In Charlies Namen?

In Charlies Namen?

von Jürgen Nieth

„Es ist ein fast zu schönes Bild für die Geschichtsbücher. 44 Staats- und Regierungschefs marschierten am Sonntag untergehakt durch Paris und demonstrierten gegen den Terror […] »Je suis Charlie«: Diese drei Wörter sollen künftig für die Werte Mut, Freiheit und Toleranz stehen. Doch hält diese Einheit über den Tag hinaus?“, fragt Thomas Siegmund im Handelsblatt (13.01.15).

Alle wollen Charlie sein

Weit über eine Million Menschen waren nach dem mörderischen Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 11. Januar in Paris auf der Straße, von über drei Millionen in ganz Frankreich wird gesprochen. „Christen, Muslime, Juden und Atheisten, Radikalliberale und extrem Konservative. Und sicher auch Rechtsextreme, auch wenn die keiner eingeladen hat. Also alle. So viele jedenfalls, dass man schon wieder skeptisch werden muss. Die wollen tatsächlich alle Charlie sein?“, fragt Gereon Asmuth in der taz (12.01.15). In derselben Zeitung formulierte bereits am 10.01. Cas Mudde sein Erstaunen darüber „wie viele islamophobe und rechtsextreme Leute jetzt ihre Liebe zu einem Magazin erklären, das sie vor kurzem noch für ein kommunistisches Drecksblatt hielten“. (Zwei der ermordeten Karikaturisten zeichneten auch für die Humanité, die Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreich; J.N.)

Skepsis auch bei Tobias Riegel: „Die versammelte Spiegel-Gruppe ist angeblich »Charlie«, Google trägt Trauerflor, die »FAZ« schwafelt vom »Heldentod«, die Pariser Menge applaudiert den Scharfschützen, der Anti-Terrorspezialist Petro Poroschenko wird ebenso untergehakt wie der Pressefreiheitskämpfer Viktor Orban […] Der Marsch von Paris war ein großartiges Symbol – doch wofür eigentlich? Dafür, dass wir den Muslimen nun erst recht auf die Mütze geben sollen? Für die Pressefreiheit? Angeführt von »Bild« und anderen Verrätern der Pressefreiheit […]?“ (ND 17.01.15)

Sicherheit vor Freiheit?

Riegel befürchtet: „»Europa rückt zusammen« – und definiert seine Werte neu: in Form von strengeren »Terror«-Gesetzen.“

Thomas Siegmund (Handelsblatt, s.o.) scheint Letzteres ähnlich zu sehen: „Mit einer beispiellosen Aufrüstung im Inneren will Frankreich weitere Anschläge verhindern. 10.000 Soldaten wurden bereits abkommandiert um landesweit Verkehrsknotenpunkte, touristische Attraktionen und zentrale Gebäude zu sichern. Eine drakonische Verschärfung der Sicherheitsgesetze ist in vollem Gange. Das alles erinnert an die Zeit kurz nach dem Anschlag des 11. September 2001.“

Gilt das auch für Deutschland? Dazu Christian Wernicke: „Schon raunt es aus den Geheimdiensten, man brauche das Drei- bis Vierfache an Personal, um all die potenziellen Gotteskrieger und »inneren Feinde« im Land rund um die Uhr zu erfassen, abzuhören und zu beschatten.“ (SZ, 12.01.15) Eine Position, die Alan Posener offensiv vertritt: „Polizei und Verfassungsschutz, BKA und BND [brauchen] mehr Mittel und Personal.“ Für Posener sind die Morde von Paris ein Beweis dafür, „wie weltfremd die Proteste gegen die Überwachungspraxis der amerikanischen und britischen Geheimdienste – und deren Zusammenarbeit mit dem BND – teilweise waren“. Einen Generalverdacht gegen Muslime könne man aber nicht gebrauchen. „Auch bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit sollte man vorsichtig sein: Niemand kann gezwungen werden, den westlichen Lebensstil zu lieben.“ (Die Welt, 10.01.15)

Die Gegenposition bei Heribert Prantl: Für die CSU ist der Anschlag „Anlass, die Vorratsdatenspeicherung, die das Bundesverfassungsgericht vor vier Jahren verwarf, als ‚dringender denn je’ zu bezeichnen […] In Frankreich gibt es die Vorratsdatenspeicherung, verhindert hat sie gar nichts. Neue Befugnisse für die Sicherheitsbehörden und eine Verschärfung des Strafgesetzbuchs fordert die CSU auch. Mit solch ewigem Mehr und Nochmehr landet man letztlich bei Forderungen nach extralegalen Maßnahmen und der Todesstrafe, wie sie in Frankreich schon laut werden.“ (SZ, 10.01.15)

Auch Arno Widmann warnt: „Wir brauchen keine schärferen Gesetze, wir müssen nur darauf achten, dass die bestehenden eingehalten werden. Gegen Verstöße müssen wir vorgehen. Streng nach dem Gleichheitsgrundsatz. Die Gesetze gelten nicht nur für die Bürger, sie gelten auch für die Staatsorgane. Den paranoiden Neigungen der Regierenden dürfen wir nicht nachgeben. Verhängnisvoll wäre, wenn die beiden Paranoiker – Attentäter und Staat – einander hochschaukeln.“ (BZ 10.01.15)

Brauchen wir Satire?

Dazu Hartwig Isernhagen in der NZZ (10.01.15): „Satire ist […] eine eminent zivilisierende Gattung der Literatur […] Die Versuchung ist groß, […] alle nur möglichen Gründe zu ihrer Einschränkung gelten zu lassen. Die pauschal-relativistische Rede, man müsse überall und jedem mit Respekt begegnen, geht in diese Richtung und würde, befolgte man sie, sicherlich zu einer Art medialer Friedhofsruhe führen. Aber solcher Frieden wäre ein Scheinfrieden. Die Konflikte, die die Satire artikuliert, gehen nicht weg, nur weil man nicht mehr drüber spricht.“

Lassen wir deshalb zum Schluss einen Satiriker zu Wort kommen. Der ehemalige Chefredakteur der Titanic, Oliver Schmitt, im Feuilleton der FAZ (19.01.15): „Da demonstrieren in Paris die Führer der Welt, säuberlich vom Volk separiert, in einer abgeschotteten Seitenstraße für Friede, Freude, Eierkuchen und die Freiheit der Presse, während einige dieser Spaßvögel in ihren Heimatländern Journalisten auspeitschen, foltern und wegsperren lassen. Da steht Angela Merkel vor dem Brandenburger Tor und demonstriert für die Pressefreiheit, während ihr schon der leibhaftige Schalk Seehofer im Nacken sitzt und höhere Strafen für Blasphemie fordert. Wenn das keine Schenkelklopfer sind! Und dass der Pegida-Erfinder Lutz Bachmann, der sich sofort mit »Charlie Hebdo« solidarisierte und in Strafsachen bestens bewandert ist (Körperverletzung, Einbruch, Diebstahl), dass dieser Demokrat mitteilte, er wolle die »Titanic« wegen eines ihm in den Mund gelegten Kommentars verklagen (‚Mit Satire hat das nix mehr zu tun’) – das alles ist doch absolut wunderbar! So etwas könnte sich ein Satiriker niemals ausdenken.“

Zitierte Zeitungen: Berliner Zeitung/BZ, Die Welt, Handelsblatt, Frankfurter Allgemeine/FAZ, Neue Zürcher Zeitung/NZZ, Neues Deutschland/ND, Süddeutsche Zeitung/SZ, tageszeitung/taz.

Jürgen Nieth

Halbwahrheiten und Doppelstandards

Halbwahrheiten und Doppelstandards

Medien im Ukraine-Konflikt

von David Goeßmann

„Medien sind mächtiger als Bomben“, sagt die Alternative Nobelpreisträgerin Amy Goodman. Massenmedien können durch Halbwahrheiten, Doppelstandards und Schweigen die eskalierende Rolle der eigenen Regierungen und ihrer Verbündeten bei Konflikten kaschieren, relativieren oder rechtfertigen und deren Gegner zum »Paria der Weltgemeinschaft« ernennen. David Goeßmann geht in diesem Beitrag der Berichterstattung der Medien in Deutschland und den USA über den Ukrainekonflikt nach. Der Text ist mit freundlicher Genehmigung des Selbrund-Verlages dem Buch »Ukraine im Visier« entnommen, wird hier aus Platzgründen allerdings gekürzt und ohne Fußnoten mit den Quellenhinweisen abgedruckt.

Vor über hundert Jahren zwangen die USA, die Kuba damals militärisch besetzt und eine US-freundliche Regierung installiert hatten, Kuba einen Pachtvertrag auf, der Washington die Nutzung von Guantánamo erlaubte. Seit der Unabhängigkeit Kubas in den späten 1950er Jahren hat die kubanische Regierung den Vertrag immer wieder für ungültig erklärt und die USA aufgefordert, Guantánamo zu verlassen. Zwar haben Verträge unter militärischem Zwang und Besatzung per se keine Gültigkeit, doch alle US-Regierungen haben sich darüber hinweggesetzt. Präsident Georg W. Bush und Barack Obama betreiben seit 2002 zudem auf dem kubanischen Territorium ein Folter-Gefängnis für »feindliche Kämpfer«. […]

[Solche] Aneignungen von Territorien, ob nun Krim oder Guantánamo, sind widerrechtliche und kriminelle Akte. Der Anschluss der Krim an Russland verstößt gegen die UN-Charta und diverse Verträge, daran ändert auch ein Referendum nichts. Die Vereinnahmung Guantánamos wird andererseits nicht durch einen Pachtvertrag legitimiert, der unter militärischer Okkupation aufgezwungen wurde.

Geteilte Empörung: das Spiel mit „roten Linien“

Doch während die Angliederung der Krim-Halbinsel an Russland eine Empörungswelle in den USA, Europa und den westlichen Medien auslöste, ist die Aneignung Guantánamos durch die USA der Presse bis heute so gut wie keine Zeile wert. […] Bei einer Pressedatenabfrage von rund 160 überregionalen und regionalen Print- und Onlinemedien in Deutschland findet sich nur ein Artikel im Wirtschaftsmagazin »Focus Money«, der im Zuge des Krim-Anschlusses an Russland auf den moralischen Doppelstandard des Westens und die völkerrechtlich „nicht ganz saubere“ Guantánamo-Nutzung hinweist. Chefredakteur Frank Pöpsel fragte ironisch in der Schlagzeile: „Warum pachtet Putin nicht die Krim?“

US-Kritiker Noam Chomsky hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Vergleich Guantánamo/Krim eher schmeichelhaft für die US-Besatzung ausfalle. Denn anders als bei der Krim hätten die USA keinerlei Anspruch auf Guantánamo. Die Krim ist historisch russisch geprägt. Sie bietet Russland zudem den wichtigsten Zugang zu einem eisfreien Hafen. Sewastopol hat eine wichtige militärstrategische Bedeutung für Moskau. Dort ist die Schwarzmeer-Flotte Russlands stationiert. Über die Angliederung der Krim an Russland fand zudem ein Referendum statt. Keinen dieser Ansprüche könne die USA im Fall Guantánamos geltend machen, so Chomsky.

[…] Die Wirtschaftswoche kommentierte am 2. März 2014 nach der Krim-Sezession: „Putin hat eine rote Linie überschritten“. Der tschechische Präsident Zeman wird einen Monat später von der ZEIT bis zur Welt mit seiner Drohung gen Moskau zitiert. Sollte Russland in den Osten der Ukraine marschieren, so Zeman, sei eine „rote Linie“ überschritten. Dann müssten NATO-Soldaten in die Ukraine geschickt werden. Deutsche und US-amerikanische Journalisten werden seit Beginn der Krise nicht müde, Obama und die EU aufzufordern, endlich gegenüber Russland eine rote Linie zu ziehen. Sie mahnen härtere Sanktionen oder gar Militärinterventionen an. „Auf der Krim überschreitet Moskau die rote Linie des Westens, um die Ordnung nach dem Kalten Krieg in Frage zu stellen“, schreibt DIE ZEIT am 14. März 2014. Im Boston Globe bringt Kolumnist Thanassis Cambanis den Sachverhalt auf den Punkt: „[Präsident Wladimir] Putins Annexion der Krim ist ein Bruch der Ordnung, auf die sich Amerika und seine Verbündeten seit dem Ende des Kalten Krieges stützen – nämlich eine, in der Großmächte nur dann militärisch intervenieren, wenn der internaionale Konsens auf ihrer Seite ist oder, ist dies nicht der Fall, wenn sie keine roten Linien eines Gegners überschreiten.“ […]

Die Halbwahrheiten der real existierenden Tagesschau, taz & Co.

[D]ie mediale Behandlung des Ukraine-Konfliktes [fügt sich] in das ideologische Muster ein, in dem nicht jedes widerrechtliche Ereignis und nicht jede Verletzung territorialer Souveränität und Integrität »rote Linien«und »Krisen« erzeugt und einen neuen kalten Krieg in Gang setzt. Doch in einem Punkt stellt die Ukraine durchaus einen Sonderfall dar. Zum ersten Mal gab es eine breite Kritik an der Parteinahme in der medialen Darstellung, eine Kritik, die über Friedensgruppen und medienkritische Plattformen hinausging. In vielen tausenden Kommentaren üben Leser und User immer wieder zum Teil scharfe Kritik an der Einseitigkeit der Berichterstattung. Sie bemängeln, dass Russland in deutschsprachigen Medien dämonisiert werde, Putins „Griff nach der Ukraine“ und sein angeblicher Expansionsdrang Subtext vieler Schlagzeilen und Artikel sei. Sie vermissen kritische Stimmen zum Vorgehen der ukrainischen Übergangsregierung in der Ostukraine, eine angemessene Darstellung der rechten bzw. faschistischen Kräfte innerhalb der Maidan-Bewegung bzw. Kiewer Regierung und Analysen zur eskalierenden Rolle des Westens sowie zu den ökonomischen und militärischen Interessen von USA und EU. Eine vergleichbare Welle an Kritik hatte es in dieser Form bisher nicht gegeben. „Wir haben uns natürlich bemüht, ausgewogen zu berichten“, verteidigt taz-Chefredakteurin Ines Pohl im Deutschlandfunk-Interview die eigene Berichterstattung. Hinter den kritischen Kommentaren sieht Pohl jedoch, wie viele ihrer Kollegen, von Moskau bezahlte Trolle am Werk. Belege für diese Anschuldigungen werden nicht vorgelegt. Die taz, die sich über weite Strecken weigerte, den Konflikt mit journalistischer Distanz darzustellen und Russland als neue Bedrohung präsentierte, büßte im Laufe von 2014 laut der AG Medienanalyse 20 Prozent ihrer Reichweite ein. Statt 300.000 Leser pro Ausgabe sind es jetzt nur noch 240.000. Andere meinungsbildende Zeitungen wie die FAZ, SZ oder der Spiegel verloren ebenfalls drastisch an Leserschaft.

Auch innerhalb des ideologischen Rahmens wichen die deutschen und die US-Medien bei der Darstellung des Konfliktverlaufes nicht von der Linie der US-Administration und der NATO-Staaten ab. Auslöser des Konfliktes war demnach der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, der das EU-Assoziierungsabkommen ablehnte, gelockt von russischen »Milliardengeschenken«, worauf die ukrainischen Bürger aus Protest gegen die Regierung auf die Straße gingen. Der Maidan wurde zum Symbol des Widerstandes gegen ein autokratisches und korruptes System, eine Art »ukrainischer Frühling« gegen einen »ukrainischen Mubarak«. Janukowitsch unterdrückte den Aufstand gewaltsam. Doch die Maidan-Bewegung konnte sich letztlich erfolgreich durchsetzen und eine neue Übergangsregierung mit Arsenij Jazenjuk an der Spitze des Parlamentes einsetzen, die von den USA und europäischen Staaten sofort anerkannt wurde und nun für Stabilität und demokratische Verhältnisse steht. Der neue Präsident Petro Poroschenko unterzeichnete schließlich das EU-Assoziierungsabkommen, das als „historisch“ bezeichnet wurde. Gegen die europafreundliche Bewegung in Kiew positionierte sich der russische Präsident Putin aggressiv, annektierte die Krim und unterstützte die aufständische Separationsbewegung in der Ostukraine, um wieder Kontrolle über die Region zu erhalten – so die Lesart. Um gegen die destabilisierende Einmischung Russlands vorzugehen, verhängten die USA und die EU Sanktionen, die nach dem Absturz des malaysischen Passagierflugzeuges MH17 noch ausgeweitet wurden. USA und EU fordern nun die Umsetzung des Poroschenko-»Friedensplanes«, um den Konflikt zu deeskalieren, doch Putin und die Separatisten blockieren den Frieden.

Es wäre die Aufgabe der Medien gewesen, diese offizielle Erzählung und Darstellung der Ereignisse zu überprüfen, relevante Informationen und Hintergründe zu liefern und den Konflikt mit seinen diversen Akteuren fair darzustellen. „Insgesamt geben wir ein realistisches Bild dieser sehr diffusen Lage ab, immer wissend, dass jede Partei ein Interesse daran hat, ihre Seite, ihre Sichtweise besonders bevorzugt darzustellen“, weist der Redaktionsleiter von tagesschau.de, Andreas Hummelmeier, den Vorwurf einseitiger Berichterstattung zurück. Doch das »realistische Bild«, das Tagesschau, Süddeutsche Zeitung oder Spiegel skizzierten, war und ist, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Die halbe Wahrheit ist aber nun einmal nicht die Wahrheit, so wenig ein Sportreporter, der nur von den Toren seiner Lieblingsmannschaft berichtet, ein Ereignis wahrheitsgemäß wiedergibt.

Es gab zum Beispiel gute Gründe, warum der ukrainische Präsident Janukowitsch das EU-Assoziierungsabkommen ablehnte. Die EU stellte der ukrainischen Regierung ein Ultimatum, verlangte von ihr eine Entscheidung. Ein Abkommen mit der EU gäbe es nur ohne Zollunion mit Russland. Die daraus resultierende Schwächung der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland hätte weitreichende negative Folgen für die Ukraine gehabt. Russland ist der wichtigste Handelspartner der Ukraine, beide sind ökonomisch eng miteinander verbunden. Die »militärische Kooperation«, wie sie das EU-Abkommen vorsah, war zudem ein unmissverständliches Signal Richtung NATO-Beitritt, was von Moskau nicht akzeptiert werden konnte. Gleichzeitig ließen die Medien weitestgehend unberücksichtigt, dass die Ukraine aus mindestens „zwei Ukrainen“ besteht, wie der US-amerikanische Russland-Experte Stephen Cohen, Professor emeritus für Russland-Studien und Politik an der New York University und Princeton University, immer wieder betonte. „Eine neigt Richtung Polen und Litauen, dem Westen, der Europäischen Union; die andere Richtung Russland. Das ist nicht meine Meinung. Seit die Krise sich entfaltete, zeigen alle Meinungsumfragen, dass etwa 40 Prozent der Ukrainer zum Westen gehören wollen, 40 Prozent wollen mit Russland verbunden bleiben und, wie meist bei solchen Umfragen, sind 20 Prozent nicht entschieden oder sicher.“

Die Haltung gegenüber dem EU-Assoziierungsabkommen war in der ukrainischen Bevölkerung daher gespalten, wie Umfragen zeigten. Die eine Hälfte wollte es, die andere nicht. Doch die Medienberichte konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Befürworter einer EU-Annäherung, die dann als Haltung »der Ukrainer« gekennzeichnet wurden. Es ist daher zumindest irreführend, Janukowitschs Ablehnung als Auslöser der Krise zu bezeichnen, wie es die Medien taten, ohne zu erklären, warum es zu dieser Ablehnung kommen musste. Auch verschwiegen sie, dass eine Lösung möglich gewesen wäre, aber von der EU blockiert wurde. Stefan Kornelius schrieb am 24. Februar 2014 in der Süddeutschen Zeitung: „Der Präsident [Janukowitsch, d. Verf.] akzeptierte die Logik, dass die Ukraine eine Wahl zu treffen habe zwischen dem Westen und Russland. Diese Logik prallt aber an der EU ab. Die Gemeinschaft erträgt unter ihren Mitgliedern ökonomische und politische Unterschiede, sie schafft keine Fronten. Die EU bietet vielmehr Optionen für Staaten, die sich Regeln für gute Regierungsführung unterwerfen. Die EU sucht nicht nach neuen Mitgliedern, neue Staaten streben in die EU.“ Eine Verkehrung der tatsächlichen Geschehnisse. Während die EU der Ukraine ein Ultimatum stellte, zwischen Russland und der EU zu wählen, bot Moskau der EU eine »tripartite«-Regelung an, also Zollunion und EU-Abkommen gleichzeitig, doch die EU lehnte das ab. Der Konflikt eskalierte.

„Ein Meilenstein“ – Mythos und Realität des EU-Assoziierungsabkommens

Als der neue Präsident Poroschenko das EU-Assoziierungsabkommen schließlich nach dem Staatsputsch und der folgenden Wahl unterzeichnete, folgten die deutschen Medien den Vorgaben Poroschenkos und des EU-Ratsvorsitzenden Herman Van Rompuy, dass es sich um einen „historischen Tag“, einen „Meilenstein“ handele, der der Ukraine nun einen „verbesserten Marktzugang mit 500 Millionen Verbrauchern“ ermögliche.

»Historisch« war an dem Tag vielmehr, dass eine kaum entwickelte Agrargesellschaft in Zukunft mit einem der größten Wirtschaftsräume der Welt ohne nennenswerte Schutzmaßnahmen wie Zölle, Industriesubventionen, Agrarhilfen, Heizzuschüsse etc. auf dem »freien Markt« konkurrieren muss und von seinem wichtigsten Handelspartner abgeschnitten zu werden droht. Die Journalisten vergaßen auch mitzuteilen, dass das EU-Abkommen einherging mit einem zweistelligen Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), der gekoppelt wurde an ein rigides Sparprogramm, vergleichbar dem in Griechenland. Der IWF-Kredit bedient wie in anderen Staatsschulden-Fällen die Gläubiger der Ukraine, also vor allem europäische und US-amerikanische Banken und Finanzinstitute. Die Kosten tragen die ukrainischen Bürger.

Die Austeritätsmaßnahmen im Sinne des EU-IWF-Reformpaketes sind bereits angelaufen. Die Folgen sind u.a. sinkende Löhne, steigende Inflation, drastisch hochschnellende Gas-, Wasser und Strompreise für die Ukrainer, und das bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 275 US-Dollar, wobei der größte Teil für Lebensmittel ausgegeben werden muss. Zudem wurden im Rahmen des Sparprogramms bereits Staatsangestellte entlassen. Ökonomen gehen davon aus, dass die Kaufkraft der Ukrainer im Zuge der »Reformprogramme« weiter sinken werde und damit die Wirtschaft tiefer in die Rezession getrieben wird. Die Regierung in Kiew hat zudem angekündigt, Sozialprogramme, Unterstützung für Arbeitslose und Behinderte drastisch zu kürzen und die Löhne für Angestellte des öffentlichen Dienstes nicht an die galoppierende 16-prozentige Inflation anzupassen, während man das Staatsbudget für Sicherheit und Militär stark ausbauen will.

