006): »Embedded Feminism« and the War on Terror. In: Dies./Rygiel, Kim (Hrsg.): (En)Gendering the War on Terror. War Stories and Camouflaged Politics. Hampshire, S.51-72.
Kassel, Susanne (2004): Krieg im Namen der Frauenrechte? Der Beitrag der Medien zur Konstruktion einer Legitimationsfigur. In: Schweitzer, Christine/Aust, Björn/Schlotter, Peter (Hrsg.): Demokratien im Krieg. Baden-Baden, S.161-179.
Kirchner, Andrea/Kreischer, Sebastian/Ruth, Ina (2002): Bilder, die zum Handeln auffordern. In: Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried (Hrsg.): Medien im Krieg. Duisburg, S.29-71.
Klaus, Elisabeth/Kassel, Susanne (2008): Frauenrechte als Kriegslegitimation in den Medien. In: Dorer, Johanna/Geiger, Brigitte/Köpl, Regina (Hrsg.): Medien – Politik – Geschlecht. Feministisch Befunde zur politischen Kommunikationsforschung. Wiesbaden, S.266-280.
Maier, Tanja/Stegmann, Stefanie (2003): Unter dem Schleier. Zur Instrumentalisierung von Weiblichkeit: Mediale Repräsentationen im »Krieg gegen den Terror«. In: Feministische Studien, Heft 1, S.48-57.
Nachtigall, Andrea/Dietrich, Anette (2003): GeschlechterKrieg und FriedensFronten. Zur Funkion(alisierung) der Kategorie Geschlecht im Kontext von Krieg. In: BUKO (Hrsg.): radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke. Berlin, S.129-144.
Nachtigall, Andrea (2012): Gendering 9/11. Medien, Macht und Geschlecht im Kontext des »War on Terror«. Bielefeld.
Pinn, Irmgard/Wehner, Marlies (1995): EuroPhantasien. Die islamische Frau aus westlicher Sicht. Duisburg.
Dr. phil. Andrea Nachtigall ist Professorin für Gender und Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Sie hat zum Thema Geschlecht und Medien im Kontext des »War on Terror« an der Freien Universität Berlin promoviert. Bei diesem Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung einer im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung 2011 entstandenen Studie; diese ist abrufbar unter gwi-boell.de/web/gewalt-konflikt- nachtigall-embedded-feminism- legitimation-medien-3421.html.
Feind – Freund – Feind
Menschenrechte und politisch-ökonomische Interessen
von Johannes Nau
Beziehungen zwischen Individuen wie auch zwischen Politikern und Staaten sind stark geprägt von Bildern, die Akteure von ihrem Gegenüber haben. Emotionen, Vorgeschichte und nicht zuletzt persönliche Interessen und Vorteile aus der Beziehung spielen eine große Rolle bei der Frage, ob diese Beziehung freundlich-positiv oder feindlich-negativ ist. Änderungen dieser inneren Bilder und damit der Beziehungen sind allgegenwärtig und alltäglich. So gibt es viele Beispiele schwankender Relationen zwischen westlichen Regierungen und Herrschern unter anderem des Nahen und Mittleren Ostens: Da wären die guten Beziehungen Saddam Husseins mit dem Westen, die ihm noch in den 1980er Jahren die Lieferung von Rüstungsgütern, Chemieanlagen und Kernreaktoren sicherten, sich jedoch im Zuge des ersten Golfkrieges zu einer erbitterten Feindschaft wandelten. Oder die Beziehung USA-Bin Laden, der ebenfalls in den 1980er Jahren durch die USA finanziell unterstützt wurde und während der sowjetischen Besetzung Afghanistans mit der CIA kooperierte. Zum Staatsfeind Nr. 1 der USA wurde Bin Laden erst nach den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001.
Ein weiteres Beispiel ist die mehrfach wechselnde Beziehung zwischen Muammar al-Gaddafi und westlichen Ländern, vor allem Europas, die hier chronologisch näher beleuchtet wird.
1970er Jahre
Gaddafi wird am 01. September 1969 durch einen unblutigen Militärputsch Libyens Staatsoberhaupt und bestimmt als Revolutionsführer von 1979 bis 2011 diktatorisch die Politik Libyens.
Schon zu Beginn seiner Machtergreifung macht Gaddafi sich wenige Freunde in der Welt. Nachdem er Anfang der 1970er Jahre Palästinenser auffordert, Selbstmordattentate gegen Israel zu begehen, und allen Arabern, die für palästinensische Gruppen kämpfen wollen, anbietet, sie auszubilden und finanziell zu unterstützen, ziehen die USA ihre Botschafter aus Libyen ab.
Gaddafi lobt das »Lod Airport Massaker«, bei dem 1972 am Flughafen Tel Aviv 28 Tote und knapp 80 Verletzte zu beklagen sind, und fordert palästinensische Terrorgruppen auf, ähnliche Anschläge durchzuführen. Er spielt eine Schlüsselrolle im Gebrauch von Öl-Embargos in den 1970er Jahren, um die Ölpreise anzuheben und so den Westen (vor allem die USA) von der Unterstützung Israels abzubringen.
Er lehnt sowohl den sowjetischen Kommunismus als auch den westlichen Kapitalismus ab und beschließt einen Mittelweg.
Unter anderem unterstützt er die Provisional IRA, eine Abspaltung der Irish Republican Army, ideell und materiell, indem er beispielsweise nach einer Reihe terroristischer Anschläge sagt: „Die Bomben, die Großbritannien erschüttern und den Geist der Briten brechen, sind Bomben des libyschen Volkes. Wir haben sie den irischen Revolutionären gesandt, damit die Briten den Preis für ihre vergangenen Taten zahlen“.
