Krieg und Frieden in den Medien

Krieg und Frieden in den Medien

Tagung der IALANA, 26.-28. Januar 2018, Kassel

von Stefan Hügel

Ende Januar fand ein von IALANA Deutschland organisierter Medienkongress statt. Er befasste sich kritisch mit der Kriegsberichterstattung in den Medien, die seit einiger Zeit Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen ist. Leitfrage des Kongresses war: Kann man ein Leitbild »Friedensjournalismus« etablieren, das der Wahrheit verpflichtet ist und deeskalierende Berichterstattung betreibt? Der Kongress war sehr gut besucht, die CROSS-Jugendkulturkirche in Kassel gut gefüllt.

»Klassische« Medien sind zunehmend Kritik ausgesetzt. Sie werden verdächtigt, Propaganda zu betreiben und allzu »staatsnah« von Ereignissen zu berichten. Diese Kritik nimmt seit dem Konflikt in der Ukraine zu, in dem vor allem den öffentlich-rechtlichen Medien eine zu deutliche – und sachlich nicht immer gerechtfertigte – Schuldzuweisung an Russland vorgeworfen wird. Unter Druck geraten klassische Medien auch durch die Kommunikation in sozialen Netzwerken und allgemein im Internet, in dem sich eine Vielfalt von Ansichten und (vermeintlichen) Fakten verbreitet – von den »News« zu den »Fake News« ist es oft nur ein einziger Mausklick. Verstärkt wird dies durch politische Akteure, allen voran US-Präsident Trump, die ihre eigene Sicht zu aktuellen Ereignissen verbreiten und einen erheblichen Einfluss darauf ausüben, was für »wahr« gehalten wird – und was nicht.

Gleichzeitig stehen gegen kritische Journalist*innen Vorwürfe im Raum, Verschwörungstheorien zu verbreiten, gar Antisemitismus. Auf Twitter wurden solche Behauptungen auch gegen diese Veranstaltung laut. Die unterstellte Verbindung zwischen antisemitischen Medien und Journalist*innen, die auch auf dieser Veranstaltung zu Wort kamen, wurde von den Veranstaltern entschieden zurückgewiesen. Dennoch wird ein Dilemma deutlich: Wann werden tatsächlich mit Verschwörungstheorien allzu einfache Erklärungen präsentiert, und wann wird der Vorwurf der Verschwörung dafür eingesetzt, missliebige Fragen und Interpretationen zu ersticken? Eine Antwort darauf kann man vielleicht nur im konkreten Einzelfall geben.

Zum Programm: Nach der Themeneinführung am Freitagabend befassten sich die Referate am Samstagvormittag mit der Frage, wie in den Medien über Krieg berichtet wird und warum genau in dieser Weise berichtet wird. Dabei ging es vor allem um die Frage, wer auf Medien Einfluss nimmt. Auch die inneren Strukturen der Medien spielen eine Rolle: Welche Kontrollstrukturen und -gremien gibt es und welchen Einfluss haben sie auf die Inhalte?

Konkrete Themen waren Inhalt des nächsten Blocks: Die Berichterstattung über den Kosovo-Krieg, der Krieg in Syrien, die illegalen Kriege der USA, die Konfrontationspolitik gegenüber Russland wurden hinsichtlich möglicher Manipulation der Öffentlichkeit kritisch beleuchtet. Daraus ergibt sich die Frage, wie wir uns gegen solche Manipulation schützen können.

Eine systematische Aufarbeitung von Propaganda und den Möglichkeiten ihrer Erkennung bildete den Auftakt zum Sonntag. Danach gab es Schlaglichter auf die Rolle von Public-Relations-Agenturen und auf die formalen Wege, um auf die Berichterstattung in den Medien als Einzelperson Einfluss zu nehmen, wie Programmbeschwerden, Gegendarstellungen oder gerichtliche Anordnungen. Einige alternative Medien wurden vorgestellt: NachDenkSeiten, weltnetz.tv, correctiv und RUBIKON. Den Abschluss bildete die Diskussion der Möglichkeiten von alternativen Medien.

Der Kongress gab – so mein Fazit – einen sehr guten Überblick über alternative Medien und war gleichzeitig stark durch die Kritik an den »klassischen« Medien geprägt – deren Vertreter*innen allerdings kaum präsent waren. Offenbar hatten eingeladene Vertreter*nnen klassischer Medien ihre Teilnahme abgesagt. Dies führte dazu, dass die Diskussionen nicht übermäßig kontrovers waren. Dass Journalismus interessengeleitet sein kann, ist nichts Neues und muss offen diskutiert werden. Sich dieser Diskussion zu entziehen hilft ebenso wenig weiter, wie die eigene kritische Meinung in Echokammern zu reproduzieren.

Auch eine intensivere Auseinandersetzung mit den »Verschwörungs«-Vorwürfen wäre wohl notwendig: Auch wenn man sich dieser Kritik nicht anschließen mag, die Aussagen stehen im Raum und können nicht ignoriert werden.

Zweifellos lässt sich all dies nicht an einem einzelnen Wochenende aufarbeiten. Wollte man sich als Teilnehmer*in über alternative Medien und fundierte Kritik an klassischen Medien informieren, war der Besuch des Kongresses absolut lohnenswert.

Eine Dokumentation des Medienkongresses findet sich unter ialana.de. Die Veranstaltung wurde durch Weltnetz.tv aufgezeichnet; Aufzeichnungen einiger Vorträge finden sich unter weltnetz.tv/dossier.

Stefan Hügel

Wem kann ich trauen im Netz?

Wem kann ich trauen im Netz?

FIfF-Konferenz 2017, 20.-22. Oktober 2017, Universität Jena

von Stefan Hügel

Am Wochenende vom 20. bis 22. Oktober 2017 fand an der Universität Jena die FIfF-Konferenz 2017 »TRUST – Wem kann ich trauen im Netz und warum?« statt. Die FIfF-Konferenz ist die jährliche Konferenz des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.

Vertrauen ist die Basis, auf der unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Wenn wir einander nicht mehr vertrauen können, funktioniert unser Zusammenleben nicht – das gilt auch im Netz. Wenn wir Dienste im Internet nutzen, müssen wir den Anbietern vertrauen können, dass sie die entsprechenden Leistungen erbringen und die Daten, die wir ihnen senden, verantwortungsvoll verwenden.

Doch das Vertrauen wird heute im Netz täglich verletzt, sowohl illegal als auch legal. Wir müssen uns vor kriminellen Menschen schützen, die unser Vertrauen missbrauchen. Spätestens seit den Veröffentlichungen des Whistleblowers Edward Snowden wissen wir aber auch, dass Behörden unsere Kommunikation umfassend ausspähen. Formaljuristisch ist dies häufig legal, verfassungsrechtlich bestehen aber erhebliche Zweifel, wie bereits mehrfach höchstrichterlich festgestellt wurde. Dazu kommt der Datenhunger der Diensteanbieter, die ihre Geschäftsmodelle auf der Nutzung der Daten aufbauen und dies zum Beispiel durch für den Laien unverständliche Nutzungsbedingungen formaljuristisch legalisieren. Dem soll mit dem neuen europäischen Datenschutzrecht gegengesteuert werden, doch inzwischen wissen wir, dass gerade die deutsche Bundesregierung massiv versucht, dieses Recht aufzuweichen und zu bremsen. Auch damit wird Vertrauen zerstört.

Ziel der FIfF-Konferenz war, die Bedeutung des Vertrauens umfassend zu thematisieren. Die Tagung war dafür in mehrere Blöcke aufgeteilt: Der Block »Cyberpeace statt Cyberwar« behandelte die Risiken, die sich aus der zunehmenden Militarisierung des Netzes ergeben. Die Bundeswehr will ihre Aktivitäten im Netz erheblich ausweiten und dabei auch Angriffskapazitäten aufbauen. Eine besonders perfide Form des Cyberkriegs ist die Nutzung von Drohnen, die die Opfer Tag und Nacht ständiger Bedrohung aussetzen.

Verlorenes Vertrauen kann durch ein besonderes Maß an IT-Sicherheit wiederhergestellt werden. Der Themenblock »IT-Sicherheit« behandelte den Zusammenhang zwischen Vertrauen und Sicherheit. Neben der Frage, ob Vertrauen und IT-Sicherheit im Gegensatz zueinander stehen, wurde der Zusammenhang anhand der Beispiele Open-Source-Software und Spam betrachtet.

Thema von zwei Vorträgen im Themenblock »Medien und soziale Netzwerke« war die Nutzung von Medien für die zivile Sicherheit. Ein Vortrag beschrieb ein unabhängiges Radioaktivitätsmessnetz im Umkreis der belgischen Atomreaktoren Tihange und Doel, wo eine zivilgesellschaftliche Initiative – zunächst in Aachen – zur Selbsthilfe griff, nachdem öffentliche Stellen dem in sie gesetzten Vertrauen nicht gerecht wurden. Der zweite Vortrag erläuterte die Nutzung von Daten aus sozialen Netzwerken durch Einrichtungen wie Feuerwehr oder Technisches Hilfswerk, um schneller und effizienter Hilfe leisten zu können. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit öffentlich-rechtlicher Medien, die in letzter Zeit häufiger in Zweifel gezogen wurde, stellte Prof. Dr.-Ing. Gabriele Schade, vormals Vorsitzende (und derzeit stellvertretende Vorsitzende) des MDR-Rundfunkrats, in ihrem abschließenden Beitrag.

Der letzte Block behandelte die Frage der »Transparenz«. Transparenz ist ein entscheidender Faktor, um Vertrauen zu gewinnen. Die Referent*innen befassten sich mit der besonderen Bedeutung der IT-Sicherheit im Gesundheitswesen, mit der Attribuierung von Cyberattacken und deren Interpretation in Medien und Politik, mit den Herausforderungen des Identitätsmanagements sowie mit Problemen und Perspektiven von Free-to-Play-Spielen.

Ergänzt wurden die Vorträge wie gewohnt durch eine Reihe von Workshops. Am Samstagabend hielten wir Rückschau auf das vergangene Jahr und die Aktivitäten des FIfF. Der diesjährigen FIfF-Studienpreis wurde an Tobias Krafft für seine an der Technischen Universität Kaiserslautern erstellten Masterarbeit »Qualitätsmaße binärer Klassifikatoren im Bereich kriminalprognostischer Instrumente der vierten Generation« verliehen. Dietrich Meyer-Ebrecht, der aus persönlichen Gründen sein Engagement reduzieren möchte, wurde vom Vorstand des FIfF für seine langjährige Arbeit herzlich gedankt. Wir freuen uns sehr, dass er weiterhin, wenn auch in geringerem Umfang, beim FIfF aktiv bleiben wird.

Den Abschluss der Tagung bildete am Sonntag die Mitgliederversammlung mit der Neuwahl des FIfF-Vorstands. Dieser blieb fast unverändert: Stefan Hügel wurde wieder zum Vorsitzenden, Rainer Rehak als Nachfolger von Dietrich Meyer-Ebrecht zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt.

Stefan Hügel

Neue Medien als Friedensressource?


Neue Medien als Friedensressource?

von Vladimir Bratic

Die letzten drei Jahrzehnte konnten wir beobachten, dass Medien in Konfliktzonen durchaus eine kon­struktive Rolle spielen können. ­Diese Entwicklung ist relativ neu und erfreulich. Zuvor standen die Medien vorwiegend im Dienst mächtiger Parteien, die sie dazu nutzten, ihren Einfluss auszuweiten – und das bedeutete allzu oft, Konflikte anzuheizen. Von den einfachen Kommunikationsmitteln der römischen Armeen bis zu Hitlers Propagandatechniken dienten die Medien den Machtzentren als passives Werkzeug der Massenkommunikation. Mit Aufkommen der neuen Medien hat sich die Situation nun geändert. Der Artikel untersucht das Potential der neuen Medien als Werkzeuge für den Frieden.

Die positive Nutzung von Medien in Konfliktsituationen reicht bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, als sich die internationale Gemeinschaft auf Fragen der internationalen Entwicklung mit Schwerpunkt auf Armutsbekämpfung, Gesundheitsfürsorge und Krankheitsverhütung konzentrierte. Zu dieser Zeit wurden die Medientechnologien zunehmend transportabel, einfacher zu bedienen, billiger und zugänglicher. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit können seither nicht nur Regierungen und große Medienunternehmen, sondern auch Bürger*innen eigene Massenmedienkanäle besitzen und betreiben. Vielen engagierten Bürger*innen gelang es mithilfe von Nichtregierungsorganisationen, eigene Radiostationen, Fernsehnetze und Zeitungen aufzubauen, da dafür keine großen Maschinen, teure Einrichtungen oder spezielle Fachkenntnisse mehr erforderlich waren. Die Vereinten Nationen waren die Ersten, die in ihre Peacekeeping-Missionen ein eigenes Medienangebot einbanden (eine Radiostation in Kambodscha und gedruckte sowie audiovisuelle Materialien in Namibia).

Seitdem setzten viele andere staatliche und nicht-staatliche Akteure gezielt Programme zur Finanzierung und Produktion von Medieninhalten für Gesellschaften in Konfliktsituationen auf. Ziel ist dabei die Hilfestellung für die Lösung von Streitigkeiten und gewalttätigen Konflikten durch gewaltfreie Verhandlungen, und zwar auf politischer wie auf bürgerschaftlicher Ebene. Nach dem Konflikt in Bosnien und Herzegowina gab allein die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) nach eigenen Angaben mehr als 1,6 Mrd. US$ für friedensfördernde Aktivitäten aus.1 Sie investierte großzügig in neue Radio- und Fernsehnetzwerke (Open Broadcast Network und Free Election Radio Network/Radio FERN). Nach dem Genozid in Ruanda erreichte in den späten 1990er Jahren eine Radio-­Soap-Opera über das Leben benachbarter Hutu- und Tutsi-Familien und eine daraus entstehende Liebesgeschichte über die ethnischen Grenzen hinweg 80 % der Bevölkerung.2 In Nordirland startete die führenden Werbeagentur McCann Erickson nach dem Karfreitagsabkommen von 1999 eine Medienkampagne, die den Bürger*innen von Nordirland auf Plakatwänden, in Postwurfsendungen und in Radio- sowie TV-Spots die Vorteile des Friedens erläuterte.

Fachleute, die friedensorientierte Medienarbeit durchführten, erkannten aber bald, dass Propaganda, Volksverhetzung und Drohungen gegen Journalist*innen auszuschalten ebenso wichtig ist wie positive Medieninhalte zu produzieren. Deshalb legten viele Länder in ihrer Nachkonfliktphase großen Wert auf die Einführung von Mediengesetzen und den Aufbau von Behörden oder Institutionen zur Medienkontrolle.

Über das Internet kann inzwischen jede*r mit einem Handy, einem Blog oder einem Profil in den sozialen Medien selbst Informationen für ein Massenpublikum erzeugen. Und auch zum Peacekeeping wurden das Internet und mobile Technologien als Massenkommunikationsmittel bald eingesetzt. Ein Beispiel: In Kenia brachen nach der Bekanntgabe der Präsidentschaftswahlergebnisse am 30. Dezember 2007 Unruhen aus. In dieser Situation organisierte Ushahidi, eine kleine Gruppe von Aktivist*innen, eine Online-Plattform, über die Gewaltausbrüche per SMS gemeldet werden konnten. Die Vorfälle wurden auf einer Google-Karte verzeichnetet und warnten die betroffene Bevölkerung, gewisse Gebiete vorübergehend zu meiden. Neu war dabei, dass die Informationen über die Gewaltausbrüche vor Ort nicht von Journalist*innen, sondern per SMS direkt von den Bürger*innen selbst kamen.

Im Lauf der letzten 30 Jahre haben sich vier Kernbereiche herauskristallisiert, in denen Medien beim Peacebuilding wirksame Partner sein können, nämlich Journalismus, Unterhaltung und Marketing, gesetzliche Regelungen und in jüngster Zeit die neuen Medien. Guter Journalismus ist für den Frieden äußerst wichtig, denn er kann gleich mehrere Funktionen erfüllen, die die Macht von Konfliktstiftern eindämmen und der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen. Deshalb floss in den letzten Jahren zur Stärkung eines professionellen Journalismus viel Geld in Schulungsmaßnahmen, in die Unterstützung unabhängiger Medien und in die Pluralisierung von Medienangeboten.

Unterhaltung wird oft als triviale Freizeitaktivität abgetan und nur selten als Vehikel für einen politischen Wandel in Betracht gezogen. Dabei wird erheblich unterschätzt, in welchem Maße Unterhaltungsshows dazu beitragen können, Einstellungen zu ändern, Werte zu beeinflussen und das Publikum auf Versöhnung einzustimmen.

Geschicktes Marketing hat sich ebenfalls bewährt, um größere Hürden für den Frieden zu adressieren. Minenräumkampagnen, Werbung für das Recht von Flüchtlingen auf Rückführung in ihre Heimat, Lobbyarbeit für den Abschluss von Friedensabkommen sind nur einige erfolgreiche Beispiele.

Trotz dieser positiven Entwicklungen sind Propaganda, Volksverhetzung, Gewalt gegen Journalist*innen sowie die Medienzensur nach wie vor relevante Hindernisse für einen anhaltenden Frieden. Daran werden auch positive Geschichten, die über journalistische, Marketing- oder Unterhaltungskanäle verbreitet werden, kaum etwas ändern. Vielmehr werden umfassende Mediengesetze und Kontrollsysteme gebraucht mit einer Kombination aus gesetzlichen Regelungen gegen Volksverhetzung, Verhaltenskodizes für Journalisten, Gesetzen gegen Verleumdung und üble Nachrede sowie Aufsichtsbehörden, die die Umsetzung dieser Gesetze überwachen und durchsetzen können.

Schließlich könnten die neuen Medien die fruchtbarsten Werkzeuge für den Frieden werden, sie bergen aber auch ein hohes Potential, Konflikte anzuheizen. Gut organisierte Nichtregierungsorganisationen, die im Friedensbereich aktiv sind, setzen die neuen Technologien (Mobiltelefone, soziale Medien und ganz allgemein das Internet) bereits vielfältig zur Beeinflussung von Konfliktsituationen ein. Beispiele dafür sind die Satellitenüberwachung von Konfliktzonen, die Sammlung, Analyse und Darstellung von humanitären Bedarfen in Konflikten (crisis mapping), Social-Media-Kampagnen von Aktivist*innen oder die Einbindung von Bürger*innen in die Berichterstattung per Blog, Video oder SMS.

Neue Medien: unsere letzte und beste Hoffnung für Frieden?

In den letzten Jahren wurden soziale Medien ein omnipräsenter Teil des modernen Lebens und der sozialen Interaktion von Menschen aller Altersgruppen. Kaum ein Aspekt des modernen Lebens ist nicht von sozialen Medien betroffen, sei es das Geschäftsleben, der Bildungsbereich oder die Politik. Die sozialen Medien gehören untrennbar zu den neuen technischen Geräten (Tablets, Mobiltelefone und Smart-TV). In den USA greifen 80 % der Smartphone-Benutzer*innen nach dem Aufwachen als erstes nach ihrem Handy.3 Daher wundert es nicht, dass soziale Medien und neue Technologien inzwischen wichtige Werkzeuge für den Frieden wie auch für den Konflikt sind. Facebook, Twitter, YouTube und Apps für smarte Geräte entwickelten sich in den Propagandakriegen in Syrien und der Ukraine zu neuen Frontlinien. Längst vorbei sind die Zeiten, als al-Qaida Videobänder verschickte. Heute werden professionell bearbeitete Videos des »Islamischen Staates« in HD-Qualität über soziale Medien verbreitet und über soziale Netzwerke global beworben. Die Frage ist also, ob die neuen Medien und Technologien anstatt zur Verbreitung konfliktfördernder Ideologien genauso gut zur Ausweitung friedensfördender Aktivitäten taugen.

