Blogs und Information Warfare

Blogs und Information Warfare

Military Blogs im Irakkrieg

von Johanna Roering

Mit der Verbreitung digitaler Medien können sich Akteure, die bislang nur Adressaten waren, selbst aktiv an der medialen Berichterstattung beteiligen. Auch Soldaten nehmen die neuen Möglichkeiten der Partizipation wahr. Die Autorin untersucht in diesem Artikel, wie sich US-amerikanische Soldaten während des Irakkriegs mittels Blogs an der Berichterstattung und Meinungsbildung zu diesem Krieg beteiligten. Kritiker des Pentagon hofften damals, diese Blogs könnten ein Korrektiv zu den Presseverlautbarungen des US-Verteidigungsministeriums sein. Und in der Tat lieferten »Military Blogs« zuweilen alternative Perspektiven auf den Irakkrieg – sofern sie nicht zensiert wurden. In der Regel machten sich die in militärische Strukturen eingebundenen Soldaten in ihren Blogs aber eher für pro-militärische Positionen stark.

Als sich 2002 der Einmarsch der USA in den Irak abzeichnete, spezialisierten sich viele Nachrichten-Blogs (Newsblogs) auf Informationen zur Kriegsvorbereitung. Unter den Bloggern waren auch einige ehemalige oder noch aktive Soldaten, die die Berichterstattung aus ihrer Sicht kommentierten oder ergänzten. So versuchte der Blogger Sgt. Stryker in seinem Blog »Sgt. Stryker's Daily Brief« ganz bewusst, als Gegengewicht zu den seiner Meinung nach anti-militärischen Medienanbietern wie CNN seine eigene, kriegsbefürwortende Position einzubringen: „Ich war von der Medienberichterstattung enttäuscht, vor allem von den Kommentaren, denn die schienen anachronistisch im Vergleich zu dem, was gerade passiert war. Als ich im Web surfte, stieß ich auf Instapundit. Ich dachte, was der kann, kann ich auch, so wurde aus meiner Star-Wars-Freak-Seite «Sgt. Stryker's Daily Brief«.“ (Stryker in Mudville Gazette 2005) Diese Newsblogs mit militärischem Schwerpunkt waren die ersten Military Blogs (kurz Milblogs).1

Unmittelbare Berichterstattung aus dem Krieg

Frühe Milblogs, wie »Sgt. Stryker's Daily Brief«, diskutierten zwar die Kriegsvorbereitungen, veröffentlichten aber selten eigenständig recherchierte Informationen. Kurz vor Kriegsanfang wurden jedoch einige neue Blogs von in Kuwait stationierten Soldaten erstellt und die nachrichtenbasierten Milblogs so um Augenzeugenberichte aus dem Kriegsgebiet ergänzt. Dass Soldaten überhaupt aus dem Kriegsgebiet schreiben konnten, lag an der Verfügbarkeit von Kommunikationstechnologien: Die technische Ausrüstung der meisten »Forward Operating Bases« in Kuwait und im Irak erlaubte es den dort stationierten Soldaten, verhältnismäßig regelmäßig mit ihrer Familie und Freunden zu kommunizieren (Dauber 2006, S.181). Sie konnten dort aber auch die mediale Berichterstattung, zum Beispiel auf CNN oder in der New York Times, ohne wesentliche zeitliche Verzögerung verfolgen und in ihren Blogs ebenfalls zeitnahe kommentieren.

Diese direkte mediale Beteiligung von Autoren vor Ort versprach einen unmittelbaren Zugang zu den Geschehnissen. In der Regel stand in den Milblogs allerdings nicht die Analyse, sondern der militärische Alltag im Vordergrund. Der Blogger Lt Smash, Soldat der US Navy, beispielsweise schrieb in seinem Blog »Live From the Sandbox« über seinen Aufenthalt in Kuwait und seine Teilnahme an den Kriegsvorbereitungen. Er berichtete über sein Training, den Arbeitsalltag und das Leben in Kuwait: „Schon wieder ein staubiger Tag heute. Dieses Mal ist es windig. […] Ich bleibe so viel ich kann drinnen. Heute habe ich einen aus meinem Team mitgebracht, damit er auf meinem Computer seine Mails checken kann.“ (Sharing the Wealth, 21.2.2003) Während der ersten Kriegstage, als sich die Fernsehberichterstattung mit Meldungen geradezu überschlug, stellte Smash den Brief einer Mutter, deren Sohn am 11. September 2001 gestorben war, und kurze Satiren zu Saddam Hussein in sein Blog (Memorandum, 20.3.2003), lieferte aber kaum Informationen zum Kriegsverlauf. Lt Smash konzentrierte sich auf das Alltagsleben und stellte die Leistungen und Opfer individueller Soldaten in den Mittepunkt, darunter den Unfalltod eines britischen Soldaten in Kuwait (For Robert, 29.3.2003).

Versuche der Zensur

Obwohl ständig neue Milblogs gegründet wurden, fanden sie in dieser frühen Phase kaum die Beachtung anderer Medienanbieter. Dies änderte sich erst, als der Milblogger Colby Buzzell vor den Augen seiner Leserschaft zensiert wurde. Im Juni 2004 hatte der amerikanische Infanterist Buzzell den Blog »My War« über seine Stationierung im Irakkrieg gestartet. Buzzell führte den Blog zwar unter einem Pseudonym, hatte jedoch seinen Stationierungsort im Irak und seine Einheit nicht verheimlicht. Als Buzzell im August 2004 in dem Eintrag »Men in Black« detailreich über Kampfhandlungen in Mosul berichtete, verbreitete sich der Text schnell in der Blogosphäre und wurde von Journalisten aufgegriffen (Gilbert 2004; The View From on the Ground 2004; Cooper 2004). Auch seine Vorgesetzten wurden auf den Eintrag aufmerksam und verboten Buzzell schließlich, den Blog auf diese Weise weiterzuführen (I'm Soo Fucked, 10.8.2004). Als Buzzell aufgefordert wurde, seine Einträge vor der Veröffentlichung einem Vorgesetzten zur Überprüfung vorzulegen, stellte er den Blog ein.

Das Medienecho zu Buzzell, weitere Zensurfälle, die Zuspitzung der Lage im Irak im Verlauf der Jahre 2005 und 2006 und die vielen Blog-Neugründungen – Ende 2005 gab es bereits mehr als tausend Military Blogs – führten in der Summe dennoch zu höheren Leserzahlen und verstärkter Medienrezeption (Roering 2012, S.85). Seit dem Truppenabzug aus dem Irak und der Popularisierung neuer sozialer Medien wie Twitter und Facebook nimmt die Zahl der Military Blogs jedoch wieder ab.

Milblogs zur Unterstützung von »Information Operations«

Blogger wie Blackfive und CJ Grisham hatten während des Irakkriegs als aktive Mitglieder des amerikanischen Militärs den Anspruch, positiv und produktiv zu dessen Aufgabenerfüllung beizutragen. Mr. and Mrs. Greyhawk vom Blog »Mudville Gazette« trugen beispielsweise wöchentlich Berichte über die Beiträge amerikanischer Soldaten zum Wiederaufbau zusammen und gaben ihnen auf ihrem häufig gelesenen Blog eine Plattform. Ein Offizier, der unter dem Pseudonym thunder6 das Blog »365 and a Wakeup« betrieb, beschrieb in seinem Augenzeugen-Blog ausführlich den Beitrag seines Bataillons zu den ersten demokratischen Wahlen im Irak. Diese Milblogger, die ihre Blogs oft mit politischer oder ideologischer Zielsetzung verbreiteten, sahen sich selbst nicht als Problem, sondern ganz im Gegenteil als Teil der Lösung, d.h. sie wollten eklatanten Mängeln der »Information Operations« der US-Streitkräfte entgegenwirken (Lawson 2008).

Wie das Beispiel von Colby Buzzell zeigt, teilte das US-Verteidigungsministerium diese positive Sicht auf Milblogs nicht. Im Oktober 2006 begann die Behörde gezielt damit, Blogs von Soldaten zu kontrollieren. Für viele Milblogger war die restriktive Haltung des Pentagon unverständlich. Für sie waren die Zensurversuche der Vorgesetzten nicht nur eine Beschneidung ihrer persönlichen Freiheit, sondern bewiesen gefährliche Ignoranz gegenüber den neuesten Entwicklungen im militärstrategischen Bereich.

Im Herbst 2009 veröffentliche das Center for Strategic Leadership des Army War College den Arbeitsbericht »Bullets and Blogs«. Die Autoren hielten fest: “Die momentane und künftige geostrategische Umgebung erfordert die Vorbereitung auf ein Schlachtfeld, auf dem symbolische informationelle Siege strategische Auswirkungen zeitigen, die tödlichen Kampfhandlungen gleichwertig sind oder diese sogar übertreffen. (Collings und Rohozinski 2009, S.14) In dem Bericht werden digitale Medien als die derzeitige Arena dieser symbolischen Kriegsführung identifiziert. Diese Einschätzung teilen viele Milblogger, die glauben, dass dezentralisierte und »persönliche« digitale Medien eine große Wirkkraft entfalten können.

Nach den anfänglichen Restriktionen wurden Milblogs im weiteren Verlauf des Irakkriegs von offizieller Stelle zumindest symbolisch anerkannt. Das Militär und die Regierung räumten nun ein, worauf die politischen Milblogger schon lange hingewiesen hatten: Zur Milblogging-Community gehört eine aktive Fraktion von Bloggern, die sich sowohl theoretisch als auch praktisch an der Verbesserung der »Information Operations« beteiligen wollen und die, vor allem in Bezug auf die positive Meinungsbildung in den USA, kein Risiko, sondern einen Gewinn für das Militär und das Pentagon darstellen.

Aus dieser Perspektive sind Milblogs nicht nur Kriegsberichterstattung und interpersonale Kommunikation, sondern auch eine Waffe in einem globalen, vernetzten und symbolischen Krieg.

Anmerkungen

1) Der Begriff »Milblog« kann nahezu jeden in Verbindung mit dem Militär stehenden Blog bezeichnen: sowohl soldatische Blogs aus Kriegsgebieten als auch Blogs von Veteranen, militärischen Beratern und Familienmitgliedern von Soldaten.

Literatur

Blackfive. www.blackfive.net (URL funktioniert nur bei Eingabe von »www«).

CJ Grisham: A Soldier's Perspective. soldiersperspective.com.

Colby Buzzell: My War: Killing Time in Iraq. cbftw.blogspot.com.

Colby Buzzell (2005): My War. New York: Putnam.

Deirdre Collings and Rafal Rohozinski (2009): Bullets and Blogs – Media and the Warfighter. An analytical synthesis and workshop report. Carlisle Barracks: Center for Strategic Leadership, US Army War College.

Christopher Cooper: Army Blogger's Tales Attract Censor's Eyes. Wall Street Journal, 9.9.2004.

Cori Dauber (2006): Life in Wartime -: Real-Time News, Real-Time Critique, Fighting in the New Media Environment. In: Thomas W. Britt: Military Life: The Psychology of Serving in Peace and Combat. Westport, Conn.: Praeger Security International, S.180 ff.

Michael Gilbert: Stryker Brigade Slammed By Insurgents. New Tribune, 10.8.2004.

Sean Trevor Lawson (2008): Info@War.Mil – Nonlinear Science and the Emergence of Information Age Warfare in the United States Military. Dissertation. Troy, New York: Rensselaer Polytechnic Institute.

LT Smash: lt-smash.us. 03.11.2010; Zugang über web.archive.org.

Mudville Gazette. mudvillegazette.com.

Mudville Gazette: A Brief History of Milblogging. 11.11.2005.

Johanna Roering (2012): Krieg bloggen – Soldatische Kriegsberichterstattung in digitalen Medien. Bielefeld: transcript.

Sgt Stryker's Daily Briefing, www.sgtstryker.com, 21.09.2010.

The View From on the Ground. Kommentar, L.A. Times, 5.9.2004.

Thunder6: 365 and a Wakeup. thunder6.typepad.com.

Dr. Johanna Roering ist wissenschaftliche Angestellte am Fachbereich Neuphilologie; Abteilung für Amerikanistik, der Universität Tübingen. Sie arbeitet zudem als freie Journalistin.

Kriegsmedien – Medien im Krieg

Kriegsmedien – Medien im Krieg

Ernst Friedrich und seine Wirkung

von Jörg Becker

Immer wieder entbrennt in der Öffentlichkeit Streit über die Frage, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen, Krieg in den Medien unvermittelt dargestellt werden soll und darf. Der Streit ist nicht neu, sondern reicht neunzig Jahre zurück. Damals veröffentlichte Ernst Friedrich seinen Bildband »Krieg dem Kriege«, der nur schwer erträgliche Fotos von Opfern des Ersten Weltkriegs zeigt. Der Streit um den Abdruck solcher Bilder und ihre Wirkung setzt sich bis heute fort.

Ernst Friedrich war ein begnadeter Polemiker, ein Zyniker, ein außerordentlich geschickter Redner, der in einfacher Sprache seine vielen Zuhörer begeistern konnte. Was er ursprünglich von Beruf war? Für Ernst Friedrich wäre das eine falsche Frage gewesen. Er war Buchdrucker, Schauspieler, Reformpädagoge, Anarchist, Pazifist, Rezitator, Agitator, Journalist, Aktionskünstler, Antifaschist, Aktivist und Politiker, Künstler und schließlich aktives Mitglied in der fanzösischen Résistance – als radikaler Pazifist aber nur auf der Schreibstube, nicht bei der kämpfenden Truppe.

In der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen anarchistisch-pazifistischen Zeitung »Schwarze Fahne« schrieb Ernst Friedrich 1925: „Die im Massengrab aller Kontinente langsam verfaulenden, von Ratten und Würmern zerfressenen Millionen Opfer des Massenmörders Ludendorff und seiner internationalen Komplizen sind eine größere Anklage, als die 20 Opfer Haarmanns. Die vielen Blinden, Armlosen, Beinlosen, Gasvergifteten, vor Schmerz irrsinnig gewordenen, die nach Millionen zählenden Opfer des Massenmörders Ludendorff und seiner Konsorten werden dermaleinst wichtige Zeugen sein, wenn die großen Verbrecher an der Menschheit vor dem Antlitz des Lebens abgeurteilt werden.“ 1

Grausam entstellte Kriegstote und Kriegsverstümmelte – das ist Ernst Friedrichs anklagendes Thema, sowohl in seinem 1925 in Berlin gegründeten Anti-Kriegs-Museum als auch in seinem ein Jahr zuvor veröffentlichten zweiteiligen Bildband »Krieg dem Kriege«. Die französische Sprache kennt für die im Ersten Weltkrieg im Gesicht verletzten Soldaten mit halben Wangen, zerfetzten Nasen und Ohren oder durchschossenen Mündern den eigenen Begriff „gueules cassées“, kaputte Fressen.

Es drängen sich folgende Fragen an die Schockbilder von Ernst Friedrich auf:

1. In welches gesellschaftliche Umfeld müssen diese Fotos von 1924 eingeordnet werden?

2. Wie wirken solche Fotos?

3. Gibt es in den heutigen Medien auch noch solche Kriegsfotos?

Gesellschaftliches Umfeld

Die erste Frage nach dem gesellschaftlichen Umfeld dieser Fotos ist deswegen wichtig, weil sich die Bilder weniger mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen, sondern eher mit den zwanziger Jahren. Wichtig wurden die Bilderinnerungen an den Ersten Weltkrieg erst in den Jahren 1920 bis 1930, als es politisch darum ging, den Weltkrieg propagandistisch zu vereinnahmen. Die vielen Bildbände der Zwischenkriegszeit lieferten Fotos, die man für eine völkisch-nationale Dramatisierung des Krieges brauchte: anfängliche Kriegsbegeisterung, Einzelhelden und sakrale Landschaften wie Verdun, Ypern und Langemarck. Ausgeblendet wurde der Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung auf dem Balkan; es gab keine Flucht und Vertreibung, Niederbrennen von Dörfern, Massenhinrichtungen und Zwangsarbeit; und ausgeblendet blieben nacktes Elend und brutale Gewalt, vor allem natürlich der eigene Tod und die eigenen Kriegsverbrechen.

Ernst Friedrichs »Krieg dem Kriege!« war die direkte Gegenfolie zu diesen vielen propagandistischen Weltkriegsfotobänden aus den zwanziger Jahren. Sein Buch enthielt genau die Bildmotive, die in den anderen Büchern nicht vorkamen. Bei der Auswahl der Motive und den dazu gehörigen Texten handelt es sich eher um expressionistische Dichtung und Grafik als um Journalismus und Dokumentarfotografie. Der bisherigen, als dekadent und bürgerlich empfundenen Ästhetik stellte die expressionistische Literatur oft eine Ästhetik des Hässlichen gegenüber; ihre Themen waren Krieg, Großstadt, Angst, Rausch, Zerfall und Weltuntergang. In der expressionistischen Grafik stehen sowohl die Antikriegsbilder von Frans Masereel2 von 1915 als auch die von Otto Dix von 1920 in enger Nachbarschaft zu den anklagenden Fotos von Ernst Friedrich.

Es gibt meines Wissens in den zwanziger Jahren neben Ernst Friedrich nur einen einzigen weiteren Fotobildband, in dem ebenfalls nackte Gewalt, Entsetzen, Vernichtung, Zerstörung und Tod des Ersten Weltkrieges dargestellt werden. Es handelt sich hierbei um Franz Schauweckers in vielen Auflagen gedrucktes Buch »So war der Krieg«. Schreibt Ernst Friedrich „Und nicht ein einziger Mensch in irgendeinem Lande kann aufstehn und gegen diese Photos zeugen, dass sie unwahr sind und nicht der Wirklichkeit entsprechen“,3 so steht ihm Schauwecker mit dem Anspruch darauf, nichts als Wahrheit und Wirklichkeit zu zeigen, in nichts nach. Bei ihm „zeigen diese Aufnahmen das wahre Gesicht des Krieges, unentstellt, nicht beschönigt, und enthüllen in der unumstößlichen harten und aufrichtigen Sachlichkeit des Lichtbildes die düstere Tragödie des modernen Krieges“.4 Beide eint ihr naives Vertrauen in einen Fotorealismus. „So war der Krieg“, hält Schauwecker apodiktisch fest. So und nicht anders.

Der politisch-pädagogische Anspruch von Ernst Friedrich und Franz Schauwecker ist derselbe. Doch Friedrich und Schauwecker trennen Welten. Brüllt Friedrich seine Parole „Krieg dem Kriege!“ jedermann entgegen, so beginnt Schauwecker sein Vorwort mit folgenden Sätzen: „In diesem Werk geht es um den Krieg als solchen. […] In diesem durch das Blut geheiligten Erdreich ist unter Kämpfen von Stahl und Explosion und unter den rasenden Stürmen und Ausbrüchen donnernder Nationalismus geboren worden. […] Hier entstand jener Nationalismus, der, als er die schreckliche Größe jenes Schicksals aus Grab, Opfer und Vernichtung erlebte und begriff, aus seiner Kraft jenes Wunder erzeugte, das ihn erst zum deutschen Nationalismus machte. […] Dieses Werk zeigt fast in jedem seiner Bilder die Vernichtung, und zwar die Vernichtung einer vergangenen Welt. Aber auf solchermaßen umgepflügten Feldern allein kann das Neue wachsen.“ 5

Gab Schauwecker einem seiner grausamsten Fotos mit vielen Kriegstoten den Untertitel »Der Maschinentod: Russische Sturmkolonnen«, so vermeidet Friedrich bei seinen Fotos strikt jeglichen Hinweis auf eine Nationalität. Wichtiger noch: Seine Untertitel sind essentieller Bestandteil seiner pazifistischen Botschaft, oft sind sie entlarvend und ironisch. Mit Recht kann die Philosophin Susan Sontag in ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten« über Ernst Friedrich festhalten: „[Er] machte nicht den Fehler zu glauben, Bilder, bei denen sich dem Betrachter der Magen umdreht, würden für sich selbst sprechen. Jedes Foto ist mit einer leidenschaftlichen Bildunterschrift […] versehen, und die Niedertracht der militaristischen Ideologie wird auf jeder Seite bloßgestellt und verhöhnt.“ 6

Wirkung der Fotos

Die zweite, die Frage nach der Wirkung solcher Fotos, hängt eigentlich mit den eben schon entwickelten Gedanken und Argumenten zusammen. Ja – eine abschreckende und pazifistische Rezeption und Wirkung solcher Fotos ist dann gegeben, wenn es ein dazu passendes politisches Umfeld gibt. Und genau dies ist auch der Lernprozess, den Susan Sontag zwischen ihrem Aufsatz »Über Fotografie« von 1977 und ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten« von 2003 durchlief. Verbunden mit einem gut dazu passenden Narrativ können Kriegsfotos den Rezipienten aufrütteln und ihn zum Handeln auffordern, dem furchtbaren Kriegstun ein Ende zu setzen.

Darstellung des Krieges in den heutigen Medien

Auf die dritte Frage, ob es solche Schockfotos auch noch in den heutigen Medien gebe, ist mit mehreren Teilantworten zu reagieren.

Bedenkt man, dass Särge gefallener US-Soldaten erst seit 2009, seit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama, in US-Medien gezeigt werden dürfen, dann wird die Ungeheuerlichkeit der Tabuverletzung von 1924 deutlich. Friedrichs Bilder waren also ein radikaler Tabubruch und bewirkten einen Skandal! Sie brechen mehrere Tabus, denn Leiden, Tod und eigene tote Soldaten sind Tabuthemen. Sie sind es vor allem auch deswegen, weil Friedrich die so genannten »gueules cassées« zeigt, zerschlagene Fressen, also Menschengesichter ohne Nase, Gesichter ohne Augen oder Menschen ohne Arme. Solche Bilder gab es vor Friedrich nicht, auch nicht in Francisco de Goyas Bilderzyklus »Desastres de la guerra« (1810/14). Friedrichs Bilder zeigen die Hölle schlimmer als in Dantes Inferno. Mit Recht kann der Historiker Gerd Krumeich diese Bilder wie folgt kommentieren: „Die gueules cassées sind das letztgültige Symbol des Ersten Weltkriegs, in dem die neuen Sprenggranaten mit ihren Splittern […] zur Hauptquelle der Verwundungen wurden.“ 7

Solche Bilder sind auch heute noch ein Tabubruch, sie gehören trotz aller zunehmenden Brutalisierung der Massenmedien keineswegs zum Medienalltag. Das zeigen zwei Abbildungen von 1992 und 2006, denn beide Bilder kommen nicht aus den Mainstream-Medien. Die eine Abbildung wurde der Broschüre eines studentischen Kollektivs in Paris entnommen und protestiert gegen Tod und Terror im zweiten Golfkrieg.8 Die andere Abbildung des afghanischen Schriftstellers Mohammad Daud Miraki stammt aus seinem im Eigenverlag herausgegebenen Buch eines Verzweifelten angesichts des unmenschlichen Leidens in Afghanistan.

