Prominente Vorurteile

Prominente Vorurteile

Wie Berichterstattung (ungewollt) Einstellungen gegenüber Migrant*innen formt

von Stefanie Hechler und Thomas Kessler

Das Ausmaß von Vorurteilen ist nicht nur davon abhängig, wie Menschen »die Anderen« wahrnehmen, sondern auch davon, wie »wir uns« gegenüber »den Anderen« positionieren. Das legt nahe, dass öffentliche Diskurse über pro- und anti-migrantische Einstellungen in einer Gesellschaft individuelle Meinungen beeinflussen. Psychologische Experimente und Umfragen zeigen, wie zum Beispiel Medien, die einseitige Informationen über Feindseligkeit und Solidarisierung mit Migrant*innen geben, Vorurteile ihrer Rezipient*innen verändern können. Die Auswirkungen dieser grundlegenden psychologischen Prozesse regen dazu an, darüber nachzudenken, wie sich die Darstellung kontroverser öffentlicher Debatten auf Konflikte und Frieden auswirken kann.

Anfang des Jahres enthüllten Journalist*innen des Recherchekollektivs »Correctiv« ein Treffen von Neonazis, AfD- und CDU-Politiker*innen und finanzstarken Unternehmer*innen, bei dem Pläne diskutiert wurden, Menschen aus Deutschland aufgrund rassistischer Kriterien auszuweisen (Bensmann und Peters 2024). Das Bekanntwerden der Inhalte des Treffens mobilisierte über eine Million Menschen zu Gegenprotesten. Die große Beteiligung macht deutlich, dass beträchtliche Teile der Gesellschaft diese Diskussionen für inakzeptabel halten und eine klare Haltung gegen Faschismus und Rassismus einnehmen wollen.

Repräsentative Studien verdeutlichen, dass es in Deutschland ein ausgeprägtes Bewusstsein für Rassismus gibt (Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor 2022). Gleichzeitig stellen feindselige Einstellungen gegenüber Migrant*innen mit einer Zustimmung von ca. 30 % ebenfalls kein Randphänomen dar (Zick et al. 2023). Entsprechend schwanken öffentliche Debatten zwischen der Prognose eines gesellschaftlichen Rechtsrucks und einem Klima gesamtgesellschaftlicher Solidarität mit Migrant*innen. Die Warnung von Vertreter*innen aus Medien, Kultur, Politik und Wissenschaft vor der Gefahr durch die ansteigende anti-migrantische Stimmung impliziert, dass rechts(-extreme) Ideen weit verbreitet seien. Sozialpsychologische Forschung zeigt, dass eine solche wahrgenommene Mehrheitsmeinung nicht notwendig abschreckend wirkt, sondern dazu führen kann, dass bestimmte Ideen als normal, sagbar und salonfähig angesehen werden und damit weiterverbreitet werden können (Hogg und Smith 2007). So kann auch mediale Berichterstattung über Einstellungen der Mehrheit gegenüber Migrant*innen individuelle Vorurteile beeinflussen – indem sie einerseits die Mehrheitspositionen bestätigt und verstärkt und andererseits die Abgrenzung für Meinungsminderheiten besonders wichtig macht.

Wie Ulrich Wagner in seinem Artikel über Friedenspsychologie ausführte, spiegeln sich gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse in individuellen Einstellungen und Verhaltensweisen auf der Mikroebene wider, die wiederum auf die Entwicklung von Konflikten einwirken (Wagner 2023). Dieser Mechanismus beschreibt auch den Zusammenhang zwischen strukturellen Rassismen, gesellschaftlichem Klima und individuellen Haltungen gegenüber Migrant*innen. Die Art und Weise, wie Medien über das gesellschaftliche Klima berichten, beeinflusst unser gemeinsames Verständnis davon, wie »wir« anderen Gruppen gegenüberstehen. Sie gibt Hinweise darauf, welche Meinungen, Äußerungen und Verhaltensweisen in der Gruppe, also »bei uns«, akzeptabel oder nicht akzeptabel sind – wie also die Gesellschaft über eine Gruppe denkt und welche Behandlung dieser Gruppe im Vergleich zu anderen angemessen wäre.

Individuelle Vorurteile orientieren sich am gesellschaftlichen Klima

Gesellschaftliche Diskurse zu Migration und deren Auswirkungen auf Individuen betreffen zwei gut erforschte Kernbereiche der Sozialpsychologie: die Ethnozentrismus- und Vorurteilsforschung, wie und warum also Menschen soziale Gruppen und ihre Mitglieder bewerten, und die Forschung zu sozialem Einfluss, die behandelt, wie Menschen die Einstellungen und das Verhalten anderer beeinflussen. Ihre Forschungsergebnisse begründen, warum eine sozialpsychologische Analyse der Medienberichterstattung und anderer prominenter Stimmen zu migrant*innenbezogenen Einstellungen für die Friedensförderung wichtig ist.

Vorurteile behindern ein positives Miteinander und schüren Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Feindselige Sichtweisen über »andere« können zum Ausschluss dieser Gruppen aus einer Gesellschaft führen und Ungleichbehandlung zwischen gesellschaftlichen Gruppen wie Migrant*innen und Einheimischen legitimieren. Wissenschaftlich ist gut etabliert, dass Menschen grundlegend dazu tendieren, Personen in »uns« und »die Anderen« einzuteilen. Sie heben Unterschiede zwischen den Gruppen hervor, bevorzugen die eigene Gruppe gegenüber anderen und schützen ihre Gruppe vor vermeintlichen Gefahren (für einen Überblick, siehe Hechler und Kessler 2020). Die Abwertung von »anderen«, sog. Fremdgruppen (Gruppen, denen Menschen nicht selbst angehören), ist umso stärker, je mehr man sich durch die anderen bedroht sieht, wie etwa durch Interessen- oder Wertekonflikte.

Soziale Normen haben einen starken Einfluss auf Einstellungen und Verhalten und somit auch auf Vorurteile und Diskriminierung. Sie sind wahrgenommene Standards darüber, wie man sich verhalten sollte (präskriptive Normen) oder wie sich die meisten Menschen tatsächlich verhalten (deskriptive Normen) (Cialdini und Goldstein 2004). Wer von den Normen abweicht, fällt auf, wird ermahnt oder bestraft und im schlimmsten Fall ausgegrenzt. Solomon Asch (1956) verdeutlichte in seinem bekannten Linienexperiment, wie stark soziale Normen auf individuelles Verhalten wirken können. In der Studie hatten die Teilnehmenden die Aufgabe, vor einer kleinen Gruppe anderer zu bestimmen, welche von drei Linien einer Referenzlinie entspricht. Obwohl die anderen Anwesenden offensichtlich falsche Antworten gaben, stimmten ihnen 76 % der Studienteilnehmenden mindestens einmal zu. Solche Konformität kann Frieden fördern, indem sie zum Beispiel umweltschützendes Verhalten oder Solidarisierung mit benachteiligten Gruppen begünstigt. Sie kann jedoch auch Frieden entgegenwirken, wenn sie zum Beispiel Konkurrenz, Abwertung oder Ausschluss von Gruppen fördert.

Soziale Normen signalisieren auch, welche Vorurteile als akzeptabel und welche als inakzeptabel gelten (Crandall und Eshleman 2003). Akzeptierte Vorurteile werden häufiger ausgesprochen, weiterverbreitet und internalisiert. Dadurch ändert sich das normative Klima, so dass bestimmte Vorurteile »altmodisch« und gesellschaftlich inakzeptabel werden, während andere neue Prominenz erhalten. Medienberichte, öffentliche Diskurse und alltägliche Beobachtungen von Interaktionen und Aussagen im eigenen Umfeld tragen dazu bei, dass Menschen ihre Vorurteile zeigen oder unterdrücken.

Unsere und eure Vorurteile: Auswirkungen medial vermittelter Normen

Dabei folgen Personen nicht immer blind allen Normen, sondern vor allem denjenigen, die sie für ihre Gruppe als gültig erachten und die ihren Zielen entsprechen. Forscher*innen in der Schweiz konfrontierten Studienteilnehmende mit fiktiven Umfrageergebnissen, in denen die Mehrheit der Schweizer*innen Benachteiligungen von Ausländer*innen befürwortete oder ablehnte (vgl. Falomir-Pichastor et al. 2004). Wenn die Teilnehmenden dachten, dass Ausländer*innen eine Gefahr darstellten, passten sie sich der Pro-Diskriminierungsnorm an und befürworteten Diskriminierung stärker. Teilnehmende, die Ausländer*innen nicht als Gefahr wahrnahmen, diskriminierten selbst weniger, wenn ihnen gesagt wurde, die Mehrheit sei gegen Diskriminierung.

In eigenen Studien haben wir untersucht, wie diese Prozesse in den polarisierten Debatten über Migration in Deutschland in Erscheinung treten (vgl. Hechler und Kessler 2024).1 Auf Basis vorheriger Erkenntnisse nahmen wir an, dass Berichte über verbreitete Meinungen und Verhaltensweisen gegenüber Migrant*innen individuelle Einstellungen verstärken können, wenn Personen diese als richtig und wichtig erachten. Mediale Berichterstattung kann aber auch die Wahrnehmung der sozialen Norm verschieben, indem sie feindselige Haltungen oder verbreitete Solidarisierung mit Migrant*innen in der Bevölkerung besonders hervorhebt. In drei Studien mit insgesamt ca. 1.050 Teilnehmenden untersuchten wir, inwiefern das wahrgenommene gesellschaftliche Klima mit individuellen Einstellungen gegenüber Migrant*innen in Deutschland zusammenhängt (Studie 1) und wie einseitige Berichterstattung in einzelnen Artikeln die unmittelbare Äußerung von Vorurteilen der Rezipient*innen beeinflusst (Studien 2 und 3).

Im Sommer 2018 protestierten Rechtsextremist*innen in Chemnitz mehrfach gegen vermeintliche Gewalt durch Migrant*innen, wobei es auch zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Migrant*innen kam. In den Medien häuften sich in dieser Zeit Berichte über die Gefahr von steigendem Rechtsextremismus für das Zusammenleben in Deutschland. Während die rechtsextremistischen Proteste anhielten, befragten wir knapp 500 Personen aus der Breite des politischen Spektrums zum gesellschaftlichen Klima und zu ihren eigenen Vorurteilen. Angesichts der politisch aufgeheizten Stimmung fühlten sich die meisten Befragten mit ihrer politischen Meinung eher in der Minderheit – und grenzten ihre eigene Meinung von dieser wahrgenommenen Norm ab. Konkret äußerten diejenigen, die sich selbst als politisch rechts einstuften, umso mehr Vorurteile gegenüber Migrant*innen, je mehr sie den Eindruck hatten, die Mehrheit der Bevölkerung sei Migrant*innen gegenüber solidarisch. Politisch links gerichtete Befragte hatten dahingegen eher den Eindruck, dass die Mehrheit kritisch gegenüber Migrant*innen sei, was bei ihnen mit weniger Vorurteilen einherging. Diese Befunde stimmen mit früheren Studien überein: auch wenn die Mehrheit solidarisch mit einer Fremdgruppe ist, gehen Mitglieder nicht konform, wenn sie diese Norm als falsch empfinden. Sie grenzten sich sogar deutlicher von dieser Mehrheit ab, indem sie mehr Diskriminierungstendenzen zeigten (Falomir-Pistachor et al. 2004). Die Ergebnisse unserer Studie beruhen jedoch auf gemessenen Zusammenhängen, und lassen daher keine Rückschlüsse über Ursache und Wirkung zu.

Im Gegensatz zu diesen Abgrenzungsmechanismen zeigen zahlreiche sozialpsychologische Befunde, dass gerade in uneindeutigen Situationen soziale Normen einen Anhaltspunkt geben, um die eigene Meinung zu validieren, und die soziale Akzeptanz die Bereitschaft verstärkt, die eigene Position zu äußern (Cialdini und Goldstein 2004). In weiteren Studien haben wir deshalb untersucht, wie eine gesellschaftliche Norm in Medienberichten Vorurteile der Leser*innen unmittelbar beeinflusst. Dazu teilten wir Teilnehmende zufällig einer von vier Bedingungen zu. In jeder dieser Bedingungen lasen die Teilnehmenden einen von vier verschiedenen Zeitungsartikeln aus einer großen deutschen Tageszeitung und gaben danach ihre Einstellung gegenüber Geflüchteten und Asylbewerber*innen an. Durch ein solches experimentelles Design konnten wir beobachten, inwieweit die Befragten nach dem Lesen der Artikel Vorurteile äußerten und somit die Auswirkungen der in den Berichten implizierten Vorurteilsnormen auf die Meinung der Lesenden feststellen.

Ein Artikel beschrieb die ansteigende Verbreitung von Gewalt gegenüber Geflüchteten in Deutschland, ein anderer beschrieb das große Engagement gegenüber Geflüchteten und ein dritter schrieb von Gewalt und gleichzeitig einer großen Solidarität mit Geflüchteten. Der vierte Artikel beschrieb die Auswirkungen von Kaffee auf die Gesundheit und diente der Feststellung, wie die Teilnehmenden antworten, wenn sie nicht unmittelbar mit dem Verhalten anderer konfrontiert werden. Für die anschließende Einstellungsmessung gaben sie ihre Zustimmung zu oder Ablehnung von mehreren Aussagen wie „Der überwiegende Teil von Asylbewerbern möchte sich nicht in Deutschland integrieren“ an. Die Antworten zeigten, dass Berichte mit Informationen über solidarisches Verhalten gegenüber Geflüchteten die Äußerungen von Vorurteilen verringerten. Dahingegen erhöhten Berichte mit Informationen über feindseliges Verhalten Fremdenfeindlichkeit bei denjenigen Teilnehmenden, die sich politisch eher rechts einordneten, aber nicht bei denjenigen, die sich politisch eher links einordneten.

Die Verwendung realer Zeitungsartikel bietet wenig Kontrolle darüber, inwieweit sich die vier ausgewählten Artikel auch in anderen Aspekten unterscheiden, die diese Effekte verursachen könnten, wie Schreibstil, Informationen über Geflüchtete oder die Haltung der Journalist*innen. In einer dritten Studie modifizierten wir deshalb gezielt einen einzelnen Artikel aus einer der meistgelesenen Zeitschriften Deutschlands. Der Artikel berichtete über die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage in Deutschland. Er beschrieb einerseits, dass „noch immer weite Teile der Bevölkerung bereit [seien], abzuwerten und zu verfolgen, was sie als abweichend und fremd wahrnehmen“ und andererseits, dass „Ausländerfeindlichkeit seit 2002 nahezu kontinuierlich abgenommen [habe]“. Wir veränderten diesen Artikel so, dass er in einer Version ausschließlich Informationen über das zunehmend fremdenfeindliche Potential der Mehrheitsbevölkerung und in einer anderen Version ausschließlich Informationen über ihre große Solidarität enthielt. In einer Kontrollbedingung lasen die Teilnehmenden keinen Artikel, sondern gaben lediglich ihre Einstellungen an. Die Ergebnisse zeigen ein ähnliches Muster wie die der vorherigen Studie: Befragte, die über feindselige Meinungen gegenüber Migrant*innen in der Bevölkerung lasen, drückten auch mehr Fremdenfeindlichkeit aus als diejenigen, die diese Information nicht lasen.

Insgesamt zeigt diese Forschung, bei allen methodisch bedingten leichten Variationen, dass Medienberichte über migrationsspezifische Einstellungen und Verhaltensweisen in der Bevölkerung die Vorurteile der Rezipient*innen beeinflussen. Während die persönliche Wahrnehmung, in einer politischen Minderheit zu sein, die eigene Position verhärten kann, zeigen sie auch, wie schon ein einziger Artikel über freundliche Haltungen gegenüber Migrant*innen in der Bevölkerung Vorurteile der Rezipient*innen verringern, während ein Artikel über feindselige Haltungen diese verstärken kann.

Die vorliegende Forschung beschäftigt sich mit der Sicht der Mehrheitsgesellschaft, ohne die Sicht von potentiell von diesen Vorurteilen betroffenen Menschen einzubeziehen. Angelehnt an die beschriebenen Prozesse kann vermutet werden, dass auch unterschiedliche Minoritäten, wie zum Beispiel Migrant*innen, in Deutschland heterogene Meinungen vertreten und von der Mehrheitsbevölkerung beeinflusst werden, vor allem wenn sie sich mit ihr identifizieren. Genauso kann ihr Verhalten Einfluss auf wahrgenommene Normen haben, zum Beispiel durch ihr Engagement in pro-migrantischen Aktionen und Demonstrationen in Deutschland.

Die hier bestätigte Beziehung zwischen sozialen Normen, Einstellungen und dem Verhalten Einzelner wurden bereits von anderen Forschenden adressiert und hat sich unter anderem für gruppenbezogene Einstellungen und Verhalten als relevant erwiesen. Die in diesem Text vorgestellten Studien basieren auf theoretischen Ableitungen und kumulativen Erkenntnissen aus der Sozialpsychologie und heben sich deshalb in der Güte und Belastbarkeit deutlich von »einzelnen Zufallsbefunden« ab (vgl. auch Wagner 2023).

Berichterstattung zur Friedensförderung

Wenn Journalist*innen von gesellschaftlichen Strömungen berichten, beeinflussen sie auch die Meinung der Rezipient*innen. Schon einzelne Hinweise auf die „steigende Gefahr durch anti-migrantische Einstellungen“ können die wahrgenommenen Normen verändern und dadurch Menschen in ihren eigenen Vorurteilen bestärken. Berichte über weit verbreitete Solidarität gegenüber Migrant*innen können hingegen Vorurteile verringern. Diese Mechanismen gelten nicht nur für Medienmacher*innen, sondern auch für Aussagen von Personen in der Öffentlichkeit, von Bildungsverantwortlichen oder einfach nur »glaubwürdigen Quellen«. So können Beobachtungen und Berichte über gesellschaftliche Stimmungen unmittelbar den Eindruck vermitteln, dass es einen Konsens gibt. Dass diese Beobachtungen und Berichte auch produzieren, was sie »beschreiben«, wird häufig nicht beachtet.

Für die Berichterstattung über Vorurteile und Konflikte lassen sich aus den Forschungsergebnissen zwei Fazits ziehen:

1. Berichterstattung über vermeintlich verbreitete anti-migrantische Einstellungen kann Vorurteile verstärken und damit das gesellschaftliche Miteinander von Migrant*innen und Einheimischen erschweren.

2. Einseitige Berichterstattung kann die Gesellschaft polarisieren und dazu beitragen, dass sich Konflikte zwischen pro- und anti-migrantischen Gruppierungen in der Gesellschaft verhärten.

Die Ergebnisse zeigen, dass – auch in vermeintlich polarisierten Zeiten – eine klare mehrheitliche Haltung gegen migrant*innenfeindliche Parolen Vorurteilen entgegenwirken kann. Medien können verdeutlichen, dass viele Menschen in Deutschland für und mit Migrant*innen stehen (z.B. durch Berichte über Proteste und öffentlichkeitswirksame Positionierungen), und damit mehr Menschen dazu bringen, dieser Position zu folgen. Auf der anderen Seite können sie aufzeigen, dass laute migrant*innenfeindliche Stimmen nicht den gesellschaftlichen Konsens vertreten, und sie damit als weniger attraktive Minderheitsmeinungen (oder zumindest umstrittene Meinungen) darstellen (vgl. Hechler und Jäger 2020). Letztendlich sind selten alle Gesellschaftsmitglieder der gleichen Meinung. Es wird auch immer Menschen geben, die sich von diesen Mehrheitsnormen abgestoßen fühlen und deshalb weiterhin migrant*innenfeindliche Positionen vertreten. Die medial diskriminierungssensible Aufarbeitung der Migrationsdebatte, wie hier vorgeschlagen, kann aber dazu beitragen, einzelne Meinungen zugunsten einer migrant*innenfreundlichen Norm zu verschieben.

Die Tendenz, die eigene Meinung an die Norm anzupassen, ist jedoch nur eine Seite von sozialem Einfluss. Die Mehrheitsmeinung wirkt vor allem dann verstärkend, wenn Personen zuvor schon zu dieser Meinung tendieren oder unentschlossen sind. Vermeintliche Mehrheitsmeinungen polarisieren jedoch auch, so dass sich bestehende Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gesellschaft verhärten. Vermeintliche soziale Normen, die unter anderem durch einseitige Berichterstattung impliziert werden, befördern also gleichzeitig Zustimmung und Abgrenzung.

Auch wenn Verallgemeinerungen einzelner Studien nur mit Vorsicht vorgenommen werden sollten, lassen sich die zugrundeliegenden Ideen und Zusammenhänge auf andere innergesellschaftliche Konflikte und internationale Krisen übertragen. Sie bieten eine Reflexionsgrundlage dafür, wie die Darstellung öffentlicher Meinungen über Konfliktparteien dazu beiträgt, Friedensprozesse zu blockieren, in dem sie Feindseligkeit gegenüber und Solidarisierung mit Konfliktparteien provoziert.

