Krieg und Frieden jenseits »Großer Männer«

Krieg und Frieden jenseits »Großer Männer«

Eine feministische Kritik populärwissenschaftlicher Geschichtszeitschriften

von Dorothée Goetze

Populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften orientieren sich in Themenwahl und Präsentation an einem männlichen Publikum. Dies erklärt einerseits die inhaltliche Fokussierung auf Krieg und Konflikt sowie andererseits die auf »Große Männer« und deren Taten ausgerichtete Darstellung. Feministische Perspektiven können durch differenziertere Darstellungen nicht nur zu einer Neuausrichtung der Themenwahl durch die stärkere Berücksichtigung von Frieden beitragen, sondern dadurch gleichzeitig die Entwicklung von für ein diverseres Publikum attraktiven Präsentationsformen fördern.

History sells – Geschichte lässt sich gut vermarkten. Das ist bekannt und die Vielzahl medialer Formate, die einem breiten Publikum historische Inhalte vermitteln wollen, belegt das eindrücklich. Neben Radiosendungen, Podcasts, Filmen, Fernsehformaten und den sogenannten sozialen Medien sind hier auch populärwissenschaftliche Zeitschriften zu nennen. Diese haben eine lange Tradition. Das führende englischsprachige Magazin »History Today« erscheint seit 1951. Die älteste deutsche populärwissenschaftliche Geschichtszeitschrift »Damals« ist nur acht Jahre jünger. Einen wahren Boom erlebt das Genre seit Anfang der 2000er Jahre. Seitdem ist die Anzahl der verschiedenen Zeitschriften sehr stark angestiegen, eben weil Medienmacher*innen erkannt haben, dass man mit Geschichte Geld verdienen kann.

Ihrem Anspruch nach präsentieren diese Geschichtsmagazine einem breiten Publikum aktuelle Ergebnisse der historischen Forschung zu relevanten Themen. Untersuchungen zu den Konsument*innen von populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften zeigen jedoch, dass deren Leserschaft nicht so vielfältig ist, wie der Begriff »breites Publikum« zunächst annehmen lässt. Diese Geschichtsmagazine werden vor allem von älteren und gut gebildeten Männern gelesen. Dies gilt nicht nur für den deutschsprachigen Raum, sondern wird durch Studienergebnisse etwa aus Großbritannien bestätigt (De Groot 2016, S. 59). Geschichtsdidaktische Forschungsergebnisse lassen noch weiterreichendere Aussagen zu: Populärwissenschaftliche Geschichtsjournale vermitteln kein gleichgestelltes Geschichtsbild; Frauen werden weder als Individuum noch als Gruppe sichtbar, während Männer überrepräsentiert sind und in ihrer Darstellung stereotyp auf gewaltvolle Eigenschaften reduziert werden (Lundqvist 2016, S. 1). Meist wird auf »Große Männer« fokussiert, deren Leben eine Verbindung zu einem wichtigen zeitgenössischen Ereignis aufweist. Über alle Länder hinweg dominieren Krieg und Konflikt die dargestellten Inhalte, deren Auswahl ist allerdings von nationalen Geschichtsschreibungen geprägt (Schumann, Popp und Hannig 2015, S. 16). Diese Befunde spiegeln sich deutlich auf den Titel­blättern von Geschichtszeitschriften wider.

Wenn also Krieg und Konflikt den thematischen Schwerpunkt populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine bilden und sich deren Darstellung an einer gut ausgebildeten männlichen Leserschaft orientiert, stellt sich die Frage, wie sich diese Darstellung mit einer weiblichen oder feministischen Perspektive verändert.

Frauen im Krieg: Die Zeitschrift »Historiskan«

Frauen werden in populärwissenschaftlichen Geschichtsmagazinen selten thematisiert – und falls doch, dann in der Regel nicht im Kontext von Krieg und Frieden; von nicht binär gelesenen Personen ganz zu schweigen. Es ist durchaus bemerkenswert, dass sich bei der Vorbereitung dieses Textes kein einziges deutschsprachiges Geschichtsmagazin ermitteln ließ, das sich dezidiert an Frauen und/oder nicht-männliche Personen richtet, obwohl es gleichzeitig einen fast unüberschaubaren Markt an Frauenzeitschriften und zahlreiche explizit feministische (politische) Magazine gibt. Ist Geschichte also etwa ein rein männliches Thema?

In Schweden gibt es seit 2015 mit der Zeitschrift »Historiskan« (Übersetzung: Die Historikerin) ein Geschichtsmagazin, das Frauen und ihre Rolle in der Geschichte in den Fokus stellt und sich als ein Beitrag zu mehr Gleichstellung in der Geschichtsschreibung versteht.1 Diese Zeitschrift steht somit nicht in der Tradition eines feministischen, sondern eines geschlechtergeschichtlichen Zugangs zu Geschichte. Doch folgen gerade in den ersten Jahren der Zeitschrift die Titelblätter stark den oben beschriebenen Mustern bei Titelseiten anderer populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine, indem sie – wie ihre an Männer gerichteten Pendants – bekannte Frauenpersönlichkeiten in den Fokus rücken; obgleich der erste Titel zur Geschichte der weiblichen Brust mit einem Gemäldeausschnitt, der einen Busen zeigt, wohl zu Recht als programmatisch in Bild und Inhalt bezeichnet werden kann. Auf insgesamt sechs der inzwischen 31 erschienen Ausgaben (Stand: Dezember 2022) sind analog zu »Großen Männern« bedeutende Frauen abgebildet. Gezeigt wurden Königin Christina von Schweden (3/2016), Frida Kahlo (4/2016), Königin Marie-Antoinette (1/2017), Hilma af Klint (3/2017), Bernadette Devlin (4/2017) und Königin Margarethe I. von Dänemark (1/2020). Das legt den Schluss nahe, dass sich die Zeitschrift in der Frühphase stärker an der Bildsprache konventioneller Geschichtsmagazine orientierte, ehe sie eine eigene Ausdrucksform entwickelte. Unterscheidet sich die Auswahl der Persönlichkeiten zumindest insofern, als dass sie sich nicht auf Militärs und Politiker*innen beschränkt, sondern Herrscher*innen, Künstler*innen und politische Aktivist*innen repräsentiert, so handelt es sich jedoch auch hier um Einzelpersonen, denen eine herausgehobene Position zugeschrieben wird. Es wird also auch hier mit Personalisierung und Heroisierung gearbeitet.

Auf den ersten Blick scheinen Krieg und Frieden lediglich eine nachrangige Position auf der Themenliste in »Historiskan« einzunehmen. So zeigen nur zwei Titelseiten Bilder mit Kriegsbezug: Heft 2/2018 wählte als Aufmacher »Auf Leben und Tod. Suffragettenkrankenhäuser in London retteten Soldaten während des Ersten Weltkrieges«.2 Bildlich repräsentiert wird das Thema durch die Abbildung eines Gemäldes, das fünf Ärztinnen in OP-Kleidung zeigt, die einen Mann medizinisch versorgen. Die vierte Ausgabe des Jahres 2019 titelte »Im Schatten des Todes. 1939 errichteten die Nazis das einzige Frauenkonzentrationslager. Das Leben in Ravensbrück war geprägt von harter Arbeit und Grausamkeit«.3 Auf der Titelseite ist das Foto von befreiten Häftlingen des Konzentrationslagers Ravensbrück abgedruckt.

Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass bereits auf den Titelseiten der Zeitschrift Hinweise auf weitere Beiträge aus dem Bereich Krieg und Konflikt als Marginalien gesetzt werden. Darüber hinaus finden sich in den einzelnen Zeitschriftenausgaben immer wieder auch Texte, die Krieg thematisieren, ohne dass sie auf dem Titel beworben werden. In den Artikeln wird Krieg epochal breit gefächert, aber dennoch innerhalb eines durch andere Geschichtsmagazine bereits etablierten Kanons behandelt, von der Wikingerzeit (z.B. Historiskan 4/2017) bis zum 20. Jahrhundert (z.B. Historiskan 2/2017). Dabei werden unterschiedliche Facetten von Kriegserleben aufgegriffen. So gibt es etwa in Heft 1/2017 einen Artikel zum ersten russischen Frauenbataillon, das 1917 aufgestellt wurde (S. 58-63). Ausgabe 2/2017 enthält einen zehnseitigen Beitrag zum englischen Rosenkrieg, in dem Frauen als politische Akteurinnen dem blutigen Schlachtgeschehen und mächtigen Männern gegenübergestellt werden. Das nachfolgende Heft enthält eine Serie mit Aufnahmen der Fotografin Mia Green (1870-1949), die die Zeit des Ersten Weltkrieges in Haparanda bildlich dokumentiert hat, das als Grenzstadt zwischen dem neutralen Schweden und dem zum russischen Reich gehörenden Großfürstentum Finnland direkt vom Krieg betroffen war (Historiskan 3/2017, S. 44-49). Zudem ist im gleichen Heft ein Artikel zur Teilnahme von Frauen an den mittelalterlichen Kreuzzügen publiziert (Historiskan 3/2017, S. 57-61).

»Historiskan« folgt somit letztlich dem etablierten Narrativ der Heroisierung, das aus anderen populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften bekannt ist, die stark mit den aufeinander bezogenen Mitteln der Heroisierung und Dämonisierung arbeiten; nur dass der Fokus verschoben wird und statt männlichen eben weibliche Heldinnen gewählt werden. Es erfolgt jedoch keine Anpassung der Erzählstrategien. Vielmehr wird ein etabliertes (männliches) Erzähl-Muster auf ein weibliches Publikum übertragen. Die Anpassung an die veränderte Zielgruppe erfolgt somit nicht durch die Art der Darstellung, sondern in erster Linie durch die Wahl der Protagonistinnen. Dabei folgt »Historiskan« fast ausnahmslos der Perspektive der weißen heterosexuellen Mittelschichtsfrau (Lundqvist 2016, S. 38).

Mit der Betonung von Krieg und Konflikt folgen populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften nicht der Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Forschung, die sich seit etwa 2010 verstärkt Fragen von Friedensdenken, -findung und -wahrung zuwendet, obwohl sie den Anspruch formulieren, am Puls der Forschung zu sein und aktuelle Ergebnisse zu präsentieren. Als Erklärung dafür, warum aktuelle Forschung und populäre Darstellungen in diesem Punkt unterschiedliche Pfade beschreiten, kann Joachim Krügers Befund zur Ausstellbarkeit von Frieden in Museen auf populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften übertragen werden: „Krieg ist verglichen mit Frieden […] konkreter und leichter fassbar“ (Krüger 2019, S. 381). Dabei böten gerade populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften (anders als Museen, die auf Ausstellungsobjekte angewiesen sind) die Möglichkeit, Frieden erzählbar zu machen.

Feministische Perspektive: ein Weg zum Frieden

Eine Voraussetzung dafür ist ein grundlegender Perspektivwechsel. Feministische Ansätze, wie sie in der (politikwissenschaftlichen) Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen fest etabliert sind (z.B. Smith und Yoshida 2022), können dafür die notwendigen Grundlagen schaffen. Eine feministische Perspektive hinterfragt die bislang dominierende und im Fall populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine auf weiße männliche Helden und Mittelschichtsfrauen ausgerichtete Erzählstrategie und strebt danach, bislang marginalisierte Akteur*innen zu berücksichtigen. Diese Perspektivverschiebung geht einher mit einer Reflexion etablierter Machtstrukturen und ermöglicht zugleich die Berücksichtigung von Alltagserleben und unterschiedlichen Wahrnehmungen. Das nimmt den Fokus weg von »Großen Männern« und Eliten, ohne diese jedoch in ihrer Wirkmächtigkeit (und eben auch Gewalt) zu negieren. Vielmehr werden diese unterschiedlichen Akteur*innen zueinander ins Verhältnis gesetzt. Dadurch können Inklusions- und Exklusionsmechanismen sichtbar gemacht werden. Es geht also nicht darum, eine eindimensionale Perspektive durch eine andere zu ersetzen, wie das im Fall der Zeitschrift »Historiskan« durch den Austausch der Protagonist*innen geschehen ist, sondern Krieg in seiner Komplexität sichtbar zu machen.

Dieser umfassende und integrative Zugriff feministischer Ansätze trägt nicht nur dazu bei, ein differenziertes Bild von Krieg jenseits von Held*innen zu zeichnen, sondern schafft die methodischen und theoretischen Voraussetzungen dafür, Frieden zu erzählen. Dies ist umso wichtiger, da, wie Christoph Kampmann betont, bislang die Schwierigkeit besteht, Friedenshandeln im gleichen Maße wie Krieg und Konflikt zu personalisieren und zu heroisieren (Kampmann 2019, S. 434). Dadurch ist Frieden bislang mit den Präsentationsstrategien populärwissenschaftlicher Geschichtsdarstellungen nicht oder zumindest nur schwer greifbar, wie sich im Kontext von Geschichtsmagazinen gezeigt hat. Eine feministische Perspektive würdigt die Komplexität von Friedenshandeln, -denken, -finden und -bewahren. Sie bedarf der »Großen Männer« nicht. Wichtiger sind Fragen danach, ob und welche anderen Gruppen sich nach Frieden gesehnt haben und sich diesen vorgestellt haben; auf welche Weise sie darin inbegriffen oder davon ausgenommen waren und ihn selbst durch ihr Handeln im Rahmen der bestehenden Machtverhältnisse herbeigeführt oder abgelehnt haben. Dadurch wird das Wechselspiel zwischen politischen Eliten, politischen Friedensbauer*innen sowie anderen Akteur*innen jenseits der sichtbaren politischen Bühne deutlich und der Beitrag der letztgenannten zu Frieden anerkannt. Das Einbeziehen ihrer (­Exklusions- und Diskriminierungs-)Erfahrungen trägt dazu bei, die Komplexität von Frieden zu erfassen, und verdeutlicht, warum Friedenfinden aber auch die Implementierung und das Bewahren von Frieden so schwer sind. Frieden wird damit nicht länger zum bloßen Ende von Kriegen reduziert, sondern als eigenständige und komplexe Leistung anerkannt und gewürdigt.

Bislang fehlt eine feministische Form populärwissenschaftlicher Geschichtserzählungen jedoch. Dieser Beitrag versteht sich daher als Anregung für eine kritische Reflexion populärer Geschichtsvermittlung und deren notwendige Weiterentwicklung. Eine solche (selbst-)emanzipierende Perspektive trägt nicht nur zu einem differenzierteren Bild von Geschichte jenseits etablierter Schubladen bei, sondern kann darüber hinaus einen wichtigen in die Zukunft gerichteten Beitrag zu gesellschaftlich relevanten Fragen und Problemstellungen leisten: Wenn Frieden auch historisch lesbar wird, können wir gegenwärtige Tendenzen der Militarisierung, der Heroisierung, der Maskulinisierung hinterfragen und wirksamer kritisch begleiten.

Anmerkungen

1) Die Zeitschrift ist online zu finden unter: historiskan.se

2) Schwedischer Originaltitel: »På liv och död. Suffragettsjukhus i London räddade soldater under första världskriget« (Historiskan 2/2018).

3) Schwedischer Originaltitel: »I dödens skugga. 1939 öppnades nazisternas enda koncentrationsläger avsett för kvinnor. Livet i Ravensbrück präglades av hårt arbete och grymhet« (Historiskan 4/2019).

Literatur

De Groot, J. (2016): Consuming History – Historians and heritage in contemporary popular culture. 2. Aufl. London/New York: Routledge.

Historiskan 3–4/2016, 1–4/2017, 2/2018, 4/2019, 1/2020

Kampmann, Ch. (2019): Westfälischer Frieden und frühneuzeitliche Friedensgeschichte: Überlegungen zu Forschungsperspektiven und Forschungstransfer. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg.): Warum Friedenschließen so schwer ist – Frühzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. Münster: Aschendorff, S. 433-438.

Krüger, J. (2019): Krieg und Frieden in der Perspektive des Museums. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg.): Warum Friedenschließen so schwer ist – Frühzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. Münster: Aschendorff, S. 377-394.

Lundqvist, C. (2016): Kvinnors historia: Mer än vårt kön – En intersektionell studie av tidskriften Historiskan. Examensarbeit im Studiengang Lehramt Geschichte, Universität Karlstad, online-Publikation: urn:nbn:se:kau:diva-42929.

Smith, S.; Yoshida, K. (2022): Feminist conversations on peace. Bristol: Bristol University Press.

Schumann, J.; Popp, S.; Hannig, M. (2015): EHISTO – European History Crossroads as pathways to intercultural and media education. A report about the EU project (2012–2014). In: Popp, S.; Schumann, J.; Hannig, M. (Hrsg.): Commercialised History – Popular History Magazines in Europe. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 14-39.

Dr. Dorothée Goetze arbeitet als Lektorin für Geschichte an der Mittuniversitetet Sundsvall (Schweden). In ihrer Forschung untersucht sie u. a. Fragen der frühneuzeitlichen Historischen Friedensforschung und der Public History.

Konkurrierende Bedrohungsdebatten in Krisenzeiten

Konkurrierende Bedrohungsdebatten in Krisenzeiten

Eine sozialpsychologische Perspektive

von Tobias Rothmund

Hinter uns liegt ein Jahr, in dem der Krisenmodus zum Dauerzustand erklärt wurde. Krieg in der Ukraine, Energieknappheit, Digitalisierung, Pandemiefolgen und nicht zuletzt der galoppierende Klimawandel. Krisen und Transformationsprozesse gehen mit mehr oder weniger konkreten Bedrohungslagen einher. Diese werden in Nachrichtensendungen, Talkshows und sozialen Medien debattiert – singulär, wechselseitig überlagernd und vergleichend. Aber was genau macht das mit uns als Gesellschaft, wenn multiple Bedrohungen und deren Bedeutung dauerhaft zum Gegenstand öffentlicher Debatten werden? Wie reagieren Menschen allgemein auf wahrgenommene Bedrohungen und was bedeutet das für die aktuelle Krisenkommunikation?

Die sozialpsychologische Forschung zu Bedrohung und Bedrohungserleben hat mindestens drei Ursprungslinien: eine evolutionsbiologische, eine kognitionswissenschaftliche und eine gruppenpsychologische. Die evolutionsbiologische Forschungslinie basiert auf der Annahme, dass Sensitivität gegenüber bedrohlichen Umweltreizen biologisch verankert ist, da sie einen Anpassungsvorteil für das Überleben unserer Vorfahren bedeutet hat. Eine solche Sensitivität wird häufig auch als »Negativitätsbias« bezeichnet (Rozin und Royzman 2001), d.h. Menschen reagieren auf negative Informationen stärker als auf positive. Die allgemeine Existenz einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber negativen bzw. bedrohlichen sozialen Informationen ist jedoch umstritten. Bar-Haim und Kolleg*innen (2007) finden im Rahmen einer Meta-Analyse einen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Informationen nur bei Menschen mit ängstlicher Persönlichkeitsstruktur. Norris (2021) hingegen berichtet eine Vielzahl neuropsychologischer Studien, die auf einen allgemeinen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Umweltreize hindeuten.

Eine kognitionswissenschaftliche Ursprungslinie der psychologischen Bedrohungsforschung reicht zu den Arbeiten von Leon Festinger und Kolleg*innen in den 1950er Jahren zurück. Die sogenannten Konsistenztheorien gehen im Kern davon aus, dass Menschen einen Zustand der inneren Konflikt- und Widerspruchsfreiheit anstreben. Persönliche Überzeugungen, Wertvorstellungen, Wahrnehmungen oder auch Verhaltensweisen sollten also im Einklang miteinander stehen. Innere Widersprüche lösen im Sinne der Dissonanztheorie (Festinger 1957) negative Gefühle und Unsicherheit aus. Das Erleben dieser kognitiven Inkonsistenzen wird als bedrohlich wahrgenommen und motiviert Menschen in der Folge dazu, Anpassungen im Denken oder Handeln vorzunehmen, um ein Gefühl der Sicherheit, Kontrolle oder Bedeutung wiederzuerlangen.