Gerade auf dieses Buch von 2006 soll hier kurz verwiesen werden, denn ein Vergleich mit Ernst Friedrichs 82 Jahre vorher erschienenem Buch drängt sich auf. Bereits Titel und Untertitel von Mirakis Buch verraten sein pädagogisch-politisches Anliegen: »Afghanistan. After 'Democracy'. The Untold Story Through Photographic Images«.9 Seine Fotos sollen also die von den westlichen Medien nicht erzählte Geschichte des afghanischen Krieges erzählen, sollen – wie es im Vorwort heißt, und so könnte es auch bei Friedrich stehen – „Wahrheit“ und ein „wahres Bild“ aufzeigen. Um diesem Anspruch Genüge zu tun, enthält Mirakis Bildband realistische Fotos aus der gegenwärtigen afghanischen Alltagsmisere, ergänzt durch ein spezielles Kapitel mit Fotos von verunstalteten Babys als Folge des Abwurfs uranangereicherter US-Bomben.

Auch gegenwärtig sollen Kriegs-Schock-Fotos zu Aktion und Parteinahme einladen. Der französische Journalist Jonathan Littell hielt sich Anfang 2012 einige Wochen bei syrischen Rebellen auf, und in seinem veröffentlichten Tagebuch finden wir die folgenden Einträge zu Videos, die die Rebellen ins Netz stellen: „Vor drei Tagen wurde ihnen eine Leiche übergeben, mit Folterspuren überall, von Elektroschocks etc. Vermutlich wurde er im Militärkrankenhaus getötet. Der Fall ist dokumentiert, die Leiche wurde auf Aljazeera gezeigt. […] Bilal zeigt mir wieder etwas auf seinem Handy. Ein Mann, dessen ganzer Bauch offen ist, Lunge und Gedärme hängen heraus, die Ärzte versuchen sie wieder hineinzustopfen. All diese Handys sind Museen des Horrors. […] Dieses Internetcafé ist der Unterschlupf aller Aktivisten von Khaldije, die hier auf YouTube und in den sozialen Netzwerken die Arbeit ihres Tages posten, Filme von Demonstranten oder Gräueltaten.“ 10

Diese Bildbotschaften syrischer Rebellen erfüllen zwei Funktionen: Zum einen zeigen sie den saudischen Stiftungen, von denen sie Geld und Waffen erhalten, wie erfolgreich sie kämpfen und dass es sinnvoll ist, ihnen weiter Geld und Waffen zu liefern. Zum anderen wenden sich diese Bilder an westliche Medien und Politiker, um westliche Kriegsmächte zu einer militärischen Intervention gegen die Regierung Assad aufzufordern. Es ist genau dieses Phänomen einer Mediendoppelung oder das einer dynamischen Medienspirale zwischen TV und Handys, wie es inzwischen bei der Kriegsberichterstattung im Nahen Osten angesichts von Internet, Handys und YouTube üblich geworden ist.

Und auch Bilder wie die von Abu Ghraib 2004 sind Teil dieser visuellen Kriegsführung, die dem Gesetz einer sich stetig vergrößernden und sich beschleunigenden Rüstungsspirale unterliegt: Haust Du meinem Journalisten vor laufender Kamera öffentlich den Kopf ab, dann wird sich die Zahl meiner Drohnenangriffe auf Deine Leute verdoppeln! Und wenn die Zahl Deiner Luftangriffe steigt, dann werden wir auf YouTube gerne die Bilder des toten US-amerikanischen Botschafters Stevens aus Libyen von 2012 zeigen oder noch »schöner«, dann zeigen wir den Leichnam eines US-amerikanischen Soldaten, wie er im Oktober 1993 mit einem Seil durch die Straßen von Somalias Hauptstadt Mogadischu gezogen wurde. Eine solche Spirale kennt kein Ende!

Möglicherweise war es der große, geniale Bertolt Brecht, der mit seiner »Kriegsfibel« alle hier besprochenen Probleme schon in den fünfziger Jahren am besten reflektiert und gestaltet hat. 1955 veröffentlicht, enthält dies großformatige Buch auf seinen linken Seiten kurze Fotolegenden und auf seinen rechten die 85 dazugehörigen schwarzweißen Pressefotos, die Brecht jeweils mit einem Vierzeiler kommentierte. Fotoepigramme hatte er diese Vierzeiler genannt. Brechts Fotos stammten aus den Illustrierten seiner Zeit, und mit seinen dazugehörigen bissigen, ironischen und frechen Epigrammen dekodierte und verwandelte er deren affirmative Aussagen in ihr kritisches Gegenteil. Brechts Fotos zeigen Zivilisten, Soldaten, Opfer, Politiker, Landschaften und Städte, die mit verschiedenen Schauplätzen des Zweiten Weltkrieges einhergehen. Auch Brecht scheute keineswegs vor Schockfotos zurück. Da gibt es die Großaufnahme des verbrannten Schädels eines japanischen Soldaten, der von US-Truppen auf einen ausgebrannten japanischen Tank gespießt wurde, oder viele Fotografien von und mit erblindeten Soldaten.

So kontrastierte er z. B. das 56. Foto mit der Legende »Erblindeter deutscher Soldat im Moskauer Lazarett« mit folgendem Vierzeiler: „Vor Moskau, Mensch, gabst du dein Augenlicht / O blinder Mensch, jetzt wirst du es verstehn. Der Irreführer kriegte Moskau nicht. / Hätt er's gekriegt, hättst du es nicht gesehn.“ 11 Blind ist hier metaphorisch zu verstehen: blind für eine politische Analyse, blind in den Krieg gestolpert. Die Idee, Kriegsbrutalität auf Fotos zu zeigen, um sie, angereichert mit nur spärlichen Zeilen, pädagogisch gegen sich selbst zu wenden, verbindet Ernst Friedrich mit Bertolt Brecht. Was Brecht freilich von Friedrich unterscheidet, ist seine tiefe, man möchte sagen ideologiekritische, Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Illustriertenfotos.

Es waren die beiden in London lebenden Künstler Adam Broomberg und Oliver Chanarin, die sich 2011 in Brechts Kriegsfibel „hinein wohnten“, sie „kidnappten“, sie wie „Parasiten“ in Beschlag nahmen und seine „Bilder mit ihren Bildern“ ersetzten. Heraus kam eine eindrückliche Wort- und Bildmontage von Kriegsfotos nach 9/11, teils Brecht, teils aktualisiert.12 Auch hier 85 Bilder über menschliches Kriegsleiden, auch hier 85 dazu montierte Texte. Am eindrücklichsten ist hier möglicherweise die Wiederholung von Brechts 44. Bild, also das mit dem verbrannten Schädel eines japanischen Soldaten. Bei Broomberg/Chanarin taucht dieses Motiv als 53. Bild auf – diesmal zeigt es ein Foto der BILD-Zeitung von 2011 mit einem Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, der dem Betrachter triumphierend einen Totenkopf entgegenhält.

Ein jüngster Versuch in der Nachfolge von Ernst Friedrichs »Krieg dem Kriege« von 1924 ist das Buch »War Porn« – also Kriegspornographie – des jungen, erst 1978 geborenen Fotografen Christoph Bangert, das 2014 erschien. Neunzig Jahre nach Friedrich teilen die zuvor nie veröffentlichten Fotos mit Krüppeln, Toten, Gefolterten, Ermordeten und Erschossenen aus den Kriegen der letzten Jahre das gleiche Anliegen wie Friedrich – vielleicht ein wenig intellektueller gewendet: „Ich habe das Gefühl, ich müsse solche Bilder veröffentlichen. […] Im Gegensatz zu den ultrabrutalen Hollywoodfilmen, die wir uns so einfach reinziehen, und zu grauenhaften Videogames, sind diese Bilder nicht-fiktional. Sie sind Dokumente und interpretieren reale Ereignisse. Wie kann solch eine Arbeit bedeutungslos oder belanglos sein? Wie können wir die ausschließliche Abbildung – ein Bild – eines schrecklichen Ereignisses ablehnen, während andere Menschen gezwungen sind, dieses schreckliche Ereignis zu erleben?“ 13

Nach wie vor gültig

Der brutale Krieg der deutschen Wehrmacht in Osteuropa und Auschwitz, beide sind uns allen Teil einer gemeinsamen Staatsräson, die Deutschland Krieg als Mittel der Politik verbietet. Dementsprechend verbietet das Grundgesetz den Angriffskrieg und beschränkt den Einsatz der Bundeswehr auf den Verteidigungsfall. Die beiden Bundespräsidenten Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker wussten um diesen deutschen Schuld-Zusammenhang.

In seiner zu Recht berühmten Rede vom 8. Mai 1985 führte Richard von Weizsäcker aus: „[Wir nutzen] das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten. […] Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden mussten, werden wir besser verstehen, dass der Ausgleich, die Entspannung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgaben der deutschen Außenpolitik bleiben.“ Und weiter sagte er: „Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und gute Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur Gefahr für den Frieden werden lassen.“ 14

Gemessen an diesem Selbstverständnis markiert die Rede von Präsident Joachim Gauck vom Januar 2014 einen präsidialen Tabubruch.15 Führte die Rede des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler mit ihrem Hinweis darauf, dass angesichts von Deutschlands Außenhandelsabhängigkeit „im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist“,16 noch zu einem öffentlichen Skandal und 2010 schließlich zu dessen Rücktritt, so läuft die sonst aufgeregte Medienmaschinerie heute bei demselben Gedanken bereits in eine gähnende Leere. Gauck formulierte auf der Münchener Sicherheitskonferenz eine völlig neue Staatsräson, wenn er „Deutschlands historische Schuld“ dahin gehend definiert, dass es kein „fragwürdiges Recht auf Wegsehen“ geben und dass man „Schuld“ nicht mit „Zurückhaltung“ und mit „Selbstprivilegierung“ gleichsetzen könne. Nur kurze Zeit darauf legte Gauck in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur nach, nun noch viel deutlicher im Ton: „Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.“ 17

„Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“ Der, der das sagt, ist nicht irgendwer, sondern Mephistopheles in seiner Rolle als Unternehmensberater des Kolonialisten Faust in Goethes »Faust II« (5. Akt, Palastszene). Und dieser Teufel meint seinen Zweizeiler nicht nüchtern beschreibend, sondern zustimmend auffordernd, sagt er doch kurz zuvor: „Man hat Gewalt, so hat man Recht / Man fragt ums Was, und nicht ums Wie.“

Ernst Friedrichs Auftrag und Aufforderung „Krieg dem Kriege!“ gelten immer noch.

Anmerkungen

1) Ernst Friedrich: Haarmann und Ludendorff. Die Schwarze Fahne Nr. 1/1925, S.2.

2) Siehe Bebilderung in W&F 1-2011.

3) Ernst Friedrich (1924): Krieg dem Kriege! Band I,. 8.-10. Aufl. 1926. Berlin: Freie Jugend – Internationales Anti-Kriegsmuseum, S.6.

4) Franz Schauwecker (1927): So war der Krieg. 200 Kampfaufnahmen aus der Front. 2. Aufl. Berlin: Frundsberg, S.3.

5) Ibid., S.3, 5 und 8.

6) Susan Sontag (2003): Das Leiden anderer betrachten. München: Hanser, S.22.

7) Gerd Krumeich (2004): Vorwort zur Wiederveröffentlichung. In: Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege. München: dva, S. XIII.

8) Olivier André (ed.) (2003): Numéro spécial. Des photos contre la guerre. Paris: Publia.

9) Mohammed Daud Miraki (2006): Afghanistan – After »Democracy«. The Untold Story Through Photographic Images. Chicago: Selbstverlag.

10) Jonathan Littell (2012): Notizen aus Homs. 16. Januar-2. Februar 2012. Berlin: Hanser, S.74, 128 und 132.

11) Bertholt Brecht (1994): Kriegsfibel. Berlin: Eulenspiegel, 5. Aufl.. Eine sehr gute Einführung in Brechts »Kriegsfibel« bringt Hjördis Hornung: Die Kriegsfibel von Bertolt Brecht – Quelle und Medium historischen Lernens. Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik Nr. 14/2011, S.1-8.

12) Adam Broomberg and Oliver Chanarin (2011): War Primer 2. London: MACK Editions. Dieses Buch wurde in einem Seidensiebdruckverfahren in nur 100 Exemplaren auf der Grundlage einer Edition der Brechtschen Kriegsfibel von 1998 im Libris-Verlag in London hergestellt. Die digitale Version von »War Primer 2« enthält zusätzlich zu den 85 Bildcollagen Essays über die Kriegsfibel und das Kunstwerk dieser beiden Künstler; mappeditions.com/publications/war-primer-2.

13) Christoph Bangert (2014): War Porn. Heidelberg und Berlin: Kehrer Verlag, 2. Aufl., unpag. S.5 [Originalzitat in Englisch, Übersetzung von Jörg Becker]. Zu diesem Buch siehe auch Felix Koltermanns Artikel »Bilderkrieger im ›War Porn‹?« in dieser Ausgabe von W&F.

14) Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa. 8.5.1985; bundespraesident.de.

15) Bundespräsident Joachim Gauck: Deutschlands Rolle in der Welt – Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Rede zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 31.1.2014; bundespaesident.de.

16) „Sie leisten wirklich Großartiges unter schwierigsten Bedingungen“. Bundespräsident Köhler nach seinem Besuch in Afghanistan – Horst Köhler im Gespräch mit Christopher Ricke. 22.5.2010, deutschlandfunk.de.

17) Gauck: „Auch zu Waffen greifen“. Joachim Gauck im Gespräch mit Hans-Joachim Wiese. 16.4.2014, deutschlandfunk.de.

Prof. Jörg Becker ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität Marburg; sein Arbeitsschwerpunkt ist die internationale Medienpolitik. Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Vortrags, den der Autor anlässlich der Eröffnung einer Ernst-Friederich-Ausstellung im Kunstmuseum Solingen am 27. März 2014 hielt. Die ungekürzte Langfassung erscheint Anfang 2015 im 25. Else-Lasker-Schüler-Almanach unter dem Titel »Der blaue Reiter ist gefallen« im Peter Hammer Verlag, Wuppertal. Wir danken der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft für die Erlaubnis, den gekürzten Essay hier vorab abdrucken zu dürfen. Die Forschungsarbeiten für diesen Essay über Ernst Friedrich wurden vom Solidaritätsfonds der Hans Böckler-Stiftung und der Bertha von Suttner-Stiftung, beide Düsseldorf, unterstützt.

Der georgisch-russische Medienkrieg

Der georgisch-russische Medienkrieg

von Jörg Becker

Kriege brechen nicht aus sondern werden gemacht, und bei den Vorbereitungen spielt die Einstimmung der Öffentlichkeit eine große Rolle. Im Gedächtnis haften blieb beispielsweise die Medienkampagne der PR-Agentur Hill & Knowlton, die 1990 nach dem Einmarsch des Irak in Kuwait im Auftrag der Gruppe »Bürger für ein freies Kuwait« die Stimmung in den USA und der Weltöffentlichkeit so anheizen sollte, das die USA dem Irak den Krieg erklären – was Anfang 1991 dann auch geschah. Im August 2008 führten Russland und Georgien einen kurzen Krieg. Der begleitende Medienkrieg, wieder unter Beteilung von PR-Experten, ist bis heute nicht beendet.

Der amerikanisch-französische Schriftsteller Jonathan Littell hat nicht nur den Bestseller »Die Wohlgesinnten« veröffentlicht, sondern auch ein »Georgisches Reisetagebuch« über seine Reise in den Kaukasus im August 2008 (Berlin-Verlag, Oktober 2008). Darin findet der Leser – quasi ganz nebenbei – auch die folgende Passage:

„Konkurrierende Versionen [über den Kaukasuskrieg vom August 2008], denen sehr reale politische Interessen zugrunde liegen, werden durch einen aufwendigen, mehr oder weniger raffinierten PR-Apparat – das, was man früher Propaganda nannte – unterstützt. Auf der russischen Seite bleiben die Methoden ziemlich primitiv: Während die Bürger, da der Kreml die Presse fast vollständig kontrolliert, kaum eine Alternative zur offiziellen Version der Ereignisse haben, ist diese für ausländische Beobachter wenig überzeugend, so wenig wie die ursprüngliche Anschuldigung des »Völkermords«. Auf der georgischen Seite dagegen bedient man sich modernster Methoden. So hat die Regierung eine belgische PR-Firma, Aspect Consulting, damit beauftragt, ihre Sicht der Außenwelt zur Kenntnis zu bringen. Der Firmengründer Patrick Worms, den die russischen Medien »den belgischen Meister der schwarzen PR« getauft haben, hat in jeder wichtigen europäischen Hauptstadt eine Arbeitsgruppe eingerichtet und setzt täglich eine Flut von Informationen und Schönfärbereien in die Welt, die die offizielle Version glaubhafter machen soll. Persönlich scheint er an das zu glauben, was er verbreitet.

»Hier draußen braucht man nicht aus Scheiße Gold zu machen.« Eines seiner größeren Projekte, das er zusammen mit Giga Bokeria [dem stellv. Außenminister Georgiens] realisierte, war eine offizielle Chronologie der Ereignisse, die Ende August an ausländische Journalisten und Diplomaten in Tiflis verteilt wurde. Nun wird aber in dieser so genannten Zeitschiene der Aggression ohne irgendeinen Beweis einfach festgestellt: »Ungefähr 150 Panzer- und Militärfahrzeuge der regulären russischen Armee drangen am 7. August in den Roki-Tunnel ein und rückten gegen Zchinwali vor.« Patrick Worms hat einigen Journalisten einen Entwurf dieses Dokuments vorgelegt, in dem er den von Bokeria vorgeschlagenen Text kommentiert. An dieser Stelle lautet seine Anmerkung vom 21. August: »Wann genau? Und woher wissen wir das? Und seit wann wissen wir es? Bevor sie in den Roki einfuhren oder seit sie ihn verlassen haben? Das ist der entscheidende Punkt, von dem alles, was wir sagen oder tun, abhängt!« Gute Fragen, die in der endgültigen Version unbeantwortet bleiben.“

Was ein Schriftsteller in dieser Passage quasi nebenbei erzählt, lässt sich auch wissenschaftlich recherchieren, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, da PR-Agenturen das Licht scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

PR-Agenturen für die georgische Regierung

Die georgische Regierung unter Micheil Saakaschwili hat alleine im Jahre 2008 eine größere zweistellige Millionensumme an amerikanischen Dollars für Medienmanipulation, Werbung und Public Relations ausgegeben, um ihr Image als junge westlich orientierte Demokratie bei der NATO, in den USA und in Westeuropa hoffähig zu machen. Im Jahre 2008 verteilten sich Lobbying und PR für Saakaschwili auf drei westliche Profis: Orion Strategies, Squire-Sanders Public Advocacy – beide mit Sitz in Washington – und Aspect Consulting in Brüssel, London, Paris und zeitweilig auch Tiflis. Die Orion-Gruppe war in der Hand des Lobbyisten Randy Scheunemann, dem früheren außenpolitischen Berater des republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten John McCain, und bei Squire-Sanders hatte das Sagen Patrick O’Donnell, früher Rechtsberater der ehemaligen US-Präsidenten Nixon und Ford.

Der wichtigste PR-Partner für die georgische Regierung war aber bis vor kurzem die PR-Agentur Aspect. Der deutsche PR-Spezialist Patrick Worms, der zuvor unter der früheren Kommissarin Margot Wallström in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der EU-Kommission gearbeitet hatte, und der englische PR-Spezialist James Hunt sind Gründer und Senior-Partner von Aspect Consulting, einem Unternehmen mit rund 40 Mitarbeitern. Nach Eigenauskunft auf ihrer Homepage geht Aspect davon aus, dass „Kommunikation der wichtigste Schlüssel zu geschäftlichem und organisatorischen Erfolg“ ist. Ein spezielles Gebiet von Aspect sind politische Kommunikation und Krisenmanagement: „80 Prozent eines Krisenmanagements bestehen aus Vorbereitung und Planung. Das Aspect-Team entwickelt Systeme und Prozesse, um sich auf operationale und attitudinale Krisen vorzubereiten. Wir bieten Hilfe von außen und sichern zu, dass robuste Systeme dann zur Stelle sind, wenn es eine Krise gibt. Wir managen auch den schlimmsten Fall, sollte er denn eintreten.“ (Beide Zitate stammen von der Homepage 2008.) Zu den kommerziellen Kunden von Aspect zählen u. a. McDonald’s Europe, Kraft Foods, Akzo Nobel, die deutsche Linde AG, Pepsico, Unilever oder Kellogg’s; zu seinen politischen Kunden schweigt sich Aspect freilich aus. Von den beiden Aspect-Gründern gilt James Hunt in der PR-Branche als »Mann fürs Grobe«. In der globalen Medienöffentlichkeit hat er schon so manches Meisterstück abgeliefert: Während der Brent-Spar-Krise 1995 half er erfolgreich dem Öl-Multi Shell, in der BSE-Krise 2000 schaffte er es, McDonald’s aus den negativen Schlagzeilen heraus zu holen und in späteren Krisen wischte er gekonnt die Bedenken von Gegnern genetisch manipulierter Saatgüter vom Tisch der Öffentlichkeit. In Tiflis war Aspect seit November 2007 mit 50 georgischen Mitarbeitern aktiv, um im Auftrag des georgischen Präsidenten und der georgischen Regierung das Bild Georgiens im Westen zu verbessern und um den erwünschten EU- und NATO-Beitritt medial vorzubereiten. Insider schätzen, dass Aspect dafür einen Betrag von 750.000 US$ erhalten hat.

Während in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 bereits georgische Truppen und Panzer nach Süd-Ossetien einbrechen und schlafende Menschen töten, demonstriert die georgische Regierung das, was Aspect „robustes Krisenmanagement“ nennt: Am Morgen des 8. August 2008 veranstaltete der georgische Premierminister Lado Gurgenidze ein gut besuchtes Investorentreffen mit fünfzig wichtigen US-amerikanischen Bankern. Hier intonierte Aspect die Melodie, die dann in den nächsten Kriegstagen erfolgreich durch die globale Medienwelt ging: „Brutal erdrückt der grausame russische Bär ein kleines demokratisches Land!“ Und Staatspräsident Micheil Saakaschwili kann genau diese Botschaft in vielen Interviews mit CNN und BBC ein ums andere Mal wiederholen, findet sogar am 11. August 2008 – also mitten im Krieg – Zeit, unter dem Titel »Der Krieg in Georgien ist ein Krieg für den Westen« einen eigenhändigen Beitrag für das Wall Street Journal zu schreiben.

Allein am Sonntag den 10. August 2008 verschickte Aspect 20 Presseinformationen an alle wichtigen westlichen Medien – insgesamt 70 waren es an den gesamten fünf Kriegstagen. Die Sprache dieser Mitteilungen war klar und deutlich. „Russland attackiert nach wie vor Zivilbevölkerung“, „intensives“ Bombardement der Hauptstadt Tiflis, europäische „Energiezufuhr“ durch russische Bomben nahe an Pipelines gefährdet, russische Blockade eines „humanitären Schiffes mit Weizen“, „Besetzung Georgiens“. Saakaschwili unterrichtet den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag über die Gefahr „ethnischer Säuberungen“.