Anmerkung

1) Vielen Dank an unsere Kollegin Jutta Proch und unsere ehemaligen Masterstudentinnen, Christina Piel und Stefanie Gottschalk, die maßgeblich an diesem Projekt mitgewirkt haben.

Literatur

Asch, S. E. (1956): Studies of independence and conformity: I. A minority of one against a unanimous majority. Psychological Monographs: General and Applied 70(9), S. 1-70.

Bensmann, M.; Peters, J. (2024): Der AfD Komplex (1. Auflage). CORRECTIV Verlag.

Cialdini, R. B.; Goldstein, N. J. (2004): Social influence: compliance and conformity. Annual Review of Psychology 55, S. 591-621.

Crandall, Ch. S.; Eshleman, A. (2003): A justification-suppression model of the expression and experience of prejudice. Psychological bulletin 129(3), S. 414-446.

Falomir-Pichastor, J. M. et al. (2004): Perceived in-group threat as a factor moderating the influence of in-group norms on discrimination against foreigners. European Journal of Social Psychology 34(2), S. 135-153.

Hechler, S.; Jäger, F. (2020): Vorurteile erkennen und reduzieren. Blogbeitrag, Hrsg. v. Fachnetz Sozialpsychologie zu Flucht und Integration, 7.8.2020. Online unter fachnetzflucht.de/vorurteile-erkennen-und-reduzieren.

Hechler, S.; Kessler, Th. (2020): Warum „Wir” besser sind als „Die“ – Wie bestimmt die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen die Bewertung der eigenen und der fremden Gruppen? The Inquisitive Mind (3/2020). Online unter de.in-mind.org/article/warum-wir-besser-sind-als-die-wie-bestimmt-die-zugehoerigkeit-zu-sozialen-gruppen-die.

Hechler, S.; Kessler, Th. (2024): Majority opinions and prejudices: Normative influence through media reports. Working paper, 15.4.2024. Online unter: https://osf.io/bpcx7/.

Hogg, M. A.; Smith, J. R. (2007): Attitudes in social context: A social identity perspective, European Review of Social Psychology 18(1), S. 89-131.

Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (2022): Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Berlin: DeZIM: Deutsches Zentrum für Integration und Migrationsforschung, 4.5.2022. Online unter rassismusmonitor.de/publikationen/rassismus-und-seine-symptome.

Wagner, U. (2023): Wir brauchen Friedenspsychologie! Aber wie soll die aussehen? W&F 4/2023, S. 32-34.

Zick, A. et al. (2023): Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf.

Stefanie Hechler arbeitet am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Vorurteile und Diskriminierung, Gerechtigkeit, sowie Entstehung und Lösung sozialer Konflikte.
Thomas Kessler ist Professor für Sozialpsychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er forscht zu Konflikten und Kooperationen innerhalb und zwischen sozialen Gruppen, insbesondere zu Vorurteilen und Autoritarismus.

»Designing Peace« – Den Frieden gestalten

»Designing Peace« – Den Frieden gestalten

Jetzt eine bessere Zukunft schaffen

von Cynthia E. Smith, Kuratorin von »Designing Peace«

Bild von Näherin

Designing Peace: Safe Passage Bags Workshop« | Lesvos Solidarity
Collaborators: Humade Crafts | Lesbos | 2015-heute

Ich stand am Eingang eines von Bürger*innen betriebenen Geflüchtetenlagers auf Lesbos, einer kleinen griechischen Insel mit etwa 100.000 Einwohner*innen in der Nähe der Türkei. Es sah nicht wie ein typisches Flüchtlingslager der Vereinten Nationen aus, mit einer Reihe einheitlicher weißer Zelte. Mehrere orangefarbene Schwimmwesten, die an einem Zaun aufgereiht waren, verkündeten in großen schwarzen Buchstaben die hoffnungsvolle Botschaft »SAFE PASSAGE«. Diese wiederverwendeten Westen waren von Tausenden von Migrant*innen zurückgelassen worden, die die tückische acht Meilen lange Überfahrt von der Türkei über die Ägäis erfolgreich hinter sich gebracht hatten. Sie wurden von Inselbewohner*innen gesammelt und zeugen von dem Mut, den man braucht, um seine Heimat zu verlassen – auf der Flucht vor Konflikten, Verfolgung und Armut – und sich auf eine ungewisse Reise auf der Suche nach Sicherheit und einer besseren Zukunft zu begeben.

Neben einladenden Schildern sah ich geschäftige Werkstätten im Freien, Menschen auf dem Weg zu medizinischer und juristischer Unterstützung, von Gärten umgebene Wohnviertel, Versammlungsräume mit schützenden Baumkronen und mit großen Wandmalereien versehene Gebäude. Als 2012 die ersten Geflüchteten ankamen – zu Spitzenzeiten waren es fünftausend pro Tag – übernahmen die Anwohner*innen ein leerstehendes ehemaliges Kinderferienlager namens »Pipka« und richteten in Solidarität mit den Neuankömmlingen ein offenes Camp ein.1 In den darauffolgenden acht Jahren bot es den Bedürftigsten einen würdigen Empfang und bot medizinische und rechtliche Unterstützung sowie Sprach- und Berufsausbildung für Geflüchtete und Einheimische gleichermaßen.2

Das Pipka-Solidaritätscamp ist ein Beispiel für die Bemühungen einer wachsenden globalen Bewegung, die der zunehmenden Uneinigkeit und Unsicherheit entgegentreten und eine weitaus friedlichere Zukunft anstreben und aufbauen will. Von Nachbarschaften bis hin zu globalen Netzwerken stellen die Menschen Institutionen und Strukturen in Frage, die durch Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Dominanz entstanden sind, und sie nutzen dabei die Prinzipien, Strategien und Praktiken des Designs.3 Sie erforschen und entwerfen eine andere Welt mit inklusiven, partizipativen Gesellschaften, die Gleichheit, Gerechtigkeit, Kreativität und gegenseitige Zusammenarbeit schätzen, die unsere voneinander abhängigen belebten und nicht-belebten Ökosysteme respektieren, die frei von Gefahr, Ausgrenzung, Gewalt und Angst sind und die unterschiedliche Stimmen, Verhaltensweisen, Ansichten sowie kulturelle und geschlechtliche Ausdrucksformen akzeptieren.

Meine bisherigen Forschungen haben zu einer Reihe von Ausstellungen, Programmen und Publikationen geführt, die sich mit der Frage befassten, wie Design – in jedem Maßstab und in allen Teilen der Welt – einige unserer drängendsten Probleme angehen kann. In einer Zeit wachsender Unsicherheit und Chaos, eskalierender Umweltschäden und sozio­ökonomischer Ungleichheit, die durch zunehmenden Extremismus und Nationalismus noch verstärkt werden, begann ich meine aktuelle Untersuchung mit der Frage, was möglich wäre, wenn die Gesellschaft für den Frieden gestalten würde.

Die Arbeit an der »Gestaltung des Friedens« wird überall auf der Welt geleistet und ist äußerst vielfältig, wie die in dieser Zusammenstellung versammelten Arbeiten zeigen. Sie reichen von theoretischen Erkundungen bis hin zu praktischen Lösungen und spiegeln das Ausmaß und die Reichweite der Praxis in verschiedenen Regionen und Kulturen wider. Design und Friedensförderung sind dynamische Prozesse, die durch Engagement, Vertrauensbildung, Kommunikation, Iteration und ein Verständnis für den Kontext positive Veränderungen ermöglichen. Zusammengenommen bieten sie unvergleichliche Möglichkeiten für die Formulierung und Umsetzung von transformativen Antworten auf schlimme Situationen und ungerechte Systeme. Insgesamt erforscht »Designing Peace« die Möglichkeiten, wie wir unsere kreativen Kräfte bündeln können, um uns die Zukunft vorzustellen, in der wir leben wollen – und um Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu schaffen.

Auszug aus dem einleitenden Essay zur »Designing Peace: Building a Better Future Now«-Publikation. Die namensgleiche Ausstellung im New Yorker »Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum« war von Juni bis August 2023 zu sehen, digital ist sie hier zu finden: cooperhewitt.org/channel/designing-peace.

Anmerkungen

1) Die organisierende Gruppe Lesvos Solidarity beschreibt ihr Solidaritätsmodell als Förderung von „Gleichheit, Vertrauen, Gerechtigkeit, Respekt voreinander und vor der Umwelt, Kreativität, Empowerment und aktiver Beteiligung“.

2) Das Lager wurde von der griechischen Regierung im Oktober 2020 geschlossen.

3) Caroline Hill, Michelle Molitor und Christine Ortiz von der Equity Design Collaborative behaupten, dass „Rassismus und Ungerechtigkeit Produkte des Designs sind. Sie können auch redesigned werden.“ (15.11.2016, ­medium.com).

Medien-Kriegsrhetorik

Medien-Kriegsrhetorik

Essenz und Effekt geopolitischer Covertexte aus zehn Staaten

von Joachim Grzega

Die Sprache bebilderter Zeitschriften-Covertexte aus zehn Ländern zum Thema »Westen-Ukraine-Russland« 2022 steht im Fokus dieses Beitrags. Oft verwenden Redaktionen bekannte Kriegsrhetorik-Techniken, aber es gibt auch eine neue Technik: »Anti-Diplomatie«. Ein Vergleich mit dem Ergebnis einer repräsentativen Meinungsumfrage zeigt interessante Korrelationen zwischen der Anzahl an einschlägigen Texten und den Meinungen der Befragten zu Sanktionen, Waffenlieferungen und militärischem Eingreifen.

Ob ein Zusammenhang zwischen der Meinungshaltung der Bevölkerung eines Landes und der medialen Repräsentation zu einem Thema besteht, ist nicht leicht zu erfassen. Dennoch stellen sich für den öffentlichen Diskurs Fragen nach den Wirkmechanismen, wie öffentliche Meinung entstehen kann. Hierzu können korpuslinguistische Überprüfungen helfen, erste Korrelationen zu verstehen. Ursprünglich wollte ich prüfen, welchen Stellenwert einige prominente Vorschläge zur Deeskalation in der Medienlandschaft bekommen hatten. Allerdings waren Diplomatie-bezogene Titelseiten derart selten, dass sich kein sinnvoller Untersuchungsaufbau gestalten ließ.

Es war aufgrund bisheriger Analysen zu erwarten, dass Konflikt fördernde oder berichtende Titelseiten häufiger zu finden sein würden als Frieden oder Beruhigung fördernde (vgl. z.B. Wolfsfeld 2004, Galtung und Ruge 1965). Dem wird dieser Beitrag durch eine eher allgemeine Untersuchung von Titelseiten auflagenstarker Wochenzeitungen zum Thema Ukraine nachspüren. Ich werde zunächst die Verteilung bestimmter Muster mit Blick auf die Semantik, also die Bedeutungs- bzw. Inhaltsseite, der Titeltexte herausarbeiten. Anschließend werde ich dann sprachbezogene Frequenzen mit Antworten aus einer Ipsos-Meinungsumfrage in Beziehung setzen. Konkret lauten die Forschungsfragen:

(1) Wie viele Cover im Zeitraum behandeln das Thema »Westen-Ukraine-Russland« prominent?
(2.1) Wie verteilt sich die grobe semantische Ausrichtung der Cover-Texte?
(2.2) Welche feineren semantischen Aspekte treten auf und wie verteilen sich diese?
(3) Welche Korrelationen lassen sich zur Ipsos-Umfrage beobachten?

Methodik

Der Beitrag strebt eine deskriptive Bearbeitung der Frage an. Gleichwohl werden zum Ende auch einige das Modell bzw. die Theorie ergänzende Beobachtungen zusammengefasst. Für die grobe semantisch (konnotative) Ausrichtung soll ähnlich verfahren werden wie bei Selimi (2023), wo nach einer Framing-Analyse zwischen pro-russischen, pro-ukrainischen und objektiven Zeitungsüberschriften unterschieden wird. In diesem Beitrag nutze ich erweiternd die Kategorien »pro-russisch/anti-westlich«, »pro-westlich/anti-russisch«, »regierungskritisch« und »objektiv-deskriptiv«. Mit »objektiv-deskriptiv« sei dabei die nüchterne, unemotionale, rein deskriptive Betrachtung eines Ereignisses ohne kämpferische Wortwahl gemeint. Umgekehrt lassen sich die anderen Kategorien unter dem Begriff »emotional« subsumieren (Selimi verwendet den Ausdruck »subjektiv«). Ein musterhaftes Beispiel: Eine Formulierung wie „X-Stadt von Y-Land bombardiert“ ist als deskriptiv-objektiv einzuordnen. Dagegen enthält eine Wendung wie „X-Stadt von Y-Land grausam bombardiert“ ein emotionales Adverb und ist daher als emotional zu sehen, und zwar als regierungskritisch, falls diese Formulierung von einer Y-Zeitschrift gewählt wird, und als anti-Y, wenn diese Formulierung von einer Nicht-Y-Zeitschrift stammt.

Selimis Kategorien »pro-russisch« und »pro-ukrainisch« habe ich angesichts der geopolitischen Lager erweitert und nenne sie »pro-russisch/anti-westlich« und »pro-westlich/anti-russisch«; dabei muss etwa nicht jede pro-russische Äußerung explizit anti-westlich sein, doch sie reiht sich emotional in dieses Lager ein. Bei der Analyse ergab sich außerdem, dass eine Kategorie »regierungskritisch« sinnvoll schien, also eine emotional-kritische Formulierung gegen die eigene Regierung (beispielsweise zur Aufforderung des klaren Bekenntnisses für das eigene Lager).

Für die feineren semantischen Aspekte werden die zehn Kriegsrhetorik-Axiome herangezogen, wie sie erstmals von Ponsonby (1928) für den Ersten Weltkrieg beschrieben und für weitere Kriege von Morelli (2001) bestätigt wurden. Es wird untersucht, inwiefern sich diese in den Texten wiederfinden.

Wie setzt sich unser Korpus zusammen? Ausgewählt wurden die politischen Wochenzeitungen, die in verschiedenen Wikipedia-Versionen als die jeweils auflagenstärksten des Landes mit entsprechenden Quellenverweisen beschrieben sind (siehe Tabelle 1).1 Die Auswahl umfasst zum einen alle europäischen Länder die in der noch zu behandelnden Ipsos-Umfrage berücksichtigt wurden, mit Ausnahme von Spanien und Belgien, die keine politischen Wochenzeitschriften haben, die im ganzen Land gelesen werden. Zusätzlich berücksichtigt wurden die USA (als führender NATO-Staat mit seinen zahlreichen Militärbasen in Europa und Waffenlieferungen in die Ukraine) sowie ergänzend Russland. Im einzelnen handelt es sich somit um folgende Wochenzeitschriften:

  • Deutschland (DE): Der Spiegel
  • Frankreich (FR): Le Point
  • Großbritannien (UK): The Economist
  • Italien (IT): Espresso
  • Niederlande (NL): EW Weekblad
  • Polen (PL): Polityka
  • Russland (RU): Argumenty i Fakty
  • Schweden (SE): Fokus
  • Ungarn (HU): hvg
  • USA (US): Newsweek

Für die Zusammenschau von sprachlichen Daten und politischen Haltungen greife ich auf die erwähnte Ipsos-Umfrage (2023) zurück.2 Sie wurde vom 25.11.2022 bis 09.12.2022 erhoben. Die untersuchten Titelseiten umfassen daher den Zeitraum 24.02.2022 bis 09.12.2022 – 42 Wochen. Berücksichtigt wurden das zentrale Coverbild mit dazugehörigem Text sowie in prominenter Schrift gehaltene und mit Bild versehene kleinere Texte auf dem Cover. Es werden zur Belegangabe Länderabkürzung und Ausgabennummer des Jahres 2022 bzw. – im Falle von UK und FR– das System MMDD (Monat/Tag) verwendet.

Die theoretische Begründung für einen Vergleich von sprachlichen Daten und der Verbreitung von Meinungen liegt darin, dass man in Linguistik und Psychologie (spätestens seit Lippmann 1922) unter dem Begriff »Propaganda« beschrieben hat, wie spezielle sprachliche Techniken das Denken und Fühlen von Menschen beeinflussen können; heute wird die Beeinflussung von Gedanken durch Netzwerke von Wörtern und Sätzen auch als »Framing« bezeichnet, wie es etwa von Tversky und Kahneman (1981) und Chomsky und Herman (1988) illustriert wurde. Für diese Studie wurden die Titelseiten landesweit beliebter politischer Wochenmagazine untersucht, da es sich dabei um Botschaften handelt, die die Menschen eines Landes auch dann wahrnehmen, wenn sie das Produkt nicht kaufen – sie sehen sie zumindest unbewusst im Vorbeigehen, da sie in Läden und Kiosken zu sehen sind. Solche Quellen können durch ihre Verbreitungsstärke und Dominanz als typische Vertreter der nationalen Mediensprache oder des Mediendiskurses betrachtet werden. Dies soll keinesfalls die Existenz von Gegenkulturen leugnen bzw. die Medienvielfalt ungebührlich verkürzen – es soll aber sichtbar machen, welche dominanten Narrative geradezu »unvermeidbar« präsent sind.

Im Gegensatz dazu haben Nachrichten in sozialen Medien zwar durchaus Auswirkungen auf die Rezipierenden, werden aber von diesen autonomer ausgewählt oder individueller durch Algorithmen angeboten (vgl. z.B. Bucher 2018). Auch TV-Nachrichtensendungen können wie soziale Medien gemieden werden. Mit Blick auf die kulturübergreifende Fragestellung und den Mangel an Daten zu konkreten individuellen Mediengewohnheiten im Zusammenhang mit individuellen politischen Einstellungen sind Zeitschriftencover also methodisch besser geeignet als Nachrichten in den sozialen Medien und im TV.

Für die Zusammenschau der sprachlichen Daten und der Umfrageergebnisse wird der Rangkorrelationskoeffizient herangezogen (vgl. Cohen 1988, Ellis 2010). Dies soll jedoch nicht als strenge statistische Analyse verstanden werden, sondern als Weg, Hinweise auf Zusammenhänge zu erhalten. Schon gar nicht lässt sich so auf Kausalität schließen.

Analysen

Covererwähnungen und erste semantische Klassifizierung

Wenn wir zunächst die Cover mit Haupttiteln und deren Untertiteln sowie die mit Bild versehenen großen Nebentexte zum Themenkomplex »Westen–Ukraine–Russland« zusammenzählen, so ergibt sich die Darstellung in Abbildung 1. Die meisten Texte mit einem thematischen Bezug zum Krieg in der Ukraine sind also in der deutschen Zeitschrift zu finden, die wenigsten in der US-amerikanischen.

Nehmen wir nun jene Länder in die engere Betrachtung, in denen mehr als 20 % der Wochen einschlägige Titelseiten zeigen und klassifizieren diese Titelseiten in objektiv-deskriptive, pro-westliche/anti-russische, pro-russische/anti-westliche und allgemeinere, die eigene Regierung kritisierende Seiten, so ergibt sich die in Abbildung 2 dargestellte Verteilung. Während also die russische Publikation den stärksten objektiv-deskriptiven Stil zeigt (80 %), weisen die Zeitschriften aus Deutschland und Frankreich einen relativ hohen Anteil an emotionalen Covern auf (mindestens zwei Drittel). Die Blätter in Polen, Italien und Großbritannien bieten einen gemischten Anblick: knapp die Hälfte der Titelseiten wird von objektiv-deskriptiven und die andere Hälfte von entsprechend emotionalen Texten (40 % bis 60 %) gebildet. Ein klares geographisches Muster zeigt sich nicht. Nähme man noch die Verteilung der niederländischen und ungarischen Zeitungen hinzu (die knapp unter der 20 %-Marke lagen), ergäbe sich auch kein klareres Bild. Es ist also weder eine publizistische Blockbildung parallel zur politischen Systemkonkurrenz zu beobachten, noch ein Unterschied zwischen größeren und kleineren Staaten noch ein Unterschied zwischen westlichen und östlichen Staaten.

Land

Haupttext +
großer Nebentext

US

4

SE

5

HU

8

NL

8

IT

10

RU

10

UK

11

PL

11

FR

14

DE

18

Abb. 1: Anzahl Coverseiten (ab 20% der Ausgaben leicht gegraut, ab 25% stärker gegraut)

Land

objektiv-
deskriptiv

regierungs-
kritisch

pro-westlich/
anti-russisch

anti-westlich/
pro-russisch

DE

6

3

9

0

PL

6

2

3

0

UK

6

0

5

0

FR

4

1

9

0

RU

8

0

0

2

IT

4

2

4

0

Abb. 2: Grobsemantik der Texte

KRP

US

UK

IT

NL

FR

DE

HU

PL

SE

RU

1

2

+

+

+

+

+

+

+

+

3

(+)

+

+

+

+

+

(+)

+

(+)

4

+

+

+

+

+

+

+

+

5

+

+

+

+

+

+

+

+

6

+

7

+

+

+

+

+

+

+

+

8

+

+

+

9

+

+

+

+

+

10

(+)

(+)

(+)

(+)

Σ1-10

2,5

5,5

3

7

4,5

8,5

4,5

7

4

3

11

+

Σ1-11

2,5

5,5

4

7

4,5

8,5

4,5

7

4

3

Abb. 4: Verteilung der Kriegsrhetorik-Prinzipien; die Klammern sagen, dass dies hier nur in milder Form auftritt und daher mit 0,5 Punkten weniger eingerechnet wird.

