Lernen aus dem Scheitern

Lernen aus dem Scheitern

Ist der Bund bereit, »Lehren aus Afghanistan« zu ziehen?

von Conrad Schetter

In zwanzig Jahren deutscher Beteiligung an der Intervention in Afghanistan gab es aus dem politischen Raum nur äußerst spärlich Stellungnahmen zur Situation: Hin und wieder ein Fortschrittsbericht zu Afghanistan, beeindruckende Zahlen über den Bau von Straßen, die Alphabetisierung von Kindern oder die verbesserte Wasserversorgung. Selbstkritik gab es kaum.

30 Monate nach der Rückkehr der Taliban und dem Scheitern der Intervention jedoch überschlagen sich nun Bundesregierung und Bundestag mit zerknirschter Selbstkritik: Ende 2023 erschien die ressortgemeinsame Evaluation von Auswärtigem Amt, BMZ und BMI. Ende Februar 2024 veröffentlichte die Enquete-Kommission »Lehren aus Afghanistan für das zukünftige vernetzte Engagement Deutschlands« ihren Zwischenbericht. Auf insgesamt fast 900 Seiten zeichnen Evaluation und Enquete ein verheerendes Bild des Scheiterns in Afghanistan minutiös nach.

Positiv muss man hervorheben, dass sich mit Evaluation und Enquete der politische Raum seiner Verantwortung stellt, und in Afghanistan gemachte Fehler schonungslos offengelegt werden. Das ist bemerkenswert und Zeichen einer lebendigen demokratischen Kultur. Dass das Verteidigungsministerium sich an der Evaluation nicht beteiligte und damit die Antwort schuldig bleibt, inwiefern es bereit ist, aus Afghanistan lernen zu wollen, ist eine verpasste Chance.

Die Berichte verdeutlichen eindrücklich, was in 20 Jahren Afghanistanpolitik schief lief: Der politische Apparat zeigte kaum Interesse daran, Afghanistan zu verstehen; gesellschaftliche wie politische Kontexte wurden in Zielsetzungen des Einsatzes kaum berücksichtigt. Das Wünschenswerte bestimmte die Agenda, nicht das Machbare. Die Liste des Versagens ist lang. Interessant ist vor allem, dass gerade bei den Anhörungen in der Enquete-Kommission der Eindruck entstand, dass die politischen Entscheidungsträger*innen genau zu wissen schienen, was in Afghanistan schief lief und letztlich von der Bilanzierung des Scheiterns nicht überrascht waren. Alle schienen von den Missständen der Intervention zu wissen, aber vermittelten nach außen hin stets ein anderes Bild.

Worauf auch Zwischenbericht und Evaluationsberichte keine Antwort haben: Weshalb setzte sich dieses Versagen über ganze 20 Jahre hinweg fort – ohne dass kritische Stimmen erhoben wurden; ohne dass sich in den Ministerien eine Fehlerkultur etablierte; ohne dass Anpassungen vorgenommen wurden. Alle wussten, dass sich die Intervention in Afghanistan auf den Abgrund zu bewegte; alle sahen geradezu gelähmt zu, aber niemand ergriff Gegenmaßnahmen. Weder forderte der Bundestag – wie es etwa das niederländische Parlament tat – Zwischenevaluationen, von denen er seine Zustimmung zu einer Mandatsverlängerung hätte abhängig machen können; noch gab es Reporting- und Kommunikationsschleifen in den Ministerien, die die ungeschönte Weitergabe von kritischen Einschätzungen über die verschiedenen Hierarchien in den Ministerien bis hin zu Minister*in und Kanzler*in ermöglicht hätten. Dies ist der eigentliche, unausgesprochene Befund der nun vorliegenden Berichte, der einen vor Schreck erstarren lässt. Denn er wirft ein ganz grundsätzliches Schlaglicht auf das Versagen der deutschen Politik im Umgang mit Fehlentwicklungen.

Viele der Vorschläge in den jetzt vorliegenden Berichten zum »Lernen aus Afghanistan« sind gut, aber nicht neu – und sie gehen allesamt nicht die Frage an, wie eine andere Fehlerkultur in den politischen Apparaten etabliert werden kann und wie bei eklatanten Fehlentwicklungen gegengesteuert werden kann. So verwundert es nicht, dass sich schon die ersten Stimmen in den Ministerien erheben, die Afghanistan als einen einmaligen Vorgang bezeichnen, der sich nicht wiederholen wird. Af­ghanistan erscheint so als ein Unfall. Diese Bewertung ist praktisch. Denn man kann dann an den bestehenden Grundfesten der politischen Praxis festhalten. Doch genau hier liegt der Fehler. Wenn es eine Lehre gibt, so ist es diese: Eine nachgängige Analyse kann einen angerichteten Schaden nicht wieder gut machen.

Das Plädoyer ist daher ein Einfaches. Aufgrund der Begrenztheit des institutionellen Lernens von Ministerien und Parlament bedarf es einer kritisch-konstruktiven Beratung und Kontrolle von Außen. Konkret sollte jeder Auslandseinsatz von Beginn an von einer unabhängigen Expert*innenkommission begleitet werden, um Fehlentwicklungen im Einsatz frühzeitig zu erkennen und zu analysieren, um politische Entscheidungsträger*innen auf allen Ebenen zu beraten und um die Arbeit der Ministerien zu überwachen. Vielleicht ringt sich ja die Enquete-Kommission am Ende zu solch einer Empfehlung durch; vielleicht ist dies aber auch nicht nötig, da die Ministerien doch weit selbstkritischer sind, als ich hier angemerkt habe, und in ihren Häusern robuste Mechanismen einer Fehlerkultur einführen. Das wäre die wünschenswerteste Lehre aus Afghanistan.

Conrad Schetter ist Direktor des Bonner Zentrums für Konfliktforschung bicc und arbeitet seit vielen Jahren u.a. zu Räumen der Gewalt in Afghanistan.

Bilanz eines Desasters

Bilanz eines Desasters

Zum Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan

von Matin Baraki

Trotz 20 Jahren Krieg ist es den USA und ihren NATO-Verbündeten nicht gelungen, die Taliban zu besiegen. Die USA mussten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren. Damit ist auch die Greater Middle East-Strategie der Neokonservativen an den Bergen des Hindukusch sprichwörtlich zerschellt. Der Autor zieht Bilanz und wirft einen vorsichtigen Blick auf das, was kommt.

Trotz 20 Jahren Krieg ist es den USA und ihren NATO-Verbündeten nicht gelungen, selbst unter Einsatz von bis zu 150.000 Soldat­*innen, die Taliban zu besiegen. Die USA mussten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren. Damit ist auch die Greater Middle East-Strategie der Neokonservativen an den Bergen des Hindukusch sprichwörtlich zerschellt. Erst unter dieser Einsicht haben die USA jahrelang geheim und zwei Jahre offiziös mit den Taliban in Doha, Katar, verhandelt und im ­Februar 2020 ein Abkommen unterzeichnet. Darin verpflichteten sich die USA, ihre Soldat*innen bis Ende April 2021 aus Afghanistan abzuziehen. Damit zogen die Taliban die USA buchstäblich diplomatisch über den Tisch und deren Kapitulation wurde vertraglich besiegelt. Als Trost haben die Taliban
„in einem geheimen Anhang des US-Taliban-Abkommens vom Februar 2020 [zugesagt], die ausländischen Militärbasen vor Angriffen anderer militanter Gruppen schützen“1 zu wollen, wozu sie kaum in der Lage sind. Dennoch wollte der Verhandlungsführer der Taliban, Sher Mohammad Abbas Stanikzai, im Januar 2021den Eindruck erwecken, „einer ausländischen Invasorentruppe freies Geleit“2 zu gewähren.

Abgang einer Großmacht

Der neue US-Präsident Joe Biden hatte zunächst den vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump festgelegten Rückzug bis Ende April 2021 in Frage gestellt und kurz nach seiner Amtsübernahme eine Prüfung des Abkommens angeordnet.

Die Taliban bestanden aber darauf, dass die USA sich an das Abkommen vom Februar 2020 zu halten haben. Der Sprecher der Islamisten meldete per Twitter, wenn sich die Biden-Administration nicht an das geschlossene Abkommen hielte, würden „die Probleme dadurch gewiss verstärkt, und diejenigen, die sich nicht an das Abkommen gehalten haben, werden dafür zur Verantwortung gezogen“.3 Wie jedes Jahr haben die Taliban ihre Frühjahrsoffensive angekündigt, um damit in diesem Jahr die USA und die NATO zum Rückzug zu zwingen. Das wäre eine faktische Vertreibung der Weltmacht vom Hindukusch, und ein geordneter Rückzug der US- und NATO-Einheiten aus Afghanistan wäre kaum noch möglich. Es drohe, mehr nach Flucht auszusehen“4, sagte die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Genau dieses Szenario wollen die USA auf jeden Fall vermeiden. Ein zweites Saigon darf es nicht geben.

US-Präsident Biden musste nolens volens einsehen, dass die USA in Afgha­nistan keine Perspektive mehr haben und gab am 13. April 2021 den Rückzug seiner Soldat*innen für September 2021 bekannt, wie die Washington Post meldete. Bis zum 11. September müssen alle US-Einheiten bedingungslos5 und ohne eine Gegenleistung seitens der Taliban vom Hindukusch abgezogen sein. „Es ist an der Zeit, den längsten Krieg Amerikas zu beenden. Es ist Zeit, dass die amerikanischen Soldaten nach Hause kommen“6, hob Präsident Biden hervor. Er wies darauf hin, dass er der vierte Präsident sei, in dessen Amtszeit die US-Einheiten in Afghanistan Krieg führen. „Ich werde diese Verantwortung nicht an einen fünften übergeben.“7 Es sei kaum möglich, betonte Biden, den Kriegseinsatz in die Länge zu ziehen, „in der Hoffnung, dass irgendwann die Umstände für einen idealen Rückzug vorliegen.8 Dafür werde es niemals ideale Bedingungen geben. So kann auch ein Verlierer seine Niederlage tröstlich artikulieren. „Die Niederlage des Westens ist so umfassend, dass sich die Taliban nicht einmal zum Schein an Friedensgesprächen beteiligen müssen. Die ausländischen Streitkräfte ziehen nun nahezu Hals über Kopf ab.9 Eine Abschiedszeremonie für die 10.000 NATO- und davon 1.100 Bundeswehrsoldat*innen war nicht vorgesehen.10 Ab dem 1. Mai 2021 begann offiziell der Rückzug der NATO-Einheiten aus Afghanistan. Was passiert mit den ausländischen Söldner*innen, die im Auftrage des US-Geheimdienstes CIA und anderer Geheimdienste der NATO-Länder in Afghanistan im Einsatz sind? Assadullah Walwalgi, ein Experte für Militärfragen in Kabul, ging 2010 von rund 40.000 Söldner*innen aus, die bei etwa 50 verschiedenen, überwiegend US-Militärfirmen unter Vertrag standen,11 die die „Drecksarbeiten erledigen“.12 Von deren Ab- und Rückzug ist bis jetzt keine Rede.

Abzug des deutschen Bündnispartners

Auch für deutsche Truppen ist der Einsatz zu Ende: „Wir dürfen auch nicht vergessen: es war nicht zuletzt Deutschland, das 2002 die NATO gedrängt hat, Afghanistan zu einer NATO-Operation zu machen. Das ist die Regierung Schröder/Fischer gewesen“13, erklärte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann. Das militärische »Engagement« Deutschlands am Hindukusch war der Türöffner für künftige weltweite Operationen der Bundeswehr. Die Bundesrepublik Deutschland hatte in ihrem 20 Jahre andauernden militärischen »Engagement« am Hindukusch insgesamt 160.000, zuletzt 1.100 Soldaten im Kampfeinsatz. Das haben 59 Soldat*innen mit ihrem Leben bezahlt.14 Dieser Bundeswehreinsatz hat seit 2001 mehr als 12 Mrd. € gekostet.

Trotz der finanziellen und menschlichen Verluste ist der jetzige Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) der Ansicht: „Es ist nicht umsonst gewesen“15 und kündigte ein weiteres politisches und finanzielles Engagement Deutschlands am Hindukusch an. „Der Friedensprozess braucht einen neuen diplomatischen Push“16, meinte Maas. Für das laufende Jahr hat die BRD 430 Mio. € „und für die Jahre bis 2024 die gleiche Summe in Aussicht gestellt.“17 Aber die Auszahlung wird davon abhängig gemacht, wie sich der »Friedensprozess« zwischen den Vertreter*innen der Kabuler Administration und der Taliban entwickeln werde. Ob die Bundesregierung auch mit einer Taliban-Regierung zusammenarbeiten würde, wird nicht eindeutig erklärt.

Geopolitische Verschiebungen

Mittlerweile ist ersichtlich, dass es der US-Imperialmacht in Afghanistan von Anfang an weder um Frauen- noch um Menschenrechte, geschweige denn um Afghanistan an sich gegangen, sondern es steht zu vermuten, dass es ihr nur um ihre strategischen Interessen in der Region, um die Umzingelung der Russischen Föderation und um einen Regimewechsel in Iran ging. Das Land am Hindukusch wurde von den USA für zwanzig Jahre zu ihrem »unsinkbaren Flugzeugträger« gemacht. Mittlerweile haben sich aber die Rahmenbedingungen geändert und damit die geopolitischen Prioritäten der US-Strategie. In absehbarer Zeit wird die VR China mit den USA ökonomisch, aber auch militärisch mindestens gleichziehen können. Ende 2017 wurde die VR China in der »Nationalen Sicherheitsstrategie« der USA als
„strategischer Rivale“ eingestuft.18 Die USA werden versuchen, die VR China militärisch zu umzingeln und den Aufstieg des Landes zu einer künftigen Weltmacht mindestens zu verzögern. Schon der ehemalige US-Präsident Barack Obama und dessen Vize Joe Biden hatten im November 2011 das Pazifische Jahrhundert unter Führung der Vereinigten Staaten ausgerufen. Diese Strategie ist eindeutig gegen die VR China gerichtet. Für die Realisierung dieser Option haben die USA bereits regionale Militärbündnisse mit Japan, Südkorea, Australien, Philippinen, Thailand, Singapur, Vietnam, Malaysia, Indonesien und der Atommacht Indien geschmiedet. Der regionale Konflikt um das Südchinesische Meer, von dem die VR China 80 % für sich beansprucht und sogar schon einzelne Inseln besetzt hat, wobei sie sich auf bis zweitausend Jahre zurückreichende historische Argumente beruft, könnte von den USA als Hebel für einen größeren Konflikt mit China instrumentalisiert werden. Afgha­nistan ist vorläufig abgeschrieben. Die USA wollen ihre Kräfte auf die künftig wichtige geostrategische Region konzentrieren und das ist die Region des pazifischen Ozeans.