Ein dritter Ursprung der psychologischen Forschung zum Bedrohungserleben kann in der Intergruppenforschung gesehen werden. Hier wird zwischen realistischer und symbolischer Bedrohung unterschieden (Stephan und Stephan 2000). Realistische Bedrohung wird im Kontext von Ressourcenkonflikten zwischen sozialen Gruppen oder Gesellschaften erlebt. In diesem Fall resultiert die Bedrohung einer Gruppe daraus, dass das Wohlergehen mehrerer Gruppen negativ interdependent ist: Was eine Gruppe hat, fehlt also einer anderen Gruppe. Solche Konflikte können sich auf materielle Ressourcen (bspw. fossile Energiequellen) oder auf immaterielle Ressourcen (bspw. Macht) beziehen. Symbolische Bedrohung zwischen sozialen Gruppen resultiert hingegen aus diskrepanten Wert- und Moralvorstellungen. Die Bedrohung hat somit keinen materiellen Charakter. Sie drückt eher eine Art normative Verunsicherung aus. Sowohl realistische Bedrohungen als auch symbolische Bedrohungen begünstigen negative Vorurteile (Riek et al. 2006), bis hin zu Hass und Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen (Martinez et al. 2022).

Ein psychologisches Modell des Bedrohungserlebens

Eine Gruppe von Wissenschaftler*innen um Eva Jonas (2014) hat die drei dargestellten Forschungslinien in ein allgemeines Modell des Bedrohungserlebens integriert. Bedrohungserleben wird dabei als Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen (a) existentiellen, epistemischen oder sozialen Bedürfnissen oder Zielen und (b) beobachteten oder antizipierten persönlichen oder sozialen Zuständen verstanden. Diese Diskrepanzwahrnehmung wird als unangenehm erlebt, bedroht die persönliche oder soziale Identität von Menschen und motiviert entsprechende Reaktionen. Die Autor*innen unterscheiden zwischen kurzfristigen Abwehrreaktionen und nachfolgenden Bewältigungsreaktionen.

  • Kurzfristige Abwehrreaktionen umfassen beispielsweise ein erhöhtes physiologisches Aktivierungsniveau und erhöhte Wachsamkeit bzw. Aufmerksamkeit. Dabei wird das BIS (»Behavioral Inhibition System«), eine Art biologisches Verteidigungsprogramm, aktiviert. Abwehrreaktionen können sich jedoch auch in Vermeidungsverhalten ausdrücken, indem es zu einer Abwendung von der als bedrohlich wahrgenommenen Situation oder Informationslage kommt.
  • Anschließende Bewältigungsreaktionen zielen darauf ab, das Bedrohungserleben nachhaltig zu reduzieren. Man kann zwischen konstruktiven und palliativen Formen der Bewältigung unterschieden. Konstruktive Bewältigungsreaktionen zielen auf die Verringerung des Bedrohungserlebens durch eine Veränderung der Diskrepanzwahrnehmung ab. Dies kann dadurch erfolgen, dass eine Veränderung der als unbefriedigend wahrgenommenen Zustände bewirkt wird. Hierfür kann beispielsweise politisches Engagement durch Protestverhalten oder die Mitwirkung an politischen Aktivitäten dienen. Alternativ kann auch die Anpassung bzw. Relativierung von Bedürfnislagen zu einer Reduktion des Bedrohungserlebens führen. Eine Ablösung von bestimmten Zielen wäre eine solche Reaktion. Palliative Bewältigungsformen zielen nicht direkt auf die konkrete Diskrepanzwahrnehmung ab, sondern eher darauf, das Bedrohungserleben durch alternative Formen der Selbstaufwertung zu kompensieren. Eine solche Selbstaufwertung kann beispielsweise durch die Identifikation mit einer Gruppe oder durch die Orientierung an transzendentalen Zielen erfolgen. Diese palliativen Bewältigungsformen zielen auf eine Reduktion des Bedrohungserlebens ab, ohne dabei konkret auf die zugrundeliegende Problemlage einzuwirken.

Krisenkommunikation unterliegt Dramatisierungsattraktion

Öffentliche Diskurse über multiple Krisen werden maßgeblich von Akteur*innen in Medien und Politik geprägt. Unsere Medienlandschaft kann dabei als »High-Choice«-Informationsumgebung beschrieben werden, in der eine Vielzahl an Informationsangeboten um die Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Rezipient*innen konkurrieren (van Aelst et al. 2017). Sowohl politische Akteure als auch Journalist*innen und Medienschaffende unterliegen unter diesen Rahmenbedingungen leicht einer Dramatisierungsattraktion, d.h. die Hervorhebung und Dramatisierung von Bedrohungsszenarien erscheint für die massenmediale Kommunikation attraktiv. Diese Dramatisierungsattraktion hat verschiedene Ursachen, die durch die Logik des politischen und des medialen Systems begünstigt werden.

Für Journalist*innen und Medienschaffende scheint die Emotionalisierung und Dramatisierung von Bedrohungslagen im Kontext einer medialen Aufmerksamkeits­ökonomie unumgänglich (Ciampaglia et al. 2015). Wie bereits dargestellt, ist Bedrohungserleben eng an die Aufmerksamkeitssteuerung von Menschen gekoppelt. Auch wenn die Existenz eines allgemeinen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Informationen empirisch umstritten bleibt, so erhöht das subjektive Bedrohungserleben von Rezipient*innen in vielen Fällen die Aufmerksamkeit gegenüber relevanten Informationen (zum Überblick siehe Jonas et al. 2014). Das Bedrohungserleben verstärkt also die Auswahl und Nutzung bedrohungsbezogener Medien- und Informationsinhalte, was sich in der Medienlogik (gerade heutiger Plattformkapitalisierungen) direkt monetarisieren lässt. Ein anschauliches Beispiel für den Link zwischen Bedrohungserleben und Mediennutzung stellt das Phänomen des »Doom-Scrolling« dar, eine exzessive Form der Mediennutzung als Reaktion auf akutes Bedrohungserleben. Solche Doom-Scrolling Praktiken sind beispielsweise aus der ersten Phase der Covid-19-Pandemie oder den ersten Wochen des russischen Kriegs gegen die Ukraine bekannt: Ausgehend von einem bedrohungsinduzierten Informationsbedürfnis legten viele Menschen ihre Smartphones zeitweise kaum mehr aus der Hand, obwohl die verfügbaren Informationen das Bedrohungserleben immer weiter verstärkten und sich somit eine Art Teufelskreis aus Bedrohungserleben und Informationsbedürfnis bildete.

Aber auch für Parteien und Politiker*­innen ist es in besonderem Maße attraktiv, Bedrohungslagen zu dramatisieren. So sind spezifische Bedrohungsszenarien bzw. deren Abwendung für Parteien identitätsstiftend (bspw. Umweltzerstörung für Bündnis90/Die Grünen, soziale Ungleichheit für Die Linke, »Überfremdung« für die AfD). Die Betonung der entsprechenden Bedrohungspotentiale stärkt nicht nur den Zusammenhalt der Parteibasis, sondern wird auch als Instrument der politischen Mobilisierung genutzt, um eigene Themen auf die mediale Agenda zu setzen.

Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungsattraktion in der Logik politischer und medialer Systeme ist es nicht verwunderlich, dass Bedrohungslagen häufig eine zentrale Rolle in der medialen Krisenkommunikation einnehmen. Im Kontext paralleler Krisen resultieren daraus leicht konkurrierende Bedrohungsdebatten, in denen politische Themen anhand des Bedrohungspotentials unterschiedlicher Entscheidungsoptionen vergleichend diskutiert werden. Ein Beispiel für eine solche Bedrohungsdebatte ist die öffentliche Diskussion über die Nutzung von »Fracking« zur Gewinnung von Erdgas in Deutschland, die vor dem Hintergrund multipler Bedrohungslagen (Energiemangel vs. Umweltzerstörung) geführt wird. Es geht also primär um die Frage, welche Bedrohung stärker wiegt und daher das politische Handeln eher leiten sollte. Aus sozialpsychologischer Perspektive sind solche Bedrohungsdebatten jedoch riskant.

Bedrohungsdebatten verschärfen gesellschaftliche Polarisierung

Eine Vielzahl psychologischer Studien hat den Einfluss des Bedrohungserlebens auf die Bewertung konflikthafter politischer Fragestellungen untersucht. Dabei konnten zwei sehr unterschiedliche Phänomene identifiziert werden. Bedrohungserleben kann je nach Kontext den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken oder auch die Polarisierung innerhalb einer Gesellschaft begünstigen.

Werden Bedrohungslagen gesamtgesellschaftlich einigermaßen konsensuell als solche bewertet, führt dies dazu, dass innergesellschaftliche Konflikte reduziert werden. Dieses Phänomen wird häufig auch als Schulterschluss-Effekt (»rallying-around-the-flag«) bezeichnet und zeigt sich nicht nur bei politischen Parteien (Chowanietz 2010), sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit (Feinstein 2016). Die Gesellschaft rückt also im Angesicht der externen Bedrohung zusammen. So berichten Menschen als Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Bedrohungslagen wie Terror oder Pandemie eine stärker nationale Identifikation (Kuenhanss et al. 2021) oder auch ein stärkeres Vertrauen in die jeweilige Regierung (Kritzinger et al. 2021).

Der umgekehrte Effekt findet sich jedoch dann, wenn Bedrohungslagen innerhalb einer Gesellschaft kontrovers bewertet werden. Nehmen wir die bereits angesprochene Debatte um Fracking. Ein Teil der Gesellschaft bewertet die Bedrohung durch Energiemangel und den damit verbundenen Wohlstandsverslust besonders hoch. Ein anderer Teil der Gesellschaft bewertet die Gefahr der Verschmutzung von Wasser und die damit verbundene Bedrohung durch Umweltzerstörung besonders hoch. Häufig lassen sich solche Bewertungsunterschiede auf Unterschiede in der Gewichtung von Ziel- und Wert­orientierungen zurückführen. Im Kontext konkurrierender politischer Bedrohungsdebatten werden diese Unterschiede und Konflikte herausgearbeitet und gegeneinander gestellt. In diesem Fall ist eine Art sekundäre symbolische Intergruppenbedrohung wahrscheinlich (siehe Hoffarth und Hodson 2016 am Beispiel Klimawandel): Gesellschaftliche Gruppen nehmen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Wert- und Moralvorstellungen wechselseitig als Bedrohung wahr. Eine solche symbolische Intergruppenbedrohung bereitet den Nährboden für eine Polarisierung der Gesellschaft (siehe auch Amira et al. 2021).

Bedrohungsdebatten begünsti­gen Vermeidungsreaktionen

Die psychologische Bedrohungsforschung lehrt uns, dass individuelle Bewältigungsstrategien im Umgang mit Bedrohung nicht notwendigerweise konstruktiv sind. Sie zielen primär darauf ab, das Bedrohungserleben zu verringern und somit das subjektive Wohlergehen und die wahrgenommene individuelle Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Eine bedrohungsfokussierte Krisenkommunikation riskiert daher individuelle und soziale Reaktionen, die stärker auf die Vermeidung oder Abmilderung des subjektiven Bedrohungserlebens abzielen als auf die konstruktive Lösung existierender gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen. Im Kontext der Covid-19-Pandemie konnte beispielsweise ein bewusstes Vermeiden bedrohlicher Nachrichteninhalte beobachtet werden. Dieses Phänomen dient erwiesenermaßen der Wiederherstellung des subjektiven Wohlbefindens (Yte-Arnbe und Moe 2021). Gerade im Kontext multipler Krisen ist zu erwarten, dass sich viele Menschen mit der Auswahl konstruktiver Bewältigungsstrategien überfordert fühlen. Je geringer aber die individuellen und kollektiven Selbstwirksamkeitserwartungen (d.h. die Erwartungen, Bedrohungslagen aktiv abwenden zu können), desto attraktiver werden palliative Formen der Bewältigung. Hierzu zählen beispielsweise die stärkere Einbettung in private soziale Strukturen, die Orientierung an religiösen oder spirituellen Überzeugungssystemen, aber auch die Entwicklung einer Sündenbocklogik gegenüber einer spezifischen Gruppe, welcher die Verantwortung für die Bedrohungslage zugeschrieben wird (bspw. im Sinne einer Verschwörungstheorie). Diese palliativen Bewältigungsstrategien dienen der persönlichen oder kollektiven Selbstaufwertung und können das Bedrohungserleben lindern, ohne dabei konkret auf die Bedrohungssituation einzuwirken.

Und nun? Vorschläge für eine konstruktive Wendung

Welche Schlussfolgerungen können aus dieser psychologischen Analyse der aktuellen Krisenkommunikation gezogen werden? Zunächst kann festgehalten werden, dass in medialen Debatten über gesellschaftspolitische Themen die kommunikative Fokussierung auf Bedrohungspotentiale für unterschiedliche Akteursgruppen attraktiv ist. Diese Dramatisierungsattraktion macht es schwierig, entsprechende Diskurse grundsätzlich zu versachlichen oder auf Veränderungen kommunikativer Strategien hinzuwirken. Gleichzeitig muss ebenfalls angenommen werden, dass eine allgemeine Tendenz zur Dramatisierung und Zuspitzung entsprechender Bedrohungsdebatten für die Gesellschaft negative Entwicklungen zur Folge hätte. Neben dem Risiko einer Polarisierung in unversöhnliche gesellschaftliche Extremgruppen ist auch ein erlebter Verlust an individueller und kollektiver Wirkmächtigkeit im Umgang mit Bedrohungslagen zu befürchten. In der Folge werden individuelle Vermeidungsreaktionen (bspw. »news-avoidance«) oder palliative Strategien des Umgangs mit dem Bedrohungserleben wahrscheinlicher und kollektive Anstrengungen einer konstruktiven Problembewältigung dadurch erschwert. Wir haben es also mit einem sozialen Dilemma zu tun, bei dem die Interessen individueller und organisationaler kommunikativer Akteure im Konflikt mit den Interessen der Gemeinschaft stehen.

Ich möchte zwei Ansatzpunkte für eine konstruktive Wendung dieses Dilemmas vorschlagen. Beide Vorschläge resultieren mehr oder weniger direkt aus der vorgenommenen sozialpsychologischen Analyse und zielen darauf ab, individuelle und kollektive Selbstwirksamkeitserwartungen im Umgang mit Bedrohungslagen zu stärken. Wie kann dies gelingen? Ein erster Ansatzpunkt besteht darin, Bedrohungslagen so zu verstehen und entsprechend zu kommunizieren, dass ein Schulterschluss-Effekt erzielt wird. Es geht also darum, dass Bedrohungslagen in einen positiven Zielzustand übersetzt werden, hinter dem sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung versammeln kann. Dies setzt voraus, dass einzelne Bedrohungslagen nicht durch die Abgrenzung und Konkurrenz zu anderen Bedrohungslagen definiert werden, sondern diese konstruktiv integrieren. So integriert beispielsweise das Ziel langfristig sicherer Lebensbedingungen in Europa sowohl den Schutz vor Umweltkatastrophen als auch vor Krieg und Rezession. Ein echter Schulterschluss-Effekt kann dabei nicht per Dekret („Wir schaffen das!“) erwirkt werden, sondern setzt eine geteilte Zielperspektive voraus.

Ein zweite Möglichkeit der konstruktiven Wendung von Bedrohungsdebatten besteht darin, individuelle und kollektive Möglichkeiten einer effektiven und konstruktiven Bewältigung kommunikativ stärker in den Fokus zu rücken und dadurch Selbstwirksamkeitserwartungen zu stärken. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass wirksame Formen des Handelns identifiziert und kommuniziert werden. Komplexe gesellschaftliche Bedrohungslagen wie Krieg oder Klimawandel sind zwar durch individuelles Handeln schwer zu verändern. Einzelpersonen oder auch soziale Gruppen können durch ihr Handeln aber eine Symbol- und Modellwirkung erzielen. Diese Effekte werden aktuell noch nicht ausreichend gewürdigt und kommunikativ genutzt. Individuelle und kollektive Selbstwirksamkeitserwartungen können auch dadurch gestärkt werden, dass vergangene Erfolge in der Bewältigung von Problemlagen sichtbar gemacht werden. Solche Erfolgsgeschichten werden in gesellschaftlichen Bedrohungsdebatten häufig nicht angemessen abgebildet und tragen dadurch bislang wenig zur Stärkung von Selbstwirksamkeitserwartungen bei.

Literatur

Bar-Haim, Y.; et al. (2007): Threat-related attentional bias in anxious and nonanxious individuals: a meta-analytic study. Psychological Bulletin 133(1), S. 1-24.

Chowanietz, C. (2011): Rallying around the flag or railing against the government? Political parties’ reactions to terrorist acts. Party Politics 17(5), S. 673-698.

Ciampaglia, G. L.; Flammini, A.; Menczer, F. (2015): The production of information in the attention economy. Scientific Reports 5(1), S. 1-6.

Feinstein, Y. (2020): Applying sociological theories of emotions to the study of mass politics: The rally-round-the-flag phenomenon in the United States as a test case. The Sociological Quarterly 61(3), S. 422-447.

Festinger, L. (1957): A theory of cognitive dissonance. Evanston, IL: Row & Peterson.

Hoffarth, M. R.; Hodson, G. (2016): Green on the outside, red on the inside: Perceived environmentalist threat as a factor explaining political polarization of climate change. Journal of Environmental Psychology 45, S. 40-49.

Jonas, E. et al. (2014): Threat and defense: From anxiety to approach. Advances in experimental social psychology 49, S. 219-286.

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Martínez, C. A.; van Prooijen, J. W.; Van Lange, P. A. (2022): A threat-based hate model: How symbolic and realistic threats underlie hate and aggression. Journal of Experimental Social Psychology 103, 104393.

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Rozin, P.; Royzman, E. B. (2001): Negativity bias, negativity dominance, and contagion. Personality and Social Psychology Review 5(4), S. 296-320.

Stephan, C. W.; Stephan, W. G. (2000): The measurement of racial and ethnic identity. International Journal of Intercultural Relations 24(5), S. 541-552.

Van Aelst, P., et al. (2017): Political communication in a high-choice media environment: a challenge for democracy? Annals of the International Communication Association 41(1), S. 3-27.

Ytre-Arne, B.; Moe, H. (2021): Doomscrolling, monitoring and avoiding: news use in COVID-19 pandemic Lockdown. Journalism Studies 22(13), S. 1739-1755.

Tobias Rothmund ist Professor für Kommunikations- und Medienpsychologie an der Friedrich-Schiller Universität Jena. Er forscht zu psychologischen Perspektiven auf politische Kommunikation im Kontext digitaler Medien.

Krieg und Frieden in den Medien

Krieg und Frieden in den Medien

Tagung der IALANA, 26.-28. Januar 2018, Kassel

von Stefan Hügel

Ende Januar fand ein von IALANA Deutschland organisierter Medienkongress statt. Er befasste sich kritisch mit der Kriegsberichterstattung in den Medien, die seit einiger Zeit Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen ist. Leitfrage des Kongresses war: Kann man ein Leitbild »Friedensjournalismus« etablieren, das der Wahrheit verpflichtet ist und deeskalierende Berichterstattung betreibt? Der Kongress war sehr gut besucht, die CROSS-Jugendkulturkirche in Kassel gut gefüllt.