Im Dezember 1979 wird die amerikanische Botschaft in Libyen – im Zuge eines Protests gegen den Aufenthalt des gestürzten Schahs von Persien in den USA – von einem Mob attackiert und in Brand gesetzt. Daraufhin erklären die USA Libyen am 29.12.1979 zu einem „state sponsor of terrorism“.
1980er Jahre
Die Beziehungen zu den USA verschlechtern sich weiter, als im August 1981 ein US-Flugzeug über internationalem Gewässer im Mittelmeer von zwei libyschen Jets beschossen wird, da Libyen dieses Gebiet für sich beansprucht. Im Oktober 1981 wird der ägyptische Präsident Anwar Sadat ermordet. Gaddafi spendet dem Attentäter Beifall und spricht von einer gerechten Strafe für Sadats Unterschrift auf dem Camp-David-Abkommen mit den USA und Israel. Zwei Monate später erklärt das US-Außenministerium US-amerikanische Reisepässe für Reisen nach Libyen für ungültig und empfiehlt ihren Bürgern, Libyen zu verlassen.
Ungeachtet der angespannten Lage mit den USA besucht 1982 eine fast 20-köpfige Delegation der österreichischen »Gesellschaft für Nord- und Südfragen« Libyen im Kontext der Friedensbewegung und auf der Suche nach neuen Bündnispartnern. Unter ihnen sind auch die deutschen Grünen Otto Schily und Roland Vogt. Im März 1982 verbietet die US-Regierung Ölimporte aus Libyen. Im gleichen Monat reist Gaddafi auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Kreisky nach Wien. Zu diesem Zeitpunkt herrscht international noch Unverständnis über diese Einladung.
Bei einer Demonstration gegen Gaddafi vor der libyschen Botschaft in London werden im April 1984 Schüsse aus der Botschaft auf die Demonstranten abgegeben; es werden elf Menschen verletzt und eine Polizistin getötet. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Libyen werden daraufhin für mehr als ein Jahrzehnt eingestellt. Nach palästinensischen Angriffen auf die Flughäfen in Rom und Wien 1985 erklärt Gaddafi, er würde weiterhin solche Terroranschläge sowie die RAF, die rote Brigade und die IRA unterstützen, solange europäische Länder »Anti-Gaddafi-Libyer« unterstützen. 1986 berichtet das libysche Fernsehen, Libyen bilde Selbstmordattentäter aus, um amerikanische und europäische Interessen zu attackieren.
Für den Bombenanschlag auf die Diskothek »La Belle« in Berlin im April 1986 macht US-Präsident Ronald Reagan den nach eigenen Aussagen „tollwütigen Hund des nahen Ostens“ Gaddafi persönlich verantwortlich und ordnet Luftangriffe auf Tripolis und Bengasi an, mit dem Ziel, Gaddafi zu töten. Gaddafis Adoptivtochter fällt dieser Aggression zum Opfer, er selbst überlebt dank seiner guten Beziehung zum damaligen maltesischen Ministerpräsidenten Carmelo Bonnici, der ihn vor dem Angriff warnt.
Die Anschläge auf ein Flugzeug der amerikanischen Linie Pan Am im schottischen Lockerbie am 21. Dezember 1988 durch libysche Geheimdienstler und auf Flug 772 der französischen Fluglinie UTA im Niger am 19. September 1989 führen zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehung westlicher Staaten zu Libyen. Es werden UN-Sanktionen gegen Libyen erlassen, welche unter anderem libyschen Flugzeugen verbieten, über das Territorium von UN-Mitgliedsstaaten zu fliegen (Resolutionen 731, 748 und 883 des UN-Sicherheitsrates).
Gaddafi unterstützt in dieser Zeit immer wieder islamistische und maoistische Terrorgruppen, unter anderem auf den Philippinen, und Paramilitärs in Ozeanien. So versucht er, die Maori in Neuseeland zu radikalisieren, um die USA zu destabilisieren, woraufhin Australien 1987 die diplomatischen Beziehungen zu Libyen abbricht. 1988 wird herausgefunden, dass Libyen im Begriff ist, chemische Waffen zu bauen.
1990er Jahre
Anfang der 1990er Jahre kommt es zu einer weiteren Zuspitzung in der Beziehung Libyens mit dem Westen: Zwei libysche Geheimdienstagenten sind mutmaßlich für die Bombenanschläge auf die beiden Flüge in den Jahren 1988 und 1989 verantwortlich. Da Gaddafi sich weigert, diese auszuliefern, beschließt der UN-Sicherheitsrat im November 1993 weitere Sanktionen gegen Libyen. Auch ein Besuch von UN-Generalsekretär Kofi Annan im Dezember 1998 bringt Gaddafi nicht dazu, die Täter auszuhändigen. Im April 1999 lenkt Gaddafi schlussendlich doch ein und liefert die Attentäter aus, damit diese auf neutralem Boden verurteilt werden können. Der Sicherheitsrat hebt die Sanktionen noch am selben Tag auf.
Im Februar 1996 gibt es einen weiteren westlichen und durch den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 mitfinanzierten Bombenanschlag auf Gaddafis Eskorte. Mehrere Gefolgsleute Gaddafis sterben, er selbst bleibt unverletzt.
Im gleichen Jahr beschließt der US-Kongress den »Iran and Libya Sanctions Act«, der alle Firmen bestraft, die innerhalb eines Jahres mehr als 40 Mio. US$ in Libyens Öl- oder Gassektor investieren. 2001 wird der Plan um weitere fünf Jahre erneuert (und 2006 in »Iran Sanctions Act« umbenannt).