Im aktuellen Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) heißt es dazu: „Es war eines der Hauptziele der zivilgesellschaftlichen Aktivisten, Experten und Journalisten, die sich nach dem Maidan zusammenschlossen, um für die erforderlichen Reformen zu werben, dass jeder in der Ukraine in den vollen Genuß sozialer und ökonomischer Rechte kommt. Allerdings ist die neue Gesellschaft, die, so ihre Hoffnung, mit dem wiederbelebten »Reformpaket« [reanimation package of reforms] entstehen würde, noch weit von der Wirklichkeit entfernt.“ […]

»Wertvolle« und »wertlose« Proteste

[…] Die Maidan-Berichterstattung ist ein Tiefpunkt im deutschen Journalismus. Dieselben Medien, die sonst friedliche Proteste im eigenen Land gern auf ein paar Randalierer reduzieren und eskalierende Polizeigewalt unerwähnt lassen, übersahen auf dem Maidan die immer präsenter werdenden extremistischen Kräfte rechter und faschistischer Gruppierungen oder spielten ihre Bedeutung für den Staatscoup herunter. Offen geäußerte rassistische Einstellungen wurden als Petitesse abgetan, die sonst so fein eingestellten Antisemitismus-Sensorien der meinungsführenden Rundfunkanstalten und Zeitungen, die bei Protesten gegen Israels Gaza-Kriegen zuverlässig immer neue Wellen von Judenhass entdecken, wurden schlicht abgeschaltet. Nach dem Staatssturz mit Hilfe der Rechtsextremen titelte die Süddeutsche Zeitung: „Russland erklärt sich zum antifaschistischen Schutzwall“. Mit ein paar Sätzen relativierte die Süddeutsche Zeitung die Rolle rechtsextremer Gruppen auf dem Maidan als umstritten und marginal. Anklagen wegen Volksverhetzung, Juden-, Russen-, Roma- und Schwulen-Hetze, Verherrlichung des Vernichtungskrieges gegen die ukrainischen Juden, dem 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, enge Kontakte zur NPD, der militanten Neonazi-Szene und anderen europäischen rechtsextremistischen Parteien usw.? Fehlanzeige. Man erfuhr im SZ-Artikel auch nicht, dass der Jüdische Weltkongress die Partei »Swoboda«, deren Vorsitzender Oleg Tjagnibok die Hände vieler westlicher Politiker wie Steinmeier, Ashton oder McCain schüttelte, als neonazistisch einstuft und ein Verbot der Partei fordert. Man beschäftigte sich lieber 14 Absätze lang mit Rassismus in Russland, einem Land, so die SZ, das sich nun „zynisch“ als „antifaschistischer Schutzwall“ im Ukraine-Konflikt inszeniere.

Der doppelte Standard der Medienberichterstattung setzte sich fort bei den Protesten in der Ostukraine. Wie von Kritikern des Staatssturzes erwartet, brach der Konflikt, angefeuert von US-amerikanischen und europäischen Solidaritätsadressen, entlang der ethnischen, kulturellen und politischen Trennlinien in offenen Bürgerkrieg aus. Die deutschen und US-amerikanischen Medien schalteten ihr Bewertungsschema jedoch jetzt um. Der Übergangspräsident „Jats“, wie Victoria Nuland, zuständig für Europa und Eurasien im US-Außenministerium, ihren »favorite« in einem geleakten Telefonat nannte (anders als Janukowitsch von den Medien jetzt nicht als »Marionette« diffamiert), und der neu gewählte Oligarch Poroschenko (Wie war das noch einmal mit dem Aufstand gegen die »Macht der Oligarchen« auf dem Maidan?) sind nun Garanten von Stabilität, Demokratie, legitimer Gewaltanwendung, auch wenn sie brutal gegen das eigene Volk in der Ostukraine vorgehen. Doch über diese Gewalt berichten die Medien so gut wie nicht. Die Aktivisten sind demgegenüber Aufständische, Separatisten, Terroristen, die von Russland infiltriert sind bzw. gesteuert werden, um Teile der Ostukraine an Russland anzugliedern.

Die Wahrheit ist komplizierter. Auch in der Ostukraine erhalten rechte und gewaltbereite Kräfte im Verlauf der Eskalation mehr Einfluss, aber darin unterscheidet sich der Protest nicht von dem auf dem Maidan. Zudem: Ukrainische Bürger, darunter etliche junge Aktivisten und Studenten, protestierten in Lugansk, Donezk oder Odessa oft friedlich für Reformen. Sie fordern nicht Abspaltung von Kiew, keine Angliederung an Russland, sondern Rechtsschutz für die russischstämmige Bevölkerung und mehr Autonomie in einem föderalen System. Von diesen Protestierenden und ihren politischen Ansichten erfährt man so gut wie nichts in der Presse – anders als bei der Maidan-Berichterstattung. Der Eindruck musste entstehen: In der Ostukraine, anders als bei den europafreundlichen Protesten in Kiew, zündelten ausschließlich militante Umstürzler ohne legitime politische Interessen. „Prorussische Separatisten“ ist heute eine feste Wortfügung in allen Nachrichten. Das Bild in der Ostukraine ist weitaus gemischter. […]

Und was ist mit der destabilisierenden Einmischung Moskaus in der Ostukraine? Nehmen wir den Kernvorwurf, die russischen Waffentransporte ins Krisengebiet. Der Vorwurf wird mit Verweis auf Social-Media-Fotos und Satellitenbilder erhoben, bereitgestellt von der US-Administration. Eindeutige Belege liegen nicht vor, die Lage ist unübersichtlich, trotz Indizien.

Journalisten sollten zudem auch die Frage stellen: Was ist mit der anderen Seite? Was ist mit den US-Militärhilfen? Die militärische »Einmischung« des Pentagon liegt anders als im Fall Moskaus offen zutage. Im US-Senatsausschuss für Internationale Beziehungen hat das Verteidigungsministerium seine militärische Unterstützung für die Ukraine erläutert. Die Hilfen sollen danach im Zuge der Krise vervierfacht werden. Neben Militärausrüstung, wie Körperpanzer, Nachtsichtgeräte, Bomben-Spürroboter usw., sollen auch amerikanische Berater und Trainer in die Ukraine geschickt werden „um das ukrainische Militär auszubilden und zu professionalisieren“. In das ukrainische Verteidigungsministerium will man US-Berater „einbetten“, um mit der Regierung zusammen eine »Nationale Sicherheitsstrategie« zu entwerfen, die eine „kohärente Vision für das Militär, den Grenzschutz, die Nationalgarde und andere Sicherheitsinstitutionen der Ukraine“ bereitstelle, so der Staatssekretär für Internationale Sicherheit im Pentagon, Derek Chollet, im US-Senatsausschuss Anfang Juli [2014]. Der Vorwurf von russischer Seite, dass die USA 100 Berater im Sicherheitsapparat der ukrainischen Regierung bereits einsetze, ist daher nicht aus der Luft gegriffen. Nach dem Absturz der MH17 erwägen die USA, Echtzeit-Zielkoordinaten für Angriffe des ukrainischen Militärs bereitzustellen, im US-Kongress fordern Politiker sogar Waffenlieferungen an das ukrainische Militär. Im Kölner Stadt-Anzeiger heißt es dazu: „Würden die Pläne umgesetzt, wäre das eine kraftvolle Botschaft an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass die USA neben Sanktionen auch noch andere Mittel einsetzen, um die Unterstützung Moskaus für die Separatisten zu beenden.“

Während die möglichen Waffenlieferungen Russlands von den meisten deutschen Medien als Tatsache präsentiert werden und als Beweis für die von Moskau betriebene Eskalation des Konfliktes erscheinen, gilt die militärische Unterstützung des ukrainischen Militärs durch die USA als eine legitime Schutzmaßnahme und wird als stabilisierend kommentiert. Wir erinnern uns: Im UN-Bericht wird beiden, dem ukrainischen Militär wie den Separatisten, vorgeworfen, gegen die Zivilbevölkerung in der Ostukraine Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Sollte Moskau Waffen an die Separatisten liefern, dann ist das ein Verstoß gegen das Verbot, Waffen in Bürgerkriegsregionen zu liefern, in denen Zivilisten nicht ausreichend geschützt werden. Das Gleiche gilt jedoch auch für die USA. In einem der wenigen abwägenden Kommentare in deutschen Medien fordert der Moderator des ARD-Politmagazins »Monitor«, Georg Restle, in den Tagesthemen auch vom Westen, seinen Einfluss geltend zu machen, um den Konflikt zu deeskalieren. Die Schlussfolgerung wird jedoch auch von Restle nicht gezogen. Nimmt man den an Russland angelegten Maßstab, würde »Einfluss geltend machen« bedeuten: keinerlei Unterstützung für die ukrainische Regierung, weder politische, diplomatische, finanzielle noch militärische, solange die Regierungstruppen nicht die Waffen niederlegen. Eine Forderung, die in deutschen und US-Medien außerhalb des Debattenradius liegt.

„Versöhnliche Geste“ vs. „vergiftetes Geschenk“

Was ist mit der Lösung des Konfliktes in der Ukraine? Anfang Juli 2014 legte Poroschenko einen Friedensplan vor, der durchaus eine Chance zur Deeskalation hätte sein können, so Stephen Cohen in der Zeitschrift The Nation: „Bis auf die zwei Grundvoraussetzungen: Kämpfer im Südosten müssten zuerst ‚ihre Waffen niederlegen’, und er alleine würde entscheiden, mit wem er über den Frieden verhandelt. Die Voraussetzungen ähnelten mehr denen einer Kapitulation, und sie waren vermutlich der wahre Grund, dass Poroschenko am 1. Juli [2014] einseitig den Waffenstillstand aufkündigte und Kiews Angriffe auf die Städte im Osten intensivierte, zunächst auf die kleineren Städte Slawjansk und Kramatorsk, aus denen sich die Verteidiger am 5./6. Juli zurückzogen – um, wie sie sagten, noch mehr zivile Opfer zu vermeiden.“ Auf Spiegel Online zitierte man überschwänglich Poroschenko mit den pazifistischen Worten: „Ich will keinen Krieg, ich will keine Rache. Ich möchte Frieden“ – um dann fortzufahren: „Die Separatisten zeigten sich allerdings unbeeindruckt von der versöhnlichen Geste Poroschenkos.“ Janukowitschs Zugeständnisse an die Maidan-Sprecher im Januar 2014, mit denen er sich immer wieder an einen Tisch gesetzt und verhandelt hatte, gingen weit über Poroschenkos Zugeständnisse im »Friedensplan« hinaus. Sie wurden von den Qualitätszeitungen allerdings nicht als „versöhnliche Geste“ bezeichnet, sondern als „unmoralisches Angebot“, als „vergiftetes Geschenk“, das von der Gegenseite zu Recht abgelehnt wurde, auch wenn es weitreichende Zugeständnisse enthielt. „Die Gewalt beenden, ohne die eigene Integrität zu opfern“, das sei Klitschko & Co. gelungen, hieß es dazu in der Süddeutschen Zeitung.

Man könnte unzählige Beispiele herausgreifen und daran aufzeigen, wie gegen elementare journalistische Standards beim Ukraine-Konflikt verstoßen wurde. Über 40 Aktivisten sterben in einem brennenden Gewerkschaftshaus in Odessa, einige davon wurden im Gebäude erschossen. Augenzeugenberichte, etliche Videos und Indizien deuten auf Brandstiftung hin, auf ein Massaker an den Kiew-kritischen Demonstranten, die vor dem Gewerkschaftshaus kampierten, in das sie vor einem gewalttätigen Mob flohen, der einige aus dem Gebäude wieder zurückholte und auf offener Straße brutal zusammenschlug. Es gibt belastende Hinweise, dass rechtsradikale Gruppen und Milizen, möglicherweise aus dem Umfeld der in Kiew mitregierenden Swoboda-Partei, für das Massaker verantwortlich gewesen sind. Die taz wie viele andere Zeitungen und Rundfunksender beließ es bei einem „brennenden Gewerkschaftshaus“, ohne zu vermelden, wer für die „Tragödie“ verantwortlich gewesen sein könnte. Bei den Scharfschützen auf dem Maidan präsentierten die meinungsmachenden Medien hingegen ein staatlich organisiertes Massaker, obwohl, wie sich später zeigte, daran erhebliche Zweifel bestehen. Bei beiden Vorfällen fordert das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinte Nationen unabhängige Untersuchungen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

In den deutschen Medien wurde die Eskalation des Konfliktes durchaus auch mit Sorge betrachtet. Am 16. April 2014 meldete das Handelsblatt: „Ukraine-Eskalation alarmiert deutsche Wirtschaft“. DIW-Präsident Marcel Fratscher warnte vor konjunkturellen Rückschlägen für Europa bei Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Im ZDF-Interview verteidigte Siemens-Chef Joe Kaeser seinen Besuch bei Putin, sprach von „kurzfristigen Turbulenzen“ im Zusammenhang mit der Krim-Angliederung an Russland und warnte vor weiterer Eskalation. Der Siemens-Konzern hatte Ende 2011 Investitionen von rund einer Milliarde Euro in Russland zugesagt, wovon etwa 750 bis 800 Millionen Euro schon umgesetzt sind. Deutsches Kapital in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar finanziert insgesamt 6.200 Firmen in Russland. Dazu kommen die russischen Gas- und Öllieferungen nach Europa. Allein in Deutschland decken sie 35 Prozent des Bedarfs ab. Die drohenden »Marktturbulenzen« im Zuge einer weiteren Eskalation mit Russland haben den politischen und medialen Diskurs in Deutschland zur Ukraine-Krise, wenn auch nur an den Rändern, in seiner Schärfe sicherlich abgemildert. […]

David Goeßmann ist freier Journalist. Er arbeitet für etliche Rundfunksender und Printmedien. Von 2005 bis 2007 war er freier Auslandskorrespondent in Boston/USA, davor Parlamentsreporter und CvD der Deutschen Fernsehnachrichten Agentur. 2009 gründete er zusammen mit dem Dramatiker und Journalisten Fabian Scheidler das unabhängige TV-Nachrichtenmagazin »Kontext TV« (kontext-tv.de).
Übersetzung der englischsprachigen Zitate für W&F: Regina Hagen

Kriegsmedien – Medien im Krieg

Kriegsmedien – Medien im Krieg

Ernst Friedrich und seine Wirkung

von Jörg Becker

Immer wieder entbrennt in der Öffentlichkeit Streit über die Frage, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen, Krieg in den Medien unvermittelt dargestellt werden soll und darf. Der Streit ist nicht neu, sondern reicht neunzig Jahre zurück. Damals veröffentlichte Ernst Friedrich seinen Bildband »Krieg dem Kriege«, der nur schwer erträgliche Fotos von Opfern des Ersten Weltkriegs zeigt. Der Streit um den Abdruck solcher Bilder und ihre Wirkung setzt sich bis heute fort.

Ernst Friedrich war ein begnadeter Polemiker, ein Zyniker, ein außerordentlich geschickter Redner, der in einfacher Sprache seine vielen Zuhörer begeistern konnte. Was er ursprünglich von Beruf war? Für Ernst Friedrich wäre das eine falsche Frage gewesen. Er war Buchdrucker, Schauspieler, Reformpädagoge, Anarchist, Pazifist, Rezitator, Agitator, Journalist, Aktionskünstler, Antifaschist, Aktivist und Politiker, Künstler und schließlich aktives Mitglied in der fanzösischen Résistance – als radikaler Pazifist aber nur auf der Schreibstube, nicht bei der kämpfenden Truppe.

In der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen anarchistisch-pazifistischen Zeitung »Schwarze Fahne« schrieb Ernst Friedrich 1925: „Die im Massengrab aller Kontinente langsam verfaulenden, von Ratten und Würmern zerfressenen Millionen Opfer des Massenmörders Ludendorff und seiner internationalen Komplizen sind eine größere Anklage, als die 20 Opfer Haarmanns. Die vielen Blinden, Armlosen, Beinlosen, Gasvergifteten, vor Schmerz irrsinnig gewordenen, die nach Millionen zählenden Opfer des Massenmörders Ludendorff und seiner Konsorten werden dermaleinst wichtige Zeugen sein, wenn die großen Verbrecher an der Menschheit vor dem Antlitz des Lebens abgeurteilt werden.“ 1

Grausam entstellte Kriegstote und Kriegsverstümmelte – das ist Ernst Friedrichs anklagendes Thema, sowohl in seinem 1925 in Berlin gegründeten Anti-Kriegs-Museum als auch in seinem ein Jahr zuvor veröffentlichten zweiteiligen Bildband »Krieg dem Kriege«. Die französische Sprache kennt für die im Ersten Weltkrieg im Gesicht verletzten Soldaten mit halben Wangen, zerfetzten Nasen und Ohren oder durchschossenen Mündern den eigenen Begriff „gueules cassées“, kaputte Fressen.

Es drängen sich folgende Fragen an die Schockbilder von Ernst Friedrich auf:

1. In welches gesellschaftliche Umfeld müssen diese Fotos von 1924 eingeordnet werden?

2. Wie wirken solche Fotos?

3. Gibt es in den heutigen Medien auch noch solche Kriegsfotos?

Gesellschaftliches Umfeld

Die erste Frage nach dem gesellschaftlichen Umfeld dieser Fotos ist deswegen wichtig, weil sich die Bilder weniger mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen, sondern eher mit den zwanziger Jahren. Wichtig wurden die Bilderinnerungen an den Ersten Weltkrieg erst in den Jahren 1920 bis 1930, als es politisch darum ging, den Weltkrieg propagandistisch zu vereinnahmen. Die vielen Bildbände der Zwischenkriegszeit lieferten Fotos, die man für eine völkisch-nationale Dramatisierung des Krieges brauchte: anfängliche Kriegsbegeisterung, Einzelhelden und sakrale Landschaften wie Verdun, Ypern und Langemarck. Ausgeblendet wurde der Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung auf dem Balkan; es gab keine Flucht und Vertreibung, Niederbrennen von Dörfern, Massenhinrichtungen und Zwangsarbeit; und ausgeblendet blieben nacktes Elend und brutale Gewalt, vor allem natürlich der eigene Tod und die eigenen Kriegsverbrechen.

Ernst Friedrichs »Krieg dem Kriege!« war die direkte Gegenfolie zu diesen vielen propagandistischen Weltkriegsfotobänden aus den zwanziger Jahren. Sein Buch enthielt genau die Bildmotive, die in den anderen Büchern nicht vorkamen. Bei der Auswahl der Motive und den dazu gehörigen Texten handelt es sich eher um expressionistische Dichtung und Grafik als um Journalismus und Dokumentarfotografie. Der bisherigen, als dekadent und bürgerlich empfundenen Ästhetik stellte die expressionistische Literatur oft eine Ästhetik des Hässlichen gegenüber; ihre Themen waren Krieg, Großstadt, Angst, Rausch, Zerfall und Weltuntergang. In der expressionistischen Grafik stehen sowohl die Antikriegsbilder von Frans Masereel2 von 1915 als auch die von Otto Dix von 1920 in enger Nachbarschaft zu den anklagenden Fotos von Ernst Friedrich.

Es gibt meines Wissens in den zwanziger Jahren neben Ernst Friedrich nur einen einzigen weiteren Fotobildband, in dem ebenfalls nackte Gewalt, Entsetzen, Vernichtung, Zerstörung und Tod des Ersten Weltkrieges dargestellt werden. Es handelt sich hierbei um Franz Schauweckers in vielen Auflagen gedrucktes Buch »So war der Krieg«. Schreibt Ernst Friedrich „Und nicht ein einziger Mensch in irgendeinem Lande kann aufstehn und gegen diese Photos zeugen, dass sie unwahr sind und nicht der Wirklichkeit entsprechen“,3 so steht ihm Schauwecker mit dem Anspruch darauf, nichts als Wahrheit und Wirklichkeit zu zeigen, in nichts nach. Bei ihm „zeigen diese Aufnahmen das wahre Gesicht des Krieges, unentstellt, nicht beschönigt, und enthüllen in der unumstößlichen harten und aufrichtigen Sachlichkeit des Lichtbildes die düstere Tragödie des modernen Krieges“.4 Beide eint ihr naives Vertrauen in einen Fotorealismus. „So war der Krieg“, hält Schauwecker apodiktisch fest. So und nicht anders.

Der politisch-pädagogische Anspruch von Ernst Friedrich und Franz Schauwecker ist derselbe. Doch Friedrich und Schauwecker trennen Welten. Brüllt Friedrich seine Parole „Krieg dem Kriege!“ jedermann entgegen, so beginnt Schauwecker sein Vorwort mit folgenden Sätzen: „In diesem Werk geht es um den Krieg als solchen. […] In diesem durch das Blut geheiligten Erdreich ist unter Kämpfen von Stahl und Explosion und unter den rasenden Stürmen und Ausbrüchen donnernder Nationalismus geboren worden. […] Hier entstand jener Nationalismus, der, als er die schreckliche Größe jenes Schicksals aus Grab, Opfer und Vernichtung erlebte und begriff, aus seiner Kraft jenes Wunder erzeugte, das ihn erst zum deutschen Nationalismus machte. […] Dieses Werk zeigt fast in jedem seiner Bilder die Vernichtung, und zwar die Vernichtung einer vergangenen Welt. Aber auf solchermaßen umgepflügten Feldern allein kann das Neue wachsen.“ 5

Gab Schauwecker einem seiner grausamsten Fotos mit vielen Kriegstoten den Untertitel »Der Maschinentod: Russische Sturmkolonnen«, so vermeidet Friedrich bei seinen Fotos strikt jeglichen Hinweis auf eine Nationalität. Wichtiger noch: Seine Untertitel sind essentieller Bestandteil seiner pazifistischen Botschaft, oft sind sie entlarvend und ironisch. Mit Recht kann die Philosophin Susan Sontag in ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten« über Ernst Friedrich festhalten: „[Er] machte nicht den Fehler zu glauben, Bilder, bei denen sich dem Betrachter der Magen umdreht, würden für sich selbst sprechen. Jedes Foto ist mit einer leidenschaftlichen Bildunterschrift […] versehen, und die Niedertracht der militaristischen Ideologie wird auf jeder Seite bloßgestellt und verhöhnt.“ 6

Wirkung der Fotos

Die zweite, die Frage nach der Wirkung solcher Fotos, hängt eigentlich mit den eben schon entwickelten Gedanken und Argumenten zusammen. Ja – eine abschreckende und pazifistische Rezeption und Wirkung solcher Fotos ist dann gegeben, wenn es ein dazu passendes politisches Umfeld gibt. Und genau dies ist auch der Lernprozess, den Susan Sontag zwischen ihrem Aufsatz »Über Fotografie« von 1977 und ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten« von 2003 durchlief. Verbunden mit einem gut dazu passenden Narrativ können Kriegsfotos den Rezipienten aufrütteln und ihn zum Handeln auffordern, dem furchtbaren Kriegstun ein Ende zu setzen.

Darstellung des Krieges in den heutigen Medien

Auf die dritte Frage, ob es solche Schockfotos auch noch in den heutigen Medien gebe, ist mit mehreren Teilantworten zu reagieren.

Bedenkt man, dass Särge gefallener US-Soldaten erst seit 2009, seit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama, in US-Medien gezeigt werden dürfen, dann wird die Ungeheuerlichkeit der Tabuverletzung von 1924 deutlich. Friedrichs Bilder waren also ein radikaler Tabubruch und bewirkten einen Skandal! Sie brechen mehrere Tabus, denn Leiden, Tod und eigene tote Soldaten sind Tabuthemen. Sie sind es vor allem auch deswegen, weil Friedrich die so genannten »gueules cassées« zeigt, zerschlagene Fressen, also Menschengesichter ohne Nase, Gesichter ohne Augen oder Menschen ohne Arme. Solche Bilder gab es vor Friedrich nicht, auch nicht in Francisco de Goyas Bilderzyklus »Desastres de la guerra« (1810/14). Friedrichs Bilder zeigen die Hölle schlimmer als in Dantes Inferno. Mit Recht kann der Historiker Gerd Krumeich diese Bilder wie folgt kommentieren: „Die gueules cassées sind das letztgültige Symbol des Ersten Weltkriegs, in dem die neuen Sprenggranaten mit ihren Splittern […] zur Hauptquelle der Verwundungen wurden.“ 7

Solche Bilder sind auch heute noch ein Tabubruch, sie gehören trotz aller zunehmenden Brutalisierung der Massenmedien keineswegs zum Medienalltag. Das zeigen zwei Abbildungen von 1992 und 2006, denn beide Bilder kommen nicht aus den Mainstream-Medien. Die eine Abbildung wurde der Broschüre eines studentischen Kollektivs in Paris entnommen und protestiert gegen Tod und Terror im zweiten Golfkrieg.8 Die andere Abbildung des afghanischen Schriftstellers Mohammad Daud Miraki stammt aus seinem im Eigenverlag herausgegebenen Buch eines Verzweifelten angesichts des unmenschlichen Leidens in Afghanistan.