Kriegsrhetorische Prinzipien in der Anwendung

In den emotionalen Texten (über alle Kontexte) wurde im folgenden Untersuchungsschritt nach den Techniken der Kriegsrhetorik gemäß Ponsonby (1928) gesucht. Diese zehn kriegsrhetorischen Prinzipien (KRP) sind in Abbildung 3 aufgelistet und mit Beispielen und Anmerkungen versehen. Die genaue geographische Verteilung und Stärke der Anwendung dieser Prinzipien zeigt Abbildung 4.

Es ist erstaunlich, dass es zum Prinzip 1 »Wir wollen den Krieg nicht« keine Beispiele gibt. Vielmehr ist Umgekehrtes zu beobachten: Es werden Waffen, militärische Stärke und ein militärischer Sieg mehr thematisiert und propagiert, als ein schnelles Kriegsende, militärischer Abbau, Diplomatie und Frieden. Letztere werden sogar lächerlich gemacht. Das Wort »Diplomatie« kommt nur ein einziges Mal vor, nämlich in IT-40 – negativ, nach Hinweis auf den „nuklearen Albtraum“: „E la diplomazia spera di centrare l’obiettivo minimo: la trega“ („Und die Diplomatie hofft das Minimalziel zu erreichen: Waffenstillstand“). Somit lässt sich als neues KRP 11, gleichsam als Ergänzung zu Ponsonby, hinzufügen: Diplomatie ist lächerlich (und bestenfalls nicht erwähnenswert).

Insgesamt lässt sich zur Verteilung der KRP Folgendes beobachten (vgl. Abbildung 4): Das regionale Cluster der deutschen, polnischen, ungarischen, niederländischen, britischen und französischen Texte hat auf die Mehrheit der KRP zurückgegriffen. Die Texte aus den USA, Schweden, Russland und Italien griffen auf weniger dieser Strategien zurück. Gleichwohl nutzten alle untersuchten Texte eine oder mehrere der erwähnten Techniken.

Einfluss auf die Meinungsbildung?

Betrachten wir nun die allgemeine Häufigkeit von einschlägigen Covertexten (Abbildung 1) und stellen sie mit einem Rangkorrelationstest in Korrelation zu den Antworten aus der Ipsos-Umfrage (mit Daten für alle untersuchten Länder außer Russland). Einige Korrelationskoeffizienten (r) sind zwischen -0,20 und +0,20, also nahe 0, und sollen daher als vernachlässigbar gesehen werden (Cohen [1988] würde Werte zwischen 0,1 bis 0,3 als geringen Effekt sehen). Bei einigen Aspekten jedoch wird es spannend. So lassen sich folgende leichte bis mittlere Korrelationen ausmachen3:

Je mehr Texte es insgesamt gab,

(1) desto niedriger der Prozentsatz, der für wirtschaftliche Sanktionen ist, selbst wenn dies bedeutet, dass Energie- und Lebensmittelpreise eine Zeit lang höher sind (r = -0,26);

(2) desto niedriger der Prozentsatz, der sagt, dass er die Nachrichten verfolgt hat (r = -0,44)

(3) desto höher der Prozentsatz, der sich für die Beibehaltung diplomatischer Beziehungen mit Russland ausspricht (r = 0,55)

(4) desto höher der Prozentsatz, der sagt, dass die Probleme nicht Sache des eigenen Staates sind und man sich nicht einmischen sollte (r = 0,20).

Nun wollen wir diese Ergebnisse noch etwas unterteilen: Ich fragte mich, ob die Anzahl der Wochen, in denen »emotionale« Cover-Texte zu sehen waren, einen spezifischen Einfluss auf die Haltung am Jahresende hatten und wie es mit den Korrelationen der »objektiv-deskriptiven« Texte aussieht. Man kann dazu auf Analyse 2.1 zurückgreifen und den Korrelationskoeffizienten für die fünf bzw. sieben Staaten (vgl. Abbildung 2, abzüglich Russland) mit den meisten Titelseiten (>20 % der Wochen bzw. knapp darunter) mit Blick auf das Verhältnis von emotionalen und objektiv-deskriptiven Texten berechnen.4 Berücksichtigt man auch dann nur die Aspekte, bei denen alle sechs Berechnungen Koeffzienten (r) außerhalb des Bereichs zwischen -0,20 und +0,20 (nahe Null) ergeben, lässt sich Folgendes sagen:

Je mehr emotionale Texte beziehungsweise je weniger objektiv-deskriptive Texte es gab,

(1) desto weniger Befragte sind für Sanktionen (r-Werte von 0,43 bis 0,89).

(2) desto mehr Befragte sehen den Krieg nicht als Sache ihres Landes (r-Werte von 0,20 bis 0,84).

(3) desto weniger Befragte haben intensiv die Nachrichten verfolgt (r-Werte von 0,57 bis 0,94).

Der Vergleich zeigt also überraschenderweise: Je mehr emotionale Texte beziehungsweise je weniger objektiv-deskriptive Texte es gab, desto weniger Befragte wollen mit dem Krieg in militärischer oder wirtschaftlicher Form zu tun haben. Möglicherweise kann Propaganda also so stark sein, dass sie – zumindest bei vom Konflikt stark betroffenen Ländern – abstoßend wirkt und das Gegenteil bewirkt. Allerdings sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden, da keine Signifikanzen im statistischen Sinne vorliegen und ja nicht das konkrete Bewegungs- und Leseverhalten und die Ansichten von Individuen verknüpft wurden. Dies müsste in speziellen Experimenten weiter analysiert werden. Hier geht es nur um Hinweise.

KRP

Beispiele und Anmerkungen

1. Wir wollen den Krieg nicht.

[kein Beispiel im Korpus]

2. Der Feind ist allein Kriegsverantwortlicher.

[DE-09] Putins Krieg;

[PL-10] Stalinowska wojna Putina ,Putins stalinischer Krieg‘;

[HU-09] Putin als világrendbontó ,Weltordnungszerleger‘;

negative Symbole für die Kriegsaktivitäten der Gegenseite, etwa im Westen der Buchstabe Z russischer Panzer (z.B. in kreativer Worttrennung im Wort GÁ Z ,Gas‘ in [HU-37]) und im russischen Medium Nazi-Symbole in Verbindung mit dem ukrainischen Asow-Regiment (z.B. [RU-21])

3. Der Führer des Feinds ist der Teufel.

Putin als diabolique ,diabolisch‘ [FR-0602]

oder wie Iwan der Schreckliche, Stalin oder Hitler

D’Ivan le Terrible à Vladimir Poutine ,Von Iwan dem Schrecklichen zu Vladimir Putin‘ [FR-0317],

Leben wie unter Stalin [DE-11],

dictators als Hitler, Saddam en Poetin ,Diktatoren wie Hitler, Saddam und Putin‘ [NL-47]

In milderer Form ist der Feind „Zerstörer“ oder „Täter in einem bösen Spiel“.

4. Unsere Sache dient allen.

Also auf der einen Seite allen im Westen oder Europa und auf der anderen Seite der gesamten russischen Ethnie, z.B. [RU-09] Чем им можно помочь?, Womit kann man ihnen [Flüchtlingen, wie im Bild] helfen?‘

5. Unsere Sache ist heilig.

Statt heilig auch kulturell/moralisch hochwertig:

(1) symbolische Ereignisse im russischen Medium (Донбасс сердце России | Операция на сердце | Донбасс возвращается домой, Donbass, Russlands Herz | Operation am Herzen | Donbass kehrt nach Hause‘ ([RU-39], nach den Referenden) vs. westliche Texte in oder vor ukrainischen Farben.

(2) Im Westen ist Selenskyjs Kampf heldenhaft, im russischen Medium jener von Putin: z.B. mit Anspielung auf Selenskyjs Schauspielerberuf In de rol van zijn leven ,In der Rolle seines Lebens‘ [NL-13]

6. Die Künstler und Intellektuellen unterstützen uns.

DE-36: Porträt von Gorbatschow als Der Anti-Putin, was jedoch verschweigt, dass gerade in der internationalen Politik Gorbatschow Putin stützte.

7. Der Feind begeht bewusst Grausames, wir höchstens unabsichtlich.

(1) Darstellung der Blutigkeit, z.B. [DE-18] Putins blutige Spur, [IT11] Impero di sangue ,Blutimperium, Blutherrschaft‘.

(2) Krieg und drohender Energieausfall, z.B. [UK0716] Europe’s coming winter peril ,Europas kommendes Winter-Risiko‘.

(3) Spekulation über weitere Kriegsabsichten Putins (z.B. [NL-10] Russenangst terug in Europa ,Russenangst zurück in Europa‘, [HU-42] als Anspielung auf Cyberkrieg www.kiberhabo.ru (wobei kiberháború so getrennt wird, dass ru als russisches Internet-Länderkennzeichen stehen bleibt).

8. Der Feind benutzt unzulässige Waffen.

Im Westen wird die nukleare Bedrohung seitens Putin thematisiert, aber nicht die seitens des Westens ([DE-44], [PL-12], [NL-24]). Nur in [UK-0604] geht es um Atomkriegsgefahr allgemein.

9. Unsere Verluste sind gering, die des Feindes sind riesig.

[DE-09] Putins Desaster, [UK-0428] How rotten is Russia’s army? ,Wie marode ist Russlands Armee?‘

10. Wer uns anzweifelt, ist ein Verräter.

Der Begriff „Verräter“ taucht zwar nicht direkt auf, doch werden einige, die sich nicht oder nicht bedingungslos zur eigenen politischen Härte bekennen, als Unterstützer des Gegners negativ dargestellt.

(1) weitere Unterstützer Putins: DE-11 Er ist das Volk (in Anspielung an den Slogan der DDR-Demos 1989/90 Wir sind das Volk, mit Bezug auf die große Unterstützung in der russischen Bevölkerung), IT-10 Fratelli di Putin ,Brüder von Putin‘ (in Anspielung auf den Titel der italienischen Nationalhymne Fratelli d’Italia, mit Bezug auf Putin-freundliche Personen aus Politik, Finanz, Staat, Medien);

(2) Personen mit differenzierter Sichtweisen, etwa der Papst ([PL-20] Wojna według Franciszka | Wypowiedzi papieża szokują. ,Krieg gemäß Franziskus | Die Aussagen des Papstes sind schockierend.‘). Interessanterweise gibt [NL-40] Putins Sicht auf den Krieg und den Westen in Form eines Zitats wieder, wenngleich es wohl ob seiner Länge lächerlich wirken kann/soll: „Westerse landen zeggen al eeuwen dat ze andere landen vrijheid en democratie brengen. Niets is minder waar. In plaats van democratie te brengen, onderdrukten en exploiteerden zij, en in plaats van vrijheid te geven, maakten zij slaven en onderdrukten. De unipolaire wereld is inherent antidemocratisch en onvrij; ze is door en door vals en hypocriet.“ ,Westliche Länder sagen schon Jahrhunderte, dass sie anderen Ländern Freiheit und Demokratie bringen. Nichts ist weniger wahr. Statt Demokratie zu bringen, unterdrückten und beuteten sie aus, und statt Freiheit zu geben, machten sie Sklaven und unterdrückten. Die unipolare Welt ist inhärent antidemokratisch und unfrei; sie ist durch und durch falsch und heuchlerisch.‘

(3) Im Westen werden Putin und Xi, der sich nicht an der westlichen Sanktions- und Waffenpolitik beteiligt, als (Negativ-)Paar dargestellt, z.B. [SE-13] Du och jag, Xi! ,Du und ich, Xi!‘ (in Anspielung auf eine Szene an, in der Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga gegenüber dem Knecht Alfred beider Freundschaft ausdrückt). In Russland wird die EU als Vasall der USA dargestellt in [RU-23]: Scholz, beobachtet von Biden, in einer Sanktionen-Karikatur, mit den Worten Что еще отморозит себе запад назло России,Was wird der Westen noch alles einfrieren [= sich verbieten], um Russland zu ärgern…‘.

Abb. 3: Kriegsrhetorik-Prinzipien mit Beispielen

Zusammenfassung und Ausblick

Die Forschungsfragen lassen sich für die hier angestrebte Untersuchung wie folgt beantworten:

Zu 1) Es gab 99 Cover-Texte, die meisten in Deutschland (18), Frankreich (14), Großbritannien (11), Polen (11), Italien (10) und Russland (10).

Zu 2.1) Bei den Medien, die in mehr als 20 % der Wochen einschlägige Texte zeigten, gilt: Die hier untersuchten Zeitungen aus Deutschland und Frankreich veröffentlichten meist pro-westliche/anti-russische Titeltexte. Das russische Magazin brachte vorwiegend objektiv-deskriptive Überschriften. Die restlichen Medien waren ausgeglichen.

Zu 2.2) Prominente Kriegsrhetorik-Prinzipien nach Ponsonby waren: Der Feind ist allein Kriegsverantwortlicher. Der Führer des Feinds ist der Teufel. Unsere Sache dient allen. Unsere Sache ist heilig. Der Feind begeht bewusst Grausames, wir höchstens unabsichtlich. Darüber hinaus ergab sich als neues (mögliches) Prinzip: Diplomatie ist lächerlich. Die deutschen, polnischen, ungarischen, niederländischen, französischen und britischen Texte haben die Kriegsrhetorik-Prinzipien in ihrer Mehrheit verwendet.

Zu 3) In Bezug gesetzt mit den Ergebnissen der Ipsos-Umfrage ergab sich: (A) Je mehr Texte es insgesamt gab, (1) desto weniger Befragte sprechen sich für Sanktionen aus, (2) desto weniger haben die Nachrichten verfolgt, (3) desto mehr sprechen sich für die Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen aus, (4) desto mehr sehen den Krieg nicht als Sache ihres Landes an. Zusätzlich gilt: (B) Je mehr emotionale Texte bzw. je weniger objektiv-deskriptive Texte es gab, (1) desto weniger Befragte sind für Sanktionen, (2) desto mehr sind gegen militärisches Eingreifen, (3) desto weniger haben intensiv die Nachrichten verfolgt. Auch wenn man nicht von Signifikanzen im statistischen Sinne sprechen kann, könnte man hier zumindest auf Hinweise von einem adversen Effekt der Propaganda bei stark betroffenen Ländern sprechen.

Sollte sich dieser Hinweis auf einen adversen Effekt von Propaganda in weiteren Untersuchungen bestätigen, wäre dies überraschend, etwa vor dem Hintergrund von Wolfsfelds (2004) dynamischem Modell. Gemäß diesem Modell verstärkten nämlich Massenmedien den Eliten-Konsens in der Bevölkerung.

Welche Konsequenzen daraus gezogen werden können, soll offen bleiben. Nur ein Beispiel sei genannt. Die Ergebnisse könnten nützlich sein für Friedensjournalismus nach Galtung (2006). Natürlich sind die Wünsche der ukrainischen Führung und Bevölkerung zu berücksichtigen. So gilt zum Zeitpunkt, da dieser Artikel verfasst wird, nach wie vor Präsident Selenskyjs Dekret, das diplomatische Aktivitäten mit Präsident Putin verbietet. Da in der Regel jedoch in einem Krieg irgendwann die Diplomatie eine entscheidende Rolle spielt, könnten Medienschaffende, sobald sich unter den Eliten die Friedensidee verbreitet, auf Basis der hier entdeckten Hinweise Anregungen holen, um zu schnellerem Waffenstillstand und Frieden beitragen zu können (vgl. auch Grzega 2022). Solche Anregungen könnten lauten „Verzichte bei diesem Krieg in Titeltexten auf Kriegspropaganda-Rhetorik, da ein Zuviel solcher Rhetorik ohnehin einen adversen Effekt haben könnte!“ oder „Vermeide ein Zuviel emotionaler Titeltexte!“

Anmerkungen

1) Die verwendeten Originalquellen und ein entsprechendes Datenverzeichnis können beim Autor angefragt werden.

2) Neben dieser gibt es noch eine ähnlich gelagerte Umfrage von Garton Ash, Krastev und Leonard (2023), auf die zwar in einigen Pressemeldungen referiert wurde, die jedoch unbrauchbar ist, da sie die Einigkeit des Westens so herstellt, dass sie Umfrage-Ergebnisse der ausgewählten EU-Länder zusammenfasst (statt für jedes Land separate Ergebnisse zu liefern); so ist nicht nachvollziehbar, ob die EU-Befragten sich einig sind oder die Bevölkerungen bestimmter Länder ganz anders zur Thematik stehen.

3) Auch diese Berechnungen können beim Autor angefordert werden.

4) Verglichen werden die Umfrageergebnisse sowohl mit den emotionalen Covertexten als auch mit den objektiv-deskriptiven Texten, jeweils in absoluten Zahlen und in prozentualen Zahlen (gemessen an allen einschlägigen Coverseiten).

Literatur

Bucher, T. (2018): If…Then – Algorithmic power and politics. Oxford: Oxford University Press.

Chomsky, N.; Herman, E. (1988): Manufacturing consent. New York: Pantheon.

Cohen, J. (1988): Statistical power analysis for the behavioral sciences. New York: Academic Press.

Ellis, P. (2010): The essential guide to effect sizes. Cambridge: Cambridge University Press.

Galtung, J. (2006): Peace journalism as an ethical challenge. GMJ: Mediterranean Edition 1(2), S. 1-5.

Galtung, J.; Ruge, M. (1965): The structure of foreign news. Journal of Peace Research 2(1), S. 64-91.

Garton Ash, T.; Krastev, I.; Leonard, M. (2023): United west, divided from the rest. Policy Brief 482.

Grzega, J. (2022): Diplomatic solutions through cultural keywords. Journal for EuroLinguistiX 19, S. 8-21.

Ipsos (2023): The world’s response to the war on Ukraine. Paris: Ipsos.

Lippmann, W. (1922): Public opinion. New York: Harcourt, Brace & Co.

Morelli, A. (2001): Principes élémentaires de propagande de guerre. Bruxelles: Aden.

Ponsonby, A. (1928): Falsehood in war-time. London: Allen and Unwin.

Selimi, F. (2023): Monitoring of the daily printed newspapers of the Western Balkans for the coverage of the events in the Russia-Ukraine war with special emphasis on their cover page. Online Journal of Communication and Media Technologies 13(3), e202327.

Tversky, A.; Kahneman, D. (1981): The framing of decisions and the psychology of choice. Science 211, S. 453-458.

Wolfsfeld, G. (2004): Media and the path to peace. Cambridge: Cambridge University Press.

Dr. Joachim Grzega ist Leiter des Bereichs »Innnovative Europäische Sprachlehre (InES)« an der VHS Donauwörth und außerplanmäßiger Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Krieg und Frieden jenseits »Großer Männer«

Krieg und Frieden jenseits »Großer Männer«

Eine feministische Kritik populärwissenschaftlicher Geschichtszeitschriften

von Dorothée Goetze

Populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften orientieren sich in Themenwahl und Präsentation an einem männlichen Publikum. Dies erklärt einerseits die inhaltliche Fokussierung auf Krieg und Konflikt sowie andererseits die auf »Große Männer« und deren Taten ausgerichtete Darstellung. Feministische Perspektiven können durch differenziertere Darstellungen nicht nur zu einer Neuausrichtung der Themenwahl durch die stärkere Berücksichtigung von Frieden beitragen, sondern dadurch gleichzeitig die Entwicklung von für ein diverseres Publikum attraktiven Präsentationsformen fördern.

History sells – Geschichte lässt sich gut vermarkten. Das ist bekannt und die Vielzahl medialer Formate, die einem breiten Publikum historische Inhalte vermitteln wollen, belegt das eindrücklich. Neben Radiosendungen, Podcasts, Filmen, Fernsehformaten und den sogenannten sozialen Medien sind hier auch populärwissenschaftliche Zeitschriften zu nennen. Diese haben eine lange Tradition. Das führende englischsprachige Magazin »History Today« erscheint seit 1951. Die älteste deutsche populärwissenschaftliche Geschichtszeitschrift »Damals« ist nur acht Jahre jünger. Einen wahren Boom erlebt das Genre seit Anfang der 2000er Jahre. Seitdem ist die Anzahl der verschiedenen Zeitschriften sehr stark angestiegen, eben weil Medienmacher*innen erkannt haben, dass man mit Geschichte Geld verdienen kann.