Bilanz eines Desasters

Zwanzig Jahre US- und NATO-Krieg haben in Afghanistan Verheerungen angerichtet. „Die hehren Ansprüche von einst, die Stabilisierung und Demokratisierung des Landes, sind vergessen. Und die Bilanz ist eine Schmach für die Supermacht, die gewiss nachwirken wird: Mehr als 2.000 Amerikaner haben am Hindukusch ihr Leben verloren. Hinzu kommen mindestens 100.000 tote afghanische Zivilisten.“19 Nach Zählungen der afgha­nischen und der US-Regierung sowie der UNO sollen seit 2001 ca. 160.000 Menschen ums Leben gekommen sein.20 Darüber hinaus wurden „66.000 afghanische Sicherheitskräfte, viertausend internationale Soldaten und 80.000 Islamisten“21 getötet. Hinzu kommt noch, dass durch die Zusammenarbeit und direkte Unterstützung der Warlords durch die NATO-Länder, Korruption, Vetternwirtschaft, ethnische Fragmentierung, Drogenanbau und -handel sowie Machtdemonstrationen bis hin zu Entführungen an der Tagesordnung waren.

Der gesamte Staatsapparat, von der Judikative über die Exekutive bis hin zur Legislative, sowie die Sicherheitsorgane sind von Korruption durchdrungen. Natürlich konnten Mädchen in den letzten Jahren die Schule besuchen, aber die Absolventinnen finden kaum eine Arbeit. Die Elite hat längst ihre Dollars auf Banken in Dubai transferiert und sitzt nun auf gepackten Koffern. Wer kann, verlässt das Land. Schon 2020 haben „mehr als dreihundert Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben oder ganz das Land verlassen.22

Es bleibt das traurige Ergebnis: „Das Risiko ist groß, dass die Taliban nach dem Abzug der USA wieder die Macht in Af­ghanistan an sich reißen wollen. Die USA tragen eine große Verantwortung für diese Entwicklung. Die Invasion vor 20 Jahren basierte auf falschen Erwartungen. Ein stabiles und demokratisches Afghanistan bleibt vermutlich eine Utopie“23, wie die schwedische Zeitung Skånska Dagbladet konstatierte.

Was wird aus Afghanistan?

Anfang 2021 warnten vom US-Kongress eingesetzte Expert*innen der Afghanistan Study Group, dass ein unüberlegter Abzug zum ‚Kollaps‘ in Afghanistan führen“24 würde. Eine solche „Perspektive ist ein Desaster für die USA und ihre Verbündeten in Berlin, London und Paris.“25 Das Rückzugsdatum der US- und NATO-Einheiten steht nun fest. Wozu sollten die Taliban überhaupt noch mit der Kabuler Seite verhandeln? Sie „müssen nur ein paar Monate warten, ehe sie zum Sturm auf Kabul blasen“.26 Das ist ein faktischer Beleg für „das Scheiterns des Westens in diesem Krieg“27 am Hindukusch.

Doch was sind die Optionen für Af­ghanistan nach dem Abzug der Truppen? Vermutlich bieten sich folgende Szenarien an:

  • Alleinherrschaft: Unmittelbar nach dem Rückzug der NATO-Einheiten könnte die politische und militärische Elite Afghanistans die Flucht ergreifen, lieber ein ruhiges und schönes Leben im Exil bevorzugen, als sich auf einen erneuten Krieg mit den Taliban einzulassen; dann wären die Taliban die alleinigen Herrscher des Landes, wie schon ab 1996.
  • Transformation: Würde es der US-­Administration gelingen, mit vielseitigen finanziellen und entwicklungspolitischen Angeboten die Taliban für eine Koalitionsregierung mit der Kabuler Administration zu gewinnen, könnte eine für ­afghanische Verhältnisse relativ reibungslose Transformation stattfinden.
  • Bürgerkrieg: Gelingt dies nicht, würde es sehr wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg wie 1992 kommen, als Kabul weitgehend zerstört wurde und über 50.000 Menschen ums Leben kamen.

Angesichts der drohenden Umstände wäre meines Erachtens unbedingt der Einsatz einer UN-Blauhelmtruppe notwendig, bestehend aus den Blockfreien Staaten und der Organisation der Islamischen Staaten, die die NATO-Einheiten ablösen und ausnahmsweise mit einem robusten Mandat ausgestattet werden sollte, um für eine Übergangsphase bis zu einer Stabilisierung der innerafghanischen Verhältnisse dafür zu sorgen, dass die Gewalt nicht überhand nimmt.

Anmerkungen

1) Meier, C. (2021): Die NATO zieht ab, die Taliban greifen an. FAZ, 3.5.2021, S. 5.

2) Meier, C. (2021): Was wollen die Taliban?, in: FAZ, 30.4.2021, S. 3.

3) Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

4) Früherer Afghanistan-Abzug?, in: FAZ; 22.4.2021, S. 5.

5) Vgl. Gutschker, Th. (2021): Bedingungsloser Abzug, in: FAZ, 16.4.2021, S. 1.

6) Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

7) Brössler, D.l/Kolb, M. (2021): Wenn einer geht, gehen alle, in: SZ, 15.4.2021, S. 7.

8) Ebd.

9) Carstens, P. (2021): Eine Abschiedsfeier ist nicht geplant, in: FAZ, 24.4.2021, S. 8; Die USA hatten die Taliban für den 24. April 2021 zu einer Friedenskonferenz nach Istanbul eingeladen. Die Islamisten hatten daran kein Interesse und lehnten eine Beteiligung ab.

10) Vgl. Carstens (2021); Rückkehr im Juli statt September, in: SZ, 22.4.2021, S. 5.

11) Vgl. Gerner, M. (2010): Das Geschäft mit der Sicherheit, in: Der Tagesspiegel, 28.10.2010; Michelis, H. (2010): Afghanistan – Krieg der Söldner: in, Rheinische Post, 18.11.2010.:

12) Heilig, R. (2021): Von Lügen getragen, in: Neues Deutschland (ND), 17./18.4.2021, S. 4.

13) Naumann, K., Deutschlandfunk-Interview, 2.7.2009 (Typoskript).

14) Vgl. Brössler, D. (2021): „Es ist nicht umsonst gewesen“, in: SZ, 30.4.-2.5.2021, S. 10.

15) Ebd.

16) Maas sichert Afghanistan weitere Hilfe zu, in: FAZ, 30.4.2021, S. 1.

17) Brössler (2021)

18) US Department of Defense (2017): Summary of the 2018 National Defense Strategy of the United States of America: Sharpening the American Military’s Competitive Edge. S. 1.

19) Gutschker, Th., et al (2021): Augen zu und raus, in: FAZ, 15.4.2021, S. 3.

20) Vgl. Matern, T. (2021a): Die Truppen gehen, die Angst bleibt, in: SZ, 19.4.2021, S. 7.

21) Wiele, J.: Ein Trauerfall, in: FAZ, 17.4.2021, S. 11.

22) Ebd.

23) Skånska Dagbladet, Malmö, Schweden, 10.5.2021.

24) Brössler/Kolb (2021)

25) Matern, T. (2021b): Der Krieg bleibt, in: SZ, 15.4.2021, S. 4.

26) Frankenberger, K. (2021): Nach zwanzig Jahren, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

27) Matern, T. (2021c): Schadensbegrenzung, in: SZ, 30.3.2021, S. 4.

Dr. phil Matin Baraki ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung der ­Philipps-Universität Marburg.

Dieser Artikel ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen als: „L’Afghanistan deviendra-t-il le Vietnam version 2?“ In: Horizons et débats 14, 2021, S. 6-8.

Vergesst die Frauen Afghanistans nicht


Vergesst die Frauen Afghanistans nicht

von Farkhondeh Akbari

Als ich 2010 in einem Kleinbus von Daikundi nach Kabul unterwegs war, saß ein zerbrechlich wirkender alter Mann mit seiner jungen Tochter vor mir. Als ich ihn nach dem Grund für ihre Fahrt fragte, antwortete er, er habe sein größtes Vermögen, eine Kuh, verkauft, um die Ausbildung für seine Tochter in Kabul zu finanzieren.

Fast zwanzig Jahre nach dem Beginn der von den USA geführten Intervention in Afghanistan hält das Land immer noch einen traurigen Rekord: Es ist der schlimmste Ort für Frauen. Das große Versprechen der „Befreiung der afghanischen Frauen” scheint zur Leerformel verkommen zu sein. Dabei lag doch gerade darin die vielleicht einzige menschenwürdige Vorstellung des »Krieg gegen den Terror« (»War on Terror«): Mit der Ablösung des Taliban-Regimes sollte auch seine tief wurzelnde Geschlechterdiskriminierung beseitigt werden. Heute, wo sich regionale und internationale Akteure um einen Friedensprozess mit den Taliban bemühen, scheint die Notlage der afghanischen Frauen jedoch höchstens eine Fußnote wert zu sein.

Als sich die Delegationen der Islamischen Republik Afghanistan und der Bewegung der Taliban im März im Rahmen der Friedensbemühungen in Moskau trafen, war Habiba Sarabi die einzige Frau im Raum – als Vertreterin der Frauen in Afghanistan. Das gibt einen Eindruck davon, wie wenig bisher in Sachen Frauenrechte erreicht wurde.

Was die afghanischen Frauen im Kampf für Gleichberechtigung bisher erreichen konnten, bleibt fragil, auch weil die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft nach der Intervention auf diesem Gebiet wenig effektiv und begrenzt geblieben sind. Am wichtigsten sind bisher zweifelsfrei die Aufnahme des Gleichheitsgrundsatzes in die neue Verfassung und die Vertretung der Frauen im Parlament durch eine Quotenregelung. Das neue Abkommen zwischen den USA und den Taliban gibt aber Anlass zur Sorge für die afghanischen Frauen, denn mit der Rückkehr der Taliban an die Macht wird es gleichzeitig unsicherer, ob die erreichte Anerkennung der Frauenrechte Bestand haben wird. Ein Friedensabkommen mit den Taliban könnte die ohnehin begrenzten Errungenschaften und den Handlungsspielraum für Frauen wieder in Frage stellen, da die Taliban ihre extrem patriarchale Einstellung gegenüber Frauen nicht verändert haben.

Deshalb wird die entscheidende Frage für die Frauen in Afghanistan sein, wie sie sich vor Ort miteinander organisieren können, um die Verteidigung ihrer Rechte selbst in die Hand zu nehmen, wenn bald der Rückzug der (begrenzten) internationalen Hilfe zu erwarten ist.

Die Ausgangsposition dafür wäre besser, wenn die internationalen und nationalen Bemühungen für Frauenrechte substanzieller gewesen und organischer mit den kulturellen Wurzeln in Afghanistan verbunden worden wären. Stattdessen wurden Milliarden Dollar in oft zweifelhafte Programme eines sogenannten »capacity building« oder »empowerment« gesteckt. Die meisten dieser Projekte richteten sich darüber hinaus auch nicht an die Frauen im ländlichen Afghanistan, es profitierten vielmehr die urbanen Eliten, Gelder versickerten in Korruptionskanälen.

Die afghanischen Frauen haben noch einen langen und einsamen Pfad vor sich im Kampf für ihre Rechte: konkret dem Recht auf Bildung, auf Arbeit und politische Teilhabe. Hinter diesen Forderungen müssen sich die Frauen im ganzen Land zusammenschließen und auf ihre landesweite Durchsetzung pochen.

Es besteht die Chance, dass eine solche Mobilisierung die urbanen und ländlichen Schichten und die verschiedenen ethnischen sowie religiösen Gruppierungen zusammenbringen könnte.

Der Friedensprozess mit den Taliban sollte sich deshalb weniger bei der Anzahl der teilnehmenden Frauen aufhalten, sondern eher dazu genutzt werden, einen landesweiten Konsens für die Rechte aller Frauen auf Bildung und Arbeit zu erreichen.

So bedeutsam ein politisches Abkommen mit den Taliban auch sein wird, ohne wirklich bedeutsame Anstrengungen für den Schutz von Frauenrechten wird es keinen nachhaltigen Weg vom Krieg zum Frieden für Afghanistan geben.

Wenn die Taliban als politische Akteure anerkannt werden, müssen sie von der internationalen Gemeinschaft auch für die Verletzung von Frauenrechten zur Verantwortung gezogen werden. Die internationale Gemeinschaft hat eine Verantwortung, den Kampf der afghanischen Frauen zu unterstützen.

Farkhondeh Akbari ist Doktorandin an der Australian National University. Sie forscht über Friedensschlüsse mit nichtstaatlichen, bewaffneten Akteuren wie den Roten Khmer in Kambodscha und den Taliban in Afghanistan.

Aus dem Englischen übersetzt von Corinna Hauswedell.

20 Jahre Krieg


20 Jahre Krieg

von Jürgen Nieth

Bis zum 9. September – dem 20. Jahrestag der Terrorangriffe auf die Twin-Towers und das Pentagon – sollen alle US-Soldat*innen Afghanistan verlassen haben. Bedingungslos, denn wenn „die US-Soldaten nur dann gehen, wenn irgendein Ergebnis dauerhaft abgesichert ist, gehen sie nie – so Bidens Überzeugung.“ (Bernd Pickert, taz, 15.04.21, S. 3) Noch im März diesen Jahres hatte der Bundestag das Bundeswehrmandat bis Januar 2022 verlängert, jetzt sollen auch die 1.100 deutschen Soldaten und Soldatinnen bis spätestens Mitte August Afghanistan verlassen.

Kriegsbilanz

„Fast 160.000 [deutsche] Soldatinnen und Soldaten sind inzwischen am Hindukusch gewesen, 59 dort gestorben.“ (SZ, 16.04.21, S. 7). Militär und Politik gedenken regelmäßig der eigenen Toten. Eine andere Dimension wird in einem Wikipedia-Artikel zum Afghanistankrieg deutlich. Danach starben rund 3.500 Soldat*innen der sogenannten Koalition, rund 3.500 Angestellte privater Sicherheitsunternehmen und etwa 64.000 afghanische Sicherheitskräfte. Die Zahl der getöteten Taliban und Al-Kaida-Kämpfer ist ähnlich hoch und liegt geschätzt zwischen 69.000 und 74.000. Zivile Tote habe es bis November 2019 etwa 43.000 gegeben. Nicht eingerechnet auf allen Seiten diejenigen, die verletzt und traumatisiert wurden oder Afghan*innen, die auf der Flucht starben.“ (zitiert nach nd, 16.04.21, S. 8) „Die Gesamtkosten [des Krieges] werden auf rund 2 Billionen Dollar geschätzt.“ (taz, 15.04.21, S. 3.) Fast 20 Mrd. € schlagen bei der Bundeswehr zusätzlich zu Buche.