Zwar waren Aspect-Meldungen, dass russische Jets Tiflis intensiv bombardieren würden und dass russische Truppen Gori eingenommen hätten, krasse Lügen, doch bestand die Sprache der Pressemitteilungen aus genau den Wörtern und Begriffen, die die westlichen Medien aus den Balkankriegen kannten – zivile Opfer, humanitär, Besetzung, ethnische Säuberung – und die damals die psychologische Vorbereitung und Einstimmung der Bevölkerung für eine »humanitäre Intervention« der NATO waren. Nach Ende der Kampfhandlungen sagte James Hunt in einem Interview mit dem Fachmagazin »PR Week«: „Es gibt Agenturen, die für Russland arbeiten. Ich weiß nicht, wie man sich bei einem derartigen Auftraggeber wohl fühlen kann. Ich glaube, ich war einfach auf der Seite der Engel. Bei den Journalisten haben wir ganz einfach an das Gefühl von richtig und falsch appelliert.“

Inzwischen ist dieser reale Krieg vom August 2008 längst vorbei und eine von der EU-Kommission eingesetzte Untersuchungskommission, die so genannte Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia vom September 2009 unter Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini, hat eindeutig und unzweifelhaft auf Seite 19 im 1. Berichtsband festgestellt: „Die offenen Feindseligkeiten begannen mit einer großen georgischen Militäroperation gegen die Stadt Tskhinvali und Umgebung in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008. Diese Operation begann mit einem massiven georgischen Angriff der Artillerie.“

Georgisch-russischer Medienkrieg

Diese beiden Sätze wurden bislang in keinem georgischen Massenmedium erwähnt, und wenn auch der reale Krieg längst vorbei ist, so geht der Medienkrieg zwischen Georgien und Russland unverdrossen weiter.

Medienmanipulation in Georgien

Das in Tiflis in Georgien erscheinende englischsprachige Magazin »Weekly Georgian Journal« zeigte auf dem Titelblatt seiner Ausgabe vom 12. bis 18. November 2009 einen jungen russischen Soldaten, der die vier georgischen Jugendlichen bewacht, die Anfang November die Grenze von Georgien nach Südossetien überquerten und dort seitdem widerrechtlich zurück gehalten werden. Doch der Leser traut seinen Augen kaum. Auf dem Ärmel der russischen Uniformjacke prangt ein großes Hakenkreuz! Wie bitte? Ein Hakenkreuz auf einer russischen Uniform? Eine Bildmontage, um die Russen medial mal wieder kräftig ins Reich des Bösen zu verdammen. Im Zeitalter digitaler Bildmanipulationen im übrigen eine recht plumpe Fälschung – hier wurde offensichtlich noch mit Schere und Klebstoff manipuliert.

Wer dieses Bild sieht und analysiert, wundert sich kaum, denn regierungsunabhängige Medien gibt es in Georgien nicht. Vielmehr drangen zum Beispiel Spezialeinheiten der Regierung Saakaschwili am 7. November 2007 in den Senderaum des oppositionellen TV-Senders »Imeti» (Hoffnung) ein und übernahmen ihn. Stattdessen gibt es seit 2007 mit »Sakartvelo« (Georgien) sogar ein staatliches Militärfernsehen, das die Bevölkerung mit martialischen Kriegsfilmen zu Patriotismus und Militarismus erziehen will, so wie das auch in den regierungsamtlichen Jugendcamps passiert, in denen allein von 2004 bis 2010 rund 100.000 georgische Jugendliche zu autoritärem Verhalten und Führerkult erzogen wurden. Und im staatlich kontrollierten TV-Kanal 1 gibt es durchaus auch mal eine Kinderstunde, in der Kinder im Kindergartenalter die Grenzen Georgiens mit Soldaten umstellen und dabei auch Schiffe an Georgiens Westküste im Schwarzen Meer einsetzen. Genauso wenig, wie es in Georgien unabhängige Medien gibt, genauso wenig gibt es eine unabhängige Opposition, da zum Beispiel die lang anhaltenden und großen Demonstrationen gegen Saakaschwili auf den Straßen von Tiflis im Frühjahr 2009 von der georgischen Mafia unter Leitung von Lascha Schuschanaschwili unterwandert worden waren.

Spielfilm »5 Days of War«

Im Juni 2011 hatte der Jubel- und Kriegsfilm »5 Days of War« des finnisch-US-amerikanischen Filmregisseurs Renny Harlin vom Filmstudio Rexmedia aus Los Angeles seine Premiere. Hier werden die Russen als Bestien und Wilde gezeigt und Saakaschwili wird nochmals als Opfer und Sieger abgefeiert – da ist es völlig egal, wie die historische Wahrheit aussieht. In den USA erhielt dieser Film bei der Altersfreigabe ein »R« (Restricted), da er extrem gewaltätige und blutige Kriegszenen und -verbrechen mit besonders obzönen Dialogen enthält..

Wer hat diesen Multi-Millionen-Film mit dem kubanisch-US-amerikanischen Hollywoodschauspieler Andy Garcia in der Rolle von Saakaschwili bezahlt? Befragt man Rexmedia, ob die georgische Regierung den Film bezahlt habe, wird das strikt zurück gewiesen, der Film werde völlig normal finanziert, nämlich durch „Private-equity-Kapital, Vorverkäufe und Bankenfinanzierung“. Wer sich nach dieser Auskunft freilich hinter dem Private-equity-Kapital verbirgt, muss offen bleiben – es könnte sowohl der georgische Staat als auch das International Republican Institute sein, in dem der US-amerikanische Georgien-Lobbyist Randy Scheunemann Sitz und Stimme hat. Im Kino ist der Film gefloppt.

Der Disput zwischen »First Caucasian TV« und Eutelsat

Im Januar 2010 warf der in Georgien ansässige russischsprachige TV-Sender »First Caucasian« der russischen Firma Gazprom-Media (www. gazprom-media.com) vor, die Ausstrahlung seines TV-Programms in Russland dadurch zu blockieren, indem sie alle entsprechenden Frequenzen des Eutelsat-Satelliten aufgekauft habe. Georgien beschuldigte Russland zum wiederholten Mal, einen Propagandakrieg zu führen und den Satellitenbetreiber Eutelsat unter Druck zu setzen, während Russland argumentierte, Eutelsat wende ausschließlich betriebswirtschaftliche Kriterien an. Die westlichen Medien thematisierten diesen Konflikt in aller Breite:

Georgian TV ’blocked by Russia‘“ (BBC, 1. Februar 2010)

„Georgia Russian-language TV channel has troubled start“ (BBC, 2. Februar 2010)

„Georgian TV Channel Says Russian Company Elbowed It Off the Air“ (The New York Times, 2. Februar 2010)

„First Caucasian TV takes Eutelsat to court“ (AFP, 4. Februar 2010)

„A Clear Signal From Eutelsat“ (WSJE, 4. Februar 2010)

„Kremlin’s reach – Letter to the Editor“ (The Times, 4. Februar 2010)

„Georgian TV channel loses French »censorship« case“ (BBC, 14. Juli 2010)

„Russian-language Georgian TV to start broadcasting“ (BBC, 25. Januar 2011).

Ausblick

Das Problematische am georgisch-russischen Krieg ist nicht so sehr, dass für Entscheidungen in der internationalen Politik erstens ein Medienkrieg wichtiger ist als ein realer Krieg und dass zweitens dieser Medienkrieg noch andauert. Nein, viel wichtiger und folgenschwerer sind folgende Zusammenhänge:

Während die Brüsseler PR-Agentur Aspect Consulting für Georgien arbeitet(e), war eine andere Brüsseler PR-Agentur für Russland aktiv, nämlich die Europa-Abteilung von Gplus. Mit anderen Worten: So mancher in den Medien porträtierte Konflikt hat nichts mit dem wirklichen Konflikt zu tun, sondern ist ein sozial konstruierter Konflikt von zwei ökonomisch miteinander konkurrierenden und um die mediale Aufmerksamkeit ringenden PR-Agenturen.

Bei allen wichtigen internationalen Konflikten geht es den mit der sozialen Konstruktion daran beteiligten PR-Agenturen primär und in allererster Linie darum, ihre Botschaften in US-amerikanischen Medien zu platzieren, um das Handeln der US-Regierung und der US-Abgeordneten im Senat und Abgeordnetenhaus im Sinne ihrer sie bezahlenden Auftraggeber zu beeinflussen. Diese US-amerikanische Komponente verdient mehr Aufmerksamkeit als bisher.

Galt die Presse einer kritischen Kommunikationstheorie früher stets als Manipulationsinstrument (wie differenziert oder simpel auch immer die Theoriebildung war: komplex bei Adorno und als Modell einer Konsensfabrik äußerst simpel bei Chomsky), so hat die Presse diese gesellschaftliche Funktion gegenwärtig weitgehend an die PR-Industrie abgegeben. Zwar kann man ihr zugute halten, »mitgehangen, mitgefangen« zu sein, doch fallen die Gewichtungen immer ungünstiger für die Presse aus, und inzwischen wurde sie weitgehend zum Manipulationsopfer der PR-Industrie.

Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag für die »Political Economy Section« der Konferenz der »International Association for Media and Communication Research«, die vom 13. bis 17. Juli 2011 in Istanbul/Türkei stattfand. Jörg Becker ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkt: internationale Medienpolitik.

Digitale Revolution?

Digitale Revolution?

Soziale Netzwerke in Nordafrika

von Nazir Peroz

Elektronische Medien haben die politischen Aktionsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft verändert – und das nicht nur »im Westen«. Das Internet spielt z.B. in China eine große Rolle. Und nun bewies es seine Tauglichkeit zur Mobilisierung auch im arabischen Raum.

Seit dem Beginn der politischen Unruhen in Tunesien überschlagen sich in Nordafrika die Ereignisse – und die Weltöffentlichkeit ist immer gut informiert. Junge Tunesierinnen und Tunesier und Online-Aktivisten, die sich überwiegend mit Mobiltelefonen über Internet-Anwendungen vernetzten, erreichten so von Anfang an mit ihrer Stimme die Weltöffentlichkeit und verbreiteten aktuellste Informationen (Essa 2011). Diese Bewegung wurde möglich, weil die staatliche Kontrolle im Internet – anders als in China oder dem Iran – in Tunesien aufgrund mangelhafter Fachexpertise des technischen Personals unzureichend war. Dem Beispiel der tunesischen Protestbewegung folgten Aktivisten in Nachbarländern mit ähnlichen politischen Verhältnissen und brachten weitere Regierungen, z.B. im Jemen, in Ägypten, in Libyen und in Syrien, ins Wanken und teilweise sogar zum Sturz. Die Machthaber in Ägypten versuchten anfangs zwar gezielt, Kommunikationswege abzuschalten, konnten dies aber nicht dauerhaft durchsetzen (Schumann 2011).

Bedeutung des Internet und der digitalen Netzwerke

Die flächendeckende Verbreitung des Internet begann zunächst mit der kommerziellen Nutzung der E-Mail-Kommunikation Anfang der 1990er Jahre. Wenige Jahre später entwickelte sich das World Wide Web zum Standard für die Verbreitung von Informationen jeder Art. Es gilt als eine der größten Veränderungen der Medienlandschaft seit der Erfindung des Buchdrucks, mit großen Auswirkungen auf verschiedenste Bereiche des alltäglichen Lebens.

Eine zunehmende Bedeutung erhält das Internet durch die Nutzung von digitalen sozialen Netzwerken. Die Benutzer erstellen dabei eigene Inhalte und können selbst aktiv werden, z.B. durch die Verbreitung von Informationen oder die Mobilisierung zu Aktionen. Zu den bekanntesten dieser Dienste gehören Facebook, Myspace, Twitter, XING und Linkedln.

In kurzer Zeit entwickelten sich die digitalen sozialen Netzwerke zu einem neuen Kommunikationsmedium, welches sich zum Austausch und zur Weiterverbreitung von Informationen und damit auch zum Mittel der politischen Bildung entwickelt hat. Das Internet und die digitalen sozialen Netzwerke beeinflussen inzwischen den Alltag und prägen die persönliche Lebensgestaltung vieler Menschen sowie die Entwicklung des gesellschaftlichen Raumes. Sie geben Menschen, die in geschlossenen, autoritären Systemen leben, neue Hoffnung und stellen sie auch vor neue Herausforderungen. Hier kann sich jede Nutzerin und jeder Nutzer zum politischen Geschehen äußern. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer kann sowohl Sender als auch Empfänger sein.

Somit kommt dem Internet heute eine ganz neue politische Bedeutung zu. Dies erkannten auch die Menschen in Tunesien und in Ägypten. Vor allem junge Menschen in diesen Ländern nutzen die digitalen sozialen Netzwerke, um die Weltgemeinschaft nach Jahrzehnten der Unterdrückung auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Sie schufen eine Weltöffentlichkeit und drängen mit Nachdruck auf politische und gesellschaftliche Veränderung in ihren Ländern.

Auch wenn auf den Bildern und in den Berichten alle Aktionen sehr spontan aussehen – es bedarf doch außer dem ungeheuren Veränderungswillen, der durch wirtschaftliche Not, Steigerung der Nahrungsmittelpreise und Perspektivlosigkeit der jungen Menschen ausgelöst wird, auch einer gewissen Koordination, also einer politischen Bewegung. Eine solche Bewegung bewirkt gleichzeitig eine virtuelle politische Bildung entlang der eigenen politischen Interessen und fördert durch die Diskussion von Befindlichkeiten, Kritik, Weltanschauungen etc. einen kulturellen Wandel.

Diese politische Bewegung hat vielen Menschen in Staaten mit ähnlichen politischen Verhältnissen die Hoffnung gegeben, ihr politisches Schicksal selbst bestimmen zu können. Was diese Menschen wollen, ist Demokratisierung der Gesellschaft, Freiheit, Wohlstand, Selbstbestimmung und letztlich eine offene Gesellschaft, Transparenz sowie die Verwirklichung von Menschenrechten.

Das Internet als Instrument politischer Bewegungen

Grundsätzlich können das Internet und die digitalen sozialen Netzwerke der Entwicklung von Demokratie und Partizipation nützlich sein. Sie erleichtern und ergänzen alle Formen der Beteiligung an Diskussionen und Debatten. Die digitalen sozialen Netzwerke fördern den Austausch zwischen Menschen innerhalb einer Gesellschaft und erhöhen damit politische Teilhabe und Einflussnahme.

Bewegungen, die versuchen, auf politische Entscheidungen oder die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen, brachten sich früher auf der Straße oder über Printmedien zu Gehör. Mit dem Internet und den digitalen sozialen Netzwerken hat sich das geändert, außerdem wurde die Kommunikation stark beschleunigt. Online-Diskussionen und Online-Propaganda sind daher geeignete Instrumente zur Verbreitung und Umsetzung politischer Forderungen. (Dies gilt natürlich ebenso für die Verbreitung populistischer Parolen durch radikale Kräfte. (Konopka 2011))

Mittels digitaler sozialer Netzwerke werden Individuen und Gruppen in die Lage versetzt, sich zu bestimmten Anlässen oder Themen zusammenzuschließen, um Ziele gemeinsam durchzusetzen. Interessant ist dabei, dass in digitalen sozialen Netzwerken der räumlich abwesende Mensch Präsenz zeigt und auf vielen Aktionsfeldern gleichzeitig virtuell aktiv sein und eine Vielzahl politischer Ziele unterstützen kann. Das Beispiel der nordafrikanischen Staaten hat gezeigt, wie digitale soziale Netwerke dabei helfen, innerhalb kurzer Zeit politisch geschlossene Systeme zu sprengen.

Eine besonders wichtige Rolle nehmen die neuen Kommunikationsformen offenbar bei der Organisation des transnationalen Protests und der transnationalen Solidarisierung ein. Von wesentlicher Bedeutung für die Arbeit und die Selbstdarstellung zivilgesellschaftlicher Gruppen scheint die Möglichkeit zu sein, Informationen zu sammeln und an Mitglieder und die interessierte Öffentlichkeit via Websites, Mailinglisten oder Mobiltelefone zu verbreiten. Umgekehrt können interessierte Menschen selbst einfach Informationen direkt bei den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren abrufen und sich im Netz artikulieren. Zu beobachten sind auch Fälle, in denen es Nutzerinnen und Nutzern gelingt, beispielsweise über Weblogs (Blogs) Einfluss auf politische Themen auszuüben.

Kluft durch fehlende Voraussetzungen

Die digitalen sozialen Netzwerke sind ein komplexes Phänomen, das von zahlreichen sozialen, wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und technischen Faktoren abhängt. So setzt die Nutzung der Potenziale des Netzes als Raum politischer Kommunikation neben Medienkompetenz auch politisches Wissen, Engagement sowie vor allem funktionierende IT-Strukturen voraus. Die neuen Formen der Kommunikation im Internet und der damit verbundene kulturelle Wandel stellen viele Länder also vor große Herausforderungen.

Zwar kann die Nutzung der digitalen sozialen Netzwerke nach den Ereignissen in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern in der Region sicherlich als Chance zur Unterstützung und Stärkung der Demokratiebewegung und allgemein der politischen Bildung, der Selbstdarstellung, der Meinungsbildung und der Mobilisierung der Massen verstanden werden. Mit wachsendem Gewicht der sozialen Medien steigt aber auch die Gefahr der Exklusion. Vor allem in Afrika, Südamerika und Asien haben zahlreiche Menschen aufgrund ihres sozioökonomischen Status, Bildungsabschlusses, Alters etc. keinen Zugang zu digitalen sozialen Netzwerken und sind damit vom Zugang zu politischen Informationen, der Transparenz politischer Prozesse und auch der Teilhabe an Entscheidungsfindungen und damit von der aktiven Teilhabe an der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Wenn Menschen, unabhängig davon, an welchen Orten und zu welcher Zeit sie sich befinden, zur Partizipation an der Gesellschaft, zur Selbstbestimmung ihres Handelns durch politisches Bewusstsein und zur Kommunikation zwischen politischen Akteuren befähigt werden sollen, dann ist es notwendig, allen gleichermaßen die Voraussetzungen zur Nutzung des Internets zu ermöglichen, damit sie sich eben jene Informationen beschaffen und Fähigkeiten aneignen können. Das aber braucht Zeit.

Internetpräsenz hängt von soliden und funktionierenden IT-Strukturen ab, vor allem von der zuverlässigen Versorgung der erforderlichen Geräte mit Elektrizität. Ohne Strom funktionieren weder Computer noch das Internet. Aber gerade daran fehlt es in vielen Ländern. Nur etwa 8% der ländlichen Bevölkerung in Afrika sind an das Stromnetz angeschlossen. In einigen Ländern fällt der Strom landesweit häufiger für eine ganze Woche aus. In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten afrikanischen Land, haben nur ca. 40% der Bevölkerung Zugang zu Elektrizität (Peroz 2010). Der Bevölkerungsanteil mit Zugang zum Internet liegt in den USA bei über 74% und in Westeuropa bei über 50%. Neueste Zahlen zeigen, dass von ca. 991 Millionen Einwohnern in Afrika nur ungefähr zehn Millionen Zugang zum Internet haben.

Doch nicht nur die fehlende IT-Infrastruktur ist ein Problem. Es sind auch Ungleichheiten in der Bildung und in der Ausbildung, die Mängel an der Medienkompetenz verschärfen, anstatt bildungsschwache Menschen gezielt zu fördern. So haben ca. 90% der afrikanischen Internetnutzer eine Hochschulausbildung und kommen aus der einkommensstärksten Schicht (Peroz 2010). Für die übrigen Menschen fehlen in der Regel politische Bildungsprogramme, die auch nachhaltig umgesetzt werden.

Das erste Ziel der globalen Initiative »Bildung für alle«, die im Jahr 2000 auf dem Weltbildungsforum in Dakar von der UNESCO gestartet wurde (UNESCO o.J.) – allen Kindern bis zum Jahr 2015 den erfolgreichen Abschluss der Primarschule zu ermöglichen – wird von vielen dieser Ländern nicht erreicht werden, weil die Voraussetzungen hierfür fehlen. Verschärft wird die Lage in vielen Ländern durch mangelhafte Verwaltungsstrukturen, ineffektive Bürokratie, Korruption und andere Faktoren.

Die massiven Protestbewegungen der letzten Monate haben bereits zum Sturz einiger Machthaber in den nordafrikanischen Ländern geführt. An den Macht- und Verwaltungsstrukturen, an Bürokratie, Korruption und anderen behindernden Faktoren hat sich jedoch bislang kaum etwas geändert. Es ist nun die Aufgabe der neuen Regierungen dieser Länder und der Weltgemeinschaft, diese Strukturen nachhaltig zu reformieren und damit die Motivation und den Antrieb der jungen Menschen zur Veränderung zu erhalten, um ihnen eine Perspektive zu ermöglichen und die Länder vor künftigem Chaos zu bewahren.

Literatur

Azad Essa: In Search of an African revolution. International media is following protests across the »Arab world« but ignoring those in Africa. Al Jazeera, 21.2.2011.

Harald Schumann: Digitaler Krieg: Was ist der Cyberwar? Tagesspiegel vom 30. Januar 2011, S.2.

Nazir Peroz (2009): IT-Strategie und politische Bildung für arme Länder. In: Bernd Overwien und Hanns-Fred Rathenow (Hrsg.): Globalisierung fordert politische Bildung. Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

Melitta Konopka: Das Internet als Instrument zur politischen Mobilisierung. 26. Juli 2011; suite101.de.

Nazir Peroz (2010): Strategieentwicklung für bestimmte Entwicklungsländer im Bereich Informationstechnologie. Berlin: Pro BUSINESS GmbH.

Deutsche UNESCO Kommissione.V. (o.J:): Bildung für alle; unesco.de/efa.html.

Dr. Nazir Peroz ist Leiter des Zentrums für internationale und interkulturelle Kommunikation (ZiiK) an der Fakultät Elektrotechnik und Informatik der TU Berlin. Er leitet das Arbeitsgebiet Informatik und Entwicklungsländer.

Pressefotografie und Kriegs-Realität

Pressefotografie und Kriegs-Realität

Der Gaza-Krieg in FAZ und SZ

von Felix Koltermann

Wenn gewalttätige Konflikte zu Kriegen eskalieren, kommt der massenmedialen Berichterstattung eine wichtige Rolle zu. Dies gilt auch für den Gaza-Krieg, der zum Jahreswechsel 2008/09 über die Nachweihnachtszeit herein brach. Ein elementarer Teil der Berichterstattung war dabei die Pressefotografie. Um die stetige Bedeutungszunahme von Bildern und deren Allgegenwart in den Massenmedien zu beschreiben, ist heute viel vom sogenannten »Pictorial Turn« oder »Iconic Turn« die Rede. Im Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzungen stehen Bilder jedoch selten. Um diese Lücke zu füllen, wurden in einer Produktanalyse die Bildberichterstattung der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) und der »Süddeutschen Zeitung« (SZ) über den Gaza-Krieg miteinander verglichen. Der Untersuchung lag die Annahme zu Grunde, dass die Bildberichterstattung eine besondere Form der Wirklichkeitskonstruktion darstellt und mediumspezifische »Bilder« des Gaza-Kriegs zeichnet.

Seit Beginn massenmedialer Berichterstattung haben Bilder in den Printmedien die Funktion von Eye-Catchern. Sie lenken den Blick des Betrachters auf eine Publikation und sollen Interesse wecken. Dabei ist die Visualisierung in den Printmedien heute zu einem eigenen Nachrichtenfaktor geworden. Neu ist die Bedeutungszunahme von Bildern im letzten Jahrzehnt. In der Publikationspraxis zeigt sich dies unter anderem daran, dass sich von 2000 bis 2006 die mittlere Anzahl der Bilder pro Seite erhöht hat (vgl. Grittmann 2008: 227). Dazu kommt, dass einige Medien wie die FAZ dazu übergegangen sind, auch ihre Titelseite zu bebildern. Dies entspricht ganz entscheidend dem Konsumverhalten der Nutzer, wie eine Untersuchung von Müller zeigt. Sie weist nach, dass der Blick auf eine Zeitungsseite ganz entscheidend von Bildern geleitet wird und nur ein kleiner Teil der Betrachter einen Artikel komplett zu Ende liest (Müller 2001: 27).