»Klassische« Medien sind zunehmend Kritik ausgesetzt. Sie werden verdächtigt, Propaganda zu betreiben und allzu »staatsnah« von Ereignissen zu berichten. Diese Kritik nimmt seit dem Konflikt in der Ukraine zu, in dem vor allem den öffentlich-rechtlichen Medien eine zu deutliche – und sachlich nicht immer gerechtfertigte – Schuldzuweisung an Russland vorgeworfen wird. Unter Druck geraten klassische Medien auch durch die Kommunikation in sozialen Netzwerken und allgemein im Internet, in dem sich eine Vielfalt von Ansichten und (vermeintlichen) Fakten verbreitet – von den »News« zu den »Fake News« ist es oft nur ein einziger Mausklick. Verstärkt wird dies durch politische Akteure, allen voran US-Präsident Trump, die ihre eigene Sicht zu aktuellen Ereignissen verbreiten und einen erheblichen Einfluss darauf ausüben, was für »wahr« gehalten wird – und was nicht.

Gleichzeitig stehen gegen kritische Journalist*innen Vorwürfe im Raum, Verschwörungstheorien zu verbreiten, gar Antisemitismus. Auf Twitter wurden solche Behauptungen auch gegen diese Veranstaltung laut. Die unterstellte Verbindung zwischen antisemitischen Medien und Journalist*innen, die auch auf dieser Veranstaltung zu Wort kamen, wurde von den Veranstaltern entschieden zurückgewiesen. Dennoch wird ein Dilemma deutlich: Wann werden tatsächlich mit Verschwörungstheorien allzu einfache Erklärungen präsentiert, und wann wird der Vorwurf der Verschwörung dafür eingesetzt, missliebige Fragen und Interpretationen zu ersticken? Eine Antwort darauf kann man vielleicht nur im konkreten Einzelfall geben.

Zum Programm: Nach der Themeneinführung am Freitagabend befassten sich die Referate am Samstagvormittag mit der Frage, wie in den Medien über Krieg berichtet wird und warum genau in dieser Weise berichtet wird. Dabei ging es vor allem um die Frage, wer auf Medien Einfluss nimmt. Auch die inneren Strukturen der Medien spielen eine Rolle: Welche Kontrollstrukturen und -gremien gibt es und welchen Einfluss haben sie auf die Inhalte?

Konkrete Themen waren Inhalt des nächsten Blocks: Die Berichterstattung über den Kosovo-Krieg, der Krieg in Syrien, die illegalen Kriege der USA, die Konfrontationspolitik gegenüber Russland wurden hinsichtlich möglicher Manipulation der Öffentlichkeit kritisch beleuchtet. Daraus ergibt sich die Frage, wie wir uns gegen solche Manipulation schützen können.

Eine systematische Aufarbeitung von Propaganda und den Möglichkeiten ihrer Erkennung bildete den Auftakt zum Sonntag. Danach gab es Schlaglichter auf die Rolle von Public-Relations-Agenturen und auf die formalen Wege, um auf die Berichterstattung in den Medien als Einzelperson Einfluss zu nehmen, wie Programmbeschwerden, Gegendarstellungen oder gerichtliche Anordnungen. Einige alternative Medien wurden vorgestellt: NachDenkSeiten, weltnetz.tv, correctiv und RUBIKON. Den Abschluss bildete die Diskussion der Möglichkeiten von alternativen Medien.

Der Kongress gab – so mein Fazit – einen sehr guten Überblick über alternative Medien und war gleichzeitig stark durch die Kritik an den »klassischen« Medien geprägt – deren Vertreter*innen allerdings kaum präsent waren. Offenbar hatten eingeladene Vertreter*nnen klassischer Medien ihre Teilnahme abgesagt. Dies führte dazu, dass die Diskussionen nicht übermäßig kontrovers waren. Dass Journalismus interessengeleitet sein kann, ist nichts Neues und muss offen diskutiert werden. Sich dieser Diskussion zu entziehen hilft ebenso wenig weiter, wie die eigene kritische Meinung in Echokammern zu reproduzieren.

Auch eine intensivere Auseinandersetzung mit den »Verschwörungs«-Vorwürfen wäre wohl notwendig: Auch wenn man sich dieser Kritik nicht anschließen mag, die Aussagen stehen im Raum und können nicht ignoriert werden.

Zweifellos lässt sich all dies nicht an einem einzelnen Wochenende aufarbeiten. Wollte man sich als Teilnehmer*in über alternative Medien und fundierte Kritik an klassischen Medien informieren, war der Besuch des Kongresses absolut lohnenswert.

Eine Dokumentation des Medienkongresses findet sich unter ialana.de. Die Veranstaltung wurde durch Weltnetz.tv aufgezeichnet; Aufzeichnungen einiger Vorträge finden sich unter weltnetz.tv/dossier.

Stefan Hügel

Wem kann ich trauen im Netz?

Wem kann ich trauen im Netz?

FIfF-Konferenz 2017, 20.-22. Oktober 2017, Universität Jena

von Stefan Hügel

Am Wochenende vom 20. bis 22. Oktober 2017 fand an der Universität Jena die FIfF-Konferenz 2017 »TRUST – Wem kann ich trauen im Netz und warum?« statt. Die FIfF-Konferenz ist die jährliche Konferenz des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.

Vertrauen ist die Basis, auf der unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Wenn wir einander nicht mehr vertrauen können, funktioniert unser Zusammenleben nicht – das gilt auch im Netz. Wenn wir Dienste im Internet nutzen, müssen wir den Anbietern vertrauen können, dass sie die entsprechenden Leistungen erbringen und die Daten, die wir ihnen senden, verantwortungsvoll verwenden.

Doch das Vertrauen wird heute im Netz täglich verletzt, sowohl illegal als auch legal. Wir müssen uns vor kriminellen Menschen schützen, die unser Vertrauen missbrauchen. Spätestens seit den Veröffentlichungen des Whistleblowers Edward Snowden wissen wir aber auch, dass Behörden unsere Kommunikation umfassend ausspähen. Formaljuristisch ist dies häufig legal, verfassungsrechtlich bestehen aber erhebliche Zweifel, wie bereits mehrfach höchstrichterlich festgestellt wurde. Dazu kommt der Datenhunger der Diensteanbieter, die ihre Geschäftsmodelle auf der Nutzung der Daten aufbauen und dies zum Beispiel durch für den Laien unverständliche Nutzungsbedingungen formaljuristisch legalisieren. Dem soll mit dem neuen europäischen Datenschutzrecht gegengesteuert werden, doch inzwischen wissen wir, dass gerade die deutsche Bundesregierung massiv versucht, dieses Recht aufzuweichen und zu bremsen. Auch damit wird Vertrauen zerstört.

Ziel der FIfF-Konferenz war, die Bedeutung des Vertrauens umfassend zu thematisieren. Die Tagung war dafür in mehrere Blöcke aufgeteilt: Der Block »Cyberpeace statt Cyberwar« behandelte die Risiken, die sich aus der zunehmenden Militarisierung des Netzes ergeben. Die Bundeswehr will ihre Aktivitäten im Netz erheblich ausweiten und dabei auch Angriffskapazitäten aufbauen. Eine besonders perfide Form des Cyberkriegs ist die Nutzung von Drohnen, die die Opfer Tag und Nacht ständiger Bedrohung aussetzen.

Verlorenes Vertrauen kann durch ein besonderes Maß an IT-Sicherheit wiederhergestellt werden. Der Themenblock »IT-Sicherheit« behandelte den Zusammenhang zwischen Vertrauen und Sicherheit. Neben der Frage, ob Vertrauen und IT-Sicherheit im Gegensatz zueinander stehen, wurde der Zusammenhang anhand der Beispiele Open-Source-Software und Spam betrachtet.

Thema von zwei Vorträgen im Themenblock »Medien und soziale Netzwerke« war die Nutzung von Medien für die zivile Sicherheit. Ein Vortrag beschrieb ein unabhängiges Radioaktivitätsmessnetz im Umkreis der belgischen Atomreaktoren Tihange und Doel, wo eine zivilgesellschaftliche Initiative – zunächst in Aachen – zur Selbsthilfe griff, nachdem öffentliche Stellen dem in sie gesetzten Vertrauen nicht gerecht wurden. Der zweite Vortrag erläuterte die Nutzung von Daten aus sozialen Netzwerken durch Einrichtungen wie Feuerwehr oder Technisches Hilfswerk, um schneller und effizienter Hilfe leisten zu können. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit öffentlich-rechtlicher Medien, die in letzter Zeit häufiger in Zweifel gezogen wurde, stellte Prof. Dr.-Ing. Gabriele Schade, vormals Vorsitzende (und derzeit stellvertretende Vorsitzende) des MDR-Rundfunkrats, in ihrem abschließenden Beitrag.

Der letzte Block behandelte die Frage der »Transparenz«. Transparenz ist ein entscheidender Faktor, um Vertrauen zu gewinnen. Die Referent*innen befassten sich mit der besonderen Bedeutung der IT-Sicherheit im Gesundheitswesen, mit der Attribuierung von Cyberattacken und deren Interpretation in Medien und Politik, mit den Herausforderungen des Identitätsmanagements sowie mit Problemen und Perspektiven von Free-to-Play-Spielen.

Ergänzt wurden die Vorträge wie gewohnt durch eine Reihe von Workshops. Am Samstagabend hielten wir Rückschau auf das vergangene Jahr und die Aktivitäten des FIfF. Der diesjährigen FIfF-Studienpreis wurde an Tobias Krafft für seine an der Technischen Universität Kaiserslautern erstellten Masterarbeit »Qualitätsmaße binärer Klassifikatoren im Bereich kriminalprognostischer Instrumente der vierten Generation« verliehen. Dietrich Meyer-Ebrecht, der aus persönlichen Gründen sein Engagement reduzieren möchte, wurde vom Vorstand des FIfF für seine langjährige Arbeit herzlich gedankt. Wir freuen uns sehr, dass er weiterhin, wenn auch in geringerem Umfang, beim FIfF aktiv bleiben wird.

Den Abschluss der Tagung bildete am Sonntag die Mitgliederversammlung mit der Neuwahl des FIfF-Vorstands. Dieser blieb fast unverändert: Stefan Hügel wurde wieder zum Vorsitzenden, Rainer Rehak als Nachfolger von Dietrich Meyer-Ebrecht zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt.

Stefan Hügel

Neue Medien als Friedensressource?


Neue Medien als Friedensressource?

von Vladimir Bratic

Die letzten drei Jahrzehnte konnten wir beobachten, dass Medien in Konfliktzonen durchaus eine kon­struktive Rolle spielen können. ­Diese Entwicklung ist relativ neu und erfreulich. Zuvor standen die Medien vorwiegend im Dienst mächtiger Parteien, die sie dazu nutzten, ihren Einfluss auszuweiten – und das bedeutete allzu oft, Konflikte anzuheizen. Von den einfachen Kommunikationsmitteln der römischen Armeen bis zu Hitlers Propagandatechniken dienten die Medien den Machtzentren als passives Werkzeug der Massenkommunikation. Mit Aufkommen der neuen Medien hat sich die Situation nun geändert. Der Artikel untersucht das Potential der neuen Medien als Werkzeuge für den Frieden.

Die positive Nutzung von Medien in Konfliktsituationen reicht bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, als sich die internationale Gemeinschaft auf Fragen der internationalen Entwicklung mit Schwerpunkt auf Armutsbekämpfung, Gesundheitsfürsorge und Krankheitsverhütung konzentrierte. Zu dieser Zeit wurden die Medientechnologien zunehmend transportabel, einfacher zu bedienen, billiger und zugänglicher. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit können seither nicht nur Regierungen und große Medienunternehmen, sondern auch Bürger*innen eigene Massenmedienkanäle besitzen und betreiben. Vielen engagierten Bürger*innen gelang es mithilfe von Nichtregierungsorganisationen, eigene Radiostationen, Fernsehnetze und Zeitungen aufzubauen, da dafür keine großen Maschinen, teure Einrichtungen oder spezielle Fachkenntnisse mehr erforderlich waren. Die Vereinten Nationen waren die Ersten, die in ihre Peacekeeping-Missionen ein eigenes Medienangebot einbanden (eine Radiostation in Kambodscha und gedruckte sowie audiovisuelle Materialien in Namibia).

Seitdem setzten viele andere staatliche und nicht-staatliche Akteure gezielt Programme zur Finanzierung und Produktion von Medieninhalten für Gesellschaften in Konfliktsituationen auf. Ziel ist dabei die Hilfestellung für die Lösung von Streitigkeiten und gewalttätigen Konflikten durch gewaltfreie Verhandlungen, und zwar auf politischer wie auf bürgerschaftlicher Ebene. Nach dem Konflikt in Bosnien und Herzegowina gab allein die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) nach eigenen Angaben mehr als 1,6 Mrd. US$ für friedensfördernde Aktivitäten aus.1 Sie investierte großzügig in neue Radio- und Fernsehnetzwerke (Open Broadcast Network und Free Election Radio Network/Radio FERN). Nach dem Genozid in Ruanda erreichte in den späten 1990er Jahren eine Radio-­Soap-Opera über das Leben benachbarter Hutu- und Tutsi-Familien und eine daraus entstehende Liebesgeschichte über die ethnischen Grenzen hinweg 80 % der Bevölkerung.2 In Nordirland startete die führenden Werbeagentur McCann Erickson nach dem Karfreitagsabkommen von 1999 eine Medienkampagne, die den Bürger*innen von Nordirland auf Plakatwänden, in Postwurfsendungen und in Radio- sowie TV-Spots die Vorteile des Friedens erläuterte.

Fachleute, die friedensorientierte Medienarbeit durchführten, erkannten aber bald, dass Propaganda, Volksverhetzung und Drohungen gegen Journalist*innen auszuschalten ebenso wichtig ist wie positive Medieninhalte zu produzieren. Deshalb legten viele Länder in ihrer Nachkonfliktphase großen Wert auf die Einführung von Mediengesetzen und den Aufbau von Behörden oder Institutionen zur Medienkontrolle.

Über das Internet kann inzwischen jede*r mit einem Handy, einem Blog oder einem Profil in den sozialen Medien selbst Informationen für ein Massenpublikum erzeugen. Und auch zum Peacekeeping wurden das Internet und mobile Technologien als Massenkommunikationsmittel bald eingesetzt. Ein Beispiel: In Kenia brachen nach der Bekanntgabe der Präsidentschaftswahlergebnisse am 30. Dezember 2007 Unruhen aus. In dieser Situation organisierte Ushahidi, eine kleine Gruppe von Aktivist*innen, eine Online-Plattform, über die Gewaltausbrüche per SMS gemeldet werden konnten. Die Vorfälle wurden auf einer Google-Karte verzeichnetet und warnten die betroffene Bevölkerung, gewisse Gebiete vorübergehend zu meiden. Neu war dabei, dass die Informationen über die Gewaltausbrüche vor Ort nicht von Journalist*innen, sondern per SMS direkt von den Bürger*innen selbst kamen.

Im Lauf der letzten 30 Jahre haben sich vier Kernbereiche herauskristallisiert, in denen Medien beim Peacebuilding wirksame Partner sein können, nämlich Journalismus, Unterhaltung und Marketing, gesetzliche Regelungen und in jüngster Zeit die neuen Medien. Guter Journalismus ist für den Frieden äußerst wichtig, denn er kann gleich mehrere Funktionen erfüllen, die die Macht von Konfliktstiftern eindämmen und der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen. Deshalb floss in den letzten Jahren zur Stärkung eines professionellen Journalismus viel Geld in Schulungsmaßnahmen, in die Unterstützung unabhängiger Medien und in die Pluralisierung von Medienangeboten.

Unterhaltung wird oft als triviale Freizeitaktivität abgetan und nur selten als Vehikel für einen politischen Wandel in Betracht gezogen. Dabei wird erheblich unterschätzt, in welchem Maße Unterhaltungsshows dazu beitragen können, Einstellungen zu ändern, Werte zu beeinflussen und das Publikum auf Versöhnung einzustimmen.

Geschicktes Marketing hat sich ebenfalls bewährt, um größere Hürden für den Frieden zu adressieren. Minenräumkampagnen, Werbung für das Recht von Flüchtlingen auf Rückführung in ihre Heimat, Lobbyarbeit für den Abschluss von Friedensabkommen sind nur einige erfolgreiche Beispiele.

Trotz dieser positiven Entwicklungen sind Propaganda, Volksverhetzung, Gewalt gegen Journalist*innen sowie die Medienzensur nach wie vor relevante Hindernisse für einen anhaltenden Frieden. Daran werden auch positive Geschichten, die über journalistische, Marketing- oder Unterhaltungskanäle verbreitet werden, kaum etwas ändern. Vielmehr werden umfassende Mediengesetze und Kontrollsysteme gebraucht mit einer Kombination aus gesetzlichen Regelungen gegen Volksverhetzung, Verhaltenskodizes für Journalisten, Gesetzen gegen Verleumdung und üble Nachrede sowie Aufsichtsbehörden, die die Umsetzung dieser Gesetze überwachen und durchsetzen können.

Schließlich könnten die neuen Medien die fruchtbarsten Werkzeuge für den Frieden werden, sie bergen aber auch ein hohes Potential, Konflikte anzuheizen. Gut organisierte Nichtregierungsorganisationen, die im Friedensbereich aktiv sind, setzen die neuen Technologien (Mobiltelefone, soziale Medien und ganz allgemein das Internet) bereits vielfältig zur Beeinflussung von Konfliktsituationen ein. Beispiele dafür sind die Satellitenüberwachung von Konfliktzonen, die Sammlung, Analyse und Darstellung von humanitären Bedarfen in Konflikten (crisis mapping), Social-Media-Kampagnen von Aktivist*innen oder die Einbindung von Bürger*innen in die Berichterstattung per Blog, Video oder SMS.

Neue Medien: unsere letzte und beste Hoffnung für Frieden?

In den letzten Jahren wurden soziale Medien ein omnipräsenter Teil des modernen Lebens und der sozialen Interaktion von Menschen aller Altersgruppen. Kaum ein Aspekt des modernen Lebens ist nicht von sozialen Medien betroffen, sei es das Geschäftsleben, der Bildungsbereich oder die Politik. Die sozialen Medien gehören untrennbar zu den neuen technischen Geräten (Tablets, Mobiltelefone und Smart-TV). In den USA greifen 80 % der Smartphone-Benutzer*innen nach dem Aufwachen als erstes nach ihrem Handy.3 Daher wundert es nicht, dass soziale Medien und neue Technologien inzwischen wichtige Werkzeuge für den Frieden wie auch für den Konflikt sind. Facebook, Twitter, YouTube und Apps für smarte Geräte entwickelten sich in den Propagandakriegen in Syrien und der Ukraine zu neuen Frontlinien. Längst vorbei sind die Zeiten, als al-Qaida Videobänder verschickte. Heute werden professionell bearbeitete Videos des »Islamischen Staates« in HD-Qualität über soziale Medien verbreitet und über soziale Netzwerke global beworben. Die Frage ist also, ob die neuen Medien und Technologien anstatt zur Verbreitung konfliktfördernder Ideologien genauso gut zur Ausweitung friedensfördender Aktivitäten taugen.

Dafür gibt es zahlreiche Belege. Am bekanntesten ist die Nutzung von sozialen Medien im »Arabischen Frühling«, als sie von entscheidender Bedeutung für die Organisation von Treffen waren, die letztlich zum Sturz der autoritären Regime führten. Im Dezember 2010 begann in Tunesien die Revolte gegen Präsident Ben Ali,4 als sich das Handy-Video des ersten Protests über YouTube und Facebook in der arabischen Welt ausbreitete.5 Etwa zur selben Zeit organisierte ein Ägypter namens Wael Ghonim in einer Facebook-Gruppe über 100.000 Menschen für die Demonstration vom 25. Januar 2011 gegen Präsident Hosni Mubarak.6 2009 wurden im Iran ähnliche Proteste federführend über Twitter organisiert. Die Massenmedien tauften diese Proteste daher bald »Twitter-Revolution« und »Facebook-Revolution«. Allerdings vereinfachen diese Anekdoten die tatsächlichen Gegebenheiten, übertreiben die Rolle der neuen Technologie und vernachlässigen den persönlichen Einsatz der Menschen vor Ort.

Aus den neuen Möglichkeiten der Menschen, Informationen zu teilen, haben sich zwei neue Techniken entwickelt: das so genannte Crowdsourcing und die Sammlung von »Big Data«. Crowdsourcing ist die Produktion von Wissen oder Medieninhalten mittels Informationen, die viele an einem Ereignis beteiligte Menschen beisteuern. Werden die Datenmengen so groß, dass sie nur noch mit automatischen Tools verarbeitet werden können, wird das als »Big Data« bezeichnet. Sowohl Crowdsourcing als auch Big Data kommen in vielen Krisengegenden zum Einsatz. Die Arbeit der Gruppe Ushahidi in Kenia wurde oben bereits erwähnt. In den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Libyen 2011 nutzte das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen die Plattform von Ushahidi, um die unmittelbare humanitäre Krise besser zu verstehen. Die per SMS übermittelten Daten wurden in Echtzeit in einer Krisenkarte zusammengefasst, die mehr als 2.000 Berichte über Sicherheitsprobleme, Fluchtbewegungen und humanitäre Bedarfe verzeichnete. Der Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen bestätigte anschließend, dass die Krisenkarte bei der Planung der Hilfsprogramme entlang der Grenzen zu Ägypten und Tunesien als eine Hauptinformationsquelle diente.7

In schwer zugänglichen Konfliktregionen kommt darüberhinaus Satellitenüberwachung zum Einsatz. Staatliche und nichtstaatliche Organisationen nutzen hoch aufgelöste Satellitenbilder kommerzieller Satellitenbetreiber, um Ereignisse vor Ort (z.B. Truppenmobilisierung und -bewegungen, Gewaltausbrüche, Zerstörung, Massengräber) zu dokumentieren und auszuwerten, weitere Verbrechen zu verhindern und die Strafverfolgung einzuleiten. Diese technische Möglichkeit durchkreuzt die Annahme der Täter, anonym und straffrei agieren zu können. Zwei solche Projekte, »Eyes on Darfur« (Augen auf Darfur) und »Satellite Sentinel« (Satellitenwächter) wurden initiiert, um die Situation im Sudan und Südsudan zu verfolgen. Die Satellitenüberwachung zeigte erkennbare Ergebnisse: Das Verhalten und die Bewegungsmuster der Janjaweed-Milizen veränderten sich, Lokalregierungen reagierten, es wurden weniger Dörfer in den überwachten Regionen überfallen, und die Regierung des Tschad entschied, die Stationierung von Friedensgruppen an ihrer Grenze zuzulassen.8

Die Sammlung und Verteilung von Informationen war zuvor die Domäne professioneller Journalist*innen, deren Hauptaufgabe es ist, die Öffentlichkeit zu informieren. Die neuen Technologien habe nun eine Vielzahl von Akteur*innen in die Lage versetzt, selbst Informationen zu sammeln und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Da die sozialen Medien kostenlos und einfach zu nutzen sind, können jetzt ganz unterschiedliche Interessensgruppen selbst Informationen sammeln, Lobbyarbeit betreiben und ein Massenpublikum ansprechen. Die Nutzung von Satellitenbildern, wie im Projekt »Eyes on Darfur«, ist nur ein Beispiel, wie mithilfe der so gewonnenen Informationen gleichzeitig die Öffentlichkeit informiert und die eigenen Handlungsspielräume ausgeweitet werden können.

Grund zur Sorge

Dennoch werden auch die neuen Technologien viel zu häufig eingesetzt, um Hürden für den Frieden aufzubauen: Autoritäre Akteure und Terroristengruppen führen erfolgreich ihre Propagandakriege; das Recht zur Meinungsäußerung wird online unterdrückt; anonyme Hass­reden und Volksverhetzung verbreiten sich über das Netz. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fand in einer umfangreichen Studie zu Krisenfrühwarnung und -prävention heraus, dass ein Genozid wie der von 1994 in Ruanda im Jahr 2009 hätte ebenso wenig verhindert werden können.9 Militante Gruppen fühlen sich ermutigt durch die Möglichkeit, mit ihrer Online-Propaganda ein breites Publikum zu erreichen. Online ist ihr Potential zur Konfliktverschärfung oft erheblich größer als ihre physische Präsenz.10 Ob von lokalen Aufständischen wie im Irak oder von global agierenden Terroristenorganisationen wie al-Qaida und dem »Islamischen Staat«: Ihre widerliche Rhetorik und ihre Audio- und Videopropaganda durchziehen sämtliche soziale Netzwerke, sei es Facebook, YouTube, Twitter oder Instagram.11

Außerdem unterdrücken weiterhin autoritäre Regierungen die Grundrechte der Menschen auf Rede- und Informationsfreiheit. Entsprechende Versuche der Zensur von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken sind aus China,12 Ägypten13 und Iran14 vielfach belegt. Der saudi-arabische Blogger Raif Badawi wurde wegen »Beleidigung des Islam« zu einer langen Haftstrafe, einer hohen Geldstrafe sowie zu 1.000 Peitschenhieben verurteilt.15 In Bangladesh wurden im vergangenen Jahr etliche Blogger, die über säkulare Themen schrieben, in aller Öffentlichkeit mit Macheten ermordet.16

Fazit

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass die neuen Medien ganz ähnlich eingesetzt werden wie die traditionellen. Propaganda, Übergriffe auf Journalist*innen und die Unterdrückung der Redefreiheit verschwinden nicht mit den neuen Technologien und den sozialen Medien. Bis zum Ende des Kalten Krieges dominierte bei der Mediennutzung die Propaganda, seither werden Medien auch zum Peacebuilding eingesetzt. Dies wirkte sich in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und in Asien durchaus positiv auf die Sicherheitslage aus.17 Die neuen Technologien stellen zusätzliche Tools und Ressourcen zur Verfügung, die zum Kontern gewalttätiger Konflikte sinnvoll eingesetzt werden können. Mit neuen Medien kann die Zivilgesellschaft informiert, beteiligt und mobilisiert werden. Insgesamt haben die neuen Medien die Möglichkeiten von Friedensakteuren, ihre Ziele zu erreichen, auf allen Ebenen verbessert. Dass Medien für ganz unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden, für gute und für schlechte, daran wird sich aber auch mit den neuen Technologien nichts ändern.

Anmerkungen

1) USAID (2016): Bosnia and Herzegovina History; usaid.gov, last update September 1, 2016.

2) Radio Netherlands (2004): Peace Radio – Burundi. Abgerufen am 29. Juli 2004 auf rnw.nl.

3) Stadd, A. (2013): 79 % Of People 18-44 Have Their Smartphones With Them 22 Hours A Day [STUDY]. addweek.com, April 2, 2013.

4) Fahimi, K. (2011): Slap to a Man’s Pride Set Off Tumult in Tunisia. New York Times, January 21, 2011.

5) Auslöser der Proteste war ursprünglich die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers, der sich aus Verzweiflung über die Schikanen der Sicherheitskräfte mit Benzin begoss und anzündete. [R.H.]

6) Giglio, M. (2011): Reluctant Revolutionary. Newsweek, 31.10.2011, S. 45-45.

7) Bailard, C. (2012): Mapping the Maps – A Meta-Level Analysis of Ushahidi and Crowdmap. Washinton, D.C.: Internews Center for Innovation & Learning, May 2012.

8) Meier, P. (2010): Will Using »Live« Satellite Imagery to Prevent War in the Sudan Actually Work? Blog irevolution.net, December 30, 2010.

9) OECD(2009): Violence, War and State Collapse – The Future of Conflict Early Warning and Response. Paris: OECD.

10) Weimann, G. (2010): Terror on Facebook, Twitter, and Youtube. Brown Journal of World Affairs, Vol. 16, No. 2, S. 45-54.

11) Weimann, G. (2014): New Terrorism and New Media. Washington, D.C.: Woodrow Wilson International Center for Scholars, Common Lab research series No. 2.

12) MacKinnon, R. (2011): China’s »networked authoritarianism«. Journal of Democracy, Vol. 22, No. 2, S. 32-46.

13) Sakr, N. (2010): News, transparency and the effectiveness of reporting from inside Arab dictatorships. International Communication Gazette, Vol. 72, No. 1, S. 35-50.

14) Golkar, S. (2011): Liberation or Suppression Technologies? The Internet, the Green Movement and the Regime in Iran. Inter­national Journal of Emerging Technologies & Society. Vol. 9, No. 1, S. 50-70.

15) Burke, J. (2015): Saudi blogger Raif Badawi may receive second set of lashes on Friday. ­theguardian.com, 11 June 2015.

16) Chandler, A. (2015): The Final Posts of a Murdered Blogger. The Atlantic, May 15, 2015.

17) Stauffacher, D.; Weekes, B.; Gasser, U.; Maclay, C.; Best, M. (eds.) (2011): Peacebuild­ing in the Information Age – Sifting Hype from Reality. Geneva: ICT4Peace Foundation.
Livingston, S.L. (2011): Africa’s Evolving Infosystems – A Pathway to Security and Stability. Boulder, Colorado: Africa Center for Strategic Studies, Research Paper No. 2.

Vladimir Bratic, Ph.D., ist Associate Professor für Communication Studies an der Hollins University in Roanoke, Virginia/USA.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Gefährliche Symbiose?

Gefährliche Symbiose?

Neonazis und ihr Verhältnis zu den Medien

von Katharina Neumann

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen terroristischen, auch neonazistischen, Akten und der Medienberichterstattung darüber. Spektakuläre Vorfälle greifen die Medien gerne auf, um ihre Auflagen zu steigern. Im Gegenzug erhalten die Akteure eine hohe Aufmerksamkeit, die sie zur Selbstdarstellung nutzen können. Die Autorin geht hier der Frage nach, welche Rückwirkungen die Berichterstattung über Rechtsextremismus auf die rechte Subkultur hat und ob eine bestimmte Form der Berichterstattung zur Nachahmung inspiriert bzw. diese eher verhindert. Im Fokus der Untersuchung steht, welche Effekte durch Berichterstattung über Rechtsextremismus innerhalb der rechtsextremen Szene selbst ausgelöst werden.

Am 22. Juli 2011 starben in Oslo und auf der Insel Utøya 77 junge Menschen bei terroristischen Anschlägen mit rechtsextremem Hintergrund. Der Attentäter, Anders Breivik, begründete seine Taten wie folgt: „Ich wollte genug töten, damit die Veröffentlichung meines Manifests genug Aufmerksamkeit in der Weltpresse auf sich zieht. Die Operation war nur eine Formalität.“ (zitiert in Traufetter 2011). Viele Medien entschieden sich dennoch für eine ausführliche Berichterstattung. Die Terrorismusforschung spricht in diesem Zusammenhang von einer „symbiotischen Beziehung“ (Glaab 2007, S. 13). So liefern Terroristen den Medien publikumsgenerierende Inhalte, während sie im Gegenzug mediale Aufmerksamkeit erhalten und die damit verbundene Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Eine solche symbiotische Beziehung birgt für Journalist*innen ein Dilemma: Wie sollen Medienmacher*innen die Öffentlichkeit informieren und aufklären, ohne ideologischem Gedankengut eine Plattform zu geben? Dass dieser Spagat durchaus schwierig sein kann, darauf deutet die Tatsache hin, dass, wie schon nach früheren Berichterstattungswellen über fremdenfeindliche Anschläge (Brosius und Esser 2002), auch in den Monaten nach der Aufdeckung der NSU-Morde die Anzahl fremdenfeindlicher Gewaltverbrechen sprunghaft anstieg und bundesweit bis heute auf einem hohen Niveau verblieben ist: In Deutschland werden laut dem jüngsten Verfassungsschutzbericht durchschnittlich drei rechtsextreme Gewalttaten pro Tag verübt (Verfassungsschutzbericht, 2015).

Es stellt sich demnach die Frage, welche Rückwirkungen die Berichterstattung über Rechtsextremismus auf die rechte Subkultur hat und ob eine bestimmte Form der Berichterstattung zur Nachahmung inspiriert bzw. diese eher verhindert (vgl. Neumann und Baugut 2016). Ebendiesen Fragen geht die hier vorgestellte Studie nach. Die forschungsleitende Frage lautet: Welche Effekte werden durch Berichterstattung über Rechtsextremismus innerhalb der rechtsextremen Szene ausgelöst?

Durch die Beantwortung dieser Frage sollen Wege für einen verantwortungsbewussten medialen Umgang mit dem Phänomen Rechtsextremismus aufgezeigt werden.

Theoretischer Hintergrund

Das Konzept reziproker Effekte (vgl. u.a. Lang und Lang 1952) dient als theoretische Basis der Untersuchung. Dieses beschreibt die spezifische Wirkung medialer Berichterstattung auf deren »Protagonisten«; also auf die Personen, über die berichtet wird und die laut Kepplinger stärkeren Medieneffekten unterliegen als die unbeteiligten Zuschauer*innen bzw. Leser*innen (Kepplinger 2007).

Um reziproke Effekte theoretisch zu konzeptualisieren, entwickelte Kepplinger (2007; 2010) ein Modell, in dem Art und Intensität der reziproken Effekte (2010, S. 138 ff.) von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, die in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander stehen und die Reaktionen der Protagonisten auf die Berichterstattung beeinflussen. Diese Reaktionen sind unter Umständen Ausgangspunkt für erneute Berichterstattung. Obwohl Ursache und Wirkung also nicht eindeutig voneinander zu trennen sind, unterscheidet Kepplinger (ebd.) aus Gründen der Übersichtlichkeit analytisch zwischen Ursachen (Mediennutzung), Verarbeitungsprozessen und Wirkungen. Als Ausgangspunkt des Modells wählt Kepplinger die Medienberichterstattung und begründet dies mit dem Verweis auf eine zunehmende Medialisierung; so geschähe in modernen Gesellschaften vieles nur deshalb, weil die Medien darüber berichteten (ebd., S. 138).

Untersucht wurden reziproke Effekte bislang allerdings nur bei Personen, die konkret in der Berichterstattung auftauchen, beispielsweise Politiker*innen (Kepplinger 2009) oder Spitzensportler*innen (Bernhart 2008). Die vorgestellte Arbeit überträgt das Modell reziproker Effekte auf Anhänger der rechtsextremen Szene in Deutschland. Es wird argumentiert, dass mediale Berichterstattung auch bei den Mitgliedern einer sozialen Gruppe zu reziproken Effekten führen kann, wenn innerhalb der Gruppe eine starke „soziale Identität“ (Tajfel and Turner 1979) besteht und sich die Gruppenmitglieder entsprechend stark mit »ihrer« Gruppe identifizieren. Es wird angenommen, dass u.a. die Verfolgung gemeinsamer ideologischer Ziele zu einer solch starken Identifikation des einzelnen Mitgliedes mit der jeweiligen rechtsextremen Gruppierung führt. Durch diese Identifikation würde wiederum eine unmittelbare, persönliche Betroffenheit von Berichterstattung über die rechte Szene ausgelöst und damit die Basis für die Entstehung jener besonders intensiven Medienwirkungen gelegt, die Kepplinger als reziproke Effekte bezeichnet.

Methode

Um die Forschungsfrage beantworten zu können, bedurfte es eines Zugangs zu Mitgliedern der rechtsextremen Szene, die bereit waren, bei einer wissenschaftlichen Untersuchung mitzuwirken. Da eine Befragung aktiver Mitglieder aus verschiedenen Gründen nicht umsetzbar war, wurden sieben ehemalige Führungsmitglieder, die an dem Ausstiegsprogramm der Initiative »EXIT Deutschland« teilnahmen, mittels halbstandardisierter, problemzentrierter Interviews befragt. Diesem methodischen Vorgehen lag die Annahme zugrunde, dass Aussteiger*innen am ehesten dazu in der Lage wären, reflektiert über die Dynamiken innerhalb rechter Gruppierungen Auskunft zu geben. So waren diese selbst in der Szene aktiv, sollten aber durch den Bruch mit der Ideologie ihre Erlebnisse aus einer distanzierteren, weniger strategisch geprägten Perspektive schildern können. Die anschließende Datenauswertung fand mithilfe einer inhaltlichen Strukturierung nach Mayring (2010) statt.

Ergebnisse

Die folgende Ergebnisdarstellung orientiert sich an den Variablen des Modells reziproker Effekte nach Kepplinger (2010).

Mediennutzung

Die Frage, welche Medien Rechtsextreme nutzen, ist grundsätzlich abhängig von der Gruppenzugehörigkeit und der Hierarchiestufe der Szenemitglieder.

Den Massenmedien wird jede Glaubwürdigkeit abgesprochen, da von einer Infiltration der Medien durch den Staat ausgegangen wird. Führungskader rezipieren neben den gruppeninternen Medien dennoch auch die Massenmedien, um öffentlichkeitswirksame Themen zu identifizieren und für ihre polittaktischen Zwecke zu instrumentalisieren sowie Jugendliche durch die Selbstinszenierung in Massenmedien als neue Mitglieder für die Szene zu rekrutieren.

Die rechtsextremen Szenemedien dienen ebenfalls der Rekrutierung neuer Jugendlicher, sollen aber vor allem dafür sorgen, dass die Basismitglieder durch Konsum der »richtigen Nachrichten« in ihrem hermetisch abgeriegelten Weltbild verhaftet bleiben. Der Befragte A sagt hierzu: „Man versucht, die Basismitglieder eher von Massenmedien fernzuhalten, weil eine gewisse Hermetik des Weltbildes nur dadurch aufrechterhalten werden kann, dass man sich von den richtigen Nachrichten die Infos holt“. Außerdem sollen die Szenemedien am Tag des »Systemzusammenbruchs«, auf den die Szene hinarbeitet, die traditionellen Massenmedien ersetzen.

Verarbeitungsprozesse

Die von Kepplinger (2010) beschriebenen Verarbeitungsprozesse sind auch in der rechten Szene zu beobachten. So zeigen die Interviews, dass sich Szenemitglieder auf verschiedenen Identifikationsebenen durch Berichterstattung über Rechtsextremismus persönlich betroffen fühlen, was sich in einer erhöhten Medienaufmerksamkeit niederschlägt. Massenmedien wird eine kategorische Feindseligkeit gegenüber Szenemitgliedern unterstellt und die »Schuld« an der »Umerziehung der Gesellschaft« nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben.

Die Ablehnung, die sie von ihrem sozialen Umfeld erfahren, wird von Rechtsextremen häufig auf eine »verzerrte« Medienberichterstattung geschoben. Dies macht deutlich, dass die rechte Szene von erheblichen Effekten der Medienberichterstattung auf das Publikum ausgeht. Der Befragte C beschrieb dies so: „Die Leute behandeln einen anders. Ich habe es damals in der Schulzeit gemerkt gehabt, als in der Oberstufe dann auch teilweise bekannt wurde: ,Ja, der denkt rechts.‘ Einige haben um mich rum dann plötzlich einen riesigen Bogen gemacht, ich wurde dann auch nicht mehr blöd angemacht. Weil ich denk mal, dass viele dieses Bild von Rechten aus den Medien hatten und dachten: ,Wer weiß, was bei dem dann der Freundeskreis macht.‘“

Wirkungen

Die wohl wichtigste Erkenntnis hinsichtlich der Wirkungen ist die Tatsache, dass die Führungsriege der rechten Szene die Berichterstattung in Massenmedien aktiv rezipiert und auf Basis dieser Rezeption politische Strategien und Taktiken für ihre Selbstinszenierung entwickelt. Hierbei verfolgen unterschiedliche Gruppierungen auch unterschiedliche Wunschdarstellungen in den Medien. Während manche Gruppen eher massenwirksam und jugendaffin wirken wollen (z.B. autonome Nationalisten), werden durch andere Gruppierungen gezielt Gewaltverbrechen verübt, um ein entsprechendes Medienimage zu etablieren. Der Befragte E begründet dies mit der Annahme, dass davon ein entsprechend gewaltbereites Publikum angezogen würde: „Das ist dann auch eine gewisse Marke, weil man extrem viele Leute anzieht, die durch die Medien wissen, dass da was los ist, dass die Leute zu allem bereit sind.“ Als ärgerlich hingegen würden Berichte über Widersprüche oder Doppelmoral innerhalb der Szene wahrgenommen, die sogar dazu beitragen könnten, hochgradig radikalisierte Mitglieder zum Nachdenken anzuregen (Befragter E). Im Hinblick auf eine Nachahmung rechtsextremer Gewaltverbrechen sind sich die Befragten darin einig, dass vor allem eine Heroisierung der Täter*innen und die Aussicht auf Erfolg zu einer Nachahmung anrege, während eine Betonung der drohenden juristischen Konsequenzen eher von Nachahmungstaten abhalte.

Diskussion

Insgesamt zeigt die Analyse, dass sich das Modell reziproker Effekte auch auf Gruppen übertragen lässt – zumindest was die Anhänger*innen der rechten Szene betrifft. So fühlen sich auch jene Szenemitglieder von negativer Berichterstattung betroffen, die gar nicht persönlich in der Berichterstattung auftauchen, was eine Reihe starker Medienwirkungen zur Folge hat, die größtenteils der Beschreibung in Kepplingers Modell (2007; 2010) entsprechen.

Wie also kann ein verantwortungsbewusster medialer Umgang mit Rechtsextremismus aussehen? Anhand der Ergebnisse lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass vor allem eine intensive, fundierte Recherchearbeit und eine möglichst objektive Berichterstattung wichtig sind, um der Szene nicht noch mehr Grund zu geben, die Glaubwürdigkeit der Massenmedien in Frage zu stellen. Auch sollte im Hinblick auf eine Verstärkung der Anziehungskraft gewalttätiger Gruppierungen und die Nachahmung von Gewaltverbrechen eine Überzeichnung der Gefährlichkeit rechter Gruppierungen und eine damit verbundene Heroisierung bzw. Mystifizierung der Täter eher vermieden werden.

Im Idealfall deckt eine intensive Recherche Widersprüche innerhalb der Szene auf, die sowohl potentielle Mitglieder abschrecken als auch aktive Mitglieder zum Nachdenken anregen. Ein Vergleich dieser basalen Empfehlung mit Untersuchungen zum medialen Umgang mit Rechtsextremismus zeigt jedoch eine enorme Diskrepanz, wird doch die Medienlandschaft gerade von einer oberflächlichen, boulevardesken und stereotypen Berichterstattung über Rechtsextremismus dominiert (Ettinger, Imhof und Udris 2007; Schafradd, Sheepers und Wester 2008). Diese Diskrepanz gilt es zu verringern, um der rechtsextremen Ideologie zumindest teilweise ihren Nährboden zu entziehen und die rechte Szene durch eine mediale Überzeichnung nicht attraktiv zu machen.

Literatur

Bernhart, S. (2008): Reziproke Effekte durch Sportberichterstattung. Wiesbaden: Springer VS.

Brosius, H. B.; Esser, F. (2002): Fremdenfeindlichkeit als Medienthema und Medienwirkung – Deutschland im internationalen Scheinwerferlicht. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Ettinger, P.; Udis, L.; Imhof, K. (2007): Rechtsextremismus und Öffentlichkeit in der Schweiz. Ein Forschungsbericht. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung; pbp.de

Glaab, S. (2007): Medien und Terrorismus – eine Einführung. In Glaab, S. (Hrsg.): Medien und Terrorismus – auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung. Berlin: BWV Verlag, 3. Aufl., S. 11-16.

Kepplinger, H. M. (2009): Politikvermittlung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kepplinger, H. M. (2010): Medieneffekte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Lang, K.; Lang, G.E. (1952):The unique perspec­tive of television and its effect – A pilot study. In W. Schramm; D.F. Roberts (Hrsg.): The process and effects of mass communication. Urbana: University of Illinois Press, S. 169-188.

Mayring, P. (2010): Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 11. Aufl.

Neumann, K.; Baugut, P. (2016): Neonazis im Scheinwerferlicht der Medien – Eine Analyse reziproker Medieneffekte innerhalb der Neonazi-Szene in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS.

Schafraad, P.; Scheepers, P.; Wester, F. (2008): Der Umgang mit den Dämonen der Vergangenheit – Berichterstattung über Rechtsextreme in der deutschen Presse (1987-2004). Publizistik, 53(3), S. 362-385.

Tajfel, H.; Turner, J. C. (1979): An integrative theory of intergroup conflict – The socialpsychology of interpersonal conflict. In Worchel, S. and Austin, W.G. (eds.): Psychology of intergroup relations. Chicago: Nelson-Hall, S. 7-24.

Traufetter, G. (2011): Muttersohn und Massenmörder. Spiegel Online, 23.12.2011.

Bundesministerium des Innern (2016): Verfassungsschutzbericht 2015.

Katharina Neumann, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für empirische Kommunikationswissenschaft des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für ihre hier vorgestellte Masterarbeit erhielt sie den Gert-Sommer-Preis 2016 des Forum Friedenspsychologie für die beste Abschlussarbeit im Jahr.

Wie Rassismus aus Bildern spricht

Wie Rassismus aus Bildern spricht

von Susan Arndt

„Wir waren entsetzt über das Afrikabild, das in den Illustrationen/Karikaturen der Ausgabe 1-2014 von »Wissenschaft und Frieden« vermittelt wird“, schrieben Christoph Butenschön und Ulrich Wagner der Redaktion in einem Leserbrief. „Die folgenden Klischees sind zu sehen: Schwarze sind durchgängig halbnackt (S.17 und 23) oder barfuß (S.9 und 31), sind in Mangelsituationen (Bildung S.9, Hunger S.17, Durst S.31 und Belastung S.23), sind passiv oder unmündig.“ Seit den 1980er Jahren sehen sich deutsche Medien mit solcher Kritik konfrontiert; wissenschaftliche Studien dieser rassistischen Repräsentationen von Afrika, die oft euphemistisch »Afrikabilder« genannt werden, gibt es zuhauf. Dennoch halten Medien, auch linke und oft karikaturistisch, an der verstörenden (Bilder-) Sprache des Rassismus fest. Die Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« wollte die an sie gerichtete Kritik nicht verschweigen, druckte den Leserbrief in Heft 2-2014 ab und lud zu dem nachfolgenden Artikel 1 ein, der die oben beschriebenen Repräsentationen historisch einbettet, im Rassismus verortet und fragt: Rassismus generiert rassistische (Sprach-) Bilder, die ihn nähren – warum erweisen sie sich als so kritikresistent?

Kein anderes System der Unterdrückung einer Kultur durch eine andere hat strukturell wie diskursiv eine dermaßen tiefgreifende, nachhaltige und global weitreichende Agenda erschaffen wie der Rassismus. Rassismus ist eine in Europa historisch gewachsene Ideologie und Machtstruktur, die die Kategorie »Rasse« aus dem Tier- und Pflanzenreich auf Menschen übertrug. Aus einer willkürlichen Auswahl bestimmter körperlicher Kategorien wurden Bündel geschnürt, diesen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben und die auf diese Weise hergestellten Unterschiede verallgemeinert und hierarchisiert. Diese »Rassen«-Klassifikation von Menschen folgte dem europäischen Streben, koloniale Verbrechen an Millionen von Menschen zu rechtfertigen. Sie wurden als nicht-weiß und damit als unterlegen – dem Weißsein und zugleich auch dem Menschsein unterlegen – positioniert. Weiße machten sich mittels des Rassismus die Welt passförmig, um sie zu beherrschen. Rassismus ist daher »white supremacy«, eine weiße Herrschaftsform.

Unsichtbar herrschen

„Rassen gibt es nicht“, schreibt die feministische Soziologin Collette Guillaumin, „und doch töten sie“.2 Der Glaube, dass es »Rassen« gebe, der Rassismus also, ist bis heute präsent. Shankar Raman hält es für notwendig, einen Kampf um die Bedeutung von »Rasse« zu führen, um sich diesen Begriff aus antirassistischer Sicht anzueignen. Deswegen schlägt der deutsche Literaturwissenschaftler eine doppelte Denkbewegung vor: weg von »Rasse« als biologischem Konstrukt hin zu Rasse als sozialer Position. Raman bezeichnet diese Denkbewegung als „racial turn“. Sie schließt ein, Rasse als kritische Wissenskategorie zu etablieren.3

Für mich beinhaltet der »racial turn« zudem einen gewichtigen Perspektivenwechsel in der Rassismusforschung. Ihm hat Toni Morrison 1992 mit ihrem Buch »Playing in the Dark«4 Gehör verschafft. Die afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin weist darauf hin, dass Rassismus-Analysen im weißen akademischen Mainstream die Tendenz haben, allein über Schwarze und People of Color zu sprechen. Dabei entstehe schnell der Eindruck, Rassismus sei allein eine Angelegenheit von Schwarzen – Weiße seien diesbezüglich »neutral«, so als hätten sie damit nichts zu tun. Sich nicht im System des Rassismus verorten zu müssen, sei jedoch ein Privileg, das der Rassismus nur Weißen gebe – eine Option, die People of Color nicht leben können. Wenn Weißsein ignoriert oder für das eigene Leben als nicht relevant eingestuft wird, werden zugleich auch die sozialen Positionen, Privilegien, Hegemonien und Rhetoriken verleugnet, die daran gebunden sind. Weißsein behält dadurch seinen Status als universaler, „unmarkierter Markierer“5 und „unsichtbar herrschende Normalität“6 bei.

»Weißsein« als kritische Wissenskategorie

Vor diesem Hintergrund ist das Ignorieren von »Hautfarben«, so paradox das klingen mag, also keine Lösung. Der Rassismus kategorisiert, markiert und positioniert – unter anderem mit Hilfe von »Hautfarben« – Menschen als Diskriminierte, Fremdmarkierte und Entmachtete oder eben als Diskriminierende, Markierende und Privilegierte des Rassismus. Das passiert zumeist unabhängig vom individuellen Wollen und losgelöst davon, ob jemand Rassismus befürwortet oder ablehnt.

Es geht hierbei nicht um Schuldzuschreibungen, sondern vielmehr darum, anzuerkennen, dass Rassismus (analog zum Patriarchat in Bezug auf Geschlechterkonzeptionen) ein komplexes Netzwerk an Strukturen und Wissen hervorgebracht hat, das uns – im globalen Maßstab – sozialisiert und prägt. Dabei ist Wissen in meiner Lesart weder absolut noch wahr und unveränderbar, sondern historisch gewachsen, von Macht geformt sowie dynamisch und subjektiv.

Das Gewordensein, das gegenwärtige Wissen und das künftige Wirken von Weißsein als soziale Position im Rassismus stehen im Zentrum der Kritischen Weißseinsforschung. Weißsein wird hier, und zwar innerhalb von Rasse als Analysekategorie und komplementär zu Schwarzsein, zur kritischen Wissenskategorie. Sie findet Anwendung in der Analyse gesellschaftlicher und politischer Prozesse sowie deren sprachlicher, fiktionaler wie medialer Repräsentation. Im Kern geht es um die Frage: Wie haben Weißsein im Besonderen und Rassismus im Allgemeinen der europäischen Versklavung afrikanischer Menschen und dem Kolonialismus als ideologisches Schwert und Schild gedient? Wie haben Rassismus und sein Kerntheorem Weißsein im Kolonialismus und darüber hinaus die Welt geprägt – diskursiv und strukturell, in Vergangenheit, Gegenwart und für die Zukunft? Wie können diese Diskurse und Strukturen benannt, herausgefordert und gewendet werden?

Einige dieser Fragen möchte ich im Folgenden an ausgewählten historischen Fallbeispielen diskutieren und dadurch exemplarisch das Gewordensein der Kategorie »Rasse« aufzeigen.

Antike Bilder von versklavten Menschen

Als im ausgehenden 16. Jahrhundert das Konzept der »Rassen« aus dem Tier- und Pflanzenreich auf Menschen übertragen wurde, geschah dies in Rückgriff auf Theoreme, die bereits in der Antike ihren Anfang nahmen. Um Abgrenzungsprozesse zu legitimieren, und im Kontext von Eroberungskriegen und Sklaverei, kam es im vierten und fünften Jahrhundert vor Christus zur Konstruktion einer kulturellen Differenz zwischen »Griechen« und »Nicht-Griechen«, von ersteren zumeist als »Barbaren« bezeichnet. Um Kulturen geopolitisch zu verorten und zu hierarchisieren, spielten Klima-Theorien7 eine entscheidende Rolle.

Es ist dieses Paradigma, das die erste bekannte Theorie der Sklaverei rahmte, entwickelt im vierten Jh. v.Chr. von Aristoteles in seinem Werk »Politeia«. Aristoteles war als Lehrer und Politikberater Alexanders des Großen bestrebt, dessen Eroberungszüge sowie die griechische Ausgrenzungspraxis gegenüber den »Anderen« philosophisch zu untermauern. So argumentiert er etwa, dass Sklaverei naturgegeben und gerecht sei und Griech*innen dazu auserwählt seien, Nicht-Griech*innen zu versklaven. Zwar war »Hautfarbe« in diesem Zusammenhang nicht der primäre Marker von Differenz, doch schieden sich »Freie« und »Barbaren« eben auch an dieser Grenzziehung.

Das in der griechischen Antike akkumulierte Wissen – dass körperliche Unterschiede soziale, mentale und religiöse transportieren und Herrschaft und Sklaverei legitimieren –, stellte die theoretische Basis bereit, um in den nachfolgenden Jahrhunderten die Idee von »Rasse« zu formen und zum Instrumentarium der Klassifizierung von Menschen zu machen.

Koloniale Farbsymbolik

Mit dem Erstarken des Christentums erhielten die antiken Vorstellungen neue Bedeutung und Gewichtigkeit. Dabei kam es zwischen der christlichen Farbsymbolik und Theoremen von »Hautfarbe« zu komplexen Synergieeffekten. In der christlichen Religion gilt Weiß als Farbe des Göttlichen, des Himmlischen und seiner Transparenz, von Unschuld und Jungfräulichkeit. Schwarz verkörpert dagegen das Monströse des Teufels und die Untiefen der Hölle – und damit Sünde und Schande, Ungehorsam und Schuld. Analog dazu wird Weiß auch allgemein als schön, rein und tugendsam konzipiert, Schwarz als Farbe des Hässlichen, Bösen und Unheils.

Bereits im 15. und 16. Jahrhundert, als die europäische Versklavung und Verschleppung von Afrikaner*innen irreversibel strukturelle Gestalt und Gewalt annahm, war diese Farbsymbolik gängig (denken wir etwa nur an Michelangelo, da Vinci oder Raphael). Parallel zur Ästhetik zeitgenössischer Malerei formierte sich auch in Poesie und Dramatik ein literarischer Hype um diese Farbsymbolik und ihre Kolonialrhetorik. Besonders interessant ist dabei, dass Weißsein prominent auch über Seide, Perlen, Elfenbein, Silber, Diamanten und Marmor als kostbar inszeniert wird. Es werden also figurativ ausgerechnet jene Ressourcen aufgerufen, die die kolonialen Ambitionen Englands und ihre Legitimationsphilosophie um das Weißsein wesentlich motivierten.

Auf diese Weise ideologisch gerüstet, blühte die Sklaverei im 17. Jahrhundert auf und trug im 18. Jahrhundert volle Früchte. Sie ermöglichte die Industrielle Revolution und Europas Moderne, die im europäischen Wettlauf münden sollte, die Welt zu kolonisieren.

Vermessung des Körpers

Als immer mehr Zweifel an den seit der Antike gültigen Klima-Theorien und an »Hautfarbe« als überzeugendem Träger von »Rassentheorien« aufkamen, nahmen weiße Wissenschaftler*innen des 18. Jahrhunderts zunehmend andere angebliche Merkmale in den Blick. Dazu vermaßen sie zunächst Körperteile wie etwa den Schädel oder das Skelett, aber auch Sexualorgane. Noch heute lagern Relikte dieser biologistischen Forschung in ethnologischen Museen und Krankenhäusern in Europa.

Das hysterische Bemühen, »Rassen« als Fakt und die Überlegenheit der Weißen wissenschaftlich zu postulieren, fand in der Aufklärung einen Höhepunkt und prägte das Weltbild von Philosophen wie David Hume, Voltaire und Immanuel Kant. Die »Rassentheoretiker« drangen, dem allgemeinen Wissenschaftstrend ihrer Zeit folgend, nun immer tiefer in den Körper hinein: Bald dominierten auch »innere Merkmale«, wie Blut und Gene, die Theorien. Mit der Hinwendung zur Vererbung innerer Dispositionen kam es zu einem Anstieg identifizierbarer »Rassen« auf mehr als hundert. Diese stetig wachsende Anzahl vermeintlicher »Rassen« zeigt letztlich nur eines deutlich: Eindeutige Grenzziehungen lassen sich weder ermitteln noch begründen.

Ideologieprodukt »Arier«

Im 19. Jahrhundert propagierte der Sozialdarwinismus in einer Aneignung des Darwin’schen „survival of the fittest“, dass es legitim sei, jene auszurotten, die sich historisch als unterlegen erwiesen hätten. Die Eugenik und andere Theorien, auf die sich später der Nationalsozialismus stützte, nahmen in dieser Zeit ihren Anfang. Dazu gehören auch Arthur de Gobineaus apokalyptische Überlegungen, dass sich „höhere“ gegen „niedere Rassen“ zur Wehr setzen müssten und „die weiße Rasse“ unwiederbringlich durch andere „Rassen“ verdorben worden sei. Das einzige verbliebene Potenzial sah er in der „arischen Rasse“, einem reinen Ideologieprodukt, das Gobineau in England und Norddeutschland verortete.8

Nirgendwo erfuhren Gobineaus Buch und sein »Arier-Mythos« ab Ende des 19. Jahrhunderts eine solch starke Rezeption wie in Deutschland. Doch niemand hat ebendort den rassistischen »Arier-Mythos« als Chauvinismus- und Unterdrückungsideologie so wirkungsmächtig verbreitet wie der britisch-deutsche Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain. Das Hauptziel seines 1899 erschienenen Pamphlets »Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts« war es, den »Ariern« ihren Platz in der Gegenwart und Zukunft zu verschaffen, den sie seiner Meinung nach als „Herrenrasse“ verdienten.9

Historische Kontinuitäten

Parallel zu dieser Radikalisierung des Rassismus trat auch der Kolonialismus in seine imperiale Phase über. Die europäische Gier nach Gütern, wie Elfenbein, Gummi, Diamanten und Gold, aber auch nach neuem Territorium, unterwarf Millionen von Menschen in Afrika, Australien sowie Teilen Asiens der Ausbeutung, der Folter und dem Genozid. Vom Rassismus flankiert wurden diese Gräueltaten als Recht und Pflicht zur Zivilisation verkauft. Abgepuffert durch die rassistische Rhetorik blieben koloniale Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa vergleichsweise unbeachtet. Der Rassismus wütete weiter, nicht nur in den Kolonien. In Deutschland mündete er in genozidaler Singularität in die Ermordung von Millionen von Juden und Jüdinnen sowie Hunderttausenden von Sinti und Roma.