Gerade auf dieses Buch von 2006 soll hier kurz verwiesen werden, denn ein Vergleich mit Ernst Friedrichs 82 Jahre vorher erschienenem Buch drängt sich auf. Bereits Titel und Untertitel von Mirakis Buch verraten sein pädagogisch-politisches Anliegen: »Afghanistan. After 'Democracy'. The Untold Story Through Photographic Images«.9 Seine Fotos sollen also die von den westlichen Medien nicht erzählte Geschichte des afghanischen Krieges erzählen, sollen – wie es im Vorwort heißt, und so könnte es auch bei Friedrich stehen – „Wahrheit“ und ein „wahres Bild“ aufzeigen. Um diesem Anspruch Genüge zu tun, enthält Mirakis Bildband realistische Fotos aus der gegenwärtigen afghanischen Alltagsmisere, ergänzt durch ein spezielles Kapitel mit Fotos von verunstalteten Babys als Folge des Abwurfs uranangereicherter US-Bomben.

Auch gegenwärtig sollen Kriegs-Schock-Fotos zu Aktion und Parteinahme einladen. Der französische Journalist Jonathan Littell hielt sich Anfang 2012 einige Wochen bei syrischen Rebellen auf, und in seinem veröffentlichten Tagebuch finden wir die folgenden Einträge zu Videos, die die Rebellen ins Netz stellen: „Vor drei Tagen wurde ihnen eine Leiche übergeben, mit Folterspuren überall, von Elektroschocks etc. Vermutlich wurde er im Militärkrankenhaus getötet. Der Fall ist dokumentiert, die Leiche wurde auf Aljazeera gezeigt. […] Bilal zeigt mir wieder etwas auf seinem Handy. Ein Mann, dessen ganzer Bauch offen ist, Lunge und Gedärme hängen heraus, die Ärzte versuchen sie wieder hineinzustopfen. All diese Handys sind Museen des Horrors. […] Dieses Internetcafé ist der Unterschlupf aller Aktivisten von Khaldije, die hier auf YouTube und in den sozialen Netzwerken die Arbeit ihres Tages posten, Filme von Demonstranten oder Gräueltaten.“ 10

Diese Bildbotschaften syrischer Rebellen erfüllen zwei Funktionen: Zum einen zeigen sie den saudischen Stiftungen, von denen sie Geld und Waffen erhalten, wie erfolgreich sie kämpfen und dass es sinnvoll ist, ihnen weiter Geld und Waffen zu liefern. Zum anderen wenden sich diese Bilder an westliche Medien und Politiker, um westliche Kriegsmächte zu einer militärischen Intervention gegen die Regierung Assad aufzufordern. Es ist genau dieses Phänomen einer Mediendoppelung oder das einer dynamischen Medienspirale zwischen TV und Handys, wie es inzwischen bei der Kriegsberichterstattung im Nahen Osten angesichts von Internet, Handys und YouTube üblich geworden ist.

Und auch Bilder wie die von Abu Ghraib 2004 sind Teil dieser visuellen Kriegsführung, die dem Gesetz einer sich stetig vergrößernden und sich beschleunigenden Rüstungsspirale unterliegt: Haust Du meinem Journalisten vor laufender Kamera öffentlich den Kopf ab, dann wird sich die Zahl meiner Drohnenangriffe auf Deine Leute verdoppeln! Und wenn die Zahl Deiner Luftangriffe steigt, dann werden wir auf YouTube gerne die Bilder des toten US-amerikanischen Botschafters Stevens aus Libyen von 2012 zeigen oder noch »schöner«, dann zeigen wir den Leichnam eines US-amerikanischen Soldaten, wie er im Oktober 1993 mit einem Seil durch die Straßen von Somalias Hauptstadt Mogadischu gezogen wurde. Eine solche Spirale kennt kein Ende!

Möglicherweise war es der große, geniale Bertolt Brecht, der mit seiner »Kriegsfibel« alle hier besprochenen Probleme schon in den fünfziger Jahren am besten reflektiert und gestaltet hat. 1955 veröffentlicht, enthält dies großformatige Buch auf seinen linken Seiten kurze Fotolegenden und auf seinen rechten die 85 dazugehörigen schwarzweißen Pressefotos, die Brecht jeweils mit einem Vierzeiler kommentierte. Fotoepigramme hatte er diese Vierzeiler genannt. Brechts Fotos stammten aus den Illustrierten seiner Zeit, und mit seinen dazugehörigen bissigen, ironischen und frechen Epigrammen dekodierte und verwandelte er deren affirmative Aussagen in ihr kritisches Gegenteil. Brechts Fotos zeigen Zivilisten, Soldaten, Opfer, Politiker, Landschaften und Städte, die mit verschiedenen Schauplätzen des Zweiten Weltkrieges einhergehen. Auch Brecht scheute keineswegs vor Schockfotos zurück. Da gibt es die Großaufnahme des verbrannten Schädels eines japanischen Soldaten, der von US-Truppen auf einen ausgebrannten japanischen Tank gespießt wurde, oder viele Fotografien von und mit erblindeten Soldaten.

So kontrastierte er z. B. das 56. Foto mit der Legende »Erblindeter deutscher Soldat im Moskauer Lazarett« mit folgendem Vierzeiler: „Vor Moskau, Mensch, gabst du dein Augenlicht / O blinder Mensch, jetzt wirst du es verstehn. Der Irreführer kriegte Moskau nicht. / Hätt er's gekriegt, hättst du es nicht gesehn.“ 11 Blind ist hier metaphorisch zu verstehen: blind für eine politische Analyse, blind in den Krieg gestolpert. Die Idee, Kriegsbrutalität auf Fotos zu zeigen, um sie, angereichert mit nur spärlichen Zeilen, pädagogisch gegen sich selbst zu wenden, verbindet Ernst Friedrich mit Bertolt Brecht. Was Brecht freilich von Friedrich unterscheidet, ist seine tiefe, man möchte sagen ideologiekritische, Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Illustriertenfotos.

Es waren die beiden in London lebenden Künstler Adam Broomberg und Oliver Chanarin, die sich 2011 in Brechts Kriegsfibel „hinein wohnten“, sie „kidnappten“, sie wie „Parasiten“ in Beschlag nahmen und seine „Bilder mit ihren Bildern“ ersetzten. Heraus kam eine eindrückliche Wort- und Bildmontage von Kriegsfotos nach 9/11, teils Brecht, teils aktualisiert.12 Auch hier 85 Bilder über menschliches Kriegsleiden, auch hier 85 dazu montierte Texte. Am eindrücklichsten ist hier möglicherweise die Wiederholung von Brechts 44. Bild, also das mit dem verbrannten Schädel eines japanischen Soldaten. Bei Broomberg/Chanarin taucht dieses Motiv als 53. Bild auf – diesmal zeigt es ein Foto der BILD-Zeitung von 2011 mit einem Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, der dem Betrachter triumphierend einen Totenkopf entgegenhält.

Ein jüngster Versuch in der Nachfolge von Ernst Friedrichs »Krieg dem Kriege« von 1924 ist das Buch »War Porn« – also Kriegspornographie – des jungen, erst 1978 geborenen Fotografen Christoph Bangert, das 2014 erschien. Neunzig Jahre nach Friedrich teilen die zuvor nie veröffentlichten Fotos mit Krüppeln, Toten, Gefolterten, Ermordeten und Erschossenen aus den Kriegen der letzten Jahre das gleiche Anliegen wie Friedrich – vielleicht ein wenig intellektueller gewendet: „Ich habe das Gefühl, ich müsse solche Bilder veröffentlichen. […] Im Gegensatz zu den ultrabrutalen Hollywoodfilmen, die wir uns so einfach reinziehen, und zu grauenhaften Videogames, sind diese Bilder nicht-fiktional. Sie sind Dokumente und interpretieren reale Ereignisse. Wie kann solch eine Arbeit bedeutungslos oder belanglos sein? Wie können wir die ausschließliche Abbildung – ein Bild – eines schrecklichen Ereignisses ablehnen, während andere Menschen gezwungen sind, dieses schreckliche Ereignis zu erleben?“ 13

Nach wie vor gültig

Der brutale Krieg der deutschen Wehrmacht in Osteuropa und Auschwitz, beide sind uns allen Teil einer gemeinsamen Staatsräson, die Deutschland Krieg als Mittel der Politik verbietet. Dementsprechend verbietet das Grundgesetz den Angriffskrieg und beschränkt den Einsatz der Bundeswehr auf den Verteidigungsfall. Die beiden Bundespräsidenten Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker wussten um diesen deutschen Schuld-Zusammenhang.

In seiner zu Recht berühmten Rede vom 8. Mai 1985 führte Richard von Weizsäcker aus: „[Wir nutzen] das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten. […] Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden mussten, werden wir besser verstehen, dass der Ausgleich, die Entspannung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgaben der deutschen Außenpolitik bleiben.“ Und weiter sagte er: „Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und gute Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur Gefahr für den Frieden werden lassen.“ 14

Gemessen an diesem Selbstverständnis markiert die Rede von Präsident Joachim Gauck vom Januar 2014 einen präsidialen Tabubruch.15 Führte die Rede des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler mit ihrem Hinweis darauf, dass angesichts von Deutschlands Außenhandelsabhängigkeit „im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist“,16 noch zu einem öffentlichen Skandal und 2010 schließlich zu dessen Rücktritt, so läuft die sonst aufgeregte Medienmaschinerie heute bei demselben Gedanken bereits in eine gähnende Leere. Gauck formulierte auf der Münchener Sicherheitskonferenz eine völlig neue Staatsräson, wenn er „Deutschlands historische Schuld“ dahin gehend definiert, dass es kein „fragwürdiges Recht auf Wegsehen“ geben und dass man „Schuld“ nicht mit „Zurückhaltung“ und mit „Selbstprivilegierung“ gleichsetzen könne. Nur kurze Zeit darauf legte Gauck in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur nach, nun noch viel deutlicher im Ton: „Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.“ 17

„Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“ Der, der das sagt, ist nicht irgendwer, sondern Mephistopheles in seiner Rolle als Unternehmensberater des Kolonialisten Faust in Goethes »Faust II« (5. Akt, Palastszene). Und dieser Teufel meint seinen Zweizeiler nicht nüchtern beschreibend, sondern zustimmend auffordernd, sagt er doch kurz zuvor: „Man hat Gewalt, so hat man Recht / Man fragt ums Was, und nicht ums Wie.“

Ernst Friedrichs Auftrag und Aufforderung „Krieg dem Kriege!“ gelten immer noch.

Anmerkungen

1) Ernst Friedrich: Haarmann und Ludendorff. Die Schwarze Fahne Nr. 1/1925, S.2.

2) Siehe Bebilderung in W&F 1-2011.

3) Ernst Friedrich (1924): Krieg dem Kriege! Band I,. 8.-10. Aufl. 1926. Berlin: Freie Jugend – Internationales Anti-Kriegsmuseum, S.6.

4) Franz Schauwecker (1927): So war der Krieg. 200 Kampfaufnahmen aus der Front. 2. Aufl. Berlin: Frundsberg, S.3.

5) Ibid., S.3, 5 und 8.

6) Susan Sontag (2003): Das Leiden anderer betrachten. München: Hanser, S.22.

7) Gerd Krumeich (2004): Vorwort zur Wiederveröffentlichung. In: Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege. München: dva, S. XIII.

8) Olivier André (ed.) (2003): Numéro spécial. Des photos contre la guerre. Paris: Publia.

9) Mohammed Daud Miraki (2006): Afghanistan – After »Democracy«. The Untold Story Through Photographic Images. Chicago: Selbstverlag.

10) Jonathan Littell (2012): Notizen aus Homs. 16. Januar-2. Februar 2012. Berlin: Hanser, S.74, 128 und 132.

11) Bertholt Brecht (1994): Kriegsfibel. Berlin: Eulenspiegel, 5. Aufl.. Eine sehr gute Einführung in Brechts »Kriegsfibel« bringt Hjördis Hornung: Die Kriegsfibel von Bertolt Brecht – Quelle und Medium historischen Lernens. Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik Nr. 14/2011, S.1-8.

12) Adam Broomberg and Oliver Chanarin (2011): War Primer 2. London: MACK Editions. Dieses Buch wurde in einem Seidensiebdruckverfahren in nur 100 Exemplaren auf der Grundlage einer Edition der Brechtschen Kriegsfibel von 1998 im Libris-Verlag in London hergestellt. Die digitale Version von »War Primer 2« enthält zusätzlich zu den 85 Bildcollagen Essays über die Kriegsfibel und das Kunstwerk dieser beiden Künstler; mappeditions.com/publications/war-primer-2.

13) Christoph Bangert (2014): War Porn. Heidelberg und Berlin: Kehrer Verlag, 2. Aufl., unpag. S.5 [Originalzitat in Englisch, Übersetzung von Jörg Becker]. Zu diesem Buch siehe auch Felix Koltermanns Artikel »Bilderkrieger im ›War Porn‹?« in dieser Ausgabe von W&F.

14) Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa. 8.5.1985; bundespraesident.de.

15) Bundespräsident Joachim Gauck: Deutschlands Rolle in der Welt – Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Rede zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 31.1.2014; bundespaesident.de.

16) „Sie leisten wirklich Großartiges unter schwierigsten Bedingungen“. Bundespräsident Köhler nach seinem Besuch in Afghanistan – Horst Köhler im Gespräch mit Christopher Ricke. 22.5.2010, deutschlandfunk.de.

17) Gauck: „Auch zu Waffen greifen“. Joachim Gauck im Gespräch mit Hans-Joachim Wiese. 16.4.2014, deutschlandfunk.de.

Prof. Jörg Becker ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität Marburg; sein Arbeitsschwerpunkt ist die internationale Medienpolitik. Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Vortrags, den der Autor anlässlich der Eröffnung einer Ernst-Friederich-Ausstellung im Kunstmuseum Solingen am 27. März 2014 hielt. Die ungekürzte Langfassung erscheint Anfang 2015 im 25. Else-Lasker-Schüler-Almanach unter dem Titel »Der blaue Reiter ist gefallen« im Peter Hammer Verlag, Wuppertal. Wir danken der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft für die Erlaubnis, den gekürzten Essay hier vorab abdrucken zu dürfen. Die Forschungsarbeiten für diesen Essay über Ernst Friedrich wurden vom Solidaritätsfonds der Hans Böckler-Stiftung und der Bertha von Suttner-Stiftung, beide Düsseldorf, unterstützt.

Bilderkrieger im »War Porn«?

Bilderkrieger im »War Porn«?

von Felix Koltermann

Bilder von Fotojournalisten stellen bis heute einen elementaren Teil massenmedialer Kriegsberichterstattung dar. Auch der Aufschwung des so genannten »Citizen Journalism« und einzelne »Scoops«, wie die Folterbilder von Abu Ghraib und die Bilder der toten Diktatoren Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi, haben kaum etwas an der Publikationspraxis der gedruckten Presse geändert. Diejenigen, die diese Bilder produzieren, kommen dabei nur selten zu Wort. Umso spannender – und gleichzeitig kontroverser – sind zwei Bücher aus dem letzten Jahr, in denen Fotojournalisten die eigene Arbeit (selbst-) kritisch unter die Lupe nehmen. Der deutsche Fotojournalist Christoph Bangert hat unter dem Titel »War Porn« unveröffentlichte Kriegsbilder zusammengestellt und im Kehrer Verlag veröffentlicht, während der amerikanische Fotojournalist Michael Kamber Dutzende Interviews mit Kollegen führte, die auf Deutsch unter dem Titel »Bilderkrieger« im Ankerherz Verlag erschienen sind.

Das Thema von Bangerts Buch »War Porn« ist die Selbstzensur, die er in seinem Kopf ebenso verortet wie bei Redakteuren und Medienkonsumenten. Aus diesem Grund hat er für »War Porn« über 80 unveröffentlichte Fotografien aus dem Irak, dem Gazastreifen, dem Libanon, Sri Lanka und Afghanistan zusammengestellt, die er im Auftrag der New York Times angefertigt hatte. Diese Bilder sind ein Archiv des Grauens: mit Brandwunden übersäte Körper, Leichen auf Müllkippen oder der blutige Boden in einem Krankenhaus. Gekonnt spielt das Buch dabei mit der Wahrnehmung des Lesers. Einige Seiten sind zugeklebt, und der Leser muss selbst die Entscheidung treffen, ob er sie öffnet und sich weitere Bilder anschaut oder ob er dies lässt. Für Bangert gibt es eine Pflicht des Zeigens, die er geschickt mit seiner Familiengeschichte verwebt: Das Buch endet mit Bildern seines Nazi-Großvaters, der sein Leben lang nur heroische Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt hatte. Bangert sieht sein Buch als Versicherung, dass ihm genau dies nicht passiert und er die Grausamkeiten des Krieges, die seine Erinnerung gebrandmarkt haben, weitergibt.

»War Porn« als Provokation

Mit seinem Buch hat Bangert in Deutschland eine neue Debatte über die Kriegsfotografie angestoßen. Kaum ein Fotobuch war in den letzten Jahren so präsent in den Massenmedien und wurde im Fernsehen wie in Tages- und Wochenzeitungen so häufig rezensiert. Leider wurde dabei selten auf den problematischen Buchtitel und den damit verbundenen Diskurs eingegangen. Bangert selbst benutzt den Begriff »War Porn« als Provokation. Die Einleitung zu seinem Buch zeigt, dass er die Diskussion über das Thema und die Fragen und Vorwürfe, die an ihn als Fotografen gerichtet werden, in- und auswendig kennt. Er dreht den Spieß um, streckt dem Publikum den ausgestreckten Mittelfinger entgegen, um zu sagen: „NATÜRLICH beuten Photographen die abgebildeten Personen aus! NATÜRLICH ist das Kriegspornographie!“ (Bangert 2014, S.5) Seine Botschaft ist: Schaut Euch die Fotos an und urteilt selbst. Dabei ist er sich darüber im Klaren, was mit dem Gebrauch des Begriffs »War Porn« intendiert ist: „Das sind wunderbare Entschuldigungen, entsetzliche Bilder nicht zu veröffentlichen.“ (Bangert 2014, S.5) Dem ist voll zuzustimmen – und gerade deshalb ist der Titel unglücklich gewählt, auch wenn er provokativ gemeint ist. Denn wenn Bangerts Bilder eines nicht sind, dann pornografisch.

Die Einstufung von Kriegsfotografien als Pornografie ist Teil eines Versuchs, ihre Wirkung einzuhegen und ihren Einfluss zu begrenzen. Dies war zum Beispiel an den Bildern der Folterszenen aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis zu beobachten. Die Pornografiedebatte setzt den Fokus auf die Bilder, nicht auf die Geschehnisse, und lenkt damit von der Frage nach den Verantwortlichkeiten für das gezeigte Kriegsgräuel ab. Judith Butler hat dazu folgendes angemerkt: „Das Problem scheint nicht in dem zu liegen, was die Bilder darstellen – Folter, Vergewaltigung, Erniedrigung, Mord -, es scheint eher im sogenannten pornografischen Charakter der Bilder zu liegen.“ (Butler 2009, S.87) Mit dem Pornografiebegriff wird Fotografen der Vorwurf gemacht, sie wollten vermeintlich eine Lust am Grauen befriedigen und würden dies selbst als erregend empfinden. Dies mag vielleicht für folternde Soldaten zutreffen, dieser Vorwurf ist professionellen Bildproduzenten gegenüber aber absurd. In diesem Zusammenhang ist auch die Unterscheidung zwischen dem Skandal im Bild und dem skandalösen Bild (Isermann/Knieper 2010, S.30) wichtig. Beim Skandal im Bild geht es um die auf den Bildkontext verweisende Darstellung, die skandalös ist, beim skandalösen Bild ist das Bild selbst der Skandal. Der Pornografievorwurf verfolgt das Ziel, Kriegsfotografien zu skandalösen Bildern zu machen. Damit findet ein problematischer Ebenenwechsel statt, weg vom Ereignis, hin zur Ebene der Repräsentation.

Vom Fotojournalist zum Bilderkrieger

Anders als »War Porn« lebt »Bilderkrieger« nicht von den Bildern der Kriegsfotografen, sondern von deren Aussagen in Form ausführlicher Gespräche, die zu Interviewtexten editiert wurden. Der Übersetzer und Herausgeber der deutschen Ausgabe, Fred Grimm, und der Ankerherz Verlag wählten aus den 40 Interviews der amerikanischen Ausgabe, die im Original »Photojournalists on War – The untold stories from Iraq« heißt, die Hälfte aus und ordneten sie drei Themenblöcken zu: Mission, Krieg und Narben. Der Fokus liegt auf der Profession der Kriegsfotografen, weniger auf dem Ereignis des Irakkriegs. Ungeschminkt erzählen die männlichen wie weiblichen Fotojournalisten von ihrer Motivation, von ihrer Besessenheit zu fotografieren, von den Höhen und Tiefen des Arbeitsalltags, von den Risiken und Schwierigkeiten dieses Geschäfts. Sie lassen den Leser teilhaben an ihren Kriegserfahrungen, an den Auswirkungen der Konflikteskalation auf ihre Begegnung mit den Menschen im Feld, an ihren Selbstzweifeln und auch an ihrer Wut. Zutiefst menschlich sind die Geschichten, ehrlich und meist ohne Pathos. So war eine Motivation des Autors Michael Kamber für das Buch, den Heldenmythos des Kriegsfotografen zu zerstören.

Unklar bleibt nach der Lektüre, warum die deutsche Ausgabe den Titel »Bilderkrieger« trägt. Die Interviews jedenfalls lassen keine Rückschlüsse darauf zu, dass die Fotojournalisten sich selbst mit Soldaten vergleichen würden, wie es der Titel evoziert. Im Gegenteil: Sie sind fast alle von einer humanistischen Motivation getrieben. Der Titel »Bilderkrieger« ist reißerisch und nimmt Bezug auf die Debatte um den so genannten Bilderkrieg. Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff vor allem vom Kieler Geschichtswissenschaftler Gerhard Paul geprägt. In seinem monumentalen Überblickswerk »Der Krieg der Bilder« (2004) hat er sich der visuellen Darstellung des Krieges angenommen. Er verfolgt die zentrale These, dass Kriegsparteien Bilder als Waffen einsetzen. Mit dem Titel »Bilderkrieger« wird darauf Rekurs genommen. Professionelle Fotografen, die im Krieg Bilder produzieren, werden damit auf eine Ebene mit Soldaten gestellt. Die Unterscheidung zwischen beiden besteht nur noch in der Wahl der Waffen: Während der eine mit Waffen tötet, verbreitet der andere die Bilder und nutzt die Kamera als seine Waffe. Dass mit dieser Gleichsetzung der Akteure jedem journalistischen Anspruch Hohn gesprochen wird, ist offensichtlich.