Funktion von Bildern

Bildern muss in der wissenschaftlichen Analyse aufgrund der im vorhergehenden Absatz skizzierten Bedeutung eine verstärkte Aufmerksamkeit zukommen. Stärker als Text genießen sie beim Rezipienten einen Vertrauensvorschuss. Laut Leifert fungieren sie „[t]rotz aller berechtigter Zweifel (…) als Belege im Sinne von »es ist so gewesen« (…)“ (Leifert 2007: 247). Sie komprimieren die Realität1 und verdichten „Ausschnitte der Realität zu einem enträumlichten und entzeitlichten Gesamteindruck“ (Müller 2003: 86). Das entstandene Produkt kann laut Haller als versinnbildlichter Ausdruck dessen gelten, „was insgesamt das Geschehen ausmacht“ (Haller 2008: 276). Insbesondere bezogen auf die Darstellung von Kriegen und Konflikten haben Bilder nach Ansicht von Link die Funktion, maximale Authentizität herzustellen (vgl. Link 2000: 246). Sie suggerieren journalistische Objektivität und damit auch, dass ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat, und werden im Prozess der Bedeutungskonstruktion zur visuellen Evidenz für die geschriebene Geschichte (vgl. Woodward 2007: 12). Dabei können Bilder aufgrund ihrer technischen Beschränktheit sowie der Subjektivität des Fotografen immer nur einen Ausschnitt aus einem Geschehen zeigen.

Fotografie über Kriege

Die visuelle Kommunikationsforschung geht davon aus, dass „[n]ur Kriege, die massenmedial Bildzeugnisse hinterlassen, (…) Kriege [sind], die im Gedächtnis haften bleiben“ (Müller/Knieper 2005: 7). In der gesellschaftlichen Wahrnehmung haben Krisen und Kriege, über die nicht berichtet wird, scheinbar nicht stattgefunden, egal ob dort Menschen zu Tode kommen oder nicht (vgl. Zöllner 2007: 8). Das Besondere der Krisen- und Kriegsberichterstattung ist, dass dort meist über Regionen und Themen berichtet wird, die dem Betrachter und Rezipienten aus eigener Erfahrung unbekannt sind. Umso wichtiger sind Bilder, um Informationen plastisch zu machen. Problematisch ist, dass dem Betrachter das Korrektiv der »Primärerfahrung« fehlt, um die Bilder und Informationen einschätzen zu können. Das heißt, dass »Bilder« über Kriege und Konflikte, die wir in uns tragen, nicht auf eigenem Erleben, sondern auf medial vermittelten Bildern beruhen. Das Realgesicht des Krieges wird damit in der Wahrnehmung der Menschen nach Ansicht von Paul durch das „Deutungsgesicht“ des Krieges ersetzt (vgl. Paul 2004: 477).

Bilder und die Deutungshoheit über Konflikte

Die Berichterstattung ist dabei heute nicht mehr losgelöst vom eigentlichen Konflikt zu betrachten. Der Kampf um die Deutungshoheit des Konflikts wird allem voran in den Medien geführt. Die Art und Weise, wie Medien berichten, trägt zur Verbreitung und Verfestigung spezifischer Narrative bei. Dabei klaffen, insbesondere bezogen auf den Nahostkonflikt, die durch die Medien konstruierte Wirklichkeit des Konflikts und die Realität vor Ort meist auseinander (Dreßler 2008: 192). Die Kriegsparteien versuchen mal mehr, mal weniger strategisch geplant direkt oder indirekt Einfluss auf die Berichterstattung zu nehmen. Durch eine eigene Bildpolitik, die vor allem dadurch ausgeübt wird, dass der Zugang von Beobachtern zum Kampfgeschehen strategisch geregelt wird, beeinflussen die Kriegsparteien gezielt die öffentliche Wahrnehmung der Auseinandersetzung, sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene. Insbesondere wenn es, wie im Gaza-Krieg, für Israel darum geht, die eigene Abschreckungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, kommt dem medial vermittelten Bild dieser Fähigkeit eine entscheidende Rolle zu.

Untersuchungsmethode und Fallauswahl

Die Analyse der Bildberichterstattung bezieht sich auf Ansätze der visuellen Kommunikationsforschung. Laut Müller lassen sich primär drei Ebenen der Analyse visueller Produkte unterscheiden: die Produktionsanalyse, die Produktanalyse und die Wirkungsanalyse (vgl. Müller 2003: 13 ff.). Während die Produktionsanalyse den Entstehungsprozess analysiert und die Wirkungsanalyse Wahrnehmung und Rezeptionsformen untersucht, widmet sich die auch für diese Arbeit benutzte Produktanalyse dem veröffentlichten Material. Dabei werden die einzelnen Bilder nach bildimmanenten Kriterien untersucht. Einige Kriterien sind standardisiert, wie beispielsweise Form und Farbigkeit, andere müssen ausgehend vom Bildinhalt für den speziellen Untersuchungskontext neu gebildet werden. Die Medien-Auswahl fokussierte auf zwei Leitmedien der deutschen Qualitätspresse, die FAZ und die SZ, die stellvertretend für das konservative und das liberale Spektrum stehen. Für die vorliegende Analyse wurden alle Ausgaben der FAZ und der SZ untersucht, die zwischen dem 27. Dezember und 19. Januar erschienen.2 Die Untersuchung wurde im Online-Archiv durchgeführt. Das Ergebnis war ein Grundstock von 111 Bildern, von denen 34 auf die FAZ und 67 auf die SZ entfielen.

Ergebnisse der quantitativen Analyse

In einem ersten Schritt wurden die Bilder einer quantitativen Analyse unterzogen. Um die Relevanz der Bilder für die Untersuchungsmedien zu bestimmen, wurden die Bildanordnung und das Erscheinungsdatum im Medium untersucht. Bei der Bestimmung der Bildanordnung im Medium zeigte sich, dass mehr als 50% der Bilder in der FAZ wie in der SZ auf den ersten drei Seiten erschienen waren. Während die SZ hier die Rubriken »Thema des Tages« (auf der Seite 2 zu finden) und »Seite Drei« hat, gibt es bei der FAZ nur die Rubrik »Politik«. Ein Unterschied war bei der Bedeutung der Bilder für die Titelseite festzustellen. Während in der FAZ im Untersuchungszeitraum nur 9% der Bilder auf der Titelseite erschienen, waren es bei der SZ 13%. Der Blick auf das Erscheinungsdatum zeigte, dass außer an drei Tagen in der FAZ und einem Tag in der SZ an allen Tagen Bilder über den Krieg erschienen. Bezüglich der Häufung war jedoch ein Abflauen in der dritten Kriegswoche zu beobachten. Beim Blick auf die Farbigkeit bestätigte sich der allgemeine Trend in der journalistischen Fotografie weg von Schwarz/Weiß. Bei der SZ waren immerhin noch 24% der Bilder in Schwarz/Weiß, bei der FAZ nur 12%.

Zur Feststellung der Herkunft der Bilder und zur Bestimmung des Verhältnisses von Agentur-Bildern zu Material freier Fotografen wurden die Quellen der Bilder untersucht. Hier zeigte sich, dass die SZ auf ein breites Spektrum von insgesamt 14 verschiedenen Quellen zurückgreift. Die Agenturen Reuters und AP zeichnen für 21% bzw. 22% der Bilder verantwortlich, gefolgt von AFP und DPA (15% bzw. 16% der Bilder). Immerhin 4,5% der Bilder stammen von einer freien Fotografin. Bei der FAZ dagegen ist das Spektrum wesentlich schmaler. Die Bilder stammen nur aus 6 verschiedenen Quellen, mit einem Anteil von fast 41% der Bilder von Reuters, was die marktbeherrschende Position dieser Agentur bestätigt. Damit werden die Ergebnisse andere Untersuchungen bezüglich der Dominanz von Agentur-Material bestätigt. Bedenklich ist, dass der Name des Fotografen nicht genannt wird und der Betrachter somit die Herkunft des Bildes nicht zurückzuverfolgen kann.

Ergebnisse der qualitativen Analyse

Für die qualitative Analyse wurden die Bilder in die Kategorien Kleinportraits sowie situativ-journalistische Bilder aufgeteilt. Diese Einteilung wurde notwendig, da die Bilder zu unterschiedliche Charakteristika aufweisen, um sie in einer Kategorie zu fassen. Kleinportraits zeigen meist nur einen Akteur, sind ungefähr briefmarkengroß und können nur nach einem eingeschränkten Kriterienkatalog untersucht werden. Sie werden gerne dazu benutzt, um in Artikeln oder Kommentaren erwähnten Personen ein Gesicht zu geben. Bilder der Kategorie situativ-journalistisch zeigen dagegen eine größere Bandbreite von Situationen aus dem Umfeld des Krieges. Die weitere Analyse wird sich nur auf Bilder dieser Kategorie beziehen, zu der in der FAZ 30 Bilder und in der SZ 48 Bilder gehörten.

Nähe oder Distanz: Die Einstellungsgröße

Um herauszufinden, wie nah der Betrachter an die fotografierten Situationen herangeführt wird, wurden die Bilder nach vier verschiedenen Einstellungsgrößen untersucht. Dazu gehören die Großaufnahme, als kleinst-möglichem Ausschnitt aus einem Ganzen, die Nahaufnahme, die Halbtotale und die Totale als größtmögliche Übersicht über eine dargestellte Situation. Dabei zeigte sich, dass nur die SZ auf die Kategorie Großaufnahme zurückgreift und zwar in 4% der Bilder. Bei der FAZ lag der Schwerpunkt mit 46%, im Vergleich zu 25% der Bilder bei der SZ, auf der Totalen. Daraus lässt sich ableiten, dass die FAZ eher einen etwas zurückhaltenderen Blick auf das Geschehen hat, während die SZ den Betrachter näher heranführt. Die Kategorie Einstellungsgröße lässt sich gut mit der Kategorie Personen/Sachdominanz in Verbindung setzen. Hier wird versucht, die Bedeutung der Darstellung von Personen gegenüber einer rein gegenständlichen Darstellung ermessen zu können. Die Bandbreite reicht dabei von Personen ohne Raumansicht über Sachdominanz mit Personen bis zu rein gegenständlichen Bildern. Dabei zeigte sich, dass die SZ einen wesentlich stärkeren Fokus auf Personen ohne Raumansicht legt als die FAZ (19% der Bilder im Vergleich zu 3%). Die FAZ legt dagegen ein stärkeres Gewicht auf rein gegenständliche Bilder (17% der Bilder). Da rein gegenständliche Bilder weniger emotional sind als Personenabbildungen, verstärkt dies die Tendenz von mehr eingesetzten Totalen bei der FAZ und die Interpretation der Berichterstattung als zurückhaltend und distanziert.

Die geografische Einordnung

Zur geografischen Einordnung der dargestellten Orte wurden die Bildunterzeilen ausgewertet. Neben den für den Konflikt geografisch wichtigsten Regionen Israel, Gaza und Westbank wurden die beiden Cluster Naher Osten und Europa gebildet. Wenn in der Bildunterzeile keine Informationen vorhanden waren, wurden die Bilder als nicht klassifizierbar eingestuft. Hier zeigte sich die begrenzte Aussagefähigkeit der in der Bildunterzeile gegebenen Informationen, da eine genaue Zuordnung über die grobe geografische Einordnung hinaus meist nicht möglich war. Bei der SZ gab es einen etwas größeren Schwerpunkt auf Bilder aus dem Gazastreifen mit 44% im Vergleich zu 37% bei der FAZ, während der Anteil von Bildern aus Israel bei beiden untersuchten Medien ähnlich war. Erstaunlich war, dass fast 25% der Bilder in der FAZ Situationen im Nahen Osten oder Europa zeigten, während es in der SZ nur 10% waren. Nicht klassifizierbar waren in beiden Medien 10% der Bilder. Die geografische Präferenz bedeutet jedoch nicht automatisch eine inhaltliche Aussage. So zeigten viele Bilder aus dem Gazastreifen israelische Soldaten oder Panzer im Einsatz. Somit lassen sich hier allenfalls Tendenzen feststellen. Herauszuheben ist jedoch die Präferenz der FAZ für Bilder aus dem Nahen Osten und Europa.

Akteure im Bild

Um die geografischen und inhaltlichen Prioritäten auszuwerten, wurden neben der geografischen Einordnung auch die dargestellten Akteure bestimmt. Die Gruppen, die gebildet wurden, ergaben sich aus der sichtbaren Funktion der Akteure in den Bildern. Der Hauptunterschied lag zwischen zivilen und militärischen Akteuren. Diese Einteilung bedeutet nicht, dass auch immer Menschen dargestellt wurden. So stellt ein israelischer Panzer klar die israelische Armee als Akteur dar. Alle Akteure, die nicht klar durch ihr Aussehen oder die Bildinformationen als militärische Akteure gekennzeichnet waren, wurden als Zivilisten betrachtet. Andere Kategorien bezogen sich auf Repräsentanten von Organisationen. Während die verschiedenen zivilen Akteure bei der SZ zusammen 60% der Bilder ausmachten, waren es bei der FAZ nur 38%. Es wurde deutlich, dass mit 38% der Bilder ein Schwerpunkt der SZ auf Zivilisten aus dem Gazastreifen lag. Bei der FAZ waren es nur 13%. Dagegen machten in der FAZ Bilder mit Zivilisten aus anderen Ländern des Nahen Ostens und Europa 15% aus. Im Vergleich zur SZ hatte die FAZ des Weiteren einen stärkeren Schwerpunkt auf gegenständlichen Bildern. 13% waren rein gegenständlich bzw. ohne einen Akteur, doppelt so viel wie bei der SZ. Bilder palästinensischer Kämpfer spielten nur eine geringe Rolle in beiden Medien. Dies lag wahrscheinlich am Bilderverbot der Hamas im Gazastreifen. Bei den publizierten Bildern dazu handelte es sich insofern um Archivbilder, auch wenn diese nicht als solche kenntlich gemacht wurden. Die israelische Armee war in beiden Medien prozentual gesehen gleich stark vertreten. Auch wenn von der Verteilung her die FAZ eine vermeintlich größere Ausgewogenheit zeigte, ist eine deutliche Tendenz hin zur israelischen Armee und rein gegenständlichen Bildern erkennbar. Bei der SZ war dagegen klar ein Schwerpunkt auf Zivilisten aus dem Gazastreifen erkennbar. Erstaunlich ist, dass nur in wenigen Bildern zwei oder mehr Akteure auftauchten.

Bildinhalte und Motivgruppen

Ausgehend von der Untersuchung der dargestellten Bildinhalte wurden Motivgruppen gebildet. Hier zeigen sich die größten Unterschiede in der Bildberichterstattung der beiden untersuchten Medien. Die wichtigste Motivgruppe stellte bei der SZ mit 21% der Bilder materielle Kriegsfolgen dar, gefolgt vom Alltag der Zivilbevölkerung in Gaza in 12,5% der Bilder. Bei der FAZ dagegen war in 20% der Bilder die Kategorie Demonstrationen/Protestveranstaltungen zu finden. Ein Großteil dieser Bilder zeigte Proteste außerhalb der eigentlichen Konfliktregion in Europa und dem Nahen Osten. Dass es keine Bilder von Kampfhandlungen gab, ist mit der weitreichenden Zensur und dem beschränkten Zugang zur Konfliktregion zu erklären. Menschliches Leid in Form von Opfern oder Verwundeten war in der FAZ in keinem Bild zu sehen, bei der SZ in 10% der Bilder. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass in der FAZ die Kategorien »Demonstration«, »Einschlag/Rauchwolke«, »soldatischer Alltag« und »materielle Kriegsfolgen« überwogen. Damit wird ein Bild des Krieges gezeigt, in dem kein menschliches Leid erkennbar ist. Der Protest gegen den Krieg wird dagegen herausgehoben. In der SZ lag der Schwerpunkt der Bildberichterstattung dagegen auf den Inhalten »materielle Kriegsfolgen«, »Alltag der Zivilbevölkerung« in Gaza und »menschliches Leid«. Damit werden die negativen Folgen des Krieges für die Menschen der Region und die Infrastruktur hervorgehoben.

Auswertung der Analyse und Fazit

Die Produktanalyse der Bildberichterstattung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung zeigte deutlich, dass beide Medien eine unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktion des Krieges vorgenommen haben. Damit wurden unterschiedliche »Bilder« des Krieges gezeichnet. Die Vorliebe der FAZ für Totalen und gegenständliche Bilder weist auf einen eher zurückhaltenden und distanzierten Blick auf das Kriegsgeschehen hin. Auf der inhaltlichen Ebene wird dies gepaart mit einem Schwerpunkt von Bildern aus dem größeren Kontext des Krieges, wie z.B. Demonstrationen im Nahen Osten und Europa. Der Krieg an sich wird damit eher als sauberes und technisches Ereignis dargestellt. Die SZ dagegen stellte eher den Krieg an sich als das Problem dar und thematisierte die Kriegsfolgen mit einem starken Fokus auf dem Gazastreifen. Sie war näher dran an dem Menschen und Objekten. Was der Betrachter in der Bildberichterstattung zu sehen bekam, waren verschiedene Abbilder der »Realität« in einem klar definierten Kontext. Keines der beiden untersuchten Medien schaffte es, die auf der Ereignisebene vorherrschende Konflikt-Asymmetrie zu transportieren. Erstaunlich war die fast völlige Abwesenheit ziviler Opfer. Hier zeigt sich in Ansätzen, was Paul als die Bedingung der Rezipierbarkeit von Krieg in den Medien bezeichnet: nämlich die Ästhetisierung und Entzeitlichung der Berichterstattung (vgl. Paul 2004: 11). Die Subjektivität des von den untersuchten Medien konstruierten Kriegsbildes durch die Bildauswahl wurde nicht problematisiert bzw. offen nach außen kommuniziert.

Ausblick – Aufgaben für die Friedens- und Konfliktforschung

Krisen und Konflikte sind heute kaum noch lokal begrenzt zu betrachten. Sie haben sowohl in den direkten Konfliktfolgen als auch in der massenmedialen Auseinandersetzung globale Auswirkungen. Es ist davon auszugehen, dass die über einen Konflikt veröffentlichten Informationen das Vorgehen der Kriegsparteien (in)direkt beeinflussen. Der kommunikationswissenschaftliche Diskurs hat der Bildberichterstattung über den Nahostkonflikt bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Umso wichtiger ist dieses Thema für diese Disziplin, ebenso wie für die Friedens- und Konfliktforschung. Das gemeinsame Interesse der visuellen Kommunikationsforschung und der Friedens- und Konfliktforschung ist darin zu sehen, Prozesse visueller Kommunikation in und über Kriege transparent zu machen und diese Prozesse in Beziehung zum eigentlichen Konfliktgeschehen zu setzen. Während sich die Forschung bisher vor allem mit den Zusammenhängen zwischen PR und Kriegsparteien und den vielfältigen Argumentationsstrategien der Akteure auseinandergesetzt hat, sollte es verstärkt um eine heuristische Betrachtung der veröffentlichten Produkte gehen, unter Einschluss der Bildberichterstattung, sowie eine Rezeptionsforschung um den tatsächlichen Einfluss der Berichterstattung messen zu können.

Literatur

Dreßler, Angela (2008): Nachrichtenwelten – Hinter den Kulissen der Auslandsberichterstattung. Bielefeld.

Grittmann, Elke (2008): Nachrichtenfotografie zwischen Publikumsorientierung und Kostenzwang, in: Grittmann, Elke & Neverla, Irene (Hrsg.): Global, lokal, digital. Fotojournalismus heute. Köln, S.221-237.

Grittmann, Elke & Amman, Ilona (2008): Ikonen der Kriegs- und Krisenfotografie, in: Grittmann, Elke & Neverla, Irene (Hrsg.): Global, lokal, digital. Fotojournalismus heute. Köln, S.296-325.

Haller, Michael (2008): Scheinbar authentisch, in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Kriegs- und Krisenberichterstattung: Ein Handbuch. Konstanz, S.271-277.

Leifert, Stefan (2007): Bildethik: Theorie und Moral im Bildjournalismus der Massenmedien. Paderborn.

Link, Jürgen (2000): »DIESE BILDER!« – Über einige Aspekte des Verhältnisses von dokumentarischen Bildmedien und Diskurs, in: Jäger, Margret & Grewenig, Adi (Hrsg.): Medien im Krieg: Holocaust, Krieg, Ausgrenzung. Duisburg, S.239-252.

Müller, Marion G. (2001): Bilder – Visionen – Wirklichkeiten, in: Knieper, Thomas & Müller, Marion G.: Kommunikation Visuell. Köln, S.14-24.

Müller, Marion G. (2003): Grundlagen der visuellen Kommunikation: Theorieansätze und Analysemethoden. Konstanz.

Müller, Marion G. & Knieper, Thomas (2005): Krieg ohne Bilder?, in: dies. (Hrsg.): War Visions. Bildkommunikation und Krieg. Köln, S.7-21.

Paul, Gerhard (2004): Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Paderborn.

Woodward, Michelle M. (2007): Photographic Style and the depiction of the Israeli-Palestinian Conflict since 1948. Jerusalem Quarterly 31 (2007) S.6-21.

Zöllner, Oliver & Deutsche Welle (2007): »Sagt die Wahrheit: die bringen uns um!« – Zur Rolle der Medien in Krisen und Kriegen. Berlin.

Anmerkungen

1) Realität wird hier als Synonym für Geschehnisse, die in der Erfahrungswelt der Menschen passiert sind, verwendet. Wirklichkeit wird benutzt, wenn es um die Beschreibung bzw. Konstruktion des Abbildes der Realität in den Medien geht.

2) Es wurde der Tag vor Beginn des Krieges wie der Tag nach Kriegsende, an dem zum letzten Mal ausführlich berichtet wurde, als Untersuchungszeitraum gewählt.

Felix Koltermann ist Absolvent des Masterstudiengangs »Peace and Security Studies« des IFSH in Hamburg und promoviert an der Universität Erfurt zu fotojournalistischer Krisen- und Kriegsberichterstattung. Seine Forschungsschwerpunkte sind konfliktsensitive Berichterstattung, Fotojournalismus und zivile Konfliktbearbeitung. Felix Koltermann ist aktiv im Peace and Conflict Journalism Network PECOJON.

Das televisuelle Sterben Neda Soltanis

Das televisuelle Sterben Neda Soltanis

Von Frank Möller

Fotografien sind Annäherungen an die einer jeweiligen Fotografie vorangegangene Realität – einer Realität, die die BetrachterInnen im Prozess des Betrachtens, Einordnens und Nachdenkens aufs Neue konstruieren. Während analoge Fotografie immer noch häufig als „Authentizitätsbeweis“ 1 (miss)verstanden wird, wird digitaler Fotografie infolge der Abwesenheit eines Originals und der technisch einfachen Manipulierbarkeit oftmals ein „Glaubwürdigkeitsproblem […] in Sachen Quellenlage“ 2 unterstellt. Die Kritik ist wichtig, da wir uns im Zeitalter des Übergangs von analoger zu digitaler Produktionsweise von Bildern befinden. Somit werden auch Bilder von Kriegen und Konflikten zunehmend digital produziert und verbreitet. Die gedanklichen Kategorien, in denen wir über digitale Fotografie nachdenken, sind allerdings nach wie vor größtenteils durch unsere Erfahrungen mit analoger Fotografie geprägt. Daraus entsteht ein Spannungszustand, der durchaus produktiv genutzt werden kann.