Im Spiegel (17.04.21, S. 74) zieht Christoph Reuter eine vernichtende Bilanz. Für ihn offenbart der „angekündigte US-Truppenabzug aus Afghanistan […] einen jahrelangen Selbstbetrug.“ Eine gescheiterte Invasion wurde als Erfolg verkauft, der sie spätestens seit 2005 nicht mehr war. Mit Militärs und Milliarden aus dem Westen wurden Regierungen in Kabul gepäppelt, die nie auch nur den Versuch unternahmen, aus eigener Kraft zu regieren; wurden Streitkräfte aufgebaut, deren Offiziere bis heute die Munition ihrer Truppen verkaufen und den Taliban alleine nicht gewachsen wären.“

Annegret Kramp-Karrenbauer findet trotzdem etwas Positives: „Wir haben es immerhin geschafft, die Taliban 20 Jahre von der Regierung fernzuhalten.“ (Andreas Arens in TV, 20.04.21, S. 5) Für den Kommandeur des deutschen Afghanistan-Kontingents Ansgar Meyer hat der Einsatz „die Bundeswehr fundamental verändert. Sie ist erwachsener geworden. Sie […] (hat) erlebt, was Krieg wirklich ist.“ (FAZ, 15.04.21, S. 3) Der „Bundeswehrverband fordert eine ehrliche Aufarbeitung des Einsatzes, damit man in kommenden Fehler vermeiden kann.“ Das kommentiert Renè Heilig (nd-Die Woche, 17.04.21, S. 4) und schreibt weiter: „Auf den Gedanken, dass solche Einsätze womöglich generell ein Fehler sind, kommt er nicht.“

Afghanische Helfer*innen

Gefährdete afghanische Helfer*innen der Bundeswehr sollen nach Vorstellung der deutschen Verteidigungsministerin „vor dem Abzug der westlichen Truppen vereinfacht und schnell nach Deutschland geholt werden. […] ‚Jetzt geht es um die Verfahren. Zu prüfen, wie war die Gefährdungslage, wer kann im Rahmen dieser Festlegung kommen, wie ist das mit den Familien‘.“ (Welt, 19.04.21, S. 1) Seit dem „Jahr 2013 wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums 781 Ortskräfte in Deutschland aufgenommen. Das deutsche Einsatzkontingent Resolute Support beschäftigt derzeit rund 300 Ortskräfte.“ (StN, 19.04.21, S. 2) Die Welt (16.04.21, S. 5) zitiert Gregor Gysi (Die Linke), Omid Nouripour (Grüne) und Lars Castelluci (SPD), die diese Position unterstützen und gleichzeitig ein Ende der Abschiebungen nach Afghanistan fordern.

„In Deutschland leben rund 270.000 Afghanen. 29.000 von ihnen sind noch ausreisepflichtig […] Seit Beginn der Afghanistan-Abschiebungen im Dezember 2016 wurden bisher rund 1.000 Männer nach Afghanistan zurückgebracht. “ (Claus Christian Malzahn und Marcel Leubecher in Welt, 16.04.21, S. 5)

Aussichten

Omar Sharifi, Direktor des American Institute for Afghanistan Studies, erwartet (so Tamana Ayazi und Thore Schröder in Welt, 17.04.21, S. 6) „in jedem Fall ‚ein noch blutigeres Bild‘ in den kommenden Wochen: ‚mehr Attacken, mehr gezielte Tötungen‘. Dabei wurden bereits im März 305 Menschen bei Anschlägen getötet und 350 verletzt, wohlgemerkt in nur einem Monat […] Der zentralasiatische Staat ist laut Global Peace Index bereits der unsicherste der Welt. Bereits 2,6 Millionen Geflüchtete aus Afghanistan sind weltweit registriert, hinzu kommen laut Schätzungen der Vereinten Nationen weitere zwei Millionen nichtdokumentierter Afghanen im Ausland.“

Mike Szymanski (SZ-online, 15.04.21) weist darauf hin, dass die Taliban bisher „auf Angriffe auf die internationalen Truppen verzichtet (haben). Das könnte sich nun ändern.“ Für Tobias Matern (SZ-online, 13.04.21) „droht in Afghanistan eine Rückkehr der Islamisten an die Macht.“ „Unabhängige Experten erwarten schlimme Folgen“, heißt es im Tagesspiegel (16.04.21, S. 5) Nach dem Abzug der Nato-Truppen muss offensichtlich – wie nach den anderen Kriegen im Nahen Osten – mit einem Anwachsen der Flüchtlingsbewegungen gerechnet werden.

Es gibt nur wenige halbwegs optimistische Stimmen. So setzt Jan Dörner (StZ, 15.0421, S. 3) darauf, dass die Taliban „in Verhandlungen eingebunden“ sind . Für Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, sind einerseits „die Taliban an einer Aufhebung der Sanktionen interessiert, zum anderen insbesondere die Europäer als Geber unentbehrlich. ‚Das muss man klug einsetzen‘.“ (SZ, 15.04.21, S. 7) Und Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network, schlussfolgert: „Mit der Hand am Geldhahn kann der Westen vielleicht noch einige der schlimmsten Folgen auffangen. Mehr aber auch nicht.“ (taz, 15.04.21, S. 1)

Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, nd – Der Tag, nd – Die Woche, StN – Stuttgarter Nachrichten, StZ – Stuttgarter Zeitung, Spiegel – Der Spiegel, SZ – Süddeutsche Zeitung, SZ Online – Süddeutsche Zeitung Online, Tagesspiegel – Der Tagesspigel, taz – die tageszeitung, TV – Trierischer Volksfreund, Welt – Die Welt

Fluchtursachen und Verantwortung


Fluchtursachen und Verantwortung

Das Beispiel Afghanistan

von Katja Mielke

Das Beispiel Afghanistan verdeutlicht, wie klassische Fluchtursachen – vordergründig Krieg und Gewalt sowie damit verbunden fehlende Rechtstaatlichkeit, Diskriminierung und Verfolgung – durch das Fehlschlagen der internationalen militärischen, insbesondere aber auch der zivilen Intervention in den letzten 15 Jahren verstärkt wurden. Der gescheiterte Wiederaufbau des Landes kann aus dieser Perspektive durchaus als eigenständige Fluchtursache gelten, bedingt er doch die steigende Armut, zunehmende soziale Ungleichheit und als Ergebnis wachsende Perspektivlosigkeit. Daraus ergibt sich eine internationale Verantwortung für die würdevolle Aufnahme und Betreuung der geflüchteten Afghan*innen in Deutschland, Europa und weltweit.

Im April 2017 beginnt das vierzig­ste Kriegsjahr in Afghanistan. Der Gewaltkonflikt hat geschätzte 4,8 Millionen Menschen veranlasst, ihr Heimatland zu verlassen: Etwa 15 Prozent der Afghan*innen sind laut UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) über internationale Grenzen geflüchtet.1 Zum Jahresende 2015 wurden weltweit etwa 2,67 Millionen Afghan*innen offiziell als Flüchtlinge anerkannt; von ihnen ist fast jede/r Zweite (49 %) jünger als 18 Jahre (UNHCR 2016, S. 16). Afghan*innen stellen weltweit die zweitgrößte Flüchtlingsbevölkerung (die größte kommt aus Syrien). Hinzu kommt die immense interne Vertreibung. Sie belief sich allein im Jahr 2016 auf mehr als eine halbe Million Menschen (UN OCHA 2016). Mit den bereits vor 2016 vertriebenen 1,17 Millionen Binnenvertriebenen (Amnesty International 2016, S. 13) beläuft sich die offiziell registrierte Zahl der Vertriebenen im Inland auf 1,7 Millionen Menschen.2

Fluchtursache Gewalt und Krieg

Die Vertreibungszahlen spiegeln die zunehmende Unsicherheitslage in Afghanistan wider. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen ist von 2010 bis heute stetig fast um das Fünffache gestiegen. Parallel weist auch die Zahl ziviler Opfer von politischer Gewalt jedes Jahr neue Rekordwerte auf. Im letzten Jahr (2016) wurden 7.929 Zivilisten getötet und 3.498 verletzt, darunter immer mehr Kinder (923 getötet, 2.589 verletzt) (UNAMA 2016).

Zum Jahresende 2016 waren so genannte »Taliban« – eigentlich ein Kon­glomerat diverser bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen auf lokaler Ebene und mehr ein Label als eine kohärente Bewegung – so sehr erstarkt wie seit 2001 nicht mehr. Das Ausmaß der Kontrolle von Landesteilen durch regierungsfeindliche Truppen ist zum Politikum geworden. Trotz der sehr unterschiedlichen Einschätzung zwischen unabhängigen Beobachtern und US-Militär auf der einen und zwischen den Regierungen der USA und Afghanistans auf der anderen Seite ist unbestritten, dass die Regierung Einfluss und Kontrolle verliert.

Laut US-Militär (Roggio 2016) kontrollierten Taliban (»Aufständische«) Ende August 2016 lediglich acht von 407 Distrikten und besaßen Einfluss in weiteren 25 Distrikten, während die Regierung 88 Distrikte vollständig kontrollierte und in 170 Distrikten Einfluss ausübte (7,1 % weniger als Ende Januar 2016 und 15 % weniger als Ende November 2015); in 28,5 % der Distrikte konkurrierten die »Auständischen« und die Regierung um den Kontrollanspruch. Schon drei Monate später, Ende November 2016, hatte die Regierung weitere 6,2 % der Distrikte verloren (SIGAR 2017). Unabhängige Beobachter*innen schätzen die Regierungszahlen überdies als zu hoch ein. In Wirklichkeit hätten die Taliban bereits Ende Oktober 2015 70 Distrikte unter ihrer Kontrolle gehabt und bis November 2016 weitere 27 Distrikte hinzugewonnen, würden also knapp ein Viertel der Distrikte kontrollieren (Rogio 2016). Zudem waren bewaffnete regierungsfeindliche Gruppen in der Lage, landesweit mehrere militärische Offensiven gleichzeitig zu koordinieren, zum Beispiel in Helmand, Urusgan, Kundus, Farah und Baghlan. Die respektiven Provinzhauptstädte befinden sich seit Monaten, wenn nicht Jahren, permanent in Gefahr, von Taliban erobert zu werden. Die zeitweise Eroberung von Kundus durch Taliban Ende September 2015 war daher keine Ausnahme, sondern ist symptomatisch für den Kontrollverlust der Regierung.

Im Januar 2017 lebte fast ein Drittel der afghanischen Bevölkerung (9,2 Millionen) in Gebieten, die zwischen Regierung und Aufständischen »umkämpft« sind. Etwa zweieinhalb Millionen Personen lebten noch in Gebieten, die von Aufständischen, also Taliban oder Daesh (IS-Khorasan), kontrolliert werden, die meisten Bewohner der von Daesh kontrollierten Gebiete (vier Distrikte in der östlichen Provinz Nangarhar) sind wohl geflohen.

Diese Zahlen sind jedoch nur ein Aspekt, der das Ausmaß der Unsicherheit, dem die Bewohner*innen Afghanistans ausgesetzt sind, beschreibt. Die kürzlich erfolgten Anschläge – wie auf das Krankenhaus in Kabul im Februar 2017 – zeigen, dass auch die urbanen Zentren nicht mehr sicher sind. In Großstädten wie Kabul (ca. 4 Mio. Einwohner), Dschalalabad (mehr als 350.000) und Herat (über 800.000) sind die Menschen täglich in Gefahr, Selbstmordattentaten und Entführungen zum Opfer zu fallen. Der Verkehr außerhalb der Städte ist sehr riskant. Neben diversen Taliban-Fraktionen kämpfen zahlreiche andere bewaffnete Gruppen gegen den Staat, teilweise auch miteinander. In den ländlichen Gebieten hat sich die Unsicherheit nach der strategisch motivierten (Wieder-) Aufrüstung vormals entwaffneter Milizen seit 2009 enorm verschärft. So gibt es beispielsweise aus verschiedenen Provinzen, u.a. Baghlan, Berichte, dass Angehörige der staatlichen Afghan Local Police (ALP) ihre Waffen und Munition an »Aufständische« verkaufen.

Komplexe Unsicherheitslage

Der geschilderte Grad tatsächlicher und wahrscheinlicher physischer Unsicherheit – insbesondere die quantifizierbaren Faktoren von Unsicherheit, wie die Frequenz und Opferzahlen von Anschlägen, – sind ein harter Indikator dafür, dass Afghanistan kein sicheres Land ist. Zwei Aspekte verstärken diese Einschätzung zusätzlich: zum einen die Volatilität der (Un-) Sicherheitssituation, zum anderen das grundlegende Fehlen rechtstaatlicher Strukturen.

Volatilität der Sicherheitssituation meint, dass die Gewaltdynamiken in Afghanistan grundsätzlich unberechenbar sind und keine Planungsgewissheiten bestehen. Manche Distrikte befinden sich offiziell unter Regierungskontrolle, aber nur, weil Distriktbeamte zwischen 10 und 14 Uhr im Verwaltungsgebäude der Distriktregierung ihrer Tätigkeit nachgehen. Wenn sie allerdings gezwungen sind, ab 14:30 Uhr den Heimweg in die wenige Kilometer entfernte Provinzhauptstadt anzutreten, weil sie sonst Gefahr laufen, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, scheint die Einstufung »unter Regierungskontrolle« höchst fragwürdig. Regional verschieben sich zudem Einflussbereiche auch ad hoc und in nicht vorhersehbarer Weise, zum Beispiel wenn Taliban-Anhänger in ein Gebiet vordringen und im Namen ihrer Gruppe gewaltsam Steuern erheben, aber auch dann, wenn – wie unter Vize-Präsident Dostum in Farjab – regierungsloyale Fraktionen und afghanische Sicherheitskräfte Militäroperationen gegen regierungsfeindliche bewaffnete Gruppen unternehmen. Für Letzteres belegen die Statistiken steigende zivile Opferzahlen (UNAMA 2016).

Der Grad der Verwobenheit von Regierungsvertretern und Beamten mit kriminellen Netzwerken, korrupten Praktiken und wenig durchsetzungsfähigen Justizorganen bedingt zudem, dass die Bevölkerung bislang kaum Vertrauen in rechtstaatliche Institutionen aufbauen konnte. Solange derjenige mit den umfangreicheren Machtressourcen (Geld, Waffen, Gefolgschaft, traditioneller Status) Rechtsprechungsinstitutionen (ob Ältestenräte auf lokaler Gemeindeebene oder staatlich benannte Richter und Gerichte) zu seinen Gunsten beeinflussen kann, regiert das »Recht des Stärkeren«, und Diskriminierung und Verfolgung der Schwächeren sind an der Tagesordnung.

Die afghanische Regierung ist in dem Dilemma, dass sie ihrer Bevölkerung und zurückkehrenden Flüchtlingen trotz gegenteiliger Proklamationen weder physische Sicherheit noch Rechtssicherheit garantieren kann. Häufig sind Regierungspraktiken, insbesondere das Handeln von Regierungsvertretern (Ministern, Angehörigen der Streitkräfte, Verwaltungsbeamten auf subnationaler Ebene, Parlamentsabgeordneten) eine wesentliche Ursache der Unsicherheit oder tragen maßgeblich dazu bei. Zum Beispiel unterhalten einzelne Parlamentsabgeordnete private Milizen, die je nach Interessenslage auch gegen öffentliche Interessen und staatliche Politik ausgespielt werden. Diese Sachlage verschärft das Legitimationsdefizit der afghanischen Regierung zusätzlich und demonstriert, wie hochkomplex die Unsicherheitslage ist.

