»Enduring Freedom« oder »Gerechter Friede«?

»Enduring Freedom« oder »Gerechter Friede«?

Lästige Betrachtungen zum Krieg gegen den Terror

von Jürgen Rose

Ein Jahr ist es nun her, seit am 11. September 2001 die Terroranschläge von New York und Washington, von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt als »Mammutverbrechen« apostrophiert, die Welt erschüttert haben. Danach, so war allerorten zu vernehmen, sei »alles anders« geworden, wäre die Welt nicht mehr dieselbe wie zuvor. In der Tat war die Dimension der terroristischen Attacke bis dato präzedenzlos. Mit Fug und Recht war das Entsetzen also groß. Erstaunt hatte man allerdings nicht wirklich sein können, hatte sich doch eine derartige Entwicklung schon seit Jahren abgezeichnet. Indessen herrschte hinsichtlich der Ursachen- und Entstehungszusammenhänge des internationalen Terrorismus eine nahezu unbegrenzte Ignoranz, die auch weiterhin – siehe das skandalöse Ergebnis des UN-Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg im Herbst diesen Jahres – den Anschein ihrer Unausrottbarkeit erweckt.
Mittlerweile hat der unter dem Rubrum »Operation Enduring Freedom« begonnene sogenannte Anti-Terror-Krieg, bei dem es sich in Wahrheit vornehmlich um einen Globalisierungskrieg im Interesse des Clubs der Reichen gegen die Armen dieser Welt handelt, gravierende Verwerfungen im internationalen System nach sich gezogen. In den USA lässt die derzeitige Administration eine neue »National Security Strategy« erarbeiten, die unverhohlen »Striking First«-Optionen, d. h. eine Präventivkriegsstrategie zum legitimen Instrument der US-Außenpolitik erklärt, wie der amerikanische Präsident George W. Bush in einer Rede an der Militärakademie von West Point zur sogenannten Bush-Doktrin ausführte.1 Ausdrücklich eingeschlossen in diese Planungen ist auch der präventive Einsatz von Nuklearwaffen. Im Weißen Haus und im Pentagon wird argumentiert, dass beispielsweise unterirdische Bunker, in denen biologisches, chemisches oder nukleares Waffenmaterial lagert, nur durch einen Nuklearschlag geknackt werden könnten. Außerdem könne nur die extreme Hitze einer nuklearen Detonation Sporen, Kampfstoffe oder radioaktives Material nachhaltig vernichten.2 „Solange Atomwaffen existieren, müssen wir ernsthaft mit einem Atomkrieg rechnen“3, kommentiert die indische Schriftstellerin Arundhati Roy und hat auf erschreckende Weise Recht, wird doch im Rahmen des sogenannten Anti-Terror-Krieges der Einsatz von Nuklearwaffen denkbarer denn je.

Schneller als erwartet könnten derartige Befürchtungen Realität werden, sollte der gegenwärtig geplante und in Vorbereitung befindliche Angriffskrieg gegen den Irak tatsächlich stattfinden. Dann nämlich steht zu befürchten, dass der irakische Diktator Saddam Hussein, diesmal buchstäblich um seine physische Existenz kämpfend, einerseits die Truppen der Angreifer, andererseits aber auch Israel tatsächlich mit chemischen oder biologischen Waffen angreifen wird. Die schon während des ersten Krieges gegen den Irak 1991 unmissverständlichen Drohungen sowohl der USA und Großbritanniens als auch Israels, in einem solchen Falle mit nuklearen Gegenschlägen zu reagieren, dürften dann mit infernalischen Konsequenzen in die Tat umgesetzt werden. Der Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten George Bush Senior, Brent Scowcroft, hat diesbezüglich eindringlich gewarnt: „Israel would have to expect to be the first casualty, as in 1991, when Saddam sought to bring Israel into the conflict. This time, using weapons of mass destruction, he might succeed, provoking Israel to respond, perhaps with nuclear weapons, unleashing an armageddon in the Middle east.“4

Im Kielwasser der US-amerikanischen Strategieentwicklung wird durchaus auch in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch unternommen, eine Konzeption »Präventiver Konventioneller Verteidigung« als neue sicherheitspolitische Maxime und legitimes Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu etablieren.5 Offenbar von militärtechnokratischem Machbarkeitswahn besessen, plädieren Politiker diesseits und jenseits des Atlantiks für eine verkappte Aggressionsstrategie im globalen Maßstab und frönen dabei zugleich, wie derzeit weite Teile der sogenannten »Strategic Community«, einem exzessiven Sicherheitswahn – der Fiktion nämlich, durch militärische Hochrüstung nach dem Vorbild USA ließe sich hundertprozentige Sicherheit gewinnen.

Zieht man indessen eine überschlägige Bilanz des globalen Krieges gegen den Terror, so fällt diese eher ernüchternd aus:

  • Aus dem angeblichen Anti-Terror-Krieg in Afghanistan wurde sehr schnell ein klassischer, ordinärer Krieg gegen ein Land, sein Regime und seine Bevölkerung.
  • Die Zahl der – üblicherweise mit dem Euphemismus »Kollateralschaden« belegten – Todesopfer, welche der angeblich »chirurgisch« geführte Luftkrieg unter der afghanischen Zivilbevölkerung forderte, bewegt sich zwischen mindestens 1.000 bis zu 5.000.6 Unberücksichtigt sind dabei diejenigen, die mittelbar durch die Auswirkungen des Krieges – nämlich auf der Flucht und durch Hunger – ums Leben kamen; deren Zahl beträgt nach einschlägigen Berechnungen mindestens 3.000. Insgesamt übersteigt demnach die Anzahl der unschuldigen zivilen Todesopfer des sogenannten Anti-Terror-Krieges gegen Afghanistan die Zahl der durch die Terroranschläge in den USA Getöteten (ca. 2.800) erheblich. Der Bischof der Evangelischen Kirche in Sachsen, Axel Noack, moniert aus diesem Grunde eindringlich die „verbrauchende Terrorismusbekämpfung“, die es billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu Opfern zu machen.7 Mit Nachdruck erhebt sich somit die Frage, wie es um die Moral einer Interventionspolitik mit militärischen Mitteln bestellt ist, die es in Kauf nimmt, Unschuldige zu töten, um andere Unschuldige zu retten, erlittene Verluste zu rächen oder präventiv potenzielle zukünftige Opfer zu schützen.
  • Seine ursprünglich deklarierten Ziele hat der Anti-Terror-Krieg verfehlt: Weder Osama bin Laden noch Mullah Omar wurden bisher gefasst, die Al Quaida ist immer noch nicht endgültig besiegt, die Kämpfe in Afghanistan dauern an; man muss abwarten, ob eine Stabilisierung der Region in Zukunft gelingen wird. Die Anschläge von Kabul und Kandahar am 5. September 2002 demonstrierten erneut die Brisanz der Problematik.
  • Der internationale Terrorismus ist nach wie vor virulent, wie die Terrorattacken von Djerba oder Karachi zeigen; die US-Behörden geben zu Protokoll, dass sie weiterhin mit schwerwiegenden Terroranschlägen rechnen, und sie wurden in ihrer Diagnose erst neulich, am 10. Juni bestätigt, als in Chicago ein mutmaßlicher Terrorist festgenommen werden konnte, der angeblich einen Anschlag mit einer sogenannten »schmutzigen« Atombombe geplant hatte.

Was die Terrorbekämpfung mit militärischen Mitteln betrifft, müsste folgender Sachverhalt zu denken geben: Seit den 70er Jahren geht Israel mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, unter Anwendung brutaler Gewalt und unter systematischer Missachtung jeglichen Völker- und Menschenrechts – also mit maximaler Intensität – gegen den palästinensischen Terror vor. Dabei übertrifft die Zahl der Toten und Verletzten, die der israelische Gegenterror unter der palästinensischen Bevölkerung verursacht, diejenige des palästinensischen Terrors unter der israelischen Bevölkerung um ein Mehrfaches.8 Trotz dieser hemmungslosen Anwendung militärischer Gewalt zur Terrorbekämpfung ist zugleich aber von allen Staaten der Welt gerade Israel der Staat, der von Terroranschlägen am intensivsten betroffen ist. Schlagender lässt sich wohl kaum illustrieren, dass militärische Gewalt keine Lösung politischer Konfliktlagen zu bewirken vermag.

Geht man von der Prämisse aus, dass aus Elend Verzweiflung resultiert und Verzweiflung wiederum Hass und Gewalt hervorbringt – weil nämlich, „wenn die eigene Subsistenzfähigkeit einmal zerstört ist, […] den Frauen [nur] noch die Prostitution [bleibt], und den Knaben und jungen arbeitslosen Männern, dass sie sich eine Kalaschnikow besorgen“9, dann müssten eigentlich am dringlichsten Strategien der Elendsbekämpfung gefragt sein. Militärische Terrorbekämpfungsstrategien erscheinen daher vor allem unter längerfristiger Perspektive als eher nachrangig, weil sie auf das Symptom anstatt die Ursache des Terrors abheben. Nichtsdestoweniger werden unbeirrt in militärische Gewalt- rsp. Gegengewaltpotenziale ungeheure Summen investiert: So gibt die größte Militärmacht der Welt, die USA, in diesem Jahr mehr als 900 Mio. US-$ »täglich« für Rüstung aus10. Schon ab 2003 werden es täglich mehr als 1.000 Mio. US-$ pro Tag sein und nach derzeitiger Planung soll bis 2007 diese Summe auf über 1.200 Mio. US-$ täglich anwachsen.

Demgegenüber betragen die Entwicklungshilfeausgaben der USA magere 9,95 Mrd. US-$ »im Jahr« 200211 oder anders ausgedrückt: Die Ausgaben für militärische Terrorbekämpfung übersteigen die Aufwendungen zur Elendsbekämpfung um etwa das Sechsunddreißigfache.

Für die Europäische Union sehen die entsprechenden Zahlen in ihrer absoluten Höhe weit weniger drastisch aus, weisen aber ähnlich Relationen auf. So beträgt nach mehreren Erhöhungen der bundesdeutsche Verteidigungsetat (Epl. 14) mit rund 24,4 Mrd. Euro etwa das Sechseinhalbfache des Entwicklungshilfehaushalts (Epl. 23), der gerade einmal 3,7 Mrd. Euro erreicht und damit zugleich weit unter dem international vereinbarten 0,7-Prozent-Ziel verharrt.

Im Hinblick auf diesen geschilderten Sachverhalt drängt sich dem unvoreingenommenen Betrachter der Eindruck auf, dass sich die Wohlstandschauvinisten dieser Welt lieber bis unter die Zähne bewaffnen, um ihren gewohnten »Way of Life« abzusichern, und dabei die Armen und Ärmsten auf dem Globus mit einem sogenannten Anti-Terror-Krieg überziehen, anstatt die zur Verfügung stehenden, ja nicht unbeträchtlichen Mittel vermehrt in die Bekämpfung der Ursachen für den Terror und damit in die Gewaltvorbeugung zu investieren.

Warum aber, so lautet die Frage, existiert diese bemerkenswert unausgewogene Ausgabenpolitik? Um sich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, muss man sich zunächst einer weiteren Frage zuwenden, die bereits in der Antike formuliert wurde und die da lautet: Cui bono? – also: Wem nutzt eine solche Politik, wer profitiert von ihr? Oder modern, auf »neurömisch« ausgedrückt: »Where does the money go?« Nehmen wir den bereits erwähnten Rüstungshaushalt der USA als Beispiel, so ist zu konstatieren, dass ca. 35% des Budgets für Investitionen in militärische Beschaffungen, Forschung und Entwicklung gehen12. Dies entspricht in den Jahren 2002-2007 einer Summe zwischen jeweils 117 und 160 Mrd. US-$, die in den vom amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower so bezeichneten »militärisch-industriellen Komplex« fließen. Hierzu ein Beispiel aus jüngster Zeit13: Ende Oktober letzten Jahres vergab das Pentagon den größten Rüstungsauftrag in der Geschichte an den kalifornischen Konzern Lockheed Martin. Der Auftrag bezieht sich auf den Bau eines neuen Kampfflugzeugs, den Joint Strike Fighter (JSF). Er soll dem Unternehmen etwa 200 Milliarden US-$ einbringen. Darüber hinaus wird dieser Rüstungsauftrag mehr als 8.000 Menschen einen Job bei Lockheed Martin sichern. Zudem profitiert die ganze Region um Dallas Fort Worth an dem Rüstungsauftrag – von der Baubranche über Einkaufszentren bis zu Zulieferbetrieben. Die Milliarden bedeuten Kaufkraft und Prosperität. An dem Projekt werden aber auch Zehntausende von Amerikanern in 27 Bundesstaaten bei den Zulieferanten arbeiten. Die Frankfurter Rundschau titelte am 29.10.01 dazu: „In Nordtexas knallen die Sektkorken“.

Die Verhältnisse sind indes weitaus komplexer, als es das geschilderte Beispiel nahelegt: Zu berücksichtigen ist nämlich, dass Rüstungsausgaben über Steuern finanziert werden, eigentlich eine banale Feststellung. Weniger banal ist allerdings der Umstand, dass sich unter den Vorzeichen der Globalisierung die Verteilung der Steuerlast sehr ungleich entwickelt hat. Während die großen Konzerne und die Spitzenverdiener der Upper Class über schier unlimitierte Möglichkeiten zur Steuervermeidung verfügen, wird der Löwenanteil der staatlichen Steuereinnahmen von Mittelstand und Lower Class aufgebracht. Bezogen auf die Frage, warum auf militärische Terrorbekämpfungsstrategien ein solch großes Schwergewicht gelegt wird, ist unter dem Aspekt des »Cui bono« festzustellen, dass die Lower und Middle Classes den Anti-Terror-Krieg hauptsächlich finanzieren, während hauptsächlich die gigantischen Rüstungskonglomerate und deren Eigner aus der Schicht der Vermögenden von ihm profitieren. Anzumerken bleibt, dass Krieg schon immer ein lohnendes Geschäft war.

Noch ein weiterer Sachverhalt ist in dem zu hinterfragenden Kontext von Bedeutung, nämlich wer eigentlich diesen Anti-Terror-Krieg führt, d. h. wer persönlich in die globalen Kriegseinsätze geschickt wird. Empirisch betrachtet rekrutiert sich das Personal der Streitkräfte in den westlichen Industrienationen vor allem aus dem eher kleinbürgerlich zu nennenden Milieu. Soziologisch gesehen handelt es sich beim Militärberuf um einen ganz typischen Aufsteigerberuf, während zugleich die sozialen und ökonomischen Eliten der Gesellschaft gegenüber der Organisation Militär vornehme Zurückhaltung üben. Bezieht man diese Tatsache wiederum auf den Anti-Terror-Krieg, so lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Abkömmlinge der Middle und Lower Class für die Upper Class in einen Krieg ziehen, aus dem letztere sich selbst und ihre Nachkommen lieber fernhält.

Ein letzter Umstand scheint in diesem Kontext noch von Bedeutung, nämlich wie unter volkswirtschaftlicher Perspektive der Strom des für Militär, Rüstung und Krieg aufgewandten Geldes fließt. Für die Rüstungsindustrien des Westens gilt, dass diese nach wie vor primär national strukturiert sind: Auf der einen Seite stehen die gigantischen Rüstungskonzerne in den USA, auf der anderen Seite in etwas kleinerem Maßstab die der Europäischen Union. Entscheidend ist nun, dass die Rüstungsausgaben im Wesentlichen innerhalb der nationalen Ökonomien verbleiben, d.h. es sind die Rüstungsgiganten und ihre Eigner, die von einer derartigen Mittelallokation profitieren – Strategien militärischer Terrorbekämpfung lohnen sich für sie gerade auch unter volkswirtschaftlichen Aspekten.

Anders sieht es unter einer solchen Betrachtungsweise dagegen mit den erwähnten Elendsbekämpfungsstrategien aus: Die Schaffung sicherer Ernährungsgrundlagen, die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser, Bildungsoffensiven, Hilfe zur Geburtenkontrolle, Unterstützung von »Good Governance«, das ganze weite Spektrum von Entwicklungshilfe bedeutet den Abfluss der hierfür bereitgestellten Mittel in die betroffenen Länder und Regionen selbst – zumindest, wenn Entwicklungshilfe nicht als verkappte Exportförderung begriffen wird. Volkswirtschaftlich gesehen eignen sich derartige Ausgaben nicht zur kurzfristigen Profitmaximierung, sondern werfen allenfalls langfristig einen Gewinn ab, dann nämlich, wenn entwickelte Volkswirtschaften entstehen, mit denen wiederum lukrative Wirtschaftsbeziehungen etabliert werden können.

Um die gerade angestellten Überlegungen zusammenzufassen: Die Frage nach dem »Cui bono« ist geeignet, Irritationen auszulösen und die so naheliegende, mit Verve verfolgte Strategie der Terrorbekämpfung mit militärischen Mitteln gewissen Zweifeln auszusetzen. Als Bürgerinnen und Bürger dieser Republik sollten wir uns die Frage stellen, ob wir die aufgezeigten politischen Strategien und Zusammenhänge als die Prämissen akzeptieren wollen, unter denen wir unsere Zustimmung dafür geben, die Bundeswehr in die Globalisierungskriege der Zukunft zu entsenden. Denn, nicht wahr, in einer Demokratie sind es ja die Bürgerinnen und Bürger, die letztlich darüber entscheiden, ob ihre Streitkräfte in den Krieg ziehen, in welche Kriege sie ziehen und wie sie zur Erfüllung derartiger Aufträge ausgestattet und strukturiert werden, kurz: welches Profil sie aufweisen sollen. Die intensiv geführte Debatte um eine Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an einem allfälligen Krieg gegen den Irak und dessen Diktator Saddam Hussein kann da als illustratives Beispiel dienen: Der Umstand nämlich, dass sich die Bundesregierung nicht zuletzt deshalb, weil weit über 90 Prozent der BundesbürgerInnen einen Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen den Irak ablehnen, gegenüber der amerikanischen Hegemonialmacht unmissverständlich weigert, deutsche Streitkräfte für eine strategische Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens nach den geopolitischen Interessen der USA zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass – gerade in Wahlkampfzeiten – die Verfassungsbestimmung des Art. 20, GG – „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – durchaus Relevanz besitzt.

In diesem Zusammenhang hat vor kurzem ein slowenischer Philosoph, Slavoj Zizek, eine kleine Parabel verfasst14. Sie lautet folgendermaßen: „In einem alten DDR-Witz wird einem Mann Arbeit in Sibirien zugewiesen. Da er weiß, dass alle Post zensiert werden wird, sagt er seinen Freunden: »Lasst uns einen Code verabreden: Wenn ich euch einen Brief mit gewöhnlicher blauer Tinte schreibe, ist sein Inhalt wahr. Ist er mit roter Tinte geschrieben, ist er falsch.« Nach einem Monat erhalten seine Freunde den ersten mit blauer Tinte geschriebenen Brief: »Hier ist alles ganz wunderbar. Die Geschäfte sind voller Waren, Lebensmittel gibt es reichlich, die Wohnungen sind groß und ordentlich geheizt, die Kinos zeigen Filme aus dem Westen, und es gibt viele hübsche Mädchen, die auf eine Affäre aus sind – das einzige, was man nicht bekommen kann, ist rote Tinte«…“

Zizek knüpft an diesen Witz die Frage an: „Ist das nicht genau das Grundmuster, nach dem Ideologie funktioniert? Nicht nur unter »totalitärer« Zensur, sondern vielleicht auch unter den verfeinerten Verhältnissen liberaler Zensur? Wir »fühlen uns frei«, weil uns die Sprache fehlt, unsere Unfreiheit auszudrücken. Die fehlende rote Tinte bedeutet heute, dass alle wesentlichen Begriffe, die wir gebrauchen, um den gegenwärtigen Konflikt zu charakterisieren – »Krieg gegen den Terror«, »Menschenrechte« und so weiter –, falsche Begriffe sind, die unsere Wahrnehmung der Situation mystifizieren, anstatt den Gedanken zuzulassen: Unsere »Freiheiten« selbst verdecken unsere tiefere Unfreiheit und erhalten sie. Das gleiche gilt für die uns angetragene Wahl zwischen »Demokratie oder Fundamentalismus«.“ Angesichts der Anmerkungen dieses slowenischen Zeitgenossen drängt sich die Frage auf, in welcher Farbe eigentlich die Redetexte unserer Politiker geschrieben sind.

Wo aber bleibt, um mit Erich Kästner zu sprechen, am Ende nun das Positive? Eine schwierige Frage, die, so ist zu befürchten, sich einer kurzen und schneidigen Antwort entzieht. Ein Fingerzeig indes lässt sich erkennen: Die deutschen Bischöfe nämlich haben einen ganz einfachen, präzisen, unmissverständlichen Satz geprägt, und dieser Satz lautet: „Gerechtigkeit schafft Frieden.“ Sie führen dazu aus: „Das Leitbild des gerechten Friedens beruht auf einer letzten Endes ganz einfachen Einsicht: Eine Welt, in der den meisten Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, ist nicht zukunftsfähig. Sie steckt auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt. Verhältnisse fortdauernder schwerer Ungerechtigkeit sind in sich gewaltgeladen und gewaltträchtig. Daraus folgt positiv: »Gerechtigkeit schafft Frieden«.“15

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu Bush, George W.: Remarks by the President at 2002 Graduation Exercise of the United States Military Academy West Point, New York, June 1, 2002, 9:13 A.M. EDT (im Internet unter www.whitehouse.gov/news/releases/2002/06/20020601-3.html).

2) Vgl. Göller, Josef Thomas: Neue Bush-Doktrin: Präventivschlag statt Abschreckung, in: Das Parlament, Nr. 24, 14. Juni 2002, S. 12.

3) Roy, Arundhati: Das radioaktive Kaninchen, in: Die Zeit, Nr. 25, 13. Juni 2002, S. 33.

4) Brent Scowcroft zit. n. Left, Sarah: Iraq: hawks and doves, August 29, 2002 (im Internet unter www.guardian.co.uk/Iraq/Story/0,2763,781489,00.html); vgl. auch Borger, Julian/Norton-Taylor, Richard: US adviser warns of Armageddon, in: The Guardian, August 16, 2002 (im Internet unter www.guardian.co.uk/international/story/0,3604,775519,00.html).

5) Vgl. hierzu insbesondere Opel, Manfred: Die Zukunft der Streitkräfte, in: Soldat und Technik, Nr. 4/2002, S. 7 – 14 (im Internet unter www.soldat-und-technik.de). Zur Kritik dieses Ansatzes siehe Rose, Jürgen: Präventive Verteidigung. Manfred Opels Plädoyer für eine angriffsfähige Bundeswehr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8, August 2002, S. 936 – 942.

6) Vgl. hierzu Conetta, Carl: Strange Victory: A Critical Appraisal of Operation Enduring Freedom and the Afghanistan War, (im Internet unter www.comw.org/pda/0201strangevic.pdf) Bittner, Jochen/Ladurner, Ulrich: Töten, töten, töten. Nicht nur das Blutbad von Qala-i-Dschanghi wirft Fragen nach der Kriegsführung in Afghanistan auf. Die USA ignorieren das humanitäre Völkerrecht, in: Die Zeit, Nr. 50, 6. Dezember 2001, S. 4; Sgrena, Giuliana/Ladurner, Ulrich: Was man in Masar alles findet. Während des Afghanistan-Feldzugs gab es in Masar-i-Sharif ein Massaker. Zeugen sagen, US-Soldaten hätten daran mitgewirkt. Eine Spurensuche, in: Die Zeit, Nr. 27, 27. Juni 2002, S. 3.