Politische Reaktionen auf Bilder und auf die in Bildern dargestellten Bedingungen sind zu einem großen Teil von der Glaubwürdigkeit und der Authentizität der Bilder abhängig, genauer: davon, welches Maß an Glaubwürdigkeit den Bildern zugewiesen wird. Die Kritik an digitaler Fotografie überschätzt häufig das Glaubwürdigkeitsproblem digitaler Fotografie: die Abwesenheit eines Originals wird zumindest zum Teil durch die Anzahl digitaler Fotografien eines jeweiligen Ereignisses ausgeglichen; digitale Fotograf(i)en kontrollieren sich gegenseitig. Die Kritik überschätzt aber auch die Authentizität analoger Fotografie, die keine originalgetreue Abbildung von Realität sein kann, sondern immer nur Annäherung an Realität, aber trotzdem – oder gerade deshalb – „neues Wissen“ 3 produziert. Andernfalls bräuchten wir sie nicht.

Durch kommentierende, die Glaubwürdigkeit von Bildern scheinbar stärkende Texte wird versucht, den BetrachterInnen die Gewissheit zu vermitteln, die Bilder allein nicht zu liefern vermögen und nach der die BetrachterInnen angeblich verlangen. Natürlich sind es nicht die Bilder, die „beanspruchen ›komplexe Phänomene zu verdichten und Geschichte stellvertretend wiederzugeben‹.“ 4 Derartige Ansprüche sind Projektionen und Wunschvorstellungen derjenigen, die über Bilder schreiben und ihnen diese Aufgaben – Komplexitätsverdichtung und stellvertretende Wiedergabe der Geschichte – ungeachtet der Tatsache zuweisen, daß Bilder einen „Überschuß an Bedeutung“ 5 vermitteln, der die Idee der Komplexitätsverdichtung durch Bilder fragwürdig erscheinen läßt.

Wegweiser und Direktiven

Walter Benjamin sah in der Beschriftung den „wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme“ 6 – »Wegweiser«, die das zu Sehende in das Sag- und Schreibbare übersetzen, »Direktiven«, die den BetrachterInnen sowohl das erklären, was sie sehen können als auch das, was sie nicht sehen können, vor allem aber das, was sie sehen sollen. Sprache macht Bilder beherrschbar, indem sie den visuellen Überschuss an Bedeutung scheinbar reduziert. Sprache richtet das Visuelle an den zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer gegebenen Gesellschaft herrschenden Sagbarkeitsregeln aus. Das, was nicht gesagt werden kann oder darf, wird tendenziell aus dem Repertoire möglicher Interpretationen eines Bildes ausgeschlossen. Damit wird das Potential von Bildern, als Quelle möglicher alternativer Wissensproduktion zu dienen, erheblich eingeschränkt; Bilder werden unschädlich, unsichtbar gemacht.

Für Benjamin spielte es keine Rolle, ob es sich bei den Wegweisern um richtige oder falsche handelte: „Richtige oder falsche – gleichviel.“ 7 Michel Foucault würde argumentieren, daß es »richtige« Wegweiser überhaupt nicht geben kann: „Es ist vergebens, dass wir sagen, was wir sehen. Was wir sehen, ist in dem, was wir sagen, nie anwesend.“ 8 Der Gedanke, dass wir nicht genau wissen können, was wir sehen; dass wir, selbst wenn wir es wüssten, keine Worte hätten, um es adäquat auszudrücken; und dass das, was wir sehen, nie identisch ist mit dem, was wir sagen, ist zweifellos eine Provokation für sprach- und schriftfixierte westliche Wissensgesellschaften. Diese Gesellschaften sind zwar Bildergesellschaften, wissen aber mit Bildern selten mehr anzufangen als sie in Sprache zu »übersetzen« oder als »Illustrationen« des sprachlich zum Ausdruck Gebrachten einzusetzen – in der irrigen Annahme, dass solche »Übersetzungen« unproblematisch seien.9 Der Direktor von Yale University Press, John Donatich, begründete zum Beispiel seine Entscheidung, in einem neuen Buch über die dänische Cartoonkrise die Cartoons nicht zu reproduzieren, unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass sie akkurat in Worten beschrieben werden könnten.10 Diese Begründung dokumentiert bestenfals Donatichs Naivität oder Unwissenheit hinsichtlich der Beziehung zwischen Worten und Bildern.

Der von Bildern vermittelte „Überschuß an Bedeutung [ist] besonders dann problematisch, wenn Fotografien eine soziale Aufgabe erfüllen sollen.“ 11 Er kann mittels Sprache nur scheinbar reduziert werden, verrät diese sprachliche Vermittlung doch mehr über die der Sprache zugrundeliegenden Regeln und Konventionen und über das, was in einer jeweiligen Sprache ausgedrückt werden kann, als über die Bilder, denen die BetrachterInnen sprachlich angeblich nähergebracht werden, von denen sie sich aber durch sprachliche Vermittlung eher entfernen. Ohne „Direktiven, die der Betrachter von Bildern […] durch die Beschriftung erhält“, muss „alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben“ 12, aber auch mit »Wegweisern« läßt sich das „Ungefähre“ (Benjamin) nur scheinbar überwinden und die „Echtheit“ (Schulz-Ojala) eines Videos oder einer anderen Form visueller Repräsentation nur scheinbar belegen. Bergers und Luckmanns soziologisch konkretes „Wer spricht?“ 13 wird denn auch viel zu selten im Zusammenhang mit Interpretationen visueller Konstruktionen der Realität gefragt, obwohl derartige Interpretationen weitreichende politische Folgen haben können: der »Krieg gegen den Terrorismus« wäre ein anderer geworden, wären die Bilder vom 11. September 2001 als Ausdruck eines kriminellen Akts und nicht eines terroristischen Anschlags interpretiert worden. Die interpretatorische Verengung des Bildes eines Menschen auf das Bild eines »Terroristen«, in anderen Worten: die sprachliche und nur scheinbar bildhafte Konstruktion eines »Terroristen« hat weitreichende Bedeutung sowohl hinsichtlich der Überlebenschancen dieses Menschen als auch hinsichtlich der Leichtigkeit, mit der dieser Mensch straffrei getötet werden kann. Indem die BetrachterInnen darauf verzichten, die sprachliche Verengung der Bedeutung eines Bildes regelmäßig hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden politischen Motivationen und Interessen zu hinterfragen, erhöhen sie ihre eigene Verwicklung in und Verantwortung für die in einem jeweiligen Bild dargestellten Bedingungen.

Von »Masseneremiten« zu globalen Zuschauern

In modernen Bildergesellschaften ist Hinschauen die Bedingung der Möglichkeit politischen Handelns. Robert Hariman und John Louis Lucaites haben gezeigt, dass der individuelle Betrachter und die individuelle Betrachterin nur als Mitglied der visuell-diskursiv konstituierten politischen Öffentlichkeit und als Teil potentiellen kollektiven Handelns in Reaktion auf Bilder und die darin gezeigten politischen und sozialen Bedingungen politisch handeln können. Die Tätigkeit des Zuschauens sei nicht als passives Konsumieren, sondern als aktive Tätigkeit zu verstehen, die die politische Öffentlichkeit konstituiere. Nur als Teil dieser visuell hergestellten Öffentlichkeit könnten der und die Einzelne hoffen, politischen Einfluss auszuüben.14 Günter Anders' »Masseneremit« wird bei Hariman und Lucaites zum »common spectator«, der wiederum in den virtuellen Welten des Internet zum globalen Zuschauer mutiert.

Wer hinschaut – und hinschauen muss, wer politisch handeln will – wird aber auch zu einem Teil des durch massenhaftes Hinschauen konstruierten Ereignisses und verliert seine oder ihre Neutralität hinsichtlich dieses Ereignisses. Damit werden der Betrachter und die Betrachterin tendenziell für das Ereignis mitverantwortlich. Diese Mitverantwortung betrifft nicht nur fotografische Repräsentation. In seinem Gemälde »Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko« (1868/69) hat der Maler Edouard Manet die Verwicklung des Publikums in die dargestellte Szene durch den Schatten des Betrachters/der Betrachterin angedeutet, der in dem Gemälde vor dem Unteroffizier erscheint.15 Was tun wir da, was haben wir da zu suchen? Sind wir Beobachter oder teilnehmende Beobachter, d.h. nehmen wir dadurch, dass wir uns eine Darstellung der Erschießung anschauen, in irgendeinem Sinne an der Erschießung selber teil? Gibt es irgendetwas, das wir hätten tun können, um die Hinrichtung zu verhindern? Vielleicht schauen wir ja gar nicht hin und drehen der Exekution(szene) den Rücken zu, erschrocken über das, was passiert und unfähig, es zu verhindern, auf unserem Recht, nicht hinzuschauen, beharrend?

Die Mitverantwortung des Betrachters und der Betrachterin ist besonders deutlich bei Verbrechen, die begangen werden, um Bilder zu erzeugen: „Wenn das Töten eines Menschen den Zweck hat, seinen Tod zum Bild werden zu lassen, dann ist das Betrachten dieses Bildes unabdingbar ein Akt der Beteiligung.“ 16 Enthauptungen vor laufender Kamera sind einschlägige Beispiele, aber auch die notorischen Abu Ghraib-Fotografien fallen in diese Kategorie, vor allem die am 7. November 2003 entstandenen Aufnahmen der »menschlichen Pyramide«, die – im Gegensatz zu früheren Inszenierungen – die Herstellung von Bildern zum Ziel hatten.17 Auch die Anschläge vom 11. September 2001 hatten maximale Sichtbarkeit zum Ziel.

Wer nicht hinschaut, unterminiert die Absicht der Täter. Wer nicht hinschaut, trägt nicht zu dem bei, was Mieke Bal als „sekundäre Ausbeutung“, als „zweites Leiden“ und als „Diebstahl der Subjektivität“ bezeichnet.18 Wer nicht hinschaut, verweigert sich den Funktionsmechanismen moderner Bildergesellschaften, und eine solche Verweigerungshaltung kann an sich schon als Kritik dieser Gesellschaften und der ihr zugrunde liegenden diskursiven Regeln verstanden werden. Wer nicht hinschaut, grenzt sich aber auch aus der visuell konstruierten politischen Öffentlichkeit aus und kann auf die abgebildeten Bedingungen politisch nicht reagieren. Auch deshalb bestehen Kunsthistoriker darauf, den in Abu Ghraib entstandenen Aufnahmen große Aufmerksamkeit zu widmen und sie in die Bildergeschichte einzuordnen, um damit die „moralische Blindheit“ zu entlarven, die Abu Ghraib erst möglich gemacht habe.19 Nicht hinzuschauen bedarf angesichts der Flut von Bildern, der wir heutzutage zu jedem Zeitpunkt ausgesetzt sind, einer außergewöhnlichen Willensanstrengung, und die Augen vor dem Leiden anderer Menschen zu verschließen, ist alles andere als moralisch unproblematisch. Wenn Hinschauen die Bedingung der Möglichkeit politischen Handelns ist, würden wir uns, wenn wir uns außerhalb der visuell-diskursiv konstruierten politischen Öffentlichkeit positionierten, eben dieser Möglichkeit berauben. Wir würden zur Unsichtbarkeit der Opfer und damit zum endgültigen Triumph der Täter beitragen.

Fotokritik, Repräsentation und Ästhetisierung

Die Mitverantwortung der BetrachterInnen ist nicht auf die Aufnahmen von Verbrechen begrenzt, die begangen wurden, um Bilder zu produzieren. Sowohl Bal als auch Mark Reinhardt betonen die Mitverantwortung der BetrachterInnen im Zusammenhang mit Bildern von leidenden Menschen – Reinhardt mit Blick auf die Abu Ghraib-Fotos („die Gesichter der Gefolterten starren uns an in einem Moment nicht nur der Angst und Qual, sondern auch der Scham. Und wir verlängern diese Scham durch unser Schauen“), Bal mit Blick auf James Nachtweys Fotografien hungernder Menschen im Sudan („ihr Leiden zu betrachten […] kommt einer zusätzlichen Ausbeutung gleich“).20 Jenny Edkins hat jedoch darauf hingewiesen, dass viele Fotografien Sebastião Salgados, der auch oftmals mit dem Vorwurf der visuellen Ausbeutung seiner Subjekte konfrontiert wird, von seinen Subjekten in Auftrag gegeben wurden.21 Auch Jonathan Torgovniks Subjekte bestanden darauf, fotografiert zu werden; für sie waren die Fotos nicht Diebstahl ihrer Subjektivität, sondern Ausdruck ihrer Fähigkeit, als Subjekte zu handeln.22 Es ist in diesem Zusammenhang auch wichtig, dass ausgerechnet Angehörige des US-Militärs für sich das Recht in Anspruch nehmen, die Augen vor den Abu Ghraib-Bildern zu verschließen. In den Worten eines Generalleutnants: „Ich will nicht dadurch einbezogen warden, dass ich hinschaue; denn was macht man mit diesen Informationen, wenn man einmal weiß, was sie zeigen?“.23

Fotografen wie Nachtwey und Salgado werden regelmäßig der Ästhetisierung ihrer Subjekte beschuldigt – eine absurde Kritik, da jegliche Repräsentation ästhetisiert: die Möglichkeit, zu repräsentieren und dabei nicht zu ästhetisieren besteht nicht. Auch „das schmucklose, schnell hochgeladene und eben nicht komponierend gearbeitete Bild“ des Sterbens Neda Soltanis ästhetisiert, aber angeblich depolitisiert und desensibilisiert es die BetrachterInnen nicht, da der Mangel an kompositorischer Finesse „unmittelbare ästhetische Plausibilität“ nach sich ziehe.24

Repräsentation ästhetisiert notwendigerweise und Ästhetisierung depolitisiert tendenziell, da sie die Aufmerksamkeit der BetrachterInnen vom repräsentierten Subjekt zur formalen Qualität und Schönheit eines Fotos lenkt. Aber das Schöne kann auch als Aufforderung zu politischem Handeln verstanden werden25, und der Mangel an künstlerischer Finesse politisiert die BetrachterInnen nicht automatisch. Die wenigen existierenden Aufnahmen des 1994 in Ruanda an der Tutsi-Minderheit verübten Völkermords zum Beispiel erzeugten den Eindruck, es handele sich um eine spontane, archaische Stammesfehde und nicht um einen modernen, staatlich organisierten und sehr effizienten Völkermord. Bilder von mit Macheten, Keulen und Knüppeln bewaffneten Menschen dienten als Vorwand, um politische und militärische Passivität zu rechtfertigen, indem sie westliche Vorurteile gegenüber Afrika zu bestätigen schienen.26 Diesen Fotografien gelang es nicht, politisches Bewusstsein zu schaffen; sie scheiterten an der Abwesenheit der „Existenz eines relevanten politischen Bewusstseins“, auf das Bilder angewiesen sind, um die BetrachterInnen moralisch zu beeinflussen.27

Dass Fotografien durch ständige Wiederholung ihre Wirkung verlieren, ist ein weiteres, oft gehörtes Argument. Im Zusammenhang mit fotografischen Holocaust-Repräsentationen ist von politischer, technologischer und moralischer Gewöhnung gesprochen worden.28 Allerdings gelten Nick Uts berühmtes Foto »Accidental Napalm« aus dem Vietnamkrieg und Robert Capas ebenso berühmte Aufnahme »Fallen Soldier« aus dem Spanischen Bürgerkrieg trotz tausendfacher Reproduktion nach wie vor als Ikonen des Fotojournalismus' und der Antikriegsfotografie. Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, unter welchen Bedingungen Capas Foto entstanden ist und wen oder was es tatsächlich darstellt. Die Einbußen an Glaubwürdigkeit, die das Foto infolge neuerer Forschungen hat hinnehmen müssen29, haben das Ikonografische der Aufnahme nicht beeinträchtigen können. Im Zusammenhang mit dem Video des Sterbens Neda Soltanis gibt es deshalb auch zunächst einmal keinen Grund a priori davon auszugehen, daß sich „mit der ständigen Wiederholung […] das Ikonografische des Videos [entleert]“.30

Die Macht der Summe der kleinen Schritte

Wer hinschaut, muß reagieren, besser noch: angemessen reagieren. Doch die Unmöglichkeit, angemessen auf Bilder menschlichen Leidens zu reagieren, wird in der Literatur genauso häufig betont wie die Unmöglichkeit, menschliches Leiden angemessen darzustellen. Sharon Sliwinski argumentiert, dass die Reaktion der BetrachterInnen auf Bilder menschlichen Leidens niemals adäquat sein könne, da sie nicht imstande sei, das abgebildete Leiden zu lindern. Für Jenny Edkins muss die Reaktion auf individuelle Bilder individuellen Leidens immer inadäquat sein, da sie notwendigerweise alle anderen Fälle menschlichen Leidens verraten müsse, die es gleichermaßen verdient hätten, unterstützt zu werden. John Berger, die möglichen Reaktionen auf zwei – Verzweiflung und Empörung – reduzierend, argumentiert, dass die BetrachterInnen auf das Gefühl ihrer moralischen Unzulänglichkeit, das Kriegsbilder zu vermitteln imstande seien, entweder mit Achselzucken oder damit reagieren könnten, was Berger „Buße tun“ nennt, zum Beispiel mit einer Spende für eine gemeinnützige Organisation.31

Aus Harimans und Lucaites' Argument folgt allerdings, dass wir unsere Augen vor Bildern wie denen vom Sterben Neda Soltanis nicht verschließen dürfen. Nur als Teil der visuell-diskursiv konstruierten politischen Öffentlichkeit können wir hoffen, politisch wirksam zu werden. Die Unsichtbarkeit ihres Todes würde eine politische Reaktion unmöglich machen und letztendlich auf den Erfolg ihrer Mörder hinauslaufen. Aus diesem Argument folgt weder, dass wir mehr als einmal hinschauen müssen, noch dass uns das Anschauen der Bilder das Wesen des Regimes in Teheran erklärt. Aus dem Argument folgt allerdings, dass der einzelne Betrachter und die einzelne Betrachterin nicht so hilflos sind, wie es die Literatur häufig suggeriert. Eine angemessene Reaktion auf Bilder menschlichen Leidens kann nicht in der isolierten einzelnen Reaktion individueller Betrachter und Betrachterinnen bestehen, sondern immer nur in der Summe der notwendigerweise inadäquaten individuellen Reaktionen einzelner Betrachter und Betrachterinnen als Teil der kollektiv-diskursiv-visuell konstituierten politischen Öffentlichkeit.32 Aus dieser Sicht gibt es keinen Grund, auch der kleinsten und scheinbar unbedeutendsten individuellen Reaktion ihre Legitimität, ihren Sinn und ihre Angemessenheit abzusprechen.

Anmerkungen

1) Vgl. Karsten Polke-Majewski (2009): Lasst der Sterbenden ihre Würde, in: Zeit Online, 24.06.2009.

2) Jan Schulz-Ojala (2009): Ich bin Neda, in: Zeit Online, 23.06.2009.

3) Alex Danchev (2009): On Art and War and Terror. Edinburgh: Edinburgh University Press, S.36.

4) Vgl. Fußnote 1, die Historikerin Cornelia Brink zitierend.

5) Barry King (2003): Über die Arbeit des Erinnerns. Die Suche nach dem perfekten Moment, in: Herta Wolf (Hrsg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt: Suhrkamp, S.180.

6) Walter Benjamin (1963): Kleine Geschichte der Photographie, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt: Suhrkamp, S.64.

7) Benjamin (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt: Suhrkamp, S.21.

8) Michel Foucault (1994): The Order of Things: An Archaeology of the Human Sciences. New York: Vintage Books, S.9.

9) Vgl. David MacDougall (1998): Transcultural Cinema. Princeton: Princeton University Press.

10) Vgl. Patricia Cohen (2009): Yale Press Bans Images of Muhammad in New Book, in: The New York Times, 13.08.2009.

11) Vgl. Fußnote 5, S.180.

12) Vgl. Fußnote 7, S.21; Fußnote 6, S.64.

13) Peter Berger & Thomas Luckmann (1967): The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge. London: Penguin, S.134.

14) Robert Hariman & John Louis Lucaites (2007): No Caption Needed: Iconic Photographs, Public Culture, and Liberal Democracy. Chicago und London: The University of Chicago Press.

15) Vgl. Frank Möller (2008): The Implicated Spectator: From Manet to Botero, in: Matti Hyvärinen und Lisa Muszysnki (Hrsg.): Terror and the Arts: Artistic, Literary, and Political Interpretations of Violence from Dostoyevski to Abu Ghraib. New York: Palgrave, S.25-31.

16) Horst Bredekamp (2004): Wir sind befremdete Komplizen, in: Süddeutsche Zeitung 28.05.2004, S.17.

17) Philip Gourevitch & Errol Morris (2008): Standard Operating Procedure: A War Story. London: Picador, S.196-197.

18) Mieke Bal (2007): The Pain of Images, in: Mark Reinhardt, Holly Edwards & Erina Duganne (Hrsg.): Beautiful Suffering: Photography and the Traffic in Pain (Williamstown/Chicago: Williams College Museum of Art/The University of Chicago Press), S.95.

19) Stephen F. Eisenman (2007): The Abu Ghraib Effect. London: Reaktion Books, S.9.

20) Mark Reinhardt (2009): Picturing Violence: Aesthetics and the Anxiety of Critique, in: ders., Holly Edwards & Erina Duganne (Hrsg.): Beautiful Suffering: Photography and the Traffic in Pain, S.21; vgl. Bal, Fußnote 19, S.95.

21) Jenny Edkins (2005): Exposed Singularity, in: Journal for Cultural Research Jg. 9, No. 4, S.363.

22) Jonathan Torgovnik (2009): Intended Consequences: Rwandan Children Born of Rape. New York: Aperture.

23) Seymour Hersh (2007): The General's Report: How Antonio Taguba, who investigated the Abu Ghraib scandal, became one of its casualties, in: New Yorker, 25.06.2007.

24) Vgl. Fußnote 2.

25) David Levi Strauss (2003): Between the Eyes: Essays on Photographs and Politics. New York: Aperture.

26) Vgl. Linda Melvern (2000): A People Betrayed: The Role of the West in Rwanda's Genocide. New York: Zed Books.

27) Sontag: Über Fotografie, S.24.

28) Barbie Zelizer (1998): Remembering to Forget: Holocaust Memory through the Camera's Eye. Chicago und London: The University of Chicago Press.

29) Vgl. Giles Tremlett (2009): Wrong place, wrong man? Fresh doubts on Capa's famed war photo, in: The Observer 14.06.2009.

30) Vgl. Fußnote 1.

31) Sharon Sliwinski (2004): A Painful Labour: Responsibility and Photography, in: Visual Studies Jg. 19, No. 2, S.154-156; Edkins (Fußnote 21), S.372; John Berger (2003): Photographs of Agony, in: Liz Wells (Hrsg.): The Photography Reader. New York und London: Routledge, S.288-290.

32) Frank Möller (2009): The Looking/Not Looking Dilemma, Review of International Studies Jg. 35, No. 4, S.781-794.

Dr. Frank Möller ist Research Fellow am Tampere Peace Research Institute, Universität Tampere, Finnland, und Mitglied des Finnish Center of Excellence Political Thought and Conceptual Change, Forschungsteam Politics and the Arts (frank.moller@uta.fi).