Fluchtursache fehlgeschlagene Intervention

Die internationale Gemeinschaft trägt Mitverantwortung für die gegenwärtige Situation in Afghanistan. Dies wird in drei Bereichen besonders deutlich:

  • Erstens haben Militär und zivile Interventen die Wahl ihrer Partner nicht ausreichend hinterfragt. Dies zeigte sich zum Beispiel auf nationaler Ebene in der bedenkenlosen Unterstützung der Nordallianzfraktion, die mit Schützenhilfe der USA im November 2001 Kabul einnehmen konnte und der die Ausrichter der kurz danach durchgeführten Petersberg-Konferenz die Besetzung von Schlüsselpositionen im Zuge der Regierungsneubildung ermöglichten. Parallel erfolgte der Ausschluss der Verliererfraktion, der Taliban, von den Friedensverhandlungen. In den Folgejahren wurden »die Taliban« zum Feindbild Nummer Eins stilisiert, nachdem die internationalen Truppen Osama bin Ladens, dem Drahtzieher hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht habhaft werden konnten. Die daraus abgeleitete systematische Delegitimierung der Taliban als abzulehnend und zu bekämpfend (Schetter und Mielke 2016) erfolgte parallel zu einer tendenziösen Gleichsetzung von Paschtunen – einer Ethnie – mit Taliban, wodurch vorhandene anti-paschtunische Tendenzen in der afghanischen Bevölkerung weiter Aufwind erfuhren. Seitens der Paschtunen hat dies wiederum zu Ablehnung und Radikalisierung geführt. So lässt sich beispielsweise in etlichen Regionen der Provinz Kundus beobachten, dass ein wichtiger Grund für den erneut zunehmenden Einfluss von Taliban in der systematischen Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen bei der Verteilung von Ressourcen durch die Nordallianz-dominierte Provinzregierung besteht. Die gegenwärtige Stärke von Taliban speist sich in beträchtlichem Maß aus dem Zulauf von Männern verschiedener ethnischer Herkunft (zunehmend Nicht-Paschtunen), die sich von der Unterstützung der Taliban versprechen, ihre Interessen und Teilhabeansprüche besser durchsetzen zu können.
  • Zweitens war die Entscheidung folgenreich, ab 2009 den Ausbau staatsnaher paramilitärischer Verbände (direkt) und privater Milizen (indirekt) zu fördern, nachdem in den Jahren zuvor umfangreiche Bemühungen für eine Demobilisierung potenzieller Kämpfer stattgefunden hatte und deren Waffen eingesammelt worden waren.
  • Drittens führten der Wiederaufbau sowie die Ausrichtung der Wirtschaft und des Beschäftigungssektors, die sich einseitig an den Bedürfnissen der Interventen orientierten, dazu, dass ab Mitte 2013 schon die bloße Ankündigung des Abzugs der westlichen Truppen zum Jahresende 2014 zu einem Einbruch der Wirtschaft führte. Dieser ökonomische Schock konnte bis heute weder durch lokale Nachfrage noch durch einen an lokalen Bedarfen orientierten Umbau des Beschäftigungssektors aufgefangen werden (Mielke und Grawert 2016).

Ausblick

Die Interventionspolitik der internationalen Gemeinschaft trug maßgeblich dazu bei, dass breite Bevölkerungsschichten nach 2001 nicht in den Genuss einer »Friedensdividende« kamen. Die genannten drei Faktoren verstärken die desolaten sozioökonomischen Indikatoren, die Afghanistan nach 15 Jahren Wiederaufbau aufweist: Die Armut steigt, mehr als ein Drittel der Bevölkerung kann sich nicht ausreichend ernähren, die soziale und Einkommensungleichheit ist seit 2001 stetig gewachsen.

Die afghanische Regierung ist in der gegenwärtigen Situation nicht in der Lage, Anreize zum Bleiben zu schaffen, also die Aussicht zu erhöhen, dass ein Verbleib in Afghanistan eine genauso aussichtsreiche und valide Option zur Lebensgestaltung bietet wie die Abwanderung ins Ausland. Zwar beharrt die afghanische Regierung im Rahmen ihrer Strategie für breitere Eigenständigkeit (Reformprogramm »Realizing Self-Reliance«) auf der Absorptions- und Integrationsfähigkeit aller afghanischen Flüchtlinge, de facto verfügt sie aber nicht über die Durchsetzungskraft (Kapazität und Willen), Bevölkerung und Rückkehrer*innen ausreichend Schutz und Sicherheit zu bieten, inklusive der Wahrung ihrer Persönlichkeits- und Menschenrechte, Schutz vor interner Vertreibung und Zukunftsperspektiven.

Bei der jährlichen Meinungsumfrage der Asia Foundation in Afghanistan gaben 52 % der befragten Afghan*innen 2016 an, dass sie Afghanistan verlassen würden, um eine Beschäftigung zu finden, wenn sie könnten (Burbridge et al. 2016). Gleichzeitig war Unsicherheit der meistgenannte Grund für Pessimismus (49 % der Befragten), noch vor Arbeitslosigkeit und schlechter Wirtschaftslage (38 %).

Aus dem Befund, dass nach 15 Jahren ziviler und militärischer Intervention die Schaffung menschengerechter Lebensverhältnisse in Afghanistan nicht erreicht wurde, leitet sich eine internationale Verantwortung für die würdevolle Aufnahme und Betreuung der geflüchteten Afghan*innen in Deutschland, Europa und weltweit ab.

Anmerkungen

1) Die Zahl 4,8 Millionen bezieht sich auf den offiziellen Stand Ende 2015 (UNHCR 2016). Es gibt keine vergleichbaren neueren Angaben; UNHCR aktualisiert die Statistiken jeweils zum Juni des laufenden Jahres (zum Weltflüchtlingstag am 20.6.). Allerdings ist davon auszugehen, dass die Zahl in etwa unverändert ist, denn die Zahl der Geflüchteten im Jahresverlauf 2016 muss mit der Zahl der (zum großen Teil de facto unfreiwillig) Repatriierten aus Pakistan (511.762 bis 20.11.16) und Deportierten aus Iran (406.022 bis 20.11.16) aufgerechnet werden.

2) Addiert man zu den 1,7 Millionen Binnenvertriebenen die Zahl der 2016 Repatriierten und Deportieren (= 1.023.840 Personen, siehe Endnote 1), die vermutlich zum großen Teil ebenfalls kein Zuhause haben, in das sie zurückkehren können, so muss von einer Zahl von bis zu 2,7 Millionen Entwurzelten innerhalb der Grenzen Afghanistans ausgegangen werden.

Literatur

Burbridge, H. et al. (2016): A survey of the Afghan people – Afghanistan in 2016. Washington, D.C.: Asia Foundation.

Amnesty International (2016): My children will die this winter – Afghanistan’s broken promise to the displaced. London: Amnesty International.

Mielke, K. und Grawert, E. (2016): Warum ­Afghanistan kein sicheres Herkunftsland ist. BICC Policy Brief 1/2016. Bonn: Internationales Konversionszentrum Bonn (BICC).

Roggio, B. (2016): Analysis – US military assessment of Taliban control of Afghan districts is flawed. Long War Journal, 2.11.16.

Schetter, C. und Mielke, K. (2016): Was von Kundus bleibt – Intervention, Gewalt und soziale Ordnung. Politische Vierteljahresschrift 57(4), S. 614-642.

Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction/SIGAR (2017): High Risk List 2017. Arlington/Virginia, January 11. 2017. SIGAR ist eine Einrichtung der US-Regierung.

United Nations Assistance Mission in Afghanistan/UNAMA (2016): Afghanistan – Protection of civilians in armed conflict. Annual Report 2016. Kabul, February 2017.

United Nations High Commissioner for Refugees/UNHCR (2016): Global trends. Forced displacement in 2015. Geneva.

United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs/UN OCHA (2016): Afghanistan: Conflict induced displacements (as of 27 November 2016).

Katja Mielke, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Konversionszentrum Bonn (BICC) und beschäftigt sich seit 2005 intensiv mit Afghanistan.

Mali – ein zweites Afghanistan?

Mali – ein zweites Afghanistan?

von Jürgen Nieth

Am 27. Januar 2017 hat der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen die erneute Ausweitung des Mali-Einsatzes der Bundeswehr beschlossen. „Bereits im vergangenen Jahr war die Personalobergrenze von 150 auf 650 Soldaten erhöht worden.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9) Zukünftig sollen 1.000 Bundeswehrangehörige an der »Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (Minusma)« teilnehmen, was „die Mali-Mission demnächst zum aktuell größten Auslandseinsatz der Bundeswehr machen wird“ (FAZ, 27.1.17, S. 8). Dabei wird auch der Aktionsradius der deutschen Soldaten größer. Vier Transporthubschrauber des Typs NH90 sollen vor allem zur Rettung Verwundeter eingesetzt werden, vier Kampfhubschrauber des Typs Tiger die Einsätze absichern. Zusätzlich sind künftig mehr Drohnen vor Ort, um Transport- und Einsatzwege zu sichern. Außer dem Blauhelmkontingent „ist die Bundeswehr noch mit 129 Männern und Frauen an der EU-Ausbildungsmission für die malischen Streitkräfte in Koulikoro im Süden des Landes beteiligt“ (Spiegel, 21.1.17, S. 32).

Der gefährlichste Einsatz

Über 100 UN-Soldaten wurden in den letzten drei Jahren in Mali getötet. Dass der Einsatz in Mali der gefährlichste UN-Einsatz ist, darin scheinen die wichtigsten deutschen Tageszeitungen übereinzustimmen: Für SZ und taz ist er der „gefährlichste der Welt“ (27.1.17, jeweils S. 6), das ND spricht vom bisher „gefährlichste[n] Militäreinsatz der UNO“ (12.1.17, S. 6), und die FAZ stellt fest: „Längst ist nicht mehr Afghanistan, sondern Mali der gefährlichste Einsatzort für deutsche Soldaten.“ (20.12.16, S. 4) »Die Welt« hatte bereits vor einem Jahr als Headline „Bundeswehr zieht in ein neues Afghanistan“. Sie zitierte Soldaten, denen zufolge der Einsatz „einen aussagekräftigen Namen bekommen hat: »Afghanistan 2.0«. (Welt, 29.1.16, S. 7)

Trotz einer großen internationalen Militärpräsenz mit 13.000 Soldaten und Polizisten aus 53 Ländern im Rahmen des UN-Einsatzes, „dazu mehrere Tausend französische Soldaten, die mit ihrer Militäroperation Barkhane Islamisten in Mali und dem gesamten Sahel bekämpfen […], ist die Lage heute ungleich komplizierter, teils sogar schlimmer als 2012, schreibt Isabell Pfaff (SZ, 27.1.17, S. 6). Auch für den deutschen Kontingentführer Oberstleutnant Michael Hoppstädter hat sich „die Sicherheitslage wieder verschlechtert, die Zahl von Anschlägen, Attentaten und Opfern nimmt zu. Zudem wird die politische Lage immer komplexer, die Zahl bewaffneter Gruppen steigt. Ständig ändern sich deren Zugehörigkeiten und Loyalitäten.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9)

Rückblick

Der Norden Malis war im „Frühjahr 2012 in die Hände von Dschihadistengruppen und mit ihnen verbündeten Tuareg-Rebellen gefallen. Französische Streitkräfte starteten Anfang 2013 eine Offensive und drängten die Angreifer zurück. Dass Paris Truppen schickte, hat nicht so sehr mit der kolonialen Vergangenheit und daraus angeblich resultierenden besonderen Verpflichtungen zu tun. Es geht vielmehr um die wirtschaftliche Zukunft Frankreichs, denn wenn die Region in einem Terrorbrand untergeht, dann wird es kritisch mit dem Zugang zum »französischen« Uran im Niger. Ohne Uran keine Atomenergie, ohne Strom wäre die Grande Nation rasch am Ende.“ (René Heilig in ND, 2.8.16, S. 2)

Dass der Aufstand im Norden aber überhaupt erfolgreich sein konnte, hatte auch mit französischer Politik zu tun, nämlich mit dem von Sarkozy gepusch­ten Krieg gegen Libyen. „Die Aufständischen waren besser ausgerüstet. Der Zusammenbruch Libyens hatte sie – und zahllose andere bewaffnete Gruppen der Region – mit neuen Waffen aus Gaddafis Lagern versorgt.“ (Isabell Pfaff in SZ, 27.1.17, S. 6)

Einsatzziele

Die SZ (27.1.17, S. 6) zitiert den französischen Afrika-Analysten Denis Tull vom Pariser Institut für strategische Forschung: „Zwar könne die UN-Mission keinen seriösen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitslage im Norden leisten – ‚dafür ist das Land zu groß und der Konflikt zu kompliziert. Aber : Eine zentrale Aufgabe der Minusma sei es, bei der Umsetzung des Friedensabkommens zu helfen – und das steht […] an erster Stelle.“ Es ist ein Friedensabkommen, das die malische Regierung im Juni 2015 mit den Tuareg-Rebellen geschlossen hat und über das Beobachter bereits ein Jahr später sagten, es sei „vom Inhalt des Papiers […] bislang sehr wenig umgesetzt worden“ (SZ, 21.6.16, S. 7).

»Der Spiegel« zitiert aus der Begründung der Regierung für das neue Bundeswehrmandat (21.1.17, S. 32): „Die Stabilisierung Malis ist ein Schwerpunkt des deutschen Engagements in der Sahel-Region.“ Es gehe darum, „Mali in eine friedliche Zukunft führen zu helfen und die strukturellen Ursachen von Flucht und Vertreibung zu beseitigen“.

Den letzten Satz greift auch René Heilig (ND, 12.1.17, S. 6) auf. Für ihn verfolgt die Bundesregierung mit der Ausweitung des Einsatzes vier Ziele. „Erstens übernimmt Deutschland Verantwortung in der Welt. Zweitens bekommt man Lob, weil man sich für eine stärkere Autorität der UNO einsetzt. Man zeigt sich – drittens – solidarisch mit Frankreich, das per Blitzeinsatz seiner Truppen die Rebellen stoppte und den Zerfall Malis aufschob […] nicht uneigennützig […]. Für Deutschland ist aber der vierte Punkt wichtig: Fluchtursachen eindämmen. Mali ist ein Vorposten des EU-Grenzwalls.“

Der bereits oben zitierte Oberstleutnant der Bundeswehr Hoppstädter hält den Mali-Einsatz für sinnvoll, mit einem großen »Aber«: „Militärisch wird man eine solche Krise in keinem Staat jemals lösen können […] dazu gehört noch viel mehr, zum Beispiel der zivile Aufbau und die Ausbildung junger Menschen.“ (Parlament, 23.1.17, S. 9)

Das Autorenteam des »Spiegel« ist da skeptischer: „[…] es müsste schon ein Wunder geschehen, wenn sich die großen Erwartungen, die sich vor allem die Deutschen machen, erfüllen würden. Mali bleibt ein hoffnungsloser Fall, solange die Malier ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen. Von außen lässt sich ein Land nicht reformieren.“ (21.1.17, S. 35)

Zitierte Zeitungen: Das Parlament, Der Spiegel, Die Welt, FAZ – Frankfurter Allgemeine, ND – Neues Deutschland, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – tageszeitung.

Der Fall Kundus

Der Fall Kundus

Plädoyer für eine kritische Bestandsaufnahme

von Katja Mielke und Conrad Schetter

Die AutorInnen fordern in ihrem Kommentar vom 6. Oktober 2015, den sie anlässlich der Rückkehr der Taliban nach Kundus schrieben, eine kritische Aufarbeitung des Bundeswehreinsatzes dort: „Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde.“ Eine solche Bestandsaufnahme, die die AutorInnen exemplarisch anhand einiger Beispiele anreißen, hat insbesondere nach der Entscheidung der USA, den Truppenabzug aus Afghanistan zu stoppen, und den Überlegungen, in der Folge solle auch Deutschland den Einsatz der Bundeswehr dort fortsetzen, höchste Dringlichkeit. W&F dankt für die Nachdruckrechte.

Kundus stand ein Jahrzehnt lang wie kein anderer Ort für den deutschen Sonderweg einer Interventionspolitik, in der Wiederaufbau mit einem Bundeswehreinsatz gepaart wurde. Hier wurde der so genannte Vernetzte Ansatz erprobt, hier versuchten die Deutschen, es besser zu machen als ihre angelsächsischen Kollegen, was die Einbindung der Afghanen und den Aufbau von Staatlichkeit anging. Kundus sollte das Musterländle am Hindukusch werden. Nun ist es das Symbol, das – wenige Monate nach dem massiven Truppenabzug aus Afghanistan – für die Zäsur im Wiederaufbau, für das Wiederaufflackern des Bürgerkrieges und für die Rückkehr der Taliban steht. Schonungslos führt die Weise, in der die Taliban Kundus in wenigen Stunden überrannten und einnahmen, vor Augen, wie oberflächlich zehn Jahre deutscher Präsenz und Entwicklungsanstrengungen den Nordosten des Landes nur verändert hatten. Nun dürfte auch der letzte deutsche Politiker und Beamte verstanden haben, dass die Schönfärberei des Einsatzes in Afghanistan nichts mehr bringt.

Allenthalben wird nun gefragt, was denn die internationale Gemeinschaft als nächstes tun müsste, um die Konsolidierung und eine erneute großflächige Herrschaft der Taliban zu verhindern; wieder einmal scheint eine neue Runde des blinden Aktionismus auszubrechen, die kaschieren soll, was in der Vergangenheit alles falsch gelaufen ist. Daher bedarf es eher einer kritischen Aufarbeitung des Kundus-Einsatzes, bevor man erneuten aktionistischen Impulsen nachgibt. Die Frage ist nicht, ob man mehr Militär nach Afghanistan schicken sollte oder nicht, sondern vielmehr, was bislang versäumt wurde. Heute gibt es viele bittere Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Hier einige Beispiele:

Die Bundeswehr war in Kundus zu keinem Zeitpunkt in der Lage, ihren Auftrag, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau zu schaffen, umzusetzen. Dazu mangelte es ihr an Kapazitäten und an Fähigkeiten. So hoffte man, dass die technisch-militärische Überlegenheit der Bundeswehr ausreichen würde, um Gewaltakteure abzuschrecken. Eigene Soldaten in Gefahr zu bringen, um ein sicheres Umfeld zu schaffen, war unausgesprochenes Tabu. Diese Strategie ging dem Anschein nach viele Jahre lang gut; mit sehr viel Glück hielten sich die Verluste in Kampfeinsätzen gering. Eher schleichend verschlechterte sich die Sicherheitslage; zunächst wurde der Distrikt Chardarah, direkt vor den Toren des Bundeswehrlagers, zu einer Problemregion, dann kamen Distrikte wie Archi, Khanabad und Imam Sahib dazu. Mit der Zeit traten die schon immer vorhandenen Rivalitäten und Netzwerke der Kriegsfürsten wieder mehr und mehr zu Tage. Die Bundeswehr war nur noch oberflächlich in der Provinz präsent: Kaum noch fuhr sie Patrouillen; sie igelte sich immer mehr in ihrem Lager ein. Entgegen einer konsequenten Entwaffnung lokaler Gewaltakteure fand in Kundus das genaue Gegenteil statt. So wurden – vor allem mit US-amerikanischem Geld – lokale Bürgerwehren als Privatmilizen finanziert, bewaffnet und aufgebaut. Beim Abzug der Bundeswehr war nahezu die gesamte Provinz unter rivalisierenden, bis an die Zähne bewaffneten Kommandeuren aufgeteilt. Die Sicherheit in Kundus – wohlgemerkt die der Bevölkerung, nicht ihre eigene – hatte die Bundeswehr bereits vor Jahren aufgegeben.

Aber gegen wen will man eigentlich kämpfen? Früh, zu früh operierten die deutschen Analysten mit einem zu simplen Feindbild. Zu schnell wurde alle unzufriedenen oder aufmüpfigen Paschtunen als Taliban kategorisiert; blind ließ man sich in die lokale Politik hineinziehen – ohne zu merken, dass die Bundeswehr, aber auch Organisationen der Entwicklungshilfe, in ihrer alltäglichen Praxis politisch Partei ergriffen. Beispielsweise wurden sowohl in Kundus-Stadt als auch in Taloqan, der Hauptstadt der Nachbarprovinz Takhar, Grundstücke und Gebäude angemietet, ohne Bedenken, wessen Taschen damit gefüllt würden und welchen Eindruck diese Art der Parteinahme in der dortigen Bevölkerung hervorrufen würde. Die blauäugige Rekrutierung von Personal – ob Logistiker, Ingenieure, Dolmetscher – verfestigte den Einfluss und das Machtgewicht bestimmter Familien und Netzwerke. Dass diese Personalpolitik die lokalen Zielgruppen der Entwicklungsmaßnahmen und Projekte sowie den Informationsfluss zwischen Interventen und der breiten Bevölkerung maßgeblich beeinflusste, überrascht nicht. Die Deutungshoheit über die lokalen politischen Verhältnisse hat man entweder nie erlangt oder Wissen zu leichtfertig anderen Erwägungen – wie Mittelabflussdruck, Karriereplanungen und Kurzzeitinteressen der ministerialen Politik in Berlin und Bonn – geopfert. Auch der von Oberst Klein befehligte, verhängnisvolle Beschuss eines Tankzugs, bei dem etwa 90 Zivilisten ums Leben kamen, verdeutlichte, wie weit man von den Realitäten vor den Toren des Lagers entfernt war.

Auch wurden die vermeintlichen Bedürfnisse der Afghaninnen und Afghanen zum einen niemals richtig erfasst und zum anderen wurde die Frage, ob die Partnerwahl vor Ort immer die richtige war, niemals gestellt. Die Bevölkerung selbst wurde viel zu selten gefragt, in was für einer Gesellschaft sie eigentlich leben will. Die Definition der Bedürfnisse und Strategien zu deren Realisierung wurde in kolonialer Manier durch die Interventen vorgenommen. In den Gemeinden im Nordosten mit dieser Art Vorgehen auf der Alltagsebene Vertrauen aufzubauen und die Zuversicht in den Staatsaufbauprozess zu stärken, war daher illusorisch. In einer Reihe von Dörfern wussten sich Männer aller Altersklassen in den letzten Jahren aufgrund von Denunzierung durch ihre Rivalen und der Angst, lokalen Ordnungskräften ans Messer geliefert zu werden, nicht anders zu helfen, als »in die Berge« zu gehen und sich vor dem Zugriff des »Rechtsstaates« in Sicherheit (!) zu bringen. Sie galten dann als Taliban oder al-Kaida-Anhänger. Die Taliban in Kundus waren daher zum großen Teil ein Monster, das sich die Intervention selbst geschaffen hat.

Die afghanischen Partner und insbesondere lokale Eliten tragen eine klare Mitverantwortung für die Geschehnisse: Auch für sie bildeten Kurzzeitinteressen die Priorität; die verfügbaren Gelder – letztendlich Gelder deutscher Steuerzahler – waren immens und weckten Begehrlichkeiten. Letztlich formten diese Anreize die Grundlage dafür, dass die Akteure der staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit zunehmend selbst Konfliktparteien wurden. Auch wenn dies ungewollt geschah – der Mangel an Selbstkritik, organisatorische Selbsterhaltungslogiken und die bewusste, bis heute anhaltende Täuschung der deutschen Öffentlichkeit sind konkrete Punkte, die die gegenwärtige allseitige Bestürzung über die aktuellen Ereignisse in Kundus heuchlerisch erscheinen lassen.

Vor diesem Hintergrund wäre es fatal, über die Ereignisse in Kundus nun einfach hinwegzugehen oder mal wieder nur nach dem Militär zu rufen. Vielmehr zeigt gerade der Fall Kundus, wie schwierig, langwierig und steinig der Weg des Wiederaufbaus in einem zerrütten Bürgerkriegsland ist. Eine externe Analyse dessen, was eigentlich in gut zehn Jahren deutschem Engagement in Kundus gelaufen ist, ist daher unbedingt von Nöten, um aus den gemachten Fehlern für zukünftiges Handeln zu lernen. Dabei geht es dann auch darum, schonungslos Probleme, Ignoranz, Versagen und Fehleinschätzungen aufzuarbeiten. Dies hat die deutsche Politik bislang bewusst nicht gewollt. Kundus musste unbedingt ein Erfolg sein. Wer sich jedoch nach den Ereignissen der letzten Tage dieser kritischen Auseinandersetzung immer noch verschließt, muss entweder Zyniker oder verblendet sein.

Katja Mielke (Senior Researcher) und Conrad Schetter (Forschungsdirektor) arbeiten am BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn). Zwischen 2003 und 2013 bereisten sie immer wieder Kundus und führten dort Feldforschung zu lokaler Politikgestaltung durch.

Verhandeln mit den Taliban?

Verhandeln mit den Taliban?

Eine Geschichte von Hybris und Fehleinschätzungen

von Thomas Ruttig

Trotz aller gegenteiligen Rhetorik und eines westlich gesponserten »Friedens- und Versöhnungsprogramms« der afghanischen Regierung hat es wirkliche Friedensverhandlungen in Afghanistan seit dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 nicht gegeben. Internationale Hybris und afghanisches Elitenversagen verhinderten das.

Die USA lehnten es während der gesamten Regierungszeit von George W. Bush (2001-2009) ab, mit den Taliban überhaupt nur zu reden. Dahinter stand das Missverständnis, die Taliban seien zusammen mit al Kaida Teil eines unauflöslichen »terroristischen Syndikats«. Bruchlinien wurden ignoriert, etwa der Widerspruch zwischen der auf Afghanistan gerichteten Agenda der Taliban und der internationalen Dschihad-Strategie al Kaidas. Zudem verübelten die Taliban es al Kaida, dass sie wegen der Anschläge des 11. September 2001 die territoriale Kontrolle über Afghanistan verloren. Es gab aber auch symbiotische Beziehungen zwischen beiden, vor allem aufgrund der über al Kaida kanalisierten finanziellen Hilfe aus Golfstaaten für die Taliban (und der Dankbarkeit für die Unterstützung der Araber im Kampf gegen die sowjetische Besatzung in den 1980er Jahren). Die Taliban stellten al Kaida im Gegenzug ein »befreites Territorium« – oder »dar us-salam« – zur Verfügung, das im dschihadistischen Dogma für die Führung eines legitimen Dschihad unabdingbar ist.

Anstatt auf Gespräche, setzten die USA auf einen militärischen Sieg – vergebens. Über all die Jahre hinweg blockierten sie sämtliche Ansätze, eine Gesprächsbrücke zu den Taliban zu schlagen– zu einem Zeitpunkt, an dem das noch möglich gewesen wäre. Waren die Taliban doch, wie Jochen Hippler in seinem Beitrag »Verhandeln nicht immer eine Option« in diesem Heft schreibt, „nach ihrem Sturz politisch wie militärisch schwach“ und hegten selbst „nicht die Erwartung, dass sie bald in eine starke Machtposition zurückkehren könnten“.

Bereits Ende 2001 hatten wichtige militärische und politische Führer der Taliban-Bewegung, mit grünem Licht von ihrem obersten Chef Mulla Muhammad Omar, ein Kapitulationsangebot an den künftigen Staatschef Hamed Karzai herangetragen: Man betrachte die Existenz des »Islamischen Emirats« für beendet und akzeptiere Karzais Wahl zum Staatsoberhaupt auf der Bonner Afghanistan-Konferenz Ende 2001. Im Gegenzug fordere man die Gewährung von Schutz vor Verfolgung durch die intervenierenden westlichen Truppen.

Dieses Angebot schlugen Washington und Kabul in den Wind, ebenso die Möglichkeit, während der »Emergency Loya Jirga« Mitte 2002 über gewählte Delegierte, die früher mit den Taliban gearbeitet hatten bzw. ihnen nahe standen, Modalitäten einer Integration in das neue politische System auszuhandeln. Im Gegenteil: selbst Talibanmitglieder, die den Kampf aufgegeben hatten, wurden verfolgt. In den Folgejahren wurde auch die Gruppe hochrangiger Talibanführer, die (zum Teil aus US-Haft) individuell nach Kabul zurückgekehrt waren, darunter Außenminister Wakil Ahmad Mutawakkel, als möglicher Kanal zu den Taliban ignoriert. Der Gruppe wurde auch untersagt, eine »gemäßigte« Taliban-Partei zu gründen; erst 2004 wurden Parteien überhaupt per Gesetz zugelassen. Einige der Gruppe wurden zwar später Mitglieder im 2010 von Karzai berufenen Hohen Friedensrat (andere lehnten das ab), dieser erwies sich aber als Sackgasse. Die Taliban betrachteten den Rat als Instrument einer Regierung, die sie ablehnten, ja, sogar als legitimes Anschlagsziel. 2011 ermordeten sie seinen Vorsitzenden, Ex-Präsident Borhanuddin Rabbani, und ein Jahr später den ranghöchsten Ex-Talib in seinen Reihen, Arsala Rahmani.

Zwischen 2004 und 2007 schließlich versäumte es die afghanische Regierung ebenso wie ihre internationalen Alliierten, die in den Reihen der Taliban geführte Debatte zu nutzen, ob die durch den notorischen Kommandeur Mulla Dadullah aus Irak importierte Methode rücksichtsloser Selbstmordanschläge »islamisch« sei, da ihnen vor allem afghanische Zivilisten zum Opfer fielen. Im Zuge dieser Debatte gewann erneut ein Flügel der Taliban an Stärke, der eine politische Lösung zur Beendigung des Krieges befürwortete. Nach dem Tod Dadullahs (er fiel 2007 einem US-Luftschlag zum Opfer) und als Resultat des so genannten »surge« – der Entsendung zusätzlicher 33.000 US-Soldaten, mit deren Hilfe die Obama-Regierung zwischen 2010 und 2012 angesichts des anstehenden Truppenabzugsdatums (Ende 2014) die Taliban nun endlich ausschalten oder wenigstens an den Verhandlungstisch zwingen wollte – verloren die Gesprächsbefürworter ihre zeitweilige Dominanz aber wieder.

Erst 2011 gab es einen direkten Gesprächskontakt zur Taliban-Führung, allerdings entgegen dem Wunsch Washingtons nur zwischen den Taliban und der US-amerikanischen Regierung; die afghanische Regierung beteiligte sich nicht. Angebahnt worden waren diese Gespräche seit 2009 von der deutschen Bundesregierung mit Hilfe des Bundesnachrichtendiensts, und sie fanden in Katar statt. Die Regierung von Katar war auf Wunsch der Taliban hinzugezogen worden. Vorerst ging es um die Freilassung eines US-Soldaten, der vom Haqqani-Netzwerk gefangen gehalten wurde (er kam im Juni 2014 im Austausch gegen fünf in Guantanamo inhaftierte Taliban-Gefangene frei).

Im Zuge dieser Gespräche wurde seit Januar 2012 die Eröffnung eines Taliban-Büros in Katar vorbereitet, um den Taliban eine offizielle Adresse außerhalb Pakistans zu verschaffen, das die Taliban schon lange nicht nur unterstützt, sondern auch zu kontrollieren versucht – eine Kontrolle, der sich die Taliban (oft fälschlicherweise als Marionetten Pakistans betrachtet) entziehen wollen. Die Direktgespräche zwischen den Taliban und den USA brachen im März 2012 zusammen, als die Taliban Washington vorwarfen, Zusagen nicht einzuhalten. (Der Kongress hatte sich geweigert, einem Gefangenenaustausch zuzustimmen.) Sie wurden in der Folge mit Katar als Vermittler indirekt fortgeführt.

Die Karzai-Regierung stand diesen Kontakten nicht nur ablehnend gegenüber, sondern sabotierte sie aktiv mit dem Argument, die internationale Gemeinschaft habe »Afghan leadership« in allen »Versöhnungsbemühungen« zugesagt. Als im Juni 2013 das Taliban-Verbindungsbüro in Katar eröffnet wurde, protestierte Karzai, und Katar sah sich gezwungen, das Büro bereits einen Tag später offiziell wieder zu schließen. Die Besatzung des Büros unter Leitung Mulla Omars engstem Vertrauten Tayyeb Agha blieb aber weiterhin vor Ort und für Kontakte erreichbar. 2012 untersagte Karzai den Vereinten Nationen ausdrücklich, in Turkmenistan einen »intra-afghanischen Friedensdialog« zu veranstalten, bei dem Kontakte zwischen verschiedenen Fraktionen geknüpft werden sollten.

Es sind Zweifel angebracht, ob Karzai – unbenommen seiner wiederholten, innenpolitisch scharf angegriffenen Verhandlungsangebote an die Taliban –überhaupt je an einer genuinen Machtteilung interessiert war und nicht vielmehr Zeit für seinen Machterhalt bis zum Ende seiner verfassungsmäßigen Amtsperiode 2014 zu schinden hoffte.

Karzai benutzte vor allem einen Gesprächskanal zu der (allerdings mit erheblichem Abstand) zweitgrößten Aufstandsbewegung, der von Gulbuddin Hekmatyar geführten Hezb-e Islami Afghanistan (Islamische Partei Afghanistans). Diese ehemals antisowjetische Mudschahedin-Organisation ist formal in zwei Flügel gespalten: einer (der Hekmatyars) bekämpft die Regierung in Kabul, ein anderer war Teil der Karzai-Regierung und ist bei beiden derzeitigen Koalitionspartnern, dem Ghani- und dem Abdullah-Lager, hochrangig vertreten. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass die Hezb-Spaltung lediglich taktischer Natur ist; bei kürzlichen Track-II-Gesprächen traten Mitglieder beider Flügel als einheitliche Gruppe auf.

Neue Versuche: Die »Pakistan-Allee« und Track-II-Treffen

Die seit 2014 amtierende neue Regierung des Karzai-Nachfolgers Aschraf Ghani versucht nun, den Taliban-Unterstützer Pakistan über dessen Hauptverbündeten China unter Druck zu setzen, um die Aufständischen endlich an den Verhandlungstisch zu zwingen. Die Führung in Beijing sagte Präsident Ghani bei einem China-Besuch Ende 2014 zu, als Vermittler zu fungieren. Mitte Mai 2015 trafen sich Vertreter der afghanischen Regierung und der Taliban sowie pakistanische und chinesische Offizielle in der nordwestchinesischen Stadt Urumtschi. Kabul bleibt aufgrund der langjährigen Allianz Beijings mit Islamabad jedoch skeptisch, was die Rolle Chinas betrifft. Ein schneller Durchbruch ist nicht wahrscheinlich.

Parallel gibt es eine Reihe zivilgesellschaftlicher und Track-II-Vermittlungsversuche. Ende Juni 2015 saßen bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr in Norwegen Vertreter der Taliban und der afghanischen Regierung zusammen und diskutieren friedensrelevante Fragen. Zudem tauschen sich Taliban und politische (darunter auch zivilgesellschaftliche) Aktivisten aus Afghanistan in diesem Jahr bereits mindestens dreimal über die Möglichkeiten eines Friedensprozesses aus

Anfang Mai 2015 luden zudem die Pugwash Conferences on Science and World Affairs, ein auch in Friedensfragen aktives, nichtstaatliches, internationales Netzwerk von Wissenschaftlern, das 1995 den Friedensnobelpreis erhalten hatte, etwa zwei Dutzend Afghanen verschiedener politischer Lager zu »inoffiziellen Gesprächen« nach al-Khor in Katar ein. Afghanische Regierungsvertreter nahmen zwar nicht teil, aber immerhin legte Kabul dem Treffen keine Steine in den Weg. In einem von Pugwash verfassten Bericht über das Treffen kommt ein auf den ersten Blick erstaunlicher Konsens zum Ausdruck: „Überlegungen, Afghanistan Frieden zu bringen und den Konflikt zu beenden, wurden von allen Teilnehmern aus vollem Herzen unterstützt.“ Gemeinsam wurde überdies der Korruption, dem Drogenanbau und -handel sowie der Gruppierung Islamischen Staat der Kampf angesagt. Anfang Juni gab es bereits ein technisches Nachfolgetreffen in Dubai sowie ein Meeting in Norwegen zwischen Taliban-Vertretern sowie einigen führenden PolitikerInnen aus Afghanistan. Die Pugwash-Gespräche sollen nach Ende des Ramadan Mitte Juli fortgeführt werden.

Zuviel Optimismus ist trotz dieser Initiativen unangebracht, denn niemand kann bisher sagen, ob und wann es wirklich zu substanziellen Friedensgesprächen kommen wird und ob diese tatsächlich zu einem Ergebnis führen. Bisher sind die Differenzen zwischen beiden Seiten sehr groß.

Viele und hohe Hürden

Auf Regierungsseite – und darüber hinaus in breiten Teilen der afghanischen Gesellschaft, auch der Zivilgesellschaft – bestehen etliche Hindernisse für Verhandlungen; auf drei davon weist Jochen Hippler in seinem Beitrag hin. In der Tat sind, wie er schreibt, einige politische Fraktionen sowie beträchtliche Teile der afghanischen Zivilgesellschaft der Ansicht, „Verhandlungen seien falsch und unangebracht, weil der Gegner schließlich Gewalt anwende“. Sie zögen es vor, überhaupt nicht mit den Taliban zu verhandeln, geschweige denn sogar die Macht mit ihnen teilen zu müssen. Stattdessen hoffen sie, die afghanischen Streitkräfte könnten das erreichen, was zu Spitzenzeiten 140.000 westliche Soldaten (plus hunderttausende afghanische Soldaten und Polizisten) nicht geschafft haben: einen militärischen Sieg über die Aufständischen zu erringen.

Außerdem gibt es schlechte Erfahrungen mit »Friedensabkommen« aus der Zeit US-geführter Bemühungen, die zersplitterten antisowjetischen Mudschahedin-Fraktionen zu einen, und später, in den 1990er Jahren, nach dem Abzug der Sowjets von 1989, den Krieg zwischen denselben Fraktionen zu beenden. 1993 wurde selbst das von den gegnerischen Parteien vereinbarte Islamabad-Abkommen gebrochen, auf das sie alle kurz zuvor an der Kaaba in Mekka, dem denkbar heiligsten Ort für Muslime, einen Eid abgelegt hatten.

Des weiteren stehen, wie von Hippler beschrieben, etliche Vorbedingungen substanziellen Gesprächen im Weg. Die gegenwärtige afghanische Regierung verlangt, dass die Taliban die aktuelle Verfassung akzeptieren, scheint allerdings nicht darauf zu bestehen, dass die Taliban vor der Aufnahme von Gesprächen ihre Waffen niederlegen, vielleicht, weil sie das auch gar nicht durchsetzen könnte. Dieser Ansatz ist aber schon während der westlich geförderten »Versöhnungs- und Wiedereingliederungsprogramme« gescheitert, genauso wie das Konzept der »Zehn-Dollar-Taliban«, gemäß dem Taliban für Geld aufseiten der Regierung kämpfen sollten. Die Taliban interpretierten das als Aufforderung zur Kapitulation bzw. als Vorwurf der Käuflichkeit. Kämpfende Taliban nahmen das Angebot zu einer bezahlten Eingliederung daher kaum an. Stattdessen schleusten Mitglieder der Kabuler Regierung Scheinüberläufer durch das Programm, die »Wiedereingliederungsprogramme« wurden so zur Korruptionsmaschine.

Auch bei den Taliban verhindern zahlreiche Hürden die Aufnahme erfolgversprechender Gespräche. Zum einen lehnen sie nach wie vor einen direkten Dialog mit der als »Marionette« geschmähten Regierung in Kabul ab, egal ob unter Karzai oder Ghani, auch wenn die beiden Treffen in Norwegen sowie das Meeting in Urumtschi darauf hindeuten, dass diese Position sich trotz jeweiliger Dementis langsam aufzuweichen scheint. Erst sollen jedoch alle ausländischen Truppen abziehen. Ghani hat die US-Amerikaner aber eben erst gebeten, noch über den vereinbarten Abzugstermin Ende 2016 hinaus Truppen im Land zu belassen; auch die NATO wird in Afghanistan weiter mit einer »zivil geführten« Mission präsent sein. Ebensowenig ist klar, welche politischen Zukunftsvorstellungen die Taliban für Afghanistan hegen, noch, ob ihre positiven Positionsveränderungen in Sachen individueller Rechte, Minderheitenfragen, Zugang zu Bildung und Akzeptanz der Unmöglichkeit eines Machtmonopols taktischer Natur oder genuin sind.

Das Pugwash-Treffen in Katar ließ erkennen, dass ein tiefer Graben zwischen den Positionen über die künftige „Struktur des politischen Systems (und der Verfassung Afghanistans)“ besteht, wie es im Abschlussbericht von Pugwash heißt. Die Regierung in Kabul verlangt weiter, dass die Taliban die geltende Verfassung anerkennen, während diese darauf beharren, es müsse eine neue Verfassung ausgearbeitet werden, da die gegenwärtige „im Schatten von B-52-Bombern“ entstanden sei, wie es auf ihrer Webseite heißt. Auch der Konsens, dass die Regierung Afghanistans „auf jeden Fall“ islamisch sein soll, lässt viel Interpretationsspielraum zu. Wie islamisch? Was wird aus den existierenden, durch (wenn auch unsaubere) Wahlen gebildeten politischen Institutionen und den im Moment jedenfalls auf dem Papier garantierten Freiheitsrechten „für alle Bürger Afghanistans“ – also Männer und Frauen gleichermaßen? Immerhin bestand bei dem Pugwash-Treffen offenbar Einigkeit, dass keine Partei künftig ein Machtmonopol haben dürfe.

Schon zuvor hatten die Taliban erkennen lassen, dass sie internationaler Kritik und Druck aus der lokalen Bevölkerung gegenüber nicht gleichgültig sind. So öffneten sie verschiedentlich zuvor von ihnen geschlossene Mädchenschulen wieder und unterstützten Impfkampagnen durch die Einhaltung kurzfristiger, inoffizieller Waffenruhen. Andererseits halten sie sich nicht an die international akzeptierte Definition ziviler Ziele, die nicht angegriffen werden dürfen (z.B. ziviles Regierungspersonal), und nehmen seit Jahren und entgegen anderslautenden Statements bei ihren Angriffen eine hohe Zahl ziviler afghanischer Opfer in Kauf. Zuletzt stuften sie offenbar selbst humanitäre Helfer aus »Invasorenländern« als legitime Anschlagsziele ein. Dadurch gefährden sie alle von westlichen Gebern finanzierte Entwicklungsprogramme und damit eine Hauptüberlebensgrundlage der Zivilbevölkerung, in deren Namen sie zu handeln vorgeben. Im Juni dieses Jahres lehnten sie zum wiederholten Male einen Aufruf zu einem Waffenstillstand über den Fastenmonat Ramadan ab und intensivierten in dieser Zeit sogar ihre Angriffe.

Das jüngste Treffen Mitte Juli 2015 in Pakistan kann entsprechend nur eine neue Fühlungsaufnahme sein.

Thomas Ruttig (thruttig.wordpress.com) arbeitet seit 1980 zu Afghanistan und ist seit 2009 Ko-Direktor des unabhängigen Think-Tanks Afghanistan Analysts Network (afghanistan-analysts.org) mit Sitz in Kabul und Berlin.

Hauptsache gut gemeint?

Hauptsache gut gemeint?

Die friedensethische Bilanz der EKD zum Afghanistan-Krieg

von Albert Fuchs

Mit Blick auf das bevorstehende Ende des internationalen militärischen Engagements in Afghanistan hat die EKD unlängst eine bilanzierende Stellungnahme vorgelegt. Gefragt wird insbesondere nach der Bewährung des (groß-) kirchlichen friedensethischen Leitbildes eines gerechten Friedens im (militärischen) Einsatz. Die Autorinnen und Autoren des EKD-Papiers halten die Leitidee des gerechten Friedens für grundsätzlich bewährt. Unser Autor problematisiert die Rahmensetzung und findet die Bewährungsfrage großteils nicht überzeugend bzw. unhaltbar beantwortet. Jedenfalls werde kein Ausweg aus der »Militärgewaltfalle« aufgezeigt.

Unter dem Titel »„Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik« hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) unlängst eine bilanzierende friedensethische Stellungnahme zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zur Diskussion gestellt (EKD 2013/14; zur weiteren Referenz nur Seitenzahlen). Wie der Vorsitzende des Rates der EKD, Nikolaus Schneider, im Vorwort zu dieser Stellungnahme erläutert, liegen ihr zwei Leitfragen zugrunde: „Bewährt sich das Leitbild des gerechten Friedens im Einsatz oder muss es von den Erfahrungen in Afghanistan her konkretisiert, präzisiert oder sogar korrigiert werden?“ Und: „Wird der deutsche Einsatz in Afghanistan dem Anspruch gerecht, eine Rechtsordnung zu schaffen und dadurch Frieden zu ermöglichen?“ (S.8) Für den friedensethischen Diskurs ist vor allem die erste Leitfrage von Interesse; sie wird im Wesentlichen in Kapitel 2 des Papiers erörtert. Betitelung und Vorwort beinhalten aber eine aufschlussreiche Rahmensetzung, die hier zunächst beleuchtet werden soll. Im Ausblick werde ich kurz die Frage aufgreifen, ob das EKD-Papier einen Ausweg aus der »Militärgewaltfalle« aufzeigt.

Staatstragende Rahmensetzung

Als Haupttitel verwendet das EKD-Papier den expressiven Teil der siebten jesuanischen »Seligpreisung« aus der im Matthäus-Evangelium überlieferten so genannten Bergpredigt: „Selig die Friedfertigen!“ (Mt. 5,9) Das altgriechische »eirenepoioi« – wörtlich »Friedenstäter« – meint aber nicht (bloß) zum Nachgeben, Dulden und Verzeihen bereite Menschen und schon gar nicht Konfliktvermeider, sondern Menschen, die aktiv Gegensätze ausgleichen und Frieden stiften. Die Rede von Friedfertigkeit könnte purem Übersetzungskonventionalismus geschuldet sein. Sie scheint jedoch im gegebenen Kontext zumindest in gleichem Maße eine Vorliebe für eine Art Gesinnungspazifismus zu signalisieren.

In seinem Vorwort versichert der EKD-Vorsitzende, der Friede, den Gott nach christlicher Überzeugung schenke, bewege „Menschen dazu, Frieden zu stiften“ (S.7). Demnach geht es nicht um »pietistische«, sich auf Innerlichkeit zurückziehende und damit begnügende Gesinnung, sondern um Friedenshandeln einschließende. Inwiefern das noch als »gesinnungspazifistisch« deutbar ist, erschließt sich unmittelbar im Anschluss: Die christlichen Kirchen, so der Vorsitzende weiter, würden immer wieder neu um die Frage ringen: „Wieweit ist es im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus zu rechtfertigen, dem Frieden mit militärischer Gewalt den Weg zu bereiten?“ (ebd.) Die Frage ist aus der EKD-Perspektive also nicht, ob militärische Gewalt für Frieden (politisch-moralisch) gerechtfertigt werden kann, ja nicht einmal, ob das in christlich-religiöser Hinsicht – „im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus“ – möglich ist; das »Ob« im engeren emphatischen und damit auch im weiteren Sinn wird fraglos gestellt. Die Frage ist lediglich, „wieweit“ das so oder so möglich ist. Da aber die Anwendung von militärischer Gewalt vom Standpunkt der Ethik und Moral – und wohl erst recht „im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus“ – in sich hoch problematisch ist, läuft diese Rahmung augenscheinlich auf einen Gesinnungspazifismus des Typs »Hauptsache gut gemeint« hinaus, auf einen Gesinnungspazifismus also, der sich gerne als »Verantwortungspazifismus« versteht und anpreist.

Der beiläufige Anspruch, damit für »die« christlichen Kirchen zu sprechen, kann hier dahingestellt bleiben. Wichtiger ist die weitere Ausgestaltung der grundlegenden Rahmung unter Rückgriff auf die so genannte Friedensdenkschrift der EKD von 2007. Dort habe man, so der Vorsitzende, „das biblisch begründete friedensethische Leitbild des »gerechten Friedens« formuliert“. Ein solcher Friede aber bedürfe einer Rechtsordnung. „Um sie zu schaffen und zu bewahren“, betone „die Friedensdenkschrift die vorrangige Option der Gewaltfreiheit“; als »ultima ratio« aber halte sie „ein militärisches Eingreifen zur Erhaltung oder Aufrichtung einer Rechtsordnung für möglich“ (S.7f.). Mit der Einführung der Konzepte »Rechtsordnung« und »militärisches Eingreifen« und mit der Mittel-Ziel-Staffelung dieser Importe im Hinblick auf das biblische Leitbild, sozusagen als Unterbau eines gerechten Friedens, erhöht sich die Angleichung der Rahmenkonstruktion an den staatlichen Ansatz. Durch ein drittes Moment wird sie damit nahezu deckungsgleich.

Dieses Moment deutet der Ratsvorsitzende an, wenn er davon berichtet, wie er bei Gelegenheit einer Pastoralreise zum deutschen Einsatzkontingent nach Afghanistan „mit großem Respekt […] wahrgenommen“ habe, „dass die Soldatinnen und Soldaten sich der Zwiespältigkeit ihres Einsatzes bewusst waren“; einhellig hätten sie zum Ausdruck gebracht: „Militärischer Einsatz schafft keinen Frieden, sondern schafft Voraussetzungen dafür, dass Frieden sich entwickeln kann.“ (S.8) Implizit wird damit das Kongruenz- oder Kohärenzpostulat der Friedensdenkschrift angesprochen. Dem zufolge sollten „militärische Maßnahmen […] Bestandteil einer kohärenten Friedenspolitik unter dem Primat des Zivilen“ sein (EKD 2007, Ziff. 118). Das entspricht weitgehend dem politischen Konzept »vernetzte Sicherheit« (»comprehensive approach«; z.B. ZIF, o.J.) – wobei allerdings der „Primat des Zivilen“ im politischen Diskurs in der Regel nur verhalten gefordert wird.

Wie nun stellt sich bei dieser ausgesprochen staatstragenden Rahmensetzung die Bewährung des Leitbildes des gerechten Friedens im Einsatz (in Afghanistan) dar?

Friedensethisches Leitbild im Lichte des Afghanistan-Einsatzes

Bereits im Vorwort zu dem neuen Papier wird unterstellt, dass militärisches Eingreifen nicht nur als »rechtserhaltende Gewalt« rechtfertigungsfähig ist, sondern auch als Recht schaffende oder aufrichtende Gewalt. In der Stellungnahme wird dieser Gedanke näher ausgeführt: „Friedenskompatible Rechtsinstitutionen sind eine wesentliche Voraussetzung nachhaltigen Friedens. Um sie zu schaffen, kann es nötig sein, rechtsermöglichende Gewalt anzuwenden.“ Der „dabei vorausgesetzte Begriff des Rechts“ beziehe sich jedoch „nicht auf ein faktisch gegebenes Rechtssystem, sondern normativ auf die in den grundlegenden Menschenrechten und einer legitimen Völkerrechtsordnung konkretisierte Rechtsidee“ (S.12). Auch in der Friedensdenkschrift wird die Reichweite rechtfertigungsfähiger »rechtserhaltender Gewalt« unter Berufung auf die Menschenrechtesidee ähnlich extensiv ausgelegt (vgl. EKD 2007, Ziff. 88) – aber nicht so ausdrücklich und klar wie (vermutlich einsatzbezogen) an dieser Stelle. Und ebenso wie dort werden auch hier die bekannten Schwierigkeiten mit dem zugrundeliegenden Universalitäts- und vor allem mit dem Unteilbarkeitspostulat im Menschenrechtsdiskurs ausgeblendet (vgl. Hamm und Nuscheler 1995). Demnach ist schwer zu sagen, ob die friedensethische Konzeption der Denkschrift in diesem Punkt als einsatzbezogen bestätigt oder als in Frage gestellt anzusehen ist. Die eventuelle Ergänzung bzw. Korrektur wird jedenfalls nicht thematisiert, geschweige denn näher begründet.

Damit tritt ein Grundproblem der (Erörterung der) Bewährungsfrage zutage: Weder wird erläutert, wonach eigentlich gefragt wird, noch, woran Bewährung oder Nicht-Bewährung dingfest zu machen sein könnten. Der Ratsvorsitzende meint dessen ungeachtet, der Rat und die (federführende) Kammer (für Öffentliche Verantwortung) seien „der Überzeugung, dass das Leitbild des gerechten Friedens der Denkschrift und die sich aus ihm ergebenden Prinzipien und Kriterien schriftgemäße und sachgemäße Aussagen evangelischer Friedensethik sind“ (S.8f.). So heißt es denn abschließend auch in dem Papier selbst, das Leitbild des gerechten Friedens bewähre sich „mit Blick auf eine friedenspolitische Bewertung der Situation in Afghanistan“ (S.49). Wie aber sieht es beim Vergleich von normativen Vorstellungen und einschlägiger Einsatzrealität im Einzelnen aus?

Die Ausführungen zu Legitimität und Legalität der militärischen Intervention in Afghanistan in Kapitel 2 des Papiers wirken bereits bei flüchtiger Durchsicht ausgesprochen affirmativ. Das ändert sich nur wenig bei genauerem Hinsehen. So geht man eigentümlich salopp über die Frage hinweg, wie es mit der Erfüllung der allgemeinen, von der Denkschrift der Bellum-iustumLehre entlehnten Kriterien »rechtserhaltender Gewalt« (Erlaubnisgrund, Autorisierung, rechte Absicht … – EKD, 2007, Ziff. 102) steht. Mit der Bescheidung, „um […] aussagekräftig zu sein, bedürfen diese allgemeinen Kriterien einer ersten Konkretisierung im Blick auf unterschiedliche Situationstypen“ (S.12), wird statuiert: „Für die Beurteilung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan […] sind die Prüfkriterien heranzuziehen, die in der »Friedensdenkschrift« […] für »internationale bewaffnete Friedensmissionen« formuliert worden sind (Ziffern 117-123).“ (S.15) Nun stellen aber die an dieser Stelle konkretisierend formulierten Kriterien erkennbar nur eine Schnittmenge des allgemeinen Kriteriensatzes dar. Was also ist aus den allgemeinen, nicht konkretisierend erfassten Prüfkriterien geworden?

Bei der Prominenz des Ultima-ratioAspekts bereits in der Rahmenkonzeption (s.o.) hätte sich die EKD-Kammer zumindest mit der Frage der Erfüllung dieses Kriteriums gründlich auseinandersetzen müssen. Doch Fehlanzeige! Immerhin wird nach Einordnung des Beginns der Afghanistan-Kriegs mit der US-Operation »Enduring Freedom« als Fall von (kollektiver) Selbstverteidigung das allgemeine Kriterium »Erlaubnisgrund« eingehender diskutiert (S.13). Bei dieser kaum weniger fundamentalen Frage folgt man kritiklos der Auffassung der USA und ihrer Verbündeten und deren Interpretation der relevanten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats (Res. 1368 vom 12.09.2001 und Res. 1373 vom 28.09.2001). Dass diese Auffassung völkerrechtlich sehr umstritten ist und zahlreiche renommierte Juristen den USA die Führung eines Angriffskrieges vorwerfen (z.B. Boyle 2001; Deiseroth 2009; Paech 2002), wird ignoriert. Dem Gremium scheint auch nicht der gut bezeugte Sachverhalt zur Kenntnis gekommen zu sein, dass der Angriffsplan der USA gegen Afghanistan bereits mehrere Wochen vor dem 11. September, Mitte Juli 2001, vorlag und demzufolge der Angriff Mitte Oktober stattfinden sollte (Arney 2001; vgl. Meacher 2003).

Ein besonderes Erklärungsformat, eine Art argumentatives Patt, führt die Kammer (erstmals) bei Erörterung der Legitimation der extremen zeitlichen Ausdehnung des Selbstverteidigungsanspruchs der USA vor: Ein Teil des Gremiums sieht unter Berufung auf die Friedensdenkschrift „den Legitimationstitel der Selbstverteidigung schon 2001 nach der Entmachtung des Talibanregimes und der Zerschlagung der Stellungen von Al Qaida in Afghanistan erschöpft“. Der andere Teil dagegen glaubt, es sei „über das in der Friedensdenkschrift ausdrücklich Gesagte hinaus“ anzuerkennen, „dass ein militärisches Engagement über längere Zeit hinaus erforderlich sein könne, um einen Rückfall in eine unmittelbare Bedrohungssituation zu verhindern“ (S.14f.).

Mit der zunehmenden Entwicklung »kriegsähnlicher Zustände«, die als solche in der hiesigen Öffentlichkeit erst ab dem September-Desaster am Kundusfluss 2009 breiter realisiert wurde, war die Kammer auch herausgefordert, sich eingehender mit einer in der Friedensdenkschrift eher vernachlässigten Frage auseinanderzusetzen. Man kann sie als Frage nach der Bedeutung des Verhältnisses von »ius in bello« und »ius ad bellum« für die moralische Qualität (des Handelns) der militärischen Akteure kennzeichnen. Die Brisanz dieser Frage resultiert aus der zunehmenden Verknüpfung der UN-mandatierten ISAF-Stabilisierungsmission mit dem US-erklärten »war on terror«, insbesondere aus dem verstärkten Rückgriff der US-Streitkräfte auf »verdeckte Operationen«, auf die gezielte Tötung Aufständischer und Terrorismusverdächtiger und auf Angriffe mit »Kampfdrohnen«.

Die Frage wird breit, aber analytisch eher oberflächlich und letztlich ergebnislos diskutiert: In der Kammer blieb (abermals) strittig, ob bei der ursprünglichen Interventionsentscheidung unvorhergesehene und ungewollte Gewaltmaßnahmen im Gefolge seinerzeit nicht erkennbarer Faktoren „ihre Legitimität aus der ursprünglichen Interventionsentscheidung erhalten“ oder ob „die Legitimität der Fortsetzung einer Intervention situativ immer wieder sorgfältig überprüft und unter Umständen revidiert werden muss“ (S.17). Einigen konnte man sich offensichtlich auf den wohlgemeinten Appell, „von vornherein“ müsse „die Grundentscheidung zur militärischen Intervention mit größter Sorgfalt Unvorhergesehenes einkalkulieren“ und es müssten „Ausstiegsszenarien mit bedacht werden“ (S.17f.).

Entsprechende argumentative Patts dokumentiert das EKD-Papier auch bei den untergeordneten Fragen zur Bedeutung der Bündnissolidarität gegenüber friedensethischen und rechtlichen Bindungen (S.18) sowie zur Bewertung der „Praxis des gezielten Tötens nichtstaatlicher Akteure, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen“ (S.22).

Beim kurzen Blick auf das dritte zentrale Element der Rahmenkonzeption, zivil-militärische Zusammenarbeit „unter dem Primat des Zivilen“ (s.o.), überlässt man es nicht näher identifizierten „zivile[n] Akteure[n]“, darin eine „Instrumentalisierung ziviler, politischer und entwicklungspolitischer Maßnahmen für eine Kriegführung »niedriger Intensität«“ zu befürchten. Man konstatiert lediglich kontrafaktisch – für den Fall, dass dem so wäre: „Dies würde die in der Denkschrift für bewaffnete Friedenserzwingungsmissionen formulierten Grenzen überschreiten, […]“ (S.21). Abschließend zeigt man sich diesbezüglich überzeugt, dass insbesondere „das Verhältnis von militärischen und zivilen Anteilen […] einer genaueren Abstimmung bedurft hätte“ (S.49).

In Sachen Drohnenkrieg wird auf jede Positionierung verzichtet; stattdessen die so wohlfeil wie hilflos wirkende Forderung nach „breite[r] öffentliche[r] Diskussion mit dem Ziel einer völkerrechtlich verbindlichen Normierung“ (S.24). Und was die so genannten Kollateralschäden betrifft, die unbeteiligten Opfer von Kampfhandlungen, so scheint man voll und ganz damit zufrieden, dass „die Gewaltanwendung nach ISAF- Regularien nur zulässig“ sein soll, „wenn sie der Notwehr und Nothilfe dient und die Gefahr für Leib und Leben der Soldaten nicht anders abgewehrt werden kann“ (S.24f.).

So weit zur »Bewährung« des Leitbilds des gerechten Friedens im Afghanistan-Einsatz anhand ausgewählter Detail-Fragen.

Resümee und Ausblick

Die Bilanz muss nach dem vorausgehenden Durchgang anders ausfallen, als es der Ratsvorsitzende und auch die Kammer selbst zusammenfassend nahelegen (s.o). Deren positives Gesamturteil wird den Detail-Befunden nicht gerecht. Im Übrigen ist in der »Schlussbemerkung« ein fünftes und letztes argumentatives Patt dokumentiert, das mit dem vorausgeschickten positiven Gesamturteil schwer vereinbar erscheint: Ein Teil der Kammer „sieht durch die Situation in Afghanistan die Prinzipien und Kriterien der Friedensdenkschrift bestätigt und bewertet die friedensethische Legitimität des Einsatzes trotz gegebener völkerrechtlicher Mandatierung sehr kritisch“ (S.49). Ein anderer Teil „betont die Legitimität des Einsatzes unter dem Gesichtspunkt, dass die ursprüngliche Interventionsentscheidung durch nicht erkennbare Faktoren und Entwicklungen im laufenden Einsatz zu zuvor unvorhergesehenen und ungewollten Gewaltmaßnahmen gezwungen habe. […] Es sei geboten, nicht die Prinzipien, wohl aber die auf einzelne Handlungssituationen bezogenen Kriterien der Friedensdenkschrift weiterzuentwickeln.“ (S.50) Etwas zugespitzt also: Die einen kritisieren die Entwicklung im Lichte der normativen Vorgaben, die anderen möchten diese Vorgaben im Lichte der Entwicklung korrigiert bzw. »weiterentwickelt« sehen.

Die diskursiven Patts in dem EKD-Papier werden jedoch vom Ratsvorsitzenden bereits im Vorwort als „argumentative Gabelungen“ angekündigt und positiv als „differenzierter Konsens“ gewürdigt, in dem sich der „prozessuale Charakter evangelischer Ethik prägnant“ ausdrücke (S.9). Ähnlich sieht der Vorsitzende der Kammer, Hans-Jürgen Papier, an diesen Stellen „eine sozusagen klassische Alternative evangelischer Ethik“ wiedergegeben (Papier 2014). Diese Deutung einer augenscheinlichen Schwäche als Stärke wirkt befremdlich. Ein Durchhalten der ethischen Perspektive dürfte jedenfalls an den besagten »argumentativen Gabelungen« oder »Weichen« in besonderer Weise gefährdet sein durch individuelle, soziale und politische Voreingenommenheiten. Zu erfahren, welche Kammer-Mitglieder sich jeweils wie positionierten, hätte diesbezüglich sehr aufschlussreich und diskursförderlich sein können,

Doch auch wo kein interner Dissens hervortritt, scheint die Detail-Befundung zumindest nicht durchgehend ergebnisoffen aufgenommen und durchgeführt worden zu sein. Gegen eine ergebnisoffene Bewährungsprüfung spricht die Vernachlässigung substanzieller Komponenten der normativen Bezugskonzeption, insbesondere von so grundlegenden Prüfkriterien wie dem Ultima-ratioKriterium. Dagegen spricht auch die partiell selektive und voreingenommene Verarbeitung einsatzbezogener Sachinformation, insbesondere zum Selbstverteidigungsspruch der USA (und ihrer Verbündeten) – und wohl auch das umstandslos extensive Verständnis von »rechtserhaltender Gewalt«.

Interessanterweise war man sich einig bei der zweiten, eingangs nur kurz erwähnten Leitfrage der Stellungnahme, bei der Frage der Anspruchsangemessenheit des Afghanistan-Einsatzes. So heißt es im Vorwort: „[…] übereinstimmend urteilen Kammer und Rat mit großer Skepsis in der Frage, ob die in Afghanistan eingesetzten militärischen Mittel dem politischen Ziel des Einsatzes angemessen waren und sind“ (S.9). Und in der Schlussbemerkung heißt es: „Im Blick auf den Afghanistan-Einsatz stellt sich allerdings die ernste Frage, ob nicht die militärischen Mittel eine Eigendynamik entwickelt haben, die dazu führte, dass das Leitbild des »gerechten Friedens« aus dem Zentrum des Handelns herausgerückt ist.“ (S.49) Dieses Urteil „mit großer Skepsis“ ist am Zielgehalt gerechten Friedens gemäß der Friedensdenkschrift orientiert: Schutz vor Gewalt, Förderung der Freiheit, Abbau von Not und Anerkennung kultureller Verschiedenheit (EKD 2007, Ziff. 80-84), statt an der Frage der Rechtfertigungsfähigkeit der militärischen Mittel. Die unübersehbare Übereinstimmungs-Diskrepanz – ganz abgesehen von den Informationsvermeidungs- und Rationalisierungstendenzen bei den Gewaltrechtfertigungsfragen – dürfte ein deutlicher Indikator dafür sein, dass mit der friedensethischen Leitidee des »gerechten Friedens«, anders als vielfach verkündet, der Gegensatz von Bellizismus und Pazifismus keineswegs überwunden ist und dass das bellizistische Urteilsinstrumentarium selbst in den Händen von Leuten versagt, die die fragliche Rahmenkonzeption teilen.

Weder die im Lichte der Leitidee desillusionierenden Ergebnisse des Afghanistan-Einsatzes noch die massiven Probleme der Gewaltrechtfertigungsdebatte sind für die Kammer erkennbar Anlass, die Rahmenkonzeption in Frage zu stellen; der quasi-religiöse Glaube an »gute Gewalt« ist wohl nicht falsifizierbar. Im Gegenteil bestätigt z.B. der Kammervorsitzende genau diese Rahmenkonzeption, wenn er zusammenfassend „vom Leitbild des »gerechten Friedens« her […]. aus dem Afghanistan-Einsatz einige grundsätzliche Anforderungen an humanitäre Interventionen“ glaubt ableiten zu können (Papier 2014). Doch damit weist die (groß-) kirchliche Friedensethik keinen Ausweg aus der Militärgewaltfalle, sondern verstrickt sich letztlich nur tiefer in die Logik der Gewalt – wie »gut gemeint« und als »ultima ratio« eingeschränkt das auch daherkommen mag (vgl. Enns 2013).

Literatur

George Arney (2001): US planned attack on Taleban. BBC, 18.09.2001.

Francis Boyle (2001): Dieser Krieg ist illegal. Interview mit Spiegel Online, 31.10.2001.

Dieter Deiseroth (2009): Deutschlands »Kampfeinsatz« – Jenseits des Rechts. Frankfurter Rundschau, 26.11.2009.

Fernando Enns (2013): Responsibility to Protect – Das ethische Dilemma der Gewaltanwendung. Friedens-Forum, 26(5), S.30-31.

Evangelische Kirche in Deutschland/EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Evangelische Kirche in Deutschland/EKD (2013/14): „Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik. Eine Stellungnahme der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD. Hannover: Kirchenamt der EKD.

Brigitte Hammund und Franz Nuscheler (1995): Zur Universalität der Menschenrechte. Institut für Entwicklung und Frieden, INEF-Report 11/95.

Michael Meacher (2003): This war on terrorism is bogus. The 9/11 attacks gave the US an ideal pretext to use force to secure its global domination. The Guardian, 06.09.2003.

Norman Paech (2001): Afghanistan-Krieg, Bundeswehreinsatz und Völkerrecht. Ein Gutachten zum Antrag der Bundesregierung. 12.11.2001.

Hans-Jürgen Papier (2014): Statement auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Textes »„Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik«.

Zentrum für Internationale Friedenseinsätze/ZIF (o.J.): Vernetzte Sicherheit/Comprehensive Approach.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Hochschullehrer für Kognitions- und Sozialpsychologie i.R., Mitglied des Beirats von W&F und u.a. bei Pax Christi engagiert.

In Furcht vor dem Allerschlimmsten

In Furcht vor dem Allerschlimmsten

von Thomas Seibert

Bei meinem letzten Besuch in Kabul, Mitte vergangenen Jahres, hörte ich überall fast wortgleich denselben Satz: „Niemand weiß, was im nächsten Jahr geschehen wird. Ich weiß nicht, wo ich dann sein werde.“ Einige meiner Gesprächspartner haben diese Ungewissheit zwischenzeitlich hinter sich gelassen. Sie nutzen ein US-Stipendium für Kulturschaffende, haben ein Auslandsstudium begonnen, folgten einer Einladung von Freunden. Bis zum Abzug der »Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe« (ISAF) aus Afghanistan werden ihnen andere nachreisen. Zur zermürbenden Ungewissheit gehört, dass nicht einmal sicher ist, ob die Truppen, deren Anwesenheit von immer weniger Menschen gewollt wird, überhaupt gehen werden. Die USA wollen mindestens bis 2024 bleiben, mit bis zu 15.000 eigenen Soldatinnen und Soldaten und mehreren Tausend anderer Länder. Der scheidende Präsident Karzai hat seine Zustimmung dazu noch nicht gegeben: Er verhandelt weiter den Geschäftsanteil der afghanischen Gewaltoligarchie. Die wiederum steht, da gibt es jetzt kein Vertun mehr, der Demokratie, den Menschenrechten und der Frauenbefreiung nur wenig ferner als die Taliban.

Natürlich ist verglichen mit 2002 vieles anders, vieles besser geworden. Damals gab es in Afghanistan sechs Hochschulen mit 4.000 Studierenden. Heute gibt es 26 solcher Einrichtungen mit 80.000 Studierenden. 20% der 3.000 Lehrkräfte sind Frauen, unter den Taliban waren es ganze vier. Verändert hat sich auch Kabul. Die 2002 völlig zerstörte Stadt ist wieder aufgebaut, füllt das umgebende Tal gänzlich aus, quillt über alle Bergpässe. Sie beherbergt jetzt fast sechs Millionen Menschen, gegenüber 2,7 Millionen unter den Taliban und gerade mal 400.000 in den 1970er Jahren. Viele Kabuli leben relativ geschützt vor unmittelbarer Gewalt und oberhalb der absoluten Armut. Ihnen haben sich Chancen eröffnet, die es vorher nicht gab und anderswo in Afghanistan noch immer nicht gibt. Das ist festzuhalten.

Dagegen steht, unendlich bitter und aussichtslos: 70% der Menschen sind ohne Arbeit, ihre durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 43 Jahren. Und das in einem Land, in dem wiederum 70% der Menschen unter 25 sind. Weil das so ist, wird unterhalb des Niveaus eines offenen Krieges weitergekämpft: in den Reihen der staatlich-afghanischen Streitkräfte, der privaten Sicherheitsagenturen, der Warlord-Milizen, der Taliban. Gekämpft wird zuerst und immer um das eigene Auskommen, das eigene Überleben, in den meisten Fällen direkt oder indirekt auf Rechnung der Opiummafia. Die politische Begründung für den Kampf vieler gegen viele kommt in jedem einzelnen Fall erst hinterher, weil es auch in Afghanistan ganz ohne solche Idealisierung nicht geht.

Das ist so und wird, wenn es nicht schlimmer kommt, noch lange so bleiben, weil in den zwölf Jahren des ISAF-Kriegs die Taliban zwar zeitweise geschwächt, alle anderen Kriegsparteien aber systematisch gestärkt wurden. Weil die ISAF nur das Arrangement stabilisieren konnte, mit dem sich die verschiedenen Gewaltherren, wer sie auch seien, gegenseitig absichern. Weil die ISAF nie ein Akteur war, der etwas anderes erreichen wollte. Das konnte man 2002 schon wissen, jetzt ist es unstrittig dokumentiert: im Fehlschlag der ganzen Mission.

Soll dieses Resultat vor dem noch Schlimmeren – der Entfesselung des offenen Kriegs – bewahrt werden, müssten die Taliban der Gewaltoligarchie offiziell beitreten. Vielen Menschen wäre das mehr als recht, weil die Chance aufs Überleben dann größer wäre. Auch wenn die Verhandlungen dazu aktuell unterbrochen sind, ist diese Option noch nicht verspielt.

Die Menschenrechte aber bleiben, wie heute schon, zuerst Sache der Afghaninnen und Afghanen, die eigens und ausdrücklich mit ihrem eigenen, nicht mit dem Leben anderer für sie einstehen. So wird eine kleine Allianz von Menschenrechtsorganisationen in diesem wie schon im letzten Jahr versuchen, der Gewaltoligarchie den 28. April streitig zu machen. In Afghanistan ist das ein ganz besonderer Tag: Am 28. April 1978 putschten sich die »Volkspartei«-Kommunisten an die Macht. Am 28. April 1992 zogen die Mujaheddin in Kabul ein. Am 28. April 2014 wird Karzais Nachfolger, aller Voraussicht nach, zumindest benannt sein. Ihnen allen gilt dieser Tag als »Victory Day«. Für die Aktivisten aber ist er der Tag des Gedenkens an anderthalb Millionen Kriegstote. Sie fordern das öffentliche Schuldeingeständnis aller Gewaltherren, die Anerkennung des Rechts der Kriegsversehrten und Kriegswitwen auf Wohnung, Schule, Ausbildung und eine Pension von 400 Afghani, nicht einmal sechs Euro. Ihretwegen und wegen des Einsatzes derer, die sich um sie scharen, gibt es auch und sogar in Afghanistan einen demokratischen Prozess, trotz der Gewaltherren und trotz allen, die sich mit ihnen arrangiert haben. Das Allerschlimmste wäre, würde dieser Prozess – ein weiteres Mal – ausgelöscht: politisch und physisch.

Thomas Seibert ist Südasienreferent von medico international.