7) Noack, Axel: Vom Realopazifismus und dem Bündel an enttäuschten Erwartungen, in: 4/3, Fachzeitschrift zu Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienst und Zivildienst, Nr. 1/2002, S. 43.

8) In der zweiten Intifada starben etwa 600 Israels und ungefähr 2.000 Palästinenser; vgl. hierzu Nass, Matthias: Krieg gegen Saddam? Nicht ohne bessere Gründe, in: Die Zeit, Nr. 33, 8. August 2002, S. 1.

9) Mies, Maria: Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten. (im Internet unter www.come.to/netzwerk-gegen-neoliberalismus).

10) Esterhazy, Yvonne/Wetzel, Hubert: Bush fordert größte Steigerung der Militärausgaben seit 21 Jahren, in: Financial Times Deutschland, 5. Februar 2002.

11) Vgl. OECD: Table IV-1. Net Official Development Assistance Flows from DAC Members in 1999 and 2000 (im Internet unter www.oecd.org/pdf/M00001000/M00001388.pdf).

12) Vgl. Eder, P./Hofbauer, B. G.: Verteidigungsbudget 2002 und Budgetvoranschlag 2002, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, Nr. 3/2002, S. 371f sowie Esterhazy, Yvonne/Wetzel, Hubert: s. Anm. 10.

13) Mies, Maria: Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten, s.o.

14) Zizek, Slavoj: Offener Briefe an den Präsidenten der USA, in: Die Zeit, Nr. 21, 16. Mai 2002, S. 43.

15) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Die deutschen Bischöfe. Gerechter Friede (Hirtenschreiben, Erklärungen Nr. 66), Bonn, 27. September 2000, S. 35f.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Experimentierfeld für zivilmilitärische Zusammenarbeit

Hindukusch:

Experimentierfeld für zivilmilitärische Zusammenarbeit

von Claudia Haydt

Die Verknüpfung von zivilen und militärischen Fähigkeiten ist integraler Teil der Sicherheitspolitik der deutschen Regierung genauso wie der der Europäischen Union. Die Europäische Sicherheitsstrategie fordert eine möglichst effektive und „kohärente“ Verknüpfung aller „notwendigen zivilen Mittel in und nach Krisen“ . Zivile Komponenten sollen also sowohl parallel zu Militärschlägen als auch zur nachträglichen Konsolidierung zum Einsatz kommen. In der europäischen Sicherheitsstrategie erhofft man sich einen effektiven Ressourceneinsatz durch diese Kooperation. „Die Union könnte einen besonderen Mehrwert erzielen, indem sie Operationen durchführt, bei denen sowohl militärische als auch zivile Fähigkeiten zum Einsatz gelangen.“1 Auch deutsche Strategiepapiere und der Koalitionsvertrag der schwarz-roten Regierung beschwören einen »umfassenden Sicherheitsbegriff«, bei dem es „neben militärischen Fähigkeiten nicht zuletzt um genügend ziviles Personal“ geht. Deutsche sicherheitspolitische Interessen haben dabei oberste Priorität und sollen „durch eine enge Verzahnung unserer Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs-, Menschenrechts-, Außenwirtschafts- und Auswärtigen Kulturpolitik“ umgesetzt werden.2 Die Vernetzung ziviler und militärischer Komponenten gehört heute selbstverständlich zu jedem Einsatzkonzept der Bundeswehr: Die Autorin demonstriert am Beispiel Afghanistans, dass dies nicht zwangsläufig zu einer »Zivilisierung des Militärischen« führt, sondern vielmehr die Gefahr in sich birgt, dass Spielräume für zivile Alternativen weitgehend eingeschränkt werden.

Von Anfang 2002 bis Oktober 2003 war das Aufgabengebiet der ISAF-Truppen mehr oder weniger auf die Hauptstadt Kabul begrenzt. Der dort erfüllte »Sicherungsauftrag« (security assistance) wurde u.a. auf Drängen der deutschen Regierung als zivilmilitärisches Projekt über Kabul hinaus ausgeweitet. Die deutschen Soldaten begannen bereits Ende Oktober 2003 mit dem Aufbau des ersten Provincial Reconstruction Teams (PRT), deren Aufgabe es sein sollte, den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wiederaufbauprozess zu koordinieren und militärisch abzusichern. Im Januar 2004 folgte eine PRT Außenstelle in Taloqan, und im Juli 2004 begannen deutsche Soldaten ihren Einsatz im PRT Feyzabad. Mit diesen neuen Bundeswehraktionsfeldern verschob die Bundeswehr ihren Aktionsschwerpunkt in den Norden. Nach Absprachen innerhalb der NATO kontrolliert Deutschland so im Norden des Landes faktisch einen eigenen Besatzungssektor. Dazu wurde im Juli 2005 ein Regional Area Command (RAC) unter Brigadegeneral Bernd Kiesheyer eingerichtet. Hauptaufgabe des RAC, das zunächst in Kunduz (seit Frühjahr 2006 in Mazar-I-Sharif) seinen Sitz hat, ist die Koordination der zivil-militärischen Aktivitäten (CIMIC) der zugeordneten Regionalen Wiederaufbauteams (PRTs). „Damit trägt Deutschland die Verantwortung für die Koordination des Wiederaufbaus im gesamten Norden Afghanistans.“3 Die Bundeswehr selbst versteht CIMIC nicht als humanitäre Aufgabe, CIMIC ist vielmehr „eine Unterstützungsfunktion für die militärische Operation.“4<

Die Aufgaben dieses RAC sind im Operationsplan der NATO genau festgehalten:

  • „Koordinierung der zivil-militärischen Aktivitäten (CIMIC) der zugeordneten Regionalen Wiederaufbauteams,
  • Koordinierung MEDAVAC Einsatz,
  • Koordinierung der militärischen Aktivitäten zur ISAF – Unterstützung der Sicherheitssektorreform
  • Koordinierung der Ausbildungsunterstützung für die Afghanischen Streitkräfte (ANA)“.5

Dass hier die rein militärischen Aufgaben verlassen wurden zugunsten eines umfassenden Besatzungsmanagements mit Kontrolle fast aller zivilen Sektoren, fällt sofort auf. Dieses Besatzungsregime greift umfassend in die zivile wirtschaftliche Ordnung Afghanistans ein.

Wirtschaftliche Interessenspolitik

Auf der Homepage des Auswärtigen Amtes wird erklärt, worin die »Hilfe« der deutschen Regierung für die Bevölkerung Afghanistans besteht: „Schwerpunkte der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands mit Afghanistan sind die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Privatwirtschaft und marktwirtschaftlicher Strukturen, die Rehabilitierung des Energiesektors …“6 Beim Stichwort »Rehabilitierung des Energiesektors« sei hier nur kurz erwähnt, dass zu Zeiten der sowjetischen Besatzung der neue deutsche Einsatzschwerpunkt Mazar-I-Sharif das Zentrum der afghanischen Gas- und Ölindustrie war, das immerhin soviel produzierte, dass es Afghanistan einen Außenhandelsüberschuss bescherte. Bis zum Wiederaufbau dieser Industrie ist Mazar-I-Sharif vor allem als Transportdrehkreuz zwischen dem afghanischen Norden und dem Bundeswehrstützpunkt Termez in Usbekistan von zentraler Bedeutung.

Das Interesse der deutschen Regierung an Einflussnahme auf den wirtschaftlichen Wiederaufbauprozess in Afghanistan zeigte sich schon bei Bundeskanzler Schröders Afghanistan-Besuch 2002. Er setzte damals einen deutschen Berater bei der afghanischen Regierung für die Förderung von Investitionen und Handel ein.

Im August 2003 wurde mit deutscher Hilfe die Afghan Investment Support Agency (AISA) eröffnet. AISA ist als »One-Stop-Shop« für Investoren konzipiert, bei dem alle notwendigen Formalitäten geklärt werden können. AISA unterstützt Investoren bei der Registrierung und berät zu rechtlichen und sicherheitsrelevanten Rahmenbedingungen. AISA soll besonders für die folgenden Sektoren ausländische Investoren suchen: Bauwirtschaft, Telekommunikation, Leichtindustrie und Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse.

Ziel der deutschen Einflussnahme ist vor allem die Rechtssicherheit für Investitionen. Dazu wurde 2003 mit deutscher Unterstützung der Entwurf für ein neues Investitionsgesetz geschrieben. Im Dezember 2004 wurde ein bilaterales Investitionsschutzabkommen mit Afghanistan paraphiert. Es stellt sich dabei allerdings die Frage, ob es tatsächlich um »state-building« im Interesse der afghanischen Bevölkerung geht, oder vielmehr um »institution-building« zur Absicherung der Interessen ausländischer Investoren.

Reform des Sicherheitssektors

Die deutsche Regierung ist auch maßgeblich am Aufbau der afghanischen Polizei beteiligt. Dazu gehört u. a. die Hilfe bei der Finanzierung der Polizei durch die „Vermittlung und Koordinierung finanzieller Ressourcen von internationalen Partnern“7. Die deutsche Handschrift findet sich beim Aufbau der Polizeistruktur genauso wie bei konkreten Projekten, die über ein deutsches Büro in Kabul abgewickelt werden. Es geht dabei um Rekrutierung, Ausbildung und Ausrüstung afghanischer Polizeibeamter. Für die politische Koordinierung des deutschen Beitrags zur Sicherheitssektorreform wurde im Herbst 2003 ein Koordinator im Rang eines Botschafters entsandt. Das Technische Hilfswerk baute 2002 die Polizeiakademie in Kabul, in der parallel 1.600 Polizeioffiziere – auch durch deutsche Polizeibeamte – ausgebildet werden. Bundeswehrsoldaten dürfen nicht direkt zur Drogenbekämpfung eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das auswärtige Amt stolz vermeldet: „Fortschritte sind auch beim Aufbau einer Drogenbekämpfungseinheit, der Kriminalpolizei, des polizeilichen Gesundheitssystems sowie der Verkehrspolizei in Kabul zu verzeichnen.“ Dass es nach wie vor große Zweifel an einem rechtsstaatliches Vorgehen der afghanischen Polizei und Justiz gibt, dass Polizeieinheiten foltern, dass Frauen – die ihre Vergewaltiger anzeigen – im Gefängnis landen, wird in dieser Positivbilanz unterschlagen. Die afghanische Polizei und die afghanischen Gefängnisse funktionieren so hinreichend, dass deutsche KSK- und ISAF-Soldaten ihre Gefangenen nicht mehr in US-Gefängnisse überstellen müssen. Es ist also keine abstrakte Sorge um das Image der Polizei, wenn das Auswärtige Amt festlegt: „Um das negative Bild der Polizei in der afghanischen Bevölkerung zu verbessern und ein professionelles Verhalten der neuen Polizeikräfte sicherzustellen, nimmt die Vermittlung von Grund- und Menschenrechten im Ausbildungsprozess einen besonderen Stellenwert ein.“8 Der zukünftige Schwerpunkt der Ausbildung liegt allerdings vor allem auf der Grenzsicherung (und damit auch der Flüchtlingskontrolle) sowie der Bekämpfung der Drogenökonomie: „Zu den dringendsten Aufgaben gehören der schon begonnene Aufbau der Grenzpolizei und – damit eng verbunden – die Ausbildung und Ausstattung einer effizienten Anti-Drogen-Polizei.“9 Leider fehlen dabei aber Programme, die den Bauern, die vom Drogenanbau leben eine Zukunft geben.

Zum Verwechseln ähnlich: Hilfe und Krieg

Aus Sicht der afghanischen Bevölkerung war seit dem Beginn des so genannten Krieges gegen den Terror im Herbst 2001 die humanitäre Hilfe der westlichen Staaten begleitet von Krieg und Sterben. Die Lebensmittelpakete für die afghanische Bevölkerung, abgeworfen aus den Flugzeugen der Koalition, sahen den explosiven Überbleibseln der gleichzeitig abgeworfenen Streubomben zum Verwechseln ähnlich. Die Unterscheidung zwischen Soldaten, die in Afghanistan im Rahmen von Enduring Freedom an Kampfeinsätzen (häufig auch mit zivilen Opfern) eingesetzt werden, und Soldaten, die im Rahmen der ISAF-Mission den zivilen Wiederaufbau ermöglichen sollen, war von Anfang an eher für die Akzeptanz der Militäreinsätze in den Staaten, die die Soldaten entsenden, als für die afghanische Bevölkerung gedacht. Spätestens seit ISAF-Soldaten im Sommer 2006 im Rahmen der Operation Medusa Kampfeinsätze gegen Aufständische durchführten, sind »friedliche ISAF-Soldaten« und »Antiterrorsoldaten« kaum noch zu unterscheiden. Besonders brisant ist die fehlende Unterscheidbarkeit zwischen westlichen Sondereinheiten (z.B. KSK-Kämpfern) in Zivil und zivilen NGO-Vertretern – die häufig in nahezu identisch aussehenden hellen Jeeps unterwegs sind. Im Rahmen der so genannten Provincial Reconstruction Teams (PRT) arbeiten NGO-Vertreter zudem direkt mit ISAF-Soldaten und treten auch häufig mit diesen zusammen auf.

Diese Kooperation ist Teil der Einsatzstrategie in vielen Krisenregionen geworden, denn klassische Kriegshandlungen westlicher Soldaten gegen feindliche Armeen sind trotz zahlreicher Auslandseinsätze seltener geworden. Die Missionen, Interventionen und sonstigen Operationen – wie Krieg und Besatzung meist genannt werden – finden ganz überwiegend in einem zivilen Umfeld statt, in dem häufig nicht klar ist, wer Kombattant und wer Zivilist ist. Informationen sind folglich – nicht nur – für die Bundeswehr sicherheitsrelevant. Dieses Interesse muss mitgedacht werden, wenn als Aufgabe der zivilmilitärischen Kooperation im Norden Afghanistans formuliert wird: „So steht in Kunduz die Informationsgewinnung im Vordergrund.“10 Erwähnt wird von der Bundeswehr zuerst einmal überwiegend die Erhebung von Defiziten bei der Versorgung mit Wasser, im Bildungs- oder Medizinbereich. Dass Informationsgewinnung auch militärisch relevant ist, verschweigt sie aber nicht: Deswegen gehört es auch zum Ziel, herauszufinden, wie „die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung“ ist.11 Die Bundeswehr erhofft sich so, „ein umfassendes Lagebild der zivilen Umgebung“ zu bekommen, damit „die Nutzung ziviler Ressourcen für die militärische Operation verbessert und koordiniert werden“ kann.

Inakzeptabler Angriff auf humanitäre Prinzipien

Welche Auswirkung die zivilmilitärische Kooperation für die humanitäre Arbeit haben kann, wurde im Jahr 2004 auch für die internationale Öffentlichkeit deutlich. Koalitionstruppen verteilten damals Flugblätter im Süden Afghanistans, auf denen die Bevölkerung dazu aufgerufen wurde, „den Koalitionstruppen sämtliche Informationen über die Taliban, El Quaeda und Gulbuddin (Hekmatyar – Rebellenführer) zu übermitteln.“ Dies sei notwendig, um „zu gewährleisten, dass humanitäre Hilfe auch weiterhin bereit gestellt wird.“ Nicht nur die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« wandte sich damals öffentlich gegen diese Instrumentalisierung humanitärer Hilfe: „Diese Flugblätter, die unter anderem ein afghanisches Mädchen mit einem Sack Weizen zeigen, stellen einen eindeutigen Versuch dar, humanitäre Hilfe für militärische Ziele der Koalition zu missbrauchen. Ärzte ohne Grenzen lehnt jegliche Verbindung zwischen der Bereitstellung humanitärer Hilfe und der Zusammenarbeit mit den Koalitionstruppen ab.“12

In dramatischen Appellen erklärten die Mitarbeiter, dass so die Helfer gefährdet werden und die Hilfe für die Bedürftigen gefährdet wird. „Die bewusste Vermischung von humanitärer Hilfe mit militärischen Zielen zerstört den eigentlichen Sinn der humanitären Hilfe. Dies wird letztlich nur dazu führen, dass dringend benötigte Hilfe denjenigen in Afghanistan versagt bleiben wird, die sie am dringendsten brauchen. Gleichzeitig werden diejenigen, die Hilfe bereitstellen, zur Zielscheibe.“13 Auch die deutsche Welthungerhilfe hatte durch unangemeldete Besuche der ISAF-Soldaten in ihren Quartieren Probleme mit der Akzeptanz in der Bevölkerung.

Nachdem zahlreiche Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen und anderen Hilfsorganisationen tatsächlich zu Opfern von Anschlägen wurden, sah sich die Organisation am 28. Juli 2004 nach 24jähriger Tätigkeit veranlasst, ihre Arbeit in Afghanistan einzustellen. Zu diesem Rückzug erklärte sie öffentlich: „Die Gewalt gegen humanitäre Helfer spielt sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Instrumentalisierung der Hilfe durch die US-geführte Koalition in Afghanistan ab. … Koalitionsstreitkräfte missbrauchen die Hilfe beständig für ihre militärischen und politischen Ziele und versuchen damit, die »hearts and minds« der afghanischen Bevölkerung zu gewinnen. Dadurch wird humanitäre Hilfe nicht mehr als unparteilich und neutral angesehen. Dies wiederum gefährdet die Helfer und die Hilfe selbst.“

Deutlicher kann die Distanzierung von zivilmilitärischer Kooperation kaum formuliert werden. Dennoch verweist die Bundeswehr im Rahmen ihrer Internet-Öffentlichkeitsarbeit unter dem Stichwort »Was genau ist CIMIC«14 nach wie vor auf ihre Kooperation mit NGOs und nennt dabei explizit Ärzte ohne Grenzen und die Caritas (die ebenfalls Bedenken gegen Instrumentalisierung ziviler Hilfe geäußert hat).

Die Genfer Konventionen verbietet in Art. 3, Abs.2. die Instrumentalisierung humanitärerer Hilfe für politische Zwecke. Die propagierte Form von zivilmilitärischer Kooperation

  • unterhöhlt das Konzept der neutralen unparteilichen humanitären Hilfe, die allein die Aufgabe hat, Leben zu retten und Leiden zu mindern;
  • sie führt dazu, dass die zivile Konfliktbearbeitung – als Alternative zu militärischem Eingreifen – Stück für Stück an Spielraum und an Glaubwürdigkeit verliert.

Offensichtlich ist in der Sicherheitspolitik der deutschen Regierung und der Europäischen Union zivile Konfliktlösung und humanitäre Hilfe auf die Begleitung und Nachsorge von Militäreinsätzen reduziert und den militärischen Prioritätensetzungen und Interessen unterworfen. Die Überwindung militärischer Konfliktaustragung durch zivile und an den Interessen der jeweiligen Bevölkerungen orientierte Konfliktbearbeitung bleibt so auf der Strecke.

Anmerkungen

1) Europäische Sicherheitsstrategie: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel 12.12.2003.

2) Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD 11.11.2005, http://koalitionsvertrag.spd.de

3) Chronologie des Einsatzes in Afghanistan (ISAF) 16.08.2006, www.einsatz.bundeswehr.de

4) Was genau ist CIMIC, Artikel vom 10.9.2006, http://www.streitkraeftebasis.de

5) Deutschland übernimmt mehr Verantwortung im Norden Afghanistans, 4.8.2005, einsatz.bundeswehr.de

6) Beziehungen zwischen Afghanistan und Deutschland, (Stand: Juni 2006) www.auswaertiges-amt.de

7) ebenda

8) ebenda

9) ebenda

10) Vor neuen Herausforderungen, 4.1.2006, www.streitkraeftebasis.de

11) Was genau ist CIMIC, Artikel vom 10.9.2006, http://www.streitkraeftebasis.de

12) Flugblatt in Afghanistan verwischt Grenze zwischen Hilfe und militärischen Zielen, Kenny Gluck in Frankfurter Rundschau vom 5.5.2004, www.aerzteohnegrenzen.at

13) Nelke Manders, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen (damals: Afghanistan)

14) Was genau ist CIMIC, Artikel vom 10.9.2006, http://www.streitkraeftebasis.de, zuletzt heruntergeladen am 16.9.2006.

Claudia Haydt ist Soziologin und Religionswissenschaftlerin.

Der programmierte Sieg

Der programmierte Sieg

Präsidentschaftswahl in Afghanistan

von Matin Baraki

Wie erwartet, wurde der afghanische Interimspräsident, Hamid Karsai, durch die von ihm selbst ernannte Wahlkommission am 30.10.2004 zum Wahlsieger erklärt. Ein bisschen spät, könnte man sagen. Der US-Botschafter in Kabul, Zalmay Khalilzad, gratulierte ihm schon in »BBC für Afghanistan« am 4.10.2004, also fünf Tage vor der Wahl zu seinem Sieg. Karsai war nicht nur der Wunschkandidat der USA, sie haben auch alles unternommen, um ihm zu diesem Wahlsieg zu verhelfen.

Sowohl Khalilzad als auch BBC, Stimme Amerikas, Radio Asadi, letzterer ein CIA-Sender, haben massiv im Wahlkampf zu Gunsten Karsais Partei ergriffen. Bei den Wahlsendezeiten wurde Karsai brutal bevorzugt. Martin Gerner stellt in der FR fest, dass Karsai „50 Prozent der Sendezeit in Funk und Fernsehen“ zur Verfügung hatte.1 BBC-Afghanistan spricht am 4.10 sogar von 75%. Den Gegenkandidaten wurden nur 6 Minuten eingeräumt. „Karsai kann zehnmal am Tage an jeden beliebigen Punkt Afghanistans fliegen“, kritisierte der Dichter und einer seiner Herausforderer, Latif Pedram. „Wir müssen mit dem Auto fahren, während Karsai den Hubschrauber benutzt.“2 Das wurde von sämtlichen Gegenkandidaten als Missbrauch staatlicher Ressourcen gewertet.