Als die alliierten Armeen das NS-Regime besiegten, kämpften in ihnen Hunderttausende von Schwarzen Menschen. Die Siegermächte verweigerten ihnen dafür nicht nur die gebührende Anerkennung, sondern zeitgleich wurde in den Kolonien und über den Nationalsozialismus hinaus diktatorisch weitergeherrscht. Der karibische Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire klagte nicht zuletzt deswegen bereits in den 1950er Jahren eine Erinnerungsarbeit ein, die die Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus reflektiert.10 Das steht in der öffentlichen Erinnerungsarbeit bis heute aus.

Ganz Europa, insbesondere Deutschland, versank im Angesicht der Shoah in Angst und Scham. Wer es vermeiden konnte, sprach nicht über Rassismus. Doch auch jene Länder, die den Nationalsozialismus zerschlagen hatten, waren davon nicht ausgenommen, wie etwa die »Jim Crow«-Gesetzgebung11 in den USA oder das Fortbestehen von britischem und französischem Kolonialismus zeigen.

Rassismus verleugnen und Bildersprache

Das Nicht-Wahrnehmen von Rassismus stellt einen aktiven Prozess des Verleugnens dar, der durch das weiße Privileg, sich mit Rassismus nicht auseinandersetzen zu müssen, gleichermaßen ermöglicht wie abgesichert wird. Wo aber Rassismus verleugnet wird, bleibt sein Wissen im Umlauf. Gerade in der zeitgenössischen (Bilder-) Sprache finden sich dafür verstörende Belege.

Als Europa seine weiße Überlegenheit erfand, inszenierte es Schwarzsein und Afrika, als dessen symbolische Heimat, als Antithese zum weißen christlichen Europa/Westen. Die Dämonisierung des Kontinentes und seiner Bewohner*innen als Hort des Bösen sind nur die Spitze des Eisberges. In der Exotisierung steckt dieselbe Zutat: Afrika sei naturverbunden, will sagen ohne Mündigkeit, Entwicklung und Kultur (oft metonymisch visualisiert durch Mangel an Nahrung, Kleidung, Bildung), und damit bestenfalls ein Bindeglied zum (kultivierten) Menschsein. So wird Afrika in den Warteraum der Geschichte verbannt und damit über die Abwesenheit einer Zukunft definiert, die Europa verkörpert. Folgerichtig sei Europa in der Position, Afrika zu »entwickeln«. Was im Kolonialjargon »Bürde des weißen Mannes« hieß und Gewalt, Raub und Ausbeutung als »Zivilisierung« verkaufte, flüchtete sich in die zeitgenössische Erzählung der »Entwicklungshilfe«. Statt Verantwortung für den Kolonialismus zu übernehmen, der Afrika sozial und ökonomisch zerrüttete, wird alleinig der afrikanischen Kontinent verantwortlich für die verheerenden Spätfolgen des Kolonialismus gemacht, und es wird paternalistisch, ja zynisch, »Hilfe« angeboten.

Verstetigung des Rassismus

Durch solche verstetigende Wiederholungen schleichen sich Stereotype subtil in die individuelle Wahrnehmung ein und werden dann als gegeben, eindeutig und natürlich angenommen. Das erklärt die Veränderungsresistenz von Stereotypen. Nur partiell werden neue Inhalte und Grenzen ausgehandelt. Wenn Stereotype also in verschiedenen historischen Kontexten nur partielle Verschiebungen erfahren, heißt dies nicht, dass sie deswegen »natürlich« sind. Vielmehr zeigen sie, wie Glaubenssätze sich mit der Zeit mehr und mehr zu vermeintlichen »Wahrheiten« verfestigen. Deswegen befördern Bilder, die nackte, ungebildete, dienende Schwarze zeigen, nicht Verantwortung, ja nicht einmal Empathie, sondern im Gegenteil Aversionen, Überlegenheitsgefühle und fehlenden Respekt vor Afrikaner/innen und anderen Schwarzen.

Es bedarf eines zivilgesellschaftlichen Engagements, wie im Falle der Bebilderung von »Wissenschaft und Frieden« 1-2014 von Christoph Butenschön und Ulrich Wagner gezeigt, um verstörenden Bildern neue Weltsichten entgegenzustellen Mit ihrem Leserbrief haben sie sich, der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« und ihren Leser*innen aufgezeigt, dass es keineswegs ausreichend ist, sich als antirassistisch zu positionieren. Dem Willen, sich Rassismus zu widersetzen, müssen Handlungen folgen, die wissen, worum es geht: Wissen darüber, wie Rassismus entstanden ist, wie er wirkt und auf welche Weise er unterwandert werden kann. Zu verstehen, wie Rassismus historisch gewachsen ist, ist eine bewährte Methode, um Rassismus im Jetzt beim Namen nennen zu können und ihm eine schwere Zukunft zu bescheren.

Rassismus in die Schranken weisen

Wer Rassismus in die Schranken weisen möchte, muss zunächst lernen, was der Rassismus mit uns allen angerichtet hat. In einem zweiten Schritt wird es darum gehen, feste Glaubensgrundsätze aufzugeben (auch den, schon immer antirassistisch gewesen zu sein), bereits Gelebtes selbstkritisch zu überprüfen (auch wenn es noch so gut und antirassistisch gemeint war) und Gelerntes zu verlernen (auch wenn es noch so unschuldig aussieht). In allem, was wir wissen, steckt ein Stück rassistische Wissensgeschichte. Ob Medien, Schulbücher, Straßennamen, Lebensmittel oder Gesetze: Rassismus hat sich überall eingenistet. Dies sind aber auch die Orte, von denen aus Rassismus in Sackgassen getrieben werden kann: neue Curricula oder lernwillige Lehrer*innen, geschulte Journalist*innen oder fragende Wissenschaftler*innen, wissbegierige Politiker*innen oder Theolog*innen – es gibt keinen Ort, an dem Bilder, ob durch Sprache oder Illustrationen erzählt, nicht die Welt verändern können.

Anmerkungen

1) Der Artikel basiert auf Forschungsergebnissen, die dargestellt sind in: Susan Arndt (2012): »Die 101 wichtigsten Fragen – Rassismus«. München: C.H. Beck; sowie: Susan Arndt: LiteraturWelten – Transkulturelle Anglistik und der »Racial Turn«. Antrittsvorlesung an der Universität Bayreuth am 24. Oktober 2012; vimeo.com/66145276.

2) Colette Guillaumin (1992): Sexe, race et pratique du pouvoir. Paris: Côté-femmes, S.7.

3) Shankar Raman (1995): The Racial Turn: »Race«, Postkolonialität, Literaturwissenschaft. In: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger u.a. (Hrsg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler, S.241-255.

4) Deutsche Ausgabe (1994): Im Dunkeln spielen: weiße Kultur und literarische Imagination. Reinbek: rororo.

5) Vgl: Ruth Frankenberg (Hrsg.) (1997): Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism. Durham/North Carolina: Duke University, S.1-10.

6) Ursula Wachendorfer (2001): Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität. In: Susan Arndt (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Münster: Unrast, S.87-101.

7) Etwa die These, das heiße Klima habe Haar und Hirn von Schwarzen Menschen ausgetrocknet und sie seien deswegen mental und kulturell unterlegen.

8) Arthur de Gobineau (1853–55): Essai sur l’inégalité des races humaines. Paris: Éditions Pierre Belfond, hier Ausgabe von 1967.

9) Houston Stewart Chamberlain (1899): Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. München: Bruckmann.

10) Aimé Césaire (1955): Discours sur le colonialisme. Paris: Editions Présence Africaine. Deutsche Ausgabe (1968): Über den Kolonialismus. Berlin: Wagenbach.

11) Der US-amerikanische Komiker Thomas D. Rice erfand im Rahmen von »Blackfacing«-Shows in den 1830er Jahren die Figur des Jim Crow, eines tanzenden, singenden, wenig intelligenten Schwarzen. Als »Jim Crow Laws« werden die Gesetze bezeichnet, die in den USA von 1876 bis 1964 die Rassentrennung festschrieben.

Susan Arndt ist Anglistin und Rassismusforscherin. Sie lehrt als Professorin an der Universität Bayreuth und ist Autorin des Buches »Die 101 wichtigsten Fragen: Rassismus« (München: C.H. Beck, 2012, 2. Aufl. 2015).

In Charlies Namen?

In Charlies Namen?

von Jürgen Nieth

„Es ist ein fast zu schönes Bild für die Geschichtsbücher. 44 Staats- und Regierungschefs marschierten am Sonntag untergehakt durch Paris und demonstrierten gegen den Terror […] »Je suis Charlie«: Diese drei Wörter sollen künftig für die Werte Mut, Freiheit und Toleranz stehen. Doch hält diese Einheit über den Tag hinaus?“, fragt Thomas Siegmund im Handelsblatt (13.01.15).

Alle wollen Charlie sein

Weit über eine Million Menschen waren nach dem mörderischen Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 11. Januar in Paris auf der Straße, von über drei Millionen in ganz Frankreich wird gesprochen. „Christen, Muslime, Juden und Atheisten, Radikalliberale und extrem Konservative. Und sicher auch Rechtsextreme, auch wenn die keiner eingeladen hat. Also alle. So viele jedenfalls, dass man schon wieder skeptisch werden muss. Die wollen tatsächlich alle Charlie sein?“, fragt Gereon Asmuth in der taz (12.01.15). In derselben Zeitung formulierte bereits am 10.01. Cas Mudde sein Erstaunen darüber „wie viele islamophobe und rechtsextreme Leute jetzt ihre Liebe zu einem Magazin erklären, das sie vor kurzem noch für ein kommunistisches Drecksblatt hielten“. (Zwei der ermordeten Karikaturisten zeichneten auch für die Humanité, die Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreich; J.N.)

Skepsis auch bei Tobias Riegel: „Die versammelte Spiegel-Gruppe ist angeblich »Charlie«, Google trägt Trauerflor, die »FAZ« schwafelt vom »Heldentod«, die Pariser Menge applaudiert den Scharfschützen, der Anti-Terrorspezialist Petro Poroschenko wird ebenso untergehakt wie der Pressefreiheitskämpfer Viktor Orban […] Der Marsch von Paris war ein großartiges Symbol – doch wofür eigentlich? Dafür, dass wir den Muslimen nun erst recht auf die Mütze geben sollen? Für die Pressefreiheit? Angeführt von »Bild« und anderen Verrätern der Pressefreiheit […]?“ (ND 17.01.15)

Sicherheit vor Freiheit?

Riegel befürchtet: „»Europa rückt zusammen« – und definiert seine Werte neu: in Form von strengeren »Terror«-Gesetzen.“

Thomas Siegmund (Handelsblatt, s.o.) scheint Letzteres ähnlich zu sehen: „Mit einer beispiellosen Aufrüstung im Inneren will Frankreich weitere Anschläge verhindern. 10.000 Soldaten wurden bereits abkommandiert um landesweit Verkehrsknotenpunkte, touristische Attraktionen und zentrale Gebäude zu sichern. Eine drakonische Verschärfung der Sicherheitsgesetze ist in vollem Gange. Das alles erinnert an die Zeit kurz nach dem Anschlag des 11. September 2001.“

Gilt das auch für Deutschland? Dazu Christian Wernicke: „Schon raunt es aus den Geheimdiensten, man brauche das Drei- bis Vierfache an Personal, um all die potenziellen Gotteskrieger und »inneren Feinde« im Land rund um die Uhr zu erfassen, abzuhören und zu beschatten.“ (SZ, 12.01.15) Eine Position, die Alan Posener offensiv vertritt: „Polizei und Verfassungsschutz, BKA und BND [brauchen] mehr Mittel und Personal.“ Für Posener sind die Morde von Paris ein Beweis dafür, „wie weltfremd die Proteste gegen die Überwachungspraxis der amerikanischen und britischen Geheimdienste – und deren Zusammenarbeit mit dem BND – teilweise waren“. Einen Generalverdacht gegen Muslime könne man aber nicht gebrauchen. „Auch bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit sollte man vorsichtig sein: Niemand kann gezwungen werden, den westlichen Lebensstil zu lieben.“ (Die Welt, 10.01.15)

Die Gegenposition bei Heribert Prantl: Für die CSU ist der Anschlag „Anlass, die Vorratsdatenspeicherung, die das Bundesverfassungsgericht vor vier Jahren verwarf, als ‚dringender denn je’ zu bezeichnen […] In Frankreich gibt es die Vorratsdatenspeicherung, verhindert hat sie gar nichts. Neue Befugnisse für die Sicherheitsbehörden und eine Verschärfung des Strafgesetzbuchs fordert die CSU auch. Mit solch ewigem Mehr und Nochmehr landet man letztlich bei Forderungen nach extralegalen Maßnahmen und der Todesstrafe, wie sie in Frankreich schon laut werden.“ (SZ, 10.01.15)

Auch Arno Widmann warnt: „Wir brauchen keine schärferen Gesetze, wir müssen nur darauf achten, dass die bestehenden eingehalten werden. Gegen Verstöße müssen wir vorgehen. Streng nach dem Gleichheitsgrundsatz. Die Gesetze gelten nicht nur für die Bürger, sie gelten auch für die Staatsorgane. Den paranoiden Neigungen der Regierenden dürfen wir nicht nachgeben. Verhängnisvoll wäre, wenn die beiden Paranoiker – Attentäter und Staat – einander hochschaukeln.“ (BZ 10.01.15)

Brauchen wir Satire?

Dazu Hartwig Isernhagen in der NZZ (10.01.15): „Satire ist […] eine eminent zivilisierende Gattung der Literatur […] Die Versuchung ist groß, […] alle nur möglichen Gründe zu ihrer Einschränkung gelten zu lassen. Die pauschal-relativistische Rede, man müsse überall und jedem mit Respekt begegnen, geht in diese Richtung und würde, befolgte man sie, sicherlich zu einer Art medialer Friedhofsruhe führen. Aber solcher Frieden wäre ein Scheinfrieden. Die Konflikte, die die Satire artikuliert, gehen nicht weg, nur weil man nicht mehr drüber spricht.“

Lassen wir deshalb zum Schluss einen Satiriker zu Wort kommen. Der ehemalige Chefredakteur der Titanic, Oliver Schmitt, im Feuilleton der FAZ (19.01.15): „Da demonstrieren in Paris die Führer der Welt, säuberlich vom Volk separiert, in einer abgeschotteten Seitenstraße für Friede, Freude, Eierkuchen und die Freiheit der Presse, während einige dieser Spaßvögel in ihren Heimatländern Journalisten auspeitschen, foltern und wegsperren lassen. Da steht Angela Merkel vor dem Brandenburger Tor und demonstriert für die Pressefreiheit, während ihr schon der leibhaftige Schalk Seehofer im Nacken sitzt und höhere Strafen für Blasphemie fordert. Wenn das keine Schenkelklopfer sind! Und dass der Pegida-Erfinder Lutz Bachmann, der sich sofort mit »Charlie Hebdo« solidarisierte und in Strafsachen bestens bewandert ist (Körperverletzung, Einbruch, Diebstahl), dass dieser Demokrat mitteilte, er wolle die »Titanic« wegen eines ihm in den Mund gelegten Kommentars verklagen (‚Mit Satire hat das nix mehr zu tun’) – das alles ist doch absolut wunderbar! So etwas könnte sich ein Satiriker niemals ausdenken.“

Zitierte Zeitungen: Berliner Zeitung/BZ, Die Welt, Handelsblatt, Frankfurter Allgemeine/FAZ, Neue Zürcher Zeitung/NZZ, Neues Deutschland/ND, Süddeutsche Zeitung/SZ, tageszeitung/taz.

Jürgen Nieth

Halbwahrheiten und Doppelstandards

Halbwahrheiten und Doppelstandards

Medien im Ukraine-Konflikt

von David Goeßmann

„Medien sind mächtiger als Bomben“, sagt die Alternative Nobelpreisträgerin Amy Goodman. Massenmedien können durch Halbwahrheiten, Doppelstandards und Schweigen die eskalierende Rolle der eigenen Regierungen und ihrer Verbündeten bei Konflikten kaschieren, relativieren oder rechtfertigen und deren Gegner zum »Paria der Weltgemeinschaft« ernennen. David Goeßmann geht in diesem Beitrag der Berichterstattung der Medien in Deutschland und den USA über den Ukrainekonflikt nach. Der Text ist mit freundlicher Genehmigung des Selbrund-Verlages dem Buch »Ukraine im Visier« entnommen, wird hier aus Platzgründen allerdings gekürzt und ohne Fußnoten mit den Quellenhinweisen abgedruckt.

Vor über hundert Jahren zwangen die USA, die Kuba damals militärisch besetzt und eine US-freundliche Regierung installiert hatten, Kuba einen Pachtvertrag auf, der Washington die Nutzung von Guantánamo erlaubte. Seit der Unabhängigkeit Kubas in den späten 1950er Jahren hat die kubanische Regierung den Vertrag immer wieder für ungültig erklärt und die USA aufgefordert, Guantánamo zu verlassen. Zwar haben Verträge unter militärischem Zwang und Besatzung per se keine Gültigkeit, doch alle US-Regierungen haben sich darüber hinweggesetzt. Präsident Georg W. Bush und Barack Obama betreiben seit 2002 zudem auf dem kubanischen Territorium ein Folter-Gefängnis für »feindliche Kämpfer«. […]

[Solche] Aneignungen von Territorien, ob nun Krim oder Guantánamo, sind widerrechtliche und kriminelle Akte. Der Anschluss der Krim an Russland verstößt gegen die UN-Charta und diverse Verträge, daran ändert auch ein Referendum nichts. Die Vereinnahmung Guantánamos wird andererseits nicht durch einen Pachtvertrag legitimiert, der unter militärischer Okkupation aufgezwungen wurde.

Geteilte Empörung: das Spiel mit „roten Linien“

Doch während die Angliederung der Krim-Halbinsel an Russland eine Empörungswelle in den USA, Europa und den westlichen Medien auslöste, ist die Aneignung Guantánamos durch die USA der Presse bis heute so gut wie keine Zeile wert. […] Bei einer Pressedatenabfrage von rund 160 überregionalen und regionalen Print- und Onlinemedien in Deutschland findet sich nur ein Artikel im Wirtschaftsmagazin »Focus Money«, der im Zuge des Krim-Anschlusses an Russland auf den moralischen Doppelstandard des Westens und die völkerrechtlich „nicht ganz saubere“ Guantánamo-Nutzung hinweist. Chefredakteur Frank Pöpsel fragte ironisch in der Schlagzeile: „Warum pachtet Putin nicht die Krim?“

US-Kritiker Noam Chomsky hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Vergleich Guantánamo/Krim eher schmeichelhaft für die US-Besatzung ausfalle. Denn anders als bei der Krim hätten die USA keinerlei Anspruch auf Guantánamo. Die Krim ist historisch russisch geprägt. Sie bietet Russland zudem den wichtigsten Zugang zu einem eisfreien Hafen. Sewastopol hat eine wichtige militärstrategische Bedeutung für Moskau. Dort ist die Schwarzmeer-Flotte Russlands stationiert. Über die Angliederung der Krim an Russland fand zudem ein Referendum statt. Keinen dieser Ansprüche könne die USA im Fall Guantánamos geltend machen, so Chomsky.