Wie vertrauenswürdig sind Satellitenbilder im Netz?

Wie vertrauenswürdig sind Satellitenbilder im Netz?

von Leonie Dreschler-Fischer und Hartwig Spitzer

Öffentlich zugängliche Satellitenbilder haben die Welt transparenter gemacht. Wer einen Rechnerzugang hat, kann sich detaillierte Bilder von fast allen Teilen der Welt übers Internet anschauen, auch von sicherheitsrelevanten Gebieten. Solche Bilder können verfälscht oder gezielt verändert werden, z.B. durch Verschlechterung der Auflösung oder das Wegretuschieren von Bildinhalten. Aber das ist eher die Ausnahme.

Jedes photographische Bild liefert eine Teilansicht der Wirklichkeit. Der Sensor kann nur das aufzeichnen, wofür er empfindlich ist, z.B. sichtbares Licht oder Radarstrahlung. Die Bildbearbeitung bei der Herstellung des endgültigen Bildes (des Bildprodukts) öffnet ein weiteres Tor für die Veränderung oder Betonung von Bildmerkmalen, wie diejenigen erinnern, die noch im Fotolabor versucht haben, überbelichtete Stellen ihrer Schwarz-Weiß-Fotos nach zu dunkeln. Im Zeitalter der digitalen Photographie ist die gezielte Veränderung von Bildern gang und gäbe, z.B. das Glätten von Falten im Gesicht der Kanzlerin, das Herausretuschieren von störenden Personen oder die Fotomontage verschiedener Bilder.

Luft- und Satellitenbilder von vielen Teilen der Welt sind heute jedem zugänglich, der über einen Zugang zum Internet verfügt. Die Auflösung der dort gezeigten Satellitenbilder liegt zwischen 50 cm und einigen Metern, die der verwendeten Luftbilder zwischen ca. 10 cm und etwa einem Meter, also Werten, die durchaus sicherheitsrelevant sein können. Unter Auflösung wird hier die Größe eines Bildelements (Pixel) verstanden. Bei einer Auflösung von 50 cm lassen sich einzelne Personen bei niedrig stehender Sonne noch als Objekt erkennen. Größeres Militärgerät (gepanzerte Fahrzeuge, Flugzeuge) kann dem Typ nach identifiziert werden. Satellitenbilder von vielen sicherheitsrelevanten Gebieten können trotz einiger Einschränkungen auch von Nichtregierungsorganisation oder Friedensforschungsinstituten erworben und ausgewertet werden. Aus einem Originalbild lässt sich deutlich mehr Information gewinnen als aus den im Netz wieder gegebenen Bildern, z.B. durch Nutzung der größeren Datentiefe (bis zu 16 bit), Auswertung in mehreren Farbkanälen und gegebenenfalls auch Stereoauswertung.

Die Fälschung oder Verschlüsselung von militärisch relevanter Information hat eine lange Geschichte, z.B. das Wegretuschieren von militärischen Anlagen aus Landkarten (Brunner 2003; Bojanowski 2008). In diesem Beitrag wird nach der Zuverlässigkeit von Luft- und Satellitenbildern im Netz gefragt. Wann kann man von einer Fälschung sprechen? Wie häufig kommt so etwas vor? Wie sicher lassen sich Fälschungen erkennen? Die Autoren verstehen unter einer Fälschung die bewusste Veränderung eines Bildes zum »Vertuschen oder Vortäuschen« von Bildinhalten (siehe auch Trinkwalder 2008a).1 Daneben wird von der technisch einfacheren »Informationsverringerung« Gebrauch gemacht, indem die Auflösung des Bildes gezielt verschlechtert wird.

Shutter Control

Die Vertreiber von Satellitenbildern haben in der Regel kommerzielles oder wissenschaftliches Interesse an der Zuverlässigkeit ihrer Bilder im Interesse ihrer Kunden. Sie unterliegen allerdings der staatlichen Gesetzgebung und Aufsicht. So behält sich die US Regierung in der Presidential Decision Directive 23 von 1994 vor, die kommerzielle Datennahme zu begrenzen, wenn die nationale Sicherheit, internationale Verpflichtungen oder Interessen der Außenpolitik beeinträchtigt werden. Diese »Shutter Control« soll aber auf das kleinstmögliche Gebiet und den kleinstmöglichen Zeitraum begrenzt werden (O´Connell 2001). Bei Beginn des Afghanistankrieges im Oktober 2001 hat die US Regierung z.B. alle Bilder des IKONOS-2 Satelliten über Afghanistan aufgekauft, um anderen Stellen den Zugang zu verwehren. Ebenso wurde in der heißen Phase des Irakkrieges von 2003 der freie Verkauf von aktuellen Bildern der amerikanischen kommerziellen Satelliten für einige Wochen unterbunden. US Regierung und Kongress haben außerdem verfügt, dass amerikanische Firmen Bilder von Israel nur mit einer Auflösung von 2m oder schlechter vertreiben dürfen. In der Praxis von Google Earth gilt das auch für die West Bank. In Deutschland wurde in einem Satellitendatensicherheitsgesetz vom 23. November 2007 geregelt, unter welchen Bedingungen hoch aufgelöste Bilder des TerraSAR-X Satelliten an Kunden verkauft werden dürfen.

Methoden zur Bildverfälschung

Digitalbilder sind mit Standardverfahren der Bildverarbeitung sehr leicht zu manipulieren – alle Verfahren, die wir hier vorstellen werden, lassen sich schon mit gängigen Programmen, z.B. Adobe Photoshop oder GIMP, am heimischen PC durchführen. Da wir an solchen möglicherweise manipulierten Bildern, die wir im Internet gefunden haben, nicht das Urheberrecht haben, können wir diese hier nicht zeigen. Wir haben aber Verweise auf einige zugehörige Internetseiten, Google-maps und kmz-Files für die Ansteuerung bei Google Earth auf einer Internetseite zusammengestellt (http://web.me.com/dreschler/Leonie/Fake/Fake.html; Javascript-Aktivierung erforderlich).

Folgende Verfahren zur Bildmanipulation oder -verfälschung kommen infrage:

Verpixelung: Die Manipulation, die bei Google Earth und Google Maps am häufigsten zu finden ist, ist die Reduktion der geometrischen Auflösung durch Verpixelung: Bildelemente werden zu Rechtecken oder zu unregelmäßigen Kacheln zusammengefasst, so dass weniger Details zu erkennen sind (vgl. Abb. 1). Die zufällige Kachelung hat den Vorteil, dass die Manipulation weniger auffällig ist als bei regelmäßigen Rechtecken. Ein Beispiel hierfür ist die Google Earth Darstellung der NATO-Airbase Geilenkirchen (Position 50°57‘38.37“N, 6° 2‘27.57“E), bei der die Startbahn und die umliegenden Gebäude deutlich schlechter aufgelöst sind als die Umgebung. Bei BING und NAVTEQ dagegen sind selbst einzelne Flugzeuge auf dem Vorfeld zu erkennen mit einer Auflösung von geschätzt 0,5-1 m. Auch der Marinehafen in Den Helder, Niederlande (52°57‘31.81“N, 4°47‘10.75“E) wurde bei Google Earth relativ stark mit unregelmäßiger Kachelung in der Auflösung reduziert. Gleichzeitig werden aber mehrere sehr scharfe Bodenaufnahmen von Kriegsschiffen eingeblendet.

Verdeckung: Gelegentlich werden Bildbereiche mit einfarbigen oder texturierten (gemusterten) Formen überlagert und dadurch maskiert. Ein schönes Beispiel hierfür ist der Reaktorkomplex in Dimona, Israel (31° 3‘38.57“N, 34°59‘36.26“E). Die Gebäude erscheinen bei Google Earth durch eine große ovale Form maskiert, aber die Umzäunung und die Strassen sind noch zu erkennen.

Ersetzen von Bildausschnitten: Die bisher genannten Verfahren führen zu offensichtlich erkennbaren Manipulationen. Anders verhält es sich, wenn Bildbestandteile durch andere Bildbestandteile ersetzt werden. So kann kritische Infrastruktur versteckt werden, ohne dass die genaue Position der Anlagen verraten wird, und die Manipulationen sind nicht immer leicht zu entdecken. Die eingefügten Masken können aus unterschiedlichen Quellen stammen: Sie können aus älteren Aufnahmen des Gebietes ausgeschnitten werden, bei denen das Gelände noch nicht bebaut war, oder aus anderen Aufnahmen stammen, die ein geeignetes, unbebautes Gebiet zeigen. Abbildung 2 zeigt ein Beispiel für dieses Verfahren, bei dem Teile desselben Bildes (ein Flugzeug) in der Helligkeit angepasst und im Bild verschoben wurden. Die Darstellung der Nellis AFB Bombing Range im Death Valley bei Google Earth ist ein weiteres Beispiel für diese Technik. Ein kleiner länglicher Bereich an der Position (37°37‘51.82“N 116°52‘32.44“W) hebt sich in der Helligkeit und durch eine niedrigere Auflösung deutlich von der Umgebung ab, so dass eine Manipulation durch kopierte Bildbereiche oder Weichzeichner wahrscheinlich erscheint.

Retusche: Ein Teil des Bildes wird mit virtuellen Pinseln so übermalt, dass der ursprüngliche Bildinhalt spurlos verschwindet und stattdessen ein neutraler Hintergrund oder verdeckender Vordergrund, z.B. Wolken, zu sehen sind. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Retusche des Google Earth Bildes der »Area 51« in Nevada, die »allMIGHTY« (allMIGHTY, 2008) im abovetopsecret-Forum veröffentlicht hat. Hier ist zu sehen, wie das Groom Lake-Gebiet ohne die Elliot Air Force Base aussehen würde.

Über die Jahre hat sich die Darstellung ausgewählter Objekte bei Google Earth je nach politischer Lage geändert. Dieses kann über die Option »historisches Bildmaterial zeigen« nachvollzogen werden. Wenn Sie in Google Earth die Position 38°53‘51.44“N, 77°2‘11.56“W anfliegen, stehen Sie direkt über dem Weißen Haus in Washington und können durch Verschieben des Markers auf dem Zeitstrahl eine Zeitreise von 1999 bis jetzt machen und dabei unterschiedliche Grade der Maskierung von Gebäudeteilen und Verpixelung sehen.

Methoden zur Erkennung von Bildverfälschungen

In den letzten Jahren hat sich ein neues Teilgebiet der Bildverarbeitung etabliert, die »digital image forensics«, das man auf deutsch vielleicht mit Digitalbildforensik bezeichnen könnte, und das sich mit Methoden zur Entdeckung von Bildmanipulationen beschäftigt.

Zur Erkennung von Bildverfälschungen gibt es im Wesentlichen zwei Gruppen von Verfahren: Zum einen die statistischen Verfahren, die allgemein einsetzbar sind, und zum anderen die wissensbasierten Verfahren, die Vorwissen über die Szene erfordern und im Einzelfall anwendbar sein können. Eine Einführung in dieses Thema finden Sie bei Trinkwalder (2008b).

Statistische Verfahren

Statistische Verfahren arbeiten auf der Pixel- und Signalebene des Bildes und nutzen aus, dass das Rauschen des Bildsignals charakteristische Merkmale aufweist, die als Fingerabdruck der Kamera oder des Sensors betrachtet werden können. Betrachtet man die Gesamtheit der Pixel eines Bildes als Stichprobe, so lassen sich mit statistischen Modellen verschiedene Hypothesen testen: Wie wahrscheinlich ist beispielsweise, dass

alle Pixel des Bildes von derselben Kamera aufgenommen wurden?

alle Pixel mit einer bestimmten Kamera aufgenommen wurden?

Teile des Bildes durch Kopieren verdoppelt wurden?

Der Vorteil dieser Verfahren ist, dass sie allgemein eingesetzt werden können und nichts über den Bildinhalt und die Aufnahmebedingungen bekannt sein muss. Daher können sie zum systematischen Durchsuchen großer Datenbestände eingesetzt werden (zum statistischen Fingerabdruck siehe beispielsweise Chen u.a. 2008).

Neben den Hypothesentests werden auch Korrelationsverfahren eingesetzt. Hiermit lassen sich kopierte, rotierte oder skalierte Bildausschnitte erkennen, aber auch Veränderungen durch eine Neuabtastung des Bildes, die beim Kopieren zwischen Bildern mit unterschiedlicher Auflösung notwendig ist (siehe beispielsweise Lu u.a. 2008).

Konsistenzprüfung/ Wissensbasierte Verfahren

Bei Fernerkundungsbildern (Satellitenbilder, Luftaufnahmen) sind in der Regel die Aufnahmebedingungen sehr genau bekannt. Aus der genauen Position der Aufnahmeplattform (Bahn des Satelliten, Flugbahn und Flughöhe des Flugzeugs) und dem Zeitpunkt der Aufnahme lässt sich mit photometrischen und geometrischen Modellen prüfen, ob die Form und der Ort von Bildkomponenten mit den gegebenen Aufnahmebedingungen konsistent sind. Mögliche Tests:

Schatten: die Richtung der Schatten hängt von der Position der Sonne ab und sollte für alle Gebäude gleich sein.

Globalstrahlung: Wenn wir den Sonnenstand und die Wetterbedingungen kennen, kann ein Atmosphärenmodell zur Berechnung der Globalstrahlung (des zur Beleuchtung des Geländes insgesamt verfügbaren Lichtes) verwendet werden. Bereiche, die zu hell oder dunkel erscheinen, wurden vermutlich zu einem anderen Zeitpunkt oder mit einem anderen Sensor aufgenommen.

Radialer Versatz: Das Dach eines Gebäudes erscheint in Luftbildern bei schräger Aufsicht radial gegen die Gebäudebasis versetzt; die Richtung des Versatzes hängt von der Projektion, dem Ort im Bild und der Gebäudehöhe ab. Wenn der radiale Versatz eines Gebäudes nicht mit dem der Umgebung konsistent ist, lässt das auf eine Manipulation schließen.

Diese Prüfungen sind aber aufwändiger als die statistischen Verfahren und sind eher für eine Detailanalyse geeignet, wenn im Einzelfall ein Fälschungsverdacht besteht. Mit genügend krimineller Energie lassen sich die Bilder natürlich auch so fälschen, dass sie gegen diese Prüfkriterien bestehen können.

Stichproben

Wie zuverlässig sind Satellitenbilder im Netz? Eine systematische, umfassende Untersuchung würde den Rahmen dieses Artikels überschreiten. Es ist aber relativ leicht möglich, die Informationsverringerung durch Verschlechterung der Auflösung von Militärstandorten zu untersuchen. Wenn sich die Auflösung zwischen Umgebung und Standort oder innerhalb des Standorts ändert, kann das ein Indiz für gezielte Informationsverringerung sein.2 Die Autoren haben Stichproben zur Auflösung von zehn Militärstandorten bei Google Earth gemacht. Es ergab sich kein einheitliches Bild, das auf eine systematische Informationsverschlechterung schließen lässt. Aber sie kommt vor.

Mehrere große Militärstandorte in den USA werden durchgängig mit einer erstaunlich guten Auflösung von geschätzt 30-70 cm gezeigt (Naval Station in Norfolk, Virginia, und San Diego, California, MacDill AFB, Coronado, Florida). Die Schätzung erfolgte anhand der Wiedergabeschärfe von bekannten Objekten wie PKW´s.

In zwei Fällen verschlechterte sich die Auflösung in Teilbereichen des Standorts, was auf eine Manipulation schließen lässt (Marine Corps Base Camp, Lejeune, North Carolina, Nellis AFB Bombing Range, Nevada (s.o.). Die in Deutschland liegenden Militärbasen bei Baumholder, Hammelburg und Ramstein und ihre zivile Umgebung werden mit einer Auflösung von geschätzt 1-2m gezeigt. Bei den Bildern von Baumholder und Ramstein (eingesehen am 15.8. 2009) fallen sehr helle Flächen auf, die von Verdeckung von Teilen des Flugplatzes und einiger Straßen im Gelände durch im Bild überlagerte Formen stammen können. Der zivile und der militärische Teil des Flughafens von Bagdad werden mit einer gleichbleibenden Auflösung von geschätzt 0,5 – 1m wiedergegeben, ebenso der Flughafen von Kabul ohne Anzeichen von Verdeckung.

Fazit

Die große Überzahl der Luft- und Satellitenbilder im Netz kann als vertrauenswürdig angesehen werden. Fälschungen oder Informationsverringerung auf Bildern können in der Regel erkannt werden. Es ist allerdings – wie bei Bildern der Kunstgeschichte – möglich, Bilder so geschickt zu fälschen, dass eine Entdeckung unwahrscheinlich wird. Die Chance, mit einer Fälschung unentdeckt zu bleiben, schwindet. Bilder verschiedener Anbieter und Bilder von verschiedenen Aufnahmezeiten liefern Möglichkeiten, Widersprüche aufzudecken. Ein Fälscher müsste alle Anbieter der Welt für alle Aufnahmen des relevanten Gebiets in die Pflicht nehmen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass militärische und geheimdienstliche Stellen von zwei einfachen Möglichkeiten der begrenzten Kontrolle Gebrauch machen: verspätete Freigabe von Bildern sensitiver Orte und Informationsverringerung durch verschlechterte Auflösung.

Danksagung

Ein Teil der Recherche zu diesem Artikel wurde von Max Brauer und Timme Katz im Rahmen einer Projektarbeit im Department Informatik der Universität Hamburg durchgeführt.

Quellen von Luft- und Satellitenbildern

Wegen des hohen technischen Aufwands und der hohen Kosten beim Bau, Start und Betrieb von hoch auflösenden Satelliten ist dieses Unterfangen großen Unternehmen und staatlichen Einrichtungen vorbehalten.

Folgende Unternehmen oder Einrichtungen betreiben kommerzielle oder öffentliche Satelliten mit hoher bis sehr hoher Auflösung (Auswahl):

DigitalGlobe, USA (www.digitalglobe.com) mit den Satelliten »Quickbird-2« (Auflösung 0,6m), »Worldview-1« (0,5m)

GeoEye, USA (www.geoeye.com) mit »IKONOS-2« (1m), »GeoEye-1« (0,4-0,5m)

Spot Image, Frankreich (www.spotimage.fr) mit »SPOT-5« (2,5 m), vertreibt auch Bilder des koreanischen »KOMPSAT-2« Satelliten (1 m)

Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR (www.dlr.de) mit dem Radarsatellit »TerraSAR-X« (1m)

Die Bilder werden entweder direkt an die Endnutzer verkauft oder über Zwischenhändler, wie NAVTEQ (www.navteq.com), TerraServer (www.terraserver.com) und Infoterra (www.infoterra.de).

Ins Netz gestellte Luftbilder werden in Überfliegungskampagnen zahlreicher kommerzieller Luftbildfirmen gewonnen wie z.B.

Terra Metrics (www.truearth.com)

Geocontent (www.geocontent.de)

AeroWest (www.aerowest.de)

Als Betreiber von Internetseiten mit Luft- und Satellitenbildern, die kostenlos aufgerufen werden können, sind vor allem folgende Firmen zu nennen:

Google in Form von Google Earth und Google Maps (earth.google.com bzw. maps.google.com)

Microsoft in Form von Bing Maps (www.bing.com/maps; Luftbilder)

NAVTEQ (bieten auf ihrer Homepage www.navteq.com ebenfalls einen Service vergleichbar mit Google Maps an.)

TerraServer USA (nur freie Bilder der USA) (www.terraserver-usa.com)

diverse Regierungen vor allem im Zusammenhang mit der Wettervorhersage (z.B. Australien unter http://www.bom.gov.au/weather/satellite/).

Literatur

allMIGHTY (2008): http://www.abovetopsecret.com/forum/thread325113/pg1#pid3864265, zuletzt am 13.8.2009 besucht.

Bojanowski, Axel (2008): Es führt kein Weg nach nirgendwo, Süddeutsche Zeitung vom 10. Dezember 2008

Brunner, Kurt (2003): Geheimhaltung topographischer Karten und Manipulation ihres Inhalts, Allgemeine Vermessungsnachrichten, AVN, 5: 183-187

Chen, M. & Fridrich, J. & Goljan, M. & Lukas, J. (2008): Determining image origin and integrity using sensor noise. IEEE Transactions on Information Forensics and Security 3(1), S.74-90.

Lu, W. & Sun, W. & Huang, J.-W. & Lu, H.-T. (2008). Digital image forensics using statistical features and neural network classifier. In: International Conference on Machine Learning and Cybernetics, Kunming, 5: 2831–2834.

O´Connell, Kevin & Hilgenberg, Greg (2001): U.S. Remote Sensing Programs and Policies, in: John C. Baker & Kevin O´Connell & Ray A. Williamson (Hrsg.): Commercial Observation Satellites, RAND, Santa Monica, ASPRS, Bethesda, 2001, S.139-163

Popescu, A. C. & Farid, H. (2005). Exposing digital forgeries by detecting traces of re-sampling. IEEE Trans. Signal Process 53(2), S.758-767.

Swaminathan, A. & Wu, M. & Liu, K. J. R. (2008). Digital image forensics via intrinsic fingerprints. IEEE Transactions on Information Forensics and Security, 3(1), S.101-117.

Trinkwalder, Andrea (2008a): Können diese Pixel lügen? Der schmale Grat zwischen Bildoptimierung und -fälschung, c’t 27(18):148-151.

Trinkwalder, Andrea (2008b): Pixelsezierer. Digitale Forensik: Algorithmus jagt Fälscher, c’t 27(18):148-151.

Anmerkungen

1 Danach wäre auch ein erheblicher Teil der heutigen Werbefotos als Fälschung zu bezeichnen. Den Werbern geht es allerdings weniger ums Vertuschen als um die gezielte Beeinflussung von Meinungen und Präferenzen.

2 Es kann aber auch an der Verwendung eines anderen Originalbildes mit schlechterer Auflösung liegen. Die Form des veränderten Bereichs kann ein Schlüssel sein.

Leonie Dreschler-Fischer ist Professorin für Informatik (Bildverarbeitung/Kognitive Systeme) im Department Informatik der Universität Hamburg und Mitglied des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIFF). Hartwig Spitzer ist Professor i.R. im Department Physik und assoziiertes Mitglied des Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg.

Der neue »kalte« Krieg

Der neue »kalte« Krieg

Die USA, Russland, China und der Cyberwar

von Ronald H. Tuschl

„Der Kalte Krieg muss im Sinne von Diskursen verstanden werden, die Technologie, Strategie und Kultur miteinander verknüpfen. Der Kalte Krieg wurde buchstäblich in einem im Wesentlichen semiotischen Raum ausgefochten.“ (Paul Edwards)

Der neue »kalte« Krieg: Zur Vorgeschichte des Cyberwar

»Cyberwar« ist seit Beginn der 1990er Jahre ein höchst diffuser Begriff, der die elektronische Kriegführung zu umreißen versucht. Das US-amerikanische Militär subsumiert unter dem Terminus »Network Centric Warfare« eine bestimmte Form der digitalen Kriegsführung, deren Kernbestandteile die Informationshoheit sowie die informationelle Vernetzung von Soldaten sind. Diese Doktrin umfasst auch traditionelle Konzepte wie die psychologische Kriegführung (»PsyOps«) sowie die gezielte Störung von militärischen Radar- und Funksignalen. Gemäß diesem Konzept soll in Zukunft auch das Air Force Cyber Command (Afcyber) Operationen durchführen. Unter der Abkürzung NetOpFÜ (diese steht für »vernetzte Operationsführung«) operiert auch die deutsche Bundeswehr mit entsprechenden Aufgaben. So unterhält diese im fränkischen Greding die Wehrtechnische Dienststelle für Informationstechnologie und Elektronik (WTD 81), die sich unter anderem mit »elektronischer Kampfführung« beschäftigt. Seit 1991 ist in Deutschland das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) für zivile Aspekte zuständig. Im Jahre 1998 wurde die interministerielle Arbeitsgruppe zum Schutz kritischer Infrastrukturen (Kritis) ins Leben gerufen.