An dem Sieg Karsais zweifelte unter diesen Bedingungen kaum jemand und so verkündeten ausländische Medien dann auch unmittelbar nach der Schließung der Wahllokale am 10.10.2004 täglich den Sieg Karsais mit 62% Mehrheit, die BBC blieb dabei bis zum 19.10. Jetzt heißt es, er habe 55,4% der abgegebenen Stimmen erhalten. Dieses Ergebnis kam auf vielfältige Weise zustande. Etwa 80% der Bevölkerung sind nicht freiwillig wählen gegangen, wie eine Umfrage belegt. Sie mussten den Empfehlungen – genauer „dem Zwang der Mullas oder Stammesältester“ folgen, sagte UN-Sprecher Manoel de Almeida e Silva.3 Dies wurde auch von OSZE-Beobachtern bestätigt. Außerdem war das so genannte community voting vor allem für Frauen in Stammesgebieten die Regel. Sayed Mohammad vom Mangal-Stamm aus der Provinz Paktia behauptete, „unsere Frauen haben viel zu tun, deshalb haben sie alle morgens ganz schnell abgestimmt“.4 Eine Versammlung von 300 Clanführern in Paktia ließ folgenden Aufruf zur Wahl von Karsai im Radio verbreiten: „Alle Mitglieder des Terezai-Stammes müssen für Karsai stimmen. Wenn ein Terezai für einen anderen Kandidaten stimmt, wird der Stamm sein Haus niederbrennen.“5 Da müssen aber reichlich Dollars geflossen sein. Wichtig ist aber, ob dieser Sieg einen realen Machtgewinn bringt oder nur neue Kleider für den Kaiser? Karsai ist im Vorfeld der Wahlen denkwürdige Bündnisse eingegangen. Am 23. Mai 2004 traf er sich hinter verschlossenen Türen mit den hundert mächtigsten Milizen- und Modjahedinführern, die zum Teil vom »Afghanistan Justice Project« (AFP)6 als Kriegsverbrecher entlarvt worden sind. Darunter waren Ismael Chan aus Herat, die Ultra-Islamisten Rasul Sayaf und Burhanudin Rabani, Schiitenführer Karim Khalili, Verteidigungsminister Fahim, General Dostum und dessen Rivalen, Milizenführer Atta Mohammad, letzterer ein Verbündeter Fahims.7 Dieses Treffen hat den aufgekommenen Verdacht genährt, dass Karsai „mit Rückendeckung der USA – eher mit den Warlords die Macht teilt, als am Reformkurs“8 festzuhalten. Diese Koalition stimmt insofern mit der US-Strategie in der Region überein, als eine Allianz aus Karsai, Warlords- und Modjahedinführern das US-Militär hinsichtlich seines Einsatz in Irak entlasten dürfte. „Karzai habe alle Bedingungen akzeptiert,“9 sagte Rabani. Rabani soll künftiger Präsident der Nationalversammlung, Sayaf Oberster Richter und die Söhne der Wendehals-Modjahedinführer, Sebgahtullah Modjadedi und Sayed Ahmad Gailani sollen Posten im Kabinett erhalten. Außerdem ernannte Karsai zwei Modjahedinführer, Karim Khalili, Chef der schiitischen Partei der Einheit und den jetzigen Kabuler Botschafter in Moskau, Ahmad Zia Masud, den jüngsten Bruder des berühmten islamistischen Kommandanten der Nordallianz, Ahmad Schah Masud, und Schwiegersohn von Ex-Präsident Rabani zu seinen Stellvertretern. Karsai versprach darüber hinaus 50% der Posten im künftigen Kabinett mit Modjahedin zu besetzen, und »Heilige Krieger« sollen in Nationalarmee und Polizei aufgenommen werden. „Die Aufnahme der Modjahedin in die Nationalarmee hat die erste Priorität“10, sagte Fahim bei der Eröffnung der neuen Garnison in Herat. Hiermit wird die ohnehin bestehende Infiltration der Sicherheitsorgane durch Islamisten weiter verstärkt. Karsai kooperiert sogar mit den Teufeln und war auf der Suche nach »guten Taliban« sowie »guten Kommunisten« erfolgreich. Der ehemalige Erziehungsminister der prosowjetischen afghanischen Regierung, Raschid Jalili, rief seine Parteigänger auf, für Karsai zu stimmen. Wakil Ahmad Mutawakel, früherer Außenminister der Taliban, und deren berüchtigter und gefürchteter Polizeiminister Mawlawi Qalamudin sowie 700 weitere Talibankämpfer wurden aus der Haft entlassen,11 darunter 11 Personen aus Guantánamo. „Sie sind Söhne dieser Erde und uns bis auf ein paar wenige hoch willkommen,“12 verkündete Karsai. Ein hochrangiger Talibankommandant, Naim Kutschi, rief dazu auf, für Karsai zu stimmen.13 Diese Konstellation wird es Karsai schwer machen, seine verfassungsmäßige starke Position durchzusetzen. „Hamid Karzai muss seine Herrschaft mit vielen teilen, um an der Macht zu bleiben, mit Zalmay Khalilzad, dem amerikanischen Botschafter in Kabul, mit Verteidigungsminister Mohammad Fahim, mit Finanzminister Aschraf Ghani, mit den Königstreuen und selbst mit einem Teil der Taliban. Was bleibt ihm am Ende? Nichts als ein bloßer Titel!“14, resümierte die Kabuler Wochenzeitung »Pyame Mudjahed«.

Wie so viele Vereinbarungen zwischen den Modjahedinführern in der Vergangenheit, war auch diese nicht von langer Dauer. Karsais Sicherheitsberater Dostum war am 22.7. und der Erziehungsminister Qanuni am 26.7.2004 zurückgetreten, um für die Präsidentschaft kandidieren zu können.15 Auch Karsai hatte am 26.7. offiziell seine Kandidatur angemeldet,16 eine Amtsniederlegung aber kategorisch abgelehnt,17 trotz der Drohung von siebzehn Gegenkandidaten, ihre Kandidatur zurückziehen, sollte Karsai dies nicht rechtzeitig vor den Wahlen tun. Der Monarchist Satar Sirat bemängelte, „Karzai missbrauche Regierungseinrichtungen für seinen Wahlkampf. Das Interimsstaatsoberhaupt müsse deshalb innerhalb einer Woche zurücktreten.“18

Je höher die Zahl der Kandidaten, desto aussichtreicher wurde es für Karsai, schon im ersten Wahlgang gewählt zu werden, und seine mächtigsten Gegner, die Pandjschiris, personifiziert durch die Minister Fahim, Abdullah und Qanuni zu schwächen. Khalilzad und Karsai hatten versucht den aussichtsreichsten Gegenkandidaten Qanuni von einer Kandidatur abzuhalten.19 Ebenso wurde nach Angaben der Los Angeles Times Mohammad Mohaqeq in seinem Büro von Khalizad gedrängt, auf seine Kandidatur zu verzichten. Khalilzad zitierte dessen engsten Mitarbeiter in den Präsidentenpalast „Sie sollten mich unter Druck setzen“ damit ich auf meine Kandidatur verzichte und „sie sollten mich fragen was ich als Gegenleistung haben wolle.“20

Die internationale Gemeinschaft hatte, entgegen sonstiger Gepflogenheit, nicht die Absicht, Wahlbeobachter nach Afghanistan zu entsenden. Erst als dies in den Medien thematisiert worden war, schickte man sage und schreibe gerade mal 40 nach anderen Quellen ca. 150 OSZE-Wahlbeobachter (FR 6.10.2004) für insgesamt 5.000 Wahllokale. Lediglich temporär konnten 100 Wahllokale beobachtet werden.21 Da sie keine regulären Beobachter waren, wurde auch kein Bericht darüber vorgelegt. Die 120.000 bzw. 115.000 (FR 6.10.2004) afghanischen Wahlhelfer waren sehr schlecht auf ihren Einsatz vorbereitet worden und hatten nur eine kurze Einführung erhalten.22

Washington entscheidet und nicht Kabul

Die Präsidentschaftswahlen sollten gemäß der Petersberger Konferenz 2001 und Art. 160 der Verfassung vom 26.2.2004 im Juni 2004 gleichzeitig mit den Parlamentswahlen durchgeführt werden. Somit war die Amtszeit Karsais schon lange abgelaufen, aber er blieb monatelang ohne Mandat im Amt und statt dies niederzulegen, verschob er im Widerspruch zur Verfassung den Wahltermin ein zweites Mal, diesmal von September auf den 9. Oktober. Am 22. Juni 2004 hatten Demonstranten in Kabul den Rücktritt Karsais und die Einsetzung eines Übergangsrates bis zu den vorgesehenen Wahlen gefordert.23 Auch die Trennung der Parlaments- von den Präsidentschaftswahlen ist ein Verstoß gegen das Petersberger Abkommen wie gegen die Verfassung. Warum diese ganzen Manöver? Hätte Karsai die Wahlen gleichzeitig stattfinden lassen, wäre es kaum möglich gewesen, den Überblick zu behalten. Eine allumfassende Kontrolle, Beeinflussung oder gar Manipulation der Wahlen wären wesentlich erschwert worden. Eine Niederlage Karsais war jedoch für die USA unannehmbar. Daher musste zunächst Karsai gewählt werden, um dann, aus der Position der Stärke heraus, die Parlamentswahlen durchführen zu lassen.

Nicht zu vergessen die US-Präsidentschaftswahlen am 2.11.2004: George W. Bush brauchte einen außenpolitischen Erfolg, angesichts der katastrophalen Lage im Irak. Der Beschluss zur Verschiebung der Wahlen war ja auch nicht in Kabul, sondern im Weißen Haus gefallen. Als der innerafghanische Druck auf Karsai zugenommen hatte, sagte er zu „die Wahlen würden planmäßig stattfinden.“24 Daraufhin war Karsai nach Washington zitiert worden. Noch während seines Aufenthaltes in den USA verkündete Karsai, dass die Präsidentschaftswahlen verschoben werden müssen. Eine offizielle Bestätigung durch die Kabuler-Administration erfolgte erst Anfang Juli, d. h. über zwei Wochen danach.25 Daher ist die Ansicht eines Kioskbesitzers in Qandahar durchaus berechtigt, wenn er meinte: „Das ist eine Wahl, die uns von Amerikanern und Koalitionskräften aufgedrängt wird.“26 Anfangs hatten sich nur wenig Wähler registrieren lassen; obwohl ihnen da schon für jede Stimme eine Summe zwischen 100 bis 110$ angeboten worden war, wie mir in Kabul berichtet wurde. Bis Mitte Juni 2004 sollen „nicht einmal zwei Mio. erfasst“27 worden sein und genau einen Monat nach Ablauf des ursprünglichen Wahltermins, Anfang Juli war mit etwa 5,2 Mio. lediglich die Hälfte aller Wahlberechtigten registriert.28

Obwohl die Wähler neun Monate lang registriert wurden, wusste niemand genau, wie viele Menschen überhaupt wahlberechtigt und wie viele erfasst worden waren. Die Zahl der Wahlberechtigten schwankte zwischen 9,8 und 10,5 Millionen. Die UN gingen im August von rund 10,5 Millionen Wahlberechtigten und mehr als 9,6 Millionen Registrierten aus.29 Der Kandidat Qanuni äußerte „tiefe Zweifel, dass tatsächlich 9,5 Millionen Wahlberechtigte registriert worden sind.“30

Unregelmäßigkeit war die Regel

Es war ein Wettkampf um eine möglichst hohe Anzahl von registrierten Wählern entbrannt. Eine Ausweis-Kontrolle war nicht üblich. Wenn die zu registrierenden Personen behaupteten sich gegenseitig zu kennen, war das völlig ausreichend. Daher konnten sich auch 300.000 Ausländer mühelos mit Wahlkarten versorgen,31 und „Pakistan hat mitgestimmt“ wie der Kandidat Homajun Schah Asefi zu Protokoll gab.32 „Fälschung war die Regel“, sowohl in Pakistan als auch in Iran, sagte Qanuni.33 Die Flüchtlinge in Pakistan wurden selektiv registriert, nur Paschtunen wurden registriert, da man davon ausging, dass Nicht-Paschtunen für Karsais Gegner votieren würden. Ohne Alterskontrolle wurden komplette Schulklassen in die Wählerlisten eingetragen. Viele Afghanen lassen sich um die Wette mehrfach registrieren. Einige verschafften sich mehrere Dutzende Wahlkarten. Die BBC berichtete von Hunderttausenden gefälschten Wahlkarten.34 Der ARD-Korrespondent Christoph Heinzle berichtete von über einer Million Doppelregistrierungen.35 Dass mehr Wahlkarten ausgegeben worden sind als es Wahlberechtigte gibt, „mache ihm nichts aus“, sagte Karsai. „Und er freue sich auf die Wahlen, die ohne die USA nicht möglich gewesen wären. Thank you Mr. President,“ rief er in die Mikrophone.36 Kein Wunder, dass die Zahl der Wahlberechtigten immer weiter nach oben angepasst werden musste. Wohlhabende Warlords kauften massiv Karten auf. Je näher der Wahltermin rückte, desto teurer wurden die Stimmzettel. Die Wahlen in Afghanistan waren auf jeden Fall ein gutes Geschäft, für diejenigen, die die meisten Wahlkarten gehortet hatten, möglicherweise auch für Taliban und Al-Qaeda.

Um die gehorteten Stimmzettel auch in die Wahlurne zu befördern, wurden in vielen Teilen des Landes, auch in Kabul die Daumen von Wählern bei der Stimmabgabe nicht mit der langhaftenden Tinte, sondern mit der abwaschbaren markiert.37 Dadurch konnten viele Wähler problemlos mehrfach wählen. Daraufhin haben alle 15 Gegenkandidaten Karsais zum Wahlboykott aufgerufen und die Einstellung der Wahlen verlangt. Karsai sah jedoch die »Tinten-Frage« als nicht so wichtig an.38 Die Wahlbeobachter kündigten eine Untersuchung an, passiert ist jedoch nichts. Man habe „dem Volk die Stimme gestohlen“, sagte Qanuni und sprach außerdem von Dutzenden weiteren „Unregelmäßigkeiten und Betrugesfällen“, die einem „Putsch gleichkommen.“39 Viele Wahllokale wurde zwei Stunden später als vorgesehen geöffnet und schon um 16:00 Uhr geschlossen. In Qandahar wurden sie ohne Grund vorzeitig geschlossen und erst als die Wähler sich beschwerten, wieder geöffnet.40 „Es sind blanko Wahlkarten ausgegeben worden“41, sagte der Kandidat Mohammad Mohaqeq. „In einigen Wahllokalen waren überhaupt keine Wahlkarten mehr vorhanden“, schrieb die Kabuler Tageszeitung Tscheragh am 12.10.2004. „Fälschungen wurden organisiert durchgeführt,“42 sagte Qanuni und deswegen habe er nicht gewählt. Aber auch er selbst hat seine Stimmen „durch schmutzige Tricks vermehrt: Durch das Besorgen von mehr Registrierungskarten für seine Anhänger und durch Mehrfachwählen.“43 Wegen seiner Wahlverweigerung wurde Qanuni in seinem Privathaus von Khalilzad »besucht«. Danach erklärte er sich zur Stimmabgabe bereit, obwohl die Wahllokale schon seit einem Tag geschlossen waren.44 Die Unregelmäßigkeiten wurden bei der Bekanntgabe des Sieges von Karsai zugegeben, diese hätten jedoch für das Wahlergebnis keine Bedeutung. Business as usual also, schon auf der Loja Djirga im Juni 2002 waren für ihn 24 Stimmen mehr abgegeben worden als Delegierte anwesend waren.

Mit diesen Wahlen sind die Probleme nicht gelöst

Die Probleme Afghanistans sind mit dieser Wahlfarce allerdings nicht gelöst. Die USA haben sich aus taktischen Gründen mit den Warlords/Heroinbaronen verbündet; diese bleiben mächtig wie je und je, obwohl sie Karsai marginalisieren. Der Opiumertrag soll in diesem Jahr 3.600 Tonnen betragen, das entspricht 75% des weltweiten Heroinverbrauchs und einem Umsatz von 2,3 Milliarden $.45 Davon profitieren beachtliche Teile unter den hochrangigen Funktionären des Staatsapparats. Selbst der Kabuler Finanzminister sprach von einem „Drogenmafia-Staat“46 in Afghanistan. Aber auch die Taliban und Al Qaeda finanzieren sich durch Drogenhandel, da sie etwa 35% des Landes im Süden und Osten, wo im großen Stil Mohnanbau betrieben wird, kontrollieren. Der Aufbau der Nationalarmee kommt nicht nennenswert voran. 75.000 Mann wurden im Januar 2002 als Zielvorstellung genannt, sie kann aber gerade mal 8.300 Soldaten aufweisen. Das bedeutet gegenüber den vom Armeechef Bismillah Chan geschätzten 100.000 Privatmilizionären der Warlords ein Verhältnis „wie Maus und Elefant“.47 Die Entwaffnung der Privatarmee der Warlords wird permanent unterlaufen, sogar von Verteidigungsminister Fahim. Selbst wenn hier und dort eine Entwaffnungsshow veranstaltet wird, bei der zum größten Teil alte Waffen abgegeben werden, ist die Angelegenheit ein gutes Geschäft. Für jede alte abgegebene Kalaschnikow erhalten die Söldner 100 $ auf die Hand. Auf dem freien Markt kann sich jeder für 70 $ eine neue Kalaschnikow kaufen.

Polizei und Sicherheitsdienst sind von den Pandjschiri-Modjahedin dominiert, dafür zeichnet der erste Innenminister der Nach-Taliban-Regierung, Junus Qanuni, verantwortlich. Die Sicherheitsorgane sorgen eher für Unsicherheit als für Sicherheit. Nicht wenige Entführungen, Raubüberfälle und Morde gehen auf ihr Konto. In einer Untersuchung des britischen Parlamentes von Mai 2004 wird die Lage in Afghanistan als Desaster bezeichnet: „Die Infrastruktur liegt an Boden, die Opiumproduktion explodiert, und die Taliban kontrollieren ebenso wie die Warlords weite Teile des Landes.“48

„Noch ist Afghanistan von einer Demokratie weit entfernt“49, dieses Urteil der FAZ entspricht den vor Ort gesammelten Erfahrungen. Der Weg zu einer »Normalisierung« wird immer länger und nicht kürzer.

Der Machtkampf zwischen dem Warlord von Herat und dem von Karsai unterstützten ehemaligen Taliban-Kommandanten Amanullah, der seit August 2004 nicht nur die Infrastruktur weiter zerstörte, sondern den gesamten Westen Afghanistans destabilisierte,50 wurde vorläufig mit seiner Entlassung beendet. „Ich habe mit Ismael Chan gesprochen, obwohl dies die Aufgabe des Präsidenten ist“51, verkündete Khalilzad in Kabul. Im Norden kämpfen die Einheiten Dostums und des mit Fahim verbündeten Warlords Atta Mohammad weiter gegeneinander. Atta hat es sich sogar geleistet, den von Karsai ernannten Polizeikommandanten für Masare Scharif nach Kabul zu vertreiben. Die Gouverneure, die Karsai für die Provinzen Fariab und Sare Pul ernannt hatte, wurden ebenfalls nach Kabul gejagt.52 Sicherheit kann nicht einmal in Kabul gewährleistet werden, wie das letzte Bombenattentat in Kabul, vor der Unterkunft der US-Sicherheitsfirma »Dyncorp«, die Karsais Bodyguards stellt, bei dem etwa 20 Menschen ums Leben kamen, beweist.53 Über 35% des Landes im Osten und Süden sind nach wie vor für Angehörige der Kabuler Administration »No-Go-Area«“. Da stellen die Taliban vielerorts die Stadtverwaltungen.54 Nur die US-Marines führen ab und zu Operationen durch und ansonsten schalten und walten dort Al Qaeda, Taliban und die Milizen von Hekmatjar, dem ehemaligen Super-Modjahed der USA.

Anmerkungen

1) Gerner, Martin: Karsai am Straßenrand, in: Frankfurter Rundschau (FR), 6.10.2004, S. 3.

2) Heller, Jan: Zielscheibe Kandidat, in: Tageszeitung (TAZ), 7.10.2004, S. 4.

3) Gerner, s. Fn. 1.

4) Heller, Jan: Falsche Tinte trübt die Wahl, in: TAZ, 11.10.2004, S. 9.

5) Symonds, Peter: Präsidentschaftswahlen in Afghanistan, in: WSWS, 12.10.2004. (www.wsws.org); Möllhoff, Christine: Eine Frage der Legitimation, in: FR, 8.10.2004, S. 2.

6) AJP ist ein Zusammenschluss afghanischer und internationaler Forscher und Juristen, die seit der Talibanherrschaft diese Fälle dokumentieren.

7) Vgl. Taheri, Ahmad: Mit den Mudschahedin im Benehmen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 16.7.2004, S. 6.

8) Rubin, Barnett R: Kabul braucht ein Signal, dass die USA sich nicht zurückziehen, in: Die Welt, 15.6.2004, S. 6.

9) Taheri, A: Politik ist wie ein Basar – umsonst gibt es gar nichts, in: FAZ, 9.10.2004, S. 3.

10) BBC für Afghanistan, 28.9.2004.

11) Vgl. Früherer Taliban-Minister in Afghanistan freigelassen, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 15.9.2004, S. 3.

12) Koelbl, Susane: Ein Handel mit den Teufeln, in: Der Spiegel, Nr. 38, 13.9.2004, S. 127.

13) BBC für Afghanistan, 4.10.2004.

14) Taheri, A.: Mit den Mudschahedin im Benehmen, a.a.O.

15) Vgl. Dostum gibt Amt als Berater Karsais auf, in: NZZ, 26.7.2004, S. 2; Mühlmann, Sophie: Karsai bekommt einen Konkurrenten, in: Die Welt, 28.7.2004, S. 7.

16) Vgl. Karsai kündigt Kandidatur an, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 27.7.2004, S. 7.

17) Vgl. Karsai lehnt Rücktritt ab, in: TAZ, 20.8.2004, S. 10.

18) 17 Mitbewerber drohen Karzai mit Wahlboykott, in: FAZ, 19.8.2004, S. 5.

19) Vgl. Feilschen um Posten in Afghanistan, in: NZZ; 25./26.9.2004, S. 6.

20) Symonds, Peter: Präsidentschaftswahlen in Afghanistan, a.a.O.

21) Heinzle, Christoph, WDR 5, 10.10.2004.

22) BBC für Afghanistan, 11.10.2004.

23) Vgl. Heller, J.: Protest gegen Karsai in Kabul, in: TAZ, 23.6.2004, S. 10.

24) Rubin, B.R: Kabul braucht ein Signal, a.a.O.

25) Vgl. Kabul: Wahlen werden getrennt, in: TAZ, 7.7.2004, S. 9; Afghanische Parlamentswahl später, in: FAZ, 8.7.2004, S. 5.

26) Gerner, M.: Stillstand am Tor zur Wüste, in: FR, 8.10.2004, S. 2.

27) Lüders, Michael: Freie Hand für Kriegsherren und Opiumhändler, in: FR, 22.6.2004, S. 8.

28) Vgl. Imhasly, Bernard: Wahlen in Afghanistan verschoben, in: TAZ, 5.7.2004, S. 9.

29) Vgl. Ex-König von Afghanistan erhielt Wählerausweis, in: Neues Deutschland; 10.8.2004, S. 6; Jones, L. James: Afghanistan ist nicht der Irak, in: SZ, 16.8.2004, S. 7; Fast alle registriert, in: TAZ, 14./15.8.2004, S. 10.

30) Kanuni, Junus: Wir stellen die Rechtsmäßigkeit dieser Wahl infrage, in: Die Welt, 27.9.2004, S. 5.

31) BBC für Afghanistan, 11.10.2004.

32) BBC für Afghanistan, 12.10.2004.

33) BBC für Afghanistan, 12.10.2004; Kanuni, Junus: „Wir stellen die Rechtsmäßigkeit dieser Wahl infrage“, a.a.O.

34) BBC für Afghanistan, 9.10.2004.

35) Vgl. Heinzle, Chr., Deutschlandfunk, Informationen am Abend, 6.9.2004, 18.30 Uhr.

36) O-Ton Karsai, Bericht von Chr. Heinzle, WDR 5, 5.10.2004, 8:15.

37) Heinzle, Chr., WDR 5, 9.10.2004.

38) BBC für Afghanistan, 9.10.2004.

39) Karzai-Konkurrent erhebt Vorwürfe, in: FAZ, 19.10.2004, S. 4.

40) BBC für Afghanistan, 9.10.2004.

41) BBC für Afghanistan, 12.10.2004.

42) BBC für Afghanistan, 11.10.2004.

43) Neudeck, Rupert: Premier in einem vergreisten System, a.a.O.

44) BBC für Afghanistan, 11.10.2004.

45) Vgl. Lüders, M.: Freie Hand für Kriegsherren und Opiumhändler, a.a.O.

46) NZZ online, 14.6.2003.