[…] Die Wirtschaftswoche kommentierte am 2. März 2014 nach der Krim-Sezession: „Putin hat eine rote Linie überschritten“. Der tschechische Präsident Zeman wird einen Monat später von der ZEIT bis zur Welt mit seiner Drohung gen Moskau zitiert. Sollte Russland in den Osten der Ukraine marschieren, so Zeman, sei eine „rote Linie“ überschritten. Dann müssten NATO-Soldaten in die Ukraine geschickt werden. Deutsche und US-amerikanische Journalisten werden seit Beginn der Krise nicht müde, Obama und die EU aufzufordern, endlich gegenüber Russland eine rote Linie zu ziehen. Sie mahnen härtere Sanktionen oder gar Militärinterventionen an. „Auf der Krim überschreitet Moskau die rote Linie des Westens, um die Ordnung nach dem Kalten Krieg in Frage zu stellen“, schreibt DIE ZEIT am 14. März 2014. Im Boston Globe bringt Kolumnist Thanassis Cambanis den Sachverhalt auf den Punkt: „[Präsident Wladimir] Putins Annexion der Krim ist ein Bruch der Ordnung, auf die sich Amerika und seine Verbündeten seit dem Ende des Kalten Krieges stützen – nämlich eine, in der Großmächte nur dann militärisch intervenieren, wenn der internaionale Konsens auf ihrer Seite ist oder, ist dies nicht der Fall, wenn sie keine roten Linien eines Gegners überschreiten.“ […]

Die Halbwahrheiten der real existierenden Tagesschau, taz & Co.

[D]ie mediale Behandlung des Ukraine-Konfliktes [fügt sich] in das ideologische Muster ein, in dem nicht jedes widerrechtliche Ereignis und nicht jede Verletzung territorialer Souveränität und Integrität »rote Linien«und »Krisen« erzeugt und einen neuen kalten Krieg in Gang setzt. Doch in einem Punkt stellt die Ukraine durchaus einen Sonderfall dar. Zum ersten Mal gab es eine breite Kritik an der Parteinahme in der medialen Darstellung, eine Kritik, die über Friedensgruppen und medienkritische Plattformen hinausging. In vielen tausenden Kommentaren üben Leser und User immer wieder zum Teil scharfe Kritik an der Einseitigkeit der Berichterstattung. Sie bemängeln, dass Russland in deutschsprachigen Medien dämonisiert werde, Putins „Griff nach der Ukraine“ und sein angeblicher Expansionsdrang Subtext vieler Schlagzeilen und Artikel sei. Sie vermissen kritische Stimmen zum Vorgehen der ukrainischen Übergangsregierung in der Ostukraine, eine angemessene Darstellung der rechten bzw. faschistischen Kräfte innerhalb der Maidan-Bewegung bzw. Kiewer Regierung und Analysen zur eskalierenden Rolle des Westens sowie zu den ökonomischen und militärischen Interessen von USA und EU. Eine vergleichbare Welle an Kritik hatte es in dieser Form bisher nicht gegeben. „Wir haben uns natürlich bemüht, ausgewogen zu berichten“, verteidigt taz-Chefredakteurin Ines Pohl im Deutschlandfunk-Interview die eigene Berichterstattung. Hinter den kritischen Kommentaren sieht Pohl jedoch, wie viele ihrer Kollegen, von Moskau bezahlte Trolle am Werk. Belege für diese Anschuldigungen werden nicht vorgelegt. Die taz, die sich über weite Strecken weigerte, den Konflikt mit journalistischer Distanz darzustellen und Russland als neue Bedrohung präsentierte, büßte im Laufe von 2014 laut der AG Medienanalyse 20 Prozent ihrer Reichweite ein. Statt 300.000 Leser pro Ausgabe sind es jetzt nur noch 240.000. Andere meinungsbildende Zeitungen wie die FAZ, SZ oder der Spiegel verloren ebenfalls drastisch an Leserschaft.

Auch innerhalb des ideologischen Rahmens wichen die deutschen und die US-Medien bei der Darstellung des Konfliktverlaufes nicht von der Linie der US-Administration und der NATO-Staaten ab. Auslöser des Konfliktes war demnach der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, der das EU-Assoziierungsabkommen ablehnte, gelockt von russischen »Milliardengeschenken«, worauf die ukrainischen Bürger aus Protest gegen die Regierung auf die Straße gingen. Der Maidan wurde zum Symbol des Widerstandes gegen ein autokratisches und korruptes System, eine Art »ukrainischer Frühling« gegen einen »ukrainischen Mubarak«. Janukowitsch unterdrückte den Aufstand gewaltsam. Doch die Maidan-Bewegung konnte sich letztlich erfolgreich durchsetzen und eine neue Übergangsregierung mit Arsenij Jazenjuk an der Spitze des Parlamentes einsetzen, die von den USA und europäischen Staaten sofort anerkannt wurde und nun für Stabilität und demokratische Verhältnisse steht. Der neue Präsident Petro Poroschenko unterzeichnete schließlich das EU-Assoziierungsabkommen, das als „historisch“ bezeichnet wurde. Gegen die europafreundliche Bewegung in Kiew positionierte sich der russische Präsident Putin aggressiv, annektierte die Krim und unterstützte die aufständische Separationsbewegung in der Ostukraine, um wieder Kontrolle über die Region zu erhalten – so die Lesart. Um gegen die destabilisierende Einmischung Russlands vorzugehen, verhängten die USA und die EU Sanktionen, die nach dem Absturz des malaysischen Passagierflugzeuges MH17 noch ausgeweitet wurden. USA und EU fordern nun die Umsetzung des Poroschenko-»Friedensplanes«, um den Konflikt zu deeskalieren, doch Putin und die Separatisten blockieren den Frieden.

Es wäre die Aufgabe der Medien gewesen, diese offizielle Erzählung und Darstellung der Ereignisse zu überprüfen, relevante Informationen und Hintergründe zu liefern und den Konflikt mit seinen diversen Akteuren fair darzustellen. „Insgesamt geben wir ein realistisches Bild dieser sehr diffusen Lage ab, immer wissend, dass jede Partei ein Interesse daran hat, ihre Seite, ihre Sichtweise besonders bevorzugt darzustellen“, weist der Redaktionsleiter von tagesschau.de, Andreas Hummelmeier, den Vorwurf einseitiger Berichterstattung zurück. Doch das »realistische Bild«, das Tagesschau, Süddeutsche Zeitung oder Spiegel skizzierten, war und ist, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Die halbe Wahrheit ist aber nun einmal nicht die Wahrheit, so wenig ein Sportreporter, der nur von den Toren seiner Lieblingsmannschaft berichtet, ein Ereignis wahrheitsgemäß wiedergibt.

Es gab zum Beispiel gute Gründe, warum der ukrainische Präsident Janukowitsch das EU-Assoziierungsabkommen ablehnte. Die EU stellte der ukrainischen Regierung ein Ultimatum, verlangte von ihr eine Entscheidung. Ein Abkommen mit der EU gäbe es nur ohne Zollunion mit Russland. Die daraus resultierende Schwächung der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland hätte weitreichende negative Folgen für die Ukraine gehabt. Russland ist der wichtigste Handelspartner der Ukraine, beide sind ökonomisch eng miteinander verbunden. Die »militärische Kooperation«, wie sie das EU-Abkommen vorsah, war zudem ein unmissverständliches Signal Richtung NATO-Beitritt, was von Moskau nicht akzeptiert werden konnte. Gleichzeitig ließen die Medien weitestgehend unberücksichtigt, dass die Ukraine aus mindestens „zwei Ukrainen“ besteht, wie der US-amerikanische Russland-Experte Stephen Cohen, Professor emeritus für Russland-Studien und Politik an der New York University und Princeton University, immer wieder betonte. „Eine neigt Richtung Polen und Litauen, dem Westen, der Europäischen Union; die andere Richtung Russland. Das ist nicht meine Meinung. Seit die Krise sich entfaltete, zeigen alle Meinungsumfragen, dass etwa 40 Prozent der Ukrainer zum Westen gehören wollen, 40 Prozent wollen mit Russland verbunden bleiben und, wie meist bei solchen Umfragen, sind 20 Prozent nicht entschieden oder sicher.“

Die Haltung gegenüber dem EU-Assoziierungsabkommen war in der ukrainischen Bevölkerung daher gespalten, wie Umfragen zeigten. Die eine Hälfte wollte es, die andere nicht. Doch die Medienberichte konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Befürworter einer EU-Annäherung, die dann als Haltung »der Ukrainer« gekennzeichnet wurden. Es ist daher zumindest irreführend, Janukowitschs Ablehnung als Auslöser der Krise zu bezeichnen, wie es die Medien taten, ohne zu erklären, warum es zu dieser Ablehnung kommen musste. Auch verschwiegen sie, dass eine Lösung möglich gewesen wäre, aber von der EU blockiert wurde. Stefan Kornelius schrieb am 24. Februar 2014 in der Süddeutschen Zeitung: „Der Präsident [Janukowitsch, d. Verf.] akzeptierte die Logik, dass die Ukraine eine Wahl zu treffen habe zwischen dem Westen und Russland. Diese Logik prallt aber an der EU ab. Die Gemeinschaft erträgt unter ihren Mitgliedern ökonomische und politische Unterschiede, sie schafft keine Fronten. Die EU bietet vielmehr Optionen für Staaten, die sich Regeln für gute Regierungsführung unterwerfen. Die EU sucht nicht nach neuen Mitgliedern, neue Staaten streben in die EU.“ Eine Verkehrung der tatsächlichen Geschehnisse. Während die EU der Ukraine ein Ultimatum stellte, zwischen Russland und der EU zu wählen, bot Moskau der EU eine »tripartite«-Regelung an, also Zollunion und EU-Abkommen gleichzeitig, doch die EU lehnte das ab. Der Konflikt eskalierte.

„Ein Meilenstein“ – Mythos und Realität des EU-Assoziierungsabkommens

Als der neue Präsident Poroschenko das EU-Assoziierungsabkommen schließlich nach dem Staatsputsch und der folgenden Wahl unterzeichnete, folgten die deutschen Medien den Vorgaben Poroschenkos und des EU-Ratsvorsitzenden Herman Van Rompuy, dass es sich um einen „historischen Tag“, einen „Meilenstein“ handele, der der Ukraine nun einen „verbesserten Marktzugang mit 500 Millionen Verbrauchern“ ermögliche.

»Historisch« war an dem Tag vielmehr, dass eine kaum entwickelte Agrargesellschaft in Zukunft mit einem der größten Wirtschaftsräume der Welt ohne nennenswerte Schutzmaßnahmen wie Zölle, Industriesubventionen, Agrarhilfen, Heizzuschüsse etc. auf dem »freien Markt« konkurrieren muss und von seinem wichtigsten Handelspartner abgeschnitten zu werden droht. Die Journalisten vergaßen auch mitzuteilen, dass das EU-Abkommen einherging mit einem zweistelligen Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), der gekoppelt wurde an ein rigides Sparprogramm, vergleichbar dem in Griechenland. Der IWF-Kredit bedient wie in anderen Staatsschulden-Fällen die Gläubiger der Ukraine, also vor allem europäische und US-amerikanische Banken und Finanzinstitute. Die Kosten tragen die ukrainischen Bürger.

Die Austeritätsmaßnahmen im Sinne des EU-IWF-Reformpaketes sind bereits angelaufen. Die Folgen sind u.a. sinkende Löhne, steigende Inflation, drastisch hochschnellende Gas-, Wasser und Strompreise für die Ukrainer, und das bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 275 US-Dollar, wobei der größte Teil für Lebensmittel ausgegeben werden muss. Zudem wurden im Rahmen des Sparprogramms bereits Staatsangestellte entlassen. Ökonomen gehen davon aus, dass die Kaufkraft der Ukrainer im Zuge der »Reformprogramme« weiter sinken werde und damit die Wirtschaft tiefer in die Rezession getrieben wird. Die Regierung in Kiew hat zudem angekündigt, Sozialprogramme, Unterstützung für Arbeitslose und Behinderte drastisch zu kürzen und die Löhne für Angestellte des öffentlichen Dienstes nicht an die galoppierende 16-prozentige Inflation anzupassen, während man das Staatsbudget für Sicherheit und Militär stark ausbauen will.

Im aktuellen Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) heißt es dazu: „Es war eines der Hauptziele der zivilgesellschaftlichen Aktivisten, Experten und Journalisten, die sich nach dem Maidan zusammenschlossen, um für die erforderlichen Reformen zu werben, dass jeder in der Ukraine in den vollen Genuß sozialer und ökonomischer Rechte kommt. Allerdings ist die neue Gesellschaft, die, so ihre Hoffnung, mit dem wiederbelebten »Reformpaket« [reanimation package of reforms] entstehen würde, noch weit von der Wirklichkeit entfernt.“ […]

»Wertvolle« und »wertlose« Proteste

[…] Die Maidan-Berichterstattung ist ein Tiefpunkt im deutschen Journalismus. Dieselben Medien, die sonst friedliche Proteste im eigenen Land gern auf ein paar Randalierer reduzieren und eskalierende Polizeigewalt unerwähnt lassen, übersahen auf dem Maidan die immer präsenter werdenden extremistischen Kräfte rechter und faschistischer Gruppierungen oder spielten ihre Bedeutung für den Staatscoup herunter. Offen geäußerte rassistische Einstellungen wurden als Petitesse abgetan, die sonst so fein eingestellten Antisemitismus-Sensorien der meinungsführenden Rundfunkanstalten und Zeitungen, die bei Protesten gegen Israels Gaza-Kriegen zuverlässig immer neue Wellen von Judenhass entdecken, wurden schlicht abgeschaltet. Nach dem Staatssturz mit Hilfe der Rechtsextremen titelte die Süddeutsche Zeitung: „Russland erklärt sich zum antifaschistischen Schutzwall“. Mit ein paar Sätzen relativierte die Süddeutsche Zeitung die Rolle rechtsextremer Gruppen auf dem Maidan als umstritten und marginal. Anklagen wegen Volksverhetzung, Juden-, Russen-, Roma- und Schwulen-Hetze, Verherrlichung des Vernichtungskrieges gegen die ukrainischen Juden, dem 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, enge Kontakte zur NPD, der militanten Neonazi-Szene und anderen europäischen rechtsextremistischen Parteien usw.? Fehlanzeige. Man erfuhr im SZ-Artikel auch nicht, dass der Jüdische Weltkongress die Partei »Swoboda«, deren Vorsitzender Oleg Tjagnibok die Hände vieler westlicher Politiker wie Steinmeier, Ashton oder McCain schüttelte, als neonazistisch einstuft und ein Verbot der Partei fordert. Man beschäftigte sich lieber 14 Absätze lang mit Rassismus in Russland, einem Land, so die SZ, das sich nun „zynisch“ als „antifaschistischer Schutzwall“ im Ukraine-Konflikt inszeniere.

Der doppelte Standard der Medienberichterstattung setzte sich fort bei den Protesten in der Ostukraine. Wie von Kritikern des Staatssturzes erwartet, brach der Konflikt, angefeuert von US-amerikanischen und europäischen Solidaritätsadressen, entlang der ethnischen, kulturellen und politischen Trennlinien in offenen Bürgerkrieg aus. Die deutschen und US-amerikanischen Medien schalteten ihr Bewertungsschema jedoch jetzt um. Der Übergangspräsident „Jats“, wie Victoria Nuland, zuständig für Europa und Eurasien im US-Außenministerium, ihren »favorite« in einem geleakten Telefonat nannte (anders als Janukowitsch von den Medien jetzt nicht als »Marionette« diffamiert), und der neu gewählte Oligarch Poroschenko (Wie war das noch einmal mit dem Aufstand gegen die »Macht der Oligarchen« auf dem Maidan?) sind nun Garanten von Stabilität, Demokratie, legitimer Gewaltanwendung, auch wenn sie brutal gegen das eigene Volk in der Ostukraine vorgehen. Doch über diese Gewalt berichten die Medien so gut wie nicht. Die Aktivisten sind demgegenüber Aufständische, Separatisten, Terroristen, die von Russland infiltriert sind bzw. gesteuert werden, um Teile der Ostukraine an Russland anzugliedern.

Die Wahrheit ist komplizierter. Auch in der Ostukraine erhalten rechte und gewaltbereite Kräfte im Verlauf der Eskalation mehr Einfluss, aber darin unterscheidet sich der Protest nicht von dem auf dem Maidan. Zudem: Ukrainische Bürger, darunter etliche junge Aktivisten und Studenten, protestierten in Lugansk, Donezk oder Odessa oft friedlich für Reformen. Sie fordern nicht Abspaltung von Kiew, keine Angliederung an Russland, sondern Rechtsschutz für die russischstämmige Bevölkerung und mehr Autonomie in einem föderalen System. Von diesen Protestierenden und ihren politischen Ansichten erfährt man so gut wie nichts in der Presse – anders als bei der Maidan-Berichterstattung. Der Eindruck musste entstehen: In der Ostukraine, anders als bei den europafreundlichen Protesten in Kiew, zündelten ausschließlich militante Umstürzler ohne legitime politische Interessen. „Prorussische Separatisten“ ist heute eine feste Wortfügung in allen Nachrichten. Das Bild in der Ostukraine ist weitaus gemischter. […]

Und was ist mit der destabilisierenden Einmischung Moskaus in der Ostukraine? Nehmen wir den Kernvorwurf, die russischen Waffentransporte ins Krisengebiet. Der Vorwurf wird mit Verweis auf Social-Media-Fotos und Satellitenbilder erhoben, bereitgestellt von der US-Administration. Eindeutige Belege liegen nicht vor, die Lage ist unübersichtlich, trotz Indizien.

Journalisten sollten zudem auch die Frage stellen: Was ist mit der anderen Seite? Was ist mit den US-Militärhilfen? Die militärische »Einmischung« des Pentagon liegt anders als im Fall Moskaus offen zutage. Im US-Senatsausschuss für Internationale Beziehungen hat das Verteidigungsministerium seine militärische Unterstützung für die Ukraine erläutert. Die Hilfen sollen danach im Zuge der Krise vervierfacht werden. Neben Militärausrüstung, wie Körperpanzer, Nachtsichtgeräte, Bomben-Spürroboter usw., sollen auch amerikanische Berater und Trainer in die Ukraine geschickt werden „um das ukrainische Militär auszubilden und zu professionalisieren“. In das ukrainische Verteidigungsministerium will man US-Berater „einbetten“, um mit der Regierung zusammen eine »Nationale Sicherheitsstrategie« zu entwerfen, die eine „kohärente Vision für das Militär, den Grenzschutz, die Nationalgarde und andere Sicherheitsinstitutionen der Ukraine“ bereitstelle, so der Staatssekretär für Internationale Sicherheit im Pentagon, Derek Chollet, im US-Senatsausschuss Anfang Juli [2014]. Der Vorwurf von russischer Seite, dass die USA 100 Berater im Sicherheitsapparat der ukrainischen Regierung bereits einsetze, ist daher nicht aus der Luft gegriffen. Nach dem Absturz der MH17 erwägen die USA, Echtzeit-Zielkoordinaten für Angriffe des ukrainischen Militärs bereitzustellen, im US-Kongress fordern Politiker sogar Waffenlieferungen an das ukrainische Militär. Im Kölner Stadt-Anzeiger heißt es dazu: „Würden die Pläne umgesetzt, wäre das eine kraftvolle Botschaft an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass die USA neben Sanktionen auch noch andere Mittel einsetzen, um die Unterstützung Moskaus für die Separatisten zu beenden.“

Während die möglichen Waffenlieferungen Russlands von den meisten deutschen Medien als Tatsache präsentiert werden und als Beweis für die von Moskau betriebene Eskalation des Konfliktes erscheinen, gilt die militärische Unterstützung des ukrainischen Militärs durch die USA als eine legitime Schutzmaßnahme und wird als stabilisierend kommentiert. Wir erinnern uns: Im UN-Bericht wird beiden, dem ukrainischen Militär wie den Separatisten, vorgeworfen, gegen die Zivilbevölkerung in der Ostukraine Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Sollte Moskau Waffen an die Separatisten liefern, dann ist das ein Verstoß gegen das Verbot, Waffen in Bürgerkriegsregionen zu liefern, in denen Zivilisten nicht ausreichend geschützt werden. Das Gleiche gilt jedoch auch für die USA. In einem der wenigen abwägenden Kommentare in deutschen Medien fordert der Moderator des ARD-Politmagazins »Monitor«, Georg Restle, in den Tagesthemen auch vom Westen, seinen Einfluss geltend zu machen, um den Konflikt zu deeskalieren. Die Schlussfolgerung wird jedoch auch von Restle nicht gezogen. Nimmt man den an Russland angelegten Maßstab, würde »Einfluss geltend machen« bedeuten: keinerlei Unterstützung für die ukrainische Regierung, weder politische, diplomatische, finanzielle noch militärische, solange die Regierungstruppen nicht die Waffen niederlegen. Eine Forderung, die in deutschen und US-Medien außerhalb des Debattenradius liegt.

„Versöhnliche Geste“ vs. „vergiftetes Geschenk“

Was ist mit der Lösung des Konfliktes in der Ukraine? Anfang Juli 2014 legte Poroschenko einen Friedensplan vor, der durchaus eine Chance zur Deeskalation hätte sein können, so Stephen Cohen in der Zeitschrift The Nation: „Bis auf die zwei Grundvoraussetzungen: Kämpfer im Südosten müssten zuerst ‚ihre Waffen niederlegen’, und er alleine würde entscheiden, mit wem er über den Frieden verhandelt. Die Voraussetzungen ähnelten mehr denen einer Kapitulation, und sie waren vermutlich der wahre Grund, dass Poroschenko am 1. Juli [2014] einseitig den Waffenstillstand aufkündigte und Kiews Angriffe auf die Städte im Osten intensivierte, zunächst auf die kleineren Städte Slawjansk und Kramatorsk, aus denen sich die Verteidiger am 5./6. Juli zurückzogen – um, wie sie sagten, noch mehr zivile Opfer zu vermeiden.“ Auf Spiegel Online zitierte man überschwänglich Poroschenko mit den pazifistischen Worten: „Ich will keinen Krieg, ich will keine Rache. Ich möchte Frieden“ – um dann fortzufahren: „Die Separatisten zeigten sich allerdings unbeeindruckt von der versöhnlichen Geste Poroschenkos.“ Janukowitschs Zugeständnisse an die Maidan-Sprecher im Januar 2014, mit denen er sich immer wieder an einen Tisch gesetzt und verhandelt hatte, gingen weit über Poroschenkos Zugeständnisse im »Friedensplan« hinaus. Sie wurden von den Qualitätszeitungen allerdings nicht als „versöhnliche Geste“ bezeichnet, sondern als „unmoralisches Angebot“, als „vergiftetes Geschenk“, das von der Gegenseite zu Recht abgelehnt wurde, auch wenn es weitreichende Zugeständnisse enthielt. „Die Gewalt beenden, ohne die eigene Integrität zu opfern“, das sei Klitschko & Co. gelungen, hieß es dazu in der Süddeutschen Zeitung.

Man könnte unzählige Beispiele herausgreifen und daran aufzeigen, wie gegen elementare journalistische Standards beim Ukraine-Konflikt verstoßen wurde. Über 40 Aktivisten sterben in einem brennenden Gewerkschaftshaus in Odessa, einige davon wurden im Gebäude erschossen. Augenzeugenberichte, etliche Videos und Indizien deuten auf Brandstiftung hin, auf ein Massaker an den Kiew-kritischen Demonstranten, die vor dem Gewerkschaftshaus kampierten, in das sie vor einem gewalttätigen Mob flohen, der einige aus dem Gebäude wieder zurückholte und auf offener Straße brutal zusammenschlug. Es gibt belastende Hinweise, dass rechtsradikale Gruppen und Milizen, möglicherweise aus dem Umfeld der in Kiew mitregierenden Swoboda-Partei, für das Massaker verantwortlich gewesen sind. Die taz wie viele andere Zeitungen und Rundfunksender beließ es bei einem „brennenden Gewerkschaftshaus“, ohne zu vermelden, wer für die „Tragödie“ verantwortlich gewesen sein könnte. Bei den Scharfschützen auf dem Maidan präsentierten die meinungsmachenden Medien hingegen ein staatlich organisiertes Massaker, obwohl, wie sich später zeigte, daran erhebliche Zweifel bestehen. Bei beiden Vorfällen fordert das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinte Nationen unabhängige Untersuchungen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

In den deutschen Medien wurde die Eskalation des Konfliktes durchaus auch mit Sorge betrachtet. Am 16. April 2014 meldete das Handelsblatt: „Ukraine-Eskalation alarmiert deutsche Wirtschaft“. DIW-Präsident Marcel Fratscher warnte vor konjunkturellen Rückschlägen für Europa bei Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Im ZDF-Interview verteidigte Siemens-Chef Joe Kaeser seinen Besuch bei Putin, sprach von „kurzfristigen Turbulenzen“ im Zusammenhang mit der Krim-Angliederung an Russland und warnte vor weiterer Eskalation. Der Siemens-Konzern hatte Ende 2011 Investitionen von rund einer Milliarde Euro in Russland zugesagt, wovon etwa 750 bis 800 Millionen Euro schon umgesetzt sind. Deutsches Kapital in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar finanziert insgesamt 6.200 Firmen in Russland. Dazu kommen die russischen Gas- und Öllieferungen nach Europa. Allein in Deutschland decken sie 35 Prozent des Bedarfs ab. Die drohenden »Marktturbulenzen« im Zuge einer weiteren Eskalation mit Russland haben den politischen und medialen Diskurs in Deutschland zur Ukraine-Krise, wenn auch nur an den Rändern, in seiner Schärfe sicherlich abgemildert. […]

David Goeßmann ist freier Journalist. Er arbeitet für etliche Rundfunksender und Printmedien. Von 2005 bis 2007 war er freier Auslandskorrespondent in Boston/USA, davor Parlamentsreporter und CvD der Deutschen Fernsehnachrichten Agentur. 2009 gründete er zusammen mit dem Dramatiker und Journalisten Fabian Scheidler das unabhängige TV-Nachrichtenmagazin »Kontext TV« (kontext-tv.de).
Übersetzung der englischsprachigen Zitate für W&F: Regina Hagen

Bilderkrieger im »War Porn«?

Bilderkrieger im »War Porn«?

von Felix Koltermann

Bilder von Fotojournalisten stellen bis heute einen elementaren Teil massenmedialer Kriegsberichterstattung dar. Auch der Aufschwung des so genannten »Citizen Journalism« und einzelne »Scoops«, wie die Folterbilder von Abu Ghraib und die Bilder der toten Diktatoren Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi, haben kaum etwas an der Publikationspraxis der gedruckten Presse geändert. Diejenigen, die diese Bilder produzieren, kommen dabei nur selten zu Wort. Umso spannender – und gleichzeitig kontroverser – sind zwei Bücher aus dem letzten Jahr, in denen Fotojournalisten die eigene Arbeit (selbst-) kritisch unter die Lupe nehmen. Der deutsche Fotojournalist Christoph Bangert hat unter dem Titel »War Porn« unveröffentlichte Kriegsbilder zusammengestellt und im Kehrer Verlag veröffentlicht, während der amerikanische Fotojournalist Michael Kamber Dutzende Interviews mit Kollegen führte, die auf Deutsch unter dem Titel »Bilderkrieger« im Ankerherz Verlag erschienen sind.

Das Thema von Bangerts Buch »War Porn« ist die Selbstzensur, die er in seinem Kopf ebenso verortet wie bei Redakteuren und Medienkonsumenten. Aus diesem Grund hat er für »War Porn« über 80 unveröffentlichte Fotografien aus dem Irak, dem Gazastreifen, dem Libanon, Sri Lanka und Afghanistan zusammengestellt, die er im Auftrag der New York Times angefertigt hatte. Diese Bilder sind ein Archiv des Grauens: mit Brandwunden übersäte Körper, Leichen auf Müllkippen oder der blutige Boden in einem Krankenhaus. Gekonnt spielt das Buch dabei mit der Wahrnehmung des Lesers. Einige Seiten sind zugeklebt, und der Leser muss selbst die Entscheidung treffen, ob er sie öffnet und sich weitere Bilder anschaut oder ob er dies lässt. Für Bangert gibt es eine Pflicht des Zeigens, die er geschickt mit seiner Familiengeschichte verwebt: Das Buch endet mit Bildern seines Nazi-Großvaters, der sein Leben lang nur heroische Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt hatte. Bangert sieht sein Buch als Versicherung, dass ihm genau dies nicht passiert und er die Grausamkeiten des Krieges, die seine Erinnerung gebrandmarkt haben, weitergibt.

»War Porn« als Provokation

Mit seinem Buch hat Bangert in Deutschland eine neue Debatte über die Kriegsfotografie angestoßen. Kaum ein Fotobuch war in den letzten Jahren so präsent in den Massenmedien und wurde im Fernsehen wie in Tages- und Wochenzeitungen so häufig rezensiert. Leider wurde dabei selten auf den problematischen Buchtitel und den damit verbundenen Diskurs eingegangen. Bangert selbst benutzt den Begriff »War Porn« als Provokation. Die Einleitung zu seinem Buch zeigt, dass er die Diskussion über das Thema und die Fragen und Vorwürfe, die an ihn als Fotografen gerichtet werden, in- und auswendig kennt. Er dreht den Spieß um, streckt dem Publikum den ausgestreckten Mittelfinger entgegen, um zu sagen: „NATÜRLICH beuten Photographen die abgebildeten Personen aus! NATÜRLICH ist das Kriegspornographie!“ (Bangert 2014, S.5) Seine Botschaft ist: Schaut Euch die Fotos an und urteilt selbst. Dabei ist er sich darüber im Klaren, was mit dem Gebrauch des Begriffs »War Porn« intendiert ist: „Das sind wunderbare Entschuldigungen, entsetzliche Bilder nicht zu veröffentlichen.“ (Bangert 2014, S.5) Dem ist voll zuzustimmen – und gerade deshalb ist der Titel unglücklich gewählt, auch wenn er provokativ gemeint ist. Denn wenn Bangerts Bilder eines nicht sind, dann pornografisch.

Die Einstufung von Kriegsfotografien als Pornografie ist Teil eines Versuchs, ihre Wirkung einzuhegen und ihren Einfluss zu begrenzen. Dies war zum Beispiel an den Bildern der Folterszenen aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis zu beobachten. Die Pornografiedebatte setzt den Fokus auf die Bilder, nicht auf die Geschehnisse, und lenkt damit von der Frage nach den Verantwortlichkeiten für das gezeigte Kriegsgräuel ab. Judith Butler hat dazu folgendes angemerkt: „Das Problem scheint nicht in dem zu liegen, was die Bilder darstellen – Folter, Vergewaltigung, Erniedrigung, Mord -, es scheint eher im sogenannten pornografischen Charakter der Bilder zu liegen.“ (Butler 2009, S.87) Mit dem Pornografiebegriff wird Fotografen der Vorwurf gemacht, sie wollten vermeintlich eine Lust am Grauen befriedigen und würden dies selbst als erregend empfinden. Dies mag vielleicht für folternde Soldaten zutreffen, dieser Vorwurf ist professionellen Bildproduzenten gegenüber aber absurd. In diesem Zusammenhang ist auch die Unterscheidung zwischen dem Skandal im Bild und dem skandalösen Bild (Isermann/Knieper 2010, S.30) wichtig. Beim Skandal im Bild geht es um die auf den Bildkontext verweisende Darstellung, die skandalös ist, beim skandalösen Bild ist das Bild selbst der Skandal. Der Pornografievorwurf verfolgt das Ziel, Kriegsfotografien zu skandalösen Bildern zu machen. Damit findet ein problematischer Ebenenwechsel statt, weg vom Ereignis, hin zur Ebene der Repräsentation.

Vom Fotojournalist zum Bilderkrieger

Anders als »War Porn« lebt »Bilderkrieger« nicht von den Bildern der Kriegsfotografen, sondern von deren Aussagen in Form ausführlicher Gespräche, die zu Interviewtexten editiert wurden. Der Übersetzer und Herausgeber der deutschen Ausgabe, Fred Grimm, und der Ankerherz Verlag wählten aus den 40 Interviews der amerikanischen Ausgabe, die im Original »Photojournalists on War – The untold stories from Iraq« heißt, die Hälfte aus und ordneten sie drei Themenblöcken zu: Mission, Krieg und Narben. Der Fokus liegt auf der Profession der Kriegsfotografen, weniger auf dem Ereignis des Irakkriegs. Ungeschminkt erzählen die männlichen wie weiblichen Fotojournalisten von ihrer Motivation, von ihrer Besessenheit zu fotografieren, von den Höhen und Tiefen des Arbeitsalltags, von den Risiken und Schwierigkeiten dieses Geschäfts. Sie lassen den Leser teilhaben an ihren Kriegserfahrungen, an den Auswirkungen der Konflikteskalation auf ihre Begegnung mit den Menschen im Feld, an ihren Selbstzweifeln und auch an ihrer Wut. Zutiefst menschlich sind die Geschichten, ehrlich und meist ohne Pathos. So war eine Motivation des Autors Michael Kamber für das Buch, den Heldenmythos des Kriegsfotografen zu zerstören.

Unklar bleibt nach der Lektüre, warum die deutsche Ausgabe den Titel »Bilderkrieger« trägt. Die Interviews jedenfalls lassen keine Rückschlüsse darauf zu, dass die Fotojournalisten sich selbst mit Soldaten vergleichen würden, wie es der Titel evoziert. Im Gegenteil: Sie sind fast alle von einer humanistischen Motivation getrieben. Der Titel »Bilderkrieger« ist reißerisch und nimmt Bezug auf die Debatte um den so genannten Bilderkrieg. Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff vor allem vom Kieler Geschichtswissenschaftler Gerhard Paul geprägt. In seinem monumentalen Überblickswerk »Der Krieg der Bilder« (2004) hat er sich der visuellen Darstellung des Krieges angenommen. Er verfolgt die zentrale These, dass Kriegsparteien Bilder als Waffen einsetzen. Mit dem Titel »Bilderkrieger« wird darauf Rekurs genommen. Professionelle Fotografen, die im Krieg Bilder produzieren, werden damit auf eine Ebene mit Soldaten gestellt. Die Unterscheidung zwischen beiden besteht nur noch in der Wahl der Waffen: Während der eine mit Waffen tötet, verbreitet der andere die Bilder und nutzt die Kamera als seine Waffe. Dass mit dieser Gleichsetzung der Akteure jedem journalistischen Anspruch Hohn gesprochen wird, ist offensichtlich.

Dabei kann nicht negiert werden, dass Fotojournalisten verstärkt für Propagandazwecke und »Image Operations« missbraucht werden. Zum Krieger werden sie deswegen jedoch nicht. Der Versuch, die Verantwortung für Tod und Gewalt vom militärischen Akteur auf den Beobachter abzuwälzen, hat gefährliche Implikationen für die Fotojournalisten. Wenn ein Fotograf ein Krieger ist, steht er auch nicht unter dem besonderen Schutz des Kriegsvölkerrechts und wird zu einem »legitimen« militärischen Ziel. Fotografen und Journalisten sind in den letzten zwei Jahrzehnten immer stärker zur Zielscheibe geworden. Aber gerade der Diskurs über den Bilderkrieg sowie die Praxis des »Embedment«, die letztlich eine Unterscheidung zwischen guten, schutzwürdigen Journalisten, die »embedded« sind, und unabhängigen Journalisten, die als Freiwild zum Abschuß freigegeben werden, mit sich bringt, hat diese Tendenz verstärkt. Darüber hinaus macht es die Gleichsetzung von Bildern mit Waffen leichter, Bildern professioneller Journalisten und den Ereignissen, die sie dokumentieren, die Legitimation abzusprechen und sie als Propaganda und Manipulation zu brandmarken, ohne sich mit den Inhalten beschäftigen zu müssen.

Versicherheitlichung der Debatte

Beide Begriffe, sowohl »Bilderkrieger« als auch »War Porn«, folgen somit einem ähnlichen Gedankengang und leisten einer Versicherheitlichung der Debatte um Kriegsbilder und die Arbeit von Kriegsfotografen Vorschub (Koltermann 2014, S.11 ff.). Vor allem seit der Diskussion um die so genannten »Neuen Kriege« (Münkler 2002) und um das Verhältnis von Medien und Krieg ist dies kennzeichnend sowohl für den öffentlichen Diskurs als auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu diesen Themen. Fast unhinterfragt ist die Rede vom »Bilderkrieg« zu einem Gemeinplatz geworden. Nur wenige Wissenschaftler, wie Kai Hafez (2007), mahnen, den Medien nicht zu viel Macht zuzusprechen und das Primat der Kriegspolitik nicht zu vernachlässigen.

Die Bilderkriegsthese folgt einem hegemonialen politischen Diskurs, der zum Ziel hat, die Medien zu Akteuren des Krieges zu machen und die Verantwortung von den Tätern in Uniform und den Akteuren auf der politischen Ebene auf den Journalismus abzuwälzen. Hier finden sich Parallelen zur Debatte über den »Cyberwar«, deren Apologeten Hackerangriffe als Kriegserklärung betrachten, die mit militärischen Mitteln zu beantworten seien. Die Bilderkriegdebatte schließt darüber hinaus an die Dolchstoßlegende des Vietnamkrieges an: Bis heute hält sich der Mythos, der Krieg in Vietnam sei verloren worden, weil die Medien die US-amerikanische Bevölkerung gegen die Regierung aufgewiegelt hätten, obgleich es dafür keinerlei empirische Nachweise gibt.

Dabei liegt weder die politische noch die individuelle Verantwortung für Krieg und Gewalt bei den Fotografen und Journalisten. Zwischen den Bildern bzw. zwischen den Zeilen machen dies auch die Bücher »War Porn« und »Bilderkrieger« mehr als deutlich.

Literatur

Christoph Bangert (2014): War Porn. Heidelberg: Kehrer.

Judith Butler(2009): Raster des Krieges. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Kai Hafez (2007): Die Überlegenheit des Realismus: »Bilderkriege«, »Iconic Turn« und die Ohnmacht der Medien. In: Lydia Haustein, Bernd M. Scherer, Martin Hager (Hrsg.): Feindbilder – Ideologien und visuelle Strategien der Kulturen. Göttingen: Wallstein Verlag, S.126-134.

Holger Isermann und Thomas Knieper (2010): Bildethik. In: Christian Schicha und Carsten Brosda (Hrsg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.304-317.

Michael Kamber (2013): Photojournalists on War – The Untold stories from Iraq. Austin: The University of Texas Press. Deutsche Ausgabe ders. (2013): Bilderkrieger – Von jenen, die ausziehen, uns die Augen zu öffnen. Kriegsfotografen erzählen. Übersetzt und bearbeitet von Fred Grimm. Hollenstedt: Ankerherz.

Felix Koltermann (2014): Fotografie und Konflikt – Texte und Essays. Norderstedt: BoD.

Herfried Münkler (2002): Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Gerhard Paul (2004): Bilder des Krieges – Krieg der Bilder: Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn: Schöningh.

Felix Koltermann ist Friedens- und Konfliktforscher, Trainer und Journalist. Er promoviert an der Universität Erfurt über die fotojournalistische Produktion in Israel und den palästinensischen Gebieten. Auf fotografieundkonflikt.blogspot.com bloggt er zum Thema.