In den späten 1990er Jahren solidarisiert sich Gaddafi trotz Widerstand des Westens mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloševiæ, auch dann noch, als dieser der ethnischen Säuberung an Albanern im Kosovo beschuldigt und angeklagt wird. Dennoch besucht der italienische Ministerpräsident Massimo D’Alema am 2. Dezember 1999 als erster westlicher Regierungschef seit 15 Jahren Libyen. Danach suchen immer mehr westliche Politiker die Nähe Gaddafis, vor allem aus ökonomischen Interessen.
2000er Jahre
Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts knüpft Gaddafi eine enge, jahrelange Freundschaft zu Hugo Chavez, dem Präsidenten von Venezuela. Gleichzeitig verbessern sich nach den Anschlägen auf das World Trade Center von 11. September 2001 die Beziehungen Gaddafis zum Westen deutlich: Libysche Geheimdienste werden in den »global war on terror« integriert. Libysche Offiziere identifizieren und foltern im Auftrag der CIA Libyer, die mit al Kaida in Verbindung gebracht werden. Später beschreibt die CIA „surreale Treffen“ mit libyschen Geheimdienstlern, die mit dem Anschlag auf den PanAm Flug von 1988 in Verbindung gebracht werden.
Ab 2003 kooperiert die Europäische Union mit dem libyschem Regime, um afrikanische Flüchtlinge von den EU-Außengrenzen fern zu halten. Nach Angaben von Menschenrechtlern nimmt die EU dabei auch menschenunwürdige Zustände, Folter in libyschen Internierungslagern und den sicheren Tod der Flüchtlinge durch »Verfrachtung« in die Wüste in Kauf und finanziert dies sogar zum Teil.
Im selben Jahr gibt Gaddafi bekannt, dass Libyen an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen gearbeitet habe. Das ABC-Waffenprogramm wird daraufhin offen gelegt und demontiert, wodurch sich das Verhältnis zum Westen weiter stark verbessert.
Nach der US-Invasion in den Irak 2003 normalisieren sich die Beziehungen des Westens zu Libyen noch mehr: Es kommt zu Waffenlieferungen an Tripolis, und es werden Abkommen über Erdölförderung abgeschlossen.
2004 hebt US-Präsident George W. Bush die ökonomischen Sanktionen gegen Libyen auf, und im Januar besucht eine US-amerikanische Kongressdelegation offiziell den libyschen Staat.
Im März des selben Jahres besucht Tony Blair Libyen und durchbricht so die lange Isolation des nordafrikanischen Staats durch Großbritannien. Er lobt Gaddafi für die Abwendung von Nuklearprogrammen, und erstmals werden Geschäftsverbindungen mit Libyen aufgenommen. Diese beinhalten unter anderem die Lieferung militärischer Ausrüstung im Wert von 40 Mio £.
Im Oktober 2004 wird eine von der deutschen Firma Wintershell betriebene Ölbohranlage in Libyen von Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeweiht, nachdem Libyen Kompensationszahlungen für die Bombenanschläge von 1986 auf die Diskothek in Berlin getätigt hatte.
2006 polemisiert Gaddafi wieder gegen den Westen und verordnet eine dreitägige Staatstrauer nach dem Tod Saddam Husseins. Es folgen Kürzungen westlicher Subventionen in die libysche Wirtschaft. Trotzdem streichen die USA Libyen 2006 nach 27 Jahren von der Liste der Staaten, die den Terrorismus unterstützen, da Gaddafi öffentlich dem Terrorismus abgeschworen hat.
Am 10. Dezember 2007, dem Welttag der Menschenrechte, besucht Gaddafi zum ersten Mal seit 34 Jahren Paris und wird mit militärischen Ehren empfangen. Hauptgrund für Gaddafis Besuch sind Waffengeschäfte mit Frankreich. Im Jahr 2008 erfolgt der Gegenbesuch von Sarkozy in Libyen, um Nukleartechnologie an Gaddafi zu verkaufen. (Im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2012 wird ein Dokument veröffentlicht werden, welches besagt, dass Gaddafi 2007 Sarkozys Wahlkampf mit 50 Mio. Euro unterstützt habe. Dies spiegelt gut die Wechselwirkung von persönlichen Interessen auf der einen und politischen und wirtschaftlichen Vorteilen auf der andern Seite wider).
Im Juli desselben Jahres kommt es zu einer diplomatischen Krise mit der Schweiz, da Gaddafis Sohn Hannibal und seine Gattin in Genf wegen Körperverletzung, Drohung und Nötigung angezeigt und vorläufig festgenommen werden. Libyen verhängt einen vorübergehenden Boykott auf schweizer Importe und bestimmt einen Visastopp für schweizer Bürger.
Im Januar 2009 wird Gaddafi von König Juan Carlos in Madrid empfangen. Dabei wird eine 17 Mrd. US$ schwere Investition spanischer Firmen in die libysche Wirtschaft ausgehandelt. Im August 2009 besucht der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi Libyen und spricht von einer „echten, tiefen Freundschaft“ zu Gaddafi. Ein Jahr zuvor hatte die Regierung in Rom Libyen Entschädigungszahlungen in Höhe von 3,4 Mrd. Euro für die Kolonialzeit von 1911 bis 1941 zugesagt. In den 2000er Jahren importiert Italien 60% seines Öls und 40% seines Erdgases aus Libyen. Darüber hinaus verspricht Berlusconi Gaddafi über 20 Jahre jährlich 250 Mio. Euro für die Zusage, alle nordafrikanischen Flüchtlinge, die Italien um politisches Asyl ersuchen, aufzunehmen.