47) Mühlmann, S.: Afghanistans Warlords brechen die Regeln nach Belieben, in: Die Welt, 10.8.2004, S. 6.

48) Nach: Lüders, M.: Freie Hand für Kriegsherren und Opiumhändler, a.a.O.

49) Etappensieg, in: FAZ, 14.8.2004, S. 10.

50) Vgl. Mills, Richard: Afghan warlord closes in on West’s prize city, in: The Times, 25.8.2004, S. 25.

51) O-Ton Khalilzad: BBC für Afghanistan, 12.9.2004. Außenminister „Abdullah hat mir mitgeteilt, dass Khalilzad beschlossen hat, Ismael Chan zu entlassen“, so Verteidigungsminister Fahim im Hause Ismael Chans in Herat. BBC für Afghanistan, 29.9.2004.

52) BBC für Afghanistan, 14.7.2004.

53) Vgl. Taliban-Bombe trifft US-Firma in Kabul, in: FR, 30.8.2004, S. 5.

54) Vgl. Gerner, M.: Stillstand am Tor zur Wüste, in: a.a.O.

Dr. Matin Baraki ist in Kabul/Afghanistan geboren. Er lehrt Internationale Politik an den Universitäten Marburg und Kassel

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Wird Deutschland am Hindukusch verteidigt?

von Matin Baraki

Als Präsident Bush den Krieg gegen Afghanistan einläutete, ging es um die Inhaftierung bzw. Tötung Osama Bin Ladens und die Zerschlagung des Terrornetzwerkes Al Qaeda, etwas später kam als Kriegsziel die Beseitigung des Taleban-Regimes dazu. Nach der umfassenden Bombardierung Afghanistans und den offensichtlichen Fehlschlägen bei Punkt eins und zwei, wurden andere »Kriegsziele« nachgereicht, wie die Befreiung der Frauen, der Wiederaufbau eines Bildungssystems usw. Doch heute, zwei Jahre nach der Bombardierung Afghanistans, ist Al Qaeda immer noch existent und wird offensichtlich auch immer noch von Bin Laden geführt. Auch bei den nachgeschobenen »Kriegszielen« zieht die UNHCR eine eher düstere Bilanz (siehe Kasten). Der Krieg hat die Probleme nicht gelöst und ein Weg in Richtung eines einheitlichen Afghanistans – in dem die Menschenrechte wesentlich mehr Beachtung finden, als gegenwärtig – ist nicht in Sicht. In dieser Situation verstärkt die Bundeswehr ihr Engagement über den Einsatzort Kabul hinaus.

Schon während des Krieges gegen Afghanistan wurden vom 27. November bis 5. Dezember 2001 unter formaler Ägide der UNO, jedoch vom Auswärtigen Amt bezahlt und von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisiert, die »Talks on Afghanistan« auf dem Petersberg bei Bonn abgehalten. Vier afghanische Delegationen waren eingeladen: drei rivalisierende Modjahedingruppierungen und die Monarchisten. Den 38 afghanischen Delegierten standen 20 US-»Beobachter« zur Seite. Hamed Karsai, Großgrundbesitzer und Modjahed, ehemaliger Berater der US-Ölfirma Unocal, die eine Pipeline von Mittelasien durch Afghanistan nach Pakistan und Indien plante, und ausgestattet mit guten Kontakten zur CIA wurde in Abwesenheit zum Interimsministerpräsidenten der Afghan Transitional Authority (ATA) ernannt. Damit setzten sich die USA im Gerangel um die Besetzung der Führungsposition in der Übergangs-Administration durch; gleichzeitig wurde durch die Vergabe aller anderen wichtigen Posten an Modjahedin-Kommandanten die Warlordisierung Afghanistans vertraglich sanktioniert. Die von EU und Bundesregierung favorisierten Monarchisten wurden bei der Postenverteilung marginalisiert.

Da diese fremdbestimmte Administration weder eine Akzeptanz bei den Stämmen, noch bei den auf dem Petersberg nicht geladenen Warlords und auch nicht bei der großen Mehrheit der afghanischen Bevölkerung genoss, wurde zu ihrem Schutz nach kolonialem Muster die Schutztruppe, »International Security Assistance Force« (ISAF) nach Kabul abkommandiert. Ein erneuter Versuch den Afghanistan-Konflikt militärisch zu lösen, nach dem schon so viele fehlgeschlagen waren.

Die Herrschaft der Taleban wurde nach sechs Wochen Krieg zwar beseitigt, aber der Krieg gegen »versprengte« Taleban und Al Qaeda-Kämpfer geht immer noch weiter. Daran ändern auch nichts die immer wieder neu gestarteten Großoffensiven der US-Armee und ihrer Verbündeten – die vorläufig letzte startete gerade im November 2003.

Infolge des Krieges gegen den Irak verschärfte sich die Situation noch, es kam zu einer Koalition zwischen Al Qaeda, Hekmatyar und den Taleban, die zu einem Djehad gegen die USA und die Karsai-Administration aufrief, die östliche Provinz Nangrahar wurde zu einer Hochburg der islamistischen Guerillakämpfer, wie US-Militärsprecher Rodney Davis bestätigte.1 Sie sind nunmehr in der Lage selbst in Kabul vor den Augen der ISAF Anschläge durchzuführen, bei denen zahlreiche afghanische Soldaten und Angehörige der ISAF, darunter auch vier Deutsche, getötet wurden. Kenner der Region gehen davon aus, dass die islamistischen Gegner der Kabuler Administration „vier Mal so stark (sind) wie Afghanistans antisowjetische Bewegung im Jahre 1979.“2 Um die Lage zu entschärfen, drängten die USA Karsai einige »gemäßigte Taleban« in die Regierung aufzunehmen, was allerdings durch eine große Demonstration in Kabul verhindert werden konnte.

Wiederaufbau nicht in Sicht

Ein Wiederaufbau im eigentlichen Sinne findet in Afghanistan nicht statt. Nur die NGOs und die Entwicklungshilfe-Agenturen reparieren hier und da zerstörte Einrichtungen – wie Schulen, Straßen und Brücken. Allein in Kabul sind 800 internationale NGOs stationiert, die das Überleben der Bevölkerung zu sichern versuchen, ohne sie würde die gesamte Versorgung zusammenbrechen. Da Afghanistan kein handlungsfähiger Staat mehr ist, arbeiten die NGOs und entwicklungspolitischen Institutionen faktisch mit unbegrenzter Vollmacht. Sie sind niemandem unterstellt oder gar rechenschaftspflichtig. Negativer Nebeneffekt der Anwesenheit der NGOs ist, dass sie die Miet- und Nahrungsmittelpreise in Kabul so in die Höhe treiben, dass sie für »gewöhnliche« Afghanen unbezahlbar werden.

Als eine der wichtigsten Voraussetzungen der Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung sowie der nationalen Einheit und als unerlässlich für den Wiederaufbau gilt die Bildung einer afghanischen Nationalarmee von 75.000 Mann, die von Karsai am 2. Dezember 2002 verkündet wurde. Trotz US-amerikanischer und französischer Hilfe hat die ATA bisher aber gerade mal 25.000 Soldaten aufgestellt. Da sie nach wie vor nicht in der Lage ist den Rekruten Sold zu zahlen, gehen viele nach ihrer guten Ausbildung in Kabul, zu ihren jeweiligen Warlords zurück, die über genügend Mittel verfügen, um ihre Söldner zu finanzieren. So fördern die westlichen Länder direkt, wenn auch ungewollt, die militärische Stärkung der Warlords, die sich erfolgreich gegen die ATA behaupten.

Die geplante Entwaffnung der über 100.000 gut bewaffneten Milizionäre kam bisher über Ansätze nicht hinaus. Ein UN-Mitarbeiter begründete das mit stockenden Reformmaßnahmen im afghanischen Verteidigungsministerium.3 Die Abgabe von „genau 560 Stück von panzerbrechenden Schießzeug“,4 das für die aktuelle Kriegführung unbrauchbar geworden ist, ist nicht mehr als ein symbolischer Akt.

Die westlichen Länder haben der ATA kurz nach ihrem Amtsantritt auf der Konferenz in Tokio am 21. Januar 2002 Wiederaufbauhilfe von 5,25 Mrd. US $ zugesagt. Interimspräsident Karsai beschwerte sich im November 2002, dass von den bis dahin geflossenen 890 Mio. Euro Finanzhilfe für Afghanistan, 800 Mio. Euro an die Bürokratie und die der UNO angegliederten zahllosen Hilfsorganisationen in Kabul ausgezahlt wurden.5

Fakt ist, dass das Geld, das bis jetzt nach Kabul geflossen ist, zum großen Teil für die Verwaltungsarbeit der ATA und die Gehälter der hohen Beamten verausgabt wurde. Die unteren Ränge erhalten bis zu sechs Monate kein Gehalt, obwohl das Finanzministerium laut Minister Ashraf Ghani den zuständigen Behörden Gelder überweisen lässt. Dort werden sie aber teilweise nicht ausgezahlt; von Geldgeschäften hochrangiger Beamter ist die Rede. Dafür, dass das Gros der zugesagten Mittel bei der Weltbank geparkt bleibt, gibt es mindestens zwei gute Gründe: Zum einen haben die Geberländer kein Vertrauen zur ATA und befürchten, dass im Falle eines Transfers der Mittel nach Kabul, das Geld in dunkle Kanäle fließen könnte. Zum anderem ist die fast ausschließlich aus Islamisten bestehende Administration mangels Fachkräften nicht in der Lage, zumindest ein glaubhaftes Miniaufbauprogramm vorzulegen.

Eine Volkswirtschaft im eigentlichen Sinne ist in Afghanistan nicht mehr vorhanden. Der einzige gut funktionierende Wirtschaftszweig ist die Drogenproduktion, die auch in diesem Jahr weiter angestiegen ist. Der afghanische Finanzminister spricht offen von einem „Drogenmafia-Staat“6 in Afghanistan.

Auch in den anderen Bereichen gibt es kaum Fortschritte.

  • Die Schulen sind zwar formal auch für Mädchen wieder geöffnet, sie unterscheiden sich jedoch vielfach kaum von den Koranschulen, vor allem in den Provinzen, wo die Islamisten weit entfernt von jeglicher internationaler Präsenz schalten und walten, wie es ihnen passt. Außerdem mangelt es in ganz Afghanistan an qualifizierten Lehrkräften und adäquaten Schuleinrichtungen. Die Schulkinder sitzen teils auf dem nackten Fußboden, teils gibt es sogar weder Fenster noch Heizung. Und immer wieder kommt es vor, dass Schulen – auch wenn sie nur aus Zelten bestehen – von Islamisten zerstört werden.
  • Frauen dürfen zwar wieder arbeiten, aber kaum eine Frau traut sich ohne Schleier zum Dienst zu gehen. Die es doch wagen, werden belästigt, beschimpft oder sogar angegriffen.
  • Trotz der Anwesenheit der ISAF ist Sicherheit selbst in Kabul nicht gewährleistet. In der Nacht werden Familien, bevorzugt aus dem Ausland zurückgekehrte Flüchtlinge, überfallen, ausgeraubt und auch getötet. Jede Nacht werden in Kabul bis zu 50 Personen umgebracht, teils aus politischen, teils aus kriminellen Gründen oder aus Rache, wie der kommandierende Bundeswehr-General in Kabul in einem WDR-Interview bestätigte. Auch Angehörige der Polizei – die seit Anfang 2002 von Deutschen ausgebildet wird – und des Militärs sind an Gewalttaten beteiligt. So sollte im Frühjahr 2003 in Kabul am hellen Tag eine junge Frau von Polizisten entführt werden, was nur durch das beherzte Eingreifen von Passanten verhindert werden konnte. Außerhalb Kabuls ist die Lage noch prekärer. Selbst Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen werden regelmäßig überfallen, manche ermordet.

Die Bekämpfung des sozialen Elends in der afghanischen Bevölkerung hat für Washington offensichtlich keine Priorität. Während seiner Visite in Kabul im November 2002 hob US-Finanzminister O’Neill hervor, dass Bedingungen zu schaffen seien, damit „sich der private Sektor entwickeln kann“ und meinte, der Bau eines Fünf-Sterne-Hotels in Kabul sei eine „nützliche Ergänzung der Wirtschaft.“ 7 Für die USA ist die geostrategische Lage Afghanistans von ausschlaggebender Bedeutung. Wir werden „längerfristig“8 hier bleiben, verkündete US-Verteidigungsminister Rumsfeld und der damalige Oberkommandierende der US-Besatzungsmacht, Tommy Franks, sprach davon „noch für viele Jahre“9 in Afghanistan zu bleiben. Dementsprechend haben sich die USA in allen Militärbasen eingerichtet, das Land ist faktisch ein Militärprotektorat der Vereinigten Staaten. Um das abzusichern, gibt es sogar die Diskussion über langfristige Verträge, auf deren Grundlage das US-Militär afghanische Basen für 99 Jahre pachtet.

Es wird immer deutlicher, dass der Krieg gegen Afghanistan die Generalprobe war, für die Umsetzung der neuen Strategie, in deren Rahmen die Region des Mittleren und Nahen Ostens nach US-Vorstellungen neu geordnet werden soll. Mit der Besetzung Kabuls wurde der Weg nach Bagdad geebnet. Dass die USA sich auch damit nicht begnügen wollen, zeigen Drohungen an die Adressen Syriens, Jemens und vor allem Irans. Aufgrund der Probleme der USA im Irak, müssen sich ihre Strategen aber ernsthaft überlegen, ob sie es sich erlauben können, weitere »Büchsen der Pandora« zu öffnen.

Deutschland wird jetzt am Hindukusch verteidigt!

Wenige Stunden nach den Anschlägen des 11. September 2001 stand für die Bush-Administration fest, wo die Urheber dieser Anschläge sich befinden, nämlich in Afghanistan. Den Beweis dafür sind sie bis heute schuldig geblieben. Bewiesen ist allerdings, dass die Regierung der Vereinigten Staaten schon im Juli 2001, also zwei Monate vor den Terroranschlägen, ihren regionalen Vasallen Pakistan über ihre Pläne informierte, einen Krieg gegen Afghanistan führen zu wollen. Das enthüllte der ehemalige Außenminister Pakistans, Naiz Naik.10

Nach dem 11.09. erklärte Bundeskanzler Schröder umgehend die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands mit den Vereinigten Staaten von Amerika im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die NATO verkündete den Bündnisfall. Interessanterweise nahm die US-Regierung jedoch weder die NATO noch die Solidarität der BRD in Anspruch, sondern bombardierte Afghanistan zusammen mit den Briten. Schröder flog in die USA, um der Bush-Regierung seine Hilfe anzudienen. Warum war die Bundesregierung so daran interessiert, sich in Afghanistan zu engagieren?

Das Taleban-Regime war sowohl national als auch international völlig isoliert. Die Bundesregierung hoffte mit einem Engagement in Afghanistan als Vorreiter im Kampf gegen den internationalen Terrorismus da zu stehen und damit das Ansehen der Bundesrepublik zu erhöhen. Gleichzeitig sah sie in einem Afghanistan-Einsatz die Chance in einer geopolitisch brisanten Region militärisch Fuß zu fassen und ohne Widerstand im Inneren – wie bei dem völkerrechtswidrigen Krieg 1999 gegen die Bundesrepublik Jugoslawien – auch außerhalb Europas militärisch Flagge zeigen zu können. Diese Strategie misslang und so kam die diplomatische Variante ins Spiel. Die Bundesregierung durfte die UN-Konferenz zur Zukunft Afghanistans, die »Talks on Afghanistan« organisieren, an dessen Ende sich Schröder und Fischer, trotz faktischer politischer Niederlage gegenüber den USA, als strahlende diplomatische Sieger präsentieren konnten. Die Stunde für die BRD, sich militärisch in Afghanistan zu engagieren, kam erst mit der Entsendung einer »Schutztruppe« nach Kabul. Die ISAF, zwischenzeitlich von Deutschland und den Niederlanden angeführt, steht auch nachdem sie von der NATO am 11.8.2003 übernommen wurde unter deutschem Kommando.

Um das Zerwürfnis mit US-Präsident Busch im Zusammenhang mit dem »Irak-Abenteuer« (Schröder) aus der Welt zu schaffen, erwog die Bundesregierung – und sagte dies US-Außenminister Powell bei dessen Besuch in Berlin auch zu11 – den Operationsbereich der Bundeswehr auf die westafghanische Stadt Herat auszudehnen. Ein Vorauskommando aus Militärs und Diplomaten wurde zwecks Erkundung dahin entsandt. Doch nachdem vier Bundeswehrsoldaten am 9.6.2003 in Kabul durch die Autobombe eines Selbstmordattentäters ums Leben kamen und 29 weitere schwer verletzt wurden, und nachdem der mächtige Warlord von Herat, Ismael Chan, deutlich zu erkennen gegeben hatte, dass „deutsche Soldaten nicht willkommen seien“.12 war für die Regierung in Berlin der Herat-Plan faktisch vom Tisch. Der Bericht des Vorauskommandoteams enthielt dann auch ein „No go auf der ganzen Linie.“13

Nach anfänglichem Zögern bekräftigte Verteidigungsminister Struck dann aber, entgegen den Warnungen der Experten, trotzdem die Absicht, den deutschen Einsatz über Kabul hinaus auszudehnen. Das nördlich von Kabul gelegene Tscharikar und Kundus, im Norden Afghanistans, wurden als mögliche Einsatzorte diskutiert.

In Tscharikar gibt es nicht viel zu schützen und dort bringt ein Engagement den USA nichts. In Kundus dagegen sollen die Bundeswehrsoldaten die US-Amerikaner ersetzen und damit zu deren Entlastung beitragen. Doch dieser Einsatz ruft selbst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Zweifler auf den Plan. „Was soll ein Team ziviler Helfer, was sollen Einheiten für zivil-militärische Zusammenarbeit (Cimic) in einem Landstrich bewirken, wo der afghanische Verteidigungsminister Fahim herrscht, ja seine Hausmacht und seine Privatarmee hat und wo der Mohnanbau zur Grundlage der Macht gehört? Zwei amerikanische Zivilisten, von 40 amerikanischen Soldaten bewacht, repräsentieren dort derzeit den Westen. Was soll ein deutsches Team dort bewirken?“14

Und auch fast alle deutschen NGOs lehnen eine Erweiterung des Bundeswehreinsatzes, wie er nach dem Bundestagsbeschluss vom 24.10.2003 begonnen hat, ab. Sie wollen mit der Bundeswehr nicht in Verbindung gebracht werden und befürchten dann eher Opfer von Terroranschlägen zu werden. So warnte Matthias Schüth von Caritas vor den Folgen des Bundeswehreinsatzes, der ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die zivilen Mitarbeiter sein werde. „Ich will mich nicht von der Bundeswehr schützen lassen“,15 betont auch Stefan Recker, für die Deutschen Welthungerhilfe schon seit fünf Jahren vor Ort. Die Gesellschaft für Bedrohte Völker nannte den Einsatz in Kundus gar „blinden Aktionismus“.16

Wenn Kundus so sicher ist, wie das deutsche Verteidigungsministerium behauptet, wäre die offizielle Begründung, gerade dort für die Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan sorgen zu wollen, wenig glaubwürdig. Tatsächlich verheimlicht die Bundesregierung die Probleme des Kundus-Einsatzes vor der Öffentlichkeit. Im Bericht des Leiters des Erkundungsteams, Generalleutnant Riechmanns , der nicht einmal den Bundestagsfraktionen vorgelegt wurde, „wird auf die Gefahr des Aufbaus eines »Narcotic State« hingewiesen. Bereits jetzt gebe es Auseinandersetzungen zwischen Drogenbaronen, in die auch die regionalen Machthaber und Politiker verwickelt seien.“17 Die im Bericht gestellte Frage „ob die deutschen Soldaten den Drogenhandel tolerieren beziehungsweise indirekt schützen oder aber bekämpfen sollen“,18 entschied Struck insofern, als er am 24.10.2003 vor dem Bundestag erklärte, dass die Drogenbekämpfung „ausdrücklich nicht Aufgabe der Angehörigen der Bundeswehr“19 ist.

Wenn man sich aus der Lösung der tatsächlichen Konflikte raushält, was ist dann die Aufgabe der Bundeswehr?