Ihrem Anspruch nach präsentieren diese Geschichtsmagazine einem breiten Publikum aktuelle Ergebnisse der historischen Forschung zu relevanten Themen. Untersuchungen zu den Konsument*innen von populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften zeigen jedoch, dass deren Leserschaft nicht so vielfältig ist, wie der Begriff »breites Publikum« zunächst annehmen lässt. Diese Geschichtsmagazine werden vor allem von älteren und gut gebildeten Männern gelesen. Dies gilt nicht nur für den deutschsprachigen Raum, sondern wird durch Studienergebnisse etwa aus Großbritannien bestätigt (De Groot 2016, S. 59). Geschichtsdidaktische Forschungsergebnisse lassen noch weiterreichendere Aussagen zu: Populärwissenschaftliche Geschichtsjournale vermitteln kein gleichgestelltes Geschichtsbild; Frauen werden weder als Individuum noch als Gruppe sichtbar, während Männer überrepräsentiert sind und in ihrer Darstellung stereotyp auf gewaltvolle Eigenschaften reduziert werden (Lundqvist 2016, S. 1). Meist wird auf »Große Männer« fokussiert, deren Leben eine Verbindung zu einem wichtigen zeitgenössischen Ereignis aufweist. Über alle Länder hinweg dominieren Krieg und Konflikt die dargestellten Inhalte, deren Auswahl ist allerdings von nationalen Geschichtsschreibungen geprägt (Schumann, Popp und Hannig 2015, S. 16). Diese Befunde spiegeln sich deutlich auf den Titel­blättern von Geschichtszeitschriften wider.

Wenn also Krieg und Konflikt den thematischen Schwerpunkt populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine bilden und sich deren Darstellung an einer gut ausgebildeten männlichen Leserschaft orientiert, stellt sich die Frage, wie sich diese Darstellung mit einer weiblichen oder feministischen Perspektive verändert.

Frauen im Krieg: Die Zeitschrift »Historiskan«

Frauen werden in populärwissenschaftlichen Geschichtsmagazinen selten thematisiert – und falls doch, dann in der Regel nicht im Kontext von Krieg und Frieden; von nicht binär gelesenen Personen ganz zu schweigen. Es ist durchaus bemerkenswert, dass sich bei der Vorbereitung dieses Textes kein einziges deutschsprachiges Geschichtsmagazin ermitteln ließ, das sich dezidiert an Frauen und/oder nicht-männliche Personen richtet, obwohl es gleichzeitig einen fast unüberschaubaren Markt an Frauenzeitschriften und zahlreiche explizit feministische (politische) Magazine gibt. Ist Geschichte also etwa ein rein männliches Thema?

In Schweden gibt es seit 2015 mit der Zeitschrift »Historiskan« (Übersetzung: Die Historikerin) ein Geschichtsmagazin, das Frauen und ihre Rolle in der Geschichte in den Fokus stellt und sich als ein Beitrag zu mehr Gleichstellung in der Geschichtsschreibung versteht.1 Diese Zeitschrift steht somit nicht in der Tradition eines feministischen, sondern eines geschlechtergeschichtlichen Zugangs zu Geschichte. Doch folgen gerade in den ersten Jahren der Zeitschrift die Titelblätter stark den oben beschriebenen Mustern bei Titelseiten anderer populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine, indem sie – wie ihre an Männer gerichteten Pendants – bekannte Frauenpersönlichkeiten in den Fokus rücken; obgleich der erste Titel zur Geschichte der weiblichen Brust mit einem Gemäldeausschnitt, der einen Busen zeigt, wohl zu Recht als programmatisch in Bild und Inhalt bezeichnet werden kann. Auf insgesamt sechs der inzwischen 31 erschienen Ausgaben (Stand: Dezember 2022) sind analog zu »Großen Männern« bedeutende Frauen abgebildet. Gezeigt wurden Königin Christina von Schweden (3/2016), Frida Kahlo (4/2016), Königin Marie-Antoinette (1/2017), Hilma af Klint (3/2017), Bernadette Devlin (4/2017) und Königin Margarethe I. von Dänemark (1/2020). Das legt den Schluss nahe, dass sich die Zeitschrift in der Frühphase stärker an der Bildsprache konventioneller Geschichtsmagazine orientierte, ehe sie eine eigene Ausdrucksform entwickelte. Unterscheidet sich die Auswahl der Persönlichkeiten zumindest insofern, als dass sie sich nicht auf Militärs und Politiker*innen beschränkt, sondern Herrscher*innen, Künstler*innen und politische Aktivist*innen repräsentiert, so handelt es sich jedoch auch hier um Einzelpersonen, denen eine herausgehobene Position zugeschrieben wird. Es wird also auch hier mit Personalisierung und Heroisierung gearbeitet.

Auf den ersten Blick scheinen Krieg und Frieden lediglich eine nachrangige Position auf der Themenliste in »Historiskan« einzunehmen. So zeigen nur zwei Titelseiten Bilder mit Kriegsbezug: Heft 2/2018 wählte als Aufmacher »Auf Leben und Tod. Suffragettenkrankenhäuser in London retteten Soldaten während des Ersten Weltkrieges«.2 Bildlich repräsentiert wird das Thema durch die Abbildung eines Gemäldes, das fünf Ärztinnen in OP-Kleidung zeigt, die einen Mann medizinisch versorgen. Die vierte Ausgabe des Jahres 2019 titelte »Im Schatten des Todes. 1939 errichteten die Nazis das einzige Frauenkonzentrationslager. Das Leben in Ravensbrück war geprägt von harter Arbeit und Grausamkeit«.3 Auf der Titelseite ist das Foto von befreiten Häftlingen des Konzentrationslagers Ravensbrück abgedruckt.

Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass bereits auf den Titelseiten der Zeitschrift Hinweise auf weitere Beiträge aus dem Bereich Krieg und Konflikt als Marginalien gesetzt werden. Darüber hinaus finden sich in den einzelnen Zeitschriftenausgaben immer wieder auch Texte, die Krieg thematisieren, ohne dass sie auf dem Titel beworben werden. In den Artikeln wird Krieg epochal breit gefächert, aber dennoch innerhalb eines durch andere Geschichtsmagazine bereits etablierten Kanons behandelt, von der Wikingerzeit (z.B. Historiskan 4/2017) bis zum 20. Jahrhundert (z.B. Historiskan 2/2017). Dabei werden unterschiedliche Facetten von Kriegserleben aufgegriffen. So gibt es etwa in Heft 1/2017 einen Artikel zum ersten russischen Frauenbataillon, das 1917 aufgestellt wurde (S. 58-63). Ausgabe 2/2017 enthält einen zehnseitigen Beitrag zum englischen Rosenkrieg, in dem Frauen als politische Akteurinnen dem blutigen Schlachtgeschehen und mächtigen Männern gegenübergestellt werden. Das nachfolgende Heft enthält eine Serie mit Aufnahmen der Fotografin Mia Green (1870-1949), die die Zeit des Ersten Weltkrieges in Haparanda bildlich dokumentiert hat, das als Grenzstadt zwischen dem neutralen Schweden und dem zum russischen Reich gehörenden Großfürstentum Finnland direkt vom Krieg betroffen war (Historiskan 3/2017, S. 44-49). Zudem ist im gleichen Heft ein Artikel zur Teilnahme von Frauen an den mittelalterlichen Kreuzzügen publiziert (Historiskan 3/2017, S. 57-61).

»Historiskan« folgt somit letztlich dem etablierten Narrativ der Heroisierung, das aus anderen populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften bekannt ist, die stark mit den aufeinander bezogenen Mitteln der Heroisierung und Dämonisierung arbeiten; nur dass der Fokus verschoben wird und statt männlichen eben weibliche Heldinnen gewählt werden. Es erfolgt jedoch keine Anpassung der Erzählstrategien. Vielmehr wird ein etabliertes (männliches) Erzähl-Muster auf ein weibliches Publikum übertragen. Die Anpassung an die veränderte Zielgruppe erfolgt somit nicht durch die Art der Darstellung, sondern in erster Linie durch die Wahl der Protagonistinnen. Dabei folgt »Historiskan« fast ausnahmslos der Perspektive der weißen heterosexuellen Mittelschichtsfrau (Lundqvist 2016, S. 38).

Mit der Betonung von Krieg und Konflikt folgen populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften nicht der Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Forschung, die sich seit etwa 2010 verstärkt Fragen von Friedensdenken, -findung und -wahrung zuwendet, obwohl sie den Anspruch formulieren, am Puls der Forschung zu sein und aktuelle Ergebnisse zu präsentieren. Als Erklärung dafür, warum aktuelle Forschung und populäre Darstellungen in diesem Punkt unterschiedliche Pfade beschreiten, kann Joachim Krügers Befund zur Ausstellbarkeit von Frieden in Museen auf populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften übertragen werden: „Krieg ist verglichen mit Frieden […] konkreter und leichter fassbar“ (Krüger 2019, S. 381). Dabei böten gerade populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften (anders als Museen, die auf Ausstellungsobjekte angewiesen sind) die Möglichkeit, Frieden erzählbar zu machen.

Feministische Perspektive: ein Weg zum Frieden

Eine Voraussetzung dafür ist ein grundlegender Perspektivwechsel. Feministische Ansätze, wie sie in der (politikwissenschaftlichen) Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen fest etabliert sind (z.B. Smith und Yoshida 2022), können dafür die notwendigen Grundlagen schaffen. Eine feministische Perspektive hinterfragt die bislang dominierende und im Fall populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine auf weiße männliche Helden und Mittelschichtsfrauen ausgerichtete Erzählstrategie und strebt danach, bislang marginalisierte Akteur*innen zu berücksichtigen. Diese Perspektivverschiebung geht einher mit einer Reflexion etablierter Machtstrukturen und ermöglicht zugleich die Berücksichtigung von Alltagserleben und unterschiedlichen Wahrnehmungen. Das nimmt den Fokus weg von »Großen Männern« und Eliten, ohne diese jedoch in ihrer Wirkmächtigkeit (und eben auch Gewalt) zu negieren. Vielmehr werden diese unterschiedlichen Akteur*innen zueinander ins Verhältnis gesetzt. Dadurch können Inklusions- und Exklusionsmechanismen sichtbar gemacht werden. Es geht also nicht darum, eine eindimensionale Perspektive durch eine andere zu ersetzen, wie das im Fall der Zeitschrift »Historiskan« durch den Austausch der Protagonist*innen geschehen ist, sondern Krieg in seiner Komplexität sichtbar zu machen.

Dieser umfassende und integrative Zugriff feministischer Ansätze trägt nicht nur dazu bei, ein differenziertes Bild von Krieg jenseits von Held*innen zu zeichnen, sondern schafft die methodischen und theoretischen Voraussetzungen dafür, Frieden zu erzählen. Dies ist umso wichtiger, da, wie Christoph Kampmann betont, bislang die Schwierigkeit besteht, Friedenshandeln im gleichen Maße wie Krieg und Konflikt zu personalisieren und zu heroisieren (Kampmann 2019, S. 434). Dadurch ist Frieden bislang mit den Präsentationsstrategien populärwissenschaftlicher Geschichtsdarstellungen nicht oder zumindest nur schwer greifbar, wie sich im Kontext von Geschichtsmagazinen gezeigt hat. Eine feministische Perspektive würdigt die Komplexität von Friedenshandeln, -denken, -finden und -bewahren. Sie bedarf der »Großen Männer« nicht. Wichtiger sind Fragen danach, ob und welche anderen Gruppen sich nach Frieden gesehnt haben und sich diesen vorgestellt haben; auf welche Weise sie darin inbegriffen oder davon ausgenommen waren und ihn selbst durch ihr Handeln im Rahmen der bestehenden Machtverhältnisse herbeigeführt oder abgelehnt haben. Dadurch wird das Wechselspiel zwischen politischen Eliten, politischen Friedensbauer*innen sowie anderen Akteur*innen jenseits der sichtbaren politischen Bühne deutlich und der Beitrag der letztgenannten zu Frieden anerkannt. Das Einbeziehen ihrer (­Exklusions- und Diskriminierungs-)Erfahrungen trägt dazu bei, die Komplexität von Frieden zu erfassen, und verdeutlicht, warum Friedenfinden aber auch die Implementierung und das Bewahren von Frieden so schwer sind. Frieden wird damit nicht länger zum bloßen Ende von Kriegen reduziert, sondern als eigenständige und komplexe Leistung anerkannt und gewürdigt.

Bislang fehlt eine feministische Form populärwissenschaftlicher Geschichtserzählungen jedoch. Dieser Beitrag versteht sich daher als Anregung für eine kritische Reflexion populärer Geschichtsvermittlung und deren notwendige Weiterentwicklung. Eine solche (selbst-)emanzipierende Perspektive trägt nicht nur zu einem differenzierteren Bild von Geschichte jenseits etablierter Schubladen bei, sondern kann darüber hinaus einen wichtigen in die Zukunft gerichteten Beitrag zu gesellschaftlich relevanten Fragen und Problemstellungen leisten: Wenn Frieden auch historisch lesbar wird, können wir gegenwärtige Tendenzen der Militarisierung, der Heroisierung, der Maskulinisierung hinterfragen und wirksamer kritisch begleiten.

Anmerkungen

1) Die Zeitschrift ist online zu finden unter: historiskan.se

2) Schwedischer Originaltitel: »På liv och död. Suffragettsjukhus i London räddade soldater under första världskriget« (Historiskan 2/2018).

3) Schwedischer Originaltitel: »I dödens skugga. 1939 öppnades nazisternas enda koncentrationsläger avsett för kvinnor. Livet i Ravensbrück präglades av hårt arbete och grymhet« (Historiskan 4/2019).

Literatur

De Groot, J. (2016): Consuming History – Historians and heritage in contemporary popular culture. 2. Aufl. London/New York: Routledge.

Historiskan 3–4/2016, 1–4/2017, 2/2018, 4/2019, 1/2020

Kampmann, Ch. (2019): Westfälischer Frieden und frühneuzeitliche Friedensgeschichte: Überlegungen zu Forschungsperspektiven und Forschungstransfer. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg.): Warum Friedenschließen so schwer ist – Frühzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. Münster: Aschendorff, S. 433-438.

Krüger, J. (2019): Krieg und Frieden in der Perspektive des Museums. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg.): Warum Friedenschließen so schwer ist – Frühzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. Münster: Aschendorff, S. 377-394.

Lundqvist, C. (2016): Kvinnors historia: Mer än vårt kön – En intersektionell studie av tidskriften Historiskan. Examensarbeit im Studiengang Lehramt Geschichte, Universität Karlstad, online-Publikation: urn:nbn:se:kau:diva-42929.

Smith, S.; Yoshida, K. (2022): Feminist conversations on peace. Bristol: Bristol University Press.

Schumann, J.; Popp, S.; Hannig, M. (2015): EHISTO – European History Crossroads as pathways to intercultural and media education. A report about the EU project (2012–2014). In: Popp, S.; Schumann, J.; Hannig, M. (Hrsg.): Commercialised History – Popular History Magazines in Europe. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 14-39.

Dr. Dorothée Goetze arbeitet als Lektorin für Geschichte an der Mittuniversitetet Sundsvall (Schweden). In ihrer Forschung untersucht sie u. a. Fragen der frühneuzeitlichen Historischen Friedensforschung und der Public History.

Konkurrierende Bedrohungsdebatten in Krisenzeiten

Konkurrierende Bedrohungsdebatten in Krisenzeiten

Eine sozialpsychologische Perspektive

von Tobias Rothmund

Hinter uns liegt ein Jahr, in dem der Krisenmodus zum Dauerzustand erklärt wurde. Krieg in der Ukraine, Energieknappheit, Digitalisierung, Pandemiefolgen und nicht zuletzt der galoppierende Klimawandel. Krisen und Transformationsprozesse gehen mit mehr oder weniger konkreten Bedrohungslagen einher. Diese werden in Nachrichtensendungen, Talkshows und sozialen Medien debattiert – singulär, wechselseitig überlagernd und vergleichend. Aber was genau macht das mit uns als Gesellschaft, wenn multiple Bedrohungen und deren Bedeutung dauerhaft zum Gegenstand öffentlicher Debatten werden? Wie reagieren Menschen allgemein auf wahrgenommene Bedrohungen und was bedeutet das für die aktuelle Krisenkommunikation?

Die sozialpsychologische Forschung zu Bedrohung und Bedrohungserleben hat mindestens drei Ursprungslinien: eine evolutionsbiologische, eine kognitionswissenschaftliche und eine gruppenpsychologische. Die evolutionsbiologische Forschungslinie basiert auf der Annahme, dass Sensitivität gegenüber bedrohlichen Umweltreizen biologisch verankert ist, da sie einen Anpassungsvorteil für das Überleben unserer Vorfahren bedeutet hat. Eine solche Sensitivität wird häufig auch als »Negativitätsbias« bezeichnet (Rozin und Royzman 2001), d.h. Menschen reagieren auf negative Informationen stärker als auf positive. Die allgemeine Existenz einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber negativen bzw. bedrohlichen sozialen Informationen ist jedoch umstritten. Bar-Haim und Kolleg*innen (2007) finden im Rahmen einer Meta-Analyse einen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Informationen nur bei Menschen mit ängstlicher Persönlichkeitsstruktur. Norris (2021) hingegen berichtet eine Vielzahl neuropsychologischer Studien, die auf einen allgemeinen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Umweltreize hindeuten.

Eine kognitionswissenschaftliche Ursprungslinie der psychologischen Bedrohungsforschung reicht zu den Arbeiten von Leon Festinger und Kolleg*innen in den 1950er Jahren zurück. Die sogenannten Konsistenztheorien gehen im Kern davon aus, dass Menschen einen Zustand der inneren Konflikt- und Widerspruchsfreiheit anstreben. Persönliche Überzeugungen, Wertvorstellungen, Wahrnehmungen oder auch Verhaltensweisen sollten also im Einklang miteinander stehen. Innere Widersprüche lösen im Sinne der Dissonanztheorie (Festinger 1957) negative Gefühle und Unsicherheit aus. Das Erleben dieser kognitiven Inkonsistenzen wird als bedrohlich wahrgenommen und motiviert Menschen in der Folge dazu, Anpassungen im Denken oder Handeln vorzunehmen, um ein Gefühl der Sicherheit, Kontrolle oder Bedeutung wiederzuerlangen.

Ein dritter Ursprung der psychologischen Forschung zum Bedrohungserleben kann in der Intergruppenforschung gesehen werden. Hier wird zwischen realistischer und symbolischer Bedrohung unterschieden (Stephan und Stephan 2000). Realistische Bedrohung wird im Kontext von Ressourcenkonflikten zwischen sozialen Gruppen oder Gesellschaften erlebt. In diesem Fall resultiert die Bedrohung einer Gruppe daraus, dass das Wohlergehen mehrerer Gruppen negativ interdependent ist: Was eine Gruppe hat, fehlt also einer anderen Gruppe. Solche Konflikte können sich auf materielle Ressourcen (bspw. fossile Energiequellen) oder auf immaterielle Ressourcen (bspw. Macht) beziehen. Symbolische Bedrohung zwischen sozialen Gruppen resultiert hingegen aus diskrepanten Wert- und Moralvorstellungen. Die Bedrohung hat somit keinen materiellen Charakter. Sie drückt eher eine Art normative Verunsicherung aus. Sowohl realistische Bedrohungen als auch symbolische Bedrohungen begünstigen negative Vorurteile (Riek et al. 2006), bis hin zu Hass und Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen (Martinez et al. 2022).

Ein psychologisches Modell des Bedrohungserlebens

Eine Gruppe von Wissenschaftler*innen um Eva Jonas (2014) hat die drei dargestellten Forschungslinien in ein allgemeines Modell des Bedrohungserlebens integriert. Bedrohungserleben wird dabei als Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen (a) existentiellen, epistemischen oder sozialen Bedürfnissen oder Zielen und (b) beobachteten oder antizipierten persönlichen oder sozialen Zuständen verstanden. Diese Diskrepanzwahrnehmung wird als unangenehm erlebt, bedroht die persönliche oder soziale Identität von Menschen und motiviert entsprechende Reaktionen. Die Autor*innen unterscheiden zwischen kurzfristigen Abwehrreaktionen und nachfolgenden Bewältigungsreaktionen.

  • Kurzfristige Abwehrreaktionen umfassen beispielsweise ein erhöhtes physiologisches Aktivierungsniveau und erhöhte Wachsamkeit bzw. Aufmerksamkeit. Dabei wird das BIS (»Behavioral Inhibition System«), eine Art biologisches Verteidigungsprogramm, aktiviert. Abwehrreaktionen können sich jedoch auch in Vermeidungsverhalten ausdrücken, indem es zu einer Abwendung von der als bedrohlich wahrgenommenen Situation oder Informationslage kommt.
  • Anschließende Bewältigungsreaktionen zielen darauf ab, das Bedrohungserleben nachhaltig zu reduzieren. Man kann zwischen konstruktiven und palliativen Formen der Bewältigung unterschieden. Konstruktive Bewältigungsreaktionen zielen auf die Verringerung des Bedrohungserlebens durch eine Veränderung der Diskrepanzwahrnehmung ab. Dies kann dadurch erfolgen, dass eine Veränderung der als unbefriedigend wahrgenommenen Zustände bewirkt wird. Hierfür kann beispielsweise politisches Engagement durch Protestverhalten oder die Mitwirkung an politischen Aktivitäten dienen. Alternativ kann auch die Anpassung bzw. Relativierung von Bedürfnislagen zu einer Reduktion des Bedrohungserlebens führen. Eine Ablösung von bestimmten Zielen wäre eine solche Reaktion. Palliative Bewältigungsformen zielen nicht direkt auf die konkrete Diskrepanzwahrnehmung ab, sondern eher darauf, das Bedrohungserleben durch alternative Formen der Selbstaufwertung zu kompensieren. Eine solche Selbstaufwertung kann beispielsweise durch die Identifikation mit einer Gruppe oder durch die Orientierung an transzendentalen Zielen erfolgen. Diese palliativen Bewältigungsformen zielen auf eine Reduktion des Bedrohungserlebens ab, ohne dabei konkret auf die zugrundeliegende Problemlage einzuwirken.