Am 23. September 2009 kommt es dann bei der ersten Rede Gaddafis vor der UN-Vollversammlung zu einem Eklat. Gaddafi zerreißt einige Seiten der UN-Charta. Diese sei wertlos, da es Aufgabe der Vereinten Nationen sei, Frieden zu schaffen, es stattdessen seit ihrer Gründung aber 65 Kriege weltweit gegeben habe. Weiterhin nennt er den Sicherheitsrat einen »Terrorrat«, da dieser mit Nuklearmächten besetzt sei.
2010
Trotz der Furore vor der UN-Vollversammlung wird Gaddafi im August 2010 mit allen Ehren in Rom empfangen. Im Herbst besucht er erneut Frankreich. Die beiden Staaten einigen sich auf eine strategische Partnerschaft zum Bau eines Kernkraftwerks und die Lieferung französischer Kampfjets an Libyen.
Die 2010 veröffentlichten Wikileaks-Depeschen geben Klarheit, dass die Freilassung des in England inhaftierten Lockerbie-Attentäters Abdelbasset al-Megrahi im August 2009 nicht aus medizinischen Gründen erfolgte, sondern Libyen damit gedroht hatte, es würden harte, sofortige und unversöhnliche Konsequenzen folgen, sollte Megrahi im schottischen Gefängnis sterben. Dazu gehöre der sofortige Abbruch wirtschaftlicher Beziehungen mit Großbritannien und die Bedrohung britischer Diplomaten und Bürger in Libyen.
Anlass für den erneuten und letzten Bruch zwischen Gaddafi und dem Westen ist Gaddafis Verurteilung der tunesischen Revolution im Januar 2011 und seine Solidarisierung mit Präsident Ben Ali. Nach Massenprotesten in Libyen und den ersten Toten im Februar 2011 bricht Peru am 22.2. als erstes Land die diplomatischen Beziehungen mit Libyen ab. Am gleichen Tag suspendiert die Arabische Liga die Mitgliedschaft Libyens. Gaddafi erklärt die Liga daraufhin als illegitim: „Die Arabische Liga ist erledigt. Es gibt nichts wie die Arabische Liga.“
Westliche Staaten, darunter Großbritannien und die USA, verurteilen Gaddafi für die gewaltsame Niederschlagung der Proteste in Libyen, woraufhin sich auch Europa immer mehr von Gaddafi distanziert. So erkennt Frankreich im März 2011 noch während des Bürgerkriegs, als erstes Land den Nationalen Übergangsrat als legitime Führung Libyens an. Sechs Monate später sind es bereits 98 Länder. Auch Gaddafis langjährige Freundschaft zu Italien wird von italienischer Seite auf Eis gelegt.
Am 19. März 2011 beginnt die NATO unter der Führung von Frankreich, Großbritannien und den USA einen Luftkrieg gegen das Regime. Als mutmaßlicher Kriegsverbrecher und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird Gaddafi seit dem 27. Juni 2011 weltweit mit Haftbefehl gesucht. Er wird am 20. Oktober 2011 nach seiner Gefangennahme getötet.
Fazit
Wie am Aufstieg und Fall Gaddafis zu erkennen ist, waren die Wechsel in der Beziehung Libyens zu westlichen Ländern zahlreich, und sie reichten von ausgeprägten Feindschaften bis hin zu langjährigen Allianzen. Zwar kam es aus politischen Gründen immer wieder zu Brüchen mit einzelnen Staaten, diese waren jedoch auf Grund wirtschaftlicher Interessen der westlichen Länder meist nicht von Dauer. Libyen als zeitweise viertgrößter Erdölproduzent Afrikas und Besitzer von vier Prozent der weltweiten Ölreserven war für Europa und die USA zu interessant, um auf geschäftliche Beziehungen zu verzichten. Darüber hinaus konnte die EU die Lösung der Flüchtlingsfrage an Gaddafi delegieren, der – gegen entsprechende finanzielle Zuschüsse – gerne half. Besonders bemerkenswert sind Frequenz und Ausmaß der Beziehungswechsel. So liegt beispielsweise zwischen dem Beschluss einer strategischen Partnerschaft mit Frankreich für den Bau eines Kernkraftwerks sowie der Lieferung von Kampfjets und dem Bombardement Libyens unter anderem durch Frankreich im Zuge der NATO-Koalition nur ein knappes halbes Jahr.
Insbesondere die EU und die USA konnten zur Erfüllung ihrer wirtschaftlichen Interessen offenbar problemlos über die die Menschenrechte missachtenden Taten Gaddafis – von Terrorakten über die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen bis hin zu Solidaritätsbekundungen und finanzieller Unterstützung für terroristische Gruppen – hinwegsehen. Sie machten Gaddafi immer wieder zu einem respektierten Partner und Verbündeten, um Geschäfte vor allem mit Waffen, Rüstung und Erdöl abschließen zu können. Mit ihren Rüstungsexporten an Libyen unterstützten sie nicht zuletzt auch Gaddafis Menschenrechtsverletzungen an der eigenen Bevölkerung.
Literatur
Cassola, Arnold (2011): Diktator Gaddafi und die falschen Freunde im Westen. Die Welt, 9.9.2011.
Davis, Brian L. (1990): Qaddafi, Terrorism, and the Origins of the U.S. Attack on Libya. Westport: Greenwood Publishing Group.
Terroristen: Diskrete Bitte. Zehn Jahre nach dem Anschlag auf die Berliner Disko »La Belle« soll dem mutmaßlichen Attentäter der Prozeß gemacht werden. Der Spiegel 16/1996.