Dabei kann nicht negiert werden, dass Fotojournalisten verstärkt für Propagandazwecke und »Image Operations« missbraucht werden. Zum Krieger werden sie deswegen jedoch nicht. Der Versuch, die Verantwortung für Tod und Gewalt vom militärischen Akteur auf den Beobachter abzuwälzen, hat gefährliche Implikationen für die Fotojournalisten. Wenn ein Fotograf ein Krieger ist, steht er auch nicht unter dem besonderen Schutz des Kriegsvölkerrechts und wird zu einem »legitimen« militärischen Ziel. Fotografen und Journalisten sind in den letzten zwei Jahrzehnten immer stärker zur Zielscheibe geworden. Aber gerade der Diskurs über den Bilderkrieg sowie die Praxis des »Embedment«, die letztlich eine Unterscheidung zwischen guten, schutzwürdigen Journalisten, die »embedded« sind, und unabhängigen Journalisten, die als Freiwild zum Abschuß freigegeben werden, mit sich bringt, hat diese Tendenz verstärkt. Darüber hinaus macht es die Gleichsetzung von Bildern mit Waffen leichter, Bildern professioneller Journalisten und den Ereignissen, die sie dokumentieren, die Legitimation abzusprechen und sie als Propaganda und Manipulation zu brandmarken, ohne sich mit den Inhalten beschäftigen zu müssen.

Versicherheitlichung der Debatte

Beide Begriffe, sowohl »Bilderkrieger« als auch »War Porn«, folgen somit einem ähnlichen Gedankengang und leisten einer Versicherheitlichung der Debatte um Kriegsbilder und die Arbeit von Kriegsfotografen Vorschub (Koltermann 2014, S.11 ff.). Vor allem seit der Diskussion um die so genannten »Neuen Kriege« (Münkler 2002) und um das Verhältnis von Medien und Krieg ist dies kennzeichnend sowohl für den öffentlichen Diskurs als auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu diesen Themen. Fast unhinterfragt ist die Rede vom »Bilderkrieg« zu einem Gemeinplatz geworden. Nur wenige Wissenschaftler, wie Kai Hafez (2007), mahnen, den Medien nicht zu viel Macht zuzusprechen und das Primat der Kriegspolitik nicht zu vernachlässigen.

Die Bilderkriegsthese folgt einem hegemonialen politischen Diskurs, der zum Ziel hat, die Medien zu Akteuren des Krieges zu machen und die Verantwortung von den Tätern in Uniform und den Akteuren auf der politischen Ebene auf den Journalismus abzuwälzen. Hier finden sich Parallelen zur Debatte über den »Cyberwar«, deren Apologeten Hackerangriffe als Kriegserklärung betrachten, die mit militärischen Mitteln zu beantworten seien. Die Bilderkriegdebatte schließt darüber hinaus an die Dolchstoßlegende des Vietnamkrieges an: Bis heute hält sich der Mythos, der Krieg in Vietnam sei verloren worden, weil die Medien die US-amerikanische Bevölkerung gegen die Regierung aufgewiegelt hätten, obgleich es dafür keinerlei empirische Nachweise gibt.

Dabei liegt weder die politische noch die individuelle Verantwortung für Krieg und Gewalt bei den Fotografen und Journalisten. Zwischen den Bildern bzw. zwischen den Zeilen machen dies auch die Bücher »War Porn« und »Bilderkrieger« mehr als deutlich.

Literatur

Christoph Bangert (2014): War Porn. Heidelberg: Kehrer.

Judith Butler(2009): Raster des Krieges. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Kai Hafez (2007): Die Überlegenheit des Realismus: »Bilderkriege«, »Iconic Turn« und die Ohnmacht der Medien. In: Lydia Haustein, Bernd M. Scherer, Martin Hager (Hrsg.): Feindbilder – Ideologien und visuelle Strategien der Kulturen. Göttingen: Wallstein Verlag, S.126-134.

Holger Isermann und Thomas Knieper (2010): Bildethik. In: Christian Schicha und Carsten Brosda (Hrsg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.304-317.

Michael Kamber (2013): Photojournalists on War – The Untold stories from Iraq. Austin: The University of Texas Press. Deutsche Ausgabe ders. (2013): Bilderkrieger – Von jenen, die ausziehen, uns die Augen zu öffnen. Kriegsfotografen erzählen. Übersetzt und bearbeitet von Fred Grimm. Hollenstedt: Ankerherz.

Felix Koltermann (2014): Fotografie und Konflikt – Texte und Essays. Norderstedt: BoD.

Herfried Münkler (2002): Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Gerhard Paul (2004): Bilder des Krieges – Krieg der Bilder: Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn: Schöningh.

Felix Koltermann ist Friedens- und Konfliktforscher, Trainer und Journalist. Er promoviert an der Universität Erfurt über die fotojournalistische Produktion in Israel und den palästinensischen Gebieten. Auf fotografieundkonflikt.blogspot.com bloggt er zum Thema.

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Military Blogs im Irakkrieg

von Johanna Roering

Mit der Verbreitung digitaler Medien können sich Akteure, die bislang nur Adressaten waren, selbst aktiv an der medialen Berichterstattung beteiligen. Auch Soldaten nehmen die neuen Möglichkeiten der Partizipation wahr. Die Autorin untersucht in diesem Artikel, wie sich US-amerikanische Soldaten während des Irakkriegs mittels Blogs an der Berichterstattung und Meinungsbildung zu diesem Krieg beteiligten. Kritiker des Pentagon hofften damals, diese Blogs könnten ein Korrektiv zu den Presseverlautbarungen des US-Verteidigungsministeriums sein. Und in der Tat lieferten »Military Blogs« zuweilen alternative Perspektiven auf den Irakkrieg – sofern sie nicht zensiert wurden. In der Regel machten sich die in militärische Strukturen eingebundenen Soldaten in ihren Blogs aber eher für pro-militärische Positionen stark.

Als sich 2002 der Einmarsch der USA in den Irak abzeichnete, spezialisierten sich viele Nachrichten-Blogs (Newsblogs) auf Informationen zur Kriegsvorbereitung. Unter den Bloggern waren auch einige ehemalige oder noch aktive Soldaten, die die Berichterstattung aus ihrer Sicht kommentierten oder ergänzten. So versuchte der Blogger Sgt. Stryker in seinem Blog »Sgt. Stryker's Daily Brief« ganz bewusst, als Gegengewicht zu den seiner Meinung nach anti-militärischen Medienanbietern wie CNN seine eigene, kriegsbefürwortende Position einzubringen: „Ich war von der Medienberichterstattung enttäuscht, vor allem von den Kommentaren, denn die schienen anachronistisch im Vergleich zu dem, was gerade passiert war. Als ich im Web surfte, stieß ich auf Instapundit. Ich dachte, was der kann, kann ich auch, so wurde aus meiner Star-Wars-Freak-Seite «Sgt. Stryker's Daily Brief«.“ (Stryker in Mudville Gazette 2005) Diese Newsblogs mit militärischem Schwerpunkt waren die ersten Military Blogs (kurz Milblogs).1

Unmittelbare Berichterstattung aus dem Krieg

Frühe Milblogs, wie »Sgt. Stryker's Daily Brief«, diskutierten zwar die Kriegsvorbereitungen, veröffentlichten aber selten eigenständig recherchierte Informationen. Kurz vor Kriegsanfang wurden jedoch einige neue Blogs von in Kuwait stationierten Soldaten erstellt und die nachrichtenbasierten Milblogs so um Augenzeugenberichte aus dem Kriegsgebiet ergänzt. Dass Soldaten überhaupt aus dem Kriegsgebiet schreiben konnten, lag an der Verfügbarkeit von Kommunikationstechnologien: Die technische Ausrüstung der meisten »Forward Operating Bases« in Kuwait und im Irak erlaubte es den dort stationierten Soldaten, verhältnismäßig regelmäßig mit ihrer Familie und Freunden zu kommunizieren (Dauber 2006, S.181). Sie konnten dort aber auch die mediale Berichterstattung, zum Beispiel auf CNN oder in der New York Times, ohne wesentliche zeitliche Verzögerung verfolgen und in ihren Blogs ebenfalls zeitnahe kommentieren.

Diese direkte mediale Beteiligung von Autoren vor Ort versprach einen unmittelbaren Zugang zu den Geschehnissen. In der Regel stand in den Milblogs allerdings nicht die Analyse, sondern der militärische Alltag im Vordergrund. Der Blogger Lt Smash, Soldat der US Navy, beispielsweise schrieb in seinem Blog »Live From the Sandbox« über seinen Aufenthalt in Kuwait und seine Teilnahme an den Kriegsvorbereitungen. Er berichtete über sein Training, den Arbeitsalltag und das Leben in Kuwait: „Schon wieder ein staubiger Tag heute. Dieses Mal ist es windig. […] Ich bleibe so viel ich kann drinnen. Heute habe ich einen aus meinem Team mitgebracht, damit er auf meinem Computer seine Mails checken kann.“ (Sharing the Wealth, 21.2.2003) Während der ersten Kriegstage, als sich die Fernsehberichterstattung mit Meldungen geradezu überschlug, stellte Smash den Brief einer Mutter, deren Sohn am 11. September 2001 gestorben war, und kurze Satiren zu Saddam Hussein in sein Blog (Memorandum, 20.3.2003), lieferte aber kaum Informationen zum Kriegsverlauf. Lt Smash konzentrierte sich auf das Alltagsleben und stellte die Leistungen und Opfer individueller Soldaten in den Mittepunkt, darunter den Unfalltod eines britischen Soldaten in Kuwait (For Robert, 29.3.2003).

Versuche der Zensur

Obwohl ständig neue Milblogs gegründet wurden, fanden sie in dieser frühen Phase kaum die Beachtung anderer Medienanbieter. Dies änderte sich erst, als der Milblogger Colby Buzzell vor den Augen seiner Leserschaft zensiert wurde. Im Juni 2004 hatte der amerikanische Infanterist Buzzell den Blog »My War« über seine Stationierung im Irakkrieg gestartet. Buzzell führte den Blog zwar unter einem Pseudonym, hatte jedoch seinen Stationierungsort im Irak und seine Einheit nicht verheimlicht. Als Buzzell im August 2004 in dem Eintrag »Men in Black« detailreich über Kampfhandlungen in Mosul berichtete, verbreitete sich der Text schnell in der Blogosphäre und wurde von Journalisten aufgegriffen (Gilbert 2004; The View From on the Ground 2004; Cooper 2004). Auch seine Vorgesetzten wurden auf den Eintrag aufmerksam und verboten Buzzell schließlich, den Blog auf diese Weise weiterzuführen (I'm Soo Fucked, 10.8.2004). Als Buzzell aufgefordert wurde, seine Einträge vor der Veröffentlichung einem Vorgesetzten zur Überprüfung vorzulegen, stellte er den Blog ein.

Das Medienecho zu Buzzell, weitere Zensurfälle, die Zuspitzung der Lage im Irak im Verlauf der Jahre 2005 und 2006 und die vielen Blog-Neugründungen – Ende 2005 gab es bereits mehr als tausend Military Blogs – führten in der Summe dennoch zu höheren Leserzahlen und verstärkter Medienrezeption (Roering 2012, S.85). Seit dem Truppenabzug aus dem Irak und der Popularisierung neuer sozialer Medien wie Twitter und Facebook nimmt die Zahl der Military Blogs jedoch wieder ab.

Milblogs zur Unterstützung von »Information Operations«

Blogger wie Blackfive und CJ Grisham hatten während des Irakkriegs als aktive Mitglieder des amerikanischen Militärs den Anspruch, positiv und produktiv zu dessen Aufgabenerfüllung beizutragen. Mr. and Mrs. Greyhawk vom Blog »Mudville Gazette« trugen beispielsweise wöchentlich Berichte über die Beiträge amerikanischer Soldaten zum Wiederaufbau zusammen und gaben ihnen auf ihrem häufig gelesenen Blog eine Plattform. Ein Offizier, der unter dem Pseudonym thunder6 das Blog »365 and a Wakeup« betrieb, beschrieb in seinem Augenzeugen-Blog ausführlich den Beitrag seines Bataillons zu den ersten demokratischen Wahlen im Irak. Diese Milblogger, die ihre Blogs oft mit politischer oder ideologischer Zielsetzung verbreiteten, sahen sich selbst nicht als Problem, sondern ganz im Gegenteil als Teil der Lösung, d.h. sie wollten eklatanten Mängeln der »Information Operations« der US-Streitkräfte entgegenwirken (Lawson 2008).

Wie das Beispiel von Colby Buzzell zeigt, teilte das US-Verteidigungsministerium diese positive Sicht auf Milblogs nicht. Im Oktober 2006 begann die Behörde gezielt damit, Blogs von Soldaten zu kontrollieren. Für viele Milblogger war die restriktive Haltung des Pentagon unverständlich. Für sie waren die Zensurversuche der Vorgesetzten nicht nur eine Beschneidung ihrer persönlichen Freiheit, sondern bewiesen gefährliche Ignoranz gegenüber den neuesten Entwicklungen im militärstrategischen Bereich.

Im Herbst 2009 veröffentliche das Center for Strategic Leadership des Army War College den Arbeitsbericht »Bullets and Blogs«. Die Autoren hielten fest: “Die momentane und künftige geostrategische Umgebung erfordert die Vorbereitung auf ein Schlachtfeld, auf dem symbolische informationelle Siege strategische Auswirkungen zeitigen, die tödlichen Kampfhandlungen gleichwertig sind oder diese sogar übertreffen. (Collings und Rohozinski 2009, S.14) In dem Bericht werden digitale Medien als die derzeitige Arena dieser symbolischen Kriegsführung identifiziert. Diese Einschätzung teilen viele Milblogger, die glauben, dass dezentralisierte und »persönliche« digitale Medien eine große Wirkkraft entfalten können.

Nach den anfänglichen Restriktionen wurden Milblogs im weiteren Verlauf des Irakkriegs von offizieller Stelle zumindest symbolisch anerkannt. Das Militär und die Regierung räumten nun ein, worauf die politischen Milblogger schon lange hingewiesen hatten: Zur Milblogging-Community gehört eine aktive Fraktion von Bloggern, die sich sowohl theoretisch als auch praktisch an der Verbesserung der »Information Operations« beteiligen wollen und die, vor allem in Bezug auf die positive Meinungsbildung in den USA, kein Risiko, sondern einen Gewinn für das Militär und das Pentagon darstellen.

Aus dieser Perspektive sind Milblogs nicht nur Kriegsberichterstattung und interpersonale Kommunikation, sondern auch eine Waffe in einem globalen, vernetzten und symbolischen Krieg.

Anmerkungen

1) Der Begriff »Milblog« kann nahezu jeden in Verbindung mit dem Militär stehenden Blog bezeichnen: sowohl soldatische Blogs aus Kriegsgebieten als auch Blogs von Veteranen, militärischen Beratern und Familienmitgliedern von Soldaten.

Literatur

Blackfive. www.blackfive.net (URL funktioniert nur bei Eingabe von »www«).

CJ Grisham: A Soldier's Perspective. soldiersperspective.com.

Colby Buzzell: My War: Killing Time in Iraq. cbftw.blogspot.com.

Colby Buzzell (2005): My War. New York: Putnam.

Deirdre Collings and Rafal Rohozinski (2009): Bullets and Blogs – Media and the Warfighter. An analytical synthesis and workshop report. Carlisle Barracks: Center for Strategic Leadership, US Army War College.

Christopher Cooper: Army Blogger's Tales Attract Censor's Eyes. Wall Street Journal, 9.9.2004.

Cori Dauber (2006): Life in Wartime -: Real-Time News, Real-Time Critique, Fighting in the New Media Environment. In: Thomas W. Britt: Military Life: The Psychology of Serving in Peace and Combat. Westport, Conn.: Praeger Security International, S.180 ff.

Michael Gilbert: Stryker Brigade Slammed By Insurgents. New Tribune, 10.8.2004.

Sean Trevor Lawson (2008): Info@War.Mil – Nonlinear Science and the Emergence of Information Age Warfare in the United States Military. Dissertation. Troy, New York: Rensselaer Polytechnic Institute.

LT Smash: lt-smash.us. 03.11.2010; Zugang über web.archive.org.

Mudville Gazette. mudvillegazette.com.

Mudville Gazette: A Brief History of Milblogging. 11.11.2005.

Johanna Roering (2012): Krieg bloggen – Soldatische Kriegsberichterstattung in digitalen Medien. Bielefeld: transcript.

Sgt Stryker's Daily Briefing, www.sgtstryker.com, 21.09.2010.

The View From on the Ground. Kommentar, L.A. Times, 5.9.2004.

Thunder6: 365 and a Wakeup. thunder6.typepad.com.

Dr. Johanna Roering ist wissenschaftliche Angestellte am Fachbereich Neuphilologie; Abteilung für Amerikanistik, der Universität Tübingen. Sie arbeitet zudem als freie Journalistin.

Der georgisch-russische Medienkrieg

Der georgisch-russische Medienkrieg

von Jörg Becker

Kriege brechen nicht aus sondern werden gemacht, und bei den Vorbereitungen spielt die Einstimmung der Öffentlichkeit eine große Rolle. Im Gedächtnis haften blieb beispielsweise die Medienkampagne der PR-Agentur Hill & Knowlton, die 1990 nach dem Einmarsch des Irak in Kuwait im Auftrag der Gruppe »Bürger für ein freies Kuwait« die Stimmung in den USA und der Weltöffentlichkeit so anheizen sollte, das die USA dem Irak den Krieg erklären – was Anfang 1991 dann auch geschah. Im August 2008 führten Russland und Georgien einen kurzen Krieg. Der begleitende Medienkrieg, wieder unter Beteilung von PR-Experten, ist bis heute nicht beendet.

Der amerikanisch-französische Schriftsteller Jonathan Littell hat nicht nur den Bestseller »Die Wohlgesinnten« veröffentlicht, sondern auch ein »Georgisches Reisetagebuch« über seine Reise in den Kaukasus im August 2008 (Berlin-Verlag, Oktober 2008). Darin findet der Leser – quasi ganz nebenbei – auch die folgende Passage:

„Konkurrierende Versionen [über den Kaukasuskrieg vom August 2008], denen sehr reale politische Interessen zugrunde liegen, werden durch einen aufwendigen, mehr oder weniger raffinierten PR-Apparat – das, was man früher Propaganda nannte – unterstützt. Auf der russischen Seite bleiben die Methoden ziemlich primitiv: Während die Bürger, da der Kreml die Presse fast vollständig kontrolliert, kaum eine Alternative zur offiziellen Version der Ereignisse haben, ist diese für ausländische Beobachter wenig überzeugend, so wenig wie die ursprüngliche Anschuldigung des »Völkermords«. Auf der georgischen Seite dagegen bedient man sich modernster Methoden. So hat die Regierung eine belgische PR-Firma, Aspect Consulting, damit beauftragt, ihre Sicht der Außenwelt zur Kenntnis zu bringen. Der Firmengründer Patrick Worms, den die russischen Medien »den belgischen Meister der schwarzen PR« getauft haben, hat in jeder wichtigen europäischen Hauptstadt eine Arbeitsgruppe eingerichtet und setzt täglich eine Flut von Informationen und Schönfärbereien in die Welt, die die offizielle Version glaubhafter machen soll. Persönlich scheint er an das zu glauben, was er verbreitet.

»Hier draußen braucht man nicht aus Scheiße Gold zu machen.« Eines seiner größeren Projekte, das er zusammen mit Giga Bokeria [dem stellv. Außenminister Georgiens] realisierte, war eine offizielle Chronologie der Ereignisse, die Ende August an ausländische Journalisten und Diplomaten in Tiflis verteilt wurde. Nun wird aber in dieser so genannten Zeitschiene der Aggression ohne irgendeinen Beweis einfach festgestellt: »Ungefähr 150 Panzer- und Militärfahrzeuge der regulären russischen Armee drangen am 7. August in den Roki-Tunnel ein und rückten gegen Zchinwali vor.« Patrick Worms hat einigen Journalisten einen Entwurf dieses Dokuments vorgelegt, in dem er den von Bokeria vorgeschlagenen Text kommentiert. An dieser Stelle lautet seine Anmerkung vom 21. August: »Wann genau? Und woher wissen wir das? Und seit wann wissen wir es? Bevor sie in den Roki einfuhren oder seit sie ihn verlassen haben? Das ist der entscheidende Punkt, von dem alles, was wir sagen oder tun, abhängt!« Gute Fragen, die in der endgültigen Version unbeantwortet bleiben.“

Was ein Schriftsteller in dieser Passage quasi nebenbei erzählt, lässt sich auch wissenschaftlich recherchieren, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, da PR-Agenturen das Licht scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

PR-Agenturen für die georgische Regierung

Die georgische Regierung unter Micheil Saakaschwili hat alleine im Jahre 2008 eine größere zweistellige Millionensumme an amerikanischen Dollars für Medienmanipulation, Werbung und Public Relations ausgegeben, um ihr Image als junge westlich orientierte Demokratie bei der NATO, in den USA und in Westeuropa hoffähig zu machen. Im Jahre 2008 verteilten sich Lobbying und PR für Saakaschwili auf drei westliche Profis: Orion Strategies, Squire-Sanders Public Advocacy – beide mit Sitz in Washington – und Aspect Consulting in Brüssel, London, Paris und zeitweilig auch Tiflis. Die Orion-Gruppe war in der Hand des Lobbyisten Randy Scheunemann, dem früheren außenpolitischen Berater des republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten John McCain, und bei Squire-Sanders hatte das Sagen Patrick O’Donnell, früher Rechtsberater der ehemaligen US-Präsidenten Nixon und Ford.

Der wichtigste PR-Partner für die georgische Regierung war aber bis vor kurzem die PR-Agentur Aspect. Der deutsche PR-Spezialist Patrick Worms, der zuvor unter der früheren Kommissarin Margot Wallström in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der EU-Kommission gearbeitet hatte, und der englische PR-Spezialist James Hunt sind Gründer und Senior-Partner von Aspect Consulting, einem Unternehmen mit rund 40 Mitarbeitern. Nach Eigenauskunft auf ihrer Homepage geht Aspect davon aus, dass „Kommunikation der wichtigste Schlüssel zu geschäftlichem und organisatorischen Erfolg“ ist. Ein spezielles Gebiet von Aspect sind politische Kommunikation und Krisenmanagement: „80 Prozent eines Krisenmanagements bestehen aus Vorbereitung und Planung. Das Aspect-Team entwickelt Systeme und Prozesse, um sich auf operationale und attitudinale Krisen vorzubereiten. Wir bieten Hilfe von außen und sichern zu, dass robuste Systeme dann zur Stelle sind, wenn es eine Krise gibt. Wir managen auch den schlimmsten Fall, sollte er denn eintreten.“ (Beide Zitate stammen von der Homepage 2008.) Zu den kommerziellen Kunden von Aspect zählen u. a. McDonald’s Europe, Kraft Foods, Akzo Nobel, die deutsche Linde AG, Pepsico, Unilever oder Kellogg’s; zu seinen politischen Kunden schweigt sich Aspect freilich aus. Von den beiden Aspect-Gründern gilt James Hunt in der PR-Branche als »Mann fürs Grobe«. In der globalen Medienöffentlichkeit hat er schon so manches Meisterstück abgeliefert: Während der Brent-Spar-Krise 1995 half er erfolgreich dem Öl-Multi Shell, in der BSE-Krise 2000 schaffte er es, McDonald’s aus den negativen Schlagzeilen heraus zu holen und in späteren Krisen wischte er gekonnt die Bedenken von Gegnern genetisch manipulierter Saatgüter vom Tisch der Öffentlichkeit. In Tiflis war Aspect seit November 2007 mit 50 georgischen Mitarbeitern aktiv, um im Auftrag des georgischen Präsidenten und der georgischen Regierung das Bild Georgiens im Westen zu verbessern und um den erwünschten EU- und NATO-Beitritt medial vorzubereiten. Insider schätzen, dass Aspect dafür einen Betrag von 750.000 US$ erhalten hat.