Krisenkommunikation unterliegt Dramatisierungsattraktion

Öffentliche Diskurse über multiple Krisen werden maßgeblich von Akteur*innen in Medien und Politik geprägt. Unsere Medienlandschaft kann dabei als »High-Choice«-Informationsumgebung beschrieben werden, in der eine Vielzahl an Informationsangeboten um die Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Rezipient*innen konkurrieren (van Aelst et al. 2017). Sowohl politische Akteure als auch Journalist*innen und Medienschaffende unterliegen unter diesen Rahmenbedingungen leicht einer Dramatisierungsattraktion, d.h. die Hervorhebung und Dramatisierung von Bedrohungsszenarien erscheint für die massenmediale Kommunikation attraktiv. Diese Dramatisierungsattraktion hat verschiedene Ursachen, die durch die Logik des politischen und des medialen Systems begünstigt werden.

Für Journalist*innen und Medienschaffende scheint die Emotionalisierung und Dramatisierung von Bedrohungslagen im Kontext einer medialen Aufmerksamkeits­ökonomie unumgänglich (Ciampaglia et al. 2015). Wie bereits dargestellt, ist Bedrohungserleben eng an die Aufmerksamkeitssteuerung von Menschen gekoppelt. Auch wenn die Existenz eines allgemeinen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Informationen empirisch umstritten bleibt, so erhöht das subjektive Bedrohungserleben von Rezipient*innen in vielen Fällen die Aufmerksamkeit gegenüber relevanten Informationen (zum Überblick siehe Jonas et al. 2014). Das Bedrohungserleben verstärkt also die Auswahl und Nutzung bedrohungsbezogener Medien- und Informationsinhalte, was sich in der Medienlogik (gerade heutiger Plattformkapitalisierungen) direkt monetarisieren lässt. Ein anschauliches Beispiel für den Link zwischen Bedrohungserleben und Mediennutzung stellt das Phänomen des »Doom-Scrolling« dar, eine exzessive Form der Mediennutzung als Reaktion auf akutes Bedrohungserleben. Solche Doom-Scrolling Praktiken sind beispielsweise aus der ersten Phase der Covid-19-Pandemie oder den ersten Wochen des russischen Kriegs gegen die Ukraine bekannt: Ausgehend von einem bedrohungsinduzierten Informationsbedürfnis legten viele Menschen ihre Smartphones zeitweise kaum mehr aus der Hand, obwohl die verfügbaren Informationen das Bedrohungserleben immer weiter verstärkten und sich somit eine Art Teufelskreis aus Bedrohungserleben und Informationsbedürfnis bildete.

Aber auch für Parteien und Politiker*­innen ist es in besonderem Maße attraktiv, Bedrohungslagen zu dramatisieren. So sind spezifische Bedrohungsszenarien bzw. deren Abwendung für Parteien identitätsstiftend (bspw. Umweltzerstörung für Bündnis90/Die Grünen, soziale Ungleichheit für Die Linke, »Überfremdung« für die AfD). Die Betonung der entsprechenden Bedrohungspotentiale stärkt nicht nur den Zusammenhalt der Parteibasis, sondern wird auch als Instrument der politischen Mobilisierung genutzt, um eigene Themen auf die mediale Agenda zu setzen.

Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungsattraktion in der Logik politischer und medialer Systeme ist es nicht verwunderlich, dass Bedrohungslagen häufig eine zentrale Rolle in der medialen Krisenkommunikation einnehmen. Im Kontext paralleler Krisen resultieren daraus leicht konkurrierende Bedrohungsdebatten, in denen politische Themen anhand des Bedrohungspotentials unterschiedlicher Entscheidungsoptionen vergleichend diskutiert werden. Ein Beispiel für eine solche Bedrohungsdebatte ist die öffentliche Diskussion über die Nutzung von »Fracking« zur Gewinnung von Erdgas in Deutschland, die vor dem Hintergrund multipler Bedrohungslagen (Energiemangel vs. Umweltzerstörung) geführt wird. Es geht also primär um die Frage, welche Bedrohung stärker wiegt und daher das politische Handeln eher leiten sollte. Aus sozialpsychologischer Perspektive sind solche Bedrohungsdebatten jedoch riskant.

Bedrohungsdebatten verschärfen gesellschaftliche Polarisierung

Eine Vielzahl psychologischer Studien hat den Einfluss des Bedrohungserlebens auf die Bewertung konflikthafter politischer Fragestellungen untersucht. Dabei konnten zwei sehr unterschiedliche Phänomene identifiziert werden. Bedrohungserleben kann je nach Kontext den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken oder auch die Polarisierung innerhalb einer Gesellschaft begünstigen.

Werden Bedrohungslagen gesamtgesellschaftlich einigermaßen konsensuell als solche bewertet, führt dies dazu, dass innergesellschaftliche Konflikte reduziert werden. Dieses Phänomen wird häufig auch als Schulterschluss-Effekt (»rallying-around-the-flag«) bezeichnet und zeigt sich nicht nur bei politischen Parteien (Chowanietz 2010), sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit (Feinstein 2016). Die Gesellschaft rückt also im Angesicht der externen Bedrohung zusammen. So berichten Menschen als Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Bedrohungslagen wie Terror oder Pandemie eine stärker nationale Identifikation (Kuenhanss et al. 2021) oder auch ein stärkeres Vertrauen in die jeweilige Regierung (Kritzinger et al. 2021).

Der umgekehrte Effekt findet sich jedoch dann, wenn Bedrohungslagen innerhalb einer Gesellschaft kontrovers bewertet werden. Nehmen wir die bereits angesprochene Debatte um Fracking. Ein Teil der Gesellschaft bewertet die Bedrohung durch Energiemangel und den damit verbundenen Wohlstandsverslust besonders hoch. Ein anderer Teil der Gesellschaft bewertet die Gefahr der Verschmutzung von Wasser und die damit verbundene Bedrohung durch Umweltzerstörung besonders hoch. Häufig lassen sich solche Bewertungsunterschiede auf Unterschiede in der Gewichtung von Ziel- und Wert­orientierungen zurückführen. Im Kontext konkurrierender politischer Bedrohungsdebatten werden diese Unterschiede und Konflikte herausgearbeitet und gegeneinander gestellt. In diesem Fall ist eine Art sekundäre symbolische Intergruppenbedrohung wahrscheinlich (siehe Hoffarth und Hodson 2016 am Beispiel Klimawandel): Gesellschaftliche Gruppen nehmen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Wert- und Moralvorstellungen wechselseitig als Bedrohung wahr. Eine solche symbolische Intergruppenbedrohung bereitet den Nährboden für eine Polarisierung der Gesellschaft (siehe auch Amira et al. 2021).

Bedrohungsdebatten begünsti­gen Vermeidungsreaktionen

Die psychologische Bedrohungsforschung lehrt uns, dass individuelle Bewältigungsstrategien im Umgang mit Bedrohung nicht notwendigerweise konstruktiv sind. Sie zielen primär darauf ab, das Bedrohungserleben zu verringern und somit das subjektive Wohlergehen und die wahrgenommene individuelle Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Eine bedrohungsfokussierte Krisenkommunikation riskiert daher individuelle und soziale Reaktionen, die stärker auf die Vermeidung oder Abmilderung des subjektiven Bedrohungserlebens abzielen als auf die konstruktive Lösung existierender gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen. Im Kontext der Covid-19-Pandemie konnte beispielsweise ein bewusstes Vermeiden bedrohlicher Nachrichteninhalte beobachtet werden. Dieses Phänomen dient erwiesenermaßen der Wiederherstellung des subjektiven Wohlbefindens (Yte-Arnbe und Moe 2021). Gerade im Kontext multipler Krisen ist zu erwarten, dass sich viele Menschen mit der Auswahl konstruktiver Bewältigungsstrategien überfordert fühlen. Je geringer aber die individuellen und kollektiven Selbstwirksamkeitserwartungen (d.h. die Erwartungen, Bedrohungslagen aktiv abwenden zu können), desto attraktiver werden palliative Formen der Bewältigung. Hierzu zählen beispielsweise die stärkere Einbettung in private soziale Strukturen, die Orientierung an religiösen oder spirituellen Überzeugungssystemen, aber auch die Entwicklung einer Sündenbocklogik gegenüber einer spezifischen Gruppe, welcher die Verantwortung für die Bedrohungslage zugeschrieben wird (bspw. im Sinne einer Verschwörungstheorie). Diese palliativen Bewältigungsstrategien dienen der persönlichen oder kollektiven Selbstaufwertung und können das Bedrohungserleben lindern, ohne dabei konkret auf die Bedrohungssituation einzuwirken.

Und nun? Vorschläge für eine konstruktive Wendung

Welche Schlussfolgerungen können aus dieser psychologischen Analyse der aktuellen Krisenkommunikation gezogen werden? Zunächst kann festgehalten werden, dass in medialen Debatten über gesellschaftspolitische Themen die kommunikative Fokussierung auf Bedrohungspotentiale für unterschiedliche Akteursgruppen attraktiv ist. Diese Dramatisierungsattraktion macht es schwierig, entsprechende Diskurse grundsätzlich zu versachlichen oder auf Veränderungen kommunikativer Strategien hinzuwirken. Gleichzeitig muss ebenfalls angenommen werden, dass eine allgemeine Tendenz zur Dramatisierung und Zuspitzung entsprechender Bedrohungsdebatten für die Gesellschaft negative Entwicklungen zur Folge hätte. Neben dem Risiko einer Polarisierung in unversöhnliche gesellschaftliche Extremgruppen ist auch ein erlebter Verlust an individueller und kollektiver Wirkmächtigkeit im Umgang mit Bedrohungslagen zu befürchten. In der Folge werden individuelle Vermeidungsreaktionen (bspw. »news-avoidance«) oder palliative Strategien des Umgangs mit dem Bedrohungserleben wahrscheinlicher und kollektive Anstrengungen einer konstruktiven Problembewältigung dadurch erschwert. Wir haben es also mit einem sozialen Dilemma zu tun, bei dem die Interessen individueller und organisationaler kommunikativer Akteure im Konflikt mit den Interessen der Gemeinschaft stehen.

Ich möchte zwei Ansatzpunkte für eine konstruktive Wendung dieses Dilemmas vorschlagen. Beide Vorschläge resultieren mehr oder weniger direkt aus der vorgenommenen sozialpsychologischen Analyse und zielen darauf ab, individuelle und kollektive Selbstwirksamkeitserwartungen im Umgang mit Bedrohungslagen zu stärken. Wie kann dies gelingen? Ein erster Ansatzpunkt besteht darin, Bedrohungslagen so zu verstehen und entsprechend zu kommunizieren, dass ein Schulterschluss-Effekt erzielt wird. Es geht also darum, dass Bedrohungslagen in einen positiven Zielzustand übersetzt werden, hinter dem sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung versammeln kann. Dies setzt voraus, dass einzelne Bedrohungslagen nicht durch die Abgrenzung und Konkurrenz zu anderen Bedrohungslagen definiert werden, sondern diese konstruktiv integrieren. So integriert beispielsweise das Ziel langfristig sicherer Lebensbedingungen in Europa sowohl den Schutz vor Umweltkatastrophen als auch vor Krieg und Rezession. Ein echter Schulterschluss-Effekt kann dabei nicht per Dekret („Wir schaffen das!“) erwirkt werden, sondern setzt eine geteilte Zielperspektive voraus.

Ein zweite Möglichkeit der konstruktiven Wendung von Bedrohungsdebatten besteht darin, individuelle und kollektive Möglichkeiten einer effektiven und konstruktiven Bewältigung kommunikativ stärker in den Fokus zu rücken und dadurch Selbstwirksamkeitserwartungen zu stärken. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass wirksame Formen des Handelns identifiziert und kommuniziert werden. Komplexe gesellschaftliche Bedrohungslagen wie Krieg oder Klimawandel sind zwar durch individuelles Handeln schwer zu verändern. Einzelpersonen oder auch soziale Gruppen können durch ihr Handeln aber eine Symbol- und Modellwirkung erzielen. Diese Effekte werden aktuell noch nicht ausreichend gewürdigt und kommunikativ genutzt. Individuelle und kollektive Selbstwirksamkeitserwartungen können auch dadurch gestärkt werden, dass vergangene Erfolge in der Bewältigung von Problemlagen sichtbar gemacht werden. Solche Erfolgsgeschichten werden in gesellschaftlichen Bedrohungsdebatten häufig nicht angemessen abgebildet und tragen dadurch bislang wenig zur Stärkung von Selbstwirksamkeitserwartungen bei.

Literatur

Bar-Haim, Y.; et al. (2007): Threat-related attentional bias in anxious and nonanxious individuals: a meta-analytic study. Psychological Bulletin 133(1), S. 1-24.

Chowanietz, C. (2011): Rallying around the flag or railing against the government? Political parties’ reactions to terrorist acts. Party Politics 17(5), S. 673-698.

Ciampaglia, G. L.; Flammini, A.; Menczer, F. (2015): The production of information in the attention economy. Scientific Reports 5(1), S. 1-6.

Feinstein, Y. (2020): Applying sociological theories of emotions to the study of mass politics: The rally-round-the-flag phenomenon in the United States as a test case. The Sociological Quarterly 61(3), S. 422-447.

Festinger, L. (1957): A theory of cognitive dissonance. Evanston, IL: Row & Peterson.

Hoffarth, M. R.; Hodson, G. (2016): Green on the outside, red on the inside: Perceived environmentalist threat as a factor explaining political polarization of climate change. Journal of Environmental Psychology 45, S. 40-49.

Jonas, E. et al. (2014): Threat and defense: From anxiety to approach. Advances in experimental social psychology 49, S. 219-286.

Kritzinger, S. et al. (2021): ‘Rally round the flag’: the COVID-19 crisis and trust in the national government. West European Politics 44(5-6), S. 1205-1231.

Kuehnhanss, C. R.; Holm, J.; Mahieu, B. (2021): Rally’round which flag? Terrorism’s effect on (intra)national identity. Public Choice 188(1), S. 53-74.

Martínez, C. A.; van Prooijen, J. W.; Van Lange, P. A. (2022): A threat-based hate model: How symbolic and realistic threats underlie hate and aggression. Journal of Experimental Social Psychology 103, 104393.

Myrick, R. (2021): Do external threats unite or divide? Security crises, rivalries, and polarization in American foreign policy. International Organization 75(4), S. 921-958.

Norris, C. J. (2021): The negativity bias, revisited: Evidence from neuroscience measures and an individual differences approach. Social Neuroscience 16(1), S. 68-82.

Riek, B. M.; Mania, E. W.; Gaertner, S. L. (2006): Intergroup threat and outgroup attitudes: A meta-analytic review. Personality and Social Psychology Review 10(4), S. 336-353.

Rozin, P.; Royzman, E. B. (2001): Negativity bias, negativity dominance, and contagion. Personality and Social Psychology Review 5(4), S. 296-320.

Stephan, C. W.; Stephan, W. G. (2000): The measurement of racial and ethnic identity. International Journal of Intercultural Relations 24(5), S. 541-552.

Van Aelst, P., et al. (2017): Political communication in a high-choice media environment: a challenge for democracy? Annals of the International Communication Association 41(1), S. 3-27.

Ytre-Arne, B.; Moe, H. (2021): Doomscrolling, monitoring and avoiding: news use in COVID-19 pandemic Lockdown. Journalism Studies 22(13), S. 1739-1755.

Tobias Rothmund ist Professor für Kommunikations- und Medienpsychologie an der Friedrich-Schiller Universität Jena. Er forscht zu psychologischen Perspektiven auf politische Kommunikation im Kontext digitaler Medien.

Krieg und Frieden in den Medien

Krieg und Frieden in den Medien

Tagung der IALANA, 26.-28. Januar 2018, Kassel

von Stefan Hügel

Ende Januar fand ein von IALANA Deutschland organisierter Medienkongress statt. Er befasste sich kritisch mit der Kriegsberichterstattung in den Medien, die seit einiger Zeit Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen ist. Leitfrage des Kongresses war: Kann man ein Leitbild »Friedensjournalismus« etablieren, das der Wahrheit verpflichtet ist und deeskalierende Berichterstattung betreibt? Der Kongress war sehr gut besucht, die CROSS-Jugendkulturkirche in Kassel gut gefüllt.

»Klassische« Medien sind zunehmend Kritik ausgesetzt. Sie werden verdächtigt, Propaganda zu betreiben und allzu »staatsnah« von Ereignissen zu berichten. Diese Kritik nimmt seit dem Konflikt in der Ukraine zu, in dem vor allem den öffentlich-rechtlichen Medien eine zu deutliche – und sachlich nicht immer gerechtfertigte – Schuldzuweisung an Russland vorgeworfen wird. Unter Druck geraten klassische Medien auch durch die Kommunikation in sozialen Netzwerken und allgemein im Internet, in dem sich eine Vielfalt von Ansichten und (vermeintlichen) Fakten verbreitet – von den »News« zu den »Fake News« ist es oft nur ein einziger Mausklick. Verstärkt wird dies durch politische Akteure, allen voran US-Präsident Trump, die ihre eigene Sicht zu aktuellen Ereignissen verbreiten und einen erheblichen Einfluss darauf ausüben, was für »wahr« gehalten wird – und was nicht.

Gleichzeitig stehen gegen kritische Journalist*innen Vorwürfe im Raum, Verschwörungstheorien zu verbreiten, gar Antisemitismus. Auf Twitter wurden solche Behauptungen auch gegen diese Veranstaltung laut. Die unterstellte Verbindung zwischen antisemitischen Medien und Journalist*innen, die auch auf dieser Veranstaltung zu Wort kamen, wurde von den Veranstaltern entschieden zurückgewiesen. Dennoch wird ein Dilemma deutlich: Wann werden tatsächlich mit Verschwörungstheorien allzu einfache Erklärungen präsentiert, und wann wird der Vorwurf der Verschwörung dafür eingesetzt, missliebige Fragen und Interpretationen zu ersticken? Eine Antwort darauf kann man vielleicht nur im konkreten Einzelfall geben.

Zum Programm: Nach der Themeneinführung am Freitagabend befassten sich die Referate am Samstagvormittag mit der Frage, wie in den Medien über Krieg berichtet wird und warum genau in dieser Weise berichtet wird. Dabei ging es vor allem um die Frage, wer auf Medien Einfluss nimmt. Auch die inneren Strukturen der Medien spielen eine Rolle: Welche Kontrollstrukturen und -gremien gibt es und welchen Einfluss haben sie auf die Inhalte?

Konkrete Themen waren Inhalt des nächsten Blocks: Die Berichterstattung über den Kosovo-Krieg, der Krieg in Syrien, die illegalen Kriege der USA, die Konfrontationspolitik gegenüber Russland wurden hinsichtlich möglicher Manipulation der Öffentlichkeit kritisch beleuchtet. Daraus ergibt sich die Frage, wie wir uns gegen solche Manipulation schützen können.

Eine systematische Aufarbeitung von Propaganda und den Möglichkeiten ihrer Erkennung bildete den Auftakt zum Sonntag. Danach gab es Schlaglichter auf die Rolle von Public-Relations-Agenturen und auf die formalen Wege, um auf die Berichterstattung in den Medien als Einzelperson Einfluss zu nehmen, wie Programmbeschwerden, Gegendarstellungen oder gerichtliche Anordnungen. Einige alternative Medien wurden vorgestellt: NachDenkSeiten, weltnetz.tv, correctiv und RUBIKON. Den Abschluss bildete die Diskussion der Möglichkeiten von alternativen Medien.

Der Kongress gab – so mein Fazit – einen sehr guten Überblick über alternative Medien und war gleichzeitig stark durch die Kritik an den »klassischen« Medien geprägt – deren Vertreter*innen allerdings kaum präsent waren. Offenbar hatten eingeladene Vertreter*nnen klassischer Medien ihre Teilnahme abgesagt. Dies führte dazu, dass die Diskussionen nicht übermäßig kontrovers waren. Dass Journalismus interessengeleitet sein kann, ist nichts Neues und muss offen diskutiert werden. Sich dieser Diskussion zu entziehen hilft ebenso wenig weiter, wie die eigene kritische Meinung in Echokammern zu reproduzieren.

Auch eine intensivere Auseinandersetzung mit den »Verschwörungs«-Vorwürfen wäre wohl notwendig: Auch wenn man sich dieser Kritik nicht anschließen mag, die Aussagen stehen im Raum und können nicht ignoriert werden.