Der Terminus »Cyberwar« mutiert schon seit längerer Zeit zum rhetorischen Kernbestand höchster politischer Diskurse. So wies erst Mitte Juli Barack Obama in einer seiner Wahlkampfreden darauf hin, dass unter seiner Ägide die »cyber security« jene Priorität erhalten würde, „die ihr im 21. Jahrhundert zusteht“. Darin hieß es unter anderem, dass die Bush-Administration „die Sache acht Jahre schleifen lassen“ habe und fortan Amerikas Netzwerke gegen terroristische Cyber-Attacken geschützt werden müssten.

Nach Angaben des US-Abgeordneten Frank Wolf drangen im Juni 2008 chinesische Hacker in mehrere Rechner des Kongresses ein, um an Listen mit politischen Dissidenten zu gelangen – eine Anschuldigung, die das chinesische Außenministerium energisch zurückwies. Nach Angaben der CIA seien im Januar desselben Jahres Cyber-Terroristen bei Energieanbietern außerhalb der USA eingedrungen und hätten die Stromversorgung unterbrochen. In einer Mitteilung des US-Verteidigungsministeriums vom Mai 2008 an den Geheimdienstausschuss, ist davon die Rede, dass das Rechnernetz des Ministeriums täglich mehr als 300 Millionen Mal von außerhalb gescannt und angegriffen würde. Michael Chertoff, Minister für Heimatschutz (Department of Homeland Security/DHS), sprach kürzlich von rund 13.000 Angriffen auf seine Behörde.

Derartige Vorfälle beschränken sich keineswegs nur auf die USA, auch die Bundesrepublik Deutschland wurde zur Zielscheibe derartiger Angriffe aus dem Cyberspace. Der bundesdeutsche Verfassungsschutz setzte im Mai 2007 Staatssekretäre des Innen-, Außen-, Justiz- und Verteidigungsministeriums davon in Kenntnis, dass chinesische Spähprogramme die Rechner verschiedener Ministerien infiziert hätten und vermutete dabei die chinesische Volksbefreiungsarmee als Angreifer, was umgehend von Peking dementiert wurde.

Der Höhepunkt all dieser und ähnlicher Vorfälle markierte der von Sicherheitsexperten als »erster Cyberkrieg« eingestufte Angriff auf Estland im Frühjahr 2007, als Hacker nahezu ganz Estland lahm legten – ein großangelegter Angriff, hinter dem der russische Geheimdienst vermutet wurde und der seither die NATO beschäftigt.

Am »Incident Response Capabilities Technical Center (NITC)« im militärischen NATO-Hauptquartier in Mons/Belgien sind rund 120 Militärs und zivile Computerexperten beschäftigt, um die Kommunikationsinfrastruktur der Bündnisstaaten zu schützen. Dem übergeordnet ist die NATO-Agentur für Informationssysteme (NCSA) unter der Leitung des deutschen Generalleutnants Ulrich Wolf – eine Einrichtung, die von der Fachzeitschrift »Janes Defence Weekly« als eine der wichtigsten Agenturen des nordatlantischen Militärbündnisses bezeichnet wird. Der Cyber-Angriff in Estland führte dazu, dass kurz darauf in der estnischen Hauptstadt Tallinn eine Institution namens »Center of Excellence Cyber Defense« zum Schutze des Landes eingerichtet wurde, woran sich auch Deutschland beteiligt.

In den USA ist man indes schon um Lichtjahre voraus. So beabsichtigte der damalige US-amerikanische Präsident George W. Bush mit einer zweistelligen Summe im Milliardenbereich eine »Cyber-Initiative« für die nächsten sieben Jahre flankieren zu wollen. Dabei handle es sich, wie Michael Chertoff vom Department of Home Security betont, um ein neues »Manhattan Project«. Das gigantische Vorhaben wurde laut Chertoff damit begründet, dass mit den neuen digitalen Gefahren eine „verheerende Kriegführung“, die „Zerstörungen der schlimmsten Art“ nach sich ziehen könnte, möglich werde. Die Namensgebung des Projekts scheint nicht ohne tiefere Bedeutung zu sein: Das »Manhattan Project« war 1942 der Tarnname der damaligen US-Regierung zur Entwicklung und zum Bau der Atombombe.1

Digitaler Krieg und analoge Realität: Russland, die USA und der Cyberwar

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der lange schwelenden Wirtschaftskrise ist es um Russlands Armee nicht sehr gut bestellt. Nach wir vor trachtet der einstige Kontrahent der USA um militärische Vormachtstellung und will auch an seinen Nuklearbeständen festhalten, um die einstige militärische Macht zu sichern. Allerdings scheinen die Waffenarsenale zu verkommen und man sieht sich bezüglich der Aufrüstung von Informationswaffen gegenüber den USA im Rückstand.

Nachdem die militärischen Computersysteme Russlands mit der Behebung des Y2K-Problems2 größere Schwierigkeiten hatten und damals um die Jahrtausendwende die Befürchtung auftrat, dass etwaige Störungen bei computergesteuerten Nuklearwaffen verheerende Folgen haben könnten, äußerte der damalige russische Außenminister Igor Ivanov in einem Brief an den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan die Befürchtung, dass Informationswaffen ebenso bedrohlich seien wie Massenvernichtungswaffen und schlug deswegen ein internationales Verbot für die Entwicklung, die Produktion und den Einsatz von „besonders gefährlichen Formen von Informationswaffen“ vor.

Die USA warnten in den letzten Jahren immer wieder vor der Gefährdung durch einen globalen Informationskrieg und trugen auch dafür Sorge, um sich gegen einen solchen zu schützen. Das Schreckensszenario eines »Digitalen Pearl Harbour« diente jedenfalls als Legitimationsgrundlage für alle weiteren Aufrüstungsbemühungen im Informationskriegszeitalter. Digitale Bedrohungsszenarien gibt es daher zur genüge, welche Informationswaffen aber vom US-amerikanischen Militär selbst entwickelt werden, bleibt hingegen im Dunkeln.

So war lange Zeit die Rede davon, dass man in den USA »logische Bomben« und Computerviren entwickeln würde, um militärische und zivile Computernetze des Feindes ausschalten zu können. Da unentwegt davon gesprochen wird, wie gefährdet gerade die USA als eines der Länder seien, die am meisten von High-Tech abhängig sind, liegt somit die Vermutung nahe, dass nicht nur an Defensivmaßnahmen, sondern auch an Angriffswaffen gearbeitet wird. Aus diesem Grunde hielt sich hartnäckig die Vermutung, dass die USA an Computerwürmern arbeiten würden, die in feindliche Computersysteme eindringen und dort Irritationen auslösen können. Der damalige CIA-Chef George Tenet ließ die Öffentlichkeit jedenfalls wissen, dass man in dieser Hinsicht wachsam sei und bereits internationale Geldtransfers zwischen arabischen Geschäftsleuten und terroristischen Organisationen gestört habe.

Nach einem Bericht der »Sunday Times« seien die Ängste der Russen durch Hinweise gestiegen, dass Computersysteme, die von den USA in die frühere Sowjetunion exportiert worden sind, vom CIA mit »Bugs«3 versehen wurden, die vom US-amerikanischen Geheimdienst bei Bedarf jederzeit aktiviert werden könnten. So ließ Ivanov in seinem Brief an Annan wissen: „Wir dürfen nicht die Entstehung eines fundamental neuen Bereichs internationaler Konfrontation zulassen, die zu einer Eskalation der Aufrüstung mit den neuesten Entwicklungen der wissenschaftlichen und technischen Revolution führen kann.“ 4

Einem Bericht der »Washington Post«5 zufolge verzichtete das US-Militär im Kosovo-Krieg auf jegliche Infowar-Angriffe, hatte aber doch eine »Information Operation«-Einheit aufgestellt und Attacken auf die Computersysteme zumindest vorbereitet. Anscheinend gab es neben dem noch nicht ausgereiften Arsenal an US-amerikanischen »Infowaffen« und aufgrund der dezentralisierten Struktur der serbischen Computersysteme, welche sich für einen Infowar-Anschlag als ungeeignet erwiesen hatten, auch rechtliche Bedenken.

Bereits während des Kosovo-Krieges verfasste das amerikanische Verteidigungsministerium Richtlinien zum Thema Infowar, welche die rechtlichen und ethischen Probleme eines Infowar-Einsatzes thematisierten. Das Dokument, das den Titel »An Assessment of International Legal Issues in Information Operations« trug, warnte die führenden Militärs davor, dass ein missbräuchlicher Einsatz von Informationssystemen die USA in Gefahr bringen könnte, eines Kriegsverbrechens beschuldigt zu werden. Demnach müssten Computerangriffe denselben Prinzipien der Kriegsführung unterworfen werden wie ein Einsatz von Bomben, womit nur jene Ziele angegriffen werden dürften, die von strategischer Bedeutung sind und bei denen »kollaterale« Schäden möglichst vermieden werden.

Demzufolge sollten Cyberangriffe in einem Krieg nur von Militärangehörigen durchgeführt werden und keine primär zivilen Ziele wie Bank-, Börsen- oder Universitätssysteme erfassen. Die möglichen Folgen eines kybernetischen Angriffs sollten daher, ähnlich wie bei einem Bombenangriff, sorgfältig erwogen werden, da ein Ausfall von Computersystemen, etwa im Kommunikations- oder Energieversorgungsbereich, weitreichende Folgen auf den zivilen Bereich haben kann. Es sei nicht auszuschließen, dass solche Angriffe nicht beabsichtigte Konsequenzen nach sich ziehen könnten wie beispielsweise das Öffnen von Schleusen eines Staudamms, die Explosion einer Ölraffinerie oder der Austritt von Radioaktivität bei einem Kernkraftwerk. Ganz zu schweigen davon, dass sich Computerangriffe dieser Art auch auf neutrale oder freundliche Staaten auswirken könnten.

Höchst problematisch sei auch der Umstand, ob die USA bei einem Angriff auf ihre Computersysteme mit gleichen Waffen zurückschlagen dürften, denn es sei nicht mit Gewissheit festzustellen, von wo aus die Angriffe wirklich ausgegangen seien. So ist bislang immer noch unklar, wer die sogenannten »Moonlight Maze-Angriffe«6 auf die Pentagonsysteme wirklich zu verantworten hat, obwohl man sie angeblich auf Rechner der russischen Akademie der Wissenschaften zurückverfolgt habe.

Nach Ansicht der amerikanischen Regierung, so die »Washington Post«, seien das existierende Recht und die internationalen Abkommen für die Regelung des Infowar ausreichend, wohingegen die russische Regierung sich schon seit einiger Zeit darum bemüht, im Rahmen der UN ein spezifisches Abkommen zu formulieren, das auch besonders gefährliche »Informationswaffen« verbieten sollte, um eine neue Eskalation des Wettrüstens zu vermeiden. In Moskau ist man zudem der Ansicht, dass das existierende internationale Recht „praktisch keine Mittel hat, die Entwicklung und den Einsatz von solchen Waffen zu regulieren“. Hinzu kommt noch, dass Russland für diese Initiative kaum bei anderen Staaten Unterstützung fand. Die USA sahen in dem russischen Vorstoß einen Versuch, die Entwicklung von Cyber-Waffensystemen zu blockieren, hinsichtlich derer sich Russland unterlegen fühlt.7

Rüstungswettlauf im Cyber-Krieg: Russland, China und USA rüsten im Cyberspace

»Asymmetrische« Kriegsführung hat nicht nur in Russland, sondern auch in China Einzug in die jeweilige Militärdoktrin gefunden. Die weltweit meisten BotNets8 von Cyber-Kriminellen sind in diesen Ländern angesiedelt, die damit über beachtliche »Erstschlagskapazitäten« verfügen. Im jährlichen Bericht des US-Verteidigungsministeriums an den Kongress über die Militärmacht Chinas wurde das Land erstmals offiziell in Bezug auf Internet-Attacken an den Pranger gestellt. Zwar gilt es als ungewiss, ob die jüngsten Angriffe auf die Netzwerke des US-Verteidigungsministeriums von oder mit Billigung der chinesischen Armee passierten, dennoch heißt es in dem Bericht, dass die Vorgehensweise mit neuen, einschlägigen Publikationen der chinesischen Volksarmee übereinstimme, was den Aufbau von Kapazitäten zum »Cyber-Warfare« betreffe.

Demnach sei ein zentrales Element von Chinas Strategie zur »asymmetrischen« Kriegsführung der sogenannte »kontaktlose Krieg«. Darunter versteht man Angriffe auf zivile und militärische Netzwerke, insbesondere auf Kommunikations- und Logistikknoten. Einer Studie des Pentagon zufolge seien im Laufe des Jahres 2007 Netzwerke des Verteidigungsministeriums und anderer US-Behörden, aber auch von Zulieferfirmen systematisch angegriffen worden. Die Angriffe seien demnach »offensichtlich« von chinesischen Rechnern ausgeführt worden.

Die Aussage der Pentagon-Studie reiht sich nahtlos in eine Serie offizieller Stellungnahmen zu Internet-Angriffen aus China ein, die von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel vor ihrem Staatsbesuch in China vor gut einem Jahr eröffnet wurde. Ferner zitiert die US-Studie auch Hans Elmar Remberg, den Vizepräsidenten des deutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz, der China öffentlich anschuldigte, die „fast täglichen“ Attacken auf deutsche Ministerien und andere Behörden verursacht zu haben. Im September 2007 warnte der Chef des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 Topmanager aus dem Finanzbereich vor einer neuen Internet-Angriffswelle aus China. Fast gleichzeitig bestätigte der französische Verteidigungsminister, dass französische Informationssysteme der Regierung von China aus angegriffen worden waren.

Bisher wies die chinesische Regierung jegliche Beteiligung an den Cyber-Angriffen mit scharfen Worten von sich. Anlässlich des Besuchs von Kanzlerin Angela Merkel versicherte der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao, seine Regierung werde in Zukunft dafür Sorge tragen, dass die Angriffe aus der Volksrepublik aufhören würden. Aber ganz offensichtlich verfolgen Chinas Militärs ebenso wie ihre russischen Kollegen, die beide den US-Streitkräften gesamttechnisch unterlegen sind, eine »asymmetrische« Militärdoktrin, indem der »halbstaatliche Sektor« beider Länder in die Strategie miteingebunden wird. Diese »asymmetrische« Einbindung in die jeweilige Militärdoktrin mag eine Erklärung dafür sein, weshalb Russlands Strafverfolger und Geheimdienste, die längst auf dem aktuelle Stand der Technik sind, bislang gegenüber kriminellen BotNets untätig geblieben sind. Es handelt sich bei den BotNets um eine funktionierende Infrastruktur, die von Dritten, nämlich von Kriminellen, aufgebaut, laufend »gepflegt« als auch erweitert wird und jederzeit dafür genützt werden kann, bestimmte Teile des Internets lahm zu legen.

Am selben Tag, als die Pentagon-Studie veröffentlicht wurde, forderte der stellvertretende Verteidigungsminister Gordon England mehr Geld und Befugnisse für den »Cyber-Warfare«. Kurz darauf ließ der damalige US-Präsident George W. Bush eine Taskforce einrichen, die im Erstfall auch auf „offensive Maßnahmen“ vorbereiten ist. Wie ein moderner Krieg auf der Informationsebene aussehen kann, lässt sich am Fallbeispiel des Irak-Kriegs ersehen, seit dem immerhin fünf Jahre technischer Entwicklungsarbeit vergangen sind. So begann der Angriff der USA auf das irakische Regime im Jahre 2003 mit zwei massiven Wellen von Spam auf Mailadressen der irakischen Armee, die den Betreff „Widerstand ist zwecklos“ trugen. Da der Irak über keine sonderlich ausgeprägte Internetstruktur verfügt, wurden die weitgehend informationsfreien Websites der irakischen Regierung attackiert und mit US-amerikanischen Sternenbannern versehen. Parallel zu diesem Cyberangriff wurden die Satelliten-Uplinks von Iraqi TV bombardiert und die Führungsschicht der irakischen Armee telefonisch aufgefordert, sich zu ergeben. Anschließend wurden die irakischen Telefonwählämter mit Lenkwaffen vernichtet.9

Web 2.0 vs. Real World 1.0 – Cyberwar zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Winn Schwartau, ein namhafter US-Sicherheitsexperte, generierte im Jahre 1991 die historisch nachhallende Formulierung des »Electronic Pearl Harbor«10, eine Bezeichnung, die von Geheimdienstchefs und Verteidigungsministern nun seit siebzehn Jahren wiederholt wird. Ein Jahr später rief das Pentagon mit der Direktive TS-3600.1 den Begriff »Information Warfare« ins Leben, womit der »Informationskrieg« gemeint ist. Im Jahre 1993 veröffentlichte der einflussreiche Publizist John Arquilla einen Artikel unter dem aufsehenerregenden Titel »Cyberwar is Coming!«11, der selbst von seriösen Zeitungen wie der »Times« oder der »Washington Post« laufend zitiert wurde. Seither nahmen militärische Studien über die Verletzbarkeit der Informationsgesellschaft und journalistische Berichte über dieses Phänomen rasant zu. Ein Jahr später wurde in Washington die »School for Information Warfare and Strategy« gegründet. Seit 1996 begann die Clinton-Regierung mit dem systematischen Ausbau des Schutzes der US-Infrastruktur vor Hackerangriffen. Seit 1997 ist »Cyberwar« ein Thema der National Security Agency (NSA) sowie in Querschnittsabteilungen aus Geheimdiensten und Militärs. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center im Jahre 2001 ist nicht nur in den USA, sondern auch in EU-Kreisen vom »digitalen 11. September«12 die Rede.13 Selbst die Hollywood-Unterhaltungsindustrie brachte in Filmen wie »Die Hard 4.0«14 das digitale Bedrohungsszenario auf die Leinwand und verwandelt damit virtuelle Bedrohungsszenarien in einen unterhaltsamen Thrill.

Das Internet wurde lange Zeit für eine Art von »Paralleluniversum« gehalten, das auf die reale Welt keinen oder kaum einen nennenswerten Einfluss hätte. Aus diesem Grunde galt die Auswirkung des zum neuen »Kampfraum« erklärten Mediums auf die reale Welt als sehr umstritten. Dies hat sich allerdings durch das vermehrte Auftreten von den oben erwähnten BotNets maßgeblich geändert, denn auf diese Weise wurde es möglich, dass eben dieser Kampfraum nicht mehr auf den Cyberspace beschränkt bleibt, sondern die Zivilgesellschaft unwillentlich in selbigen hineingezogen worden ist. Auf diese Weise werden Opfer von Netzattacken nun ungewollt zu Tätern – eine Entwicklung, die als äußerst beunruhigend eingestuft werden kann.

Kurzum: Der enorm forcierte Diskurs um digitale Bedrohungsszenarien aller Art fungiert als eine Art »Self-fulfilling Prophecy«, die rückkoppelnd von der reinen Fiktion auf die Realität wirkt. Oder anders ausgedrückt: Antizipative Feinbildprojektionen und Bedrohungsszenarien aus der digitalen Raum werden zu gegebener Zeit von der Realität eingeholt, wodurch die Fiktion zur Wirklichkeit wird – ein Phänomen, das dem »kalten Krieg« zwischen dem ohnehin angespannten Verhältnis zwischen Ost und West eine neue Dimension verleiht.

Anmerkungen

Bei dem Artikel handelt es sich um eine gekürzte Version des Beitrags »Der neue ‚kalte‘ Krieg – Der Cyberwar zwischen Russland und seinen Nachbarstaaten«, in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hg.): Auf dem Weg zum neuen Kalten Krieg? Vom neuen Antagonismus zwischen West und Ost, Münster 2009, S.189-204.

1) Vgl. hierzu: Schlieter, Kai: Das Phantom des Cyberwar, in: http://www.taz.de/1/leben/internet/artikel/1/das-phantom-des-cyberwar/

2) Das Y2K-Problem, auch als »Millennium-Bug« oder »Y2K-Bug« (Year 2 Kilo = Jahr 2000) bezeichnet, ist ein Computerproblem, welches durch die interne Behandlung von Jahreszahlen als zweistellige Angabe entstanden ist.

3) Unter »Bugs« versteht man Programmfehler in einer Software.

4) Rötzer, Florian: Abrüstung der Informationswaffen, in: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/1/1685/1.html, Version vom 30.11.1998.

5) Vgl. hierzu: http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/articles/A35345-1999Nov7.html.

6) »Moonlight Maze« ist der Codename für die Serie von weltweiten Computerangriffen auf das US-Verteidigungsministerium, die zwischen Januar und März 1999 gezielt in großer Anzahl stattfanden.

7) Rötzer, Florian: Pentagon zur rechtlichen Beurteilung des Infowar, in: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6514/1.html, Version vom 8.11.1999.

8) Unter einem BotNet (auch »Botnetz« oder »zombie-net« genannt) versteht man ein Netzwerk aus mindestens einigen Tausend bis hin zu mehreren Millionen infizierter Computer, die von einem »Master-Server« ferngesteuert auf Aktionsbefehle warten.

9) Vgl. hierzu: Rüstungswettlauf im Cyberkrieg, in: http://futurezone.orf.at/stories/261604/

10) Vgl. Schwartau, Winn (1996): Electronic Civil Defense, in: ders. (Hg.): Information Warfare. Cyberterrorism: Protecting your Personal Security in the Electronic Age, New York, S.43.

11) Vgl. Arquilla, John/Ronfeldt, David (1993): Cyberwar is Coming! in: Comparative Strategy, Heft 2: 141-165.

12) Der Terminus wurde vom Direktor der Europäischen Agentur für Netzwerk- und Informationssicherheit (ENISA), Andrea Pirotti, öffentlich ins Spiel gebracht.

13) Vgl. Fußnote 1

14) In dem gleichnamigen Spielfilm mit Bruce Willis in der Hauptrolle rächt sich ein ehemaliger Chefprogrammierer des Pentagon dadurch, indem er durch einen flächendeckenden Cyber-Angriff (»Fire-Sale«) beinahe die gesamte Infrastruktur der USA lahmlegt und dadurch Chaos und Schrecken verursacht.

Mag. Dr. phil. Ronald H. Tuschl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter für Friedens- und Konfliktforschung und internationale Medienpolitik am European University Center for Peace Studies (EPU) in Stadtschlaining/Österreich.

17 Jahre W&F!!

17 Jahre W&F!!

Laudatio auf Prof. Dr. Albert Fuchs

von Redaktion

Prof. Dr. Albert Fuchs, Meckenheim, Kognitions- und Sozialpsychologe, Hochschullehrer i. R., Mitglied des Forums Friedenspsychologie – BewusstSein für den Frieden und Mitarbeiter des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung. W&F-Redaktionsmitglied seit 1992.
E-Mail: fuchs.albert@t-online.de

Mit diesen Angaben nebst Photo steht Albert Fuchs zur Zeit noch auf der Redaktionsseite von Wissenschaft und Frieden (www.wissenschaft-und-frieden.de). Nicht mehr lange, leider, denn nach 17-jähriger Zugehörigkeit zum ehrenamtlichen Redaktionsteam der Zeitschrift hat er beschlossen, mit der Drucklegung dieses Heftes sein »Amt« in jüngere Hände zu legen.

Viel gestrampelt hat er, als passionierter Fahrradfahrer wird er dies Bild verstehen, um seinen verschiedenen Professionen nach seinen Maßstäben gerecht zu werden.

Ein Psychologe in einer politikwissenschaftlich dominierten und entsprechend nach außen vernetzten Redaktion, in einer Zeitschrift, die den interdisziplinären Anspruch in ihren Strukturen und in ihrem Erscheinungsbild hochhält. Er hat diesen Auftrag übernommen: Autoren und Autorinnen zu finden, die Problemstellungen der Friedens- und Konfliktforschung aus seinem, nämlich psychologischen Blickwinkel heraus erforschen. Manches Mal ist er an dieser Sisyphus-Redakteursaufgabe gescheitert. Oft aber hat gerade diese Arbeit die inhaltliche Breite der Zeitschrift befördert.

Ein Professor, der diesem Titel wenig Bedeutung zumisst, aber der, wenn es um wissenschaftliche Formate im Detail geht, sehr hartnäckig auf Standardwahrung und anderem beharren kann. Artikel zu redigieren, mit Autoren und Autorinnen um Begriffe und Schlussfolgerungen zu streiten, ernsthaft in der Redaktion das aktuelle Heft umfassend und im Detail zu reflektieren, trägt wesentlich zu der Qualität der Zeitschrift bei.

Ein Pazifist, für den die antimilitaristische Orientierung der Redaktion sicherlich ein guter Grund ist, dem es jedoch in den Communities (Wissenschaft, Parteien, Kirchen) an konsequenter Eindeutigkeit mangelt. Für seine »pazifistische Wissenschaft« musste er sich einen Reflexionsraum jenseits der etablierten Strukturen suchen und hat ihn im IFGK wohl gefunden.

Ein Theologe (auch ohne den entsprechenden Studienabschluss), der der verfassten Kirche äußerst distanziert gegenüber steht, die theologische Diskussion nicht nur in Pax Christi, sondern auch in W & F herausforderte. Daraus entstand zum Beispiel die für das Format der Zeitschrift ungewöhnliche Auseinandersetzung über die Lehre des Gerechten Krieges (2001/2002) mit dem damals noch in Münster, heute in Siegen lehrenden Theologen Prof. Dr. H.-G. Stobbe.

Von all diesem hat die Zeitschrift profitiert: Nach wie vor zum wissenschaftlichen Disput regt sein erster in W&F erschienener Artikel »Wider die Entwertung des Gewaltbegriffs« (Heft 4/1992) an; sein Beitrag »Der Glaube an das Militär versetzt Berge…« (Heft 3/2005) eröffnet neben dem inhaltlichen auch einen kleinen Einblick in die methodischen Möglichkeiten der sozialpsychologischen Friedensforschung und die »Anmerkungen zur Friedensdenkschrift der EKD« (Heft 2/2008; in Langfassung beim Bund f. Soziale Verteidigung erschienen) könnten auch über den kirchlichen Horizont hinaus die von ihm geforderte breite öffentliche Debatte um eine konstruktive Friedens- und Sicherheitspolitik anstoßen.

Wenn Leser und Leserinnen diese Hinweise nutzen, um in eine qualifizierte Fachdebatte mit ihm einzutreten, wird er sich sicher freuen. Vielleicht ist diese so erhellend, dass sie auch in W & F dokumentiert werden kann. Ihm wird es recht sein, denn die Auseinandersetzung zwischen konträren Positionen ist ihm wichtig und in W & F bisher trotz aller Versuche zu kurz gekommen. Die Redaktion wird ihn im »täglichen Geschäft« und bei den Generaldebatten vermissen. Ein Trost wäre, wenn er zwar nicht mehr als Redakteur, aber als Autor, als Kritiker und vielleicht sogar als Leserbriefschreiber der Zeitschrift verbunden bliebe. Seinen Aufruf »Ja zur Friedensarbeit – auch wenn es eine Sisyphosarbeit ist« (Editorial 1/2000) – lesen wir auch nach fast zehn Jahren noch als Versprechen, weiterhin mit uns in diesem Sinne aktiv zu bleiben.

Die Redaktion

Die visuelle Dominanz des Kriegsaktes

Die visuelle Dominanz des Kriegsaktes

Von Bianca Raabe

Krieg ist ein visuelles Spektakel, aus dem Bilder gemacht und in den unterschiedlichsten Medien vermittelt werden. Längst ist von Militainment die Rede, faszinieren militaristisch-kriegerisch determinierte Computerspiele und Filme ein breites Publikum. Der Kriegsakt und das Erleben kriegerischer Grenzsituationen stehen im Vordergrund visueller Inszenierungen, während die Auswirkungen auf die Menschen und deren Leid weitgehend ausgeblendet bleiben.

Seit der Etablierung der Kriegsfotografie im 19. Jahrhundert werden kriegerische Gewaltakte durch technologische Verfahren vermehrt visuell vermittelt. Sie prägen dabei auch wesentlich die Vorstellung von Krieg und die Erwartungshaltung des Publikums an Bilder gewaltsamer Konfliktaustragung. Zentral für die visuelle Vermittlung sind die Betrachtungsebenen Macht und Herrschaft, weil diese den Blickwinkel bestimmen, sowie funktional Legitimierungs- und Emotionalisierungsstrategien zur Interessensdurchsetzung einsetzen. Krieg hat sich zu einer Bildermaschine entwickelt, die kriegsfördernd der Unterhaltung des Publikums in Filmen und Computerspielen dient. Nachstehend soll kurz aufgezeigt werden, welche Konzeptionen sich seit dem 19. Jahrhundert behauptet haben und welche Tendenzen sich aus gegenwärtigen Visualisierungsformen ersehen lassen

Konstante Konzeptionen in der visuellen Kriegsvermittlung

Jegliche Visualisierungsform stützt sich auf Konzeptionen, die sich bereits zu Beginn der modernen Kriegsführung herausbildeten: Ordnungssysteme der Kriegsaustragung wie Schlachtenanordnungen, militärische Hierarchien und eine Übersicht garantierende Distanz zum Geschehen sowie Soldatenbilder. Diese beruhen auf visuellen Authentifizierungs- und Identifikationsstrategien. Um zudem eine ästhetische Wirkung zu erzielen, ist es notwendig die in der jeweiligen Zeit in der visuellen Präsentation gültigen Konventionen hinsichtlich der Vorstellung und des Verständnisses von Krieg zu beachten (Köppen 2005, 21). Die visuelle Vermittlung von Gewaltkonflikten beinhaltet darüber hinaus den Aspekt der Teilhabe, indem räumlich entfernte Ereignisse über Medien in den Lebensalltag eines Publikums gelangen.

Als eine weitere Konstante erweist sich die Faszination an Militärtechnologie, die sich in der Kriegsberichterstattung durch eine zumeist unkritische Übernahme militärischen Bildmaterials aus Perspektive der Waffe selbst oder eingebetteter Journalisten zeigt. Auch mit dem Fortschritt der Übertragungstechnik leben diese Momente fort, aber die Live-Übertragungen verschärfen die Frage nach der Kategorie der Unsichtbarkeit (Virilio 2002, 46ff), denn die virtualisierte Gewaltanwendung folgt strategischen Überlegungen, die die direkten Folgen kriegerischer Gewalt auf die in Kriegsregionen lebenden Menschen ausblendet. Das konkrete Leiden bleibt so für den Betrachter unsichtbar.

Gegenwärtige Kriegsformen und Bildausprägungen

Ein Grund für diese Entwicklung ist auch in den gegenwärtigen Formen kriegerischer Konfliktaustragung zu sehen: Asymmetrische Strategien liefern kaum mehr »gute« Bilder, lassen Kriegsfotografen nur selten nah genug herankommen. Noch wichtiger ist das Verschwimmen von Unterscheidungsmerkmalen zwischen Kriegs- und Friedenszustand und Kombattanten und Nichtkombattanten, auf das Münkler in seiner Analyse der neuen Kriege hinweist (Münkler 2003). Dies macht es visuell schwierig, Identität und Identifikation (Sontag 2003, 16-18) in einer Weise bildlich umzusetzen, die letztlich zur Interessendurchsetzung beitragen sollen. Die Transformationsprozesse in der Konfliktaustragung erschweren für den Betrachter die Zuordnung zusehends, weil die Rolle der einzelnen Konfliktparteien weniger eindeutig ist. Das vermittelte Leiden von Menschen liefert nun einen Ausgangspunkt für Identifikation, wobei jedoch der konkrete Anlass dieses Leidens in den Bildstrategien verschwimmt. Auf dieser Basis gedeiht das Militainment, dem formal die verschwimmenden Grenzen zwischen Film-Genres entsprechen. So wurde der Kriegsfilm um Action Elemente erweitert.

Ende der 1990er Jahre etablierte Steven Spielberg mit »Saving Private Ryan« eine Reihe neuer Kriegsfilme, die durch die Anwendung der formalen Mittel (u.a. verwackelt erscheinende Bilder, Bildzitate von Robert Capa, ständig wechselnde Kamerapositionen) die Zuschauer fast unmittelbar an den Ereignissen auf der Leinwand bzw. der Landung der Alliierten teilhaben ließen. Damit etablierte Spielberg eine neue Art der filmischen Inszenierung und zugleich einen völlig neuen Anspruch an die visuelle Inszenierung einer konkreten Situation in einem vergangenen Krieg. Die Bildkonstruktion sollte nicht den Eindruck von Authentizität vermitteln, sondern sie dient vielmehr als Basis für einen Realismus-Anspruch, der über Authentizität hinausgeht. Die Realismus-Konzeption beinhaltet einen Absolutheitsanspruch, während Authentizität Freiräume für Interpretationen lässt und nur darauf hinweist, dass die filmische Rekonstruktion versucht, möglichst nah an die tatsächlichen Ereignisse anzuschließen. Dadurch wird die Inszenierung Spielbergs als absolut gesetzt: So war es damals wirklich, jede andere Sichtweise auf die Geschehnisse wird ausgeschlossen (Schneider, 2005, 351-390). Dies ist der Ausgangspunkt für nachfolgende Filme wie u.a. »Black Hawk Down« und »We Were Soldiers«. Die Realismus-Konstruktion garantiert den Rezipienten Partizipation am Spektakel Krieg und funktioniert zudem als Legitimationsstrategie, die sich auf ein übergeordnetes und moralisch überlegenes Interesse fokussiert und sich somit einer sachlichen Argumentation entzieht.

Der Blick auf den Gewaltakt und die Konstituierung von Heldenfiguren

Der kriegerische Gewaltakt und dessen Wirkung auf die Soldaten stehen im Mittelpunkt der Inszenierungen. Der Blick auf das Geschehen rückt in die Nahsicht und schildert direktes Erleben, das so das Publikum einschließt. Der Körper des Soldaten dient als Kristallisationspunkt, auf den das Ereignis zuläuft und an dem es sich entscheidet. Die Legitimation des Kriegsaktes, sein Verlauf und die Empfindung von Sieg oder Niederlage werden durch den Erlebnishorizont der Soldaten greifbar. Doch dass der Soldat – und damit auf einer abstrakteren Ebene der menschliche Körper – als Erklärungsbild des Krieges dient, ist nicht neu, sondern eine weitere Konstante. So nahmen Soldaten, die als Helden inszeniert und rezipiert werden konnten, seit jeher eine wichtige Funktion ein. Dies ging etwa im 19. Jh. einher mit der in dieser Zeit vorherrschenden Vorstellung der Abläufe kriegerischen Handelns als einem Ordnungssystem von Interessendurchsetzung durch das nach Regeln stattfindende Aufeinandertreffen nationalstaatlich organisierter Streitkräfte. Helden trugen ordentliche, gepflegte Uniformen, überschauten die Kampfsituation und demonstrierten ihre Überlegenheit in einer erfolgreichen Führungsrolle, die Siege an ein heimisches Publikum vermelden konnte. Die Veränderungen in der Kriegsaustragung haben sich auch auf Heldenkonstruktionen ausgewirkt. Nicht mehr nur ranghohe Offiziere, sondern gerade einfache Soldaten können sich in gegenwärtigen Visualisierungsformen zu Helden entwickeln. Gleichzeitig ist die Heldenfigur nicht mehr an ein vorhersehbares Schema gebunden: Sie darf leiden und brechen, aber sie scheitert nicht für den Zuschauer, weil sie in einer Sphäre agiert, die an dessen Erfahrungsraum anknüpft und sie dadurch authentisch erscheinen lässt. An dieser Stelle funktionieren die Individualisierungsstrategien im Sinne einer positiven Wahrnehmung von Heldenfiguren, die nicht mehr nur eindeutig positiv beschrieben werden. Dies wird besonders deutlich in Filmen wie z. B. »Blood Diamond«, »James Bond – Casino Royale« und »Rendition«.

Bildinnovationen filmischer Inszenierungen kriegerischer Akte

In der Hauptsache haben sich in filmischen Inszenierungen von Gewaltkonflikten zwei wesentliche Stränge herausgebildet. Ein Strang konzentriert sich auf die zu erzählende Geschichte des Films und weist verschiedene Erzählperspektiven auf, die sich zum Brennpunkt der Filmhandlung verdichten und schließlich auf eine Extremsituation zulaufen, ohne einen Lösungsansatz für das grundlegend behandelte, übergeordnete Thema zu liefern. So wird versucht der Diversifikation gegenwärtiger Konfliktsituationen insofern nachzukommen, wie sie mehrere Perspektiven berücksichtigt. Dies hat zur Folge, dass solche Inszenierungen Gefahr laufen, durch die vielen verschiedenen Erzählstränge unübersichtlich zu werden und dem Publikum zur Orientierung nur positiv konnotierte Figuren bleiben, die dazu beitragen, die Filmhandlung nachvollziehbar zu verknüpfen. Durch die Schwerpunktsetzung auf die erzählte Geschichte reduziert sich der visuelle Reiz: Die Filmbilder ähneln sich. Die filmischen Gestaltungsmittel werden zugunsten komplizierter Erzählstränge vernachlässigt und verlieren ihre Unterscheidbarkeit. Spezifische Bildformen, die einzelne Filme herausheben, fallen weg.

Betrachtet man den anderen Strang filmischer Inszenierungen, fällt die Konzentration auf das Visuelle auf. Hier treten die behandelten Konflikte und die Narration hinter die visuelle Gestaltung zurück. Kriegerische Gewaltakte bilden das Zentrum der Inszenierung, die Handlung konzentriert sich auf die Ausübung von Gewalt und bringt die Erzählstränge in Kampfakten zusammen. Bemerkenswert sind dabei vor allem zwei Aspekte: Die Beibehaltung traditioneller Motive der Vermittlung und des Verständnisses von Krieg und das Ausweichen auf historische Konflikte oder sagenhaftes Kriegsspektakel (Beispiele sind u.a. »300«, »The Last Legion«). Sie rufen Faszination auf der Grundlage eines visuellen Gesamterlebnisses für die Rezipienten hervor, aber verzichten auf eine politisch motivierte Aussage.

Das Medium Fernsehen wurde mit dem Vietnam-Krieg das herausragende Medium in der Vermittlung von Kriegsereignissen und hat „die Entertainisierung des postmodernen Krieges eingeleitet“ (Paul 2005, 93), indem es durch eine zeitnahe Übertragung bewegter Bilder in den Lebensbereich der Zuschauer diese an den fernen Geschehnissen partizipieren ließ. Visuell betrachtet hat sich das Fernsehen bei späteren Konflikten auf die jeweils neuen technologischen Möglichkeiten konzentriert, Computerspielbilder in Fadenkreuzoptik oder die Truppen begleitende Journalisten vor Kriegsgerät gezeigt. Nichts Neues, nur dass Direktübertragungen mit Interviews und farbige Umrahmungen mit gesplittetem Bildschirm technisch möglich geworden waren. Der Informationsgehalt wird hier zugunsten des Mediums und seiner formalen Gestaltungsmittel verringert, ohne jedoch visuell innovativ zu sein. Allein diese Konstellation weist daraufhin, dass das Fernsehen an Bedeutung in der visuellen Vermittlung verliert und nur schwer das Interesse des Publikums halten können wird. Der Bedeutungsverlust eines geläufigen Mediums zeigte sich jeweils in Übergangsphasen von einem Medium zu einem anderen mit neuen technischen Möglichkeiten, wie sich das momentan zwischen Fernsehen und Internet vollzieht.

Fasst man diese Punkte zusammen, ergibt sich, dass bestimmte Konzeptionen und Kategorien seit den Anfängen der modernen Kriegsführung im 19. Jahrhundert weiterhin dominant in der visuellen Vermittlung von Kriegsakten sind. Dies gilt besonders für Konzeptionen, die Partizipation versprechen und Extremsituationen fast körperlich erfahrbar machen. Anhand des menschlichen Körpers können Veränderungen des Soldatischen und Heldenfiguren konstituiert werden, die wiederum visuelle Neuerungen und ein transformiertes Verständnis kriegerischer Gewaltakte vermitteln. Bedingt werden diese Bildstrategien durch die technologischen Voraussetzungen. Krieg geriert sich hier als Teil der Massenkultur (Holert/ Terkessidis 2002) und setzt auf spektakuläre visuelle Effekte.

Friedenswissenschaftlicher Ansatz: Der Blick zur Konfliktperipherie

Gewaltakte haben sich als Teil medialer Unterhaltung etabliert, ohne kritisch reflektiert zu werden. Die Auswirkungen kriegerischer Gewalt und das Leiden der betroffenen Menschen fallen zumeist in die Kategorie der Unsichtbarkeit. Dennoch findet die Konfliktperipherie Beachtung: Das Schicksal von Flüchtlingen und die Situation in Flüchtlingslagern werden in der Berichterstattung in filmischen Inszenierungen (z.B. »Blood Diamond«) durchaus berücksichtigt. Ähnlich wie die Bilder von verschiedenen Gewaltkonflikten zu einem kaum mehr differenzierenden Gesamteindruck ineinander laufen, so lassen sich die Bilder der Konfliktperipherie, vor allem wenn sie in Form bewegter Bilder vermittelt werden, nur bedingt unterscheiden. Damit einhergehend verliert auch das Leiden der Menschen an Eindringlichkeit, da die Bilder Assoziationen mit bereits bekannten Bildern vergleichbaren Inhalts hervorrufen. An diesem Punkt kommt dem alten Medium Fotografie eine neue Rolle zu. Durch die gewonnene formale Autonomie kann sich die Fotografie von ihrer Reduzierung auf ein bloßes Eingabemedium lösen und gerade durch das bewusste Einsetzen ihrer formalen Gestaltungsmöglichkeiten Bilder erzeugen, die unterscheidbar sind und aus der Flut der Bilder hervortreten. Die Konfliktperipherie ist bislang kein Teil von Strategien der politisch-militärischen Handlungsebene, obgleich sie bereits in der Konsequenz der gegenwärtigen Entwicklung der gewaltsamen Konfliktaustragung selbst zum Schauplatz kriegerischer Akte wurde. Die Peripherie bleibt weitgehend sich selbst überlassen; sie kann jedoch im Rahmen von visuellen Individualisierungsstrategien Aspekte der direkten Auswirkungen von kriegerischer Gewalt auf die Menschen vermitteln. Die Fotografie ist für eine solche Form der visuellen Vermittlung von der Konfliktperipherie insofern geeignet, als dass sie die Würde der Menschen fassbar machen kann und nicht auf Sensationsgier beschränkt bleiben muss. So kann das Bild auch weiterhin von den Aussagen abweichen, die die politisch-militärische Handlungsebene bezüglich der Auswirkungen der Gewaltanwendung auf die Zivilbevölkerung trifft, wie Peter Turnleys Fotoreportage »The Unseen Gulf War« zeigt, die den Golfkrieg 2003 antizipierend kurz vor Kriegsbeginn online veröffentlicht wurden. Obwohl als chirurgisch präzise vermittelt, sind es Turnleys Fotografien, die ein gegenteiliges Bild zeichnen und Leiden, Zerstörungen und Tod belegen.

Inszenierungen kriegerischer Akte in bewegten Bildern sind es vor allem, die den Kriegsakt in den Mittelpunkt stellen und ihn durch Militärtechnik, die Opferbereitschaft und das anscheinende Heldentum von Einzelfiguren positiv konnotieren und in der Rezeption banalisieren und zum Erlebnis werden lassen. Die tatsächlichen Ereignisse hinter den inszenierten Konflikten verlieren an Bedeutung und Lösungsansätze werden zumeist nur in verstärkter Gewaltanwendung geboten. Ein alternatives Bild, das vom Militärischen wegführt, das auf zivile Aspekte eingeht und die Auswirkungen auf die betroffenen Menschen fokussiert, wird kaum geboten. Hier lassen sich jedoch Bildkonzeptionen entwickeln, die die Dominanz des Kriegsaktes unterbinden und die Peripherie in die Wahrnehmung rücken. Die Fotografie ist hierfür besonders geeignet, weil sie Aufmerksamkeit erringen, Leiden visuell einprägen kann und uns Erinnern lässt (Vgl. Sontag 2003, S28f).

Literatur

Bürger, Peter: Bildermaschine für den Krieg, in: Wissenschaft & Frieden 3/2007.

Brinkemper, Peter V. (2003): Angstbekämpfung im Militainment, Kunstforum International, Bd. 165, Juni/ Juli 2003, S.116-141.

Holert, Tom/ Terkessidis, Mark (2002): Entsichert: Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert, Köln: Kiepenheuer und Witsch.

Kaldor, Mary (2000): Alte und neue Kriege, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Keilholz, Sascha: Syriana (http://www.critic.de/index.pl?aktion=kritik=&id=440).

Köppen, Manuel (2005): Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg: Universitäts-Verlag Winter.

Münkler, Herfried (2003): Die neuen Kriege (4. Auflage), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Paul, Gerhard (2005): Der Vietnamkrieg als Sonderfall und Wendepunkt in der Geschichte der Visualisierung des modernen Krieges?, in: Knieper, Thomas/ Müller, Marion G. (Hrsg., 2005): War Visions. Bildkommunikation und Krieg, Köln: Herbert von Halem.

Sachsse, Rolf (2003): Der Akt des Krieges im Körper des Fotografen, Kunstforum International, Bd. 165, Juni/ Juli 2003, S.98-105.

Schneider, Thomas F., (2005): „Giving a Sense of War As It Really Was“ – Präformation, Marketing und Rezeption von Steven Spielbergs Saving Private Ryan, in: Preußer, Heinz-Peter (Hrsg. 2005): Krieg in den Medien, Amsterdam: Rodopi.

Sontag, Susan (2003): Das Leiden anderer betrachten, München: Carl Hanser.

Turnley, Peter: The Unseen Gulf War (http://www.digitaljournalist.org/issue0212/pt_intro.html).

Virilio, Paul (2002): Desert Screen, London-New York: Continuum.

Bianca Raabe hat Politikwissenschaft, Kunstgeschichte und Medienwissenschaft studiert und zum Thema „Visualisierungsformen gewaltsamer Konflikte seit 1990“ promoviert.