Während in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 bereits georgische Truppen und Panzer nach Süd-Ossetien einbrechen und schlafende Menschen töten, demonstriert die georgische Regierung das, was Aspect „robustes Krisenmanagement“ nennt: Am Morgen des 8. August 2008 veranstaltete der georgische Premierminister Lado Gurgenidze ein gut besuchtes Investorentreffen mit fünfzig wichtigen US-amerikanischen Bankern. Hier intonierte Aspect die Melodie, die dann in den nächsten Kriegstagen erfolgreich durch die globale Medienwelt ging: „Brutal erdrückt der grausame russische Bär ein kleines demokratisches Land!“ Und Staatspräsident Micheil Saakaschwili kann genau diese Botschaft in vielen Interviews mit CNN und BBC ein ums andere Mal wiederholen, findet sogar am 11. August 2008 – also mitten im Krieg – Zeit, unter dem Titel »Der Krieg in Georgien ist ein Krieg für den Westen« einen eigenhändigen Beitrag für das Wall Street Journal zu schreiben.

Allein am Sonntag den 10. August 2008 verschickte Aspect 20 Presseinformationen an alle wichtigen westlichen Medien – insgesamt 70 waren es an den gesamten fünf Kriegstagen. Die Sprache dieser Mitteilungen war klar und deutlich. „Russland attackiert nach wie vor Zivilbevölkerung“, „intensives“ Bombardement der Hauptstadt Tiflis, europäische „Energiezufuhr“ durch russische Bomben nahe an Pipelines gefährdet, russische Blockade eines „humanitären Schiffes mit Weizen“, „Besetzung Georgiens“. Saakaschwili unterrichtet den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag über die Gefahr „ethnischer Säuberungen“.

Zwar waren Aspect-Meldungen, dass russische Jets Tiflis intensiv bombardieren würden und dass russische Truppen Gori eingenommen hätten, krasse Lügen, doch bestand die Sprache der Pressemitteilungen aus genau den Wörtern und Begriffen, die die westlichen Medien aus den Balkankriegen kannten – zivile Opfer, humanitär, Besetzung, ethnische Säuberung – und die damals die psychologische Vorbereitung und Einstimmung der Bevölkerung für eine »humanitäre Intervention« der NATO waren. Nach Ende der Kampfhandlungen sagte James Hunt in einem Interview mit dem Fachmagazin »PR Week«: „Es gibt Agenturen, die für Russland arbeiten. Ich weiß nicht, wie man sich bei einem derartigen Auftraggeber wohl fühlen kann. Ich glaube, ich war einfach auf der Seite der Engel. Bei den Journalisten haben wir ganz einfach an das Gefühl von richtig und falsch appelliert.“

Inzwischen ist dieser reale Krieg vom August 2008 längst vorbei und eine von der EU-Kommission eingesetzte Untersuchungskommission, die so genannte Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia vom September 2009 unter Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini, hat eindeutig und unzweifelhaft auf Seite 19 im 1. Berichtsband festgestellt: „Die offenen Feindseligkeiten begannen mit einer großen georgischen Militäroperation gegen die Stadt Tskhinvali und Umgebung in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008. Diese Operation begann mit einem massiven georgischen Angriff der Artillerie.“

Georgisch-russischer Medienkrieg

Diese beiden Sätze wurden bislang in keinem georgischen Massenmedium erwähnt, und wenn auch der reale Krieg längst vorbei ist, so geht der Medienkrieg zwischen Georgien und Russland unverdrossen weiter.

Medienmanipulation in Georgien

Das in Tiflis in Georgien erscheinende englischsprachige Magazin »Weekly Georgian Journal« zeigte auf dem Titelblatt seiner Ausgabe vom 12. bis 18. November 2009 einen jungen russischen Soldaten, der die vier georgischen Jugendlichen bewacht, die Anfang November die Grenze von Georgien nach Südossetien überquerten und dort seitdem widerrechtlich zurück gehalten werden. Doch der Leser traut seinen Augen kaum. Auf dem Ärmel der russischen Uniformjacke prangt ein großes Hakenkreuz! Wie bitte? Ein Hakenkreuz auf einer russischen Uniform? Eine Bildmontage, um die Russen medial mal wieder kräftig ins Reich des Bösen zu verdammen. Im Zeitalter digitaler Bildmanipulationen im übrigen eine recht plumpe Fälschung – hier wurde offensichtlich noch mit Schere und Klebstoff manipuliert.

Wer dieses Bild sieht und analysiert, wundert sich kaum, denn regierungsunabhängige Medien gibt es in Georgien nicht. Vielmehr drangen zum Beispiel Spezialeinheiten der Regierung Saakaschwili am 7. November 2007 in den Senderaum des oppositionellen TV-Senders »Imeti» (Hoffnung) ein und übernahmen ihn. Stattdessen gibt es seit 2007 mit »Sakartvelo« (Georgien) sogar ein staatliches Militärfernsehen, das die Bevölkerung mit martialischen Kriegsfilmen zu Patriotismus und Militarismus erziehen will, so wie das auch in den regierungsamtlichen Jugendcamps passiert, in denen allein von 2004 bis 2010 rund 100.000 georgische Jugendliche zu autoritärem Verhalten und Führerkult erzogen wurden. Und im staatlich kontrollierten TV-Kanal 1 gibt es durchaus auch mal eine Kinderstunde, in der Kinder im Kindergartenalter die Grenzen Georgiens mit Soldaten umstellen und dabei auch Schiffe an Georgiens Westküste im Schwarzen Meer einsetzen. Genauso wenig, wie es in Georgien unabhängige Medien gibt, genauso wenig gibt es eine unabhängige Opposition, da zum Beispiel die lang anhaltenden und großen Demonstrationen gegen Saakaschwili auf den Straßen von Tiflis im Frühjahr 2009 von der georgischen Mafia unter Leitung von Lascha Schuschanaschwili unterwandert worden waren.

Spielfilm »5 Days of War«

Im Juni 2011 hatte der Jubel- und Kriegsfilm »5 Days of War« des finnisch-US-amerikanischen Filmregisseurs Renny Harlin vom Filmstudio Rexmedia aus Los Angeles seine Premiere. Hier werden die Russen als Bestien und Wilde gezeigt und Saakaschwili wird nochmals als Opfer und Sieger abgefeiert – da ist es völlig egal, wie die historische Wahrheit aussieht. In den USA erhielt dieser Film bei der Altersfreigabe ein »R« (Restricted), da er extrem gewaltätige und blutige Kriegszenen und -verbrechen mit besonders obzönen Dialogen enthält..

Wer hat diesen Multi-Millionen-Film mit dem kubanisch-US-amerikanischen Hollywoodschauspieler Andy Garcia in der Rolle von Saakaschwili bezahlt? Befragt man Rexmedia, ob die georgische Regierung den Film bezahlt habe, wird das strikt zurück gewiesen, der Film werde völlig normal finanziert, nämlich durch „Private-equity-Kapital, Vorverkäufe und Bankenfinanzierung“. Wer sich nach dieser Auskunft freilich hinter dem Private-equity-Kapital verbirgt, muss offen bleiben – es könnte sowohl der georgische Staat als auch das International Republican Institute sein, in dem der US-amerikanische Georgien-Lobbyist Randy Scheunemann Sitz und Stimme hat. Im Kino ist der Film gefloppt.

Der Disput zwischen »First Caucasian TV« und Eutelsat

Im Januar 2010 warf der in Georgien ansässige russischsprachige TV-Sender »First Caucasian« der russischen Firma Gazprom-Media (www. gazprom-media.com) vor, die Ausstrahlung seines TV-Programms in Russland dadurch zu blockieren, indem sie alle entsprechenden Frequenzen des Eutelsat-Satelliten aufgekauft habe. Georgien beschuldigte Russland zum wiederholten Mal, einen Propagandakrieg zu führen und den Satellitenbetreiber Eutelsat unter Druck zu setzen, während Russland argumentierte, Eutelsat wende ausschließlich betriebswirtschaftliche Kriterien an. Die westlichen Medien thematisierten diesen Konflikt in aller Breite:

Georgian TV ’blocked by Russia‘“ (BBC, 1. Februar 2010)

„Georgia Russian-language TV channel has troubled start“ (BBC, 2. Februar 2010)

„Georgian TV Channel Says Russian Company Elbowed It Off the Air“ (The New York Times, 2. Februar 2010)

„First Caucasian TV takes Eutelsat to court“ (AFP, 4. Februar 2010)

„A Clear Signal From Eutelsat“ (WSJE, 4. Februar 2010)

„Kremlin’s reach – Letter to the Editor“ (The Times, 4. Februar 2010)

„Georgian TV channel loses French »censorship« case“ (BBC, 14. Juli 2010)

„Russian-language Georgian TV to start broadcasting“ (BBC, 25. Januar 2011).

Ausblick

Das Problematische am georgisch-russischen Krieg ist nicht so sehr, dass für Entscheidungen in der internationalen Politik erstens ein Medienkrieg wichtiger ist als ein realer Krieg und dass zweitens dieser Medienkrieg noch andauert. Nein, viel wichtiger und folgenschwerer sind folgende Zusammenhänge:

Während die Brüsseler PR-Agentur Aspect Consulting für Georgien arbeitet(e), war eine andere Brüsseler PR-Agentur für Russland aktiv, nämlich die Europa-Abteilung von Gplus. Mit anderen Worten: So mancher in den Medien porträtierte Konflikt hat nichts mit dem wirklichen Konflikt zu tun, sondern ist ein sozial konstruierter Konflikt von zwei ökonomisch miteinander konkurrierenden und um die mediale Aufmerksamkeit ringenden PR-Agenturen.

Bei allen wichtigen internationalen Konflikten geht es den mit der sozialen Konstruktion daran beteiligten PR-Agenturen primär und in allererster Linie darum, ihre Botschaften in US-amerikanischen Medien zu platzieren, um das Handeln der US-Regierung und der US-Abgeordneten im Senat und Abgeordnetenhaus im Sinne ihrer sie bezahlenden Auftraggeber zu beeinflussen. Diese US-amerikanische Komponente verdient mehr Aufmerksamkeit als bisher.

Galt die Presse einer kritischen Kommunikationstheorie früher stets als Manipulationsinstrument (wie differenziert oder simpel auch immer die Theoriebildung war: komplex bei Adorno und als Modell einer Konsensfabrik äußerst simpel bei Chomsky), so hat die Presse diese gesellschaftliche Funktion gegenwärtig weitgehend an die PR-Industrie abgegeben. Zwar kann man ihr zugute halten, »mitgehangen, mitgefangen« zu sein, doch fallen die Gewichtungen immer ungünstiger für die Presse aus, und inzwischen wurde sie weitgehend zum Manipulationsopfer der PR-Industrie.

Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag für die »Political Economy Section« der Konferenz der »International Association for Media and Communication Research«, die vom 13. bis 17. Juli 2011 in Istanbul/Türkei stattfand. Jörg Becker ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkt: internationale Medienpolitik.

Digitale Revolution?

Digitale Revolution?

Soziale Netzwerke in Nordafrika

von Nazir Peroz

Elektronische Medien haben die politischen Aktionsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft verändert – und das nicht nur »im Westen«. Das Internet spielt z.B. in China eine große Rolle. Und nun bewies es seine Tauglichkeit zur Mobilisierung auch im arabischen Raum.

Seit dem Beginn der politischen Unruhen in Tunesien überschlagen sich in Nordafrika die Ereignisse – und die Weltöffentlichkeit ist immer gut informiert. Junge Tunesierinnen und Tunesier und Online-Aktivisten, die sich überwiegend mit Mobiltelefonen über Internet-Anwendungen vernetzten, erreichten so von Anfang an mit ihrer Stimme die Weltöffentlichkeit und verbreiteten aktuellste Informationen (Essa 2011). Diese Bewegung wurde möglich, weil die staatliche Kontrolle im Internet – anders als in China oder dem Iran – in Tunesien aufgrund mangelhafter Fachexpertise des technischen Personals unzureichend war. Dem Beispiel der tunesischen Protestbewegung folgten Aktivisten in Nachbarländern mit ähnlichen politischen Verhältnissen und brachten weitere Regierungen, z.B. im Jemen, in Ägypten, in Libyen und in Syrien, ins Wanken und teilweise sogar zum Sturz. Die Machthaber in Ägypten versuchten anfangs zwar gezielt, Kommunikationswege abzuschalten, konnten dies aber nicht dauerhaft durchsetzen (Schumann 2011).

Bedeutung des Internet und der digitalen Netzwerke

Die flächendeckende Verbreitung des Internet begann zunächst mit der kommerziellen Nutzung der E-Mail-Kommunikation Anfang der 1990er Jahre. Wenige Jahre später entwickelte sich das World Wide Web zum Standard für die Verbreitung von Informationen jeder Art. Es gilt als eine der größten Veränderungen der Medienlandschaft seit der Erfindung des Buchdrucks, mit großen Auswirkungen auf verschiedenste Bereiche des alltäglichen Lebens.

Eine zunehmende Bedeutung erhält das Internet durch die Nutzung von digitalen sozialen Netzwerken. Die Benutzer erstellen dabei eigene Inhalte und können selbst aktiv werden, z.B. durch die Verbreitung von Informationen oder die Mobilisierung zu Aktionen. Zu den bekanntesten dieser Dienste gehören Facebook, Myspace, Twitter, XING und Linkedln.

In kurzer Zeit entwickelten sich die digitalen sozialen Netzwerke zu einem neuen Kommunikationsmedium, welches sich zum Austausch und zur Weiterverbreitung von Informationen und damit auch zum Mittel der politischen Bildung entwickelt hat. Das Internet und die digitalen sozialen Netzwerke beeinflussen inzwischen den Alltag und prägen die persönliche Lebensgestaltung vieler Menschen sowie die Entwicklung des gesellschaftlichen Raumes. Sie geben Menschen, die in geschlossenen, autoritären Systemen leben, neue Hoffnung und stellen sie auch vor neue Herausforderungen. Hier kann sich jede Nutzerin und jeder Nutzer zum politischen Geschehen äußern. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer kann sowohl Sender als auch Empfänger sein.

Somit kommt dem Internet heute eine ganz neue politische Bedeutung zu. Dies erkannten auch die Menschen in Tunesien und in Ägypten. Vor allem junge Menschen in diesen Ländern nutzen die digitalen sozialen Netzwerke, um die Weltgemeinschaft nach Jahrzehnten der Unterdrückung auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Sie schufen eine Weltöffentlichkeit und drängen mit Nachdruck auf politische und gesellschaftliche Veränderung in ihren Ländern.

Auch wenn auf den Bildern und in den Berichten alle Aktionen sehr spontan aussehen – es bedarf doch außer dem ungeheuren Veränderungswillen, der durch wirtschaftliche Not, Steigerung der Nahrungsmittelpreise und Perspektivlosigkeit der jungen Menschen ausgelöst wird, auch einer gewissen Koordination, also einer politischen Bewegung. Eine solche Bewegung bewirkt gleichzeitig eine virtuelle politische Bildung entlang der eigenen politischen Interessen und fördert durch die Diskussion von Befindlichkeiten, Kritik, Weltanschauungen etc. einen kulturellen Wandel.

Diese politische Bewegung hat vielen Menschen in Staaten mit ähnlichen politischen Verhältnissen die Hoffnung gegeben, ihr politisches Schicksal selbst bestimmen zu können. Was diese Menschen wollen, ist Demokratisierung der Gesellschaft, Freiheit, Wohlstand, Selbstbestimmung und letztlich eine offene Gesellschaft, Transparenz sowie die Verwirklichung von Menschenrechten.

Das Internet als Instrument politischer Bewegungen

Grundsätzlich können das Internet und die digitalen sozialen Netzwerke der Entwicklung von Demokratie und Partizipation nützlich sein. Sie erleichtern und ergänzen alle Formen der Beteiligung an Diskussionen und Debatten. Die digitalen sozialen Netzwerke fördern den Austausch zwischen Menschen innerhalb einer Gesellschaft und erhöhen damit politische Teilhabe und Einflussnahme.

Bewegungen, die versuchen, auf politische Entscheidungen oder die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen, brachten sich früher auf der Straße oder über Printmedien zu Gehör. Mit dem Internet und den digitalen sozialen Netzwerken hat sich das geändert, außerdem wurde die Kommunikation stark beschleunigt. Online-Diskussionen und Online-Propaganda sind daher geeignete Instrumente zur Verbreitung und Umsetzung politischer Forderungen. (Dies gilt natürlich ebenso für die Verbreitung populistischer Parolen durch radikale Kräfte. (Konopka 2011))

Mittels digitaler sozialer Netzwerke werden Individuen und Gruppen in die Lage versetzt, sich zu bestimmten Anlässen oder Themen zusammenzuschließen, um Ziele gemeinsam durchzusetzen. Interessant ist dabei, dass in digitalen sozialen Netzwerken der räumlich abwesende Mensch Präsenz zeigt und auf vielen Aktionsfeldern gleichzeitig virtuell aktiv sein und eine Vielzahl politischer Ziele unterstützen kann. Das Beispiel der nordafrikanischen Staaten hat gezeigt, wie digitale soziale Netwerke dabei helfen, innerhalb kurzer Zeit politisch geschlossene Systeme zu sprengen.

Eine besonders wichtige Rolle nehmen die neuen Kommunikationsformen offenbar bei der Organisation des transnationalen Protests und der transnationalen Solidarisierung ein. Von wesentlicher Bedeutung für die Arbeit und die Selbstdarstellung zivilgesellschaftlicher Gruppen scheint die Möglichkeit zu sein, Informationen zu sammeln und an Mitglieder und die interessierte Öffentlichkeit via Websites, Mailinglisten oder Mobiltelefone zu verbreiten. Umgekehrt können interessierte Menschen selbst einfach Informationen direkt bei den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren abrufen und sich im Netz artikulieren. Zu beobachten sind auch Fälle, in denen es Nutzerinnen und Nutzern gelingt, beispielsweise über Weblogs (Blogs) Einfluss auf politische Themen auszuüben.

Kluft durch fehlende Voraussetzungen

Die digitalen sozialen Netzwerke sind ein komplexes Phänomen, das von zahlreichen sozialen, wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und technischen Faktoren abhängt. So setzt die Nutzung der Potenziale des Netzes als Raum politischer Kommunikation neben Medienkompetenz auch politisches Wissen, Engagement sowie vor allem funktionierende IT-Strukturen voraus. Die neuen Formen der Kommunikation im Internet und der damit verbundene kulturelle Wandel stellen viele Länder also vor große Herausforderungen.

Zwar kann die Nutzung der digitalen sozialen Netzwerke nach den Ereignissen in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern in der Region sicherlich als Chance zur Unterstützung und Stärkung der Demokratiebewegung und allgemein der politischen Bildung, der Selbstdarstellung, der Meinungsbildung und der Mobilisierung der Massen verstanden werden. Mit wachsendem Gewicht der sozialen Medien steigt aber auch die Gefahr der Exklusion. Vor allem in Afrika, Südamerika und Asien haben zahlreiche Menschen aufgrund ihres sozioökonomischen Status, Bildungsabschlusses, Alters etc. keinen Zugang zu digitalen sozialen Netzwerken und sind damit vom Zugang zu politischen Informationen, der Transparenz politischer Prozesse und auch der Teilhabe an Entscheidungsfindungen und damit von der aktiven Teilhabe an der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Wenn Menschen, unabhängig davon, an welchen Orten und zu welcher Zeit sie sich befinden, zur Partizipation an der Gesellschaft, zur Selbstbestimmung ihres Handelns durch politisches Bewusstsein und zur Kommunikation zwischen politischen Akteuren befähigt werden sollen, dann ist es notwendig, allen gleichermaßen die Voraussetzungen zur Nutzung des Internets zu ermöglichen, damit sie sich eben jene Informationen beschaffen und Fähigkeiten aneignen können. Das aber braucht Zeit.

Internetpräsenz hängt von soliden und funktionierenden IT-Strukturen ab, vor allem von der zuverlässigen Versorgung der erforderlichen Geräte mit Elektrizität. Ohne Strom funktionieren weder Computer noch das Internet. Aber gerade daran fehlt es in vielen Ländern. Nur etwa 8% der ländlichen Bevölkerung in Afrika sind an das Stromnetz angeschlossen. In einigen Ländern fällt der Strom landesweit häufiger für eine ganze Woche aus. In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten afrikanischen Land, haben nur ca. 40% der Bevölkerung Zugang zu Elektrizität (Peroz 2010). Der Bevölkerungsanteil mit Zugang zum Internet liegt in den USA bei über 74% und in Westeuropa bei über 50%. Neueste Zahlen zeigen, dass von ca. 991 Millionen Einwohnern in Afrika nur ungefähr zehn Millionen Zugang zum Internet haben.

Doch nicht nur die fehlende IT-Infrastruktur ist ein Problem. Es sind auch Ungleichheiten in der Bildung und in der Ausbildung, die Mängel an der Medienkompetenz verschärfen, anstatt bildungsschwache Menschen gezielt zu fördern. So haben ca. 90% der afrikanischen Internetnutzer eine Hochschulausbildung und kommen aus der einkommensstärksten Schicht (Peroz 2010). Für die übrigen Menschen fehlen in der Regel politische Bildungsprogramme, die auch nachhaltig umgesetzt werden.

Das erste Ziel der globalen Initiative »Bildung für alle«, die im Jahr 2000 auf dem Weltbildungsforum in Dakar von der UNESCO gestartet wurde (UNESCO o.J.) – allen Kindern bis zum Jahr 2015 den erfolgreichen Abschluss der Primarschule zu ermöglichen – wird von vielen dieser Ländern nicht erreicht werden, weil die Voraussetzungen hierfür fehlen. Verschärft wird die Lage in vielen Ländern durch mangelhafte Verwaltungsstrukturen, ineffektive Bürokratie, Korruption und andere Faktoren.

Die massiven Protestbewegungen der letzten Monate haben bereits zum Sturz einiger Machthaber in den nordafrikanischen Ländern geführt. An den Macht- und Verwaltungsstrukturen, an Bürokratie, Korruption und anderen behindernden Faktoren hat sich jedoch bislang kaum etwas geändert. Es ist nun die Aufgabe der neuen Regierungen dieser Länder und der Weltgemeinschaft, diese Strukturen nachhaltig zu reformieren und damit die Motivation und den Antrieb der jungen Menschen zur Veränderung zu erhalten, um ihnen eine Perspektive zu ermöglichen und die Länder vor künftigem Chaos zu bewahren.

Literatur

Azad Essa: In Search of an African revolution. International media is following protests across the »Arab world« but ignoring those in Africa. Al Jazeera, 21.2.2011.

Harald Schumann: Digitaler Krieg: Was ist der Cyberwar? Tagesspiegel vom 30. Januar 2011, S.2.

Nazir Peroz (2009): IT-Strategie und politische Bildung für arme Länder. In: Bernd Overwien und Hanns-Fred Rathenow (Hrsg.): Globalisierung fordert politische Bildung. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

Melitta Konopka: Das Internet als Instrument zur politischen Mobilisierung. 26. Juli 2011; suite101.de.

Nazir Peroz (2010): Strategieentwicklung für bestimmte Entwicklungsländer im Bereich Informationstechnologie. Berlin: Pro BUSINESS GmbH.

Deutsche UNESCO Kommissione.V. (o.J:): Bildung für alle; unesco.de/efa.html.

Dr. Nazir Peroz ist Leiter des Zentrums für internationale und interkulturelle Kommunikation (ZiiK) an der Fakultät Elektrotechnik und Informatik der TU Berlin. Er leitet das Arbeitsgebiet Informatik und Entwicklungsländer.