Dafür gibt es zahlreiche Belege. Am bekanntesten ist die Nutzung von sozialen Medien im »Arabischen Frühling«, als sie von entscheidender Bedeutung für die Organisation von Treffen waren, die letztlich zum Sturz der autoritären Regime führten. Im Dezember 2010 begann in Tunesien die Revolte gegen Präsident Ben Ali,4 als sich das Handy-Video des ersten Protests über YouTube und Facebook in der arabischen Welt ausbreitete.5 Etwa zur selben Zeit organisierte ein Ägypter namens Wael Ghonim in einer Facebook-Gruppe über 100.000 Menschen für die Demonstration vom 25. Januar 2011 gegen Präsident Hosni Mubarak.6 2009 wurden im Iran ähnliche Proteste federführend über Twitter organisiert. Die Massenmedien tauften diese Proteste daher bald »Twitter-Revolution« und »Facebook-Revolution«. Allerdings vereinfachen diese Anekdoten die tatsächlichen Gegebenheiten, übertreiben die Rolle der neuen Technologie und vernachlässigen den persönlichen Einsatz der Menschen vor Ort.

Aus den neuen Möglichkeiten der Menschen, Informationen zu teilen, haben sich zwei neue Techniken entwickelt: das so genannte Crowdsourcing und die Sammlung von »Big Data«. Crowdsourcing ist die Produktion von Wissen oder Medieninhalten mittels Informationen, die viele an einem Ereignis beteiligte Menschen beisteuern. Werden die Datenmengen so groß, dass sie nur noch mit automatischen Tools verarbeitet werden können, wird das als »Big Data« bezeichnet. Sowohl Crowdsourcing als auch Big Data kommen in vielen Krisengegenden zum Einsatz. Die Arbeit der Gruppe Ushahidi in Kenia wurde oben bereits erwähnt. In den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Libyen 2011 nutzte das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen die Plattform von Ushahidi, um die unmittelbare humanitäre Krise besser zu verstehen. Die per SMS übermittelten Daten wurden in Echtzeit in einer Krisenkarte zusammengefasst, die mehr als 2.000 Berichte über Sicherheitsprobleme, Fluchtbewegungen und humanitäre Bedarfe verzeichnete. Der Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen bestätigte anschließend, dass die Krisenkarte bei der Planung der Hilfsprogramme entlang der Grenzen zu Ägypten und Tunesien als eine Hauptinformationsquelle diente.7

In schwer zugänglichen Konfliktregionen kommt darüberhinaus Satellitenüberwachung zum Einsatz. Staatliche und nichtstaatliche Organisationen nutzen hoch aufgelöste Satellitenbilder kommerzieller Satellitenbetreiber, um Ereignisse vor Ort (z.B. Truppenmobilisierung und -bewegungen, Gewaltausbrüche, Zerstörung, Massengräber) zu dokumentieren und auszuwerten, weitere Verbrechen zu verhindern und die Strafverfolgung einzuleiten. Diese technische Möglichkeit durchkreuzt die Annahme der Täter, anonym und straffrei agieren zu können. Zwei solche Projekte, »Eyes on Darfur« (Augen auf Darfur) und »Satellite Sentinel« (Satellitenwächter) wurden initiiert, um die Situation im Sudan und Südsudan zu verfolgen. Die Satellitenüberwachung zeigte erkennbare Ergebnisse: Das Verhalten und die Bewegungsmuster der Janjaweed-Milizen veränderten sich, Lokalregierungen reagierten, es wurden weniger Dörfer in den überwachten Regionen überfallen, und die Regierung des Tschad entschied, die Stationierung von Friedensgruppen an ihrer Grenze zuzulassen.8

Die Sammlung und Verteilung von Informationen war zuvor die Domäne professioneller Journalist*innen, deren Hauptaufgabe es ist, die Öffentlichkeit zu informieren. Die neuen Technologien habe nun eine Vielzahl von Akteur*innen in die Lage versetzt, selbst Informationen zu sammeln und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Da die sozialen Medien kostenlos und einfach zu nutzen sind, können jetzt ganz unterschiedliche Interessensgruppen selbst Informationen sammeln, Lobbyarbeit betreiben und ein Massenpublikum ansprechen. Die Nutzung von Satellitenbildern, wie im Projekt »Eyes on Darfur«, ist nur ein Beispiel, wie mithilfe der so gewonnenen Informationen gleichzeitig die Öffentlichkeit informiert und die eigenen Handlungsspielräume ausgeweitet werden können.

Grund zur Sorge

Dennoch werden auch die neuen Technologien viel zu häufig eingesetzt, um Hürden für den Frieden aufzubauen: Autoritäre Akteure und Terroristengruppen führen erfolgreich ihre Propagandakriege; das Recht zur Meinungsäußerung wird online unterdrückt; anonyme Hass­reden und Volksverhetzung verbreiten sich über das Netz. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fand in einer umfangreichen Studie zu Krisenfrühwarnung und -prävention heraus, dass ein Genozid wie der von 1994 in Ruanda im Jahr 2009 hätte ebenso wenig verhindert werden können.9 Militante Gruppen fühlen sich ermutigt durch die Möglichkeit, mit ihrer Online-Propaganda ein breites Publikum zu erreichen. Online ist ihr Potential zur Konfliktverschärfung oft erheblich größer als ihre physische Präsenz.10 Ob von lokalen Aufständischen wie im Irak oder von global agierenden Terroristenorganisationen wie al-Qaida und dem »Islamischen Staat«: Ihre widerliche Rhetorik und ihre Audio- und Videopropaganda durchziehen sämtliche soziale Netzwerke, sei es Facebook, YouTube, Twitter oder Instagram.11

Außerdem unterdrücken weiterhin autoritäre Regierungen die Grundrechte der Menschen auf Rede- und Informationsfreiheit. Entsprechende Versuche der Zensur von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken sind aus China,12 Ägypten13 und Iran14 vielfach belegt. Der saudi-arabische Blogger Raif Badawi wurde wegen »Beleidigung des Islam« zu einer langen Haftstrafe, einer hohen Geldstrafe sowie zu 1.000 Peitschenhieben verurteilt.15 In Bangladesh wurden im vergangenen Jahr etliche Blogger, die über säkulare Themen schrieben, in aller Öffentlichkeit mit Macheten ermordet.16

Fazit

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass die neuen Medien ganz ähnlich eingesetzt werden wie die traditionellen. Propaganda, Übergriffe auf Journalist*innen und die Unterdrückung der Redefreiheit verschwinden nicht mit den neuen Technologien und den sozialen Medien. Bis zum Ende des Kalten Krieges dominierte bei der Mediennutzung die Propaganda, seither werden Medien auch zum Peacebuilding eingesetzt. Dies wirkte sich in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und in Asien durchaus positiv auf die Sicherheitslage aus.17 Die neuen Technologien stellen zusätzliche Tools und Ressourcen zur Verfügung, die zum Kontern gewalttätiger Konflikte sinnvoll eingesetzt werden können. Mit neuen Medien kann die Zivilgesellschaft informiert, beteiligt und mobilisiert werden. Insgesamt haben die neuen Medien die Möglichkeiten von Friedensakteuren, ihre Ziele zu erreichen, auf allen Ebenen verbessert. Dass Medien für ganz unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden, für gute und für schlechte, daran wird sich aber auch mit den neuen Technologien nichts ändern.

Anmerkungen

1) USAID (2016): Bosnia and Herzegovina History; usaid.gov, last update September 1, 2016.

2) Radio Netherlands (2004): Peace Radio – Burundi. Abgerufen am 29. Juli 2004 auf rnw.nl.

3) Stadd, A. (2013): 79 % Of People 18-44 Have Their Smartphones With Them 22 Hours A Day [STUDY]. addweek.com, April 2, 2013.

4) Fahimi, K. (2011): Slap to a Man’s Pride Set Off Tumult in Tunisia. New York Times, January 21, 2011.

5) Auslöser der Proteste war ursprünglich die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers, der sich aus Verzweiflung über die Schikanen der Sicherheitskräfte mit Benzin begoss und anzündete. [R.H.]

6) Giglio, M. (2011): Reluctant Revolutionary. Newsweek, 31.10.2011, S. 45-45.

7) Bailard, C. (2012): Mapping the Maps – A Meta-Level Analysis of Ushahidi and Crowdmap. Washinton, D.C.: Internews Center for Innovation & Learning, May 2012.

8) Meier, P. (2010): Will Using »Live« Satellite Imagery to Prevent War in the Sudan Actually Work? Blog irevolution.net, December 30, 2010.

9) OECD(2009): Violence, War and State Collapse – The Future of Conflict Early Warning and Response. Paris: OECD.

10) Weimann, G. (2010): Terror on Facebook, Twitter, and Youtube. Brown Journal of World Affairs, Vol. 16, No. 2, S. 45-54.

11) Weimann, G. (2014): New Terrorism and New Media. Washington, D.C.: Woodrow Wilson International Center for Scholars, Common Lab research series No. 2.

12) MacKinnon, R. (2011): China’s »networked authoritarianism«. Journal of Democracy, Vol. 22, No. 2, S. 32-46.

13) Sakr, N. (2010): News, transparency and the effectiveness of reporting from inside Arab dictatorships. International Communication Gazette, Vol. 72, No. 1, S. 35-50.

14) Golkar, S. (2011): Liberation or Suppression Technologies? The Internet, the Green Movement and the Regime in Iran. Inter­national Journal of Emerging Technologies & Society. Vol. 9, No. 1, S. 50-70.

15) Burke, J. (2015): Saudi blogger Raif Badawi may receive second set of lashes on Friday. ­theguardian.com, 11 June 2015.

16) Chandler, A. (2015): The Final Posts of a Murdered Blogger. The Atlantic, May 15, 2015.

17) Stauffacher, D.; Weekes, B.; Gasser, U.; Maclay, C.; Best, M. (eds.) (2011): Peacebuild­ing in the Information Age – Sifting Hype from Reality. Geneva: ICT4Peace Foundation.
Livingston, S.L. (2011): Africa’s Evolving Infosystems – A Pathway to Security and Stability. Boulder, Colorado: Africa Center for Strategic Studies, Research Paper No. 2.

Vladimir Bratic, Ph.D., ist Associate Professor für Communication Studies an der Hollins University in Roanoke, Virginia/USA.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Gefährliche Symbiose?

Gefährliche Symbiose?

Neonazis und ihr Verhältnis zu den Medien

von Katharina Neumann

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen terroristischen, auch neonazistischen, Akten und der Medienberichterstattung darüber. Spektakuläre Vorfälle greifen die Medien gerne auf, um ihre Auflagen zu steigern. Im Gegenzug erhalten die Akteure eine hohe Aufmerksamkeit, die sie zur Selbstdarstellung nutzen können. Die Autorin geht hier der Frage nach, welche Rückwirkungen die Berichterstattung über Rechtsextremismus auf die rechte Subkultur hat und ob eine bestimmte Form der Berichterstattung zur Nachahmung inspiriert bzw. diese eher verhindert. Im Fokus der Untersuchung steht, welche Effekte durch Berichterstattung über Rechtsextremismus innerhalb der rechtsextremen Szene selbst ausgelöst werden.

Am 22. Juli 2011 starben in Oslo und auf der Insel Utøya 77 junge Menschen bei terroristischen Anschlägen mit rechtsextremem Hintergrund. Der Attentäter, Anders Breivik, begründete seine Taten wie folgt: „Ich wollte genug töten, damit die Veröffentlichung meines Manifests genug Aufmerksamkeit in der Weltpresse auf sich zieht. Die Operation war nur eine Formalität.“ (zitiert in Traufetter 2011). Viele Medien entschieden sich dennoch für eine ausführliche Berichterstattung. Die Terrorismusforschung spricht in diesem Zusammenhang von einer „symbiotischen Beziehung“ (Glaab 2007, S. 13). So liefern Terroristen den Medien publikumsgenerierende Inhalte, während sie im Gegenzug mediale Aufmerksamkeit erhalten und die damit verbundene Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Eine solche symbiotische Beziehung birgt für Journalist*innen ein Dilemma: Wie sollen Medienmacher*innen die Öffentlichkeit informieren und aufklären, ohne ideologischem Gedankengut eine Plattform zu geben? Dass dieser Spagat durchaus schwierig sein kann, darauf deutet die Tatsache hin, dass, wie schon nach früheren Berichterstattungswellen über fremdenfeindliche Anschläge (Brosius und Esser 2002), auch in den Monaten nach der Aufdeckung der NSU-Morde die Anzahl fremdenfeindlicher Gewaltverbrechen sprunghaft anstieg und bundesweit bis heute auf einem hohen Niveau verblieben ist: In Deutschland werden laut dem jüngsten Verfassungsschutzbericht durchschnittlich drei rechtsextreme Gewalttaten pro Tag verübt (Verfassungsschutzbericht, 2015).

Es stellt sich demnach die Frage, welche Rückwirkungen die Berichterstattung über Rechtsextremismus auf die rechte Subkultur hat und ob eine bestimmte Form der Berichterstattung zur Nachahmung inspiriert bzw. diese eher verhindert (vgl. Neumann und Baugut 2016). Ebendiesen Fragen geht die hier vorgestellte Studie nach. Die forschungsleitende Frage lautet: Welche Effekte werden durch Berichterstattung über Rechtsextremismus innerhalb der rechtsextremen Szene ausgelöst?

Durch die Beantwortung dieser Frage sollen Wege für einen verantwortungsbewussten medialen Umgang mit dem Phänomen Rechtsextremismus aufgezeigt werden.

Theoretischer Hintergrund

Das Konzept reziproker Effekte (vgl. u.a. Lang und Lang 1952) dient als theoretische Basis der Untersuchung. Dieses beschreibt die spezifische Wirkung medialer Berichterstattung auf deren »Protagonisten«; also auf die Personen, über die berichtet wird und die laut Kepplinger stärkeren Medieneffekten unterliegen als die unbeteiligten Zuschauer*innen bzw. Leser*innen (Kepplinger 2007).

Um reziproke Effekte theoretisch zu konzeptualisieren, entwickelte Kepplinger (2007; 2010) ein Modell, in dem Art und Intensität der reziproken Effekte (2010, S. 138 ff.) von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, die in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander stehen und die Reaktionen der Protagonisten auf die Berichterstattung beeinflussen. Diese Reaktionen sind unter Umständen Ausgangspunkt für erneute Berichterstattung. Obwohl Ursache und Wirkung also nicht eindeutig voneinander zu trennen sind, unterscheidet Kepplinger (ebd.) aus Gründen der Übersichtlichkeit analytisch zwischen Ursachen (Mediennutzung), Verarbeitungsprozessen und Wirkungen. Als Ausgangspunkt des Modells wählt Kepplinger die Medienberichterstattung und begründet dies mit dem Verweis auf eine zunehmende Medialisierung; so geschähe in modernen Gesellschaften vieles nur deshalb, weil die Medien darüber berichteten (ebd., S. 138).

Untersucht wurden reziproke Effekte bislang allerdings nur bei Personen, die konkret in der Berichterstattung auftauchen, beispielsweise Politiker*innen (Kepplinger 2009) oder Spitzensportler*innen (Bernhart 2008). Die vorgestellte Arbeit überträgt das Modell reziproker Effekte auf Anhänger der rechtsextremen Szene in Deutschland. Es wird argumentiert, dass mediale Berichterstattung auch bei den Mitgliedern einer sozialen Gruppe zu reziproken Effekten führen kann, wenn innerhalb der Gruppe eine starke „soziale Identität“ (Tajfel and Turner 1979) besteht und sich die Gruppenmitglieder entsprechend stark mit »ihrer« Gruppe identifizieren. Es wird angenommen, dass u.a. die Verfolgung gemeinsamer ideologischer Ziele zu einer solch starken Identifikation des einzelnen Mitgliedes mit der jeweiligen rechtsextremen Gruppierung führt. Durch diese Identifikation würde wiederum eine unmittelbare, persönliche Betroffenheit von Berichterstattung über die rechte Szene ausgelöst und damit die Basis für die Entstehung jener besonders intensiven Medienwirkungen gelegt, die Kepplinger als reziproke Effekte bezeichnet.

Methode

Um die Forschungsfrage beantworten zu können, bedurfte es eines Zugangs zu Mitgliedern der rechtsextremen Szene, die bereit waren, bei einer wissenschaftlichen Untersuchung mitzuwirken. Da eine Befragung aktiver Mitglieder aus verschiedenen Gründen nicht umsetzbar war, wurden sieben ehemalige Führungsmitglieder, die an dem Ausstiegsprogramm der Initiative »EXIT Deutschland« teilnahmen, mittels halbstandardisierter, problemzentrierter Interviews befragt. Diesem methodischen Vorgehen lag die Annahme zugrunde, dass Aussteiger*innen am ehesten dazu in der Lage wären, reflektiert über die Dynamiken innerhalb rechter Gruppierungen Auskunft zu geben. So waren diese selbst in der Szene aktiv, sollten aber durch den Bruch mit der Ideologie ihre Erlebnisse aus einer distanzierteren, weniger strategisch geprägten Perspektive schildern können. Die anschließende Datenauswertung fand mithilfe einer inhaltlichen Strukturierung nach Mayring (2010) statt.

Ergebnisse

Die folgende Ergebnisdarstellung orientiert sich an den Variablen des Modells reziproker Effekte nach Kepplinger (2010).

Mediennutzung

Die Frage, welche Medien Rechtsextreme nutzen, ist grundsätzlich abhängig von der Gruppenzugehörigkeit und der Hierarchiestufe der Szenemitglieder.

Den Massenmedien wird jede Glaubwürdigkeit abgesprochen, da von einer Infiltration der Medien durch den Staat ausgegangen wird. Führungskader rezipieren neben den gruppeninternen Medien dennoch auch die Massenmedien, um öffentlichkeitswirksame Themen zu identifizieren und für ihre polittaktischen Zwecke zu instrumentalisieren sowie Jugendliche durch die Selbstinszenierung in Massenmedien als neue Mitglieder für die Szene zu rekrutieren.

Die rechtsextremen Szenemedien dienen ebenfalls der Rekrutierung neuer Jugendlicher, sollen aber vor allem dafür sorgen, dass die Basismitglieder durch Konsum der »richtigen Nachrichten« in ihrem hermetisch abgeriegelten Weltbild verhaftet bleiben. Der Befragte A sagt hierzu: „Man versucht, die Basismitglieder eher von Massenmedien fernzuhalten, weil eine gewisse Hermetik des Weltbildes nur dadurch aufrechterhalten werden kann, dass man sich von den richtigen Nachrichten die Infos holt“. Außerdem sollen die Szenemedien am Tag des »Systemzusammenbruchs«, auf den die Szene hinarbeitet, die traditionellen Massenmedien ersetzen.

Verarbeitungsprozesse

Die von Kepplinger (2010) beschriebenen Verarbeitungsprozesse sind auch in der rechten Szene zu beobachten. So zeigen die Interviews, dass sich Szenemitglieder auf verschiedenen Identifikationsebenen durch Berichterstattung über Rechtsextremismus persönlich betroffen fühlen, was sich in einer erhöhten Medienaufmerksamkeit niederschlägt. Massenmedien wird eine kategorische Feindseligkeit gegenüber Szenemitgliedern unterstellt und die »Schuld« an der »Umerziehung der Gesellschaft« nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben.

Die Ablehnung, die sie von ihrem sozialen Umfeld erfahren, wird von Rechtsextremen häufig auf eine »verzerrte« Medienberichterstattung geschoben. Dies macht deutlich, dass die rechte Szene von erheblichen Effekten der Medienberichterstattung auf das Publikum ausgeht. Der Befragte C beschrieb dies so: „Die Leute behandeln einen anders. Ich habe es damals in der Schulzeit gemerkt gehabt, als in der Oberstufe dann auch teilweise bekannt wurde: ,Ja, der denkt rechts.‘ Einige haben um mich rum dann plötzlich einen riesigen Bogen gemacht, ich wurde dann auch nicht mehr blöd angemacht. Weil ich denk mal, dass viele dieses Bild von Rechten aus den Medien hatten und dachten: ,Wer weiß, was bei dem dann der Freundeskreis macht.‘“

Wirkungen

Die wohl wichtigste Erkenntnis hinsichtlich der Wirkungen ist die Tatsache, dass die Führungsriege der rechten Szene die Berichterstattung in Massenmedien aktiv rezipiert und auf Basis dieser Rezeption politische Strategien und Taktiken für ihre Selbstinszenierung entwickelt. Hierbei verfolgen unterschiedliche Gruppierungen auch unterschiedliche Wunschdarstellungen in den Medien. Während manche Gruppen eher massenwirksam und jugendaffin wirken wollen (z.B. autonome Nationalisten), werden durch andere Gruppierungen gezielt Gewaltverbrechen verübt, um ein entsprechendes Medienimage zu etablieren. Der Befragte E begründet dies mit der Annahme, dass davon ein entsprechend gewaltbereites Publikum angezogen würde: „Das ist dann auch eine gewisse Marke, weil man extrem viele Leute anzieht, die durch die Medien wissen, dass da was los ist, dass die Leute zu allem bereit sind.“ Als ärgerlich hingegen würden Berichte über Widersprüche oder Doppelmoral innerhalb der Szene wahrgenommen, die sogar dazu beitragen könnten, hochgradig radikalisierte Mitglieder zum Nachdenken anzuregen (Befragter E). Im Hinblick auf eine Nachahmung rechtsextremer Gewaltverbrechen sind sich die Befragten darin einig, dass vor allem eine Heroisierung der Täter*innen und die Aussicht auf Erfolg zu einer Nachahmung anrege, während eine Betonung der drohenden juristischen Konsequenzen eher von Nachahmungstaten abhalte.

Diskussion

Insgesamt zeigt die Analyse, dass sich das Modell reziproker Effekte auch auf Gruppen übertragen lässt – zumindest was die Anhänger*innen der rechten Szene betrifft. So fühlen sich auch jene Szenemitglieder von negativer Berichterstattung betroffen, die gar nicht persönlich in der Berichterstattung auftauchen, was eine Reihe starker Medienwirkungen zur Folge hat, die größtenteils der Beschreibung in Kepplingers Modell (2007; 2010) entsprechen.

Wie also kann ein verantwortungsbewusster medialer Umgang mit Rechtsextremismus aussehen? Anhand der Ergebnisse lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass vor allem eine intensive, fundierte Recherchearbeit und eine möglichst objektive Berichterstattung wichtig sind, um der Szene nicht noch mehr Grund zu geben, die Glaubwürdigkeit der Massenmedien in Frage zu stellen. Auch sollte im Hinblick auf eine Verstärkung der Anziehungskraft gewalttätiger Gruppierungen und die Nachahmung von Gewaltverbrechen eine Überzeichnung der Gefährlichkeit rechter Gruppierungen und eine damit verbundene Heroisierung bzw. Mystifizierung der Täter eher vermieden werden.

Im Idealfall deckt eine intensive Recherche Widersprüche innerhalb der Szene auf, die sowohl potentielle Mitglieder abschrecken als auch aktive Mitglieder zum Nachdenken anregen. Ein Vergleich dieser basalen Empfehlung mit Untersuchungen zum medialen Umgang mit Rechtsextremismus zeigt jedoch eine enorme Diskrepanz, wird doch die Medienlandschaft gerade von einer oberflächlichen, boulevardesken und stereotypen Berichterstattung über Rechtsextremismus dominiert (Ettinger, Imhof und Udris 2007; Schafradd, Sheepers und Wester 2008). Diese Diskrepanz gilt es zu verringern, um der rechtsextremen Ideologie zumindest teilweise ihren Nährboden zu entziehen und die rechte Szene durch eine mediale Überzeichnung nicht attraktiv zu machen.

Literatur

Bernhart, S. (2008): Reziproke Effekte durch Sportberichterstattung. Wiesbaden: Springer VS.

Brosius, H. B.; Esser, F. (2002): Fremdenfeindlichkeit als Medienthema und Medienwirkung – Deutschland im internationalen Scheinwerferlicht. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Ettinger, P.; Udis, L.; Imhof, K. (2007): Rechtsextremismus und Öffentlichkeit in der Schweiz. Ein Forschungsbericht. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung; pbp.de

Glaab, S. (2007): Medien und Terrorismus – eine Einführung. In Glaab, S. (Hrsg.): Medien und Terrorismus – auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung. Berlin: BWV Verlag, 3. Aufl., S. 11-16.

Kepplinger, H. M. (2009): Politikvermittlung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kepplinger, H. M. (2010): Medieneffekte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Lang, K.; Lang, G.E. (1952):The unique perspec­tive of television and its effect – A pilot study. In W. Schramm; D.F. Roberts (Hrsg.): The process and effects of mass communication. Urbana: University of Illinois Press, S. 169-188.

Mayring, P. (2010): Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 11. Aufl.

Neumann, K.; Baugut, P. (2016): Neonazis im Scheinwerferlicht der Medien – Eine Analyse reziproker Medieneffekte innerhalb der Neonazi-Szene in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS.

Schafraad, P.; Scheepers, P.; Wester, F. (2008): Der Umgang mit den Dämonen der Vergangenheit – Berichterstattung über Rechtsextreme in der deutschen Presse (1987-2004). Publizistik, 53(3), S. 362-385.

Tajfel, H.; Turner, J. C. (1979): An integrative theory of intergroup conflict – The socialpsychology of interpersonal conflict. In Worchel, S. and Austin, W.G. (eds.): Psychology of intergroup relations. Chicago: Nelson-Hall, S. 7-24.

Traufetter, G. (2011): Muttersohn und Massenmörder. Spiegel Online, 23.12.2011.

Bundesministerium des Innern (2016): Verfassungsschutzbericht 2015.

Katharina Neumann, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für empirische Kommunikationswissenschaft des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für ihre hier vorgestellte Masterarbeit erhielt sie den Gert-Sommer-Preis 2016 des Forum Friedenspsychologie für die beste Abschlussarbeit im Jahr.

Wie Rassismus aus Bildern spricht

Wie Rassismus aus Bildern spricht

von Susan Arndt

„Wir waren entsetzt über das Afrikabild, das in den Illustrationen/Karikaturen der Ausgabe 1-2014 von »Wissenschaft und Frieden« vermittelt wird“, schrieben Christoph Butenschön und Ulrich Wagner der Redaktion in einem Leserbrief. „Die folgenden Klischees sind zu sehen: Schwarze sind durchgängig halbnackt (S.17 und 23) oder barfuß (S.9 und 31), sind in Mangelsituationen (Bildung S.9, Hunger S.17, Durst S.31 und Belastung S.23), sind passiv oder unmündig.“ Seit den 1980er Jahren sehen sich deutsche Medien mit solcher Kritik konfrontiert; wissenschaftliche Studien dieser rassistischen Repräsentationen von Afrika, die oft euphemistisch »Afrikabilder« genannt werden, gibt es zuhauf. Dennoch halten Medien, auch linke und oft karikaturistisch, an der verstörenden (Bilder-) Sprache des Rassismus fest. Die Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« wollte die an sie gerichtete Kritik nicht verschweigen, druckte den Leserbrief in Heft 2-2014 ab und lud zu dem nachfolgenden Artikel 1 ein, der die oben beschriebenen Repräsentationen historisch einbettet, im Rassismus verortet und fragt: Rassismus generiert rassistische (Sprach-) Bilder, die ihn nähren – warum erweisen sie sich als so kritikresistent?

Kein anderes System der Unterdrückung einer Kultur durch eine andere hat strukturell wie diskursiv eine dermaßen tiefgreifende, nachhaltige und global weitreichende Agenda erschaffen wie der Rassismus. Rassismus ist eine in Europa historisch gewachsene Ideologie und Machtstruktur, die die Kategorie »Rasse« aus dem Tier- und Pflanzenreich auf Menschen übertrug. Aus einer willkürlichen Auswahl bestimmter körperlicher Kategorien wurden Bündel geschnürt, diesen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben und die auf diese Weise hergestellten Unterschiede verallgemeinert und hierarchisiert. Diese »Rassen«-Klassifikation von Menschen folgte dem europäischen Streben, koloniale Verbrechen an Millionen von Menschen zu rechtfertigen. Sie wurden als nicht-weiß und damit als unterlegen – dem Weißsein und zugleich auch dem Menschsein unterlegen – positioniert. Weiße machten sich mittels des Rassismus die Welt passförmig, um sie zu beherrschen. Rassismus ist daher »white supremacy«, eine weiße Herrschaftsform.

Unsichtbar herrschen

„Rassen gibt es nicht“, schreibt die feministische Soziologin Collette Guillaumin, „und doch töten sie“.2 Der Glaube, dass es »Rassen« gebe, der Rassismus also, ist bis heute präsent. Shankar Raman hält es für notwendig, einen Kampf um die Bedeutung von »Rasse« zu führen, um sich diesen Begriff aus antirassistischer Sicht anzueignen. Deswegen schlägt der deutsche Literaturwissenschaftler eine doppelte Denkbewegung vor: weg von »Rasse« als biologischem Konstrukt hin zu Rasse als sozialer Position. Raman bezeichnet diese Denkbewegung als „racial turn“. Sie schließt ein, Rasse als kritische Wissenskategorie zu etablieren.3

Für mich beinhaltet der »racial turn« zudem einen gewichtigen Perspektivenwechsel in der Rassismusforschung. Ihm hat Toni Morrison 1992 mit ihrem Buch »Playing in the Dark«4 Gehör verschafft. Die afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin weist darauf hin, dass Rassismus-Analysen im weißen akademischen Mainstream die Tendenz haben, allein über Schwarze und People of Color zu sprechen. Dabei entstehe schnell der Eindruck, Rassismus sei allein eine Angelegenheit von Schwarzen – Weiße seien diesbezüglich »neutral«, so als hätten sie damit nichts zu tun. Sich nicht im System des Rassismus verorten zu müssen, sei jedoch ein Privileg, das der Rassismus nur Weißen gebe – eine Option, die People of Color nicht leben können. Wenn Weißsein ignoriert oder für das eigene Leben als nicht relevant eingestuft wird, werden zugleich auch die sozialen Positionen, Privilegien, Hegemonien und Rhetoriken verleugnet, die daran gebunden sind. Weißsein behält dadurch seinen Status als universaler, „unmarkierter Markierer“5 und „unsichtbar herrschende Normalität“6 bei.

»Weißsein« als kritische Wissenskategorie

Vor diesem Hintergrund ist das Ignorieren von »Hautfarben«, so paradox das klingen mag, also keine Lösung. Der Rassismus kategorisiert, markiert und positioniert – unter anderem mit Hilfe von »Hautfarben« – Menschen als Diskriminierte, Fremdmarkierte und Entmachtete oder eben als Diskriminierende, Markierende und Privilegierte des Rassismus. Das passiert zumeist unabhängig vom individuellen Wollen und losgelöst davon, ob jemand Rassismus befürwortet oder ablehnt.

Es geht hierbei nicht um Schuldzuschreibungen, sondern vielmehr darum, anzuerkennen, dass Rassismus (analog zum Patriarchat in Bezug auf Geschlechterkonzeptionen) ein komplexes Netzwerk an Strukturen und Wissen hervorgebracht hat, das uns – im globalen Maßstab – sozialisiert und prägt. Dabei ist Wissen in meiner Lesart weder absolut noch wahr und unveränderbar, sondern historisch gewachsen, von Macht geformt sowie dynamisch und subjektiv.

Das Gewordensein, das gegenwärtige Wissen und das künftige Wirken von Weißsein als soziale Position im Rassismus stehen im Zentrum der Kritischen Weißseinsforschung. Weißsein wird hier, und zwar innerhalb von Rasse als Analysekategorie und komplementär zu Schwarzsein, zur kritischen Wissenskategorie. Sie findet Anwendung in der Analyse gesellschaftlicher und politischer Prozesse sowie deren sprachlicher, fiktionaler wie medialer Repräsentation. Im Kern geht es um die Frage: Wie haben Weißsein im Besonderen und Rassismus im Allgemeinen der europäischen Versklavung afrikanischer Menschen und dem Kolonialismus als ideologisches Schwert und Schild gedient? Wie haben Rassismus und sein Kerntheorem Weißsein im Kolonialismus und darüber hinaus die Welt geprägt – diskursiv und strukturell, in Vergangenheit, Gegenwart und für die Zukunft? Wie können diese Diskurse und Strukturen benannt, herausgefordert und gewendet werden?

Einige dieser Fragen möchte ich im Folgenden an ausgewählten historischen Fallbeispielen diskutieren und dadurch exemplarisch das Gewordensein der Kategorie »Rasse« aufzeigen.

Antike Bilder von versklavten Menschen

Als im ausgehenden 16. Jahrhundert das Konzept der »Rassen« aus dem Tier- und Pflanzenreich auf Menschen übertragen wurde, geschah dies in Rückgriff auf Theoreme, die bereits in der Antike ihren Anfang nahmen. Um Abgrenzungsprozesse zu legitimieren, und im Kontext von Eroberungskriegen und Sklaverei, kam es im vierten und fünften Jahrhundert vor Christus zur Konstruktion einer kulturellen Differenz zwischen »Griechen« und »Nicht-Griechen«, von ersteren zumeist als »Barbaren« bezeichnet. Um Kulturen geopolitisch zu verorten und zu hierarchisieren, spielten Klima-Theorien7 eine entscheidende Rolle.

Es ist dieses Paradigma, das die erste bekannte Theorie der Sklaverei rahmte, entwickelt im vierten Jh. v.Chr. von Aristoteles in seinem Werk »Politeia«. Aristoteles war als Lehrer und Politikberater Alexanders des Großen bestrebt, dessen Eroberungszüge sowie die griechische Ausgrenzungspraxis gegenüber den »Anderen« philosophisch zu untermauern. So argumentiert er etwa, dass Sklaverei naturgegeben und gerecht sei und Griech*innen dazu auserwählt seien, Nicht-Griech*innen zu versklaven. Zwar war »Hautfarbe« in diesem Zusammenhang nicht der primäre Marker von Differenz, doch schieden sich »Freie« und »Barbaren« eben auch an dieser Grenzziehung.

Das in der griechischen Antike akkumulierte Wissen – dass körperliche Unterschiede soziale, mentale und religiöse transportieren und Herrschaft und Sklaverei legitimieren –, stellte die theoretische Basis bereit, um in den nachfolgenden Jahrhunderten die Idee von »Rasse« zu formen und zum Instrumentarium der Klassifizierung von Menschen zu machen.

Koloniale Farbsymbolik

Mit dem Erstarken des Christentums erhielten die antiken Vorstellungen neue Bedeutung und Gewichtigkeit. Dabei kam es zwischen der christlichen Farbsymbolik und Theoremen von »Hautfarbe« zu komplexen Synergieeffekten. In der christlichen Religion gilt Weiß als Farbe des Göttlichen, des Himmlischen und seiner Transparenz, von Unschuld und Jungfräulichkeit. Schwarz verkörpert dagegen das Monströse des Teufels und die Untiefen der Hölle – und damit Sünde und Schande, Ungehorsam und Schuld. Analog dazu wird Weiß auch allgemein als schön, rein und tugendsam konzipiert, Schwarz als Farbe des Hässlichen, Bösen und Unheils.

Bereits im 15. und 16. Jahrhundert, als die europäische Versklavung und Verschleppung von Afrikaner*innen irreversibel strukturelle Gestalt und Gewalt annahm, war diese Farbsymbolik gängig (denken wir etwa nur an Michelangelo, da Vinci oder Raphael). Parallel zur Ästhetik zeitgenössischer Malerei formierte sich auch in Poesie und Dramatik ein literarischer Hype um diese Farbsymbolik und ihre Kolonialrhetorik. Besonders interessant ist dabei, dass Weißsein prominent auch über Seide, Perlen, Elfenbein, Silber, Diamanten und Marmor als kostbar inszeniert wird. Es werden also figurativ ausgerechnet jene Ressourcen aufgerufen, die die kolonialen Ambitionen Englands und ihre Legitimationsphilosophie um das Weißsein wesentlich motivierten.

Auf diese Weise ideologisch gerüstet, blühte die Sklaverei im 17. Jahrhundert auf und trug im 18. Jahrhundert volle Früchte. Sie ermöglichte die Industrielle Revolution und Europas Moderne, die im europäischen Wettlauf münden sollte, die Welt zu kolonisieren.

Vermessung des Körpers

Als immer mehr Zweifel an den seit der Antike gültigen Klima-Theorien und an »Hautfarbe« als überzeugendem Träger von »Rassentheorien« aufkamen, nahmen weiße Wissenschaftler*innen des 18. Jahrhunderts zunehmend andere angebliche Merkmale in den Blick. Dazu vermaßen sie zunächst Körperteile wie etwa den Schädel oder das Skelett, aber auch Sexualorgane. Noch heute lagern Relikte dieser biologistischen Forschung in ethnologischen Museen und Krankenhäusern in Europa.

Das hysterische Bemühen, »Rassen« als Fakt und die Überlegenheit der Weißen wissenschaftlich zu postulieren, fand in der Aufklärung einen Höhepunkt und prägte das Weltbild von Philosophen wie David Hume, Voltaire und Immanuel Kant. Die »Rassentheoretiker« drangen, dem allgemeinen Wissenschaftstrend ihrer Zeit folgend, nun immer tiefer in den Körper hinein: Bald dominierten auch »innere Merkmale«, wie Blut und Gene, die Theorien. Mit der Hinwendung zur Vererbung innerer Dispositionen kam es zu einem Anstieg identifizierbarer »Rassen« auf mehr als hundert. Diese stetig wachsende Anzahl vermeintlicher »Rassen« zeigt letztlich nur eines deutlich: Eindeutige Grenzziehungen lassen sich weder ermitteln noch begründen.

Ideologieprodukt »Arier«

Im 19. Jahrhundert propagierte der Sozialdarwinismus in einer Aneignung des Darwin’schen „survival of the fittest“, dass es legitim sei, jene auszurotten, die sich historisch als unterlegen erwiesen hätten. Die Eugenik und andere Theorien, auf die sich später der Nationalsozialismus stützte, nahmen in dieser Zeit ihren Anfang. Dazu gehören auch Arthur de Gobineaus apokalyptische Überlegungen, dass sich „höhere“ gegen „niedere Rassen“ zur Wehr setzen müssten und „die weiße Rasse“ unwiederbringlich durch andere „Rassen“ verdorben worden sei. Das einzige verbliebene Potenzial sah er in der „arischen Rasse“, einem reinen Ideologieprodukt, das Gobineau in England und Norddeutschland verortete.8

Nirgendwo erfuhren Gobineaus Buch und sein »Arier-Mythos« ab Ende des 19. Jahrhunderts eine solch starke Rezeption wie in Deutschland. Doch niemand hat ebendort den rassistischen »Arier-Mythos« als Chauvinismus- und Unterdrückungsideologie so wirkungsmächtig verbreitet wie der britisch-deutsche Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain. Das Hauptziel seines 1899 erschienenen Pamphlets »Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts« war es, den »Ariern« ihren Platz in der Gegenwart und Zukunft zu verschaffen, den sie seiner Meinung nach als „Herrenrasse“ verdienten.9

Historische Kontinuitäten

Parallel zu dieser Radikalisierung des Rassismus trat auch der Kolonialismus in seine imperiale Phase über. Die europäische Gier nach Gütern, wie Elfenbein, Gummi, Diamanten und Gold, aber auch nach neuem Territorium, unterwarf Millionen von Menschen in Afrika, Australien sowie Teilen Asiens der Ausbeutung, der Folter und dem Genozid. Vom Rassismus flankiert wurden diese Gräueltaten als Recht und Pflicht zur Zivilisation verkauft. Abgepuffert durch die rassistische Rhetorik blieben koloniale Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa vergleichsweise unbeachtet. Der Rassismus wütete weiter, nicht nur in den Kolonien. In Deutschland mündete er in genozidaler Singularität in die Ermordung von Millionen von Juden und Jüdinnen sowie Hunderttausenden von Sinti und Roma.

Als die alliierten Armeen das NS-Regime besiegten, kämpften in ihnen Hunderttausende von Schwarzen Menschen. Die Siegermächte verweigerten ihnen dafür nicht nur die gebührende Anerkennung, sondern zeitgleich wurde in den Kolonien und über den Nationalsozialismus hinaus diktatorisch weitergeherrscht. Der karibische Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire klagte nicht zuletzt deswegen bereits in den 1950er Jahren eine Erinnerungsarbeit ein, die die Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus reflektiert.10 Das steht in der öffentlichen Erinnerungsarbeit bis heute aus.

Ganz Europa, insbesondere Deutschland, versank im Angesicht der Shoah in Angst und Scham. Wer es vermeiden konnte, sprach nicht über Rassismus. Doch auch jene Länder, die den Nationalsozialismus zerschlagen hatten, waren davon nicht ausgenommen, wie etwa die »Jim Crow«-Gesetzgebung11 in den USA oder das Fortbestehen von britischem und französischem Kolonialismus zeigen.

Rassismus verleugnen und Bildersprache

Das Nicht-Wahrnehmen von Rassismus stellt einen aktiven Prozess des Verleugnens dar, der durch das weiße Privileg, sich mit Rassismus nicht auseinandersetzen zu müssen, gleichermaßen ermöglicht wie abgesichert wird. Wo aber Rassismus verleugnet wird, bleibt sein Wissen im Umlauf. Gerade in der zeitgenössischen (Bilder-) Sprache finden sich dafür verstörende Belege.

Als Europa seine weiße Überlegenheit erfand, inszenierte es Schwarzsein und Afrika, als dessen symbolische Heimat, als Antithese zum weißen christlichen Europa/Westen. Die Dämonisierung des Kontinentes und seiner Bewohner*innen als Hort des Bösen sind nur die Spitze des Eisberges. In der Exotisierung steckt dieselbe Zutat: Afrika sei naturverbunden, will sagen ohne Mündigkeit, Entwicklung und Kultur (oft metonymisch visualisiert durch Mangel an Nahrung, Kleidung, Bildung), und damit bestenfalls ein Bindeglied zum (kultivierten) Menschsein. So wird Afrika in den Warteraum der Geschichte verbannt und damit über die Abwesenheit einer Zukunft definiert, die Europa verkörpert. Folgerichtig sei Europa in der Position, Afrika zu »entwickeln«. Was im Kolonialjargon »Bürde des weißen Mannes« hieß und Gewalt, Raub und Ausbeutung als »Zivilisierung« verkaufte, flüchtete sich in die zeitgenössische Erzählung der »Entwicklungshilfe«. Statt Verantwortung für den Kolonialismus zu übernehmen, der Afrika sozial und ökonomisch zerrüttete, wird alleinig der afrikanischen Kontinent verantwortlich für die verheerenden Spätfolgen des Kolonialismus gemacht, und es wird paternalistisch, ja zynisch, »Hilfe« angeboten.

Verstetigung des Rassismus

Durch solche verstetigende Wiederholungen schleichen sich Stereotype subtil in die individuelle Wahrnehmung ein und werden dann als gegeben, eindeutig und natürlich angenommen. Das erklärt die Veränderungsresistenz von Stereotypen. Nur partiell werden neue Inhalte und Grenzen ausgehandelt. Wenn Stereotype also in verschiedenen historischen Kontexten nur partielle Verschiebungen erfahren, heißt dies nicht, dass sie deswegen »natürlich« sind. Vielmehr zeigen sie, wie Glaubenssätze sich mit der Zeit mehr und mehr zu vermeintlichen »Wahrheiten« verfestigen. Deswegen befördern Bilder, die nackte, ungebildete, dienende Schwarze zeigen, nicht Verantwortung, ja nicht einmal Empathie, sondern im Gegenteil Aversionen, Überlegenheitsgefühle und fehlenden Respekt vor Afrikaner/innen und anderen Schwarzen.

Es bedarf eines zivilgesellschaftlichen Engagements, wie im Falle der Bebilderung von »Wissenschaft und Frieden« 1-2014 von Christoph Butenschön und Ulrich Wagner gezeigt, um verstörenden Bildern neue Weltsichten entgegenzustellen Mit ihrem Leserbrief haben sie sich, der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« und ihren Leser*innen aufgezeigt, dass es keineswegs ausreichend ist, sich als antirassistisch zu positionieren. Dem Willen, sich Rassismus zu widersetzen, müssen Handlungen folgen, die wissen, worum es geht: Wissen darüber, wie Rassismus entstanden ist, wie er wirkt und auf welche Weise er unterwandert werden kann. Zu verstehen, wie Rassismus historisch gewachsen ist, ist eine bewährte Methode, um Rassismus im Jetzt beim Namen nennen zu können und ihm eine schwere Zukunft zu bescheren.

Rassismus in die Schranken weisen

Wer Rassismus in die Schranken weisen möchte, muss zunächst lernen, was der Rassismus mit uns allen angerichtet hat. In einem zweiten Schritt wird es darum gehen, feste Glaubensgrundsätze aufzugeben (auch den, schon immer antirassistisch gewesen zu sein), bereits Gelebtes selbstkritisch zu überprüfen (auch wenn es noch so gut und antirassistisch gemeint war) und Gelerntes zu verlernen (auch wenn es noch so unschuldig aussieht). In allem, was wir wissen, steckt ein Stück rassistische Wissensgeschichte. Ob Medien, Schulbücher, Straßennamen, Lebensmittel oder Gesetze: Rassismus hat sich überall eingenistet. Dies sind aber auch die Orte, von denen aus Rassismus in Sackgassen getrieben werden kann: neue Curricula oder lernwillige Lehrer*innen, geschulte Journalist*innen oder fragende Wissenschaftler*innen, wissbegierige Politiker*innen oder Theolog*innen – es gibt keinen Ort, an dem Bilder, ob durch Sprache oder Illustrationen erzählt, nicht die Welt verändern können.

Anmerkungen

1) Der Artikel basiert auf Forschungsergebnissen, die dargestellt sind in: Susan Arndt (2012): »Die 101 wichtigsten Fragen – Rassismus«. München: C.H. Beck; sowie: Susan Arndt: LiteraturWelten – Transkulturelle Anglistik und der »Racial Turn«. Antrittsvorlesung an der Universität Bayreuth am 24. Oktober 2012; vimeo.com/66145276.

2) Colette Guillaumin (1992): Sexe, race et pratique du pouvoir. Paris: Côté-femmes, S.7.

3) Shankar Raman (1995): The Racial Turn: »Race«, Postkolonialität, Literaturwissenschaft. In: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger u.a. (Hrsg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler, S.241-255.

4) Deutsche Ausgabe (1994): Im Dunkeln spielen: weiße Kultur und literarische Imagination. Reinbek: rororo.

5) Vgl: Ruth Frankenberg (Hrsg.) (1997): Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism. Durham/North Carolina: Duke University, S.1-10.

6) Ursula Wachendorfer (2001): Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität. In: Susan Arndt (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Münster: Unrast, S.87-101.

7) Etwa die These, das heiße Klima habe Haar und Hirn von Schwarzen Menschen ausgetrocknet und sie seien deswegen mental und kulturell unterlegen.

8) Arthur de Gobineau (1853–55): Essai sur l’inégalité des races humaines. Paris: Éditions Pierre Belfond, hier Ausgabe von 1967.

9) Houston Stewart Chamberlain (1899): Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. München: Bruckmann.

10) Aimé Césaire (1955): Discours sur le colonialisme. Paris: Editions Présence Africaine. Deutsche Ausgabe (1968): Über den Kolonialismus. Berlin: Wagenbach.

11) Der US-amerikanische Komiker Thomas D. Rice erfand im Rahmen von »Blackfacing«-Shows in den 1830er Jahren die Figur des Jim Crow, eines tanzenden, singenden, wenig intelligenten Schwarzen. Als »Jim Crow Laws« werden die Gesetze bezeichnet, die in den USA von 1876 bis 1964 die Rassentrennung festschrieben.

Susan Arndt ist Anglistin und Rassismusforscherin. Sie lehrt als Professorin an der Universität Bayreuth und ist Autorin des Buches »Die 101 wichtigsten Fragen: Rassismus« (München: C.H. Beck, 2012, 2. Aufl. 2015).

In Charlies Namen?

In Charlies Namen?

von Jürgen Nieth

„Es ist ein fast zu schönes Bild für die Geschichtsbücher. 44 Staats- und Regierungschefs marschierten am Sonntag untergehakt durch Paris und demonstrierten gegen den Terror […] »Je suis Charlie«: Diese drei Wörter sollen künftig für die Werte Mut, Freiheit und Toleranz stehen. Doch hält diese Einheit über den Tag hinaus?“, fragt Thomas Siegmund im Handelsblatt (13.01.15).

Alle wollen Charlie sein

Weit über eine Million Menschen waren nach dem mörderischen Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 11. Januar in Paris auf der Straße, von über drei Millionen in ganz Frankreich wird gesprochen. „Christen, Muslime, Juden und Atheisten, Radikalliberale und extrem Konservative. Und sicher auch Rechtsextreme, auch wenn die keiner eingeladen hat. Also alle. So viele jedenfalls, dass man schon wieder skeptisch werden muss. Die wollen tatsächlich alle Charlie sein?“, fragt Gereon Asmuth in der taz (12.01.15). In derselben Zeitung formulierte bereits am 10.01. Cas Mudde sein Erstaunen darüber „wie viele islamophobe und rechtsextreme Leute jetzt ihre Liebe zu einem Magazin erklären, das sie vor kurzem noch für ein kommunistisches Drecksblatt hielten“. (Zwei der ermordeten Karikaturisten zeichneten auch für die Humanité, die Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreich; J.N.)

Skepsis auch bei Tobias Riegel: „Die versammelte Spiegel-Gruppe ist angeblich »Charlie«, Google trägt Trauerflor, die »FAZ« schwafelt vom »Heldentod«, die Pariser Menge applaudiert den Scharfschützen, der Anti-Terrorspezialist Petro Poroschenko wird ebenso untergehakt wie der Pressefreiheitskämpfer Viktor Orban […] Der Marsch von Paris war ein großartiges Symbol – doch wofür eigentlich? Dafür, dass wir den Muslimen nun erst recht auf die Mütze geben sollen? Für die Pressefreiheit? Angeführt von »Bild« und anderen Verrätern der Pressefreiheit […]?“ (ND 17.01.15)

Sicherheit vor Freiheit?

Riegel befürchtet: „»Europa rückt zusammen« – und definiert seine Werte neu: in Form von strengeren »Terror«-Gesetzen.“

Thomas Siegmund (Handelsblatt, s.o.) scheint Letzteres ähnlich zu sehen: „Mit einer beispiellosen Aufrüstung im Inneren will Frankreich weitere Anschläge verhindern. 10.000 Soldaten wurden bereits abkommandiert um landesweit Verkehrsknotenpunkte, touristische Attraktionen und zentrale Gebäude zu sichern. Eine drakonische Verschärfung der Sicherheitsgesetze ist in vollem Gange. Das alles erinnert an die Zeit kurz nach dem Anschlag des 11. September 2001.“

Gilt das auch für Deutschland? Dazu Christian Wernicke: „Schon raunt es aus den Geheimdiensten, man brauche das Drei- bis Vierfache an Personal, um all die potenziellen Gotteskrieger und »inneren Feinde« im Land rund um die Uhr zu erfassen, abzuhören und zu beschatten.“ (SZ, 12.01.15) Eine Position, die Alan Posener offensiv vertritt: „Polizei und Verfassungsschutz, BKA und BND [brauchen] mehr Mittel und Personal.“ Für Posener sind die Morde von Paris ein Beweis dafür, „wie weltfremd die Proteste gegen die Überwachungspraxis der amerikanischen und britischen Geheimdienste – und deren Zusammenarbeit mit dem BND – teilweise waren“. Einen Generalverdacht gegen Muslime könne man aber nicht gebrauchen. „Auch bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit sollte man vorsichtig sein: Niemand kann gezwungen werden, den westlichen Lebensstil zu lieben.“ (Die Welt, 10.01.15)

Die Gegenposition bei Heribert Prantl: Für die CSU ist der Anschlag „Anlass, die Vorratsdatenspeicherung, die das Bundesverfassungsgericht vor vier Jahren verwarf, als ‚dringender denn je’ zu bezeichnen […] In Frankreich gibt es die Vorratsdatenspeicherung, verhindert hat sie gar nichts. Neue Befugnisse für die Sicherheitsbehörden und eine Verschärfung des Strafgesetzbuchs fordert die CSU auch. Mit solch ewigem Mehr und Nochmehr landet man letztlich bei Forderungen nach extralegalen Maßnahmen und der Todesstrafe, wie sie in Frankreich schon laut werden.“ (SZ, 10.01.15)

Auch Arno Widmann warnt: „Wir brauchen keine schärferen Gesetze, wir müssen nur darauf achten, dass die bestehenden eingehalten werden. Gegen Verstöße müssen wir vorgehen. Streng nach dem Gleichheitsgrundsatz. Die Gesetze gelten nicht nur für die Bürger, sie gelten auch für die Staatsorgane. Den paranoiden Neigungen der Regierenden dürfen wir nicht nachgeben. Verhängnisvoll wäre, wenn die beiden Paranoiker – Attentäter und Staat – einander hochschaukeln.“ (BZ 10.01.15)

Brauchen wir Satire?

Dazu Hartwig Isernhagen in der NZZ (10.01.15): „Satire ist […] eine eminent zivilisierende Gattung der Literatur […] Die Versuchung ist groß, […] alle nur möglichen Gründe zu ihrer Einschränkung gelten zu lassen. Die pauschal-relativistische Rede, man müsse überall und jedem mit Respekt begegnen, geht in diese Richtung und würde, befolgte man sie, sicherlich zu einer Art medialer Friedhofsruhe führen. Aber solcher Frieden wäre ein Scheinfrieden. Die Konflikte, die die Satire artikuliert, gehen nicht weg, nur weil man nicht mehr drüber spricht.“

Lassen wir deshalb zum Schluss einen Satiriker zu Wort kommen. Der ehemalige Chefredakteur der Titanic, Oliver Schmitt, im Feuilleton der FAZ (19.01.15): „Da demonstrieren in Paris die Führer der Welt, säuberlich vom Volk separiert, in einer abgeschotteten Seitenstraße für Friede, Freude, Eierkuchen und die Freiheit der Presse, während einige dieser Spaßvögel in ihren Heimatländern Journalisten auspeitschen, foltern und wegsperren lassen. Da steht Angela Merkel vor dem Brandenburger Tor und demonstriert für die Pressefreiheit, während ihr schon der leibhaftige Schalk Seehofer im Nacken sitzt und höhere Strafen für Blasphemie fordert. Wenn das keine Schenkelklopfer sind! Und dass der Pegida-Erfinder Lutz Bachmann, der sich sofort mit »Charlie Hebdo« solidarisierte und in Strafsachen bestens bewandert ist (Körperverletzung, Einbruch, Diebstahl), dass dieser Demokrat mitteilte, er wolle die »Titanic« wegen eines ihm in den Mund gelegten Kommentars verklagen (‚Mit Satire hat das nix mehr zu tun’) – das alles ist doch absolut wunderbar! So etwas könnte sich ein Satiriker niemals ausdenken.“

Zitierte Zeitungen: Berliner Zeitung/BZ, Die Welt, Handelsblatt, Frankfurter Allgemeine/FAZ, Neue Zürcher Zeitung/NZZ, Neues Deutschland/ND, Süddeutsche Zeitung/SZ, tageszeitung/taz.

Jürgen Nieth

Halbwahrheiten und Doppelstandards

Halbwahrheiten und Doppelstandards

Medien im Ukraine-Konflikt

von David Goeßmann

„Medien sind mächtiger als Bomben“, sagt die Alternative Nobelpreisträgerin Amy Goodman. Massenmedien können durch Halbwahrheiten, Doppelstandards und Schweigen die eskalierende Rolle der eigenen Regierungen und ihrer Verbündeten bei Konflikten kaschieren, relativieren oder rechtfertigen und deren Gegner zum »Paria der Weltgemeinschaft« ernennen. David Goeßmann geht in diesem Beitrag der Berichterstattung der Medien in Deutschland und den USA über den Ukrainekonflikt nach. Der Text ist mit freundlicher Genehmigung des Selbrund-Verlages dem Buch »Ukraine im Visier« entnommen, wird hier aus Platzgründen allerdings gekürzt und ohne Fußnoten mit den Quellenhinweisen abgedruckt.

Vor über hundert Jahren zwangen die USA, die Kuba damals militärisch besetzt und eine US-freundliche Regierung installiert hatten, Kuba einen Pachtvertrag auf, der Washington die Nutzung von Guantánamo erlaubte. Seit der Unabhängigkeit Kubas in den späten 1950er Jahren hat die kubanische Regierung den Vertrag immer wieder für ungültig erklärt und die USA aufgefordert, Guantánamo zu verlassen. Zwar haben Verträge unter militärischem Zwang und Besatzung per se keine Gültigkeit, doch alle US-Regierungen haben sich darüber hinweggesetzt. Präsident Georg W. Bush und Barack Obama betreiben seit 2002 zudem auf dem kubanischen Territorium ein Folter-Gefängnis für »feindliche Kämpfer«. […]

[Solche] Aneignungen von Territorien, ob nun Krim oder Guantánamo, sind widerrechtliche und kriminelle Akte. Der Anschluss der Krim an Russland verstößt gegen die UN-Charta und diverse Verträge, daran ändert auch ein Referendum nichts. Die Vereinnahmung Guantánamos wird andererseits nicht durch einen Pachtvertrag legitimiert, der unter militärischer Okkupation aufgezwungen wurde.

Geteilte Empörung: das Spiel mit „roten Linien“

Doch während die Angliederung der Krim-Halbinsel an Russland eine Empörungswelle in den USA, Europa und den westlichen Medien auslöste, ist die Aneignung Guantánamos durch die USA der Presse bis heute so gut wie keine Zeile wert. […] Bei einer Pressedatenabfrage von rund 160 überregionalen und regionalen Print- und Onlinemedien in Deutschland findet sich nur ein Artikel im Wirtschaftsmagazin »Focus Money«, der im Zuge des Krim-Anschlusses an Russland auf den moralischen Doppelstandard des Westens und die völkerrechtlich „nicht ganz saubere“ Guantánamo-Nutzung hinweist. Chefredakteur Frank Pöpsel fragte ironisch in der Schlagzeile: „Warum pachtet Putin nicht die Krim?“

US-Kritiker Noam Chomsky hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Vergleich Guantánamo/Krim eher schmeichelhaft für die US-Besatzung ausfalle. Denn anders als bei der Krim hätten die USA keinerlei Anspruch auf Guantánamo. Die Krim ist historisch russisch geprägt. Sie bietet Russland zudem den wichtigsten Zugang zu einem eisfreien Hafen. Sewastopol hat eine wichtige militärstrategische Bedeutung für Moskau. Dort ist die Schwarzmeer-Flotte Russlands stationiert. Über die Angliederung der Krim an Russland fand zudem ein Referendum statt. Keinen dieser Ansprüche könne die USA im Fall Guantánamos geltend machen, so Chomsky.

[…] Die Wirtschaftswoche kommentierte am 2. März 2014 nach der Krim-Sezession: „Putin hat eine rote Linie überschritten“. Der tschechische Präsident Zeman wird einen Monat später von der ZEIT bis zur Welt mit seiner Drohung gen Moskau zitiert. Sollte Russland in den Osten der Ukraine marschieren, so Zeman, sei eine „rote Linie“ überschritten. Dann müssten NATO-Soldaten in die Ukraine geschickt werden. Deutsche und US-amerikanische Journalisten werden seit Beginn der Krise nicht müde, Obama und die EU aufzufordern, endlich gegenüber Russland eine rote Linie zu ziehen. Sie mahnen härtere Sanktionen oder gar Militärinterventionen an. „Auf der Krim überschreitet Moskau die rote Linie des Westens, um die Ordnung nach dem Kalten Krieg in Frage zu stellen“, schreibt DIE ZEIT am 14. März 2014. Im Boston Globe bringt Kolumnist Thanassis Cambanis den Sachverhalt auf den Punkt: „[Präsident Wladimir] Putins Annexion der Krim ist ein Bruch der Ordnung, auf die sich Amerika und seine Verbündeten seit dem Ende des Kalten Krieges stützen – nämlich eine, in der Großmächte nur dann militärisch intervenieren, wenn der internaionale Konsens auf ihrer Seite ist oder, ist dies nicht der Fall, wenn sie keine roten Linien eines Gegners überschreiten.“ […]

Die Halbwahrheiten der real existierenden Tagesschau, taz & Co.

[D]ie mediale Behandlung des Ukraine-Konfliktes [fügt sich] in das ideologische Muster ein, in dem nicht jedes widerrechtliche Ereignis und nicht jede Verletzung territorialer Souveränität und Integrität »rote Linien«und »Krisen« erzeugt und einen neuen kalten Krieg in Gang setzt. Doch in einem Punkt stellt die Ukraine durchaus einen Sonderfall dar. Zum ersten Mal gab es eine breite Kritik an der Parteinahme in der medialen Darstellung, eine Kritik, die über Friedensgruppen und medienkritische Plattformen hinausging. In vielen tausenden Kommentaren üben Leser und User immer wieder zum Teil scharfe Kritik an der Einseitigkeit der Berichterstattung. Sie bemängeln, dass Russland in deutschsprachigen Medien dämonisiert werde, Putins „Griff nach der Ukraine“ und sein angeblicher Expansionsdrang Subtext vieler Schlagzeilen und Artikel sei. Sie vermissen kritische Stimmen zum Vorgehen der ukrainischen Übergangsregierung in der Ostukraine, eine angemessene Darstellung der rechten bzw. faschistischen Kräfte innerhalb der Maidan-Bewegung bzw. Kiewer Regierung und Analysen zur eskalierenden Rolle des Westens sowie zu den ökonomischen und militärischen Interessen von USA und EU. Eine vergleichbare Welle an Kritik hatte es in dieser Form bisher nicht gegeben. „Wir haben uns natürlich bemüht, ausgewogen zu berichten“, verteidigt taz-Chefredakteurin Ines Pohl im Deutschlandfunk-Interview die eigene Berichterstattung. Hinter den kritischen Kommentaren sieht Pohl jedoch, wie viele ihrer Kollegen, von Moskau bezahlte Trolle am Werk. Belege für diese Anschuldigungen werden nicht vorgelegt. Die taz, die sich über weite Strecken weigerte, den Konflikt mit journalistischer Distanz darzustellen und Russland als neue Bedrohung präsentierte, büßte im Laufe von 2014 laut der AG Medienanalyse 20 Prozent ihrer Reichweite ein. Statt 300.000 Leser pro Ausgabe sind es jetzt nur noch 240.000. Andere meinungsbildende Zeitungen wie die FAZ, SZ oder der Spiegel verloren ebenfalls drastisch an Leserschaft.

Auch innerhalb des ideologischen Rahmens wichen die deutschen und die US-Medien bei der Darstellung des Konfliktverlaufes nicht von der Linie der US-Administration und der NATO-Staaten ab. Auslöser des Konfliktes war demnach der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, der das EU-Assoziierungsabkommen ablehnte, gelockt von russischen »Milliardengeschenken«, worauf die ukrainischen Bürger aus Protest gegen die Regierung auf die Straße gingen. Der Maidan wurde zum Symbol des Widerstandes gegen ein autokratisches und korruptes System, eine Art »ukrainischer Frühling« gegen einen »ukrainischen Mubarak«. Janukowitsch unterdrückte den Aufstand gewaltsam. Doch die Maidan-Bewegung konnte sich letztlich erfolgreich durchsetzen und eine neue Übergangsregierung mit Arsenij Jazenjuk an der Spitze des Parlamentes einsetzen, die von den USA und europäischen Staaten sofort anerkannt wurde und nun für Stabilität und demokratische Verhältnisse steht. Der neue Präsident Petro Poroschenko unterzeichnete schließlich das EU-Assoziierungsabkommen, das als „historisch“ bezeichnet wurde. Gegen die europafreundliche Bewegung in Kiew positionierte sich der russische Präsident Putin aggressiv, annektierte die Krim und unterstützte die aufständische Separationsbewegung in der Ostukraine, um wieder Kontrolle über die Region zu erhalten – so die Lesart. Um gegen die destabilisierende Einmischung Russlands vorzugehen, verhängten die USA und die EU Sanktionen, die nach dem Absturz des malaysischen Passagierflugzeuges MH17 noch ausgeweitet wurden. USA und EU fordern nun die Umsetzung des Poroschenko-»Friedensplanes«, um den Konflikt zu deeskalieren, doch Putin und die Separatisten blockieren den Frieden.

Es wäre die Aufgabe der Medien gewesen, diese offizielle Erzählung und Darstellung der Ereignisse zu überprüfen, relevante Informationen und Hintergründe zu liefern und den Konflikt mit seinen diversen Akteuren fair darzustellen. „Insgesamt geben wir ein realistisches Bild dieser sehr diffusen Lage ab, immer wissend, dass jede Partei ein Interesse daran hat, ihre Seite, ihre Sichtweise besonders bevorzugt darzustellen“, weist der Redaktionsleiter von tagesschau.de, Andreas Hummelmeier, den Vorwurf einseitiger Berichterstattung zurück. Doch das »realistische Bild«, das Tagesschau, Süddeutsche Zeitung oder Spiegel skizzierten, war und ist, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Die halbe Wahrheit ist aber nun einmal nicht die Wahrheit, so wenig ein Sportreporter, der nur von den Toren seiner Lieblingsmannschaft berichtet, ein Ereignis wahrheitsgemäß wiedergibt.

Es gab zum Beispiel gute Gründe, warum der ukrainische Präsident Janukowitsch das EU-Assoziierungsabkommen ablehnte. Die EU stellte der ukrainischen Regierung ein Ultimatum, verlangte von ihr eine Entscheidung. Ein Abkommen mit der EU gäbe es nur ohne Zollunion mit Russland. Die daraus resultierende Schwächung der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland hätte weitreichende negative Folgen für die Ukraine gehabt. Russland ist der wichtigste Handelspartner der Ukraine, beide sind ökonomisch eng miteinander verbunden. Die »militärische Kooperation«, wie sie das EU-Abkommen vorsah, war zudem ein unmissverständliches Signal Richtung NATO-Beitritt, was von Moskau nicht akzeptiert werden konnte. Gleichzeitig ließen die Medien weitestgehend unberücksichtigt, dass die Ukraine aus mindestens „zwei Ukrainen“ besteht, wie der US-amerikanische Russland-Experte Stephen Cohen, Professor emeritus für Russland-Studien und Politik an der New York University und Princeton University, immer wieder betonte. „Eine neigt Richtung Polen und Litauen, dem Westen, der Europäischen Union; die andere Richtung Russland. Das ist nicht meine Meinung. Seit die Krise sich entfaltete, zeigen alle Meinungsumfragen, dass etwa 40 Prozent der Ukrainer zum Westen gehören wollen, 40 Prozent wollen mit Russland verbunden bleiben und, wie meist bei solchen Umfragen, sind 20 Prozent nicht entschieden oder sicher.“

Die Haltung gegenüber dem EU-Assoziierungsabkommen war in der ukrainischen Bevölkerung daher gespalten, wie Umfragen zeigten. Die eine Hälfte wollte es, die andere nicht. Doch die Medienberichte konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Befürworter einer EU-Annäherung, die dann als Haltung »der Ukrainer« gekennzeichnet wurden. Es ist daher zumindest irreführend, Janukowitschs Ablehnung als Auslöser der Krise zu bezeichnen, wie es die Medien taten, ohne zu erklären, warum es zu dieser Ablehnung kommen musste. Auch verschwiegen sie, dass eine Lösung möglich gewesen wäre, aber von der EU blockiert wurde. Stefan Kornelius schrieb am 24. Februar 2014 in der Süddeutschen Zeitung: „Der Präsident [Janukowitsch, d. Verf.] akzeptierte die Logik, dass die Ukraine eine Wahl zu treffen habe zwischen dem Westen und Russland. Diese Logik prallt aber an der EU ab. Die Gemeinschaft erträgt unter ihren Mitgliedern ökonomische und politische Unterschiede, sie schafft keine Fronten. Die EU bietet vielmehr Optionen für Staaten, die sich Regeln für gute Regierungsführung unterwerfen. Die EU sucht nicht nach neuen Mitgliedern, neue Staaten streben in die EU.“ Eine Verkehrung der tatsächlichen Geschehnisse. Während die EU der Ukraine ein Ultimatum stellte, zwischen Russland und der EU zu wählen, bot Moskau der EU eine »tripartite«-Regelung an, also Zollunion und EU-Abkommen gleichzeitig, doch die EU lehnte das ab. Der Konflikt eskalierte.

„Ein Meilenstein“ – Mythos und Realität des EU-Assoziierungsabkommens

Als der neue Präsident Poroschenko das EU-Assoziierungsabkommen schließlich nach dem Staatsputsch und der folgenden Wahl unterzeichnete, folgten die deutschen Medien den Vorgaben Poroschenkos und des EU-Ratsvorsitzenden Herman Van Rompuy, dass es sich um einen „historischen Tag“, einen „Meilenstein“ handele, der der Ukraine nun einen „verbesserten Marktzugang mit 500 Millionen Verbrauchern“ ermögliche.

»Historisch« war an dem Tag vielmehr, dass eine kaum entwickelte Agrargesellschaft in Zukunft mit einem der größten Wirtschaftsräume der Welt ohne nennenswerte Schutzmaßnahmen wie Zölle, Industriesubventionen, Agrarhilfen, Heizzuschüsse etc. auf dem »freien Markt« konkurrieren muss und von seinem wichtigsten Handelspartner abgeschnitten zu werden droht. Die Journalisten vergaßen auch mitzuteilen, dass das EU-Abkommen einherging mit einem zweistelligen Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), der gekoppelt wurde an ein rigides Sparprogramm, vergleichbar dem in Griechenland. Der IWF-Kredit bedient wie in anderen Staatsschulden-Fällen die Gläubiger der Ukraine, also vor allem europäische und US-amerikanische Banken und Finanzinstitute. Die Kosten tragen die ukrainischen Bürger.

Die Austeritätsmaßnahmen im Sinne des EU-IWF-Reformpaketes sind bereits angelaufen. Die Folgen sind u.a. sinkende Löhne, steigende Inflation, drastisch hochschnellende Gas-, Wasser und Strompreise für die Ukrainer, und das bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 275 US-Dollar, wobei der größte Teil für Lebensmittel ausgegeben werden muss. Zudem wurden im Rahmen des Sparprogramms bereits Staatsangestellte entlassen. Ökonomen gehen davon aus, dass die Kaufkraft der Ukrainer im Zuge der »Reformprogramme« weiter sinken werde und damit die Wirtschaft tiefer in die Rezession getrieben wird. Die Regierung in Kiew hat zudem angekündigt, Sozialprogramme, Unterstützung für Arbeitslose und Behinderte drastisch zu kürzen und die Löhne für Angestellte des öffentlichen Dienstes nicht an die galoppierende 16-prozentige Inflation anzupassen, während man das Staatsbudget für Sicherheit und Militär stark ausbauen will.

Im aktuellen Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) heißt es dazu: „Es war eines der Hauptziele der zivilgesellschaftlichen Aktivisten, Experten und Journalisten, die sich nach dem Maidan zusammenschlossen, um für die erforderlichen Reformen zu werben, dass jeder in der Ukraine in den vollen Genuß sozialer und ökonomischer Rechte kommt. Allerdings ist die neue Gesellschaft, die, so ihre Hoffnung, mit dem wiederbelebten »Reformpaket« [reanimation package of reforms] entstehen würde, noch weit von der Wirklichkeit entfernt.“ […]

»Wertvolle« und »wertlose« Proteste

[…] Die Maidan-Berichterstattung ist ein Tiefpunkt im deutschen Journalismus. Dieselben Medien, die sonst friedliche Proteste im eigenen Land gern auf ein paar Randalierer reduzieren und eskalierende Polizeigewalt unerwähnt lassen, übersahen auf dem Maidan die immer präsenter werdenden extremistischen Kräfte rechter und faschistischer Gruppierungen oder spielten ihre Bedeutung für den Staatscoup herunter. Offen geäußerte rassistische Einstellungen wurden als Petitesse abgetan, die sonst so fein eingestellten Antisemitismus-Sensorien der meinungsführenden Rundfunkanstalten und Zeitungen, die bei Protesten gegen Israels Gaza-Kriegen zuverlässig immer neue Wellen von Judenhass entdecken, wurden schlicht abgeschaltet. Nach dem Staatssturz mit Hilfe der Rechtsextremen titelte die Süddeutsche Zeitung: „Russland erklärt sich zum antifaschistischen Schutzwall“. Mit ein paar Sätzen relativierte die Süddeutsche Zeitung die Rolle rechtsextremer Gruppen auf dem Maidan als umstritten und marginal. Anklagen wegen Volksverhetzung, Juden-, Russen-, Roma- und Schwulen-Hetze, Verherrlichung des Vernichtungskrieges gegen die ukrainischen Juden, dem 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, enge Kontakte zur NPD, der militanten Neonazi-Szene und anderen europäischen rechtsextremistischen Parteien usw.? Fehlanzeige. Man erfuhr im SZ-Artikel auch nicht, dass der Jüdische Weltkongress die Partei »Swoboda«, deren Vorsitzender Oleg Tjagnibok die Hände vieler westlicher Politiker wie Steinmeier, Ashton oder McCain schüttelte, als neonazistisch einstuft und ein Verbot der Partei fordert. Man beschäftigte sich lieber 14 Absätze lang mit Rassismus in Russland, einem Land, so die SZ, das sich nun „zynisch“ als „antifaschistischer Schutzwall“ im Ukraine-Konflikt inszeniere.

Der doppelte Standard der Medienberichterstattung setzte sich fort bei den Protesten in der Ostukraine. Wie von Kritikern des Staatssturzes erwartet, brach der Konflikt, angefeuert von US-amerikanischen und europäischen Solidaritätsadressen, entlang der ethnischen, kulturellen und politischen Trennlinien in offenen Bürgerkrieg aus. Die deutschen und US-amerikanischen Medien schalteten ihr Bewertungsschema jedoch jetzt um. Der Übergangspräsident „Jats“, wie Victoria Nuland, zuständig für Europa und Eurasien im US-Außenministerium, ihren »favorite« in einem geleakten Telefonat nannte (anders als Janukowitsch von den Medien jetzt nicht als »Marionette« diffamiert), und der neu gewählte Oligarch Poroschenko (Wie war das noch einmal mit dem Aufstand gegen die »Macht der Oligarchen« auf dem Maidan?) sind nun Garanten von Stabilität, Demokratie, legitimer Gewaltanwendung, auch wenn sie brutal gegen das eigene Volk in der Ostukraine vorgehen. Doch über diese Gewalt berichten die Medien so gut wie nicht. Die Aktivisten sind demgegenüber Aufständische, Separatisten, Terroristen, die von Russland infiltriert sind bzw. gesteuert werden, um Teile der Ostukraine an Russland anzugliedern.

Die Wahrheit ist komplizierter. Auch in der Ostukraine erhalten rechte und gewaltbereite Kräfte im Verlauf der Eskalation mehr Einfluss, aber darin unterscheidet sich der Protest nicht von dem auf dem Maidan. Zudem: Ukrainische Bürger, darunter etliche junge Aktivisten und Studenten, protestierten in Lugansk, Donezk oder Odessa oft friedlich für Reformen. Sie fordern nicht Abspaltung von Kiew, keine Angliederung an Russland, sondern Rechtsschutz für die russischstämmige Bevölkerung und mehr Autonomie in einem föderalen System. Von diesen Protestierenden und ihren politischen Ansichten erfährt man so gut wie nichts in der Presse – anders als bei der Maidan-Berichterstattung. Der Eindruck musste entstehen: In der Ostukraine, anders als bei den europafreundlichen Protesten in Kiew, zündelten ausschließlich militante Umstürzler ohne legitime politische Interessen. „Prorussische Separatisten“ ist heute eine feste Wortfügung in allen Nachrichten. Das Bild in der Ostukraine ist weitaus gemischter. […]

Und was ist mit der destabilisierenden Einmischung Moskaus in der Ostukraine? Nehmen wir den Kernvorwurf, die russischen Waffentransporte ins Krisengebiet. Der Vorwurf wird mit Verweis auf Social-Media-Fotos und Satellitenbilder erhoben, bereitgestellt von der US-Administration. Eindeutige Belege liegen nicht vor, die Lage ist unübersichtlich, trotz Indizien.

Journalisten sollten zudem auch die Frage stellen: Was ist mit der anderen Seite? Was ist mit den US-Militärhilfen? Die militärische »Einmischung« des Pentagon liegt anders als im Fall Moskaus offen zutage. Im US-Senatsausschuss für Internationale Beziehungen hat das Verteidigungsministerium seine militärische Unterstützung für die Ukraine erläutert. Die Hilfen sollen danach im Zuge der Krise vervierfacht werden. Neben Militärausrüstung, wie Körperpanzer, Nachtsichtgeräte, Bomben-Spürroboter usw., sollen auch amerikanische Berater und Trainer in die Ukraine geschickt werden „um das ukrainische Militär auszubilden und zu professionalisieren“. In das ukrainische Verteidigungsministerium will man US-Berater „einbetten“, um mit der Regierung zusammen eine »Nationale Sicherheitsstrategie« zu entwerfen, die eine „kohärente Vision für das Militär, den Grenzschutz, die Nationalgarde und andere Sicherheitsinstitutionen der Ukraine“ bereitstelle, so der Staatssekretär für Internationale Sicherheit im Pentagon, Derek Chollet, im US-Senatsausschuss Anfang Juli [2014]. Der Vorwurf von russischer Seite, dass die USA 100 Berater im Sicherheitsapparat der ukrainischen Regierung bereits einsetze, ist daher nicht aus der Luft gegriffen. Nach dem Absturz der MH17 erwägen die USA, Echtzeit-Zielkoordinaten für Angriffe des ukrainischen Militärs bereitzustellen, im US-Kongress fordern Politiker sogar Waffenlieferungen an das ukrainische Militär. Im Kölner Stadt-Anzeiger heißt es dazu: „Würden die Pläne umgesetzt, wäre das eine kraftvolle Botschaft an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass die USA neben Sanktionen auch noch andere Mittel einsetzen, um die Unterstützung Moskaus für die Separatisten zu beenden.“

Während die möglichen Waffenlieferungen Russlands von den meisten deutschen Medien als Tatsache präsentiert werden und als Beweis für die von Moskau betriebene Eskalation des Konfliktes erscheinen, gilt die militärische Unterstützung des ukrainischen Militärs durch die USA als eine legitime Schutzmaßnahme und wird als stabilisierend kommentiert. Wir erinnern uns: Im UN-Bericht wird beiden, dem ukrainischen Militär wie den Separatisten, vorgeworfen, gegen die Zivilbevölkerung in der Ostukraine Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Sollte Moskau Waffen an die Separatisten liefern, dann ist das ein Verstoß gegen das Verbot, Waffen in Bürgerkriegsregionen zu liefern, in denen Zivilisten nicht ausreichend geschützt werden. Das Gleiche gilt jedoch auch für die USA. In einem der wenigen abwägenden Kommentare in deutschen Medien fordert der Moderator des ARD-Politmagazins »Monitor«, Georg Restle, in den Tagesthemen auch vom Westen, seinen Einfluss geltend zu machen, um den Konflikt zu deeskalieren. Die Schlussfolgerung wird jedoch auch von Restle nicht gezogen. Nimmt man den an Russland angelegten Maßstab, würde »Einfluss geltend machen« bedeuten: keinerlei Unterstützung für die ukrainische Regierung, weder politische, diplomatische, finanzielle noch militärische, solange die Regierungstruppen nicht die Waffen niederlegen. Eine Forderung, die in deutschen und US-Medien außerhalb des Debattenradius liegt.

„Versöhnliche Geste“ vs. „vergiftetes Geschenk“

Was ist mit der Lösung des Konfliktes in der Ukraine? Anfang Juli 2014 legte Poroschenko einen Friedensplan vor, der durchaus eine Chance zur Deeskalation hätte sein können, so Stephen Cohen in der Zeitschrift The Nation: „Bis auf die zwei Grundvoraussetzungen: Kämpfer im Südosten müssten zuerst ‚ihre Waffen niederlegen’, und er alleine würde entscheiden, mit wem er über den Frieden verhandelt. Die Voraussetzungen ähnelten mehr denen einer Kapitulation, und sie waren vermutlich der wahre Grund, dass Poroschenko am 1. Juli [2014] einseitig den Waffenstillstand aufkündigte und Kiews Angriffe auf die Städte im Osten intensivierte, zunächst auf die kleineren Städte Slawjansk und Kramatorsk, aus denen sich die Verteidiger am 5./6. Juli zurückzogen – um, wie sie sagten, noch mehr zivile Opfer zu vermeiden.“ Auf Spiegel Online zitierte man überschwänglich Poroschenko mit den pazifistischen Worten: „Ich will keinen Krieg, ich will keine Rache. Ich möchte Frieden“ – um dann fortzufahren: „Die Separatisten zeigten sich allerdings unbeeindruckt von der versöhnlichen Geste Poroschenkos.“ Janukowitschs Zugeständnisse an die Maidan-Sprecher im Januar 2014, mit denen er sich immer wieder an einen Tisch gesetzt und verhandelt hatte, gingen weit über Poroschenkos Zugeständnisse im »Friedensplan« hinaus. Sie wurden von den Qualitätszeitungen allerdings nicht als „versöhnliche Geste“ bezeichnet, sondern als „unmoralisches Angebot“, als „vergiftetes Geschenk“, das von der Gegenseite zu Recht abgelehnt wurde, auch wenn es weitreichende Zugeständnisse enthielt. „Die Gewalt beenden, ohne die eigene Integrität zu opfern“, das sei Klitschko & Co. gelungen, hieß es dazu in der Süddeutschen Zeitung.

Man könnte unzählige Beispiele herausgreifen und daran aufzeigen, wie gegen elementare journalistische Standards beim Ukraine-Konflikt verstoßen wurde. Über 40 Aktivisten sterben in einem brennenden Gewerkschaftshaus in Odessa, einige davon wurden im Gebäude erschossen. Augenzeugenberichte, etliche Videos und Indizien deuten auf Brandstiftung hin, auf ein Massaker an den Kiew-kritischen Demonstranten, die vor dem Gewerkschaftshaus kampierten, in das sie vor einem gewalttätigen Mob flohen, der einige aus dem Gebäude wieder zurückholte und auf offener Straße brutal zusammenschlug. Es gibt belastende Hinweise, dass rechtsradikale Gruppen und Milizen, möglicherweise aus dem Umfeld der in Kiew mitregierenden Swoboda-Partei, für das Massaker verantwortlich gewesen sind. Die taz wie viele andere Zeitungen und Rundfunksender beließ es bei einem „brennenden Gewerkschaftshaus“, ohne zu vermelden, wer für die „Tragödie“ verantwortlich gewesen sein könnte. Bei den Scharfschützen auf dem Maidan präsentierten die meinungsmachenden Medien hingegen ein staatlich organisiertes Massaker, obwohl, wie sich später zeigte, daran erhebliche Zweifel bestehen. Bei beiden Vorfällen fordert das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinte Nationen unabhängige Untersuchungen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

In den deutschen Medien wurde die Eskalation des Konfliktes durchaus auch mit Sorge betrachtet. Am 16. April 2014 meldete das Handelsblatt: „Ukraine-Eskalation alarmiert deutsche Wirtschaft“. DIW-Präsident Marcel Fratscher warnte vor konjunkturellen Rückschlägen für Europa bei Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Im ZDF-Interview verteidigte Siemens-Chef Joe Kaeser seinen Besuch bei Putin, sprach von „kurzfristigen Turbulenzen“ im Zusammenhang mit der Krim-Angliederung an Russland und warnte vor weiterer Eskalation. Der Siemens-Konzern hatte Ende 2011 Investitionen von rund einer Milliarde Euro in Russland zugesagt, wovon etwa 750 bis 800 Millionen Euro schon umgesetzt sind. Deutsches Kapital in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar finanziert insgesamt 6.200 Firmen in Russland. Dazu kommen die russischen Gas- und Öllieferungen nach Europa. Allein in Deutschland decken sie 35 Prozent des Bedarfs ab. Die drohenden »Marktturbulenzen« im Zuge einer weiteren Eskalation mit Russland haben den politischen und medialen Diskurs in Deutschland zur Ukraine-Krise, wenn auch nur an den Rändern, in seiner Schärfe sicherlich abgemildert. […]

David Goeßmann ist freier Journalist. Er arbeitet für etliche Rundfunksender und Printmedien. Von 2005 bis 2007 war er freier Auslandskorrespondent in Boston/USA, davor Parlamentsreporter und CvD der Deutschen Fernsehnachrichten Agentur. 2009 gründete er zusammen mit dem Dramatiker und Journalisten Fabian Scheidler das unabhängige TV-Nachrichtenmagazin »Kontext TV« (kontext-tv.de).
Übersetzung der englischsprachigen Zitate für W&F: Regina Hagen

Bilderkrieger im »War Porn«?

Bilderkrieger im »War Porn«?

von Felix Koltermann

Bilder von Fotojournalisten stellen bis heute einen elementaren Teil massenmedialer Kriegsberichterstattung dar. Auch der Aufschwung des so genannten »Citizen Journalism« und einzelne »Scoops«, wie die Folterbilder von Abu Ghraib und die Bilder der toten Diktatoren Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi, haben kaum etwas an der Publikationspraxis der gedruckten Presse geändert. Diejenigen, die diese Bilder produzieren, kommen dabei nur selten zu Wort. Umso spannender – und gleichzeitig kontroverser – sind zwei Bücher aus dem letzten Jahr, in denen Fotojournalisten die eigene Arbeit (selbst-) kritisch unter die Lupe nehmen. Der deutsche Fotojournalist Christoph Bangert hat unter dem Titel »War Porn« unveröffentlichte Kriegsbilder zusammengestellt und im Kehrer Verlag veröffentlicht, während der amerikanische Fotojournalist Michael Kamber Dutzende Interviews mit Kollegen führte, die auf Deutsch unter dem Titel »Bilderkrieger« im Ankerherz Verlag erschienen sind.

Das Thema von Bangerts Buch »War Porn« ist die Selbstzensur, die er in seinem Kopf ebenso verortet wie bei Redakteuren und Medienkonsumenten. Aus diesem Grund hat er für »War Porn« über 80 unveröffentlichte Fotografien aus dem Irak, dem Gazastreifen, dem Libanon, Sri Lanka und Afghanistan zusammengestellt, die er im Auftrag der New York Times angefertigt hatte. Diese Bilder sind ein Archiv des Grauens: mit Brandwunden übersäte Körper, Leichen auf Müllkippen oder der blutige Boden in einem Krankenhaus. Gekonnt spielt das Buch dabei mit der Wahrnehmung des Lesers. Einige Seiten sind zugeklebt, und der Leser muss selbst die Entscheidung treffen, ob er sie öffnet und sich weitere Bilder anschaut oder ob er dies lässt. Für Bangert gibt es eine Pflicht des Zeigens, die er geschickt mit seiner Familiengeschichte verwebt: Das Buch endet mit Bildern seines Nazi-Großvaters, der sein Leben lang nur heroische Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt hatte. Bangert sieht sein Buch als Versicherung, dass ihm genau dies nicht passiert und er die Grausamkeiten des Krieges, die seine Erinnerung gebrandmarkt haben, weitergibt.

»War Porn« als Provokation

Mit seinem Buch hat Bangert in Deutschland eine neue Debatte über die Kriegsfotografie angestoßen. Kaum ein Fotobuch war in den letzten Jahren so präsent in den Massenmedien und wurde im Fernsehen wie in Tages- und Wochenzeitungen so häufig rezensiert. Leider wurde dabei selten auf den problematischen Buchtitel und den damit verbundenen Diskurs eingegangen. Bangert selbst benutzt den Begriff »War Porn« als Provokation. Die Einleitung zu seinem Buch zeigt, dass er die Diskussion über das Thema und die Fragen und Vorwürfe, die an ihn als Fotografen gerichtet werden, in- und auswendig kennt. Er dreht den Spieß um, streckt dem Publikum den ausgestreckten Mittelfinger entgegen, um zu sagen: „NATÜRLICH beuten Photographen die abgebildeten Personen aus! NATÜRLICH ist das Kriegspornographie!“ (Bangert 2014, S.5) Seine Botschaft ist: Schaut Euch die Fotos an und urteilt selbst. Dabei ist er sich darüber im Klaren, was mit dem Gebrauch des Begriffs »War Porn« intendiert ist: „Das sind wunderbare Entschuldigungen, entsetzliche Bilder nicht zu veröffentlichen.“ (Bangert 2014, S.5) Dem ist voll zuzustimmen – und gerade deshalb ist der Titel unglücklich gewählt, auch wenn er provokativ gemeint ist. Denn wenn Bangerts Bilder eines nicht sind, dann pornografisch.

Die Einstufung von Kriegsfotografien als Pornografie ist Teil eines Versuchs, ihre Wirkung einzuhegen und ihren Einfluss zu begrenzen. Dies war zum Beispiel an den Bildern der Folterszenen aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis zu beobachten. Die Pornografiedebatte setzt den Fokus auf die Bilder, nicht auf die Geschehnisse, und lenkt damit von der Frage nach den Verantwortlichkeiten für das gezeigte Kriegsgräuel ab. Judith Butler hat dazu folgendes angemerkt: „Das Problem scheint nicht in dem zu liegen, was die Bilder darstellen – Folter, Vergewaltigung, Erniedrigung, Mord -, es scheint eher im sogenannten pornografischen Charakter der Bilder zu liegen.“ (Butler 2009, S.87) Mit dem Pornografiebegriff wird Fotografen der Vorwurf gemacht, sie wollten vermeintlich eine Lust am Grauen befriedigen und würden dies selbst als erregend empfinden. Dies mag vielleicht für folternde Soldaten zutreffen, dieser Vorwurf ist professionellen Bildproduzenten gegenüber aber absurd. In diesem Zusammenhang ist auch die Unterscheidung zwischen dem Skandal im Bild und dem skandalösen Bild (Isermann/Knieper 2010, S.30) wichtig. Beim Skandal im Bild geht es um die auf den Bildkontext verweisende Darstellung, die skandalös ist, beim skandalösen Bild ist das Bild selbst der Skandal. Der Pornografievorwurf verfolgt das Ziel, Kriegsfotografien zu skandalösen Bildern zu machen. Damit findet ein problematischer Ebenenwechsel statt, weg vom Ereignis, hin zur Ebene der Repräsentation.

Vom Fotojournalist zum Bilderkrieger

Anders als »War Porn« lebt »Bilderkrieger« nicht von den Bildern der Kriegsfotografen, sondern von deren Aussagen in Form ausführlicher Gespräche, die zu Interviewtexten editiert wurden. Der Übersetzer und Herausgeber der deutschen Ausgabe, Fred Grimm, und der Ankerherz Verlag wählten aus den 40 Interviews der amerikanischen Ausgabe, die im Original »Photojournalists on War – The untold stories from Iraq« heißt, die Hälfte aus und ordneten sie drei Themenblöcken zu: Mission, Krieg und Narben. Der Fokus liegt auf der Profession der Kriegsfotografen, weniger auf dem Ereignis des Irakkriegs. Ungeschminkt erzählen die männlichen wie weiblichen Fotojournalisten von ihrer Motivation, von ihrer Besessenheit zu fotografieren, von den Höhen und Tiefen des Arbeitsalltags, von den Risiken und Schwierigkeiten dieses Geschäfts. Sie lassen den Leser teilhaben an ihren Kriegserfahrungen, an den Auswirkungen der Konflikteskalation auf ihre Begegnung mit den Menschen im Feld, an ihren Selbstzweifeln und auch an ihrer Wut. Zutiefst menschlich sind die Geschichten, ehrlich und meist ohne Pathos. So war eine Motivation des Autors Michael Kamber für das Buch, den Heldenmythos des Kriegsfotografen zu zerstören.

Unklar bleibt nach der Lektüre, warum die deutsche Ausgabe den Titel »Bilderkrieger« trägt. Die Interviews jedenfalls lassen keine Rückschlüsse darauf zu, dass die Fotojournalisten sich selbst mit Soldaten vergleichen würden, wie es der Titel evoziert. Im Gegenteil: Sie sind fast alle von einer humanistischen Motivation getrieben. Der Titel »Bilderkrieger« ist reißerisch und nimmt Bezug auf die Debatte um den so genannten Bilderkrieg. Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff vor allem vom Kieler Geschichtswissenschaftler Gerhard Paul geprägt. In seinem monumentalen Überblickswerk »Der Krieg der Bilder« (2004) hat er sich der visuellen Darstellung des Krieges angenommen. Er verfolgt die zentrale These, dass Kriegsparteien Bilder als Waffen einsetzen. Mit dem Titel »Bilderkrieger« wird darauf Rekurs genommen. Professionelle Fotografen, die im Krieg Bilder produzieren, werden damit auf eine Ebene mit Soldaten gestellt. Die Unterscheidung zwischen beiden besteht nur noch in der Wahl der Waffen: Während der eine mit Waffen tötet, verbreitet der andere die Bilder und nutzt die Kamera als seine Waffe. Dass mit dieser Gleichsetzung der Akteure jedem journalistischen Anspruch Hohn gesprochen wird, ist offensichtlich.

Dabei kann nicht negiert werden, dass Fotojournalisten verstärkt für Propagandazwecke und »Image Operations« missbraucht werden. Zum Krieger werden sie deswegen jedoch nicht. Der Versuch, die Verantwortung für Tod und Gewalt vom militärischen Akteur auf den Beobachter abzuwälzen, hat gefährliche Implikationen für die Fotojournalisten. Wenn ein Fotograf ein Krieger ist, steht er auch nicht unter dem besonderen Schutz des Kriegsvölkerrechts und wird zu einem »legitimen« militärischen Ziel. Fotografen und Journalisten sind in den letzten zwei Jahrzehnten immer stärker zur Zielscheibe geworden. Aber gerade der Diskurs über den Bilderkrieg sowie die Praxis des »Embedment«, die letztlich eine Unterscheidung zwischen guten, schutzwürdigen Journalisten, die »embedded« sind, und unabhängigen Journalisten, die als Freiwild zum Abschuß freigegeben werden, mit sich bringt, hat diese Tendenz verstärkt. Darüber hinaus macht es die Gleichsetzung von Bildern mit Waffen leichter, Bildern professioneller Journalisten und den Ereignissen, die sie dokumentieren, die Legitimation abzusprechen und sie als Propaganda und Manipulation zu brandmarken, ohne sich mit den Inhalten beschäftigen zu müssen.

Versicherheitlichung der Debatte

Beide Begriffe, sowohl »Bilderkrieger« als auch »War Porn«, folgen somit einem ähnlichen Gedankengang und leisten einer Versicherheitlichung der Debatte um Kriegsbilder und die Arbeit von Kriegsfotografen Vorschub (Koltermann 2014, S.11 ff.). Vor allem seit der Diskussion um die so genannten »Neuen Kriege« (Münkler 2002) und um das Verhältnis von Medien und Krieg ist dies kennzeichnend sowohl für den öffentlichen Diskurs als auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu diesen Themen. Fast unhinterfragt ist die Rede vom »Bilderkrieg« zu einem Gemeinplatz geworden. Nur wenige Wissenschaftler, wie Kai Hafez (2007), mahnen, den Medien nicht zu viel Macht zuzusprechen und das Primat der Kriegspolitik nicht zu vernachlässigen.

Die Bilderkriegsthese folgt einem hegemonialen politischen Diskurs, der zum Ziel hat, die Medien zu Akteuren des Krieges zu machen und die Verantwortung von den Tätern in Uniform und den Akteuren auf der politischen Ebene auf den Journalismus abzuwälzen. Hier finden sich Parallelen zur Debatte über den »Cyberwar«, deren Apologeten Hackerangriffe als Kriegserklärung betrachten, die mit militärischen Mitteln zu beantworten seien. Die Bilderkriegdebatte schließt darüber hinaus an die Dolchstoßlegende des Vietnamkrieges an: Bis heute hält sich der Mythos, der Krieg in Vietnam sei verloren worden, weil die Medien die US-amerikanische Bevölkerung gegen die Regierung aufgewiegelt hätten, obgleich es dafür keinerlei empirische Nachweise gibt.