Poßarnig, Renate (1986): Gaddafi. Enfant terrible der Weltpolitik. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Sadek, Hassan (2005): Gaddafi. München: Diederichs.
Schnurbusch, Ingrid (1994): Libyen im Fadenkreuz. Bonn: Bouvier.
Sullivan, Kimberley L. (2008): Muammar Al-Qaddafi’s Libya (Dictatorships). Minneapolis: Lerner Pub Group.
Johannes Nau ist Diplom-Psychologe. Er studiert Peace & Conflict Studies (International Double Award M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und der University of Kent.
Medien im Krieg
Zwischen Instrumentalisierung und Widerstand
von María Cárdenas Alfonso
Im Zeitalter der Massendemokratien spielen die Medien eine immer bedeutendere Rolle: Sie stellen die Kommunikation zwischen verschiedenen Akteuren her und erfüllen Aufgaben, die das demokratische Funktionieren des Staates sichern und kontrollieren sollen. In bewaffneten Konflikten und militärischen Auseinandersetzungen ist die Handlungsfreiheit der Massenmedien jedoch oft durch zunehmenden Leistungsdruck, erschwerte Arbeitsbedingungen und politische Instrumentalisierungsversuche eingeschränkt. Welchen Grad der Handlungsfreiheit die Journalisten bei ihrer Berichterstattung aufrecht erhalten können, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab.
Die Rolle der Massenmedien in Konflikten
In demokratischen Gesellschaften kommt den Massenmedien aus einer normativen Perspektive eine zentrale Rolle zu:
- die Vermittlung zwischen verschiedenen Akteuren (insbesondere Exekutive und Bevölkerung),
- die Kontrolle der demokratischen Institutionen und der Exekutive sowie
- die (De-) Legitimation von politischen Entscheidungsprozessen.
Mittels Watchdog-Journalismus, Agenda-Setting und Gatekeeping stellen die Massenmedien die Kommunikation zwischen Exekutive und Bevölkerung her, definieren gesellschaftlich relevante Themen, sollen Rezipienten helfen, sich in ihrer Gesellschaft zu orientieren, und beeinflussen somit auch den Meinungsbildungsprozess.
Je mehr Nachrichtenfaktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto wahrscheinlicher ist seine massenmediale Berücksichtigung durch Nachrichtenagenturen, Journalisten und Redakteure (vgl. Galtung und Ruge 1965). Mit Blick auf Kriegshandlungen wird schnell deutlich, dass diese einen Großteil relevanter Nachrichtenfaktoren (z.B. Aktualität, Relevanz, Negativität) erfüllen und ihnen daher in den Massenmedien große Beachtung geschenkt wird (vgl. Eilders und Hagen 2005, S.206).
Gleichzeitig wird hier auch ein erster Konflikt zwischen Medienlogik und konfliktpräventiver, deeskalierender und pazifistischer Medienberichterstattung sichtbar: Politische Konflikte erlangen meist erst dann massenmediale Aufmerksamkeit, wenn sie eskalieren und gewaltsam ausgetragen werden. Denn durch die Militarisierung eines Konflikts kann die inhaltliche Komplexität des politischen Konflikts auf die militärische Austragung desselben reduziert werden: Kurzfristige Ziele (z.B. militärische Siege) treten in den Vordergrund, da sie aktuell und eindeutig identifiziert und vermittelt werden können, die politischen Motive der einzelnen Akteure treten derweil jedoch in den Hintergrund. Dies erschwert es allen beteiligten Akteuren, in einen inhaltlichen Dialog über die politischen Interessen der jeweiligen Konfliktakteure und in einen beratenden Prozess zu treten. Besonders problematisch ist dieses Phänomen für den Unterlegenen, für den es so unweit schwieriger ist, seine politischen Forderungen zu vermitteln und (deeskalierende) politische Unterstützung, beispielsweise aus der Bevölkerung, für seine Interessen zu bekommen.
Aufgrund der Bedeutung für die politische Legitimation, die massenmedialer Kommunikation im Zeitalter der Massendemokratien zukommt, werden Ereignisse zunehmend medialisiert und entsprechend aufbereitet, um sie der Medienlogik (und insofern auch den Nachrichtenfaktoren) anzupassen. Vor diesem Hintergrund wird in der Aktualität häufig von einer Mediendemokratie gesprochen (vgl. u.a. Schatz, Rösler, Nieland 2002; Sarcinelli 2005). In bewaffneten Konflikten ist diese Situation besonders problematisch: Politische Akteure versuchen, die Medien für ihre Darstellung der Ereignisse zu instrumentalisieren. Gleichzeitig sind die Medien aber nicht als »neutrale Leinwand« zu betrachten, „auf die die Konfliktparteien ihre Bilder vom Krieg projizieren können“ (Brüggemann und Weßler 2009, S.635). Sie sind vielmehr ebenso ein politischer Akteur, der allerdings auch die sich im Spannungsfeld zueinander befindenden Interessen seiner Kundschaft (sowohl Mediennutzer bzw. Rezipienten als auch Anzeigenkundschaft) und Informanten (Militär, Regierung, politische Elite u.a.) berücksichtigen muss.
Die Medialisierung von Kriegen
Mit dem Aufkommen erster Tageszeitungen begann auch die mediale Begleitung von Kriegen. Der Krimkrieg (1853-1856) wurde als erster von Journalisten unabhängiger Tageszeitungen begleitet; die Medien erkannten den ökonomischen Mehrwert der Kriegsberichterstattung. Um dem Kontrollverlust durch unabhängige Kriegsberichterstattung vorzubeugen bzw. ihn zu vermeiden, entwickelten Staaten in den folgenden Weltkriegen Strategien zur Informationskontrolle und Staatspropaganda. Die Relevanz der Medien wurde mit der erstmaligen audiovisuellen Berichterstattung während des Vietnam-Kriegs besonders deutlich: Zwar wurde die Informationslage durch das US-Militär kontrolliert, jedoch führte die audiovisuelle »Teilhabe« am Krieg auch zu einer wachsenden Aufmerksamkeit in den USA. Die Bilder sorgten für eine stärkere Empathie mit den Opfern des Krieges einerseits, den eigenen, fallenden Soldaten andererseits und wirkten sich anfangs kriegsbefürwortend, später zunehmend kriegskritisch aus.
Als Reaktion auf die Bedeutung der Medien für die öffentliche Meinungsbildung zu kriegerischen Handlungen bildete sich parallel zur technologischen Entwicklung der Massenmedien (Live-Berichterstattung ) in den USA eine zunehmende Informationskontrolle durch Exekutive und Militär aus: Während im zweiten Golfkrieg 1990/91 nur ausgewählte Journalisten Einsätze begleiten durften und ihr Material untereinander teilen mussten (Pool-System), wird die Informationslage seit dem Afghanistankrieg durch »Embedded Journalism« und eine Informationsdoktrin kontrolliert, die die Informationsüberlegenheit zur Priorität allen militärischen Handelns erhebt (vgl. Szukala 2005). Insofern wurde anerkannt, dass der Krieg auch durch die Informationshoheit und Öffentlichkeitsarbeit (PR) entschieden wird: um Gegner einzuschüchtern, Alliierte für eine Unterstützung zu gewinnen und die eigene Bevölkerung für eine scheinbar unumgängliche militärische Lösung zu motivieren. Hierfür hat das US-Militär verschiedene Strategien entwickelt, die sich sowohl an die eigene Bevölkerung als auch an den Gegner wenden: die Störung der gegnerischen Informationsprozesse durch Überinformation (Information Overload), systematische Täuschungsmanöver (Deception) und die Vervielfältigung der Wirkung von Waffen durch Kommunikation (Force Multiplication). Diese durch die Exekutive beeinflusste Informationslage kann »Rally-around-the-flag«-Effekte verstärken, mit denen die Gesellschaft (und auch die Medienwelt) gegen den äußeren Feind geeint wird und sich hinter den Präsidenten stellt.
Der »Rally-around- the-flag«-Effekt
Die Wahrnehmung der Bevölkerung, »angegriffen zu werden« und »sich verteidigen zu müssen« ist ein essentielles Requisit, um einen Krieg legitimieren und durchsetzen zu können. Die Beteiligung eigener Soldaten an einem als unvermeidlich angesehenen Konflikt kann zu einem (kurzfristigen) Bedürfnis nach patriotischer Berichterstattung führen, welches es den Medien zu Beginn einer Kriegshandlung erschwert, eine kritische Haltung einzunehmen: „Die öffentliche Meinung tendiert dazu, die Regierungsposition zu stützen und Kritik als unpatriotisch zu tabuisieren“ (Brüggemann und Weßler 2009, S.642). Diese »Rally-around-the-flag«-Effekte (RATF-Effekte, »sich um die Flagge scharen«) konnten sich bislang vor allem in den USA feststellen lassen, beispielsweise im Zuge internationaler Finanzkrisen oder bzgl. des Kampfes gegen den Terrorismus (ebd.).
Kulturelle und sozialpsychologische Phänomene können eine zentrale Rolle für die Anfälligkeit einer Gesellschaft für den RATF-Effekt und seine Ausprägung spielen. So spricht eine patriotische Grundhaltung der Bevölkerung dafür, sich als eine positiv konnotierte Ingroup zu verstehen, die, wenn sie sich von einer Outgroup angegriffen fühlt, diese negativ konnotiert und somit eine militärische Initiative leichter legitimieren kann. Für die Frage nach der Legitimation von Gewalt spielt hier eine besondere Rolle, welche Assoziationen eine Gesellschaft mit militärischer Gewalt verbindet: Sind mit ihr positive Assoziationen und Stolz verbunden, wie z.B. durch eine erkämpfte Unabhängigkeit, ist der RATF-Effekt wahrscheinlicher, als wenn militärische Gewalt negative Assoziationen weckt, wie es bislang in Deutschland der Fall war. Insofern handelt es sich bei der Frage nach einer kritiklosen Unterstützung von Regierungen immer auch um die Prägung eines Diskurses, der eine wahrgenommene reelle oder symbolische Bedrohung der eigenen Nation forciert. Nimmt die Bevölkerung diese Bedrohung als gegeben wahr, anstatt sie kritisch zu hinterfragen und nach alternativen Handlungsmöglichkeiten zu suchen, ist ein RATF-Effekt wahrscheinlicher und eine Abhängigkeit der Medien von der politischen Agenda größer.
Elitendissens und unpatriotischer Pazifismus
Für die Frage, ob die Massenmedien eine zur Regierungslinie alternative Deutung des Geschehens einbringen können, ist außerdem die Breite des Meinungsspektrums im politischen Establishment und innerhalb der Regierung als relevant zu erachten (vgl. Brüggemann & Weßler 2009). Ein Elitendissens und eine von der Regierungslinie distanzierte Opposition ist also förderlich für die Medienfreiheit. Unter den sozialpsychologischen Faktoren eines »Rally-around-the-flag«-Effekts jedoch ist er relativ unwahrscheinlich. Denn auch die politische Elite kann es sich nicht leisten, als unpatriotisch stigmatisiert zu werden. Hiermit wird deutlich, dass eine von der Regierung gewollte militärische Eskalation durch Medien und politische Opposition nur noch schwer zu vermeiden ist, sobald die Bevölkerung eine unmittelbare und essentielle Bedrohung der Nation wahrnimmt. Allerdings hat die Vergangenheit auch gezeigt, dass insbesondere der Verlust vieler eigener Soldaten in einem Krieg ohne Aussicht auf einen (schnellen) Erfolg zu einem Diskurswechsel führen kann (im Vietnamkrieg ebenso wie im Afghanistankrieg). In solch einer Situation können die Medien im Sinne von »media follows change« alternative Deutungsmuster anbieten, die eine friedensfördernde Position vertreten und eine schnelle Beendigung der militärischen Auseinandersetzung unterstützen. Diesbezüglich ist die Ausrichtung und Positionierung der Medien selbst sowie die Beschaffenheit des Mediensystems von besonderer Relevanz.
Autonomie der Medien und journalistisches Selbstbild
Der Grad der Autonomie der Medien selbst ist für eine kriegskritische Haltung gegenüber der Exekutive von zentraler Bedeutung. So schwächt eine starke Kommerzialisierung der Medien durch ihre Abhängigkeit von Werbekunden und Einschaltquoten die Handlungsfähigkeit und zwingt die Medien zu opportunistischem Handeln bzw. fördert die Tendenz, Publikumsmeinungen zu reproduzieren, statt stets neu zu hinterfragen (Brüggemann und Weßler 2005, S.647f). Ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem wie in Deutschland kann durch seine (weitgehende) Unabhängigkeit von nationaler Politik und Wirtschaft privat-kommerzielle Medien unter Leistungs- und Konkurrenzdruck setzen und so insgesamt das journalistische Niveau heben bzw. halten. Einen ähnlichen Effekt könnte auch ein pluralistisches Mediensystem haben, sofern es dezentral strukturiert und durch Qualitäts- bzw. Leitmedien geprägt ist. Auch ist die Frage entscheidend, ob die Medien von allen beteiligten Konfliktparteien genutzt werden. Dann stiegt der Druck, Informationen der Akteure zu überprüfen und so neutral wie möglich zu formulieren oder sogar eine Vermittlerfunktion zu übernehmen (ebd.).
Gleichzeitig spielt auch das Selbstbild der Journalisten eine zentrale Rolle: So kann sich das Bild des »neutralen Beobachters« auch negativ auf die Konfliktentwicklung auswirken, indem Kriegspropaganda möglicherweise unkommentiert wiedergegeben wird. Medienakteure können, je nach ihrer (Un-) Abhängigkeit gegenüber dem politischen System und anderen Faktoren, mehr oder weniger autonom Nachrichten deuten und kommentieren. Ebenso können sie auch bewusst eine ideologiegeleitete Haltung und politische Position beziehen. So ist der »Journalism of Attachment«, der sich besonders in den USA herausgebildet hat, als eine bewusste politische Positionierung der Journalisten im »Kampf gegen das Böse« zu verstehen. Er beinhaltet bewusst eine »patriotische« Parteinahme. Dies bedeutet nicht nur, sich hinter den Präsidenten zu stellen, sondern auch, offizielle Informationen nicht zu hinterfragen. Damit stehen sie oft einer friedlichen Lösung von Konflikten entgegen und befürworten den militärischen Weg (Hanitzsch 2004, S.179 ff.).
Medienfreiheit im Krieg?
Bereits zu Beginn des Artikels wurde auf die Problematik der Nachrichtenfaktoren eingegangen und festgestellt, dass die Medien aufgrund von Medienlogik und Orientierungsfunktion in kriegerischen Auseinandersetzungen dazu verleitet werden, zugrunde liegende Motive zu vereinfachen und militärische Fakten in den Mittelpunkt zu stellen. Hierdurch kommt es häufig zu einer verkürzten Darstellung der Konfliktursachen und der politischen Forderungen der Konfliktparteien, was unwillentlich zu einer weiteren Polarisierung des Konflikts beitragen kann. Gleichzeitig erweist sich die Informationsbeschaffung in Zeiten des Krieges für die Massenmedien als sehr problematisch, da die Regierungen, allen voran die USA, strategische Informationskontrolle als übergeordnetes Ziel militärischer Handlung definieren und den Zugang zu Informationen, wie zuletzt im Afghanistankrieg, von der Einbettung in die US-amerikanische militärische Infrastruktur abhängig machen. Für Journalisten ist also eine von der Regierung »unabhängige« Informationsbeschaffung in bewaffneten Konflikten und damit eine kritische Berichterstattung zunehmend schwierig geworden.
In diesem Kontext ist die Diversifizierung des bislang durch europäische und US-amerikanische Medien kontrollierten internationalen Mediensystems durch die Entstehung von international einflussreichen und von den USA und Europa unabhängigen Medienoutlets (z.B. Al Jazeera) zu begrüßen: CNN, BBC, Reuters u.a. müssen nun „mit einer jungen Generation politisch relativ unabhängigen Satelliten-Nachrichtenfernsehens aus der arabischen Welt um Informationen aus den Konfliktregionen im Nahen und Mittleren Osten und in der Berichterstattung über asymmetrische Konflikte wie den diffusen internationalen Terrorismus“ konkurrieren (Hahn 2005, S.241). Dies könnte sich positiv auf die journalistische Qualität und Unabhängigkeit der etablierten Medien auswirken.
Wenngleich es Konzepte wie den Watchdog- und den Friedensjournalismus gibt, die aktiv versuchen, die Informationshegemonie des Staates zu brechen und ihn zu kontrollieren, stellt sich bei beiden die Frage nach der Wirkung: Auch wenn ihre grundlegend pazifistische und kritische Haltung durchweg positiv zu beurteilen ist, so bleibt es für sie problematisch, an relevante Informationen zu kommen und diese zu überprüfen. Die USA schlossen im zweiten Golfkrieg beispielsweise kritische Berichterstatter aus dem »Pool-System« aus.
Wenn die Nachfrage für sensationsorientierten und verkürzenden Journalismus steigt und die Anerkennung investigativen Journalismus und/oder öffentlich-rechtlicher Mediensysteme (die eine gewisse Unabhängigkeit der Medien absichern können) sinkt, werden Watchdog-Journalismus und Friedensjournalismus weiterhin lediglich bei einer kleinen Minderheit Gehör finden – so wie es bei Indymedia und anderen Grassroots-Medien der Fall ist. Eine Ausnahme sind hier »Whistleblowers«, die aus dem System heraus (z.B. als Regierungsmitarbeiter oder Angestellte des Militärs) Informationen über Unstimmigkeiten, Lügen und Verbrechen medienwirksam an die Öffentlichkeit geben.1 Insgesamt bleibt aber fraglich, inwiefern sich durch Informanten aus dem Inneren des Systems und Untergrundmedien bewusste Fehlinformationen und Falschaussagen der Exekutive nicht nur aufdecken und evtl. öffentlichkeitswirksam entlarven lassen, sondern auch eine nachhaltige Wirkung erzielt werden kann.
Das Internet zeigt die wachsenden Möglichkeiten eines zivilgesellschaftlichen Bottom-Up-Journalismus, der unabhängig von der Exekutive recherchieren und internationale Verbreitung finden kann. Andererseits darf aber nicht übersehen werden, dass das kostenfreie Internet höhere Medienkompetenzen beim Nutzer einfordert (bspw. die Auswahl seriöser Quellen) und auch Printmedien bedroht. Letztere können ihre Existenz oft nur noch durch Ausgabensenkung und eine höhere Abhängigkeit von Werbekunden sichern, was eine Qualitätskontrolle sowie die Überprüfung von Fehlinformationen erschwert. Hierdurch steigt die Wahrscheinlichkeit der Reproduktion von Falschaussagen – umso mehr, als gleichzeitig auch viele Informationsmedien aus dem Internet die Printmedien als Informationsquelle nutzen.
Medienkonsum darf also nicht nur als Informationsaufnahme verstanden werden, sondern auch als eine gesellschaftspolitische Grundhaltung. Die Qualität der Medien hängt dabei neben strukturellen, politischen, sozialen und kulturellen Faktoren auch von der kritischen Würdigung, Unterstützung und Kontrolle durch die Zivilgesellschaft ab. Letztendlich ist Medienkonsum „immer auch ein dramatischer und ritueller Akt, in dem gesellschaftliche, kulturelle und subkulturelle Normen und Werte thematisiert und reproduziert werden“ (Krotz 1998, S.68). Inwiefern Massenmedien sich unabhängig von der politischen Agenda bewegen (können), ist also auch eine Frage der Nachfrage.
Anmerkungen
1) Zum Beispiel Daniel Ellsberg, der mit der Veröffentlichung der »Pentagon-Papiere« (geheimer Akten über die US-Kriegsführung in Vietnam) zum Ende des Vietnamkrieges beitrug, oder auch Bradley E. Manning, der beschuldigt wird, u.a. geheime US-Militärdokumente über den Beschuss und den Tod irakischer Zivilisten an Wikileaks weitergegeben zu haben.
Literatur
Brüggemann, Michael und Weßler, Hartmut (2009): Medien im Krieg. Das Verhältnis von Medien und Politik im Zeitalter transnationaler Konfliktkommunikation. In: Politische Vierteljahresschrift, Nr. 42, hrsg. von Marcinkowski, Frank und Pfetsch, Barbara, S.635-657.
Hahn, Oliver (2005): Arabisches Satelliten-Nachrichtenfernsehen. In: Themenheft »Medialisierte Kriege und Kriegsberichterstattung«. Medien & Kommunikationswissenschaft, hrsg. von Eilders, Christiane und Hagen, Lutz M., 53. Jg., 2005/2-3, S.241 ff.
Hanitzsch, Thomas (2004): Journalisten zwischen Friedensdienst und Kampfeinsatz. Interventionismus im Kriegsjournalismus aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive. In: Martin Löffelholz (Hrsg.): Krieg als Medienereignis II: Krisenkommunikation im 21. Jahrhundert (War as Media Event: crisis communication in the 21st century). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S.169-193.
Krotz, Friedrich (1998): Kultur, Kommunikation und die Medien. In: Saxer, U. (Hrsg.): Medien-Kulturkommunikation. Publizistik – Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Sonderheft 2/1998, S.67-85.
Szukala, Andrea (2005): Informationsoperationen und die Fusion militärischer und medialer Instrumente in den USA. In: Themenheft »Medialisierte Kriege und Kriegsberichterstattung«. Medien & Kommunikationswissenschaft, hrsg. von Eilders, Christiane und Hagen, Lutz M. (Hrsg.), 53. Jg., 2005/2-3, S.222 ff.
Wolfsfeld, Gadi (1997): Media and Political Conflict. News from the Middle East. Cambridge: Cambridge University Press.
María Cárdenas Alfonso ist Staats- und Kommunikationswissenschaftlerin (B.A.). Zurzeit studiert sie Friedens- und Konfliktforschung (M.A.) an der Philipps-Universität Marburg und ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F.