Pressefotografie und Kriegs-Realität

Pressefotografie und Kriegs-Realität

Der Gaza-Krieg in FAZ und SZ

von Felix Koltermann

Wenn gewalttätige Konflikte zu Kriegen eskalieren, kommt der massenmedialen Berichterstattung eine wichtige Rolle zu. Dies gilt auch für den Gaza-Krieg, der zum Jahreswechsel 2008/09 über die Nachweihnachtszeit herein brach. Ein elementarer Teil der Berichterstattung war dabei die Pressefotografie. Um die stetige Bedeutungszunahme von Bildern und deren Allgegenwart in den Massenmedien zu beschreiben, ist heute viel vom sogenannten »Pictorial Turn« oder »Iconic Turn« die Rede. Im Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzungen stehen Bilder jedoch selten. Um diese Lücke zu füllen, wurden in einer Produktanalyse die Bildberichterstattung der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) und der »Süddeutschen Zeitung« (SZ) über den Gaza-Krieg miteinander verglichen. Der Untersuchung lag die Annahme zu Grunde, dass die Bildberichterstattung eine besondere Form der Wirklichkeitskonstruktion darstellt und mediumspezifische »Bilder« des Gaza-Kriegs zeichnet.

Seit Beginn massenmedialer Berichterstattung haben Bilder in den Printmedien die Funktion von Eye-Catchern. Sie lenken den Blick des Betrachters auf eine Publikation und sollen Interesse wecken. Dabei ist die Visualisierung in den Printmedien heute zu einem eigenen Nachrichtenfaktor geworden. Neu ist die Bedeutungszunahme von Bildern im letzten Jahrzehnt. In der Publikationspraxis zeigt sich dies unter anderem daran, dass sich von 2000 bis 2006 die mittlere Anzahl der Bilder pro Seite erhöht hat (vgl. Grittmann 2008: 227). Dazu kommt, dass einige Medien wie die FAZ dazu übergegangen sind, auch ihre Titelseite zu bebildern. Dies entspricht ganz entscheidend dem Konsumverhalten der Nutzer, wie eine Untersuchung von Müller zeigt. Sie weist nach, dass der Blick auf eine Zeitungsseite ganz entscheidend von Bildern geleitet wird und nur ein kleiner Teil der Betrachter einen Artikel komplett zu Ende liest (Müller 2001: 27).

Funktion von Bildern

Bildern muss in der wissenschaftlichen Analyse aufgrund der im vorhergehenden Absatz skizzierten Bedeutung eine verstärkte Aufmerksamkeit zukommen. Stärker als Text genießen sie beim Rezipienten einen Vertrauensvorschuss. Laut Leifert fungieren sie „[t]rotz aller berechtigter Zweifel (…) als Belege im Sinne von »es ist so gewesen« (…)“ (Leifert 2007: 247). Sie komprimieren die Realität1 und verdichten „Ausschnitte der Realität zu einem enträumlichten und entzeitlichten Gesamteindruck“ (Müller 2003: 86). Das entstandene Produkt kann laut Haller als versinnbildlichter Ausdruck dessen gelten, „was insgesamt das Geschehen ausmacht“ (Haller 2008: 276). Insbesondere bezogen auf die Darstellung von Kriegen und Konflikten haben Bilder nach Ansicht von Link die Funktion, maximale Authentizität herzustellen (vgl. Link 2000: 246). Sie suggerieren journalistische Objektivität und damit auch, dass ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat, und werden im Prozess der Bedeutungskonstruktion zur visuellen Evidenz für die geschriebene Geschichte (vgl. Woodward 2007: 12). Dabei können Bilder aufgrund ihrer technischen Beschränktheit sowie der Subjektivität des Fotografen immer nur einen Ausschnitt aus einem Geschehen zeigen.

Fotografie über Kriege

Die visuelle Kommunikationsforschung geht davon aus, dass „[n]ur Kriege, die massenmedial Bildzeugnisse hinterlassen, (…) Kriege [sind], die im Gedächtnis haften bleiben“ (Müller/Knieper 2005: 7). In der gesellschaftlichen Wahrnehmung haben Krisen und Kriege, über die nicht berichtet wird, scheinbar nicht stattgefunden, egal ob dort Menschen zu Tode kommen oder nicht (vgl. Zöllner 2007: 8). Das Besondere der Krisen- und Kriegsberichterstattung ist, dass dort meist über Regionen und Themen berichtet wird, die dem Betrachter und Rezipienten aus eigener Erfahrung unbekannt sind. Umso wichtiger sind Bilder, um Informationen plastisch zu machen. Problematisch ist, dass dem Betrachter das Korrektiv der »Primärerfahrung« fehlt, um die Bilder und Informationen einschätzen zu können. Das heißt, dass »Bilder« über Kriege und Konflikte, die wir in uns tragen, nicht auf eigenem Erleben, sondern auf medial vermittelten Bildern beruhen. Das Realgesicht des Krieges wird damit in der Wahrnehmung der Menschen nach Ansicht von Paul durch das „Deutungsgesicht“ des Krieges ersetzt (vgl. Paul 2004: 477).

Bilder und die Deutungshoheit über Konflikte

Die Berichterstattung ist dabei heute nicht mehr losgelöst vom eigentlichen Konflikt zu betrachten. Der Kampf um die Deutungshoheit des Konflikts wird allem voran in den Medien geführt. Die Art und Weise, wie Medien berichten, trägt zur Verbreitung und Verfestigung spezifischer Narrative bei. Dabei klaffen, insbesondere bezogen auf den Nahostkonflikt, die durch die Medien konstruierte Wirklichkeit des Konflikts und die Realität vor Ort meist auseinander (Dreßler 2008: 192). Die Kriegsparteien versuchen mal mehr, mal weniger strategisch geplant direkt oder indirekt Einfluss auf die Berichterstattung zu nehmen. Durch eine eigene Bildpolitik, die vor allem dadurch ausgeübt wird, dass der Zugang von Beobachtern zum Kampfgeschehen strategisch geregelt wird, beeinflussen die Kriegsparteien gezielt die öffentliche Wahrnehmung der Auseinandersetzung, sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene. Insbesondere wenn es, wie im Gaza-Krieg, für Israel darum geht, die eigene Abschreckungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, kommt dem medial vermittelten Bild dieser Fähigkeit eine entscheidende Rolle zu.

Untersuchungsmethode und Fallauswahl

Die Analyse der Bildberichterstattung bezieht sich auf Ansätze der visuellen Kommunikationsforschung. Laut Müller lassen sich primär drei Ebenen der Analyse visueller Produkte unterscheiden: die Produktionsanalyse, die Produktanalyse und die Wirkungsanalyse (vgl. Müller 2003: 13 ff.). Während die Produktionsanalyse den Entstehungsprozess analysiert und die Wirkungsanalyse Wahrnehmung und Rezeptionsformen untersucht, widmet sich die auch für diese Arbeit benutzte Produktanalyse dem veröffentlichten Material. Dabei werden die einzelnen Bilder nach bildimmanenten Kriterien untersucht. Einige Kriterien sind standardisiert, wie beispielsweise Form und Farbigkeit, andere müssen ausgehend vom Bildinhalt für den speziellen Untersuchungskontext neu gebildet werden. Die Medien-Auswahl fokussierte auf zwei Leitmedien der deutschen Qualitätspresse, die FAZ und die SZ, die stellvertretend für das konservative und das liberale Spektrum stehen. Für die vorliegende Analyse wurden alle Ausgaben der FAZ und der SZ untersucht, die zwischen dem 27. Dezember und 19. Januar erschienen.2 Die Untersuchung wurde im Online-Archiv durchgeführt. Das Ergebnis war ein Grundstock von 111 Bildern, von denen 34 auf die FAZ und 67 auf die SZ entfielen.

Ergebnisse der quantitativen Analyse

In einem ersten Schritt wurden die Bilder einer quantitativen Analyse unterzogen. Um die Relevanz der Bilder für die Untersuchungsmedien zu bestimmen, wurden die Bildanordnung und das Erscheinungsdatum im Medium untersucht. Bei der Bestimmung der Bildanordnung im Medium zeigte sich, dass mehr als 50% der Bilder in der FAZ wie in der SZ auf den ersten drei Seiten erschienen waren. Während die SZ hier die Rubriken »Thema des Tages« (auf der Seite 2 zu finden) und »Seite Drei« hat, gibt es bei der FAZ nur die Rubrik »Politik«. Ein Unterschied war bei der Bedeutung der Bilder für die Titelseite festzustellen. Während in der FAZ im Untersuchungszeitraum nur 9% der Bilder auf der Titelseite erschienen, waren es bei der SZ 13%. Der Blick auf das Erscheinungsdatum zeigte, dass außer an drei Tagen in der FAZ und einem Tag in der SZ an allen Tagen Bilder über den Krieg erschienen. Bezüglich der Häufung war jedoch ein Abflauen in der dritten Kriegswoche zu beobachten. Beim Blick auf die Farbigkeit bestätigte sich der allgemeine Trend in der journalistischen Fotografie weg von Schwarz/Weiß. Bei der SZ waren immerhin noch 24% der Bilder in Schwarz/Weiß, bei der FAZ nur 12%.

Zur Feststellung der Herkunft der Bilder und zur Bestimmung des Verhältnisses von Agentur-Bildern zu Material freier Fotografen wurden die Quellen der Bilder untersucht. Hier zeigte sich, dass die SZ auf ein breites Spektrum von insgesamt 14 verschiedenen Quellen zurückgreift. Die Agenturen Reuters und AP zeichnen für 21% bzw. 22% der Bilder verantwortlich, gefolgt von AFP und DPA (15% bzw. 16% der Bilder). Immerhin 4,5% der Bilder stammen von einer freien Fotografin. Bei der FAZ dagegen ist das Spektrum wesentlich schmaler. Die Bilder stammen nur aus 6 verschiedenen Quellen, mit einem Anteil von fast 41% der Bilder von Reuters, was die marktbeherrschende Position dieser Agentur bestätigt. Damit werden die Ergebnisse andere Untersuchungen bezüglich der Dominanz von Agentur-Material bestätigt. Bedenklich ist, dass der Name des Fotografen nicht genannt wird und der Betrachter somit die Herkunft des Bildes nicht zurückzuverfolgen kann.

Ergebnisse der qualitativen Analyse

Für die qualitative Analyse wurden die Bilder in die Kategorien Kleinportraits sowie situativ-journalistische Bilder aufgeteilt. Diese Einteilung wurde notwendig, da die Bilder zu unterschiedliche Charakteristika aufweisen, um sie in einer Kategorie zu fassen. Kleinportraits zeigen meist nur einen Akteur, sind ungefähr briefmarkengroß und können nur nach einem eingeschränkten Kriterienkatalog untersucht werden. Sie werden gerne dazu benutzt, um in Artikeln oder Kommentaren erwähnten Personen ein Gesicht zu geben. Bilder der Kategorie situativ-journalistisch zeigen dagegen eine größere Bandbreite von Situationen aus dem Umfeld des Krieges. Die weitere Analyse wird sich nur auf Bilder dieser Kategorie beziehen, zu der in der FAZ 30 Bilder und in der SZ 48 Bilder gehörten.

Nähe oder Distanz: Die Einstellungsgröße

Um herauszufinden, wie nah der Betrachter an die fotografierten Situationen herangeführt wird, wurden die Bilder nach vier verschiedenen Einstellungsgrößen untersucht. Dazu gehören die Großaufnahme, als kleinst-möglichem Ausschnitt aus einem Ganzen, die Nahaufnahme, die Halbtotale und die Totale als größtmögliche Übersicht über eine dargestellte Situation. Dabei zeigte sich, dass nur die SZ auf die Kategorie Großaufnahme zurückgreift und zwar in 4% der Bilder. Bei der FAZ lag der Schwerpunkt mit 46%, im Vergleich zu 25% der Bilder bei der SZ, auf der Totalen. Daraus lässt sich ableiten, dass die FAZ eher einen etwas zurückhaltenderen Blick auf das Geschehen hat, während die SZ den Betrachter näher heranführt. Die Kategorie Einstellungsgröße lässt sich gut mit der Kategorie Personen/Sachdominanz in Verbindung setzen. Hier wird versucht, die Bedeutung der Darstellung von Personen gegenüber einer rein gegenständlichen Darstellung ermessen zu können. Die Bandbreite reicht dabei von Personen ohne Raumansicht über Sachdominanz mit Personen bis zu rein gegenständlichen Bildern. Dabei zeigte sich, dass die SZ einen wesentlich stärkeren Fokus auf Personen ohne Raumansicht legt als die FAZ (19% der Bilder im Vergleich zu 3%). Die FAZ legt dagegen ein stärkeres Gewicht auf rein gegenständliche Bilder (17% der Bilder). Da rein gegenständliche Bilder weniger emotional sind als Personenabbildungen, verstärkt dies die Tendenz von mehr eingesetzten Totalen bei der FAZ und die Interpretation der Berichterstattung als zurückhaltend und distanziert.

Die geografische Einordnung

Zur geografischen Einordnung der dargestellten Orte wurden die Bildunterzeilen ausgewertet. Neben den für den Konflikt geografisch wichtigsten Regionen Israel, Gaza und Westbank wurden die beiden Cluster Naher Osten und Europa gebildet. Wenn in der Bildunterzeile keine Informationen vorhanden waren, wurden die Bilder als nicht klassifizierbar eingestuft. Hier zeigte sich die begrenzte Aussagefähigkeit der in der Bildunterzeile gegebenen Informationen, da eine genaue Zuordnung über die grobe geografische Einordnung hinaus meist nicht möglich war. Bei der SZ gab es einen etwas größeren Schwerpunkt auf Bilder aus dem Gazastreifen mit 44% im Vergleich zu 37% bei der FAZ, während der Anteil von Bildern aus Israel bei beiden untersuchten Medien ähnlich war. Erstaunlich war, dass fast 25% der Bilder in der FAZ Situationen im Nahen Osten oder Europa zeigten, während es in der SZ nur 10% waren. Nicht klassifizierbar waren in beiden Medien 10% der Bilder. Die geografische Präferenz bedeutet jedoch nicht automatisch eine inhaltliche Aussage. So zeigten viele Bilder aus dem Gazastreifen israelische Soldaten oder Panzer im Einsatz. Somit lassen sich hier allenfalls Tendenzen feststellen. Herauszuheben ist jedoch die Präferenz der FAZ für Bilder aus dem Nahen Osten und Europa.

Akteure im Bild

Um die geografischen und inhaltlichen Prioritäten auszuwerten, wurden neben der geografischen Einordnung auch die dargestellten Akteure bestimmt. Die Gruppen, die gebildet wurden, ergaben sich aus der sichtbaren Funktion der Akteure in den Bildern. Der Hauptunterschied lag zwischen zivilen und militärischen Akteuren. Diese Einteilung bedeutet nicht, dass auch immer Menschen dargestellt wurden. So stellt ein israelischer Panzer klar die israelische Armee als Akteur dar. Alle Akteure, die nicht klar durch ihr Aussehen oder die Bildinformationen als militärische Akteure gekennzeichnet waren, wurden als Zivilisten betrachtet. Andere Kategorien bezogen sich auf Repräsentanten von Organisationen. Während die verschiedenen zivilen Akteure bei der SZ zusammen 60% der Bilder ausmachten, waren es bei der FAZ nur 38%. Es wurde deutlich, dass mit 38% der Bilder ein Schwerpunkt der SZ auf Zivilisten aus dem Gazastreifen lag. Bei der FAZ waren es nur 13%. Dagegen machten in der FAZ Bilder mit Zivilisten aus anderen Ländern des Nahen Ostens und Europa 15% aus. Im Vergleich zur SZ hatte die FAZ des Weiteren einen stärkeren Schwerpunkt auf gegenständlichen Bildern. 13% waren rein gegenständlich bzw. ohne einen Akteur, doppelt so viel wie bei der SZ. Bilder palästinensischer Kämpfer spielten nur eine geringe Rolle in beiden Medien. Dies lag wahrscheinlich am Bilderverbot der Hamas im Gazastreifen. Bei den publizierten Bildern dazu handelte es sich insofern um Archivbilder, auch wenn diese nicht als solche kenntlich gemacht wurden. Die israelische Armee war in beiden Medien prozentual gesehen gleich stark vertreten. Auch wenn von der Verteilung her die FAZ eine vermeintlich größere Ausgewogenheit zeigte, ist eine deutliche Tendenz hin zur israelischen Armee und rein gegenständlichen Bildern erkennbar. Bei der SZ war dagegen klar ein Schwerpunkt auf Zivilisten aus dem Gazastreifen erkennbar. Erstaunlich ist, dass nur in wenigen Bildern zwei oder mehr Akteure auftauchten.

Bildinhalte und Motivgruppen

Ausgehend von der Untersuchung der dargestellten Bildinhalte wurden Motivgruppen gebildet. Hier zeigen sich die größten Unterschiede in der Bildberichterstattung der beiden untersuchten Medien. Die wichtigste Motivgruppe stellte bei der SZ mit 21% der Bilder materielle Kriegsfolgen dar, gefolgt vom Alltag der Zivilbevölkerung in Gaza in 12,5% der Bilder. Bei der FAZ dagegen war in 20% der Bilder die Kategorie Demonstrationen/Protestveranstaltungen zu finden. Ein Großteil dieser Bilder zeigte Proteste außerhalb der eigentlichen Konfliktregion in Europa und dem Nahen Osten. Dass es keine Bilder von Kampfhandlungen gab, ist mit der weitreichenden Zensur und dem beschränkten Zugang zur Konfliktregion zu erklären. Menschliches Leid in Form von Opfern oder Verwundeten war in der FAZ in keinem Bild zu sehen, bei der SZ in 10% der Bilder. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass in der FAZ die Kategorien »Demonstration«, »Einschlag/Rauchwolke«, »soldatischer Alltag« und »materielle Kriegsfolgen« überwogen. Damit wird ein Bild des Krieges gezeigt, in dem kein menschliches Leid erkennbar ist. Der Protest gegen den Krieg wird dagegen herausgehoben. In der SZ lag der Schwerpunkt der Bildberichterstattung dagegen auf den Inhalten »materielle Kriegsfolgen«, »Alltag der Zivilbevölkerung« in Gaza und »menschliches Leid«. Damit werden die negativen Folgen des Krieges für die Menschen der Region und die Infrastruktur hervorgehoben.

Auswertung der Analyse und Fazit

Die Produktanalyse der Bildberichterstattung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung zeigte deutlich, dass beide Medien eine unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktion des Krieges vorgenommen haben. Damit wurden unterschiedliche »Bilder« des Krieges gezeichnet. Die Vorliebe der FAZ für Totalen und gegenständliche Bilder weist auf einen eher zurückhaltenden und distanzierten Blick auf das Kriegsgeschehen hin. Auf der inhaltlichen Ebene wird dies gepaart mit einem Schwerpunkt von Bildern aus dem größeren Kontext des Krieges, wie z.B. Demonstrationen im Nahen Osten und Europa. Der Krieg an sich wird damit eher als sauberes und technisches Ereignis dargestellt. Die SZ dagegen stellte eher den Krieg an sich als das Problem dar und thematisierte die Kriegsfolgen mit einem starken Fokus auf dem Gazastreifen. Sie war näher dran an dem Menschen und Objekten. Was der Betrachter in der Bildberichterstattung zu sehen bekam, waren verschiedene Abbilder der »Realität« in einem klar definierten Kontext. Keines der beiden untersuchten Medien schaffte es, die auf der Ereignisebene vorherrschende Konflikt-Asymmetrie zu transportieren. Erstaunlich war die fast völlige Abwesenheit ziviler Opfer. Hier zeigt sich in Ansätzen, was Paul als die Bedingung der Rezipierbarkeit von Krieg in den Medien bezeichnet: nämlich die Ästhetisierung und Entzeitlichung der Berichterstattung (vgl. Paul 2004: 11). Die Subjektivität des von den untersuchten Medien konstruierten Kriegsbildes durch die Bildauswahl wurde nicht problematisiert bzw. offen nach außen kommuniziert.

Ausblick – Aufgaben für die Friedens- und Konfliktforschung

Krisen und Konflikte sind heute kaum noch lokal begrenzt zu betrachten. Sie haben sowohl in den direkten Konfliktfolgen als auch in der massenmedialen Auseinandersetzung globale Auswirkungen. Es ist davon auszugehen, dass die über einen Konflikt veröffentlichten Informationen das Vorgehen der Kriegsparteien (in)direkt beeinflussen. Der kommunikationswissenschaftliche Diskurs hat der Bildberichterstattung über den Nahostkonflikt bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Umso wichtiger ist dieses Thema für diese Disziplin, ebenso wie für die Friedens- und Konfliktforschung. Das gemeinsame Interesse der visuellen Kommunikationsforschung und der Friedens- und Konfliktforschung ist darin zu sehen, Prozesse visueller Kommunikation in und über Kriege transparent zu machen und diese Prozesse in Beziehung zum eigentlichen Konfliktgeschehen zu setzen. Während sich die Forschung bisher vor allem mit den Zusammenhängen zwischen PR und Kriegsparteien und den vielfältigen Argumentationsstrategien der Akteure auseinandergesetzt hat, sollte es verstärkt um eine heuristische Betrachtung der veröffentlichten Produkte gehen, unter Einschluss der Bildberichterstattung, sowie eine Rezeptionsforschung um den tatsächlichen Einfluss der Berichterstattung messen zu können.

Literatur

Dreßler, Angela (2008): Nachrichtenwelten – Hinter den Kulissen der Auslandsberichterstattung. Bielefeld.

Grittmann, Elke (2008): Nachrichtenfotografie zwischen Publikumsorientierung und Kostenzwang, in: Grittmann, Elke & Neverla, Irene (Hrsg.): Global, lokal, digital. Fotojournalismus heute. Köln, S.221-237.

Grittmann, Elke & Amman, Ilona (2008): Ikonen der Kriegs- und Krisenfotografie, in: Grittmann, Elke & Neverla, Irene (Hrsg.): Global, lokal, digital. Fotojournalismus heute. Köln, S.296-325.

Haller, Michael (2008): Scheinbar authentisch, in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Kriegs- und Krisenberichterstattung: Ein Handbuch. Konstanz, S.271-277.

Leifert, Stefan (2007): Bildethik: Theorie und Moral im Bildjournalismus der Massenmedien. Paderborn.

Link, Jürgen (2000): »DIESE BILDER!« – Über einige Aspekte des Verhältnisses von dokumentarischen Bildmedien und Diskurs, in: Jäger, Margret & Grewenig, Adi (Hrsg.): Medien im Krieg: Holocaust, Krieg, Ausgrenzung. Duisburg, S.239-252.

Müller, Marion G. (2001): Bilder – Visionen – Wirklichkeiten, in: Knieper, Thomas & Müller, Marion G.: Kommunikation Visuell. Köln, S.14-24.

Müller, Marion G. (2003): Grundlagen der visuellen Kommunikation: Theorieansätze und Analysemethoden. Konstanz.

Müller, Marion G. & Knieper, Thomas (2005): Krieg ohne Bilder?, in: dies. (Hrsg.): War Visions. Bildkommunikation und Krieg. Köln, S.7-21.

Paul, Gerhard (2004): Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Paderborn.

Woodward, Michelle M. (2007): Photographic Style and the depiction of the Israeli-Palestinian Conflict since 1948. Jerusalem Quarterly 31 (2007) S.6-21.

Zöllner, Oliver & Deutsche Welle (2007): »Sagt die Wahrheit: die bringen uns um!« – Zur Rolle der Medien in Krisen und Kriegen. Berlin.