Die jetzt vom Sicherheitskabinett beschlossene Erweiterung des Einsatzgebietes der Bundeswehr beinhaltet zwei Aspekte: Zum einen wird dadurch die US-Armee in Afghanistan zugunsten ihres Irakeinsatzes entlastet. Das ist eine indirekte Unterstützung der US-Aggression im Irak. Zum anderen geht es um eine allmähliche militärische Besetzung ganz Afghanistans. Die NATO hat am 11.8.2003 das Kommando der ISAF offiziell übernommen und auch der Einsatz von 450 Bundeswehrsoldaten in Kundus wurde am 6.10.2003 bezeichnenderweise von der NATO beschlossen, wie WRD5 aus Brüssel berichtete. Durch die Ausdehnung der Einsatzorte sollen mittelfristig die Gebiete der Warlords militärisch unterwandert werden, um sie schließlich zu entmachten. Langfristig läuft diese Besatzungspolitik auf eine Rekolonialisierung Afghanistans hinaus. Ein Gedanke, der selbst in der regierungsfreundlichen Presse nicht nur Zustimmung findet: Für manche Menschen mag es überraschend sein, „wie leidenschaftslos mittlerweile über eine Rekolonisierung geredet wird … Bosnien und Kosovo sind heute de facto Protektorate des Westens, unabhängig davon, welche Konstruktion für Verwaltung und Oberaufsicht gewählt worden ist … Vielen wird gewiss angst und bang bei dem Gedanken, all die schwarze Löcher stopfen zu sollen, die sich auf der Welt auftun. In einigen dieser Löcher braut sich maß- und grenzenloses Unheil zusammen – siehe Afghanistan.“20

Sicherheit, Menschenrechte und humanitäre Situation in Afghanistan
Bericht des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (Auszüge)

Die allgemeine Menschenrechtslage in Afghanistan gibt weiterhin Anlass zu großer Sorge. Der Mangel an Sicherheits- und Polizeikräften sowie die Schwäche des Justizsystems sind ein Nährboden für Menschenrechtsverletzungen. Verstöße werden in allen Landesteilen begangen, in den meisten Fällen von Gruppen, die regionalen Fraktionen oder örtlichen Kommandeuren unterstehen. Trotz der politischen Entwicklungen und der positiven Signale, die durch die Rückkehr von 1,8 Millionen Flüchtlingen im Jahr 2002 ausgesandt wurden, bieten sporadisch ausbrechende Kämpfe, Sicherheitsprobleme und die nicht vorhandene Rechtsstaatlichkeit weiterhin Anlass zu großer Sorge. Unter diesen Umständen bleibt die Situation für viele Zivilisten, auch in einigen Städten, instabil, angespannt und unvorhersehbar. Sicherheit wurde wiederholt als Voraussetzung für die Entwicklung der politischen Strukturen und für den friedlichen Übergang zu freien und fairen Wahlen genannt. Die wichtigsten Merkmale der aktuellen Situation lassen sich wie folgt beschreiben:

Militärische Aktivitäten

Berichten zufolge gibt es weiterhin Widerstandsnester von Kräften der al-Qaida und Taliban sowie Anzeichen, dass sich einige Einheiten der Taliban neu formieren. Seit August 2002 haben der extremistische und antiwestlich eingestellte Mudschaheddin-Kommandeur Gulbuddin Hekmatyar und seine Gefolgsleute ihre Aktivitäten auffallend verstärkt. Sie wurden mit vereinzelten Bombenattentaten in Kabul sowie mit Sicherheitsproblemen in Teilen der östlichen, zentralen und nördlichen Regionen in Verbindung gebracht … Die Streitkräfte der Koalition, die in erster Linie mit dem »Krieg gegen den Terrorismus« beschäftigt sind, sind … bei ihren Aktivitäten in Kunar und Paktia auf erhebliche Ablehnung bei Teilen der örtlichen Bevölkerung gestoßen … Kampfhandlungen zwischen der Koalition und bewaffneten Gruppen haben den Zugang humanitärer Hilfsorganisationen in diese Gebiete häufig behindert …

Zwischen rivalisierenden afghanischen politischen und militärischen Akteuren, die nach regionaler Machtstellung streben, ist es wiederholt zu Zusammenstößen gekommen. Gewalt und Konkurrenz zwischen solchen Parteien hat die Sicherheitslage im Nordwesten (Faryab, Saripul, Balkh, Jawzjan, Samangan) und Süd- Hazarajat (Western Ghazni, Süd-Bamyan, Nord-Uruzgan) bestimmt … Die anhaltenden Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Kommandeuren, die mit den wichtigsten Parteien eng verbunden sind, haben in einigen Fällen schwer wiegende Konsequenzen für die Zivilbevölkerung zur Folge gehabt. Zusammenstöße zwischen Gruppierungen und Stämmen haben Binnenvertreibungen von Zivilisten nach sich gezogen … Es (gab) während des gesamten Jahres 2002 und weiterhin im Jahr 2003 Berichte von Zivilisten über Zwangsrekrutierungen von jungen Männern aus Dörfern durch örtliche Kommandeure. Diese Praxis steht im direkten Widerspruch zu Dekreten, die die Zentralregierung erlassen hat. Die Militarisierung und der hohe Verbreitungsgrad von Waffen sind Merkmale der Regionen, die in den vergangenen 25 Jahren von interfraktionellen Auseinandersetzungen und Konflikten gezeichnet waren. Die Folge ist häufig, dass militärische Kommandeure und Milizen in den von ihnen beherrschten Provinzen und Bezirken de facto die Kontrolle sowohl über die militärische als auch die zivile Verwaltung innehaben. Normale Kontroll- und Ausgleichsmechanismen existieren in diesen Gebieten nicht, die Kommandeure und Milizen können in einem Klima der Straflosigkeit agieren. Es gibt einen deutlich erkennbaren Zusammenhang zwischen der Kontrolle des Militärs bzw. von Milizen über ein Gebiet mit den nachfolgend genannten Übergriffen gegen Zivilisten:

• Gelderpressungen und Plünderungen stellen weit verbreitete Erscheinungen in Afghanistan dar. Die Bandbreite reicht dabei von illegalen Steuererhebungen durch de facto-Bezirksverwaltungen, über die Aufforderung örtlicher Kommandeure an Dörfer, mit Zahlungen ihre Milizen zu »unterstützen«, bis zur direkten Plünderung des Besitzes von Zivilisten durch Angehörige von Milizen. Nach dem Sturz der Taliban wurde im Zeitraum November 2001 bis April 2002 besonders der Besitz von Angehörigen der paschtunischen Minderheit im Norden geplündert, aber die illegale »Steuererhebung« hält in beinahe allen Bezirken in den Provinzen im Nordwesten an … Während des Jahres 2002 und im Jahr 2003 haben Zivilisten darüber berichtet, dass sie in ihren Häusern weiterhin von Milizangehörigen aufgesucht werden, die Nahrungsmittel und Geld verlangen und manchmal die Ernte beschlagnahmen.

• Verschleppungen von Frauen, Entführungen und Erpressung von Lösegeld … kommen im ganzen Land vor. Der Status von Frauen in der afghanischen Gesellschaft und die praktischen Gegebenheiten führen dazu, dass Untersuchungen solcher Vorfälle extrem schwierig sind …

• Bewässertes Land und Wasserquellen stellen noch immer die wichtigsten Ressourcen in Afghanistan dar, nicht zuletzt wegen der Auswirkungen der anhaltenden Dürre … Obwohl ein vergleichsweise eindeutiges System zur Registrierung von Land existiert, und obwohl vor kurzem in Kabul ein spezielles Gericht zur Klärung von Rechtsstreitigkeiten um Land und Besitz eingerichtet wurde, bleibt der Einfluss vorherrschend, den Kommandeure und mächtige Gruppierungen auf die Justiz wie auf die zivile Verwaltung in ganz Afghanistan ausüben. Die Besetzung von Land und die Kontrolle über Wasserressourcen durch Kommandeure oder durch zivile Gruppen, die von einem Kommandeur unterhalten werden, sind besonders im Nordwesten weit verbreitet. Berichte über den Machtmissbrauch durch Angehörige von Gruppierungen, die Land und Häuser besetzen, gibt es auch aus der Stadt Kabul.

Humanitäre Situation Nahrungsmittel und Dürre

Nach Einschätzung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) und anderer Organisationen haben ca. 4,3 Millionen Afghanen ihre Möglichkeiten, sich selbst notdürftig zu ernähren, erschöpft, sind nun von Hunger bedroht und bleiben für ihr Überleben im Jahr 2003 von Lebensmittel- und anderen humanitären Hilfslieferungen abhängig … Bezahlte Arbeit und damit Bargeld sind so gut wie nicht verfügbar. Immer mehr Afghanen sind verschuldet und können selbst dann keine Lebensmittel kaufen, wenn diese erhältlich sind. Dürre und Armut haben im Jahr 2002 zu weiteren Bevölkerungsbewegungen geführt. Die unsichere Versorgungslage und mangelndes Einkommen haben bestehende Landprobleme verschärft, die durch Zerstörung oder illegale Besetzung von Eigentum entstanden sind. Wegen Landminen kann in einigen Gegenden das Land außerhalb von Dörfern nicht mehr bewirtschaftet werden. In Kabul belastet die zunehmende Verstädterung die Wasser- und Elektrizitätsversorgung. Viele Rückkehrer und Binnenvertriebene hausen in Zelten und halb zerstörten öffentlichen Gebäuden, während andere sich Wohnungen teilen.

Ernährung und Gesundheit

Die Bevölkerung ist nach wie vor außerordentlich schlecht ernährt; chronisch unterernährt sind 45 bis 59 Prozent; an akuter Unterernährung leiden zwischen 6 und 12 Prozent. Die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter 5 Jahren zählt zu den höchsten der Welt. Die Lebenserwartung beträgt nur 45 Jahre für Frauen und 44 Jahre für Männer. Zugang zu sauberem Trinkwasser haben nur 35 Prozent der städtischen Bevölkerung; in ländlichen Gebieten sind es lediglich 9 Prozent. Nur 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ein großer Teil der Krankheits- und Todesfälle beruht auf vermeidbaren übertragbaren Krankheiten wie Masern, Cholera, Tuberkulose, Malaria, Meningitis, Hepatitis, Typhus, Atemwegserkrankungen bei Kindern und Diarrhöe. Die medizinische Versorgung ist sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor derzeit vollkommen unzureichend für eine Bevölkerung von 24 Millionen Menschen. Institutionen sind zusammengebrochen, Einrichtungen wurden zerstört und es fehlt an medizinisch ausgebildetem Personal. Es fehlen vor allem weibliche Fachkräfte, die aufgrund der bestehenden kulturell bedingten Geschlechtertrennung für die medizinische Versorgung der Frauen unabdingbar sind. Eine neuere Erhebung zählte 18.306 Beschäftigte im Gesundheitsbereich, davon 2.842 Ärzte oder Fachärzte, 692 von ihnen sind Frauen. Die Untersuchung stellte weiter fest, dass es in fast 40 Prozent der Gesundheitszentren kein weibliches Personal gibt. Die wenigen Krankenhäuser und Kliniken sind in hohem Maße auf die Städte und insbesondere Kabul konzentriert, die Dienste in den ländlichen Gebieten sind dagegen sehr ungleich verteilt. Eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchgeführte Erhebung der Gesundheitseinrichtungen zeigt, dass nur eine kleine Anzahl von Bezirks-, Provinz- und Regionalkrankenhäusern im staatlichen Sektor oder unter der Leitung von Nichtregierungsorganisationen als Grundausstattung über einige oder alle der folgenden Einrichtungen bzw. Geräte verfügt: Sterilisationsgeräte, Laborausrüstung, EKG-Gerät, Blutbank, Unfallstation, Endoskopie oder Ultraschall. Einrichtungen für die psychiatrische Gesundheitsvorsorge existieren so gut wie gar nicht. Es fehlt zudem an notwendigen Medikamenten. Vielerorts werden medizinische Behandlungen überwiegend in privaten Apotheken durchgeführt. Personen, die schwer erkrankt sind oder ein chronisches Leiden haben, können nicht erwarten, in Afghanistan eine Behandlungsmöglichkeit zu finden …

Minen

Afghanistan ist weltweit das Land mit den meisten Minen und nicht detonierter Munition auf einer Fläche von 732 Quadratkilometern. Etwa 100 Quadratkilometer frühere Frontabschnitte sind vermint und etwa 500 Quadratkilometer Kampfgebiete durch Blindgänger nicht zugänglich. Weitere Gebiete mit nicht detonierter Munition der Koalition sind hinzugekommen. UN-Berichten zufolge wurden im Jahr 2002 über 100 Quadratkilometer gesäubert und fast 40.000 Minen und über 890.000 Blindgänger zerstört, wodurch für manche Afghanen eine Rückkehr in relative Sicherheit ermöglicht wurde. Einige tausend afghanische Zivilisten erhielten Schulungen im Umgang mit Minen. Dennoch werden jedes Jahr schätzungsweise 3.000 Fälle von Verletzungen durch Landminen und Blindgänger gemeldet. Etwa 4 bis 5 Prozent der afghanischen Bevölkerung sind behindert, viele auf Grund von Unfällen mit Minen und nicht detonierter Munition.

September 2003

Anmerkungen

1) Vgl. Mühlmann, Sophie: USA bereiten Offensive in Afghanistan vor, in: Die Welt, 23.6.2003, S. 7.

2) Ebenda.

3) Vgl. Afghanistan, keine Entwaffnung, in: Die Tageszeitung (TAZ), 5./6.7.2003, S. 9.

4) Grobe, Karl: Demokratie und Wohlstand sind Privilegien der Mächtigen, in: Frankfurter Rundschau (FR), 24.10..2003, S. 2.

5) Vgl. Symonds, Peter: Afghanistan versinkt in Armut, Unsicherheit und despotischer Herrschaft, in: World Socialist Web Site, 11.12.2002, (www.wsws.org/de/2002/dez2002/afgh-d11_prn.html).

6) Neue Zürcher Zeitung (NZZ) Online, 14.6.2003.

7) Symonds, P.: Afghanistan versinkt in Armut, a.a.O.

8) Rumsfeld für längerfristiges Engagement in Afghanistan, in: NZZ, 9.4.2002, S. 1.

9) Baraki, Matin: Welcome to Gangland, in: Konkret, Nr. 11, 2002, S. 22.

10) Vgl. Hahn, Dorothea: Vergebliche Suche nach der »goldenen Brücke«, in: TAZ, 3./4.11.2001, S. 6.

11) Vgl. Koelbl, Susanne: Einsatz am Swimmingpool, in: Der Spiegel, Nr. 39, 22.9.2003, S. 42.

12) Struck will die Mission ausdehnen – Kein Einsatz in Herat. – Besuch in Nürnberg, in: Nürnberger Nachrichten, 8.8.2003.

13) Leersch, Hans-Jürgen: Untersuchungsausschuss soll Attentat von Kabul aufklären, in: Die Welt, 25.6.2003, S. 2.

14) Feldmeyer, Karl: Kartell des Nebels, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 27.8.2003, S. 3.

15) Münch, Peter: Einsatz in der Zwickmühle, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 23.10.2003, S. 3.

16) Vgl. Ehrenstein, Claudia: In Kundus brauchen wir die Bundeswehr nicht, in: Die Welt, 29.8.2003, S. 5.

17) Leersch, Hans-Jürgen: Drogenhändler machen Kundus unsicher, in: Die Welt, 23.9.2003, S. 5.

18) Ebenda.

19) Gaus, Bettina: Begrenzte Aufgabe, in: TAZ, 25./26.10.2003, S. 5.

20) Frankenberger, Klaus-Dieter: Zurück?, in: FAZ, 30.7.2003, S. 1.

Dr. phil. Matin Baraki lehrt Internationale Politik an den Universitäten Marburg und Kassel

… minimal verändert, aber nicht wirklich verbessert

… minimal verändert, aber nicht wirklich verbessert

Zur Situation der Frauen in Afghanistan / Interview mit Mariam Notten

von Paul Schäfer

W&F: Dass der vor allem von den USA geführte Krieg in Afghanistan auch für die Menschenrechte, spezieller: die Frauenrechte, geführt worden sei, ist mit Sicherheit der Rubrik Kriegsrechtfertigung zuzuordnen. Dennoch die erste Frage: Haben sich nicht zumindest für die Frauen in den größeren Städten wichtige Verbesserungen nach dem Sturz der Taliban ergeben?

Mariam Notten: Die Lage der afghanischen Frauen hat sich leider nur minimal verändert, aber nicht wirklich verbessert. Unter den Taliban wurden sie öffentlich geschlagen und gesteinigt. Unter dem Bombenhagel der USA haben sie zu Tausenden ihr Leben verloren. Viele wurden zu Flüchtlingen und strandeten an den geschlossenen Grenzen zu Pakistan und dem Iran. Den Internationalen Hilfsorganisationen wurde untersagt, ihnen zu helfen. Selbst nach der Entmachtung der Taliban sitzen seit Ende November Frauen in den Gefängnissen in Herat und Kabul. Ihnen wird Ehebruch vorgeworfen, weil sie von ihren Zwangsehemännern geflüchtet sind. Ihnen droht die Todesstrafe durch Steinigung.

War der Krieg nicht doch unvermeidlich, um die Al Qaida-Terroristen zu bekämpfen?

Zunächst ergeben sich folgende Fragen: Warum haben die Afghanen jahrelang unter den Taliban gelitten? Wo kamen sie her? Wer hat sie zu Taliban gemacht? Wer ist bin Laden? Wer hat ihn unterstützt und in unser Land gebracht, um den afghanischen Mudjahedin im Kampf gegen den Russen zu helfen? Wir Afghanen waren selbst die Geiseln dieses Mannes. Die Geiseln sind zu Tausenden gestorben, der Geiselnehmer ist aber entflohen. Diese Logik verstehen wir Afghanen nicht.

Ist es denn unzutreffend, dass – selbst wenn man den Krieg verurteilt – der Sturz der Taliban neue Möglichkeiten für Demokratie und Menschenrechte eröffnet hat?

In dieser Regierung sitzen drei fundamentalistische Kriegsparteien. Jede von ihnen will die alleinige Macht; sie bekriegen sich immer noch gegenseitig. Die einzige Fraktion, die für mehr Demokratie steht (Königsdelegation), hat weder Macht noch bewaffnete Männer, um sich gegen die anderen drei zu behaupten. Unsere Kinder dürfen zwar zur Schule gehen, aber wir haben weder Schulgebäude noch Schulbücher. Dass unsere Frauen ihre Schleier nicht ablegen, ist selbst ein Zeichen ihrer Angst vor den neuen Machthabern.

Sie haben selber schon lange das Taliban-Regime angeprangert. Welche anderen Möglichkeiten hätte es denn gegeben, dieses Regime loszuwerden?

Es gab Alternativen, zum Beispiel die Errichtung von Schutzzonen für die Zivilbevölkerung. Man hätte es möglich machen können, dass die Taliban-Kämpfer durch materielle Zuwendung in großem Umfang desertiert wären. Damit hätte man die Isolierung von El Qaida und des harten Kernes der Taliban erreichen können. Sie hätten auf diese Weise leichter bekämpft werden können – ohne so viele »Kollateralschäden« zu verursachen.

Hiesige Politiker bzw. Politikerinnen sagen, dass man jetzt den afghanischen Frauen wieder „ein Gesicht geben könne“ (Claudia Roth). Ist denn das Tragen der Burqua das Hauptproblem der Frauen?

Uns afghanischen Frauen geht es nicht darum, ob wir den Schleier tragen oder ihn ablegen sollen. Oder nur darum, ob wir die Schule besuchen oder einen Beruf ausüben dürfen oder nicht. Uns geht es darum, selbst zu bestimmen, ob wir dies tun oder jenes sein lassen dürfen. Uns geht es schlicht um das Selbstbestimmungsrecht, um die Menschenrechte. Und diese Rechte werden uns derzeit durch die fundamentalistische Interpretation der Sharia verweigert. Die Sharia in ihrer fundamentalistischen Auslegung schreibt weiterhin die Steinigung von Frauen vor. Der Justizminister Abdul Rahim Karimi, der Oberste Richter Schinwari und ein anderer Richter des obersten Gerichtshofes in Kabul, Ahmad Ullha Sharif, haben bereits Ende Dezember bekräftigt, dass die Sharia das einzig gültige Gesetz in Afghanistan sein wird. Dem gemäß sollen weiterhin Frauen wegen »moralischer Verfehlung« gesteinigt werden, nur mit dem Unterschied, dass man »kleine Steine« dafür nehmen wird. Wenn sie geständig sind, sollen sie während der Steinigung nicht gefesselt werden, damit sie die Chance haben wegzulaufen.

Demokratische und feministische Gruppen haben gesagt, dass eine wirkliche demokratische Entwicklung nur möglich sei, wenn eine Entmilitarisierung der afghanischen Gesellschaft durchgesetzt würde. Wäre denn eine umfassende Entwaffnungsaktion überhaupt durchsetzbar?

Ich teile diese Meinung und denke auch, dass eine solche Maßnahme realisierbar wäre. Zu desertieren hat in Afghanistan Tradition. Seinerzeit, als die Sowjets unser Land besetzten, haben die Mudjahedin der regulären Armee der Regierung in Kabul ermöglicht zu desertieren. Sie haben für die Überläufer Schutzkorridore errichtet. Innerhalb eines Jahres sind von 100.000 Regierungssoldaten über die Hälfte zu den Mudjahedin übergelaufen, der Rest tat es im Laufe des 14-jährigen Krieges. Auch die Taliban haben die gleiche Strategie bei den Kämpfern der Nordallianz benutzt. Sie haben die Kommandeure der Nordallianz regelrecht gekauft. Deshalb haben sie in kürzester Zeit 95% des Landes ohne Kampf erobert. An dieser Stelle müsste man im Übrigen fragen: Woher hatten die Taliban so viel Geld zu Verfügung?

Der Zeitpunkt für die Entwaffnung ist heute günstiger denn je. Die Menschen haben Hunger, Millionen von Dollar für den Wiederaufbau stehen zur Verfügung. Die USA sind im Lande präsent. Es könnten die Warlords sehr leicht isoliert werden, wenn man ihre Kämpfer »kaufen« würde.

Welche Rolle sollten die Vereinten Nationen ihrer Meinung nach spielen? Sollte die UNO die peace-keeping-Rolle übernehmen?

Es sollten mehr UN-Soldaten ins Land kommen. Sie sollten auch in anderen Städten und Provinzen eingesetzt werden. Sie sollten in erster Linie die Menschen vor Überfällen und Raub, insbesondere in der Nacht, schützen und natürlich braucht die demokratische Fraktion der Regierung den besonderen Schutz der UN-Soldaten. Sie ist durch die fundamentalistischen Kriegsparteien zur Zeit sehr gefährdet.

Wie schätzen Sie die Rolle von Ministerpräsident Karsai im Rahmen der gegenwärtigen Übergangsregierung ein?

Zur Zeit ist die Karsai-Administration sehr wichtig in der Regierung. Wir haben keine andere Alternative, wenn wir die Fundamentalisten nicht haben wollen. Und diese haben ja gezeigt, dass sie nicht fähig sind, Frieden zu bringen und Menschenrechte zu achten. Sie sind machtgierige Egoisten.

Welche Informationen haben Sie über die Betätigungsmöglichkeiten originär-demokratischer Gruppen und Vereinigungen in Kabul und darüber hinaus? Können diese unbeeinträchtigt agieren?

Nein. Selbst die Königsdelegation um Karsai hat kaum Möglichkeiten, ihre Arbeit ungestört durchzusetzen. Die eingesetzten Gouverneure werden von den Warlords in den Provinzen nicht akzeptiert. Andere demokratische Kräfte trauen sich nicht einmal in die Öffentlichkeit, weil sie durch die bewaffneten Truppen der Fundamentalisten sofort getötet werden würden.

Welche Aktionen können Sie im Rahmen des Afghanischen Kulturvereins gegenwärtig unternehmen, um die Entwicklung im Land positiv zu beeinflussen?

Unsere Aktivitäten beschränken sich auf Öffentlichkeitsarbeit und auf das Sammeln von Spenden für Frauenorganisationen. Diese Organisationen wurden bei der Petersberg-Konferenz nicht einbezogen. Sie sind folglich nicht von der UNO anerkannt worden. Deshalb werden sie auch bei der Vergabe von Geldern für den Wiederaufbau nicht berücksichtigt. Sie sind weiterhin im Untergrund und auf Spenden angewiesen. Außerdem sind wir bemüht, dafür zu werben, dass eine internationale Beobachterinnen-Gruppe zustande kommt. Sie soll die Aufgabe übernehmen, die Einhaltung der Menschenrechte/Frauenrechte zu überwachen und die Weltöffentlichkeit davon zu unterrichten. Damit unsere Frauen nicht wieder den Fundamentalisten überlassen werden.

Mariam Notten, Revolutionary Association of Women in Afghanistan (RAWA), Berlin. Sie wurde interviewt von Paul Schäfer.

Vom Elend einer militarisierten Außenpolitik

Vom Elend einer militarisierten Außenpolitik

Die Bundeswehr im Kampfeinsatz in Afghanistan

von Jürgen Rose

Zum zweiten Mal nach 1999 entsenden Sozialdemokraten und Bündnisgrüne deutsche Soldaten mit einem expliziten Kampfauftrag in ein fremdes Land – nötigenfalls zum Töten und zum Sterben. Unter den Vorzeichen einer so genannten Normalisierung der deutschen Außenpolitik scheint ein solches Procedere zur Regel zu werden. Vergessen offenbar die einstmals so emphatisch betonte »Kultur der Zurückhaltung«, in der sich die bitter gelernten Lektionen einer in der Katastrophe kulminierten deutschen Politik mit kriegerischen Mitteln niedergeschlagen hatten. Ab sofort heißt es wieder: „Germans to the Front!“
Vor nunmehr sieben Jahren, als nach dem Ende des Kalten Krieges der Auftrag der deutschen Streitkräfte neu definiert wurde, formulierte der damalige Außenminister Klaus Kinkel einen Katalog politischer Prinzipien für eine Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Militäraktionen1, welcher den ehemaligen, aber nunmehr offenbar überholten sicherheitspolitischen Grundkonsens der Bundesrepublik Deutschland widerspiegelte. Im Wesentlichen hatte sich diese Republik in einem langwierigen, bis vor das Bundesverfassungsgericht getragenen Disput auf folgende Prämissen verständigt, die erfüllt sein müssten, bevor die Bundeswehr in den Einsatz geschickt würde:

Erstens käme eine Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen nur dann in Frage, wenn sie völkerrechtlich eindeutig zulässig wäre. Nur so wäre sichergestellt, dass durch solche Einsätze das Recht gewahrt und nicht neues Unrecht geschaffen würde. „Nichts schlägt so leicht in Barbarei um, wie der selbstgerecht geführte Kreuzzug gegen vermeintliche oder wirkliche Barbaren.“ (Rudolf Walther)2

Zweitens würde Deutschland solche Einsätze niemals alleine unternehmen, sondern sich nur im gemeinsamen Verbund mit anderen Partnern an Militäroperationen beteiligen, primär im Rahmen bestehender internationaler Institutionen wie z. B. UNO, OSZE, NATO oder WEU.

Drittens müssten folgende Fragen befriedigend beantwortet sein: Gibt es ein klares Mandat? Ist die militärische Aktion in sinnvoller Weise in ein umfassendes politisches Lösungskonzept eingebettet? Sind die verfügbaren Mittel hinreichend, um einer solchen Mission zum Erfolg zu verhelfen? Ist die Verhältnismäßigkeit zwischen dem erstrebten Ziel und den möglicherweise in Kauf zu nehmenden Zerstörungen gewahrt? Gibt es eindeutige Erfolgskriterien und damit eine absehbare zeitliche Begrenzung? Bestehen Überlegungen für den Fall, dass der angestrebte Erfolg sich wider Erwarten doch nicht erreichen lässt?

Viertens müssten je mehr es in Richtung Kampfeinsätze ginge, desto zwingender die Gründe sein, die eine deutsche Beteiligung erforderten. Je höher das Risiko für die Soldaten, um so höher müssten die Werte sein, die es zu verteidigen gälte. Das geforderte Risiko, unter Umständen auch für das eigene Leben, müsste für die eingesetzten Soldaten, aber auch für die Bevölkerung zu Hause, als sinnvoll und zumutbar empfunden werden.

Fünftens bedürfte die Teilnahme deutscher Streitkräfte an internationalen Militäreinsätzen gemäß der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes der parlamentarischen Zustimmung. Angesichts der politischen Tragweite solcher Einsätze und der möglichen Gefährdung der Soldaten wäre ein parteiübergreifender Konsens anzustreben. Der »Dienst am Frieden« sollte einigend wirken und nicht Anlass zu neuen Kontroversen geben.

Sechstens dürfte eine deutsche Beteiligung nicht konfliktverschärfend wirken. Dies könnte vor allem der Fall sein, wenn in den Einsatzregionen aus der Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges noch besondere Animositäten lebendig seien.

Legt man diesen Kriterienkatalog an den bevorstehenden Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan an, so drängen sich eine Reihe von Zweifeln auf. So scheint prima facie eine klare völkerrechtliche Grundlage für den Krieg gegen Afghanistan zu existieren, hat doch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach den Terroranschlägen von New York und Washington in mehreren Resolutionen das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta bekräftigt und die NATO den Bündnisfall nach Art. 5 des NATO-Vertrages konstatiert. Eine genauere Analyse der einschlägigen Resolutionen Nr. 1368 vom 12. September 2001 sowie Nr. 1373 vom 28. September 2001 ergibt indessen, dass aus diesen mitnichten ein Freibrief zum uneingeschränkten Bombenkrieg gegen Afghanistan hervorgeht. Ganz im Gegenteil: Statt die Staaten zu einem solchen Krieg zu ermächtigen, fordert der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Staaten ganz konkret auf, zusammenzuarbeiten, um die Täter, Organisationen und Förderer der Terroranschläge von New York und Washington der Strafjustiz zuzuführen. Nicht völkerrechtliche Sanktionen gegen Staaten, sondern das internationale Strafrecht bezogen auf individuelle Personen erachtet demnach der Sicherheitsrat in der Resolution Nr. 1368 als adäquates Instrumentarium der Terrorismusbekämpfung.3 Besonders stellt der Sicherheitsrat darüber hinaus in seinen Resolutionen darauf ab, dass die Bekämpfung des internationalen Terrorismus’ in Übereinstimmung mit den Regelungen der UN-Charta und ausschließlich unter Anwendung rechtmäßiger Mittel zu geschehen habe.

In der Tat stellen die terroristischen Akte vom 11. September 2001 Verbrechen dar – Helmut Schmidt nennt sie zu Recht „Mammut-Verbrechen“4 –, begangen von kriminellen Tätern. Deren Ergreifung und Aburteilung indes fällt unter die Prärogative von Polizei und Justiz, nicht aber die des Militärs. Wer demgegenüber auf eine Terrorbekämpfung zuvörderst mittels militärischer Gewaltanwendung setzt, entwertet das Instrumentarium ziviler Konfliktregelung und kompromittiert die Idee von der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen.5 Noch größere Irritationen muss in diesem Kontext auslösen, wenn gerade die USA, die so betont das Wort »Gerechtigkeit« im Munde führen – man erinnere sich, dass die ursprüngliche Bezeichnung für den Anti-Terrorkrieg »Infinite Justice« lauten sollte –, mit aller Macht die Etablierung des 1998 in Rom beschlossenen Internationalen Strafgerichtshofes der Vereinten Nationen hintertreiben6. Letztlich muss es geradezu bizarr wirken, wenn eine Nation, die sich strikt weigert, gegebenenfalls die Aburteilung eines eigenen Staatsbürgers im Falle des Völkermordes, schwerster Kriegsverbrechen oder der Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor einem zukünftigen Internationalen Strafgerichtshof der Vereinten Nationen zuzulassen, zugleich das Recht beansprucht, die Auslieferung eines von ihr terroristischer Verbrechen Beschuldigten herbeizubomben, noch dazu ohne der Weltöffentlichkeit bisher stichhaltige, gerichtsfeste Beweise vorgelegt zu haben.

Auf den Punkt gebracht ergibt sich aus der völkerrechtlichen Analyse des Problemkomplexes »Internationaler Terrorismus«, dass, solange keinem einzelnen Staat oder einer Staatengruppe eine Handlung zugerechnet werden kann, die einem bewaffneten Angriff im Sinne des Art. 51 der UN-Charta gleichzustellen ist, eine gesicherte völkerrechtliche Legitimation für militärische Maßnahmen nicht existiert – und zwar weder für die USA noch für die NATO.7 Im Hinblick auf die erstgenannte Voraussetzung für den Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan bleibt demnach festzuhalten, dass dieser auf einer völkerrechtlich schwankenden Grundlage steht, zumindest aber das Kriterium der eindeutigen Zulässigkeit nicht erfüllt.

Das Kriterium zwei ist erfüllt, da die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Streitkräften im NATO-Bündnis und darüber hinaus im Kontext einer geradezu weltumspannenden Koalition gegen den Terror agiert. Allerdings bleibt zu monieren, dass sich in dieser viel zitierten Koalition doch einige, gelinde ausgedrückt, schillernde Figuren befinden oder auch mit welcher Nonchalance aus Schurken Alliierte werden.

In Bezug auf das dritte Kriterium drängen sich die gravierendsten Einwände gegen die Teilnahme deutscher Soldaten am Anti-Terrorkrieg auf. Neben dem Umstand, dass es kein gesichertes völkerrechtliches Mandat für einen solchen Einsatz gibt, bleibt die Frage nach der politischen Zielsetzung dieses Krieges bis dato im Dunkeln. Da die direkten Angriffe auf die terroristische Infrastruktur Osama bin Ladens in den ersten Kriegswochen nicht den beabsichtigten Erfolg brachten, wechselten die USA ihre Strategie, vernichteten zunächst das Taliban-Regime und bombten die Vertreter der so genannten Nord-Allianz zurück an die Macht.

Die Paradoxie einer solchen Vorgehensweise illustriert der Umstand, dass die USA selbst gemeinsam mit Pakistan und Saudi-Arabien die Taliban Mitte der neunziger Jahre an die Macht gebracht haben. Damals meinte man den Bürgerkrieg, der Afghanistan in ein unerträgliches Chaos gestürzt hatte, beenden zu können, indem man mit Hilfe der Taliban eben jene Warlords, Stammesfürsten und Clanchefs von der Macht vertrieb, die man heute wieder in Amt und Würde bomben möchte. Welch absurde Logik, zunächst Beelzebub mit Satan zu vertreiben und jetzt wieder Satan mit Beelzebub. Trotz intensivster diplomatischer Bemühungen ist eine tragfähige politische Konfliktlösung für Afghanistan bis heute nicht einmal im Ansatz zu erkennen. Krieg ohne ein klares politisches Ziel zu führen, ist nach Clausewitz ein Kardinalfehler. Krieg bedeutet dann nämlich nicht die „Fortführung der Politik unter Einmischung anderer Mittel“, sondern die Abdankung von Politik und die Erhebung militärischer Gewaltanwendung zum Selbstzweck. Eine derartige Vorgehensweise lässt sich dann wohl mit Fug und Recht als Abenteurertum bezeichnen – und daran wollte sich diese Republik ja eigentlich nicht beteiligen, wenn man den Bundeskanzler richtig verstanden hat.

Darüber hinaus gibt aber auch die Art und Weise der militärischen Operationsführung zu erheblichen Zweifeln an deren Sinnhaftigkeit Anlass. Festzustellen ist zunächst, dass der Krieg in und über Afghanistan gemäß dem von den USA seit dem Golfkrieg 1991 entfalteten neuen Paradigma geführt wird; ein Schlüsselbegriff hierzu lautet »Revolution in Military Affairs«. Diesem Paradigma zufolge werden Kriege mit Hilfe von High tech-Waffensystemen, auf welche die USA und ihre Rüstungsindustrie ein Quasi-Monopol besitzen, aus der Distanz, mit überlegenen, weltraum- und luftgestützten Aufklärungsmitteln, modernster Informations- und Führungstechnologie sowie konkurrenzlos überlegenen Luftkriegsmitteln geführt, wobei eigene Verluste vermieden und gegnerische minimiert werden sollen. Bodengebundene US-Streitkräfte, die, wenn überhaupt, dann in geringer Stärke zum Einsatz kommen, dienen vornehmlich der Unterstützung des Luftkrieges mittels Aufklärung und Zielbeleuchtung sowie sonstigen Spezial- oder Kommandooperationen. Zudem streben die USA an, dass die Verbündeten oder jeweiligen Koalitionspartner deren Streitkräfte für den stets mit erheblichen Verlustrisiken verbundenen Einsatz am Boden bereitstellen. Schon der Verlauf des Kosovokrieges demonstrierte, wie effektiv dieses neue Paradigma der Kriegführung in die Tat umgesetzt wurde, und der Krieg in Afghanistan liefert eine erneute Bestätigung für dessen Wirkungsmächtigkeit.

In der Realität des Krieges gegen Afghanistan resultiert aus einer solchen Doktrin, dass ein ohnehin unbewohnbares Land noch unbewohnbarer gemacht wird. Während der Weltöffentlichkeit suggeriert wurde, dass die U.S.-Airforce selektiv und präzise die Infrastruktur von Osama bin Ladens Al Qaida sowie das rudimentäre Militärpotenzial der Taliban zertrümmerte, meldete der amerikanische Fernsehsender NBC unter Berufung auf einen hochrangigen Offizier der US-Streitkräfte, dass die US-Luftwaffe die entsprechend völkerrechtlicher Regularien deutlich gekennzeichneten Lager des IKRK in Afghanistan vorsätzlich bombardiert habe, um die dort deponierten Lebensmittel und Hilfsgüter nicht in die Hände der Taliban fallen zu lassen.8 Nach der Genfer Konvention inklusive Zusatzabkommen fallen vorsätzliche Angriffe auf humanitäre Einrichtungen unter die Kategorie der Kriegsverbrechen. Insgesamt sollen mehr als achtzig Prozent der IKRK-Strukturen in Afghanistan zerstört worden sein.9 Symbolhaften Gehalt besaß schon die Zerstörung eines Büros der Vereinten Nationen in Kabul zu Beginn der Bombardierungen, wobei vier lokale Mitarbeiter, deren Aufgabe darin bestand, im Rahmen eines humanitären UNO-Projektes Minen zu räumen, getötet worden waren.

Trotz der schnellen und effektiven Zerstörung der sehr begrenzten Anzahl militärischer Ziele von strategischer Bedeutung in den ersten Kriegswochen hatte sich das Taliban-Regime als äußerst widerstandsfähig erwiesen, wie das Pentagon zu seiner Überraschung zuzugeben genötigt war. Die U.S. Airforce ging daher dazu über, den Truppen der Nordallianz den Weg durch die Stellungen der Taliban freizubomben, wobei die Taktik des so genannten square bombings sowie Clusterbomben zum Einsatz gelangten. Darüber hinaus dürften auch die berüchtigten »Fuel-Air-Explosives« zur Anwendung gekommen sein, Aerosolbomben, die eine enorme Druckwelle erzeugen und Menschen – im Jargon der Militärs als »weiche Ziele« bezeichnet –, die sich in deren Wirkbereich befinden, die inneren Organe zerfetzen. Da die Kämpfe auch weiterhin nicht in einer menschenleeren Wüstenei stattfinden, sondern durchaus auch Siedlungen im Kampfgebiet liegen, führt diese Veränderung der operativen Konzeption dazu, dass mitunter ohne Rücksicht auf die örtliche Zivilbevölkerung ganze Dörfer umgepflügt und eingeäschert werden.

Ein weiterer Effekt des Krieges gegen Afghanistan liegt darin, dass Millionen Flüchtlinge angesichts der desaströsen Ernährungslage und des einsetzenden Winters dem Hunger- und Kältetod ausgesetzt sind, da die humanitären Hilfsorganisationen angesichts der Kriegshandlungen nahezu zur Untätigkeit verurteilt waren. In der Konsequenz bedeutet die Art der Kriegführung in Afghanistan, dass die gesamte afghanische Bevölkerung – Männer, Frauen, Kinder, Alte – quasi in Geiselhaft genommen wird für eine Handvoll Terroristen, die auf afghanischem Territorium operieren. Indem solchermaßen die Conditio sine qua non der Verhältnismäßigkeit von intendiertem Zweck und selektierten Mitteln schlechterdings ignoriert wird, ist der Krieg gegen Afghanistan, so wie er derzeit geführt wird, mit dem Völkerrecht und dem Kriegsvölkerrecht nicht zu vereinbaren.

Darüber hinaus lässt er sich auch unter moralischen Aspekten nicht rechtfertigen, weil er nämlich der Maxime folgt, es sei erlaubt, Unschuldige zu töten um andere Unschuldige zu rächen und potenzielle Opfer zukünftiger terroristischer Anschläge zu retten. Ein derartiges Kalkül ist selbstredend absurd. Wer weiterhin für uneingeschränkte Solidarität mit den USA im Krieg gegen Afghanistan plädiert, muss wissen, dass er damit einer unhaltbaren moralischen Maxime folgt.

Neben dem unermesslichen Leid, das der Krieg hervorbringt, ist er zudem unter politischen Aspekten völlig kontraproduktiv, da er nämlich das Gegenteil dessen bewirken wird, was eigentlich erreicht werden soll. Jeder von der westlichen Kriegsmaschinerie getötete Zivilist nährt den Hass in der islamischen Welt und treibt den Rattenfängern des Terrorismus neue Gefolgsleute zu. Militärische Gewaltanwendung ändert nicht das Geringste an den Ursachen für das Entstehen von Denkschablonen und Handlungsmustern, gemäß denen die Protagonisten im Heiligen Krieg gegen eine als gottlos und zutiefst ungerecht empfundene Welt ihre heldenhafte Selbstaufopferung unter Maximierung feindlicher Verluste zum höchsten Ziel erheben. Wie man es auch dreht und wendet: Mit Bomben und Raketen lässt sich die Spaltung der Welt in Arm und Reich nicht überwinden, mit einem »Kreuzzug gegen den Terrorismus« kein gerechter Frieden schaffen, mit militärischer Gewalt der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen in der islamischen Welt nicht gewinnen.

Gewendet auf die eingangs aufgeworfene Fragestellung nach den Erfolgskriterien der militärischen Intervention resultiert aus den aufgezeigten Defiziten und Dilemmata, dass jene mitnichten in zufriedenstellender Weise beantwortet ist, sondern im Gegenteil höchst unklar bleibt. Darüber hinaus lässt sich auch überhaupt kein Ende des Krieges absehen, ganz im Gegenteil wird von offizieller Seite stets betont, dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismus von sehr langer Dauer sein wird. Und schließlich sind bisher keinerlei Überlegungen betreffend eine so genannte Exit Strategy bekannt. Die kürzlich überraschend erzielten militärischen Erfolge gegen das Taliban-Regime bedeuten nämlich noch längst nicht die siegreiche Beendigung des Krieges in Afghanistan und schon gar nicht den Sieg im Kampf gegen den Terrorismus.

Zusammengefasst ergibt die Analyse von Kriterium Nummer drei des oben explizierten Prinzipienkatalogs, dass sich für keine der dort subsumierten Fragen eine zufriedenstellende Antwort findet. Eine Entsendung von Bundeswehrsoldaten in den Krieg gegen Afghanistan erscheint somit weder als zweckmäßig noch als gerechtfertigt. Auch die vierte Forderung stellt eine Schlüsselfrage dar: Sind die Gründe für das eventuelle Opfer deutscher Soldaten auf dem Schlachtfeld in Afghanistan wirklich zwingend? Rechtfertigen die terroristischen Attacken in den USA, wie grauenhaft und menschenverachtend sie sich auch immer darstellen, zweifelsfrei einen Kampfauftrag für die Bundeswehr und gibt es tatsächlich keinerlei Dissens über die Sinnhaftigkeit eines derartigen Kampfeinsatzes? Dies ist, beobachtet man die aktuelle politische Debatte sowie die Berichterstattung in den Medien, keineswegs der Fall. Ganz im Gegenteil, denn erstens ist zu konstatieren, dass in der demokratischen Öffentlichkeit in Anbetracht der politischen und militärischen Imponderabilien seit Wochen Skepsis und Kritik am Krieg der USA und Großbritanniens in Afghanistan wachsen. Zweitens aber lässt die von der Bundesregierung deklarierte Politik nach der Devise »uneingeschränkter Solidarität« mit den USA den Verdacht aufkeimen, dass es gar nicht so sehr die USA waren, die einen militärischen Beitrag der Bundeswehr unbedingt eingefordert haben, sondern vielmehr Gerhard Schröder und Joschka Fischer diesen den USA geradezu aufgenötigt haben, um Einfluss und Mitsprache Deutschlands im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu bekommen.10 Dies mag man für politisch durchaus klug und zweckmäßig halten, dann sollte man es getreu dem Gebot der Wahrhaftigkeit der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und den Soldaten der Bundeswehr aber auch so erklären.

Was die fünfte Forderung des Prinzipienkataloges betrifft, so hat nur eine äußerst knappe Mehrheit des Deutschen Bundestages dem Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan zugestimmt. Die Art und Weise, wie dieser Beschluss seitens des Bundeskanzlers dem Parlament abgepresst wurde, bedeutet tendenziell ein Unterlaufen des vom Bundesverfassungsgericht mit Bedacht in sein Urteil vom 12. Juli 1994 formulierten Parlamentsvorbehaltes für den Einsatz der Bundeswehr jenseits der Landesgrenzen. Zugleich ist hinsichtlich der politischen Kontrolle des deutschen Militärs eine ganz klare und besorgniserregende Machtverschiebung weg von der Legislative und hin zur Exekutive zu konstatieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Kontroverse um den bevorstehenden Kampfeinsatz deutscher Soldaten andauern und sich im weiteren Verlauf des Krieges eher noch verschärfen. Im Hinblick auf die Legitimation des Bundeswehreinsatzes einerseits, die Moral der Truppe andererseits dürften sich aus diesem Sachverhalt nicht unerhebliche negative Implikationen ergeben.

Das letzte Kriterium, dass nämlich eine Beteiligung Deutschlands an einem Konflikt sich unter Berücksichtigung der besonderen historischen Spezifika deutscher (Militär-)Geschichte nicht verschärfend auswirken dürfe, erscheint im afghanischen Kontext eher irrelevant, da die Horden des Dritten Reiches bis in jene fernen Regionen nicht vorgedrungen waren.

Das abschließende Resümee im Hinblick auf die Erfüllung der einstmals so explizit reklamierten Prinzipien für einen Einsatz deutscher Streitkräfte fällt, was den Krieg in Afghanistan anbetrifft, sehr ernüchternd aus: Die Perspektive, auf dem Altar ominöser nationaler Interessen geopfert zu werden, wird in den Streitkräften jetzt und in der Zukunft erhebliche Zweifel sowohl am Sinn als auch an der Legitimität militärischen Dienens aufkommen lassen. Zusammengenommen mit der unübersehbar im Scheitern begriffenen Bundeswehrreform könnte sich daher die Lage für die deutschen Streitkräfte in ungeahnt prekärer Weise entwickeln.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu Kinkel, Klaus: Die Rolle Deutschlands bei Friedensmissionen, in: NATO-Brief, Oktober 1994, S. 6f.

2) Walther, Rudolf: Die Fiktion vom sauberen Waffengang, in: Die Zeit, Nr. 32, 2. August 2001, S. 41.

3) Vgl. hierzu Stuby, Gerhard: Internationaler Terrorismus und Völkerrecht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11/2001, S. 1333.

4) Vgl. Schmidt, Helmut: Das Mammut-Verbrechen, in: Die Zeit, Nr. 38, 13. September 2001, S. 1.

5) Vgl. Garzón, Baltasar: Die einzige Antwort auf den Terror – Bomben auf Kabul, Spezialkommandos, Jagd auf die Taliban: Das dient zuerst dem Wunsch nach Rache für den 11. September. Erfolg aber verheißt nur die Sprache des Rechts und der Richter, in: Die Zeit, Nr. 44, 25. Oktober 2001, S. 11.

6) Vgl. Schmidt-Häuer, Christian: Den Freunden ins Auge gestochen – Die amerikanische Regierung unterstützt das Gesetz gegen den Internationalen Strafgerichtshof und brüskiert die Vereinten Nationen, in: Die Zeit, Nr. 43, 18. Oktober 2001, S. 4.

7) Vgl. hierzu Stuby, Gerhard: Internationaler Terrorismus und Völkerrecht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11/2001, S. 1334.

8) Vgl. Rupp, Rainer: Im Visier: Rotes Kreuz. USA bombardieren Lager in Kabul absichtlich, in: Neues Deutschland, Nr. 256, 3./4. November 2001, S. 3.

9) Vgl. die entsprechende Meldung in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 252, 2. November 2001, S. 4; dort wird unter der Rubrik »Blick in die Presse« die französische Zeitung L’Humanité wie folgt zitiert: „Durch die US-Luftangriffe in Afghanistan wurden 80 Prozent der Infrastruktur des Roten Kreuzes zerstört, irrtümlich, wie die US-Regierung sagt. Doch ist der Irrtum nicht Wesenselement der amerikanischen Strategie? Am Anfang sollten die Ausbildungslager der Terrororganisation zerstört und bin Laden gefangen werden, jetzt beobachten wir eine Art ‚Startegie der Angst‘ mit Bombardierungen, damit sich die Bevölkerung von den Taliban abwendet.“

10) Vgl. hierzu den höchst aufschlußreichen Artikel von Josef Joffe in: Die Zeit, Nr. 47, 15. November 2001, S. 3. Dort wird die Leitung des DoD’s wie folgt zitiert: „Unser größtes Problem ist derzeit, dass wir die mannigfach angebotene Militärhilfe gar nicht richtig assimilieren und eingliedern können. (…) Wir erwarten nicht von jedem Land, dass es sich überall und immerdar beteiligt.“

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er ist gezwungen darauf hinzuweisen, dass er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen vertritt.

Terrorismus, Afghanistankrieg und westliche Feindbilder

Terrorismus, Afghanistankrieg und westliche Feindbilder

von Gert Sommer

Politisches Bewusstsein und Handeln werden stark vom Feind-Freund-Denken beeinflusst, also von den kontrastierenden Bildern, die sich Politiker und die Bevölkerung von politisch relevanten Ereignissen und Akteuren machen. Ausgeprägte Feindbilder sind regelmäßig Begleiterscheinungen von Kriegen sowie wichtige Indikatoren für Vorkrieg, also für die mögliche Eskalation eines Konfliktes hin zu einer gewaltförmigen Auseinandersetzung. Im Folgenden geht unser Autor zunächst auf psychologische Überlegungen zum Feindbildkonzept ein; anschließend untersucht er deren Relevanz am Beispiel Afghanistankrieg und Terrorismus.
Feindbilder sind sozial vermittelte Deutungsmuster (Bilder), starke negative Vorurteile, die sich auf Gruppen, Ethnien, Staaten, Ideologien, Religionen oder Ähnliches beziehen.

Ausgeprägte Feindbilder bestehen üblicherweise aus verschiedenen Komponenten:

  • Der »Feind« wird als gefährlich und (moralisch) minderwertig dargestellt; dazu komplementär wird das individuelle und kollektive Selbstbild positiv erlebt;
  • der »Feind« wird entmenschlicht und mit dem Bösen identifiziert;
  • ihm wird einseitig die Schuld für negative Ereignisse zugeschrieben;
  • es herrscht »Gruppendenken« vor, d.h., die Meinungen in der Eigengruppe sind – bezogen auf den »Feind« und damit zusammenhängende Ereignisse – stark vereinheitlicht, abweichende Meinungen werden sanktioniert.

Da sich bei der Eskalation von Konflikten beide Konfliktparteien üblicherweise zunehmend negativ wahrnehmen und bewerten, ist häufig das Spiegelbild-Phänomen zu beobachten: Beide Seiten werfen sich nahezu identisch Negatives vor und bewerten sich selbst jeweils überaus positiv.

Ausgeprägte Feindbilder haben – neben individuellen – auch eine Reihe von gesellschaftlichen Auswirkungen. Dazu gehören üblicherweise

  • Meinungsmanipulation und Verlust an Demokratie;
  • Stärkung militärischen Denkens und Handelns;
  • Emotionalisierung von Konflikten und damit Legitimation von Aggression bis hin zur Vernichtung des »Feindes«;
  • Vereinfachung von real komplexen Sachverhalten, z.B. internationalen Problemen;
  • Stabilisierung von Herrschaft im Inneren;
  • Missbrauch von Werten.

Welche Bedeutung haben diese psychologischen Überlegungen und Erkenntnisse für das konkrete Beispiel Afghanistankrieg bzw. Terrorismus?

Nach den Flugzeuganschlägen am 11. September 2001 in den USA wurden von der US-Regierung bald bin Laden bzw. mit ihm zusammenhängend Al Qaida und später die Taliban als Hauptschuldige bestimmt. Sie wurden zu zentralen Feinden der USA ernannt. Hier offenbart sich schon ein zentrales Problem: Obwohl die US-Regierung der Öffentlichkeit keine rechtlich verwertbaren Beweise für die Täter, deren Hintermänner bzw. die sie unterstützenden Organisationen oder Staaten vorlegten, erklärten sie »dem Terrorismus« ihren Krieg. Zunächst wurde vorgeblich bin Laden gesucht und anschließend ein Krieg geführt, der zwar »Krieg gegen den Terror« genannt wird, zunächst aber ein Krieg gegen die Taliban und das afghanische Volk ist.

Ist es angemessen, von einem »Feindbild« bin Laden bzw. Taliban zu sprechen? Dies kann nur eingeschränkt geschehen, denn – nach den uns vorliegenden Informationen – herrschen die Taliban äußerst brutal, überziehen Afghanistan mit Terror und unterdrücken insbesondere die Frauen; zudem werden sie für zahlreiche Terroranschläge in verschiedenen Ländern verantwortlich gemacht. Daher können sie auch als reale Feinde bezeichnet werden, z.B. von den unterdrückten afghanischen Frauen.

Trotzdem scheint es mir angemessen, von Feindbild zu sprechen, weil bin Laden von den USA (und anderen) zum zentralen Übel dieser Welt stilisiert wird. Ihm wird jegliche Rationalität abgesprochen. Dadurch werden die zentralen Mechanismen der Abwertung des Feindes bei gleichzeitiger Selbstwerterhöhung aktiviert. Eine komprimierte Zusammenstellung besonders prägnanter Zitate mag dies verdeutlichen. (Es gibt auch etliche besonnene Stellungnahmen, aber das im Folgenden ersichtliche Ausmaß an hoch emotionalen Bewertungen ist doch beeindruckend – zumal es nur einen kleinen Ausschnitt wiedergibt.)

„Der Angriff (vom 11.9.01) trägt (…) alle Züge einer Hass-Attacke“. (FR, 12.9.) „Die Terroristen (…) (hassen die) westliche Zivilisation (…) mit mörderischer Inbrunst (…) Ein vergleichbarer Zivilisationsbruch lässt sich nur an den Namen Hitler, Stalin und Pol Pot festmachen.“(ZEIT, 13.9.) „Das Böse schlechthin, Menschenverachtung und Barbarei haben (…) uns alle angegriffen.“ (CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz; FR, 13.9.) „Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt.“ (Bundeskanzler Schröder; FR, 20.9.) „Der Angriff auf das World Trade Center (…) ist eine Negation unserer Lebensweise und Zivilisation.“ (FR-Kommentar, 20.9.) „(…) selbstmordwillige Wahnsinnige.“ (ZEIT, 8.11.) .„We will hunt down these folks.“ (US-Präsident Bush; ZEIT, 13.9.). „US-Verteidigungsminister Wolfowitz sprach davon, »Staaten zu beseitigen«(ending states), die den Terrorismus fördern.“ (FR, 15.9.)

Diese hoch emotionale negative Bewertung u.a. von bin Laden und den Taliban und die daraus abgeleiteten Handlungen sind insofern erstaunlich, als die Taliban bis vor wenigen Jahren von den USA militärisch und politisch unterstützt wurden und als Stabilisierungsfaktor für Afghanistan vorgesehen waren.

Ergänzend hervorzuheben ist insbesondere das extrem positive Selbstbild, das als Kontrast zum Feind bin Laden bzw. Terrorismus aufgebaut wird. Die Flugzeuganschläge richteten sich gegen höchste Symbole der einzigen Weltmacht USA: gegen die Wirtschaftsmacht (World Trade Center) und gegen die Militärmacht (Pentagon). Aufgrund dieser Symbolik (Wirtschaft und Militär) hätte eine Diskussion um die Wirtschaftspolitik der USA und der anderen führenden Industrienationen sowie der Militärpolitik der USA und z.B. der NATO entstehen können. Diese findet zwar in etlichen gesellschaftlichen Gruppen statt, bislang aber nicht in der herrschenden Politik. Statt dessen wird der Anschlag auf die Symbole der Weltmacht USA uminterpretiert in einen Anschlag auf die Zivilisation und allgemeine menschliche Werte, wie sie – nach üblicher Lesart – besonders von den USA repräsentiert würden.

Komplementär zum Feindbild wird folgendes positive Selbstbild gezeichnet: Die Militäraktion erhielt von den USA zunächst die Bezeichnung »Grenzenlose Gerechtigkeit« und später »Andauernde Freiheit«. Bundeskanzler Schröder bezeichnete die Anschläge in seiner Bundestagsrede als „Kriegserklärung gegen die gesamte Welt“, „Kriegserklärung an die zivilisierte Völkergemeinschaft“ und „Kriegserklärung an die freie Welt“. Bedroht seien „die Prinzipien menschlichen Zusammenlebens in Freiheit und Sicherheit“; gefordert sei die „Solidarität aller, die für Frieden, Freiheit einstehen“ (FR, 13.9.) CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Merz sprach von einem „Angriff auf die Zivilisation, auf die Freiheit und Offenheit unserer Gesellschaften (…) auf die Grundwerte, die das friedliche Zusammenleben der Völker erst möglich (…) machen.“ (FR, 13.9.) „Wenn europäische Regierungschefs die Anschläge einen Angriff auf die westliche Zivilisation nennen, treffen sie den Kern der Sache.“ (FR-Kommentar, 13.9.) „(…) die Terroristen wollten nicht nur Amerika, sondern das Herz einer westlichen Zivilisation treffen.“ (ZEIT, 13.9.)

Bush sieht die Anschläge als Kriegshandlungen an; er sprach von einem „monumentalen Kampf“, den „das Gute gegen das Böse“ zu führen habe. „Der Feind hat nicht nur unsere Bevölkerung, sondern alle freiheitsliebenden Menschen in der Welt angegriffen. Amerika wurde zum Angriffsziel, weil wir in der Welt die strahlendste Fackel der Freiheit (…) sind.“ „(…) Entschlossenheit, für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten.“ (FR, 13.9.). „Amerika ist nur das zugespitzte, weil machtvollste Symbol für die Moderne und für das, was wir westliche Zivilisation nennen.“ (Schröder im Bundestag, 11.10.) „Jedes Land (…) muss sich jetzt entscheiden – entweder es steht an unserer Seite oder an der Seite der Terroristen.“ „Das ist der Kampf (…) der Zivilisation. Das ist der Kampf aller, die an Fortschritt und Globalismus glauben, an Toleranz und Freiheit.“ (Bush; FR, 22.9.)

(Westliche) Zivilisation, Freiheit und Frieden waren die am häufigsten genannten positiven Begriffe, sie wurden geradezu als Synonyme für die USA verwendet. Die Militäraktionen der USA erhielten – weit gehend unkritisch – die Bezeichnung »Krieg gegen den Terrorismus«.

Ein solch überaus positives Selbst- bzw. Freundbild, überdies vermittelt in Demokratien mit Pressefreiheit, ist schon bemerkenswert. So hat der Medienbeauftragte der OSZE, Freimut Duve, die Einseitigkeit der Berichterstattung in den USA als „beängstigend“ bezeichnet, „der Journalismus (werde) auf nahe Null reduziert“, präsentiert werde eine „Vereinfachung der Welt, die Simplifizierung in richtig-falsch“ (dpa, 15.11.01).

Es ist hier nicht der Ort für eine kritische Analyse der Politik der USA. Es sei nur daran erinnert, dass die US-Politik häufig mit Militärdiktaturen zusammen arbeitete oder sie gar installierte; dass sie Terrororganisationen wie die UCK in Jugoslawien oder die Taliban in Afghanistan unterstütze, solange es ihnen opportun erschien; dass sie nach wie vor zahlreiche internationale Verträge, die zu Stabilität, zu Frieden und zukunftsfähiger Entwicklung beitragen können, boykottieren (z.B. B-Waffen-Vertrag; Kyoto-Protokoll; Internationaler Strafgerichtshof; Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte). Erinnert sei auch daran, dass es diese westliche »Zivilisation« wenig zu berühren scheint, wenn täglich 100.000 Menschen verhungern, 1,3 Milliarden Menschen unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben oder wenn durch die westliche Lebensart das weltweite ökologische Gleichgewicht ernsthaft bedroht wird. Hier werden doppelte Standards deutlich.

Und noch ein Gedankenspiel: Wie hätte wohl die Reaktion der USA und des Westens ausgesehen, wenn ein Anschlag mit vergleichbar schrecklichen menschlichen Opfern nicht in den USA, sondern in Russland, China, Indien oder Afrika geschehen wäre? Wäre dann auch übereinstimmend gefolgert worden, dass „nichts mehr so ist wie es mal war“?

Im Folgenden wird auch das »vereinheitlichte Gruppendenken« deutlich. Bezüglich der Bekämpfung des Terrorismus herrscht in den politisch führenden westlichen Kreisen Übereinstimmung, diesen mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Ein äußerst zweifelhaftes Konzept, schließlich lässt es außer Acht, dass der Zivilbevölkerung weiteres Leid zugefügt wird, dass Terrorismus durch Krieg nicht zu beenden ist, sondern eher noch verstärkt wird. Abweichende Meinungen werden von den Regierenden diskreditiert, z.B. als realitätsfremder Pazifismus, Anti-Amerikanismus, Gefährdung der Bündnistreue, gefährlicher Sonderweg etc. Bundestagsabgeordnete, die nicht mit der Kriegsbeteiligung Deutschlands einverstanden sind, werden stark unter Druck gesetzt bis hin zur Androhung, ihr Bundestagsmandat zu verlieren. Die rechtsstaatlich angemessene Alternative, im Rahmen der Vereinten Nationen konsequent verdächtigte Personen (Gruppen und Organisationen) zu erfassen – möglichst mit polizeilichen Mitteln –, Beweise vorzulegen und ein Verfahren vor einem internationalen Gericht durchzuführen, wird nicht ernsthaft überdacht. Die wichtige Unterscheidung zwischen Verbrechensbekämpfung und Krieg wird nicht vorgenommen.

Deutlich wird dieses »vereinheitlichte Gruppendenken« auch, wenn der Bundeskanzler Deutschlands den USA seine „uneingeschränkte Solidarität“ bekundet. Psychologisch bedeutet dies, dass der Konflikt wesentlich auf die Beziehungsebene transponiert wird (USA als Verbündete und Freunde; Vertrauensfrage im Bundestag) und damit weg von der inhaltlichen Ebene, auf der es intensiv und viel zu streiten gäbe. Damit bleiben im öffentlichen Diskurs zahlreiche Fragen weitestgehend unbeantwortet. Zum Beispiel:

  • Wer führt den Krieg: Die USA? Die Nato? Die »Staatengemeinschaft«?
  • Wer ist der Gegner in diesem Krieg: Bin Laden, die Taliban, Al Qaida? Afghanistan, Irak? Bis zu 60 Staaten, die Terrorismus unterstützt haben sollen?
  • Was sind die Ziele: Terrorbekämpfung? Welcher Terror? Kontrolle der Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Kaspischen Region?
  • Was sind die Strategien: Wann und wie soll der Krieg »erfolgreich« beendet werden?
  • Was sind die zentralen Interessen der Bundesregierung: Ist es das so oft betonte mäßigende Einwirken auf die USA oder sind es vielmehr die angestrebte Mitsprache bei der Neuorganisation einer wichtigen Weltregion und die »Normalisierung« der deutschen Politik bis hin zur Möglichkeit militärischer Interventionen zur Durchsetzung eigener Interessen?

Durch das Feindbild werden militärisches Denken und Handeln gefestigt. In vielen kritischen Analysen werden Veränderungen u.a. in der westlichen Wirtschaftspolitik angemahnt. Es ist aber zu befürchten, dass diese notwendigen Schritte ausbleiben oder dass sie zumindest sehr viel zögerlicher vorgenommen werden als die derzeitigen Militäraktionen. Ein Indiz dafür ist z.B. der Bundeshaushalt für 2002, der eine Kürzung der Entwicklungshilfe um 2,2% vorsieht (FR, 17.11.01).

Feindbilder verändern Bewertungen: Des Feindes Feind wird zum eigenen Verbündeten, unabhängig von früheren Einstellungen. So wurde die Militärdiktatur in Pakistan ebenso zum Verbündeten der USA wie die Nordallianz in Afghanistan, die nach Ansicht von Experten kaum positiver zu bewerten ist als die Taliban.

Die Opfer der Anschläge in den USA sind »wertvolle Opfer« im Sinne der Propaganda, dass Krieg gegen den internationalen Terrorismus zu führen sei. Über die zahlreichen afghanischen Opfer aufgrund zunächst der Ankündigung und dann der Durchführung der Bombardierung von Seiten der USA wird erstaunlich wenig berichtet. Hier wird sehr deutlich, wie unterschiedlich mit Flüchtlingen politisch und in den Medien umgegangen wird: Während Flüchtlinge im Kosovo als Begründung für den Jugoslawienkrieg herhalten mussten, werden Flüchtlingsströme in Afghanistan als zwar bedauerliche, aber unvermeidbare Folgen eines gerechten Krieges dargestellt.

Zum Schluss seien einige auffällige Parallelen zwischen dem zweiten Golfkrieg und dem Afghanistankrieg aufgezeigt: Saddam Hussein sowie die Taliban wurden zunächst von den USA u.a. militärisch gestärkt und als strategische Partner angesehen – trotz der bekannten Gräueltaten gegenüber der eigenen Bevölkerung etc.; sie wurden erst dann zu Feinden der USA, als sie gegen direkte US-Interessen verstießen. Noam Chomsky (2001, S. 10) fasste dies kürzlich pointiert so zusammen: „Verbrechen werden (von der US-Regierung) nicht bestraft, nur Ungehorsam“.

In beiden Konflikten spielte der Feindbildaufbau eine entscheidende Rolle um die eigene Politik gegenüber der eigenen Bevölkerung und weltweit zu rechtfertigen. Verdeckt wurde damit, dass es in beiden Kriegen höchst wahrscheinlich primär um wirtschaftliche Interessen ging, um die Kontrolle von Erdöl und Erdgas.

Feindbilder spielen eine entscheidende Rolle bei den derzeitigen politischen Prozessen und Entscheidungen. Sie sind keine Ursachen für Kriege, auch nicht für den Afghanistankrieg. Aber sie sind wesentlicher Teil der psychologischen Kriegsführung. Gerade das Beispiel Afghanistankrieg zeigt, in welch hohem Ausmaß die Vorgaben der US-Regierung das (politische) Denken, Fühlen und Handeln in Deutschland und anderen Ländern bestimmen. Eine Emanzipation von Feindbildern ist dringend erforderlich, damit sich die Menschen mit Nachdruck der Lösung der drängenden Menschheitsprobleme widmen können: der Bekämpfung von Armut, Unterentwicklung und Umweltzerstörung; der Verwirklichung der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.

Literatur

Chomsky, N. (2001). War against people – Menschenrechte und Schurkenstaaten. Hamburg, Europa Verlag.

Flohr, A.K. (1991). Feindbilder in der internationalen Politik. Münster, LIT.

Sommer, G., Becker, J.M., Rehbein, K. & Zimmermann, R. (Hrsg.)(1992). Feindbilder im Dienste der Aufrüstung. Marburg, Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung.

Kempf, W. & Sommer, G. (1991). Feindbilder. Dossier. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, 3/91.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Psychologie an der Philipps-Universität Marburg

Afghanistan: Der Krieg und die Medien

Afghanistan: Der Krieg und die Medien

von Jörg Becker

Nach nun rund zehn Jahren intensiver Debatte darüber, was denn nun der Informationskrieg sei, und nach dem dazu grundlegenden Aufsatz von John Arquilla und David Ronfeldt1 von Anfang der neunziger Jahre lässt sich in der Abfolge der Kriege im Kosovo, Mazedonien und Afghanistan ganz simpel festhalten, dass gerade der Afghanistan-Krieg durch und durch zu einem Informationskrieg geworden ist. Im Afghanistan-Krieg sind Propaganda, gezielte Desinformation, Lügen, Verfälschungen, Vertuschungen, Manipulationen, Informationszurückhaltungen, Zensur, Pressionen gegen kritische Journalisten und unliebsame Medieneigner, staatliches Abhören der Telekommunikation, vorab vom Pentagon produzierte Videofilme mit Kampfjets usw. endgültig zum Normalfall geworden. Und der Umfang dieser Aktionen ist durchaus teuer und bedeutend: Allein zwischen Ende September und Ende Oktober 2001 starteten die USA drei neue militärische Spionagesatelliten und allein in diesem Zeitraum gaben alle US-Medien zusammen genommen den zusätzlichen Betrag von 25 Mio. US-Dollar für Kriegsberichterstattung aus. Das komplexe Wechselspiel zwischen Krieg und Kommunikation wird im Folgenden für den gegenwärtigen Informationskrieg rund um Afghanistan anhand von sieben Dimensionen beschrieben und analysiert.
Ganz ohne Frage ruht die gegenwärtige mediale, mentale und öffentliche Verarbeitung der terroristischen Anschläge auf das World Trade Centre und das Pentagon vom 11. September 2001 und der sich darin anschließende Afghanistan-Krieg auf einem historisch gewachsenen Sockel anti-islamischer Feindbilder. Sie bilden quasi eine Folie, vor der die mediale Verarbeitung des Afghanistankrieges einzelne Bruchstücke eines sowieso schon festgefügten Bildes über den Islam aktualisiert.

Feindbilder

In der deutschen Medienlandschaft waren und sind es insbesondere Illustrierte und Magazine wie der Stern, Focus und Der Spiegel, die mit ihren reißerischen Titeln und Aufmachern vor der »Weltmacht des Islam« oder dem »Geheimnis Islam« warnen. Diese Printmedien wirken durch ihren Mix aus Bildsprache und Symbolen, mit bedrohlich wirkenden Menschen»massen«, wütenden Männern, verschleierten Frauen. Am 8. Oktober 2001 titelte Der Spiegel«: „Der religiöse Wahn. Die Rückkehr des Mittelalters“. Zwischen dem brennenden World Trade Center, vermummten Kriegern mit Maschinengewehren und einem Halbmond zeigt sich das Gesicht von Osama Bin Laden. Dem folgte der Stern am 25. Oktober 2001 mit einem Titelbild, auf dem über kriegerischen Reiterhorden der kleine Augenschlitz einer tief verschleierten Frau zu sehen ist. Dazu heißt es auf dem Titelblatt: „Neue Serie: Die Wurzeln des Hasses. Mohammeds zornige Erben. 1400 Jahre zwischen Stolz und Demütigung“. Für die anti-islamischen Medienaktivitäten in den USA verwies die englische Zeitung Guardian auf folgendes Beispiel von 1999: Als damals US-amerikanische Zeitungen über den Absturz des Fluges 990 der EgyptAir über dem Atlantik berichteten, war deren Meinung, dass hier ein fanatischer Muslimpilot Selbstmord verübt habe, in den Medien der USA auch dann nicht zu erschüttern, als die ägyptische Presse Fotos des Piloten mit seiner Tochter vor christlichem Weihnachtsschmuck veröffentlichte.2

Positiv gegenüber dem Spiegel hebt sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Berichterstattung über den Islam nach dem 11. September 2001 ab. So bringt z.B. die FAZ gegen den Homogenisierungszwang vieler Massenmedien in ihrer Ausgabe vom 22. Oktober 2001 folgende Berichte, die allesamt eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Islam spüren lassen: „Auf der Suche nach den gemäßigten Taliban“, Missbilligung der US-amerikanischen Militärschläge durch die APEC-Länder, ausgesprochen positive Würdigung der muslimischen Moscheen in Hamburg, zustimmende Analyse zu den Friedensplänen der Pakistan Muslim League, religiöse Toleranz in Marokko und ein langer Artikel über die religiös-politische Gratwanderung des Iran zwischen den USA und der islamischen Welt. Oder: Im Wochenendfeuilleton der FAZ vom 10. November 2001 gibt es einen ganzseitigen Artikel über Ignaz Goldziher, den deutschen Begründer einer Islamwissenschaft, und eine ausführliche Rezension eines neuen türkischen Romans.

Dichotomien

Aufbauend auf dem Spiegelbild-Theorem der Feindbildanalysen von David J. Singer aus den frühen sechziger Jahren des letzten Jhs.3 weiß die Friedensforschung seit langem, dass »Freund« und »Feind« spiegelbildlich bewertet, dass sie einem »guten« und einem »schlechten« Lager zugeordnet werden. US-Präsident George W. Bushs politische Rhetorik ist exakt solchen dichotomischen Denkschablonen verhaftet. „Dies ist der Kampf der Zivilisation“ und „Die zivilisierte Welt schart sich um Amerika“ hieß es in seiner Rede vor dem Kongress4 und einem „Krieg gegen das Böse auf der Welt“ stellte der US-Senat 40 Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Bundeskanzler Gerhard Schröder sekundierte Bush mit dem Ausdruck, dass der New Yorker Terroranschlag eine „Kriegserklärung an die zivilisierte Völkergemeinschaft“ 5 gewesen sei und in der FAZ sprach Günther Nonnenmacher ungestraft vom „Endkampf zwischen Gut und Böse“6.

Eine solche Trennung in eine »zivilisierte« und eine »unzivilisierte« Welt vertieft nicht nur die Gräben, sie steht obendrein in einer mehr als fatalen kolonialistischen Tradition des Nordens gegenüber dem Süden. Und so als ob Osama Bin Laden die Arbeiten von David J. Singer gelesen hätte, verfestigte auch er dichotomisches Denken. In einem seiner Videos über den TV-Sender Al-Dschasira erklärte er: „Die Welt ist eingeteilt in die Menschen, die sich gefreut haben über die Angriffe auf den ungerechten Giganten Amerika und einen anderen Teil, der diese Angriffe verurteilt hat.“ 7

Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy brachte die gut gesicherten Erkenntnisse der Friedensforschung auf den Punkt, als sie in der FAZ ausführte: „Wenn es Osama Bin Laden nicht gäbe, müssten ihn die Amerikaner erfinden. (…) Er ist der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten.“ 8 Was man in einem Entwicklungsland wie Indien ungestraft sagen kann, ist allerdings im öffentlichen Meinungsklima eines Industrielandes wie Deutschland z.Zt. kaum sagbar. Als der TV-Moderator Ulrich Wickert Anfang Oktober 2001 in einer Meinungskolumne der Zeitschrift Max Osama Bin Laden mit George W. Bush verglichen und den Satz geschrieben hatte, „Bush ist kein Mörder und Terrorist. Aber die Denkstrukturen sind die gleichen“, da forderte die konservative Oppositionspartei gleich seine Entlassung aus der ARD und Wickert übte flugs Selbstkritik. Immerhin nahm Freimut Duve, OSZE-Beauftragter für Medienfreiheit, diesen Vorfall zum Anlass, sich Sorgen über die Pressefreiheit in Deutschland zu machen.9

Kriegs- und Gewaltrhetorik

Johannes Nitschmann spricht von einem journalistischen Ausnahmezustand: „Die apokalyptischen Reiter sind los. In deutschen Zeitungshäusern und Sendeanstalten haben die barbarischen Terroranschläge auf die USA eine heillose Hybris ausgelöst. An den Schreibtischen hat der Superlativ die Besonnenheit ersetzt. »Machen wir uns nichts vor, es ist der dritte Weltkrieg«, dröhnt »Bild«. (…) Kriegsrhetorik hat Konjunktur. Das Berliner Boulevardblatt »B.Z.« (…) liefert ihren Lesern in großer Graphik die objektiv günstigsten Aufmarschpläne für einen US-amerikanischen Gegenschlag auf Afghanistan.“ 10

„Der Angriff“, brüllt die Bild-Zeitung in sieben Zentimeter Größe auf ihrem Titelblatt am 8. Oktober 2001, und „Tötet bin Laden“ fordert der Kölner Express in vier Zentimeter Größe seine Leser am 22. Oktober 2001 auf. Und weil ein Aufruf zum Mord normalerweise strafrechtlich verfolgt werden muss, schickt der Express seinem Aufruf in kleineren Buchstaben die beiden Zeilen vorweg: „Präsident Bush. Geheimbefehl an die CIA“. Dass das Leben von Freund und Feind in Kriegen unterschiedlich viel wert ist, zeigt nicht nur dieser Mordaufruf der journalistischen Kanaille, sondern gleichermaßen die normale deutsche Lokalpresse. So schreibt beispielsweise eine dpa-Korrespondentin am 12. Oktober 2001 folgende Sätze: „Die Missionen der an den Luftangriffen beteiligten Langstreckenbomber und Kampfflugzeuge waren relativ risikoarm. (…) Jetzt verlagert sich der Einsatz auf Kampfhubschrauber, Spezial-Bodentrupps und leichte Infanterie mit der Gefahr des Verlustes an Menschenleben.“11 Fällt dieser Journalistin denn überhaupt nicht auf, dass es eine „Gefahr des Verlustes an Menschenleben“ schon in Phase I der Luftangriffe gab (und nach aller Kriegslogik doch bewusst geben sollte) – freilich »nur« für die »anderen«, nicht die »eigenen«?

Krieg, Katastrophe, Rache, Heiliger Krieg, Kommando, Terror, Mörder, Tod und Blutbad lauten die wichtigsten Wörter zwischen dem 12. und 23. September 2001 als Aufmacher auf Seite eins des Kölner Express – Dritter Weltkrieg, Angriff, Terroristen, Mörder und Krieg heißen parallel dazu die Schlagzeilen in der türkischen Hürriyet.

Als der US-amerikanische Außenminister Colin Powell unmittelbar nach dem Anschlag in New York verkündete, Amerika befinde sich „im Krieg“, setzte er eine verhängnisvolle Dynamik in Gang, nicht nur völkerrechtlich und bündnispolitisch, sondern auch psychologisch und medial. Zu sagen, man befände sich „im Krieg“, schafft eine massenmediale Kriegspsychose, schürt die Erwartungshaltung nach einer militärischen Aktion, legitimiert einen Einsatz von Gewalt ohne Wenn und Aber und verleiht den Terroristen eine neuartige Würde. Es gibt ihnen die Legitimität einer »richtigen« Kriegspartei, die sie bislang gar nicht hatten.

Patriotische Rhetorik

Am 11. September 2001 kam der patriotische Journalismus zurück in die USA.

Er kam in der Öffentlichkeit und den Medien, im Fernsehen und in der Presse in der Form von Flaggen, Fähnchen, Girlanden und Feiern, von einander-an-den-Händen-Halten, von Bekundungen, Schwüren und großen Reden, von Emotionen und Tränen, von Schuldzuweisungen und Bezichtigungen. So weit es sich erstens bei diesen Formen um spontane und direkte Reaktionen auf die Terroranschläge handelt, wird man sie nicht kritisieren können und wollen. Reaktionen auf Schocks sind traumatischer Natur und entziehen sich damit einer besserwisserischen Perspektive von Außen. Zweitens muss man bei einer Auseinandersetzung mit dem, was man patriotischen Journalismus nennen könnte, auch das in den USA im Vergleich zu Deutschland völlig andere kulturpolitische Klima von Patriotismus und Nationalismus in Rechnung stellen. Dies vorweg und halb erklärend, halb entschuldigend gesagt, hat der patriotische Selbstvergewisserungs-Journalismus in den USA inzwischen dennoch pathologische Züge angenommen.

Dieser Journalismus kennt nur noch eine Meinung, nämlich die offizielle Meinung der US-Regierung. Es ist ein Journalismus des Entweder-Oder, des Ja oder Nein. Es ist auch ein Journalismus von Zensur und Selbstzensur. Und es ist eine Zeit der Intellektuellen-Hatz, die an die Hetze gegen »unamerikanische Umtriebe« der McCarthy-Jahre erinnert. Der Karikaturist Garry Trudeau zog seine Bush-Karikaturen zurück, Barbara Streisand entfernte von ihrer Homepage Anti-Bush-Sprüche und Susan Sontag musste es sich gefallen lassen, dass man ihr aufgrund ihres kritischen Artikels12 „moralische Verwirrung und gequälte Relativierung“ vorwarf, dass man sie zu den „Amerika-Hassern“ zählte.13

Als »Wir-sind-doch-alle-Amerikaner«-Attitude ist patriotischer Journalismus in spezifischen Ausformungen auch in Deutschland zu beobachten. Hatte Kaiser Wilhelm II. zu Kriegsanfang im August 1914 betont, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch deutsche Brüder, die fest und unerschütterlich in der Sorge um das teure deutsche Vaterland zusammen stünden, so wurde genau dieser Burgfrieden nicht nur zum politischen Credo von Bundeskanzler Gerhard Schröder und noch ausgeprägter von Außenminister Joschka Fischer, sondern vor allem auch von Fernsehen und Presse. Dazu Heribert Prantl, Leiter des innenpolitischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung: „Kritik an der amerikanischen Regierung wäre schon möglich, wird aber zu wenig geübt.“ Er habe noch nie so viel Kritiklosigkeit erlebt, wie in den ersten Wochen nach den Anschlägen. Stattdessen werde „das Wort »Krieg« geradezu lustvoll gebraucht.“14

Patriotischer Journalismus in Deutschland äußerst sich vor allem in einer diffusen Bündnissolidarität mit den USA. Er wird z.B. an einem neuen und zusätzlichen Unternehmensgrundsatz deutlich, den der Axel Springer-Verlag unter dem Eindruck der Terroranschläge beschlossen hat. Alle Mitarbeiter dieses Medienkonzerns müssen in Zukunft schriftlich erklären, dass sie auch mit folgender Vorgabe einverstanden sind, nämlich der „Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und der Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.“ Mit spitzer Feder hält Franziska Augstein der deutschen Regierung und den deutschen Medien entgegen: „Die Bundesregierung nennt es Solidarität, auf dem halben Globus muss es ankommen wie Aftergehorsam. (…) Bei aller Solidarität können die deutschen Politiker (und die deutschen Medien, J.B.) allerdings nicht vermitteln, dass die Politik der Vereinigten Staaten Hand und Fuß hätte. Dazu ist die Rhetorik dieses Krieges gegen den Terror zu wirr und zu beunruhigend.“15

Patriotischer Journalismus kennt keine Abweichungen vom richtigen Weg: Die Äußerung des Modedesigners Wolfgang Joop, er halte die Twin Towers für ein Symbol kapitalistischer Arroganz und er vermisse sie nicht,16 oder die des englischen Kriminalautors John Le Carré, der Tony Blair den „eloquenten weißen Ritter eines heiklen transatlantischen Verhältnisses“ nannte,17 muss man in den deutschen Medien mit der Lupe suchen. Gar in Rotdruck gehaltene Notizen unter der Überschrift „Widersprüchliche Meldungen aus Afghanistan“, also der Rubrik in der Financial Times Deutschland, in der mit dem journalistischen und juristischen Prinzip des »audiatur et altera pars« ernst gemacht wird, weil »feindliche« Nachrichten unkommentiert abgedruckt werden, sind eine allzu rare Ausnahme.

Staatliche Zensur

Was eigentlich ja nur die »Schlechten«, die anderen, tun, ist seit dem 11. September 2001 in den USA Praxis geworden: Staatliche Zensur, zensurähnliche Maßnahmen und bindende Absprachen zwischen privatwirtschaftlich verfassten Medien und staatlichen Behörden gehören ausgerechnet in dem Land zum Medienalltag, in dem traditionellerweise der Meinungsfreiheit höchstrichterlich ein höherer Rang zugeordnet wird als beispielsweise der Menschenwürde.

Folgende Beispiele aus der jüngsten US-amerikanischen Medienpolitik illustrieren verschiedenartige Formen von Zensur, Absprache und politischem Druck:

  • Anfang Oktober 2001 entschlossen sich die sechs größten US-Nachrichtensender zu einer Selbstzensur. ABC News, CBS News, NBC News, MSNBC, Cable News Network und Fox News Channel beugten sich dem Druck der US-amerikanischen Regierung, Videos von Osama Bin Laden und der Terrororganisation Al Qaida nicht mehr in voller Länge und nicht mehr unkommentiert zu senden. Mögliche verbale Hasstiraden auf die USA versprachen diesen sechs Networks zu zensieren.
  • Als explizite Reaktion auf »unpatriotische« Reden von TV-Moderator Bill Maher in der ABC-Talkshow zogen zwei werbetreibende Firmen ihre Werbespots zurück.
  • Mehrere US-amerikanische Zeitungsjournalisten wurden von ihren Verlegern wegen ihrer Kritik an der Kriegsführung der US-Regierung fristlos entlassen.

Solche Formen von Zensur gibt es in Deutschland nicht, aber auch hier überwiegt ein Mainstream-Journalismus als spezifische Form von vorweg genommener Zensur.

Informationelle Repression

Information, Kommunikation und Medien werden in rechtsstaatlich verfassten Demokratien durch zahlreiche Gesetze geregelt: Meinungs- und Pressefreiheit, Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Informationseinsichtrechte, Zeugnisverweigerungsrecht von Journalisten, Brief- und Postgeheimnis – um nur die wichtigsten zu nennen. In Folge der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 und bei proklamiertem Vorrang nationaler Sicherheitsinteressen vor Menschenrechten werden alle informationellen Rechte in vielen westlichen Industrieländern erheblich eingeschränkt, greifen zusätzliche staatliche Repressionsmaßnahmen im gesamten Informationssektor. Dazu einige Beispiele:

  • Offene TV-Kanäle, in den siebziger Jahren als Momente von Bürgerpartizipation eingeführt, werden seit Anfang des Afghanistan-Krieges von den Landesmedienanstalten dann streng beobachtet, wenn es sich um nichtdeutschsprachige Sendungen handelt, besonders um solche in urdu, arabisch und türkisch.
  • Zusätzlich zu den neu vom US-amerikanischen Kongress erlaubten Rechten beim Abhören von Telefongesprächen und dem Mitlesen von E-Mails ist es US-Behörden seit Mitte November 2001 erlaubt, Gespräche zwischen Mandanten und Verteidigern ohne richterliche Genehmigung abzuhören, wenn es begründeten Verdacht dafür gibt, man könne Gewalt oder Terror verhindern.
  • Die in Deutschland beschlossene Erfassung biometrischer Daten (Finger- oder Handabdruck, Gesichtsgeometrie, Augenfarbe, Irismerkmale, dreidimensionale Hologrammfotos) in Ausweispapieren ist verfassungsrechtlich höchst problematisch. Und zwar nicht wegen der zusätzlichen Erfassung eines individuellen Identitätsmerkmals, sondern wegen der damit geschaffenen digitalen Gesamterfassung einer Bevölkerung und den dadurch möglichen digitalen Abgleichsverfahren.

Staatliche Repression stärkt den staatlichen Apparat, nützt nach aller Erfahrung in der Bekämpfung des Terrorismus nichts, gaukelt den Menschen in hoch technisierten Gesellschaften Schutz vor Gefahren und Gewalt vor (die es nicht gibt), schränkt drastisch alle Freiheitsrechte im Informationssektor ein und belässt es nach aller Erfahrung bei den neuen Einschränkungen auch für den Fall, dass der Terrorismus nicht mehr akut ist.

Hollywood und der Afghanistan-Krieg

Von allen dramaturgischen Elementen der gegenwärtigen Medienverarbeitung des Terroranschlags und des darauf folgenden Afghanistankrieges ist dem Kino nichts fremd. Flugzeugangriffe auf Wolkenkratzer, Krieg gegen radikale Muslims in Afghanistan und anti-muslimische Vorurteile: Die Traumfabrik Hollywood kennt alle drei Momente als ideologische Versatzstücke seit Langem.18

»Flammendes Inferno« heißt ein Film-Schocker von 1975, in dem suizidwillige Muslims Passagiermaschinen in das Pentagon und die Türme des World Trade Centers fliegen. In John Frankenheimers »Schwarzer Sonntag« von 1977 setzt eine palästinensische Terroristin einen Piloten unter Druck, einen mit 500 Kilo Plastiksprengstoff geladenen Zeppelin in ein voll besetztes Football-Stadion zu steuern. 1988 folgt im Genre solcher Horrorfilme der »Ausnahmezustand« von Edmund Zwick. Eine Serie von Terroranschlägen fundamentalistischer Islamisten führt zur Verhängung des Kriegsrechts in den USA. Über die Brooklyn-Bridge rollen Panzer – arabische Amerikaner werden in Lagern interniert. Und in dem Film »Die Hard« (»Jetzt erst recht«) von 1995 wird nach einem Bombenattentat der gesamte Stadtteil Manhattan abgeriegelt. In »Independence Day« des deutschen Regisseurs Roland Emmerich bedrohen Außerirdische das World Trade Center, und das Weiße Haus geht in Flammen auf. Und kurz vor dem 11. September 2001 stellt der deutsche Filmregisseur Joachim Grüninger einen Werbefilm für Telegate fertig, in dem sich ein Passagierflugzeug durch das Billboard eines Wolkenkratzers bohrt.

Und seit wann gibt es (in den nördlichen Industrieländern) Afghanistan als Filmmotiv? Als monumentale Gebirgskulisse mit wild-grimmigen Menschen taucht Afghanistan im »Hauptmann von Peshawar« von 1953 auf und in »Der Mann, der König sein wollte«, eine Kipling-Version von 1975. Spannender im gegenwärtigen Kontext ist freilich »Rambo III« mit Sylvester Stallone von 1987. John Rambo hilft hier afghanischen Pferde-Kriegern gegen die russischen Invasoren, indem er deren Festungen sprengt und pralle Wodkabäuche von Iwans vor der Kamera platzen lässt.

Über das hier nur skizzierte Zusammengehen von Hollywood und Politik, Film und Regierung, Wirklichkeit und Phantasie kann sich höchstens ein Laie wundern. Gerade die Symbiose von Hollywood und Pentagon ist der Kommunikationsforschung gut bekannt und bestens dokumentiert. Allein zwischen 1940 und dem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941, also in nur wenigen Monaten, produzierte Hollywood fast 40 Filme über den Krieg in Europa. Und genau an diese erfolgreiche Zusammenarbeit will die gegenwärtige US-amerikanische Regierung anknüpfen. Anfang November 2001 versammelten sich in Los Angeles auf Initiative der Regierung Bush und unter Schirmherrschaft der Motion Picture Association 50 Vertreter der Film- und TV-Studios, um eine Unterstützungskampagne für die Regierung zu planen. Dabei geht es um Werbe- und Unterhaltungsfilme und um Live-Auftritte von Unterhaltungskünstlern vor Soldaten.

Resümee

Wegen schwerer völkerrechtlicher und politischer Legitimationsmängel ist der Medienkrieg um Afghanistan so intensiv, gibt es anti-islamische Feindbilder, herrschen binär gehaltene Sichtweisen von Gut und Böse vor, gibt es Zensur, Lüge, Propaganda, Verkürzungen, Glorifizierungen und insbesondere eine mediale Kriegs- und Gewaltrhetorik, eine distanzlose Patriotismus- und Bündnisrhetorik, die erschreckend ist und öffentlich kaum bewusst wird, geschweige dass sie etwa mit der Schärfe eines Karl Kraus aufgespießt und kritisiert würden.

Was also bleibt zu tun?

Beantwortet man diese Frage mit dem anlässlich des ersten afghanisch-britischen Krieges von 1842 entstandenen Gedicht »Das Trauerspiel von Afghanistan« (1848) des deutschen Schriftstellers, Journalisten und Kriegsberichterstatters Theodor Fontane, dann bleibt die Zukunft duster. Alle 13.000 britischen Soldaten kamen am Khyber-Pass 1842 ums Leben und Fontane schließt sein Gedicht mit folgenden Zeilen: „Die hören sollen, sie hören nicht mehr, vernichtet ist das ganze Heer, mit dreizehntausend der Zug begann, einer kam heim aus Afghanistan.“

Man kann diese Frage aber auch mit dem Zitat eines anderen deutschen Dichters beantworten, mit Günter Grass: „Ich habe meine Zweifel, ob der Westen die Kraft aufbringt (…) sich wirklich globale Gedanken zu machen und die Dritte Welt als gleichberechtigt miteinzubeziehen. Wenn man es täte, wäre es ein entscheidender Schritt, um dem vorhandenen Terrorismus auf Dauer das Wasser abzugraben, ihn auszudörren.“19

Anmerkungen

1) Vgl. Arquilla, John und Ronfeldt, David: Der Cyberkieg kommt!, in: Stocker, Gerfried und Schöpf, Christine (Hg.): Information.Macht.Krieg. Ars Electronica 98, Wien: Springer 1998, S. 24-56.

2) Vgl. Soueif, Ahdaf: Special report: terrorism in the US, in: Guardian, 15. September 2001.

3) Vgl. Singer, David J.: Soviet and American Foreign Policy Attitudes: Content Analysis of Elite Articulations, in: Journal of Conflict Resolution, 1964, S. 424-485.

4) Bush, George W.: Entweder Ihr seid für uns, oder Ihr seid für die Terroristen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. September 2001, S. 8.

5) Schröder, Gerhard: Solidarität mit den Menschen in den USA, in: Das Parlament, 21. September 2001, S. 11.

6) Zit. nach Precht, Richard David: Die deutsche Betroffenheit. Kommentar in der Sendereihe »Kritisches Tagebuch« von WDR 3, 13. September 2001. 7.

7) Zit. nach Clasmann, Anne-Beatrice: Bin Laden und sein Freund-Feind-Schema, in: Solinger Tageblatt, 5. November 2001, S. 2.

8) Roy, Arundhati: Terror ist nur ein Symptom. Ein Kontinent brennt. Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28 September 2001, S. 49.

9) Duve, Freimut: Das Ende der Vielfalt. Die Anti-Terror-Allianz als Risiko für die Pressefreiheit, in: Frankfurter Rundschau, 12. Oktober 2001, S. 23.

10) Nitschmann, Johannes: Journalistischer Ausnahmezustand, in: Menschen-Machen-Medien, Nr. 10/2001, S. 6.

11) Chwallek, Gabriele: Erst Phase II birgt echte Risiken, in: Wiesbadener Kurier, 12. Oktober 2001, S. 1.

12) Vgl. Sontag, Susan: Amerika unter Schock: Die falsche Einstimmigkeit der Kommentare, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. September 2001, S. 45.

13) Vgl. Schmitt, Uwe: Das fragwürdige Recht der Kritik an der Regierung. Einige US-Intellektuelle haben sich dem patriotischen Imperativ verweigert und werden dafür von allen Seiten scharf angegriffen, in: Die Welt, 2. Oktober 2001, S. 6.

14) Zit. nach Moorstedt, Tobias und Schrenk, Jakob: Nur noch eine Meinung auf der Welt, in: die tageszeitung, 3./4. November 2001, S. 17.

15) Augstein, Franziska: Teure Treue. Bündnissolidarität oder: Hauptsache, wir machen mit, in: Süddeutsche Zeitung, 15. November 2001, S. 15.

16) Vgl. N.N.: Joop vermisst Twin Towers nicht, in: Solinger Tageblatt, 16. Oktober 2001, S. 10.

17) Vgl. N.N.: Gegen den Krieg in Afghanistan, in: Rheinische Post, 18. Oktober 2001.

18) Ich danke an dieser Stelle Rolf Giesen vom Berliner Filmmuseum, der mir sein noch unveröffentlichtes Manuskript »Flammendes Inferno« von Anfang November 2001 zur Verfügung stellte.

19) Grass, Günter: Der Westen muss sich endlich fragen, was er falsch gemacht hat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Oktober 2001, S. 45.

Dr. Jörg Becker ist Honorarprofessor für Politikwissenschaft ab der Universität Marburg und Geschäftsführer des KomTech-Instituts für Kommunikations- und Technologieforschung in Solingen