Dabei liegt weder die politische noch die individuelle Verantwortung für Krieg und Gewalt bei den Fotografen und Journalisten. Zwischen den Bildern bzw. zwischen den Zeilen machen dies auch die Bücher »War Porn« und »Bilderkrieger« mehr als deutlich.

Literatur

Christoph Bangert (2014): War Porn. Heidelberg: Kehrer.

Judith Butler(2009): Raster des Krieges. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Kai Hafez (2007): Die Überlegenheit des Realismus: »Bilderkriege«, »Iconic Turn« und die Ohnmacht der Medien. In: Lydia Haustein, Bernd M. Scherer, Martin Hager (Hrsg.): Feindbilder – Ideologien und visuelle Strategien der Kulturen. Göttingen: Wallstein Verlag, S.126-134.

Holger Isermann und Thomas Knieper (2010): Bildethik. In: Christian Schicha und Carsten Brosda (Hrsg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.304-317.

Michael Kamber (2013): Photojournalists on War – The Untold stories from Iraq. Austin: The University of Texas Press. Deutsche Ausgabe ders. (2013): Bilderkrieger – Von jenen, die ausziehen, uns die Augen zu öffnen. Kriegsfotografen erzählen. Übersetzt und bearbeitet von Fred Grimm. Hollenstedt: Ankerherz.

Felix Koltermann (2014): Fotografie und Konflikt – Texte und Essays. Norderstedt: BoD.

Herfried Münkler (2002): Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Gerhard Paul (2004): Bilder des Krieges – Krieg der Bilder: Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn: Schöningh.

Felix Koltermann ist Friedens- und Konfliktforscher, Trainer und Journalist. Er promoviert an der Universität Erfurt über die fotojournalistische Produktion in Israel und den palästinensischen Gebieten. Auf fotografieundkonflikt.blogspot.com bloggt er zum Thema.

Blogs und Information Warfare

Blogs und Information Warfare

Military Blogs im Irakkrieg

von Johanna Roering

Mit der Verbreitung digitaler Medien können sich Akteure, die bislang nur Adressaten waren, selbst aktiv an der medialen Berichterstattung beteiligen. Auch Soldaten nehmen die neuen Möglichkeiten der Partizipation wahr. Die Autorin untersucht in diesem Artikel, wie sich US-amerikanische Soldaten während des Irakkriegs mittels Blogs an der Berichterstattung und Meinungsbildung zu diesem Krieg beteiligten. Kritiker des Pentagon hofften damals, diese Blogs könnten ein Korrektiv zu den Presseverlautbarungen des US-Verteidigungsministeriums sein. Und in der Tat lieferten »Military Blogs« zuweilen alternative Perspektiven auf den Irakkrieg – sofern sie nicht zensiert wurden. In der Regel machten sich die in militärische Strukturen eingebundenen Soldaten in ihren Blogs aber eher für pro-militärische Positionen stark.

Als sich 2002 der Einmarsch der USA in den Irak abzeichnete, spezialisierten sich viele Nachrichten-Blogs (Newsblogs) auf Informationen zur Kriegsvorbereitung. Unter den Bloggern waren auch einige ehemalige oder noch aktive Soldaten, die die Berichterstattung aus ihrer Sicht kommentierten oder ergänzten. So versuchte der Blogger Sgt. Stryker in seinem Blog »Sgt. Stryker's Daily Brief« ganz bewusst, als Gegengewicht zu den seiner Meinung nach anti-militärischen Medienanbietern wie CNN seine eigene, kriegsbefürwortende Position einzubringen: „Ich war von der Medienberichterstattung enttäuscht, vor allem von den Kommentaren, denn die schienen anachronistisch im Vergleich zu dem, was gerade passiert war. Als ich im Web surfte, stieß ich auf Instapundit. Ich dachte, was der kann, kann ich auch, so wurde aus meiner Star-Wars-Freak-Seite «Sgt. Stryker's Daily Brief«.“ (Stryker in Mudville Gazette 2005) Diese Newsblogs mit militärischem Schwerpunkt waren die ersten Military Blogs (kurz Milblogs).1

Unmittelbare Berichterstattung aus dem Krieg

Frühe Milblogs, wie »Sgt. Stryker's Daily Brief«, diskutierten zwar die Kriegsvorbereitungen, veröffentlichten aber selten eigenständig recherchierte Informationen. Kurz vor Kriegsanfang wurden jedoch einige neue Blogs von in Kuwait stationierten Soldaten erstellt und die nachrichtenbasierten Milblogs so um Augenzeugenberichte aus dem Kriegsgebiet ergänzt. Dass Soldaten überhaupt aus dem Kriegsgebiet schreiben konnten, lag an der Verfügbarkeit von Kommunikationstechnologien: Die technische Ausrüstung der meisten »Forward Operating Bases« in Kuwait und im Irak erlaubte es den dort stationierten Soldaten, verhältnismäßig regelmäßig mit ihrer Familie und Freunden zu kommunizieren (Dauber 2006, S.181). Sie konnten dort aber auch die mediale Berichterstattung, zum Beispiel auf CNN oder in der New York Times, ohne wesentliche zeitliche Verzögerung verfolgen und in ihren Blogs ebenfalls zeitnahe kommentieren.

Diese direkte mediale Beteiligung von Autoren vor Ort versprach einen unmittelbaren Zugang zu den Geschehnissen. In der Regel stand in den Milblogs allerdings nicht die Analyse, sondern der militärische Alltag im Vordergrund. Der Blogger Lt Smash, Soldat der US Navy, beispielsweise schrieb in seinem Blog »Live From the Sandbox« über seinen Aufenthalt in Kuwait und seine Teilnahme an den Kriegsvorbereitungen. Er berichtete über sein Training, den Arbeitsalltag und das Leben in Kuwait: „Schon wieder ein staubiger Tag heute. Dieses Mal ist es windig. […] Ich bleibe so viel ich kann drinnen. Heute habe ich einen aus meinem Team mitgebracht, damit er auf meinem Computer seine Mails checken kann.“ (Sharing the Wealth, 21.2.2003) Während der ersten Kriegstage, als sich die Fernsehberichterstattung mit Meldungen geradezu überschlug, stellte Smash den Brief einer Mutter, deren Sohn am 11. September 2001 gestorben war, und kurze Satiren zu Saddam Hussein in sein Blog (Memorandum, 20.3.2003), lieferte aber kaum Informationen zum Kriegsverlauf. Lt Smash konzentrierte sich auf das Alltagsleben und stellte die Leistungen und Opfer individueller Soldaten in den Mittepunkt, darunter den Unfalltod eines britischen Soldaten in Kuwait (For Robert, 29.3.2003).

Versuche der Zensur

Obwohl ständig neue Milblogs gegründet wurden, fanden sie in dieser frühen Phase kaum die Beachtung anderer Medienanbieter. Dies änderte sich erst, als der Milblogger Colby Buzzell vor den Augen seiner Leserschaft zensiert wurde. Im Juni 2004 hatte der amerikanische Infanterist Buzzell den Blog »My War« über seine Stationierung im Irakkrieg gestartet. Buzzell führte den Blog zwar unter einem Pseudonym, hatte jedoch seinen Stationierungsort im Irak und seine Einheit nicht verheimlicht. Als Buzzell im August 2004 in dem Eintrag »Men in Black« detailreich über Kampfhandlungen in Mosul berichtete, verbreitete sich der Text schnell in der Blogosphäre und wurde von Journalisten aufgegriffen (Gilbert 2004; The View From on the Ground 2004; Cooper 2004). Auch seine Vorgesetzten wurden auf den Eintrag aufmerksam und verboten Buzzell schließlich, den Blog auf diese Weise weiterzuführen (I'm Soo Fucked, 10.8.2004). Als Buzzell aufgefordert wurde, seine Einträge vor der Veröffentlichung einem Vorgesetzten zur Überprüfung vorzulegen, stellte er den Blog ein.

Das Medienecho zu Buzzell, weitere Zensurfälle, die Zuspitzung der Lage im Irak im Verlauf der Jahre 2005 und 2006 und die vielen Blog-Neugründungen – Ende 2005 gab es bereits mehr als tausend Military Blogs – führten in der Summe dennoch zu höheren Leserzahlen und verstärkter Medienrezeption (Roering 2012, S.85). Seit dem Truppenabzug aus dem Irak und der Popularisierung neuer sozialer Medien wie Twitter und Facebook nimmt die Zahl der Military Blogs jedoch wieder ab.

Milblogs zur Unterstützung von »Information Operations«

Blogger wie Blackfive und CJ Grisham hatten während des Irakkriegs als aktive Mitglieder des amerikanischen Militärs den Anspruch, positiv und produktiv zu dessen Aufgabenerfüllung beizutragen. Mr. and Mrs. Greyhawk vom Blog »Mudville Gazette« trugen beispielsweise wöchentlich Berichte über die Beiträge amerikanischer Soldaten zum Wiederaufbau zusammen und gaben ihnen auf ihrem häufig gelesenen Blog eine Plattform. Ein Offizier, der unter dem Pseudonym thunder6 das Blog »365 and a Wakeup« betrieb, beschrieb in seinem Augenzeugen-Blog ausführlich den Beitrag seines Bataillons zu den ersten demokratischen Wahlen im Irak. Diese Milblogger, die ihre Blogs oft mit politischer oder ideologischer Zielsetzung verbreiteten, sahen sich selbst nicht als Problem, sondern ganz im Gegenteil als Teil der Lösung, d.h. sie wollten eklatanten Mängeln der »Information Operations« der US-Streitkräfte entgegenwirken (Lawson 2008).

Wie das Beispiel von Colby Buzzell zeigt, teilte das US-Verteidigungsministerium diese positive Sicht auf Milblogs nicht. Im Oktober 2006 begann die Behörde gezielt damit, Blogs von Soldaten zu kontrollieren. Für viele Milblogger war die restriktive Haltung des Pentagon unverständlich. Für sie waren die Zensurversuche der Vorgesetzten nicht nur eine Beschneidung ihrer persönlichen Freiheit, sondern bewiesen gefährliche Ignoranz gegenüber den neuesten Entwicklungen im militärstrategischen Bereich.

Im Herbst 2009 veröffentliche das Center for Strategic Leadership des Army War College den Arbeitsbericht »Bullets and Blogs«. Die Autoren hielten fest: “Die momentane und künftige geostrategische Umgebung erfordert die Vorbereitung auf ein Schlachtfeld, auf dem symbolische informationelle Siege strategische Auswirkungen zeitigen, die tödlichen Kampfhandlungen gleichwertig sind oder diese sogar übertreffen. (Collings und Rohozinski 2009, S.14) In dem Bericht werden digitale Medien als die derzeitige Arena dieser symbolischen Kriegsführung identifiziert. Diese Einschätzung teilen viele Milblogger, die glauben, dass dezentralisierte und »persönliche« digitale Medien eine große Wirkkraft entfalten können.

Nach den anfänglichen Restriktionen wurden Milblogs im weiteren Verlauf des Irakkriegs von offizieller Stelle zumindest symbolisch anerkannt. Das Militär und die Regierung räumten nun ein, worauf die politischen Milblogger schon lange hingewiesen hatten: Zur Milblogging-Community gehört eine aktive Fraktion von Bloggern, die sich sowohl theoretisch als auch praktisch an der Verbesserung der »Information Operations« beteiligen wollen und die, vor allem in Bezug auf die positive Meinungsbildung in den USA, kein Risiko, sondern einen Gewinn für das Militär und das Pentagon darstellen.

Aus dieser Perspektive sind Milblogs nicht nur Kriegsberichterstattung und interpersonale Kommunikation, sondern auch eine Waffe in einem globalen, vernetzten und symbolischen Krieg.

Anmerkungen

1) Der Begriff »Milblog« kann nahezu jeden in Verbindung mit dem Militär stehenden Blog bezeichnen: sowohl soldatische Blogs aus Kriegsgebieten als auch Blogs von Veteranen, militärischen Beratern und Familienmitgliedern von Soldaten.

Literatur

Blackfive. www.blackfive.net (URL funktioniert nur bei Eingabe von »www«).

CJ Grisham: A Soldier's Perspective. soldiersperspective.com.

Colby Buzzell: My War: Killing Time in Iraq. cbftw.blogspot.com.

Colby Buzzell (2005): My War. New York: Putnam.

Deirdre Collings and Rafal Rohozinski (2009): Bullets and Blogs – Media and the Warfighter. An analytical synthesis and workshop report. Carlisle Barracks: Center for Strategic Leadership, US Army War College.

Christopher Cooper: Army Blogger's Tales Attract Censor's Eyes. Wall Street Journal, 9.9.2004.

Cori Dauber (2006): Life in Wartime -: Real-Time News, Real-Time Critique, Fighting in the New Media Environment. In: Thomas W. Britt: Military Life: The Psychology of Serving in Peace and Combat. Westport, Conn.: Praeger Security International, S.180 ff.

Michael Gilbert: Stryker Brigade Slammed By Insurgents. New Tribune, 10.8.2004.

Sean Trevor Lawson (2008): Info@War.Mil – Nonlinear Science and the Emergence of Information Age Warfare in the United States Military. Dissertation. Troy, New York: Rensselaer Polytechnic Institute.

LT Smash: lt-smash.us. 03.11.2010; Zugang über web.archive.org.

Mudville Gazette. mudvillegazette.com.

Mudville Gazette: A Brief History of Milblogging. 11.11.2005.

Johanna Roering (2012): Krieg bloggen – Soldatische Kriegsberichterstattung in digitalen Medien. Bielefeld: transcript.

Sgt Stryker's Daily Briefing, www.sgtstryker.com, 21.09.2010.

The View From on the Ground. Kommentar, L.A. Times, 5.9.2004.

Thunder6: 365 and a Wakeup. thunder6.typepad.com.

Dr. Johanna Roering ist wissenschaftliche Angestellte am Fachbereich Neuphilologie; Abteilung für Amerikanistik, der Universität Tübingen. Sie arbeitet zudem als freie Journalistin.

Kriegsmedien – Medien im Krieg

Kriegsmedien – Medien im Krieg

Ernst Friedrich und seine Wirkung

von Jörg Becker

Immer wieder entbrennt in der Öffentlichkeit Streit über die Frage, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen, Krieg in den Medien unvermittelt dargestellt werden soll und darf. Der Streit ist nicht neu, sondern reicht neunzig Jahre zurück. Damals veröffentlichte Ernst Friedrich seinen Bildband »Krieg dem Kriege«, der nur schwer erträgliche Fotos von Opfern des Ersten Weltkriegs zeigt. Der Streit um den Abdruck solcher Bilder und ihre Wirkung setzt sich bis heute fort.

Ernst Friedrich war ein begnadeter Polemiker, ein Zyniker, ein außerordentlich geschickter Redner, der in einfacher Sprache seine vielen Zuhörer begeistern konnte. Was er ursprünglich von Beruf war? Für Ernst Friedrich wäre das eine falsche Frage gewesen. Er war Buchdrucker, Schauspieler, Reformpädagoge, Anarchist, Pazifist, Rezitator, Agitator, Journalist, Aktionskünstler, Antifaschist, Aktivist und Politiker, Künstler und schließlich aktives Mitglied in der fanzösischen Résistance – als radikaler Pazifist aber nur auf der Schreibstube, nicht bei der kämpfenden Truppe.

In der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen anarchistisch-pazifistischen Zeitung »Schwarze Fahne« schrieb Ernst Friedrich 1925: „Die im Massengrab aller Kontinente langsam verfaulenden, von Ratten und Würmern zerfressenen Millionen Opfer des Massenmörders Ludendorff und seiner internationalen Komplizen sind eine größere Anklage, als die 20 Opfer Haarmanns. Die vielen Blinden, Armlosen, Beinlosen, Gasvergifteten, vor Schmerz irrsinnig gewordenen, die nach Millionen zählenden Opfer des Massenmörders Ludendorff und seiner Konsorten werden dermaleinst wichtige Zeugen sein, wenn die großen Verbrecher an der Menschheit vor dem Antlitz des Lebens abgeurteilt werden.“ 1

Grausam entstellte Kriegstote und Kriegsverstümmelte – das ist Ernst Friedrichs anklagendes Thema, sowohl in seinem 1925 in Berlin gegründeten Anti-Kriegs-Museum als auch in seinem ein Jahr zuvor veröffentlichten zweiteiligen Bildband »Krieg dem Kriege«. Die französische Sprache kennt für die im Ersten Weltkrieg im Gesicht verletzten Soldaten mit halben Wangen, zerfetzten Nasen und Ohren oder durchschossenen Mündern den eigenen Begriff „gueules cassées“, kaputte Fressen.

Es drängen sich folgende Fragen an die Schockbilder von Ernst Friedrich auf:

1. In welches gesellschaftliche Umfeld müssen diese Fotos von 1924 eingeordnet werden?

2. Wie wirken solche Fotos?

3. Gibt es in den heutigen Medien auch noch solche Kriegsfotos?

Gesellschaftliches Umfeld

Die erste Frage nach dem gesellschaftlichen Umfeld dieser Fotos ist deswegen wichtig, weil sich die Bilder weniger mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen, sondern eher mit den zwanziger Jahren. Wichtig wurden die Bilderinnerungen an den Ersten Weltkrieg erst in den Jahren 1920 bis 1930, als es politisch darum ging, den Weltkrieg propagandistisch zu vereinnahmen. Die vielen Bildbände der Zwischenkriegszeit lieferten Fotos, die man für eine völkisch-nationale Dramatisierung des Krieges brauchte: anfängliche Kriegsbegeisterung, Einzelhelden und sakrale Landschaften wie Verdun, Ypern und Langemarck. Ausgeblendet wurde der Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung auf dem Balkan; es gab keine Flucht und Vertreibung, Niederbrennen von Dörfern, Massenhinrichtungen und Zwangsarbeit; und ausgeblendet blieben nacktes Elend und brutale Gewalt, vor allem natürlich der eigene Tod und die eigenen Kriegsverbrechen.

Ernst Friedrichs »Krieg dem Kriege!« war die direkte Gegenfolie zu diesen vielen propagandistischen Weltkriegsfotobänden aus den zwanziger Jahren. Sein Buch enthielt genau die Bildmotive, die in den anderen Büchern nicht vorkamen. Bei der Auswahl der Motive und den dazu gehörigen Texten handelt es sich eher um expressionistische Dichtung und Grafik als um Journalismus und Dokumentarfotografie. Der bisherigen, als dekadent und bürgerlich empfundenen Ästhetik stellte die expressionistische Literatur oft eine Ästhetik des Hässlichen gegenüber; ihre Themen waren Krieg, Großstadt, Angst, Rausch, Zerfall und Weltuntergang. In der expressionistischen Grafik stehen sowohl die Antikriegsbilder von Frans Masereel2 von 1915 als auch die von Otto Dix von 1920 in enger Nachbarschaft zu den anklagenden Fotos von Ernst Friedrich.

Es gibt meines Wissens in den zwanziger Jahren neben Ernst Friedrich nur einen einzigen weiteren Fotobildband, in dem ebenfalls nackte Gewalt, Entsetzen, Vernichtung, Zerstörung und Tod des Ersten Weltkrieges dargestellt werden. Es handelt sich hierbei um Franz Schauweckers in vielen Auflagen gedrucktes Buch »So war der Krieg«. Schreibt Ernst Friedrich „Und nicht ein einziger Mensch in irgendeinem Lande kann aufstehn und gegen diese Photos zeugen, dass sie unwahr sind und nicht der Wirklichkeit entsprechen“,3 so steht ihm Schauwecker mit dem Anspruch darauf, nichts als Wahrheit und Wirklichkeit zu zeigen, in nichts nach. Bei ihm „zeigen diese Aufnahmen das wahre Gesicht des Krieges, unentstellt, nicht beschönigt, und enthüllen in der unumstößlichen harten und aufrichtigen Sachlichkeit des Lichtbildes die düstere Tragödie des modernen Krieges“.4 Beide eint ihr naives Vertrauen in einen Fotorealismus. „So war der Krieg“, hält Schauwecker apodiktisch fest. So und nicht anders.

Der politisch-pädagogische Anspruch von Ernst Friedrich und Franz Schauwecker ist derselbe. Doch Friedrich und Schauwecker trennen Welten. Brüllt Friedrich seine Parole „Krieg dem Kriege!“ jedermann entgegen, so beginnt Schauwecker sein Vorwort mit folgenden Sätzen: „In diesem Werk geht es um den Krieg als solchen. […] In diesem durch das Blut geheiligten Erdreich ist unter Kämpfen von Stahl und Explosion und unter den rasenden Stürmen und Ausbrüchen donnernder Nationalismus geboren worden. […] Hier entstand jener Nationalismus, der, als er die schreckliche Größe jenes Schicksals aus Grab, Opfer und Vernichtung erlebte und begriff, aus seiner Kraft jenes Wunder erzeugte, das ihn erst zum deutschen Nationalismus machte. […] Dieses Werk zeigt fast in jedem seiner Bilder die Vernichtung, und zwar die Vernichtung einer vergangenen Welt. Aber auf solchermaßen umgepflügten Feldern allein kann das Neue wachsen.“ 5

Gab Schauwecker einem seiner grausamsten Fotos mit vielen Kriegstoten den Untertitel »Der Maschinentod: Russische Sturmkolonnen«, so vermeidet Friedrich bei seinen Fotos strikt jeglichen Hinweis auf eine Nationalität. Wichtiger noch: Seine Untertitel sind essentieller Bestandteil seiner pazifistischen Botschaft, oft sind sie entlarvend und ironisch. Mit Recht kann die Philosophin Susan Sontag in ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten« über Ernst Friedrich festhalten: „[Er] machte nicht den Fehler zu glauben, Bilder, bei denen sich dem Betrachter der Magen umdreht, würden für sich selbst sprechen. Jedes Foto ist mit einer leidenschaftlichen Bildunterschrift […] versehen, und die Niedertracht der militaristischen Ideologie wird auf jeder Seite bloßgestellt und verhöhnt.“ 6

Wirkung der Fotos

Die zweite, die Frage nach der Wirkung solcher Fotos, hängt eigentlich mit den eben schon entwickelten Gedanken und Argumenten zusammen. Ja – eine abschreckende und pazifistische Rezeption und Wirkung solcher Fotos ist dann gegeben, wenn es ein dazu passendes politisches Umfeld gibt. Und genau dies ist auch der Lernprozess, den Susan Sontag zwischen ihrem Aufsatz »Über Fotografie« von 1977 und ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten« von 2003 durchlief. Verbunden mit einem gut dazu passenden Narrativ können Kriegsfotos den Rezipienten aufrütteln und ihn zum Handeln auffordern, dem furchtbaren Kriegstun ein Ende zu setzen.

Darstellung des Krieges in den heutigen Medien

Auf die dritte Frage, ob es solche Schockfotos auch noch in den heutigen Medien gebe, ist mit mehreren Teilantworten zu reagieren.

Bedenkt man, dass Särge gefallener US-Soldaten erst seit 2009, seit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama, in US-Medien gezeigt werden dürfen, dann wird die Ungeheuerlichkeit der Tabuverletzung von 1924 deutlich. Friedrichs Bilder waren also ein radikaler Tabubruch und bewirkten einen Skandal! Sie brechen mehrere Tabus, denn Leiden, Tod und eigene tote Soldaten sind Tabuthemen. Sie sind es vor allem auch deswegen, weil Friedrich die so genannten »gueules cassées« zeigt, zerschlagene Fressen, also Menschengesichter ohne Nase, Gesichter ohne Augen oder Menschen ohne Arme. Solche Bilder gab es vor Friedrich nicht, auch nicht in Francisco de Goyas Bilderzyklus »Desastres de la guerra« (1810/14). Friedrichs Bilder zeigen die Hölle schlimmer als in Dantes Inferno. Mit Recht kann der Historiker Gerd Krumeich diese Bilder wie folgt kommentieren: „Die gueules cassées sind das letztgültige Symbol des Ersten Weltkriegs, in dem die neuen Sprenggranaten mit ihren Splittern […] zur Hauptquelle der Verwundungen wurden.“ 7

Solche Bilder sind auch heute noch ein Tabubruch, sie gehören trotz aller zunehmenden Brutalisierung der Massenmedien keineswegs zum Medienalltag. Das zeigen zwei Abbildungen von 1992 und 2006, denn beide Bilder kommen nicht aus den Mainstream-Medien. Die eine Abbildung wurde der Broschüre eines studentischen Kollektivs in Paris entnommen und protestiert gegen Tod und Terror im zweiten Golfkrieg.8 Die andere Abbildung des afghanischen Schriftstellers Mohammad Daud Miraki stammt aus seinem im Eigenverlag herausgegebenen Buch eines Verzweifelten angesichts des unmenschlichen Leidens in Afghanistan.

Gerade auf dieses Buch von 2006 soll hier kurz verwiesen werden, denn ein Vergleich mit Ernst Friedrichs 82 Jahre vorher erschienenem Buch drängt sich auf. Bereits Titel und Untertitel von Mirakis Buch verraten sein pädagogisch-politisches Anliegen: »Afghanistan. After 'Democracy'. The Untold Story Through Photographic Images«.9 Seine Fotos sollen also die von den westlichen Medien nicht erzählte Geschichte des afghanischen Krieges erzählen, sollen – wie es im Vorwort heißt, und so könnte es auch bei Friedrich stehen – „Wahrheit“ und ein „wahres Bild“ aufzeigen. Um diesem Anspruch Genüge zu tun, enthält Mirakis Bildband realistische Fotos aus der gegenwärtigen afghanischen Alltagsmisere, ergänzt durch ein spezielles Kapitel mit Fotos von verunstalteten Babys als Folge des Abwurfs uranangereicherter US-Bomben.

Auch gegenwärtig sollen Kriegs-Schock-Fotos zu Aktion und Parteinahme einladen. Der französische Journalist Jonathan Littell hielt sich Anfang 2012 einige Wochen bei syrischen Rebellen auf, und in seinem veröffentlichten Tagebuch finden wir die folgenden Einträge zu Videos, die die Rebellen ins Netz stellen: „Vor drei Tagen wurde ihnen eine Leiche übergeben, mit Folterspuren überall, von Elektroschocks etc. Vermutlich wurde er im Militärkrankenhaus getötet. Der Fall ist dokumentiert, die Leiche wurde auf Aljazeera gezeigt. […] Bilal zeigt mir wieder etwas auf seinem Handy. Ein Mann, dessen ganzer Bauch offen ist, Lunge und Gedärme hängen heraus, die Ärzte versuchen sie wieder hineinzustopfen. All diese Handys sind Museen des Horrors. […] Dieses Internetcafé ist der Unterschlupf aller Aktivisten von Khaldije, die hier auf YouTube und in den sozialen Netzwerken die Arbeit ihres Tages posten, Filme von Demonstranten oder Gräueltaten.“ 10

Diese Bildbotschaften syrischer Rebellen erfüllen zwei Funktionen: Zum einen zeigen sie den saudischen Stiftungen, von denen sie Geld und Waffen erhalten, wie erfolgreich sie kämpfen und dass es sinnvoll ist, ihnen weiter Geld und Waffen zu liefern. Zum anderen wenden sich diese Bilder an westliche Medien und Politiker, um westliche Kriegsmächte zu einer militärischen Intervention gegen die Regierung Assad aufzufordern. Es ist genau dieses Phänomen einer Mediendoppelung oder das einer dynamischen Medienspirale zwischen TV und Handys, wie es inzwischen bei der Kriegsberichterstattung im Nahen Osten angesichts von Internet, Handys und YouTube üblich geworden ist.

Und auch Bilder wie die von Abu Ghraib 2004 sind Teil dieser visuellen Kriegsführung, die dem Gesetz einer sich stetig vergrößernden und sich beschleunigenden Rüstungsspirale unterliegt: Haust Du meinem Journalisten vor laufender Kamera öffentlich den Kopf ab, dann wird sich die Zahl meiner Drohnenangriffe auf Deine Leute verdoppeln! Und wenn die Zahl Deiner Luftangriffe steigt, dann werden wir auf YouTube gerne die Bilder des toten US-amerikanischen Botschafters Stevens aus Libyen von 2012 zeigen oder noch »schöner«, dann zeigen wir den Leichnam eines US-amerikanischen Soldaten, wie er im Oktober 1993 mit einem Seil durch die Straßen von Somalias Hauptstadt Mogadischu gezogen wurde. Eine solche Spirale kennt kein Ende!

Möglicherweise war es der große, geniale Bertolt Brecht, der mit seiner »Kriegsfibel« alle hier besprochenen Probleme schon in den fünfziger Jahren am besten reflektiert und gestaltet hat. 1955 veröffentlicht, enthält dies großformatige Buch auf seinen linken Seiten kurze Fotolegenden und auf seinen rechten die 85 dazugehörigen schwarzweißen Pressefotos, die Brecht jeweils mit einem Vierzeiler kommentierte. Fotoepigramme hatte er diese Vierzeiler genannt. Brechts Fotos stammten aus den Illustrierten seiner Zeit, und mit seinen dazugehörigen bissigen, ironischen und frechen Epigrammen dekodierte und verwandelte er deren affirmative Aussagen in ihr kritisches Gegenteil. Brechts Fotos zeigen Zivilisten, Soldaten, Opfer, Politiker, Landschaften und Städte, die mit verschiedenen Schauplätzen des Zweiten Weltkrieges einhergehen. Auch Brecht scheute keineswegs vor Schockfotos zurück. Da gibt es die Großaufnahme des verbrannten Schädels eines japanischen Soldaten, der von US-Truppen auf einen ausgebrannten japanischen Tank gespießt wurde, oder viele Fotografien von und mit erblindeten Soldaten.

So kontrastierte er z. B. das 56. Foto mit der Legende »Erblindeter deutscher Soldat im Moskauer Lazarett« mit folgendem Vierzeiler: „Vor Moskau, Mensch, gabst du dein Augenlicht / O blinder Mensch, jetzt wirst du es verstehn. Der Irreführer kriegte Moskau nicht. / Hätt er's gekriegt, hättst du es nicht gesehn.“ 11 Blind ist hier metaphorisch zu verstehen: blind für eine politische Analyse, blind in den Krieg gestolpert. Die Idee, Kriegsbrutalität auf Fotos zu zeigen, um sie, angereichert mit nur spärlichen Zeilen, pädagogisch gegen sich selbst zu wenden, verbindet Ernst Friedrich mit Bertolt Brecht. Was Brecht freilich von Friedrich unterscheidet, ist seine tiefe, man möchte sagen ideologiekritische, Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Illustriertenfotos.

Es waren die beiden in London lebenden Künstler Adam Broomberg und Oliver Chanarin, die sich 2011 in Brechts Kriegsfibel „hinein wohnten“, sie „kidnappten“, sie wie „Parasiten“ in Beschlag nahmen und seine „Bilder mit ihren Bildern“ ersetzten. Heraus kam eine eindrückliche Wort- und Bildmontage von Kriegsfotos nach 9/11, teils Brecht, teils aktualisiert.12 Auch hier 85 Bilder über menschliches Kriegsleiden, auch hier 85 dazu montierte Texte. Am eindrücklichsten ist hier möglicherweise die Wiederholung von Brechts 44. Bild, also das mit dem verbrannten Schädel eines japanischen Soldaten. Bei Broomberg/Chanarin taucht dieses Motiv als 53. Bild auf – diesmal zeigt es ein Foto der BILD-Zeitung von 2011 mit einem Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, der dem Betrachter triumphierend einen Totenkopf entgegenhält.

Ein jüngster Versuch in der Nachfolge von Ernst Friedrichs »Krieg dem Kriege« von 1924 ist das Buch »War Porn« – also Kriegspornographie – des jungen, erst 1978 geborenen Fotografen Christoph Bangert, das 2014 erschien. Neunzig Jahre nach Friedrich teilen die zuvor nie veröffentlichten Fotos mit Krüppeln, Toten, Gefolterten, Ermordeten und Erschossenen aus den Kriegen der letzten Jahre das gleiche Anliegen wie Friedrich – vielleicht ein wenig intellektueller gewendet: „Ich habe das Gefühl, ich müsse solche Bilder veröffentlichen. […] Im Gegensatz zu den ultrabrutalen Hollywoodfilmen, die wir uns so einfach reinziehen, und zu grauenhaften Videogames, sind diese Bilder nicht-fiktional. Sie sind Dokumente und interpretieren reale Ereignisse. Wie kann solch eine Arbeit bedeutungslos oder belanglos sein? Wie können wir die ausschließliche Abbildung – ein Bild – eines schrecklichen Ereignisses ablehnen, während andere Menschen gezwungen sind, dieses schreckliche Ereignis zu erleben?“ 13

Nach wie vor gültig

Der brutale Krieg der deutschen Wehrmacht in Osteuropa und Auschwitz, beide sind uns allen Teil einer gemeinsamen Staatsräson, die Deutschland Krieg als Mittel der Politik verbietet. Dementsprechend verbietet das Grundgesetz den Angriffskrieg und beschränkt den Einsatz der Bundeswehr auf den Verteidigungsfall. Die beiden Bundespräsidenten Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker wussten um diesen deutschen Schuld-Zusammenhang.

In seiner zu Recht berühmten Rede vom 8. Mai 1985 führte Richard von Weizsäcker aus: „[Wir nutzen] das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten. […] Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden mussten, werden wir besser verstehen, dass der Ausgleich, die Entspannung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgaben der deutschen Außenpolitik bleiben.“ Und weiter sagte er: „Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und gute Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur Gefahr für den Frieden werden lassen.“ 14

Gemessen an diesem Selbstverständnis markiert die Rede von Präsident Joachim Gauck vom Januar 2014 einen präsidialen Tabubruch.15 Führte die Rede des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler mit ihrem Hinweis darauf, dass angesichts von Deutschlands Außenhandelsabhängigkeit „im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist“,16 noch zu einem öffentlichen Skandal und 2010 schließlich zu dessen Rücktritt, so läuft die sonst aufgeregte Medienmaschinerie heute bei demselben Gedanken bereits in eine gähnende Leere. Gauck formulierte auf der Münchener Sicherheitskonferenz eine völlig neue Staatsräson, wenn er „Deutschlands historische Schuld“ dahin gehend definiert, dass es kein „fragwürdiges Recht auf Wegsehen“ geben und dass man „Schuld“ nicht mit „Zurückhaltung“ und mit „Selbstprivilegierung“ gleichsetzen könne. Nur kurze Zeit darauf legte Gauck in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur nach, nun noch viel deutlicher im Ton: „Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.“ 17

„Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“ Der, der das sagt, ist nicht irgendwer, sondern Mephistopheles in seiner Rolle als Unternehmensberater des Kolonialisten Faust in Goethes »Faust II« (5. Akt, Palastszene). Und dieser Teufel meint seinen Zweizeiler nicht nüchtern beschreibend, sondern zustimmend auffordernd, sagt er doch kurz zuvor: „Man hat Gewalt, so hat man Recht / Man fragt ums Was, und nicht ums Wie.“

Ernst Friedrichs Auftrag und Aufforderung „Krieg dem Kriege!“ gelten immer noch.

Anmerkungen

1) Ernst Friedrich: Haarmann und Ludendorff. Die Schwarze Fahne Nr. 1/1925, S.2.

2) Siehe Bebilderung in W&F 1-2011.

3) Ernst Friedrich (1924): Krieg dem Kriege! Band I,. 8.-10. Aufl. 1926. Berlin: Freie Jugend – Internationales Anti-Kriegsmuseum, S.6.

4) Franz Schauwecker (1927): So war der Krieg. 200 Kampfaufnahmen aus der Front. 2. Aufl. Berlin: Frundsberg, S.3.

5) Ibid., S.3, 5 und 8.

6) Susan Sontag (2003): Das Leiden anderer betrachten. München: Hanser, S.22.

7) Gerd Krumeich (2004): Vorwort zur Wiederveröffentlichung. In: Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege. München: dva, S. XIII.

8) Olivier André (ed.) (2003): Numéro spécial. Des photos contre la guerre. Paris: Publia.

9) Mohammed Daud Miraki (2006): Afghanistan – After »Democracy«. The Untold Story Through Photographic Images. Chicago: Selbstverlag.

10) Jonathan Littell (2012): Notizen aus Homs. 16. Januar-2. Februar 2012. Berlin: Hanser, S.74, 128 und 132.

11) Bertholt Brecht (1994): Kriegsfibel. Berlin: Eulenspiegel, 5. Aufl.. Eine sehr gute Einführung in Brechts »Kriegsfibel« bringt Hjördis Hornung: Die Kriegsfibel von Bertolt Brecht – Quelle und Medium historischen Lernens. Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik Nr. 14/2011, S.1-8.

12) Adam Broomberg and Oliver Chanarin (2011): War Primer 2. London: MACK Editions. Dieses Buch wurde in einem Seidensiebdruckverfahren in nur 100 Exemplaren auf der Grundlage einer Edition der Brechtschen Kriegsfibel von 1998 im Libris-Verlag in London hergestellt. Die digitale Version von »War Primer 2« enthält zusätzlich zu den 85 Bildcollagen Essays über die Kriegsfibel und das Kunstwerk dieser beiden Künstler; mappeditions.com/publications/war-primer-2.

13) Christoph Bangert (2014): War Porn. Heidelberg und Berlin: Kehrer Verlag, 2. Aufl., unpag. S.5 [Originalzitat in Englisch, Übersetzung von Jörg Becker]. Zu diesem Buch siehe auch Felix Koltermanns Artikel »Bilderkrieger im ›War Porn‹?« in dieser Ausgabe von W&F.

14) Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa. 8.5.1985; bundespraesident.de.

15) Bundespräsident Joachim Gauck: Deutschlands Rolle in der Welt – Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Rede zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 31.1.2014; bundespaesident.de.

16) „Sie leisten wirklich Großartiges unter schwierigsten Bedingungen“. Bundespräsident Köhler nach seinem Besuch in Afghanistan – Horst Köhler im Gespräch mit Christopher Ricke. 22.5.2010, deutschlandfunk.de.

17) Gauck: „Auch zu Waffen greifen“. Joachim Gauck im Gespräch mit Hans-Joachim Wiese. 16.4.2014, deutschlandfunk.de.

Prof. Jörg Becker ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität Marburg; sein Arbeitsschwerpunkt ist die internationale Medienpolitik. Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Vortrags, den der Autor anlässlich der Eröffnung einer Ernst-Friederich-Ausstellung im Kunstmuseum Solingen am 27. März 2014 hielt. Die ungekürzte Langfassung erscheint Anfang 2015 im 25. Else-Lasker-Schüler-Almanach unter dem Titel »Der blaue Reiter ist gefallen« im Peter Hammer Verlag, Wuppertal. Wir danken der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft für die Erlaubnis, den gekürzten Essay hier vorab abdrucken zu dürfen. Die Forschungsarbeiten für diesen Essay über Ernst Friedrich wurden vom Solidaritätsfonds der Hans Böckler-Stiftung und der Bertha von Suttner-Stiftung, beide Düsseldorf, unterstützt.