Zweifellos lässt sich all dies nicht an einem einzelnen Wochenende aufarbeiten. Wollte man sich als Teilnehmer*in über alternative Medien und fundierte Kritik an klassischen Medien informieren, war der Besuch des Kongresses absolut lohnenswert.

Eine Dokumentation des Medienkongresses findet sich unter ialana.de. Die Veranstaltung wurde durch Weltnetz.tv aufgezeichnet; Aufzeichnungen einiger Vorträge finden sich unter weltnetz.tv/dossier.

Stefan Hügel

Wem kann ich trauen im Netz?

Wem kann ich trauen im Netz?

FIfF-Konferenz 2017, 20.-22. Oktober 2017, Universität Jena

von Stefan Hügel

Am Wochenende vom 20. bis 22. Oktober 2017 fand an der Universität Jena die FIfF-Konferenz 2017 »TRUST – Wem kann ich trauen im Netz und warum?« statt. Die FIfF-Konferenz ist die jährliche Konferenz des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.

Vertrauen ist die Basis, auf der unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Wenn wir einander nicht mehr vertrauen können, funktioniert unser Zusammenleben nicht – das gilt auch im Netz. Wenn wir Dienste im Internet nutzen, müssen wir den Anbietern vertrauen können, dass sie die entsprechenden Leistungen erbringen und die Daten, die wir ihnen senden, verantwortungsvoll verwenden.

Doch das Vertrauen wird heute im Netz täglich verletzt, sowohl illegal als auch legal. Wir müssen uns vor kriminellen Menschen schützen, die unser Vertrauen missbrauchen. Spätestens seit den Veröffentlichungen des Whistleblowers Edward Snowden wissen wir aber auch, dass Behörden unsere Kommunikation umfassend ausspähen. Formaljuristisch ist dies häufig legal, verfassungsrechtlich bestehen aber erhebliche Zweifel, wie bereits mehrfach höchstrichterlich festgestellt wurde. Dazu kommt der Datenhunger der Diensteanbieter, die ihre Geschäftsmodelle auf der Nutzung der Daten aufbauen und dies zum Beispiel durch für den Laien unverständliche Nutzungsbedingungen formaljuristisch legalisieren. Dem soll mit dem neuen europäischen Datenschutzrecht gegengesteuert werden, doch inzwischen wissen wir, dass gerade die deutsche Bundesregierung massiv versucht, dieses Recht aufzuweichen und zu bremsen. Auch damit wird Vertrauen zerstört.

Ziel der FIfF-Konferenz war, die Bedeutung des Vertrauens umfassend zu thematisieren. Die Tagung war dafür in mehrere Blöcke aufgeteilt: Der Block »Cyberpeace statt Cyberwar« behandelte die Risiken, die sich aus der zunehmenden Militarisierung des Netzes ergeben. Die Bundeswehr will ihre Aktivitäten im Netz erheblich ausweiten und dabei auch Angriffskapazitäten aufbauen. Eine besonders perfide Form des Cyberkriegs ist die Nutzung von Drohnen, die die Opfer Tag und Nacht ständiger Bedrohung aussetzen.

Verlorenes Vertrauen kann durch ein besonderes Maß an IT-Sicherheit wiederhergestellt werden. Der Themenblock »IT-Sicherheit« behandelte den Zusammenhang zwischen Vertrauen und Sicherheit. Neben der Frage, ob Vertrauen und IT-Sicherheit im Gegensatz zueinander stehen, wurde der Zusammenhang anhand der Beispiele Open-Source-Software und Spam betrachtet.

Thema von zwei Vorträgen im Themenblock »Medien und soziale Netzwerke« war die Nutzung von Medien für die zivile Sicherheit. Ein Vortrag beschrieb ein unabhängiges Radioaktivitätsmessnetz im Umkreis der belgischen Atomreaktoren Tihange und Doel, wo eine zivilgesellschaftliche Initiative – zunächst in Aachen – zur Selbsthilfe griff, nachdem öffentliche Stellen dem in sie gesetzten Vertrauen nicht gerecht wurden. Der zweite Vortrag erläuterte die Nutzung von Daten aus sozialen Netzwerken durch Einrichtungen wie Feuerwehr oder Technisches Hilfswerk, um schneller und effizienter Hilfe leisten zu können. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit öffentlich-rechtlicher Medien, die in letzter Zeit häufiger in Zweifel gezogen wurde, stellte Prof. Dr.-Ing. Gabriele Schade, vormals Vorsitzende (und derzeit stellvertretende Vorsitzende) des MDR-Rundfunkrats, in ihrem abschließenden Beitrag.

Der letzte Block behandelte die Frage der »Transparenz«. Transparenz ist ein entscheidender Faktor, um Vertrauen zu gewinnen. Die Referent*innen befassten sich mit der besonderen Bedeutung der IT-Sicherheit im Gesundheitswesen, mit der Attribuierung von Cyberattacken und deren Interpretation in Medien und Politik, mit den Herausforderungen des Identitätsmanagements sowie mit Problemen und Perspektiven von Free-to-Play-Spielen.

Ergänzt wurden die Vorträge wie gewohnt durch eine Reihe von Workshops. Am Samstagabend hielten wir Rückschau auf das vergangene Jahr und die Aktivitäten des FIfF. Der diesjährigen FIfF-Studienpreis wurde an Tobias Krafft für seine an der Technischen Universität Kaiserslautern erstellten Masterarbeit »Qualitätsmaße binärer Klassifikatoren im Bereich kriminalprognostischer Instrumente der vierten Generation« verliehen. Dietrich Meyer-Ebrecht, der aus persönlichen Gründen sein Engagement reduzieren möchte, wurde vom Vorstand des FIfF für seine langjährige Arbeit herzlich gedankt. Wir freuen uns sehr, dass er weiterhin, wenn auch in geringerem Umfang, beim FIfF aktiv bleiben wird.

Den Abschluss der Tagung bildete am Sonntag die Mitgliederversammlung mit der Neuwahl des FIfF-Vorstands. Dieser blieb fast unverändert: Stefan Hügel wurde wieder zum Vorsitzenden, Rainer Rehak als Nachfolger von Dietrich Meyer-Ebrecht zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt.

Stefan Hügel

Neue Medien als Friedensressource?


Neue Medien als Friedensressource?

von Vladimir Bratic

Die letzten drei Jahrzehnte konnten wir beobachten, dass Medien in Konfliktzonen durchaus eine kon­struktive Rolle spielen können. ­Diese Entwicklung ist relativ neu und erfreulich. Zuvor standen die Medien vorwiegend im Dienst mächtiger Parteien, die sie dazu nutzten, ihren Einfluss auszuweiten – und das bedeutete allzu oft, Konflikte anzuheizen. Von den einfachen Kommunikationsmitteln der römischen Armeen bis zu Hitlers Propagandatechniken dienten die Medien den Machtzentren als passives Werkzeug der Massenkommunikation. Mit Aufkommen der neuen Medien hat sich die Situation nun geändert. Der Artikel untersucht das Potential der neuen Medien als Werkzeuge für den Frieden.

Die positive Nutzung von Medien in Konfliktsituationen reicht bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, als sich die internationale Gemeinschaft auf Fragen der internationalen Entwicklung mit Schwerpunkt auf Armutsbekämpfung, Gesundheitsfürsorge und Krankheitsverhütung konzentrierte. Zu dieser Zeit wurden die Medientechnologien zunehmend transportabel, einfacher zu bedienen, billiger und zugänglicher. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit können seither nicht nur Regierungen und große Medienunternehmen, sondern auch Bürger*innen eigene Massenmedienkanäle besitzen und betreiben. Vielen engagierten Bürger*innen gelang es mithilfe von Nichtregierungsorganisationen, eigene Radiostationen, Fernsehnetze und Zeitungen aufzubauen, da dafür keine großen Maschinen, teure Einrichtungen oder spezielle Fachkenntnisse mehr erforderlich waren. Die Vereinten Nationen waren die Ersten, die in ihre Peacekeeping-Missionen ein eigenes Medienangebot einbanden (eine Radiostation in Kambodscha und gedruckte sowie audiovisuelle Materialien in Namibia).

Seitdem setzten viele andere staatliche und nicht-staatliche Akteure gezielt Programme zur Finanzierung und Produktion von Medieninhalten für Gesellschaften in Konfliktsituationen auf. Ziel ist dabei die Hilfestellung für die Lösung von Streitigkeiten und gewalttätigen Konflikten durch gewaltfreie Verhandlungen, und zwar auf politischer wie auf bürgerschaftlicher Ebene. Nach dem Konflikt in Bosnien und Herzegowina gab allein die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) nach eigenen Angaben mehr als 1,6 Mrd. US$ für friedensfördernde Aktivitäten aus.1 Sie investierte großzügig in neue Radio- und Fernsehnetzwerke (Open Broadcast Network und Free Election Radio Network/Radio FERN). Nach dem Genozid in Ruanda erreichte in den späten 1990er Jahren eine Radio-­Soap-Opera über das Leben benachbarter Hutu- und Tutsi-Familien und eine daraus entstehende Liebesgeschichte über die ethnischen Grenzen hinweg 80 % der Bevölkerung.2 In Nordirland startete die führenden Werbeagentur McCann Erickson nach dem Karfreitagsabkommen von 1999 eine Medienkampagne, die den Bürger*innen von Nordirland auf Plakatwänden, in Postwurfsendungen und in Radio- sowie TV-Spots die Vorteile des Friedens erläuterte.

Fachleute, die friedensorientierte Medienarbeit durchführten, erkannten aber bald, dass Propaganda, Volksverhetzung und Drohungen gegen Journalist*innen auszuschalten ebenso wichtig ist wie positive Medieninhalte zu produzieren. Deshalb legten viele Länder in ihrer Nachkonfliktphase großen Wert auf die Einführung von Mediengesetzen und den Aufbau von Behörden oder Institutionen zur Medienkontrolle.

Über das Internet kann inzwischen jede*r mit einem Handy, einem Blog oder einem Profil in den sozialen Medien selbst Informationen für ein Massenpublikum erzeugen. Und auch zum Peacekeeping wurden das Internet und mobile Technologien als Massenkommunikationsmittel bald eingesetzt. Ein Beispiel: In Kenia brachen nach der Bekanntgabe der Präsidentschaftswahlergebnisse am 30. Dezember 2007 Unruhen aus. In dieser Situation organisierte Ushahidi, eine kleine Gruppe von Aktivist*innen, eine Online-Plattform, über die Gewaltausbrüche per SMS gemeldet werden konnten. Die Vorfälle wurden auf einer Google-Karte verzeichnetet und warnten die betroffene Bevölkerung, gewisse Gebiete vorübergehend zu meiden. Neu war dabei, dass die Informationen über die Gewaltausbrüche vor Ort nicht von Journalist*innen, sondern per SMS direkt von den Bürger*innen selbst kamen.

Im Lauf der letzten 30 Jahre haben sich vier Kernbereiche herauskristallisiert, in denen Medien beim Peacebuilding wirksame Partner sein können, nämlich Journalismus, Unterhaltung und Marketing, gesetzliche Regelungen und in jüngster Zeit die neuen Medien. Guter Journalismus ist für den Frieden äußerst wichtig, denn er kann gleich mehrere Funktionen erfüllen, die die Macht von Konfliktstiftern eindämmen und der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen. Deshalb floss in den letzten Jahren zur Stärkung eines professionellen Journalismus viel Geld in Schulungsmaßnahmen, in die Unterstützung unabhängiger Medien und in die Pluralisierung von Medienangeboten.

Unterhaltung wird oft als triviale Freizeitaktivität abgetan und nur selten als Vehikel für einen politischen Wandel in Betracht gezogen. Dabei wird erheblich unterschätzt, in welchem Maße Unterhaltungsshows dazu beitragen können, Einstellungen zu ändern, Werte zu beeinflussen und das Publikum auf Versöhnung einzustimmen.

Geschicktes Marketing hat sich ebenfalls bewährt, um größere Hürden für den Frieden zu adressieren. Minenräumkampagnen, Werbung für das Recht von Flüchtlingen auf Rückführung in ihre Heimat, Lobbyarbeit für den Abschluss von Friedensabkommen sind nur einige erfolgreiche Beispiele.

Trotz dieser positiven Entwicklungen sind Propaganda, Volksverhetzung, Gewalt gegen Journalist*innen sowie die Medienzensur nach wie vor relevante Hindernisse für einen anhaltenden Frieden. Daran werden auch positive Geschichten, die über journalistische, Marketing- oder Unterhaltungskanäle verbreitet werden, kaum etwas ändern. Vielmehr werden umfassende Mediengesetze und Kontrollsysteme gebraucht mit einer Kombination aus gesetzlichen Regelungen gegen Volksverhetzung, Verhaltenskodizes für Journalisten, Gesetzen gegen Verleumdung und üble Nachrede sowie Aufsichtsbehörden, die die Umsetzung dieser Gesetze überwachen und durchsetzen können.

Schließlich könnten die neuen Medien die fruchtbarsten Werkzeuge für den Frieden werden, sie bergen aber auch ein hohes Potential, Konflikte anzuheizen. Gut organisierte Nichtregierungsorganisationen, die im Friedensbereich aktiv sind, setzen die neuen Technologien (Mobiltelefone, soziale Medien und ganz allgemein das Internet) bereits vielfältig zur Beeinflussung von Konfliktsituationen ein. Beispiele dafür sind die Satellitenüberwachung von Konfliktzonen, die Sammlung, Analyse und Darstellung von humanitären Bedarfen in Konflikten (crisis mapping), Social-Media-Kampagnen von Aktivist*innen oder die Einbindung von Bürger*innen in die Berichterstattung per Blog, Video oder SMS.

Neue Medien: unsere letzte und beste Hoffnung für Frieden?

In den letzten Jahren wurden soziale Medien ein omnipräsenter Teil des modernen Lebens und der sozialen Interaktion von Menschen aller Altersgruppen. Kaum ein Aspekt des modernen Lebens ist nicht von sozialen Medien betroffen, sei es das Geschäftsleben, der Bildungsbereich oder die Politik. Die sozialen Medien gehören untrennbar zu den neuen technischen Geräten (Tablets, Mobiltelefone und Smart-TV). In den USA greifen 80 % der Smartphone-Benutzer*innen nach dem Aufwachen als erstes nach ihrem Handy.3 Daher wundert es nicht, dass soziale Medien und neue Technologien inzwischen wichtige Werkzeuge für den Frieden wie auch für den Konflikt sind. Facebook, Twitter, YouTube und Apps für smarte Geräte entwickelten sich in den Propagandakriegen in Syrien und der Ukraine zu neuen Frontlinien. Längst vorbei sind die Zeiten, als al-Qaida Videobänder verschickte. Heute werden professionell bearbeitete Videos des »Islamischen Staates« in HD-Qualität über soziale Medien verbreitet und über soziale Netzwerke global beworben. Die Frage ist also, ob die neuen Medien und Technologien anstatt zur Verbreitung konfliktfördernder Ideologien genauso gut zur Ausweitung friedensfördender Aktivitäten taugen.

Dafür gibt es zahlreiche Belege. Am bekanntesten ist die Nutzung von sozialen Medien im »Arabischen Frühling«, als sie von entscheidender Bedeutung für die Organisation von Treffen waren, die letztlich zum Sturz der autoritären Regime führten. Im Dezember 2010 begann in Tunesien die Revolte gegen Präsident Ben Ali,4 als sich das Handy-Video des ersten Protests über YouTube und Facebook in der arabischen Welt ausbreitete.5 Etwa zur selben Zeit organisierte ein Ägypter namens Wael Ghonim in einer Facebook-Gruppe über 100.000 Menschen für die Demonstration vom 25. Januar 2011 gegen Präsident Hosni Mubarak.6 2009 wurden im Iran ähnliche Proteste federführend über Twitter organisiert. Die Massenmedien tauften diese Proteste daher bald »Twitter-Revolution« und »Facebook-Revolution«. Allerdings vereinfachen diese Anekdoten die tatsächlichen Gegebenheiten, übertreiben die Rolle der neuen Technologie und vernachlässigen den persönlichen Einsatz der Menschen vor Ort.

Aus den neuen Möglichkeiten der Menschen, Informationen zu teilen, haben sich zwei neue Techniken entwickelt: das so genannte Crowdsourcing und die Sammlung von »Big Data«. Crowdsourcing ist die Produktion von Wissen oder Medieninhalten mittels Informationen, die viele an einem Ereignis beteiligte Menschen beisteuern. Werden die Datenmengen so groß, dass sie nur noch mit automatischen Tools verarbeitet werden können, wird das als »Big Data« bezeichnet. Sowohl Crowdsourcing als auch Big Data kommen in vielen Krisengegenden zum Einsatz. Die Arbeit der Gruppe Ushahidi in Kenia wurde oben bereits erwähnt. In den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Libyen 2011 nutzte das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen die Plattform von Ushahidi, um die unmittelbare humanitäre Krise besser zu verstehen. Die per SMS übermittelten Daten wurden in Echtzeit in einer Krisenkarte zusammengefasst, die mehr als 2.000 Berichte über Sicherheitsprobleme, Fluchtbewegungen und humanitäre Bedarfe verzeichnete. Der Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen bestätigte anschließend, dass die Krisenkarte bei der Planung der Hilfsprogramme entlang der Grenzen zu Ägypten und Tunesien als eine Hauptinformationsquelle diente.7

In schwer zugänglichen Konfliktregionen kommt darüberhinaus Satellitenüberwachung zum Einsatz. Staatliche und nichtstaatliche Organisationen nutzen hoch aufgelöste Satellitenbilder kommerzieller Satellitenbetreiber, um Ereignisse vor Ort (z.B. Truppenmobilisierung und -bewegungen, Gewaltausbrüche, Zerstörung, Massengräber) zu dokumentieren und auszuwerten, weitere Verbrechen zu verhindern und die Strafverfolgung einzuleiten. Diese technische Möglichkeit durchkreuzt die Annahme der Täter, anonym und straffrei agieren zu können. Zwei solche Projekte, »Eyes on Darfur« (Augen auf Darfur) und »Satellite Sentinel« (Satellitenwächter) wurden initiiert, um die Situation im Sudan und Südsudan zu verfolgen. Die Satellitenüberwachung zeigte erkennbare Ergebnisse: Das Verhalten und die Bewegungsmuster der Janjaweed-Milizen veränderten sich, Lokalregierungen reagierten, es wurden weniger Dörfer in den überwachten Regionen überfallen, und die Regierung des Tschad entschied, die Stationierung von Friedensgruppen an ihrer Grenze zuzulassen.8

Die Sammlung und Verteilung von Informationen war zuvor die Domäne professioneller Journalist*innen, deren Hauptaufgabe es ist, die Öffentlichkeit zu informieren. Die neuen Technologien habe nun eine Vielzahl von Akteur*innen in die Lage versetzt, selbst Informationen zu sammeln und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Da die sozialen Medien kostenlos und einfach zu nutzen sind, können jetzt ganz unterschiedliche Interessensgruppen selbst Informationen sammeln, Lobbyarbeit betreiben und ein Massenpublikum ansprechen. Die Nutzung von Satellitenbildern, wie im Projekt »Eyes on Darfur«, ist nur ein Beispiel, wie mithilfe der so gewonnenen Informationen gleichzeitig die Öffentlichkeit informiert und die eigenen Handlungsspielräume ausgeweitet werden können.

Grund zur Sorge

Dennoch werden auch die neuen Technologien viel zu häufig eingesetzt, um Hürden für den Frieden aufzubauen: Autoritäre Akteure und Terroristengruppen führen erfolgreich ihre Propagandakriege; das Recht zur Meinungsäußerung wird online unterdrückt; anonyme Hass­reden und Volksverhetzung verbreiten sich über das Netz. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fand in einer umfangreichen Studie zu Krisenfrühwarnung und -prävention heraus, dass ein Genozid wie der von 1994 in Ruanda im Jahr 2009 hätte ebenso wenig verhindert werden können.9 Militante Gruppen fühlen sich ermutigt durch die Möglichkeit, mit ihrer Online-Propaganda ein breites Publikum zu erreichen. Online ist ihr Potential zur Konfliktverschärfung oft erheblich größer als ihre physische Präsenz.10 Ob von lokalen Aufständischen wie im Irak oder von global agierenden Terroristenorganisationen wie al-Qaida und dem »Islamischen Staat«: Ihre widerliche Rhetorik und ihre Audio- und Videopropaganda durchziehen sämtliche soziale Netzwerke, sei es Facebook, YouTube, Twitter oder Instagram.11

Außerdem unterdrücken weiterhin autoritäre Regierungen die Grundrechte der Menschen auf Rede- und Informationsfreiheit. Entsprechende Versuche der Zensur von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken sind aus China,12 Ägypten13 und Iran14 vielfach belegt. Der saudi-arabische Blogger Raif Badawi wurde wegen »Beleidigung des Islam« zu einer langen Haftstrafe, einer hohen Geldstrafe sowie zu 1.000 Peitschenhieben verurteilt.15 In Bangladesh wurden im vergangenen Jahr etliche Blogger, die über säkulare Themen schrieben, in aller Öffentlichkeit mit Macheten ermordet.16

Fazit

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass die neuen Medien ganz ähnlich eingesetzt werden wie die traditionellen. Propaganda, Übergriffe auf Journalist*innen und die Unterdrückung der Redefreiheit verschwinden nicht mit den neuen Technologien und den sozialen Medien. Bis zum Ende des Kalten Krieges dominierte bei der Mediennutzung die Propaganda, seither werden Medien auch zum Peacebuilding eingesetzt. Dies wirkte sich in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und in Asien durchaus positiv auf die Sicherheitslage aus.17 Die neuen Technologien stellen zusätzliche Tools und Ressourcen zur Verfügung, die zum Kontern gewalttätiger Konflikte sinnvoll eingesetzt werden können. Mit neuen Medien kann die Zivilgesellschaft informiert, beteiligt und mobilisiert werden. Insgesamt haben die neuen Medien die Möglichkeiten von Friedensakteuren, ihre Ziele zu erreichen, auf allen Ebenen verbessert. Dass Medien für ganz unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden, für gute und für schlechte, daran wird sich aber auch mit den neuen Technologien nichts ändern.

Anmerkungen

1) USAID (2016): Bosnia and Herzegovina History; usaid.gov, last update September 1, 2016.

2) Radio Netherlands (2004): Peace Radio – Burundi. Abgerufen am 29. Juli 2004 auf rnw.nl.

3) Stadd, A. (2013): 79 % Of People 18-44 Have Their Smartphones With Them 22 Hours A Day [STUDY]. addweek.com, April 2, 2013.

4) Fahimi, K. (2011): Slap to a Man’s Pride Set Off Tumult in Tunisia. New York Times, January 21, 2011.

5) Auslöser der Proteste war ursprünglich die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers, der sich aus Verzweiflung über die Schikanen der Sicherheitskräfte mit Benzin begoss und anzündete. [R.H.]

6) Giglio, M. (2011): Reluctant Revolutionary. Newsweek, 31.10.2011, S. 45-45.

7) Bailard, C. (2012): Mapping the Maps – A Meta-Level Analysis of Ushahidi and Crowdmap. Washinton, D.C.: Internews Center for Innovation & Learning, May 2012.

8) Meier, P. (2010): Will Using »Live« Satellite Imagery to Prevent War in the Sudan Actually Work? Blog irevolution.net, December 30, 2010.

9) OECD(2009): Violence, War and State Collapse – The Future of Conflict Early Warning and Response. Paris: OECD.

10) Weimann, G. (2010): Terror on Facebook, Twitter, and Youtube. Brown Journal of World Affairs, Vol. 16, No. 2, S. 45-54.

11) Weimann, G. (2014): New Terrorism and New Media. Washington, D.C.: Woodrow Wilson International Center for Scholars, Common Lab research series No. 2.

12) MacKinnon, R. (2011): China’s »networked authoritarianism«. Journal of Democracy, Vol. 22, No. 2, S. 32-46.

13) Sakr, N. (2010): News, transparency and the effectiveness of reporting from inside Arab dictatorships. International Communication Gazette, Vol. 72, No. 1, S. 35-50.

14) Golkar, S. (2011): Liberation or Suppression Technologies? The Internet, the Green Movement and the Regime in Iran. Inter­national Journal of Emerging Technologies & Society. Vol. 9, No. 1, S. 50-70.

15) Burke, J. (2015): Saudi blogger Raif Badawi may receive second set of lashes on Friday. ­theguardian.com, 11 June 2015.

16) Chandler, A. (2015): The Final Posts of a Murdered Blogger. The Atlantic, May 15, 2015.

17) Stauffacher, D.; Weekes, B.; Gasser, U.; Maclay, C.; Best, M. (eds.) (2011): Peacebuild­ing in the Information Age – Sifting Hype from Reality. Geneva: ICT4Peace Foundation.
Livingston, S.L. (2011): Africa’s Evolving Infosystems – A Pathway to Security and Stability. Boulder, Colorado: Africa Center for Strategic Studies, Research Paper No. 2.

Vladimir Bratic, Ph.D., ist Associate Professor für Communication Studies an der Hollins University in Roanoke, Virginia/USA.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Gefährliche Symbiose?

Gefährliche Symbiose?

Neonazis und ihr Verhältnis zu den Medien

von Katharina Neumann

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen terroristischen, auch neonazistischen, Akten und der Medienberichterstattung darüber. Spektakuläre Vorfälle greifen die Medien gerne auf, um ihre Auflagen zu steigern. Im Gegenzug erhalten die Akteure eine hohe Aufmerksamkeit, die sie zur Selbstdarstellung nutzen können. Die Autorin geht hier der Frage nach, welche Rückwirkungen die Berichterstattung über Rechtsextremismus auf die rechte Subkultur hat und ob eine bestimmte Form der Berichterstattung zur Nachahmung inspiriert bzw. diese eher verhindert. Im Fokus der Untersuchung steht, welche Effekte durch Berichterstattung über Rechtsextremismus innerhalb der rechtsextremen Szene selbst ausgelöst werden.

Am 22. Juli 2011 starben in Oslo und auf der Insel Utøya 77 junge Menschen bei terroristischen Anschlägen mit rechtsextremem Hintergrund. Der Attentäter, Anders Breivik, begründete seine Taten wie folgt: „Ich wollte genug töten, damit die Veröffentlichung meines Manifests genug Aufmerksamkeit in der Weltpresse auf sich zieht. Die Operation war nur eine Formalität.“ (zitiert in Traufetter 2011). Viele Medien entschieden sich dennoch für eine ausführliche Berichterstattung. Die Terrorismusforschung spricht in diesem Zusammenhang von einer „symbiotischen Beziehung“ (Glaab 2007, S. 13). So liefern Terroristen den Medien publikumsgenerierende Inhalte, während sie im Gegenzug mediale Aufmerksamkeit erhalten und die damit verbundene Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Eine solche symbiotische Beziehung birgt für Journalist*innen ein Dilemma: Wie sollen Medienmacher*innen die Öffentlichkeit informieren und aufklären, ohne ideologischem Gedankengut eine Plattform zu geben? Dass dieser Spagat durchaus schwierig sein kann, darauf deutet die Tatsache hin, dass, wie schon nach früheren Berichterstattungswellen über fremdenfeindliche Anschläge (Brosius und Esser 2002), auch in den Monaten nach der Aufdeckung der NSU-Morde die Anzahl fremdenfeindlicher Gewaltverbrechen sprunghaft anstieg und bundesweit bis heute auf einem hohen Niveau verblieben ist: In Deutschland werden laut dem jüngsten Verfassungsschutzbericht durchschnittlich drei rechtsextreme Gewalttaten pro Tag verübt (Verfassungsschutzbericht, 2015).

Es stellt sich demnach die Frage, welche Rückwirkungen die Berichterstattung über Rechtsextremismus auf die rechte Subkultur hat und ob eine bestimmte Form der Berichterstattung zur Nachahmung inspiriert bzw. diese eher verhindert (vgl. Neumann und Baugut 2016). Ebendiesen Fragen geht die hier vorgestellte Studie nach. Die forschungsleitende Frage lautet: Welche Effekte werden durch Berichterstattung über Rechtsextremismus innerhalb der rechtsextremen Szene ausgelöst?

Durch die Beantwortung dieser Frage sollen Wege für einen verantwortungsbewussten medialen Umgang mit dem Phänomen Rechtsextremismus aufgezeigt werden.

Theoretischer Hintergrund

Das Konzept reziproker Effekte (vgl. u.a. Lang und Lang 1952) dient als theoretische Basis der Untersuchung. Dieses beschreibt die spezifische Wirkung medialer Berichterstattung auf deren »Protagonisten«; also auf die Personen, über die berichtet wird und die laut Kepplinger stärkeren Medieneffekten unterliegen als die unbeteiligten Zuschauer*innen bzw. Leser*innen (Kepplinger 2007).

Um reziproke Effekte theoretisch zu konzeptualisieren, entwickelte Kepplinger (2007; 2010) ein Modell, in dem Art und Intensität der reziproken Effekte (2010, S. 138 ff.) von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, die in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander stehen und die Reaktionen der Protagonisten auf die Berichterstattung beeinflussen. Diese Reaktionen sind unter Umständen Ausgangspunkt für erneute Berichterstattung. Obwohl Ursache und Wirkung also nicht eindeutig voneinander zu trennen sind, unterscheidet Kepplinger (ebd.) aus Gründen der Übersichtlichkeit analytisch zwischen Ursachen (Mediennutzung), Verarbeitungsprozessen und Wirkungen. Als Ausgangspunkt des Modells wählt Kepplinger die Medienberichterstattung und begründet dies mit dem Verweis auf eine zunehmende Medialisierung; so geschähe in modernen Gesellschaften vieles nur deshalb, weil die Medien darüber berichteten (ebd., S. 138).

Untersucht wurden reziproke Effekte bislang allerdings nur bei Personen, die konkret in der Berichterstattung auftauchen, beispielsweise Politiker*innen (Kepplinger 2009) oder Spitzensportler*innen (Bernhart 2008). Die vorgestellte Arbeit überträgt das Modell reziproker Effekte auf Anhänger der rechtsextremen Szene in Deutschland. Es wird argumentiert, dass mediale Berichterstattung auch bei den Mitgliedern einer sozialen Gruppe zu reziproken Effekten führen kann, wenn innerhalb der Gruppe eine starke „soziale Identität“ (Tajfel and Turner 1979) besteht und sich die Gruppenmitglieder entsprechend stark mit »ihrer« Gruppe identifizieren. Es wird angenommen, dass u.a. die Verfolgung gemeinsamer ideologischer Ziele zu einer solch starken Identifikation des einzelnen Mitgliedes mit der jeweiligen rechtsextremen Gruppierung führt. Durch diese Identifikation würde wiederum eine unmittelbare, persönliche Betroffenheit von Berichterstattung über die rechte Szene ausgelöst und damit die Basis für die Entstehung jener besonders intensiven Medienwirkungen gelegt, die Kepplinger als reziproke Effekte bezeichnet.

Methode

Um die Forschungsfrage beantworten zu können, bedurfte es eines Zugangs zu Mitgliedern der rechtsextremen Szene, die bereit waren, bei einer wissenschaftlichen Untersuchung mitzuwirken. Da eine Befragung aktiver Mitglieder aus verschiedenen Gründen nicht umsetzbar war, wurden sieben ehemalige Führungsmitglieder, die an dem Ausstiegsprogramm der Initiative »EXIT Deutschland« teilnahmen, mittels halbstandardisierter, problemzentrierter Interviews befragt. Diesem methodischen Vorgehen lag die Annahme zugrunde, dass Aussteiger*innen am ehesten dazu in der Lage wären, reflektiert über die Dynamiken innerhalb rechter Gruppierungen Auskunft zu geben. So waren diese selbst in der Szene aktiv, sollten aber durch den Bruch mit der Ideologie ihre Erlebnisse aus einer distanzierteren, weniger strategisch geprägten Perspektive schildern können. Die anschließende Datenauswertung fand mithilfe einer inhaltlichen Strukturierung nach Mayring (2010) statt.

Ergebnisse

Die folgende Ergebnisdarstellung orientiert sich an den Variablen des Modells reziproker Effekte nach Kepplinger (2010).

Mediennutzung

Die Frage, welche Medien Rechtsextreme nutzen, ist grundsätzlich abhängig von der Gruppenzugehörigkeit und der Hierarchiestufe der Szenemitglieder.

Den Massenmedien wird jede Glaubwürdigkeit abgesprochen, da von einer Infiltration der Medien durch den Staat ausgegangen wird. Führungskader rezipieren neben den gruppeninternen Medien dennoch auch die Massenmedien, um öffentlichkeitswirksame Themen zu identifizieren und für ihre polittaktischen Zwecke zu instrumentalisieren sowie Jugendliche durch die Selbstinszenierung in Massenmedien als neue Mitglieder für die Szene zu rekrutieren.

Die rechtsextremen Szenemedien dienen ebenfalls der Rekrutierung neuer Jugendlicher, sollen aber vor allem dafür sorgen, dass die Basismitglieder durch Konsum der »richtigen Nachrichten« in ihrem hermetisch abgeriegelten Weltbild verhaftet bleiben. Der Befragte A sagt hierzu: „Man versucht, die Basismitglieder eher von Massenmedien fernzuhalten, weil eine gewisse Hermetik des Weltbildes nur dadurch aufrechterhalten werden kann, dass man sich von den richtigen Nachrichten die Infos holt“. Außerdem sollen die Szenemedien am Tag des »Systemzusammenbruchs«, auf den die Szene hinarbeitet, die traditionellen Massenmedien ersetzen.

Verarbeitungsprozesse

Die von Kepplinger (2010) beschriebenen Verarbeitungsprozesse sind auch in der rechten Szene zu beobachten. So zeigen die Interviews, dass sich Szenemitglieder auf verschiedenen Identifikationsebenen durch Berichterstattung über Rechtsextremismus persönlich betroffen fühlen, was sich in einer erhöhten Medienaufmerksamkeit niederschlägt. Massenmedien wird eine kategorische Feindseligkeit gegenüber Szenemitgliedern unterstellt und die »Schuld« an der »Umerziehung der Gesellschaft« nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben.

Die Ablehnung, die sie von ihrem sozialen Umfeld erfahren, wird von Rechtsextremen häufig auf eine »verzerrte« Medienberichterstattung geschoben. Dies macht deutlich, dass die rechte Szene von erheblichen Effekten der Medienberichterstattung auf das Publikum ausgeht. Der Befragte C beschrieb dies so: „Die Leute behandeln einen anders. Ich habe es damals in der Schulzeit gemerkt gehabt, als in der Oberstufe dann auch teilweise bekannt wurde: ,Ja, der denkt rechts.‘ Einige haben um mich rum dann plötzlich einen riesigen Bogen gemacht, ich wurde dann auch nicht mehr blöd angemacht. Weil ich denk mal, dass viele dieses Bild von Rechten aus den Medien hatten und dachten: ,Wer weiß, was bei dem dann der Freundeskreis macht.‘“

Wirkungen

Die wohl wichtigste Erkenntnis hinsichtlich der Wirkungen ist die Tatsache, dass die Führungsriege der rechten Szene die Berichterstattung in Massenmedien aktiv rezipiert und auf Basis dieser Rezeption politische Strategien und Taktiken für ihre Selbstinszenierung entwickelt. Hierbei verfolgen unterschiedliche Gruppierungen auch unterschiedliche Wunschdarstellungen in den Medien. Während manche Gruppen eher massenwirksam und jugendaffin wirken wollen (z.B. autonome Nationalisten), werden durch andere Gruppierungen gezielt Gewaltverbrechen verübt, um ein entsprechendes Medienimage zu etablieren. Der Befragte E begründet dies mit der Annahme, dass davon ein entsprechend gewaltbereites Publikum angezogen würde: „Das ist dann auch eine gewisse Marke, weil man extrem viele Leute anzieht, die durch die Medien wissen, dass da was los ist, dass die Leute zu allem bereit sind.“ Als ärgerlich hingegen würden Berichte über Widersprüche oder Doppelmoral innerhalb der Szene wahrgenommen, die sogar dazu beitragen könnten, hochgradig radikalisierte Mitglieder zum Nachdenken anzuregen (Befragter E). Im Hinblick auf eine Nachahmung rechtsextremer Gewaltverbrechen sind sich die Befragten darin einig, dass vor allem eine Heroisierung der Täter*innen und die Aussicht auf Erfolg zu einer Nachahmung anrege, während eine Betonung der drohenden juristischen Konsequenzen eher von Nachahmungstaten abhalte.

Diskussion

Insgesamt zeigt die Analyse, dass sich das Modell reziproker Effekte auch auf Gruppen übertragen lässt – zumindest was die Anhänger*innen der rechten Szene betrifft. So fühlen sich auch jene Szenemitglieder von negativer Berichterstattung betroffen, die gar nicht persönlich in der Berichterstattung auftauchen, was eine Reihe starker Medienwirkungen zur Folge hat, die größtenteils der Beschreibung in Kepplingers Modell (2007; 2010) entsprechen.

Wie also kann ein verantwortungsbewusster medialer Umgang mit Rechtsextremismus aussehen? Anhand der Ergebnisse lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass vor allem eine intensive, fundierte Recherchearbeit und eine möglichst objektive Berichterstattung wichtig sind, um der Szene nicht noch mehr Grund zu geben, die Glaubwürdigkeit der Massenmedien in Frage zu stellen. Auch sollte im Hinblick auf eine Verstärkung der Anziehungskraft gewalttätiger Gruppierungen und die Nachahmung von Gewaltverbrechen eine Überzeichnung der Gefährlichkeit rechter Gruppierungen und eine damit verbundene Heroisierung bzw. Mystifizierung der Täter eher vermieden werden.

Im Idealfall deckt eine intensive Recherche Widersprüche innerhalb der Szene auf, die sowohl potentielle Mitglieder abschrecken als auch aktive Mitglieder zum Nachdenken anregen. Ein Vergleich dieser basalen Empfehlung mit Untersuchungen zum medialen Umgang mit Rechtsextremismus zeigt jedoch eine enorme Diskrepanz, wird doch die Medienlandschaft gerade von einer oberflächlichen, boulevardesken und stereotypen Berichterstattung über Rechtsextremismus dominiert (Ettinger, Imhof und Udris 2007; Schafradd, Sheepers und Wester 2008). Diese Diskrepanz gilt es zu verringern, um der rechtsextremen Ideologie zumindest teilweise ihren Nährboden zu entziehen und die rechte Szene durch eine mediale Überzeichnung nicht attraktiv zu machen.

Literatur

Bernhart, S. (2008): Reziproke Effekte durch Sportberichterstattung. Wiesbaden: Springer VS.

Brosius, H. B.; Esser, F. (2002): Fremdenfeindlichkeit als Medienthema und Medienwirkung – Deutschland im internationalen Scheinwerferlicht. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Ettinger, P.; Udis, L.; Imhof, K. (2007): Rechtsextremismus und Öffentlichkeit in der Schweiz. Ein Forschungsbericht. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung; pbp.de

Glaab, S. (2007): Medien und Terrorismus – eine Einführung. In Glaab, S. (Hrsg.): Medien und Terrorismus – auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung. Berlin: BWV Verlag, 3. Aufl., S. 11-16.

Kepplinger, H. M. (2009): Politikvermittlung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kepplinger, H. M. (2010): Medieneffekte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Lang, K.; Lang, G.E. (1952):The unique perspec­tive of television and its effect – A pilot study. In W. Schramm; D.F. Roberts (Hrsg.): The process and effects of mass communication. Urbana: University of Illinois Press, S. 169-188.

Mayring, P. (2010): Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 11. Aufl.

Neumann, K.; Baugut, P. (2016): Neonazis im Scheinwerferlicht der Medien – Eine Analyse reziproker Medieneffekte innerhalb der Neonazi-Szene in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS.

Schafraad, P.; Scheepers, P.; Wester, F. (2008): Der Umgang mit den Dämonen der Vergangenheit – Berichterstattung über Rechtsextreme in der deutschen Presse (1987-2004). Publizistik, 53(3), S. 362-385.

Tajfel, H.; Turner, J. C. (1979): An integrative theory of intergroup conflict – The socialpsychology of interpersonal conflict. In Worchel, S. and Austin, W.G. (eds.): Psychology of intergroup relations. Chicago: Nelson-Hall, S. 7-24.

Traufetter, G. (2011): Muttersohn und Massenmörder. Spiegel Online, 23.12.2011.

Bundesministerium des Innern (2016): Verfassungsschutzbericht 2015.

Katharina Neumann, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für empirische Kommunikationswissenschaft des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für ihre hier vorgestellte Masterarbeit erhielt sie den Gert-Sommer-Preis 2016 des Forum Friedenspsychologie für die beste Abschlussarbeit im Jahr.

Wie Rassismus aus Bildern spricht

Wie Rassismus aus Bildern spricht

von Susan Arndt

„Wir waren entsetzt über das Afrikabild, das in den Illustrationen/Karikaturen der Ausgabe 1-2014 von »Wissenschaft und Frieden« vermittelt wird“, schrieben Christoph Butenschön und Ulrich Wagner der Redaktion in einem Leserbrief. „Die folgenden Klischees sind zu sehen: Schwarze sind durchgängig halbnackt (S.17 und 23) oder barfuß (S.9 und 31), sind in Mangelsituationen (Bildung S.9, Hunger S.17, Durst S.31 und Belastung S.23), sind passiv oder unmündig.“ Seit den 1980er Jahren sehen sich deutsche Medien mit solcher Kritik konfrontiert; wissenschaftliche Studien dieser rassistischen Repräsentationen von Afrika, die oft euphemistisch »Afrikabilder« genannt werden, gibt es zuhauf. Dennoch halten Medien, auch linke und oft karikaturistisch, an der verstörenden (Bilder-) Sprache des Rassismus fest. Die Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« wollte die an sie gerichtete Kritik nicht verschweigen, druckte den Leserbrief in Heft 2-2014 ab und lud zu dem nachfolgenden Artikel 1 ein, der die oben beschriebenen Repräsentationen historisch einbettet, im Rassismus verortet und fragt: Rassismus generiert rassistische (Sprach-) Bilder, die ihn nähren – warum erweisen sie sich als so kritikresistent?

Kein anderes System der Unterdrückung einer Kultur durch eine andere hat strukturell wie diskursiv eine dermaßen tiefgreifende, nachhaltige und global weitreichende Agenda erschaffen wie der Rassismus. Rassismus ist eine in Europa historisch gewachsene Ideologie und Machtstruktur, die die Kategorie »Rasse« aus dem Tier- und Pflanzenreich auf Menschen übertrug. Aus einer willkürlichen Auswahl bestimmter körperlicher Kategorien wurden Bündel geschnürt, diesen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben und die auf diese Weise hergestellten Unterschiede verallgemeinert und hierarchisiert. Diese »Rassen«-Klassifikation von Menschen folgte dem europäischen Streben, koloniale Verbrechen an Millionen von Menschen zu rechtfertigen. Sie wurden als nicht-weiß und damit als unterlegen – dem Weißsein und zugleich auch dem Menschsein unterlegen – positioniert. Weiße machten sich mittels des Rassismus die Welt passförmig, um sie zu beherrschen. Rassismus ist daher »white supremacy«, eine weiße Herrschaftsform.

Unsichtbar herrschen

„Rassen gibt es nicht“, schreibt die feministische Soziologin Collette Guillaumin, „und doch töten sie“.2 Der Glaube, dass es »Rassen« gebe, der Rassismus also, ist bis heute präsent. Shankar Raman hält es für notwendig, einen Kampf um die Bedeutung von »Rasse« zu führen, um sich diesen Begriff aus antirassistischer Sicht anzueignen. Deswegen schlägt der deutsche Literaturwissenschaftler eine doppelte Denkbewegung vor: weg von »Rasse« als biologischem Konstrukt hin zu Rasse als sozialer Position. Raman bezeichnet diese Denkbewegung als „racial turn“. Sie schließt ein, Rasse als kritische Wissenskategorie zu etablieren.3

Für mich beinhaltet der »racial turn« zudem einen gewichtigen Perspektivenwechsel in der Rassismusforschung. Ihm hat Toni Morrison 1992 mit ihrem Buch »Playing in the Dark«4 Gehör verschafft. Die afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin weist darauf hin, dass Rassismus-Analysen im weißen akademischen Mainstream die Tendenz haben, allein über Schwarze und People of Color zu sprechen. Dabei entstehe schnell der Eindruck, Rassismus sei allein eine Angelegenheit von Schwarzen – Weiße seien diesbezüglich »neutral«, so als hätten sie damit nichts zu tun. Sich nicht im System des Rassismus verorten zu müssen, sei jedoch ein Privileg, das der Rassismus nur Weißen gebe – eine Option, die People of Color nicht leben können. Wenn Weißsein ignoriert oder für das eigene Leben als nicht relevant eingestuft wird, werden zugleich auch die sozialen Positionen, Privilegien, Hegemonien und Rhetoriken verleugnet, die daran gebunden sind. Weißsein behält dadurch seinen Status als universaler, „unmarkierter Markierer“5 und „unsichtbar herrschende Normalität“6 bei.

»Weißsein« als kritische Wissenskategorie

Vor diesem Hintergrund ist das Ignorieren von »Hautfarben«, so paradox das klingen mag, also keine Lösung. Der Rassismus kategorisiert, markiert und positioniert – unter anderem mit Hilfe von »Hautfarben« – Menschen als Diskriminierte, Fremdmarkierte und Entmachtete oder eben als Diskriminierende, Markierende und Privilegierte des Rassismus. Das passiert zumeist unabhängig vom individuellen Wollen und losgelöst davon, ob jemand Rassismus befürwortet oder ablehnt.

Es geht hierbei nicht um Schuldzuschreibungen, sondern vielmehr darum, anzuerkennen, dass Rassismus (analog zum Patriarchat in Bezug auf Geschlechterkonzeptionen) ein komplexes Netzwerk an Strukturen und Wissen hervorgebracht hat, das uns – im globalen Maßstab – sozialisiert und prägt. Dabei ist Wissen in meiner Lesart weder absolut noch wahr und unveränderbar, sondern historisch gewachsen, von Macht geformt sowie dynamisch und subjektiv.

Das Gewordensein, das gegenwärtige Wissen und das künftige Wirken von Weißsein als soziale Position im Rassismus stehen im Zentrum der Kritischen Weißseinsforschung. Weißsein wird hier, und zwar innerhalb von Rasse als Analysekategorie und komplementär zu Schwarzsein, zur kritischen Wissenskategorie. Sie findet Anwendung in der Analyse gesellschaftlicher und politischer Prozesse sowie deren sprachlicher, fiktionaler wie medialer Repräsentation. Im Kern geht es um die Frage: Wie haben Weißsein im Besonderen und Rassismus im Allgemeinen der europäischen Versklavung afrikanischer Menschen und dem Kolonialismus als ideologisches Schwert und Schild gedient? Wie haben Rassismus und sein Kerntheorem Weißsein im Kolonialismus und darüber hinaus die Welt geprägt – diskursiv und strukturell, in Vergangenheit, Gegenwart und für die Zukunft? Wie können diese Diskurse und Strukturen benannt, herausgefordert und gewendet werden?

Einige dieser Fragen möchte ich im Folgenden an ausgewählten historischen Fallbeispielen diskutieren und dadurch exemplarisch das Gewordensein der Kategorie »Rasse« aufzeigen.

Antike Bilder von versklavten Menschen

Als im ausgehenden 16. Jahrhundert das Konzept der »Rassen« aus dem Tier- und Pflanzenreich auf Menschen übertragen wurde, geschah dies in Rückgriff auf Theoreme, die bereits in der Antike ihren Anfang nahmen. Um Abgrenzungsprozesse zu legitimieren, und im Kontext von Eroberungskriegen und Sklaverei, kam es im vierten und fünften Jahrhundert vor Christus zur Konstruktion einer kulturellen Differenz zwischen »Griechen« und »Nicht-Griechen«, von ersteren zumeist als »Barbaren« bezeichnet. Um Kulturen geopolitisch zu verorten und zu hierarchisieren, spielten Klima-Theorien7 eine entscheidende Rolle.

Es ist dieses Paradigma, das die erste bekannte Theorie der Sklaverei rahmte, entwickelt im vierten Jh. v.Chr. von Aristoteles in seinem Werk »Politeia«. Aristoteles war als Lehrer und Politikberater Alexanders des Großen bestrebt, dessen Eroberungszüge sowie die griechische Ausgrenzungspraxis gegenüber den »Anderen« philosophisch zu untermauern. So argumentiert er etwa, dass Sklaverei naturgegeben und gerecht sei und Griech*innen dazu auserwählt seien, Nicht-Griech*innen zu versklaven. Zwar war »Hautfarbe« in diesem Zusammenhang nicht der primäre Marker von Differenz, doch schieden sich »Freie« und »Barbaren« eben auch an dieser Grenzziehung.

Das in der griechischen Antike akkumulierte Wissen – dass körperliche Unterschiede soziale, mentale und religiöse transportieren und Herrschaft und Sklaverei legitimieren –, stellte die theoretische Basis bereit, um in den nachfolgenden Jahrhunderten die Idee von »Rasse« zu formen und zum Instrumentarium der Klassifizierung von Menschen zu machen.

Koloniale Farbsymbolik

Mit dem Erstarken des Christentums erhielten die antiken Vorstellungen neue Bedeutung und Gewichtigkeit. Dabei kam es zwischen der christlichen Farbsymbolik und Theoremen von »Hautfarbe« zu komplexen Synergieeffekten. In der christlichen Religion gilt Weiß als Farbe des Göttlichen, des Himmlischen und seiner Transparenz, von Unschuld und Jungfräulichkeit. Schwarz verkörpert dagegen das Monströse des Teufels und die Untiefen der Hölle – und damit Sünde und Schande, Ungehorsam und Schuld. Analog dazu wird Weiß auch allgemein als schön, rein und tugendsam konzipiert, Schwarz als Farbe des Hässlichen, Bösen und Unheils.

Bereits im 15. und 16. Jahrhundert, als die europäische Versklavung und Verschleppung von Afrikaner*innen irreversibel strukturelle Gestalt und Gewalt annahm, war diese Farbsymbolik gängig (denken wir etwa nur an Michelangelo, da Vinci oder Raphael). Parallel zur Ästhetik zeitgenössischer Malerei formierte sich auch in Poesie und Dramatik ein literarischer Hype um diese Farbsymbolik und ihre Kolonialrhetorik. Besonders interessant ist dabei, dass Weißsein prominent auch über Seide, Perlen, Elfenbein, Silber, Diamanten und Marmor als kostbar inszeniert wird. Es werden also figurativ ausgerechnet jene Ressourcen aufgerufen, die die kolonialen Ambitionen Englands und ihre Legitimationsphilosophie um das Weißsein wesentlich motivierten.

Auf diese Weise ideologisch gerüstet, blühte die Sklaverei im 17. Jahrhundert auf und trug im 18. Jahrhundert volle Früchte. Sie ermöglichte die Industrielle Revolution und Europas Moderne, die im europäischen Wettlauf münden sollte, die Welt zu kolonisieren.

Vermessung des Körpers

Als immer mehr Zweifel an den seit der Antike gültigen Klima-Theorien und an »Hautfarbe« als überzeugendem Träger von »Rassentheorien« aufkamen, nahmen weiße Wissenschaftler*innen des 18. Jahrhunderts zunehmend andere angebliche Merkmale in den Blick. Dazu vermaßen sie zunächst Körperteile wie etwa den Schädel oder das Skelett, aber auch Sexualorgane. Noch heute lagern Relikte dieser biologistischen Forschung in ethnologischen Museen und Krankenhäusern in Europa.

Das hysterische Bemühen, »Rassen« als Fakt und die Überlegenheit der Weißen wissenschaftlich zu postulieren, fand in der Aufklärung einen Höhepunkt und prägte das Weltbild von Philosophen wie David Hume, Voltaire und Immanuel Kant. Die »Rassentheoretiker« drangen, dem allgemeinen Wissenschaftstrend ihrer Zeit folgend, nun immer tiefer in den Körper hinein: Bald dominierten auch »innere Merkmale«, wie Blut und Gene, die Theorien. Mit der Hinwendung zur Vererbung innerer Dispositionen kam es zu einem Anstieg identifizierbarer »Rassen« auf mehr als hundert. Diese stetig wachsende Anzahl vermeintlicher »Rassen« zeigt letztlich nur eines deutlich: Eindeutige Grenzziehungen lassen sich weder ermitteln noch begründen.

Ideologieprodukt »Arier«

Im 19. Jahrhundert propagierte der Sozialdarwinismus in einer Aneignung des Darwin’schen „survival of the fittest“, dass es legitim sei, jene auszurotten, die sich historisch als unterlegen erwiesen hätten. Die Eugenik und andere Theorien, auf die sich später der Nationalsozialismus stützte, nahmen in dieser Zeit ihren Anfang. Dazu gehören auch Arthur de Gobineaus apokalyptische Überlegungen, dass sich „höhere“ gegen „niedere Rassen“ zur Wehr setzen müssten und „die weiße Rasse“ unwiederbringlich durch andere „Rassen“ verdorben worden sei. Das einzige verbliebene Potenzial sah er in der „arischen Rasse“, einem reinen Ideologieprodukt, das Gobineau in England und Norddeutschland verortete.8

Nirgendwo erfuhren Gobineaus Buch und sein »Arier-Mythos« ab Ende des 19. Jahrhunderts eine solch starke Rezeption wie in Deutschland. Doch niemand hat ebendort den rassistischen »Arier-Mythos« als Chauvinismus- und Unterdrückungsideologie so wirkungsmächtig verbreitet wie der britisch-deutsche Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain. Das Hauptziel seines 1899 erschienenen Pamphlets »Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts« war es, den »Ariern« ihren Platz in der Gegenwart und Zukunft zu verschaffen, den sie seiner Meinung nach als „Herrenrasse“ verdienten.9

Historische Kontinuitäten

Parallel zu dieser Radikalisierung des Rassismus trat auch der Kolonialismus in seine imperiale Phase über. Die europäische Gier nach Gütern, wie Elfenbein, Gummi, Diamanten und Gold, aber auch nach neuem Territorium, unterwarf Millionen von Menschen in Afrika, Australien sowie Teilen Asiens der Ausbeutung, der Folter und dem Genozid. Vom Rassismus flankiert wurden diese Gräueltaten als Recht und Pflicht zur Zivilisation verkauft. Abgepuffert durch die rassistische Rhetorik blieben koloniale Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa vergleichsweise unbeachtet. Der Rassismus wütete weiter, nicht nur in den Kolonien. In Deutschland mündete er in genozidaler Singularität in die Ermordung von Millionen von Juden und Jüdinnen sowie Hunderttausenden von Sinti und Roma.

Als die alliierten Armeen das NS-Regime besiegten, kämpften in ihnen Hunderttausende von Schwarzen Menschen. Die Siegermächte verweigerten ihnen dafür nicht nur die gebührende Anerkennung, sondern zeitgleich wurde in den Kolonien und über den Nationalsozialismus hinaus diktatorisch weitergeherrscht. Der karibische Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire klagte nicht zuletzt deswegen bereits in den 1950er Jahren eine Erinnerungsarbeit ein, die die Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus reflektiert.10 Das steht in der öffentlichen Erinnerungsarbeit bis heute aus.

Ganz Europa, insbesondere Deutschland, versank im Angesicht der Shoah in Angst und Scham. Wer es vermeiden konnte, sprach nicht über Rassismus. Doch auch jene Länder, die den Nationalsozialismus zerschlagen hatten, waren davon nicht ausgenommen, wie etwa die »Jim Crow«-Gesetzgebung11 in den USA oder das Fortbestehen von britischem und französischem Kolonialismus zeigen.

Rassismus verleugnen und Bildersprache

Das Nicht-Wahrnehmen von Rassismus stellt einen aktiven Prozess des Verleugnens dar, der durch das weiße Privileg, sich mit Rassismus nicht auseinandersetzen zu müssen, gleichermaßen ermöglicht wie abgesichert wird. Wo aber Rassismus verleugnet wird, bleibt sein Wissen im Umlauf. Gerade in der zeitgenössischen (Bilder-) Sprache finden sich dafür verstörende Belege.

Als Europa seine weiße Überlegenheit erfand, inszenierte es Schwarzsein und Afrika, als dessen symbolische Heimat, als Antithese zum weißen christlichen Europa/Westen. Die Dämonisierung des Kontinentes und seiner Bewohner*innen als Hort des Bösen sind nur die Spitze des Eisberges. In der Exotisierung steckt dieselbe Zutat: Afrika sei naturverbunden, will sagen ohne Mündigkeit, Entwicklung und Kultur (oft metonymisch visualisiert durch Mangel an Nahrung, Kleidung, Bildung), und damit bestenfalls ein Bindeglied zum (kultivierten) Menschsein. So wird Afrika in den Warteraum der Geschichte verbannt und damit über die Abwesenheit einer Zukunft definiert, die Europa verkörpert. Folgerichtig sei Europa in der Position, Afrika zu »entwickeln«. Was im Kolonialjargon »Bürde des weißen Mannes« hieß und Gewalt, Raub und Ausbeutung als »Zivilisierung« verkaufte, flüchtete sich in die zeitgenössische Erzählung der »Entwicklungshilfe«. Statt Verantwortung für den Kolonialismus zu übernehmen, der Afrika sozial und ökonomisch zerrüttete, wird alleinig der afrikanischen Kontinent verantwortlich für die verheerenden Spätfolgen des Kolonialismus gemacht, und es wird paternalistisch, ja zynisch, »Hilfe« angeboten.

Verstetigung des Rassismus

Durch solche verstetigende Wiederholungen schleichen sich Stereotype subtil in die individuelle Wahrnehmung ein und werden dann als gegeben, eindeutig und natürlich angenommen. Das erklärt die Veränderungsresistenz von Stereotypen. Nur partiell werden neue Inhalte und Grenzen ausgehandelt. Wenn Stereotype also in verschiedenen historischen Kontexten nur partielle Verschiebungen erfahren, heißt dies nicht, dass sie deswegen »natürlich« sind. Vielmehr zeigen sie, wie Glaubenssätze sich mit der Zeit mehr und mehr zu vermeintlichen »Wahrheiten« verfestigen. Deswegen befördern Bilder, die nackte, ungebildete, dienende Schwarze zeigen, nicht Verantwortung, ja nicht einmal Empathie, sondern im Gegenteil Aversionen, Überlegenheitsgefühle und fehlenden Respekt vor Afrikaner/innen und anderen Schwarzen.

Es bedarf eines zivilgesellschaftlichen Engagements, wie im Falle der Bebilderung von »Wissenschaft und Frieden« 1-2014 von Christoph Butenschön und Ulrich Wagner gezeigt, um verstörenden Bildern neue Weltsichten entgegenzustellen Mit ihrem Leserbrief haben sie sich, der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« und ihren Leser*innen aufgezeigt, dass es keineswegs ausreichend ist, sich als antirassistisch zu positionieren. Dem Willen, sich Rassismus zu widersetzen, müssen Handlungen folgen, die wissen, worum es geht: Wissen darüber, wie Rassismus entstanden ist, wie er wirkt und auf welche Weise er unterwandert werden kann. Zu verstehen, wie Rassismus historisch gewachsen ist, ist eine bewährte Methode, um Rassismus im Jetzt beim Namen nennen zu können und ihm eine schwere Zukunft zu bescheren.

Rassismus in die Schranken weisen

Wer Rassismus in die Schranken weisen möchte, muss zunächst lernen, was der Rassismus mit uns allen angerichtet hat. In einem zweiten Schritt wird es darum gehen, feste Glaubensgrundsätze aufzugeben (auch den, schon immer antirassistisch gewesen zu sein), bereits Gelebtes selbstkritisch zu überprüfen (auch wenn es noch so gut und antirassistisch gemeint war) und Gelerntes zu verlernen (auch wenn es noch so unschuldig aussieht). In allem, was wir wissen, steckt ein Stück rassistische Wissensgeschichte. Ob Medien, Schulbücher, Straßennamen, Lebensmittel oder Gesetze: Rassismus hat sich überall eingenistet. Dies sind aber auch die Orte, von denen aus Rassismus in Sackgassen getrieben werden kann: neue Curricula oder lernwillige Lehrer*innen, geschulte Journalist*innen oder fragende Wissenschaftler*innen, wissbegierige Politiker*innen oder Theolog*innen – es gibt keinen Ort, an dem Bilder, ob durch Sprache oder Illustrationen erzählt, nicht die Welt verändern können.

Anmerkungen

1) Der Artikel basiert auf Forschungsergebnissen, die dargestellt sind in: Susan Arndt (2012): »Die 101 wichtigsten Fragen – Rassismus«. München: C.H. Beck; sowie: Susan Arndt: LiteraturWelten – Transkulturelle Anglistik und der »Racial Turn«. Antrittsvorlesung an der Universität Bayreuth am 24. Oktober 2012; vimeo.com/66145276.

2) Colette Guillaumin (1992): Sexe, race et pratique du pouvoir. Paris: Côté-femmes, S.7.

3) Shankar Raman (1995): The Racial Turn: »Race«, Postkolonialität, Literaturwissenschaft. In: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger u.a. (Hrsg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler, S.241-255.

4) Deutsche Ausgabe (1994): Im Dunkeln spielen: weiße Kultur und literarische Imagination. Reinbek: rororo.

5) Vgl: Ruth Frankenberg (Hrsg.) (1997): Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism. Durham/North Carolina: Duke University, S.1-10.

6) Ursula Wachendorfer (2001): Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität. In: Susan Arndt (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Münster: Unrast, S.87-101.

7) Etwa die These, das heiße Klima habe Haar und Hirn von Schwarzen Menschen ausgetrocknet und sie seien deswegen mental und kulturell unterlegen.

8) Arthur de Gobineau (1853–55): Essai sur l’inégalité des races humaines. Paris: Éditions Pierre Belfond, hier Ausgabe von 1967.

9) Houston Stewart Chamberlain (1899): Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. München: Bruckmann.

10) Aimé Césaire (1955): Discours sur le colonialisme. Paris: Editions Présence Africaine. Deutsche Ausgabe (1968): Über den Kolonialismus. Berlin: Wagenbach.

11) Der US-amerikanische Komiker Thomas D. Rice erfand im Rahmen von »Blackfacing«-Shows in den 1830er Jahren die Figur des Jim Crow, eines tanzenden, singenden, wenig intelligenten Schwarzen. Als »Jim Crow Laws« werden die Gesetze bezeichnet, die in den USA von 1876 bis 1964 die Rassentrennung festschrieben.

Susan Arndt ist Anglistin und Rassismusforscherin. Sie lehrt als Professorin an der Universität Bayreuth und ist Autorin des Buches »Die 101 wichtigsten Fragen: Rassismus« (München: C.H. Beck, 2012, 2. Aufl. 2015).