Anmerkungen

1) Realität wird hier als Synonym für Geschehnisse, die in der Erfahrungswelt der Menschen passiert sind, verwendet. Wirklichkeit wird benutzt, wenn es um die Beschreibung bzw. Konstruktion des Abbildes der Realität in den Medien geht.

2) Es wurde der Tag vor Beginn des Krieges wie der Tag nach Kriegsende, an dem zum letzten Mal ausführlich berichtet wurde, als Untersuchungszeitraum gewählt.

Felix Koltermann ist Absolvent des Masterstudiengangs »Peace and Security Studies« des IFSH in Hamburg und promoviert an der Universität Erfurt zu fotojournalistischer Krisen- und Kriegsberichterstattung. Seine Forschungsschwerpunkte sind konfliktsensitive Berichterstattung, Fotojournalismus und zivile Konfliktbearbeitung. Felix Koltermann ist aktiv im Peace and Conflict Journalism Network PECOJON.

Das televisuelle Sterben Neda Soltanis

Das televisuelle Sterben Neda Soltanis

Von Frank Möller

Fotografien sind Annäherungen an die einer jeweiligen Fotografie vorangegangene Realität – einer Realität, die die BetrachterInnen im Prozess des Betrachtens, Einordnens und Nachdenkens aufs Neue konstruieren. Während analoge Fotografie immer noch häufig als „Authentizitätsbeweis“ 1 (miss)verstanden wird, wird digitaler Fotografie infolge der Abwesenheit eines Originals und der technisch einfachen Manipulierbarkeit oftmals ein „Glaubwürdigkeitsproblem […] in Sachen Quellenlage“ 2 unterstellt. Die Kritik ist wichtig, da wir uns im Zeitalter des Übergangs von analoger zu digitaler Produktionsweise von Bildern befinden. Somit werden auch Bilder von Kriegen und Konflikten zunehmend digital produziert und verbreitet. Die gedanklichen Kategorien, in denen wir über digitale Fotografie nachdenken, sind allerdings nach wie vor größtenteils durch unsere Erfahrungen mit analoger Fotografie geprägt. Daraus entsteht ein Spannungszustand, der durchaus produktiv genutzt werden kann.

Politische Reaktionen auf Bilder und auf die in Bildern dargestellten Bedingungen sind zu einem großen Teil von der Glaubwürdigkeit und der Authentizität der Bilder abhängig, genauer: davon, welches Maß an Glaubwürdigkeit den Bildern zugewiesen wird. Die Kritik an digitaler Fotografie überschätzt häufig das Glaubwürdigkeitsproblem digitaler Fotografie: die Abwesenheit eines Originals wird zumindest zum Teil durch die Anzahl digitaler Fotografien eines jeweiligen Ereignisses ausgeglichen; digitale Fotograf(i)en kontrollieren sich gegenseitig. Die Kritik überschätzt aber auch die Authentizität analoger Fotografie, die keine originalgetreue Abbildung von Realität sein kann, sondern immer nur Annäherung an Realität, aber trotzdem – oder gerade deshalb – „neues Wissen“ 3 produziert. Andernfalls bräuchten wir sie nicht.

Durch kommentierende, die Glaubwürdigkeit von Bildern scheinbar stärkende Texte wird versucht, den BetrachterInnen die Gewissheit zu vermitteln, die Bilder allein nicht zu liefern vermögen und nach der die BetrachterInnen angeblich verlangen. Natürlich sind es nicht die Bilder, die „beanspruchen ›komplexe Phänomene zu verdichten und Geschichte stellvertretend wiederzugeben‹.“ 4 Derartige Ansprüche sind Projektionen und Wunschvorstellungen derjenigen, die über Bilder schreiben und ihnen diese Aufgaben – Komplexitätsverdichtung und stellvertretende Wiedergabe der Geschichte – ungeachtet der Tatsache zuweisen, daß Bilder einen „Überschuß an Bedeutung“ 5 vermitteln, der die Idee der Komplexitätsverdichtung durch Bilder fragwürdig erscheinen läßt.

Wegweiser und Direktiven

Walter Benjamin sah in der Beschriftung den „wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme“ 6 – »Wegweiser«, die das zu Sehende in das Sag- und Schreibbare übersetzen, »Direktiven«, die den BetrachterInnen sowohl das erklären, was sie sehen können als auch das, was sie nicht sehen können, vor allem aber das, was sie sehen sollen. Sprache macht Bilder beherrschbar, indem sie den visuellen Überschuss an Bedeutung scheinbar reduziert. Sprache richtet das Visuelle an den zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer gegebenen Gesellschaft herrschenden Sagbarkeitsregeln aus. Das, was nicht gesagt werden kann oder darf, wird tendenziell aus dem Repertoire möglicher Interpretationen eines Bildes ausgeschlossen. Damit wird das Potential von Bildern, als Quelle möglicher alternativer Wissensproduktion zu dienen, erheblich eingeschränkt; Bilder werden unschädlich, unsichtbar gemacht.

Für Benjamin spielte es keine Rolle, ob es sich bei den Wegweisern um richtige oder falsche handelte: „Richtige oder falsche – gleichviel.“ 7 Michel Foucault würde argumentieren, daß es »richtige« Wegweiser überhaupt nicht geben kann: „Es ist vergebens, dass wir sagen, was wir sehen. Was wir sehen, ist in dem, was wir sagen, nie anwesend.“ 8 Der Gedanke, dass wir nicht genau wissen können, was wir sehen; dass wir, selbst wenn wir es wüssten, keine Worte hätten, um es adäquat auszudrücken; und dass das, was wir sehen, nie identisch ist mit dem, was wir sagen, ist zweifellos eine Provokation für sprach- und schriftfixierte westliche Wissensgesellschaften. Diese Gesellschaften sind zwar Bildergesellschaften, wissen aber mit Bildern selten mehr anzufangen als sie in Sprache zu »übersetzen« oder als »Illustrationen« des sprachlich zum Ausdruck Gebrachten einzusetzen – in der irrigen Annahme, dass solche »Übersetzungen« unproblematisch seien.9 Der Direktor von Yale University Press, John Donatich, begründete zum Beispiel seine Entscheidung, in einem neuen Buch über die dänische Cartoonkrise die Cartoons nicht zu reproduzieren, unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass sie akkurat in Worten beschrieben werden könnten.10 Diese Begründung dokumentiert bestenfals Donatichs Naivität oder Unwissenheit hinsichtlich der Beziehung zwischen Worten und Bildern.

Der von Bildern vermittelte „Überschuß an Bedeutung [ist] besonders dann problematisch, wenn Fotografien eine soziale Aufgabe erfüllen sollen.“ 11 Er kann mittels Sprache nur scheinbar reduziert werden, verrät diese sprachliche Vermittlung doch mehr über die der Sprache zugrundeliegenden Regeln und Konventionen und über das, was in einer jeweiligen Sprache ausgedrückt werden kann, als über die Bilder, denen die BetrachterInnen sprachlich angeblich nähergebracht werden, von denen sie sich aber durch sprachliche Vermittlung eher entfernen. Ohne „Direktiven, die der Betrachter von Bildern […] durch die Beschriftung erhält“, muss „alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben“ 12, aber auch mit »Wegweisern« läßt sich das „Ungefähre“ (Benjamin) nur scheinbar überwinden und die „Echtheit“ (Schulz-Ojala) eines Videos oder einer anderen Form visueller Repräsentation nur scheinbar belegen. Bergers und Luckmanns soziologisch konkretes „Wer spricht?“ 13 wird denn auch viel zu selten im Zusammenhang mit Interpretationen visueller Konstruktionen der Realität gefragt, obwohl derartige Interpretationen weitreichende politische Folgen haben können: der »Krieg gegen den Terrorismus« wäre ein anderer geworden, wären die Bilder vom 11. September 2001 als Ausdruck eines kriminellen Akts und nicht eines terroristischen Anschlags interpretiert worden. Die interpretatorische Verengung des Bildes eines Menschen auf das Bild eines »Terroristen«, in anderen Worten: die sprachliche und nur scheinbar bildhafte Konstruktion eines »Terroristen« hat weitreichende Bedeutung sowohl hinsichtlich der Überlebenschancen dieses Menschen als auch hinsichtlich der Leichtigkeit, mit der dieser Mensch straffrei getötet werden kann. Indem die BetrachterInnen darauf verzichten, die sprachliche Verengung der Bedeutung eines Bildes regelmäßig hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden politischen Motivationen und Interessen zu hinterfragen, erhöhen sie ihre eigene Verwicklung in und Verantwortung für die in einem jeweiligen Bild dargestellten Bedingungen.

Von »Masseneremiten« zu globalen Zuschauern

In modernen Bildergesellschaften ist Hinschauen die Bedingung der Möglichkeit politischen Handelns. Robert Hariman und John Louis Lucaites haben gezeigt, dass der individuelle Betrachter und die individuelle Betrachterin nur als Mitglied der visuell-diskursiv konstituierten politischen Öffentlichkeit und als Teil potentiellen kollektiven Handelns in Reaktion auf Bilder und die darin gezeigten politischen und sozialen Bedingungen politisch handeln können. Die Tätigkeit des Zuschauens sei nicht als passives Konsumieren, sondern als aktive Tätigkeit zu verstehen, die die politische Öffentlichkeit konstituiere. Nur als Teil dieser visuell hergestellten Öffentlichkeit könnten der und die Einzelne hoffen, politischen Einfluss auszuüben.14 Günter Anders' »Masseneremit« wird bei Hariman und Lucaites zum »common spectator«, der wiederum in den virtuellen Welten des Internet zum globalen Zuschauer mutiert.

Wer hinschaut – und hinschauen muss, wer politisch handeln will – wird aber auch zu einem Teil des durch massenhaftes Hinschauen konstruierten Ereignisses und verliert seine oder ihre Neutralität hinsichtlich dieses Ereignisses. Damit werden der Betrachter und die Betrachterin tendenziell für das Ereignis mitverantwortlich. Diese Mitverantwortung betrifft nicht nur fotografische Repräsentation. In seinem Gemälde »Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko« (1868/69) hat der Maler Edouard Manet die Verwicklung des Publikums in die dargestellte Szene durch den Schatten des Betrachters/der Betrachterin angedeutet, der in dem Gemälde vor dem Unteroffizier erscheint.15 Was tun wir da, was haben wir da zu suchen? Sind wir Beobachter oder teilnehmende Beobachter, d.h. nehmen wir dadurch, dass wir uns eine Darstellung der Erschießung anschauen, in irgendeinem Sinne an der Erschießung selber teil? Gibt es irgendetwas, das wir hätten tun können, um die Hinrichtung zu verhindern? Vielleicht schauen wir ja gar nicht hin und drehen der Exekution(szene) den Rücken zu, erschrocken über das, was passiert und unfähig, es zu verhindern, auf unserem Recht, nicht hinzuschauen, beharrend?

Die Mitverantwortung des Betrachters und der Betrachterin ist besonders deutlich bei Verbrechen, die begangen werden, um Bilder zu erzeugen: „Wenn das Töten eines Menschen den Zweck hat, seinen Tod zum Bild werden zu lassen, dann ist das Betrachten dieses Bildes unabdingbar ein Akt der Beteiligung.“ 16 Enthauptungen vor laufender Kamera sind einschlägige Beispiele, aber auch die notorischen Abu Ghraib-Fotografien fallen in diese Kategorie, vor allem die am 7. November 2003 entstandenen Aufnahmen der »menschlichen Pyramide«, die – im Gegensatz zu früheren Inszenierungen – die Herstellung von Bildern zum Ziel hatten.17 Auch die Anschläge vom 11. September 2001 hatten maximale Sichtbarkeit zum Ziel.

Wer nicht hinschaut, unterminiert die Absicht der Täter. Wer nicht hinschaut, trägt nicht zu dem bei, was Mieke Bal als „sekundäre Ausbeutung“, als „zweites Leiden“ und als „Diebstahl der Subjektivität“ bezeichnet.18 Wer nicht hinschaut, verweigert sich den Funktionsmechanismen moderner Bildergesellschaften, und eine solche Verweigerungshaltung kann an sich schon als Kritik dieser Gesellschaften und der ihr zugrunde liegenden diskursiven Regeln verstanden werden. Wer nicht hinschaut, grenzt sich aber auch aus der visuell konstruierten politischen Öffentlichkeit aus und kann auf die abgebildeten Bedingungen politisch nicht reagieren. Auch deshalb bestehen Kunsthistoriker darauf, den in Abu Ghraib entstandenen Aufnahmen große Aufmerksamkeit zu widmen und sie in die Bildergeschichte einzuordnen, um damit die „moralische Blindheit“ zu entlarven, die Abu Ghraib erst möglich gemacht habe.19 Nicht hinzuschauen bedarf angesichts der Flut von Bildern, der wir heutzutage zu jedem Zeitpunkt ausgesetzt sind, einer außergewöhnlichen Willensanstrengung, und die Augen vor dem Leiden anderer Menschen zu verschließen, ist alles andere als moralisch unproblematisch. Wenn Hinschauen die Bedingung der Möglichkeit politischen Handelns ist, würden wir uns, wenn wir uns außerhalb der visuell-diskursiv konstruierten politischen Öffentlichkeit positionierten, eben dieser Möglichkeit berauben. Wir würden zur Unsichtbarkeit der Opfer und damit zum endgültigen Triumph der Täter beitragen.

Fotokritik, Repräsentation und Ästhetisierung

Die Mitverantwortung der BetrachterInnen ist nicht auf die Aufnahmen von Verbrechen begrenzt, die begangen wurden, um Bilder zu produzieren. Sowohl Bal als auch Mark Reinhardt betonen die Mitverantwortung der BetrachterInnen im Zusammenhang mit Bildern von leidenden Menschen – Reinhardt mit Blick auf die Abu Ghraib-Fotos („die Gesichter der Gefolterten starren uns an in einem Moment nicht nur der Angst und Qual, sondern auch der Scham. Und wir verlängern diese Scham durch unser Schauen“), Bal mit Blick auf James Nachtweys Fotografien hungernder Menschen im Sudan („ihr Leiden zu betrachten […] kommt einer zusätzlichen Ausbeutung gleich“).20 Jenny Edkins hat jedoch darauf hingewiesen, dass viele Fotografien Sebastião Salgados, der auch oftmals mit dem Vorwurf der visuellen Ausbeutung seiner Subjekte konfrontiert wird, von seinen Subjekten in Auftrag gegeben wurden.21 Auch Jonathan Torgovniks Subjekte bestanden darauf, fotografiert zu werden; für sie waren die Fotos nicht Diebstahl ihrer Subjektivität, sondern Ausdruck ihrer Fähigkeit, als Subjekte zu handeln.22 Es ist in diesem Zusammenhang auch wichtig, dass ausgerechnet Angehörige des US-Militärs für sich das Recht in Anspruch nehmen, die Augen vor den Abu Ghraib-Bildern zu verschließen. In den Worten eines Generalleutnants: „Ich will nicht dadurch einbezogen warden, dass ich hinschaue; denn was macht man mit diesen Informationen, wenn man einmal weiß, was sie zeigen?“.23

Fotografen wie Nachtwey und Salgado werden regelmäßig der Ästhetisierung ihrer Subjekte beschuldigt – eine absurde Kritik, da jegliche Repräsentation ästhetisiert: die Möglichkeit, zu repräsentieren und dabei nicht zu ästhetisieren besteht nicht. Auch „das schmucklose, schnell hochgeladene und eben nicht komponierend gearbeitete Bild“ des Sterbens Neda Soltanis ästhetisiert, aber angeblich depolitisiert und desensibilisiert es die BetrachterInnen nicht, da der Mangel an kompositorischer Finesse „unmittelbare ästhetische Plausibilität“ nach sich ziehe.24

Repräsentation ästhetisiert notwendigerweise und Ästhetisierung depolitisiert tendenziell, da sie die Aufmerksamkeit der BetrachterInnen vom repräsentierten Subjekt zur formalen Qualität und Schönheit eines Fotos lenkt. Aber das Schöne kann auch als Aufforderung zu politischem Handeln verstanden werden25, und der Mangel an künstlerischer Finesse politisiert die BetrachterInnen nicht automatisch. Die wenigen existierenden Aufnahmen des 1994 in Ruanda an der Tutsi-Minderheit verübten Völkermords zum Beispiel erzeugten den Eindruck, es handele sich um eine spontane, archaische Stammesfehde und nicht um einen modernen, staatlich organisierten und sehr effizienten Völkermord. Bilder von mit Macheten, Keulen und Knüppeln bewaffneten Menschen dienten als Vorwand, um politische und militärische Passivität zu rechtfertigen, indem sie westliche Vorurteile gegenüber Afrika zu bestätigen schienen.26 Diesen Fotografien gelang es nicht, politisches Bewusstsein zu schaffen; sie scheiterten an der Abwesenheit der „Existenz eines relevanten politischen Bewusstseins“, auf das Bilder angewiesen sind, um die BetrachterInnen moralisch zu beeinflussen.27

Dass Fotografien durch ständige Wiederholung ihre Wirkung verlieren, ist ein weiteres, oft gehörtes Argument. Im Zusammenhang mit fotografischen Holocaust-Repräsentationen ist von politischer, technologischer und moralischer Gewöhnung gesprochen worden.28 Allerdings gelten Nick Uts berühmtes Foto »Accidental Napalm« aus dem Vietnamkrieg und Robert Capas ebenso berühmte Aufnahme »Fallen Soldier« aus dem Spanischen Bürgerkrieg trotz tausendfacher Reproduktion nach wie vor als Ikonen des Fotojournalismus' und der Antikriegsfotografie. Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, unter welchen Bedingungen Capas Foto entstanden ist und wen oder was es tatsächlich darstellt. Die Einbußen an Glaubwürdigkeit, die das Foto infolge neuerer Forschungen hat hinnehmen müssen29, haben das Ikonografische der Aufnahme nicht beeinträchtigen können. Im Zusammenhang mit dem Video des Sterbens Neda Soltanis gibt es deshalb auch zunächst einmal keinen Grund a priori davon auszugehen, daß sich „mit der ständigen Wiederholung […] das Ikonografische des Videos [entleert]“.30

Die Macht der Summe der kleinen Schritte

Wer hinschaut, muß reagieren, besser noch: angemessen reagieren. Doch die Unmöglichkeit, angemessen auf Bilder menschlichen Leidens zu reagieren, wird in der Literatur genauso häufig betont wie die Unmöglichkeit, menschliches Leiden angemessen darzustellen. Sharon Sliwinski argumentiert, dass die Reaktion der BetrachterInnen auf Bilder menschlichen Leidens niemals adäquat sein könne, da sie nicht imstande sei, das abgebildete Leiden zu lindern. Für Jenny Edkins muss die Reaktion auf individuelle Bilder individuellen Leidens immer inadäquat sein, da sie notwendigerweise alle anderen Fälle menschlichen Leidens verraten müsse, die es gleichermaßen verdient hätten, unterstützt zu werden. John Berger, die möglichen Reaktionen auf zwei – Verzweiflung und Empörung – reduzierend, argumentiert, dass die BetrachterInnen auf das Gefühl ihrer moralischen Unzulänglichkeit, das Kriegsbilder zu vermitteln imstande seien, entweder mit Achselzucken oder damit reagieren könnten, was Berger „Buße tun“ nennt, zum Beispiel mit einer Spende für eine gemeinnützige Organisation.31

Aus Harimans und Lucaites' Argument folgt allerdings, dass wir unsere Augen vor Bildern wie denen vom Sterben Neda Soltanis nicht verschließen dürfen. Nur als Teil der visuell-diskursiv konstruierten politischen Öffentlichkeit können wir hoffen, politisch wirksam zu werden. Die Unsichtbarkeit ihres Todes würde eine politische Reaktion unmöglich machen und letztendlich auf den Erfolg ihrer Mörder hinauslaufen. Aus diesem Argument folgt weder, dass wir mehr als einmal hinschauen müssen, noch dass uns das Anschauen der Bilder das Wesen des Regimes in Teheran erklärt. Aus dem Argument folgt allerdings, dass der einzelne Betrachter und die einzelne Betrachterin nicht so hilflos sind, wie es die Literatur häufig suggeriert. Eine angemessene Reaktion auf Bilder menschlichen Leidens kann nicht in der isolierten einzelnen Reaktion individueller Betrachter und Betrachterinnen bestehen, sondern immer nur in der Summe der notwendigerweise inadäquaten individuellen Reaktionen einzelner Betrachter und Betrachterinnen als Teil der kollektiv-diskursiv-visuell konstituierten politischen Öffentlichkeit.32 Aus dieser Sicht gibt es keinen Grund, auch der kleinsten und scheinbar unbedeutendsten individuellen Reaktion ihre Legitimität, ihren Sinn und ihre Angemessenheit abzusprechen.

Anmerkungen

1) Vgl. Karsten Polke-Majewski (2009): Lasst der Sterbenden ihre Würde, in: Zeit Online, 24.06.2009.

2) Jan Schulz-Ojala (2009): Ich bin Neda, in: Zeit Online, 23.06.2009.

3) Alex Danchev (2009): On Art and War and Terror. Edinburgh: Edinburgh University Press, S.36.

4) Vgl. Fußnote 1, die Historikerin Cornelia Brink zitierend.

5) Barry King (2003): Über die Arbeit des Erinnerns. Die Suche nach dem perfekten Moment, in: Herta Wolf (Hrsg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt: Suhrkamp, S.180.

6) Walter Benjamin (1963): Kleine Geschichte der Photographie, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt: Suhrkamp, S.64.

7) Benjamin (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt: Suhrkamp, S.21.

8) Michel Foucault (1994): The Order of Things: An Archaeology of the Human Sciences. New York: Vintage Books, S.9.

9) Vgl. David MacDougall (1998): Transcultural Cinema. Princeton: Princeton University Press.

10) Vgl. Patricia Cohen (2009): Yale Press Bans Images of Muhammad in New Book, in: The New York Times, 13.08.2009.

11) Vgl. Fußnote 5, S.180.

12) Vgl. Fußnote 7, S.21; Fußnote 6, S.64.

13) Peter Berger & Thomas Luckmann (1967): The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge. London: Penguin, S.134.

14) Robert Hariman & John Louis Lucaites (2007): No Caption Needed: Iconic Photographs, Public Culture, and Liberal Democracy. Chicago und London: The University of Chicago Press.

15) Vgl. Frank Möller (2008): The Implicated Spectator: From Manet to Botero, in: Matti Hyvärinen und Lisa Muszysnki (Hrsg.): Terror and the Arts: Artistic, Literary, and Political Interpretations of Violence from Dostoyevski to Abu Ghraib. New York: Palgrave, S.25-31.

16) Horst Bredekamp (2004): Wir sind befremdete Komplizen, in: Süddeutsche Zeitung 28.05.2004, S.17.

17) Philip Gourevitch & Errol Morris (2008): Standard Operating Procedure: A War Story. London: Picador, S.196-197.

18) Mieke Bal (2007): The Pain of Images, in: Mark Reinhardt, Holly Edwards & Erina Duganne (Hrsg.): Beautiful Suffering: Photography and the Traffic in Pain (Williamstown/Chicago: Williams College Museum of Art/The University of Chicago Press), S.95.

19) Stephen F. Eisenman (2007): The Abu Ghraib Effect. London: Reaktion Books, S.9.

20) Mark Reinhardt (2009): Picturing Violence: Aesthetics and the Anxiety of Critique, in: ders., Holly Edwards & Erina Duganne (Hrsg.): Beautiful Suffering: Photography and the Traffic in Pain, S.21; vgl. Bal, Fußnote 19, S.95.

21) Jenny Edkins (2005): Exposed Singularity, in: Journal for Cultural Research Jg. 9, No. 4, S.363.

22) Jonathan Torgovnik (2009): Intended Consequences: Rwandan Children Born of Rape. New York: Aperture.

23) Seymour Hersh (2007): The General's Report: How Antonio Taguba, who investigated the Abu Ghraib scandal, became one of its casualties, in: New Yorker, 25.06.2007.

24) Vgl. Fußnote 2.

25) David Levi Strauss (2003): Between the Eyes: Essays on Photographs and Politics. New York: Aperture.

26) Vgl. Linda Melvern (2000): A People Betrayed: The Role of the West in Rwanda's Genocide. New York: Zed Books.

27) Sontag: Über Fotografie, S.24.

28) Barbie Zelizer (1998): Remembering to Forget: Holocaust Memory through the Camera's Eye. Chicago und London: The University of Chicago Press.

29) Vgl. Giles Tremlett (2009): Wrong place, wrong man? Fresh doubts on Capa's famed war photo, in: The Observer 14.06.2009.

30) Vgl. Fußnote 1.

31) Sharon Sliwinski (2004): A Painful Labour: Responsibility and Photography, in: Visual Studies Jg. 19, No. 2, S.154-156; Edkins (Fußnote 21), S.372; John Berger (2003): Photographs of Agony, in: Liz Wells (Hrsg.): The Photography Reader. New York und London: Routledge, S.288-290.

32) Frank Möller (2009): The Looking/Not Looking Dilemma, Review of International Studies Jg. 35, No. 4, S.781-794.

Dr. Frank Möller ist Research Fellow am Tampere Peace Research Institute, Universität Tampere, Finnland, und Mitglied des Finnish Center of Excellence Political Thought and Conceptual Change, Forschungsteam Politics and the Arts (frank.moller@uta.fi).

Wie vertrauenswürdig sind Satellitenbilder im Netz?

Wie vertrauenswürdig sind Satellitenbilder im Netz?

von Leonie Dreschler-Fischer und Hartwig Spitzer

Öffentlich zugängliche Satellitenbilder haben die Welt transparenter gemacht. Wer einen Rechnerzugang hat, kann sich detaillierte Bilder von fast allen Teilen der Welt übers Internet anschauen, auch von sicherheitsrelevanten Gebieten. Solche Bilder können verfälscht oder gezielt verändert werden, z.B. durch Verschlechterung der Auflösung oder das Wegretuschieren von Bildinhalten. Aber das ist eher die Ausnahme.

Jedes photographische Bild liefert eine Teilansicht der Wirklichkeit. Der Sensor kann nur das aufzeichnen, wofür er empfindlich ist, z.B. sichtbares Licht oder Radarstrahlung. Die Bildbearbeitung bei der Herstellung des endgültigen Bildes (des Bildprodukts) öffnet ein weiteres Tor für die Veränderung oder Betonung von Bildmerkmalen, wie diejenigen erinnern, die noch im Fotolabor versucht haben, überbelichtete Stellen ihrer Schwarz-Weiß-Fotos nach zu dunkeln. Im Zeitalter der digitalen Photographie ist die gezielte Veränderung von Bildern gang und gäbe, z.B. das Glätten von Falten im Gesicht der Kanzlerin, das Herausretuschieren von störenden Personen oder die Fotomontage verschiedener Bilder.

Luft- und Satellitenbilder von vielen Teilen der Welt sind heute jedem zugänglich, der über einen Zugang zum Internet verfügt. Die Auflösung der dort gezeigten Satellitenbilder liegt zwischen 50 cm und einigen Metern, die der verwendeten Luftbilder zwischen ca. 10 cm und etwa einem Meter, also Werten, die durchaus sicherheitsrelevant sein können. Unter Auflösung wird hier die Größe eines Bildelements (Pixel) verstanden. Bei einer Auflösung von 50 cm lassen sich einzelne Personen bei niedrig stehender Sonne noch als Objekt erkennen. Größeres Militärgerät (gepanzerte Fahrzeuge, Flugzeuge) kann dem Typ nach identifiziert werden. Satellitenbilder von vielen sicherheitsrelevanten Gebieten können trotz einiger Einschränkungen auch von Nichtregierungsorganisation oder Friedensforschungsinstituten erworben und ausgewertet werden. Aus einem Originalbild lässt sich deutlich mehr Information gewinnen als aus den im Netz wieder gegebenen Bildern, z.B. durch Nutzung der größeren Datentiefe (bis zu 16 bit), Auswertung in mehreren Farbkanälen und gegebenenfalls auch Stereoauswertung.

Die Fälschung oder Verschlüsselung von militärisch relevanter Information hat eine lange Geschichte, z.B. das Wegretuschieren von militärischen Anlagen aus Landkarten (Brunner 2003; Bojanowski 2008). In diesem Beitrag wird nach der Zuverlässigkeit von Luft- und Satellitenbildern im Netz gefragt. Wann kann man von einer Fälschung sprechen? Wie häufig kommt so etwas vor? Wie sicher lassen sich Fälschungen erkennen? Die Autoren verstehen unter einer Fälschung die bewusste Veränderung eines Bildes zum »Vertuschen oder Vortäuschen« von Bildinhalten (siehe auch Trinkwalder 2008a).1 Daneben wird von der technisch einfacheren »Informationsverringerung« Gebrauch gemacht, indem die Auflösung des Bildes gezielt verschlechtert wird.

Shutter Control

Die Vertreiber von Satellitenbildern haben in der Regel kommerzielles oder wissenschaftliches Interesse an der Zuverlässigkeit ihrer Bilder im Interesse ihrer Kunden. Sie unterliegen allerdings der staatlichen Gesetzgebung und Aufsicht. So behält sich die US Regierung in der Presidential Decision Directive 23 von 1994 vor, die kommerzielle Datennahme zu begrenzen, wenn die nationale Sicherheit, internationale Verpflichtungen oder Interessen der Außenpolitik beeinträchtigt werden. Diese »Shutter Control« soll aber auf das kleinstmögliche Gebiet und den kleinstmöglichen Zeitraum begrenzt werden (O´Connell 2001). Bei Beginn des Afghanistankrieges im Oktober 2001 hat die US Regierung z.B. alle Bilder des IKONOS-2 Satelliten über Afghanistan aufgekauft, um anderen Stellen den Zugang zu verwehren. Ebenso wurde in der heißen Phase des Irakkrieges von 2003 der freie Verkauf von aktuellen Bildern der amerikanischen kommerziellen Satelliten für einige Wochen unterbunden. US Regierung und Kongress haben außerdem verfügt, dass amerikanische Firmen Bilder von Israel nur mit einer Auflösung von 2m oder schlechter vertreiben dürfen. In der Praxis von Google Earth gilt das auch für die West Bank. In Deutschland wurde in einem Satellitendatensicherheitsgesetz vom 23. November 2007 geregelt, unter welchen Bedingungen hoch aufgelöste Bilder des TerraSAR-X Satelliten an Kunden verkauft werden dürfen.

Methoden zur Bildverfälschung

Digitalbilder sind mit Standardverfahren der Bildverarbeitung sehr leicht zu manipulieren – alle Verfahren, die wir hier vorstellen werden, lassen sich schon mit gängigen Programmen, z.B. Adobe Photoshop oder GIMP, am heimischen PC durchführen. Da wir an solchen möglicherweise manipulierten Bildern, die wir im Internet gefunden haben, nicht das Urheberrecht haben, können wir diese hier nicht zeigen. Wir haben aber Verweise auf einige zugehörige Internetseiten, Google-maps und kmz-Files für die Ansteuerung bei Google Earth auf einer Internetseite zusammengestellt (http://web.me.com/dreschler/Leonie/Fake/Fake.html; Javascript-Aktivierung erforderlich).

Folgende Verfahren zur Bildmanipulation oder -verfälschung kommen infrage:

Verpixelung: Die Manipulation, die bei Google Earth und Google Maps am häufigsten zu finden ist, ist die Reduktion der geometrischen Auflösung durch Verpixelung: Bildelemente werden zu Rechtecken oder zu unregelmäßigen Kacheln zusammengefasst, so dass weniger Details zu erkennen sind (vgl. Abb. 1). Die zufällige Kachelung hat den Vorteil, dass die Manipulation weniger auffällig ist als bei regelmäßigen Rechtecken. Ein Beispiel hierfür ist die Google Earth Darstellung der NATO-Airbase Geilenkirchen (Position 50°57‘38.37“N, 6° 2‘27.57“E), bei der die Startbahn und die umliegenden Gebäude deutlich schlechter aufgelöst sind als die Umgebung. Bei BING und NAVTEQ dagegen sind selbst einzelne Flugzeuge auf dem Vorfeld zu erkennen mit einer Auflösung von geschätzt 0,5-1 m. Auch der Marinehafen in Den Helder, Niederlande (52°57‘31.81“N, 4°47‘10.75“E) wurde bei Google Earth relativ stark mit unregelmäßiger Kachelung in der Auflösung reduziert. Gleichzeitig werden aber mehrere sehr scharfe Bodenaufnahmen von Kriegsschiffen eingeblendet.

Verdeckung: Gelegentlich werden Bildbereiche mit einfarbigen oder texturierten (gemusterten) Formen überlagert und dadurch maskiert. Ein schönes Beispiel hierfür ist der Reaktorkomplex in Dimona, Israel (31° 3‘38.57“N, 34°59‘36.26“E). Die Gebäude erscheinen bei Google Earth durch eine große ovale Form maskiert, aber die Umzäunung und die Strassen sind noch zu erkennen.

Ersetzen von Bildausschnitten: Die bisher genannten Verfahren führen zu offensichtlich erkennbaren Manipulationen. Anders verhält es sich, wenn Bildbestandteile durch andere Bildbestandteile ersetzt werden. So kann kritische Infrastruktur versteckt werden, ohne dass die genaue Position der Anlagen verraten wird, und die Manipulationen sind nicht immer leicht zu entdecken. Die eingefügten Masken können aus unterschiedlichen Quellen stammen: Sie können aus älteren Aufnahmen des Gebietes ausgeschnitten werden, bei denen das Gelände noch nicht bebaut war, oder aus anderen Aufnahmen stammen, die ein geeignetes, unbebautes Gebiet zeigen. Abbildung 2 zeigt ein Beispiel für dieses Verfahren, bei dem Teile desselben Bildes (ein Flugzeug) in der Helligkeit angepasst und im Bild verschoben wurden. Die Darstellung der Nellis AFB Bombing Range im Death Valley bei Google Earth ist ein weiteres Beispiel für diese Technik. Ein kleiner länglicher Bereich an der Position (37°37‘51.82“N 116°52‘32.44“W) hebt sich in der Helligkeit und durch eine niedrigere Auflösung deutlich von der Umgebung ab, so dass eine Manipulation durch kopierte Bildbereiche oder Weichzeichner wahrscheinlich erscheint.

Retusche: Ein Teil des Bildes wird mit virtuellen Pinseln so übermalt, dass der ursprüngliche Bildinhalt spurlos verschwindet und stattdessen ein neutraler Hintergrund oder verdeckender Vordergrund, z.B. Wolken, zu sehen sind. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Retusche des Google Earth Bildes der »Area 51« in Nevada, die »allMIGHTY« (allMIGHTY, 2008) im abovetopsecret-Forum veröffentlicht hat. Hier ist zu sehen, wie das Groom Lake-Gebiet ohne die Elliot Air Force Base aussehen würde.

Über die Jahre hat sich die Darstellung ausgewählter Objekte bei Google Earth je nach politischer Lage geändert. Dieses kann über die Option »historisches Bildmaterial zeigen« nachvollzogen werden. Wenn Sie in Google Earth die Position 38°53‘51.44“N, 77°2‘11.56“W anfliegen, stehen Sie direkt über dem Weißen Haus in Washington und können durch Verschieben des Markers auf dem Zeitstrahl eine Zeitreise von 1999 bis jetzt machen und dabei unterschiedliche Grade der Maskierung von Gebäudeteilen und Verpixelung sehen.

Methoden zur Erkennung von Bildverfälschungen

In den letzten Jahren hat sich ein neues Teilgebiet der Bildverarbeitung etabliert, die »digital image forensics«, das man auf deutsch vielleicht mit Digitalbildforensik bezeichnen könnte, und das sich mit Methoden zur Entdeckung von Bildmanipulationen beschäftigt.

Zur Erkennung von Bildverfälschungen gibt es im Wesentlichen zwei Gruppen von Verfahren: Zum einen die statistischen Verfahren, die allgemein einsetzbar sind, und zum anderen die wissensbasierten Verfahren, die Vorwissen über die Szene erfordern und im Einzelfall anwendbar sein können. Eine Einführung in dieses Thema finden Sie bei Trinkwalder (2008b).

Statistische Verfahren

Statistische Verfahren arbeiten auf der Pixel- und Signalebene des Bildes und nutzen aus, dass das Rauschen des Bildsignals charakteristische Merkmale aufweist, die als Fingerabdruck der Kamera oder des Sensors betrachtet werden können. Betrachtet man die Gesamtheit der Pixel eines Bildes als Stichprobe, so lassen sich mit statistischen Modellen verschiedene Hypothesen testen: Wie wahrscheinlich ist beispielsweise, dass

alle Pixel des Bildes von derselben Kamera aufgenommen wurden?

alle Pixel mit einer bestimmten Kamera aufgenommen wurden?

Teile des Bildes durch Kopieren verdoppelt wurden?

Der Vorteil dieser Verfahren ist, dass sie allgemein eingesetzt werden können und nichts über den Bildinhalt und die Aufnahmebedingungen bekannt sein muss. Daher können sie zum systematischen Durchsuchen großer Datenbestände eingesetzt werden (zum statistischen Fingerabdruck siehe beispielsweise Chen u.a. 2008).

Neben den Hypothesentests werden auch Korrelationsverfahren eingesetzt. Hiermit lassen sich kopierte, rotierte oder skalierte Bildausschnitte erkennen, aber auch Veränderungen durch eine Neuabtastung des Bildes, die beim Kopieren zwischen Bildern mit unterschiedlicher Auflösung notwendig ist (siehe beispielsweise Lu u.a. 2008).

Konsistenzprüfung/ Wissensbasierte Verfahren

Bei Fernerkundungsbildern (Satellitenbilder, Luftaufnahmen) sind in der Regel die Aufnahmebedingungen sehr genau bekannt. Aus der genauen Position der Aufnahmeplattform (Bahn des Satelliten, Flugbahn und Flughöhe des Flugzeugs) und dem Zeitpunkt der Aufnahme lässt sich mit photometrischen und geometrischen Modellen prüfen, ob die Form und der Ort von Bildkomponenten mit den gegebenen Aufnahmebedingungen konsistent sind. Mögliche Tests:

Schatten: die Richtung der Schatten hängt von der Position der Sonne ab und sollte für alle Gebäude gleich sein.

Globalstrahlung: Wenn wir den Sonnenstand und die Wetterbedingungen kennen, kann ein Atmosphärenmodell zur Berechnung der Globalstrahlung (des zur Beleuchtung des Geländes insgesamt verfügbaren Lichtes) verwendet werden. Bereiche, die zu hell oder dunkel erscheinen, wurden vermutlich zu einem anderen Zeitpunkt oder mit einem anderen Sensor aufgenommen.

Radialer Versatz: Das Dach eines Gebäudes erscheint in Luftbildern bei schräger Aufsicht radial gegen die Gebäudebasis versetzt; die Richtung des Versatzes hängt von der Projektion, dem Ort im Bild und der Gebäudehöhe ab. Wenn der radiale Versatz eines Gebäudes nicht mit dem der Umgebung konsistent ist, lässt das auf eine Manipulation schließen.

Diese Prüfungen sind aber aufwändiger als die statistischen Verfahren und sind eher für eine Detailanalyse geeignet, wenn im Einzelfall ein Fälschungsverdacht besteht. Mit genügend krimineller Energie lassen sich die Bilder natürlich auch so fälschen, dass sie gegen diese Prüfkriterien bestehen können.

Stichproben

Wie zuverlässig sind Satellitenbilder im Netz? Eine systematische, umfassende Untersuchung würde den Rahmen dieses Artikels überschreiten. Es ist aber relativ leicht möglich, die Informationsverringerung durch Verschlechterung der Auflösung von Militärstandorten zu untersuchen. Wenn sich die Auflösung zwischen Umgebung und Standort oder innerhalb des Standorts ändert, kann das ein Indiz für gezielte Informationsverringerung sein.2 Die Autoren haben Stichproben zur Auflösung von zehn Militärstandorten bei Google Earth gemacht. Es ergab sich kein einheitliches Bild, das auf eine systematische Informationsverschlechterung schließen lässt. Aber sie kommt vor.

Mehrere große Militärstandorte in den USA werden durchgängig mit einer erstaunlich guten Auflösung von geschätzt 30-70 cm gezeigt (Naval Station in Norfolk, Virginia, und San Diego, California, MacDill AFB, Coronado, Florida). Die Schätzung erfolgte anhand der Wiedergabeschärfe von bekannten Objekten wie PKW´s.

In zwei Fällen verschlechterte sich die Auflösung in Teilbereichen des Standorts, was auf eine Manipulation schließen lässt (Marine Corps Base Camp, Lejeune, North Carolina, Nellis AFB Bombing Range, Nevada (s.o.). Die in Deutschland liegenden Militärbasen bei Baumholder, Hammelburg und Ramstein und ihre zivile Umgebung werden mit einer Auflösung von geschätzt 1-2m gezeigt. Bei den Bildern von Baumholder und Ramstein (eingesehen am 15.8. 2009) fallen sehr helle Flächen auf, die von Verdeckung von Teilen des Flugplatzes und einiger Straßen im Gelände durch im Bild überlagerte Formen stammen können. Der zivile und der militärische Teil des Flughafens von Bagdad werden mit einer gleichbleibenden Auflösung von geschätzt 0,5 – 1m wiedergegeben, ebenso der Flughafen von Kabul ohne Anzeichen von Verdeckung.

Fazit

Die große Überzahl der Luft- und Satellitenbilder im Netz kann als vertrauenswürdig angesehen werden. Fälschungen oder Informationsverringerung auf Bildern können in der Regel erkannt werden. Es ist allerdings – wie bei Bildern der Kunstgeschichte – möglich, Bilder so geschickt zu fälschen, dass eine Entdeckung unwahrscheinlich wird. Die Chance, mit einer Fälschung unentdeckt zu bleiben, schwindet. Bilder verschiedener Anbieter und Bilder von verschiedenen Aufnahmezeiten liefern Möglichkeiten, Widersprüche aufzudecken. Ein Fälscher müsste alle Anbieter der Welt für alle Aufnahmen des relevanten Gebiets in die Pflicht nehmen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass militärische und geheimdienstliche Stellen von zwei einfachen Möglichkeiten der begrenzten Kontrolle Gebrauch machen: verspätete Freigabe von Bildern sensitiver Orte und Informationsverringerung durch verschlechterte Auflösung.

Danksagung

Ein Teil der Recherche zu diesem Artikel wurde von Max Brauer und Timme Katz im Rahmen einer Projektarbeit im Department Informatik der Universität Hamburg durchgeführt.

Quellen von Luft- und Satellitenbildern

Wegen des hohen technischen Aufwands und der hohen Kosten beim Bau, Start und Betrieb von hoch auflösenden Satelliten ist dieses Unterfangen großen Unternehmen und staatlichen Einrichtungen vorbehalten.

Folgende Unternehmen oder Einrichtungen betreiben kommerzielle oder öffentliche Satelliten mit hoher bis sehr hoher Auflösung (Auswahl):

DigitalGlobe, USA (www.digitalglobe.com) mit den Satelliten »Quickbird-2« (Auflösung 0,6m), »Worldview-1« (0,5m)

GeoEye, USA (www.geoeye.com) mit »IKONOS-2« (1m), »GeoEye-1« (0,4-0,5m)

Spot Image, Frankreich (www.spotimage.fr) mit »SPOT-5« (2,5 m), vertreibt auch Bilder des koreanischen »KOMPSAT-2« Satelliten (1 m)

Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR (www.dlr.de) mit dem Radarsatellit »TerraSAR-X« (1m)

Die Bilder werden entweder direkt an die Endnutzer verkauft oder über Zwischenhändler, wie NAVTEQ (www.navteq.com), TerraServer (www.terraserver.com) und Infoterra (www.infoterra.de).

Ins Netz gestellte Luftbilder werden in Überfliegungskampagnen zahlreicher kommerzieller Luftbildfirmen gewonnen wie z.B.

Terra Metrics (www.truearth.com)

Geocontent (www.geocontent.de)

AeroWest (www.aerowest.de)

Als Betreiber von Internetseiten mit Luft- und Satellitenbildern, die kostenlos aufgerufen werden können, sind vor allem folgende Firmen zu nennen:

Google in Form von Google Earth und Google Maps (earth.google.com bzw. maps.google.com)

Microsoft in Form von Bing Maps (www.bing.com/maps; Luftbilder)

NAVTEQ (bieten auf ihrer Homepage www.navteq.com ebenfalls einen Service vergleichbar mit Google Maps an.)

TerraServer USA (nur freie Bilder der USA) (www.terraserver-usa.com)

diverse Regierungen vor allem im Zusammenhang mit der Wettervorhersage (z.B. Australien unter http://www.bom.gov.au/weather/satellite/).

Literatur

allMIGHTY (2008): http://www.abovetopsecret.com/forum/thread325113/pg1#pid3864265, zuletzt am 13.8.2009 besucht.

Bojanowski, Axel (2008): Es führt kein Weg nach nirgendwo, Süddeutsche Zeitung vom 10. Dezember 2008

Brunner, Kurt (2003): Geheimhaltung topographischer Karten und Manipulation ihres Inhalts, Allgemeine Vermessungsnachrichten, AVN, 5: 183-187

Chen, M. & Fridrich, J. & Goljan, M. & Lukas, J. (2008): Determining image origin and integrity using sensor noise. IEEE Transactions on Information Forensics and Security 3(1), S.74-90.

Lu, W. & Sun, W. & Huang, J.-W. & Lu, H.-T. (2008). Digital image forensics using statistical features and neural network classifier. In: International Conference on Machine Learning and Cybernetics, Kunming, 5: 2831–2834.

O´Connell, Kevin & Hilgenberg, Greg (2001): U.S. Remote Sensing Programs and Policies, in: John C. Baker & Kevin O´Connell & Ray A. Williamson (Hrsg.): Commercial Observation Satellites, RAND, Santa Monica, ASPRS, Bethesda, 2001, S.139-163

Popescu, A. C. & Farid, H. (2005). Exposing digital forgeries by detecting traces of re-sampling. IEEE Trans. Signal Process 53(2), S.758-767.

Swaminathan, A. & Wu, M. & Liu, K. J. R. (2008). Digital image forensics via intrinsic fingerprints. IEEE Transactions on Information Forensics and Security, 3(1), S.101-117.

Trinkwalder, Andrea (2008a): Können diese Pixel lügen? Der schmale Grat zwischen Bildoptimierung und -fälschung, c’t 27(18):148-151.

Trinkwalder, Andrea (2008b): Pixelsezierer. Digitale Forensik: Algorithmus jagt Fälscher, c’t 27(18):148-151.

Anmerkungen

1 Danach wäre auch ein erheblicher Teil der heutigen Werbefotos als Fälschung zu bezeichnen. Den Werbern geht es allerdings weniger ums Vertuschen als um die gezielte Beeinflussung von Meinungen und Präferenzen.

2 Es kann aber auch an der Verwendung eines anderen Originalbildes mit schlechterer Auflösung liegen. Die Form des veränderten Bereichs kann ein Schlüssel sein.

Leonie Dreschler-Fischer ist Professorin für Informatik (Bildverarbeitung/Kognitive Systeme) im Department Informatik der Universität Hamburg und Mitglied des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIFF). Hartwig Spitzer ist Professor i.R. im Department Physik und assoziiertes Mitglied des Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg.