Übergang vom Krieg zum Frieden

Übergang vom Krieg zum Frieden

Bedingungen und Agenda einer Afghanistan-Mediation

von Jerry Sommer und Paul Schäfer

Kriege werden häufig nicht so beendet, dass mit dem Ende der Kampfhandlungen und dem Rückzug der Truppen die Voraussetzungen für Versöhnung gegeben sind. Aktuell wird zwar viel über den Abzug der US- und der NATO-Truppen aus Afghanistan diskutiert. Dennoch scheinen sich die NATO-Regierenden darauf einzustellen, dass der Krieg weitergeht, deshalb sind mögliche Nachfolgemissionen im Gespräch. Dabei besteht die einzige Chance, die endlose Fortsetzung der Kämpfe in Afghanistan zu verhindern, darin, eine politische Lösung in den Mittelpunkt der Bemühungen zu stellen.

Seit über 35 Jahren herrscht Krieg in Afghanistan. Interne Machtkämpfe, die auch ethnische und religiöse Hintergründe haben, vermischten sich mit äußeren Interventionen. Die Nachbarländer Pakistan und Iran unterstützten ihnen ethnisch und politisch nahe stehende Gruppierungen, ebenso wie die Sowjetunion, die 1979 zugunsten der ein Jahr zuvor nach einem Putsch an die Macht gelangten Demokratischen Volkspartei Afghanistans massiv militärisch eingriff. Die USA und Pakistan bewaffneten die Gegner dieser Partei schon vor der sowjetischen Intervention und erst recht danach. Nachdem die Sowjetunion 1989 alle ihre Truppen abgezogen hatte, stürzte 1992 die Nadschibullah-Regierung, als ihr von Moskau auch die finanzielle Hilfe entzogen wurde. Es folgte ein brutaler Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Mudschahhedin-Parteien, bevor die Taliban1 1996 die Macht in Kabul übernahmen. Die US-Intervention 2001 führte zum »Regime Change« durch den Sturz der Taliban und die Einsetzung einer den USA und der NATO genehmen Regierung unter Präsident Hamid Karzai.

Bei der Entscheidungsfindung über die neue politische Ordnung auf der Petersberg-Konferenz 2001 waren die Taliban ausgeschlossen, was der damalige UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Lakhdar Brahimi. später als „größten Fehler“ bezeichnete.2 So wurde ein den Traditionen und der Geschichte des Landes überhaupt nicht entsprechendes, völlig überzentralisiertes präsidiales Regierungssystem in Afghanistan beschlossen, das selbst in der verfassungsgebenden »Loja Dschirga« – deren Zusammensetzung von der Karzai-Regierung ohnehin manipuliert war – nur eine Mehrheit von 55% erhielt. 45% traten dagegen für ein parlamentarisches System ein.

Das heutige politische System Afghanistans kann als oligarchisches System3 beschrieben werden, in dem verschiedene politisch-militärisch-wirtschaftliche Fraktionen – vor allem das »Karzai-Lager« sowie kooptierte Fraktionen ehemaliger Mudschaheddin/Warlords und heutiger regionaler Machthaber – das Sagen haben. Andere Teile der Gesellschaft, von der legalen Opposition bis hin zu den Aufständischen, sind von der Macht ausgeschlossen. Das System missachtet Menschenrechte und diskriminiert nicht zuletzt Frauen. Seine Vertreter regieren lokal wie zentral willkürlich, Korruption ist weit verbreitet.

Auch die wirtschaftliche Situation hat sich für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung nicht gebessert, trotz gegenwärtiger Wachstumsraten der Wirtschaft von neun Prozent.4 Von den 29 Millionen Afghanen leben 36% unter der Armutsgrenze, ein Viertel der Bevölkerung hat nicht genügend zu essen. Der Anteil der an akuter Unterernährung leidenden Menschen ist zwischen 2008 und 2011 auf 18% angestiegen, in den am meisten leidenden Regionen sogar auf 31% der Bevölkerung.5 Gleichzeitig hat sich unter den Kriegsbedingungen eine Schicht von Neureichen und gut bewaffneten Warlords herausgebildet, die große Geldsummen außer Landes schaffen – 2011 allein legal 4,6 Mrd. US-Dollar,6 was dem Volumen des afghanischen Staatshaushaltes entspricht. Die mit dem Rückzug der US/NATO-Truppen verbundene erhebliche Verringerung der Ausgaben der Interventionstruppen in Afghanistan wird Armut und Arbeitslosigkeit noch steigen lassen.7 Die von den Geberländern im Juli 2012 auf der Konferenz in Tokio beschlossene Unterstützung des Wiederaufbaus Afghanistans wird dies bestenfalls abmildern.

Die Kombination von politischer Willkürherrschaft, ökonomischer Armut sowie wachsender Kritik an US/NATO-Militäraktivitäten hat zu zunehmender Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Kabuler Regime geführt. Die Instabilität Afghanistans wächst weiter, weil sich gegenwärtig die verschiedensten Warlords bzw. Fraktionen des offiziellen Kabuls mit einer (Re-) Militarisierung auf die Zeit nach 2014 vorbereiten. Das verschärft die ohnehin vorhandene Übermilitarisierung Afghanistans. Neben zahlreichen, vor allem von den USA ins Leben gerufenen örtlichen (Polizei-) Milizen wurden die offiziellen Afghanistan National Security Forces (ANSF) – Armee und Polizei – inzwischen auf fast 350.000 Mann aufgestockt. Laut NATO-Angaben verlassen aber monatlich (!) 3,5% die Armee – das sind rund 40% im Jahr.8 Im März 2013 waren laut NATO-Angaben nur fünf von 23 afghanischen Armee-Brigaden zu selbständigen Aktionen in der Lage.9 Für die zukünftige Stabilität Afghanistans dürfte insbesondere auch die unausgeglichene ethnische Zusammensetzung der ANSF von besonderer Bedeutung sein: Angehörige der ethnischen Minderheiten der Tadschiken und Hazara „dominieren das Offizierskorps der afghanischen Armee und Polizei“,10 tadschikische Offiziere stehen 70% der Armeeeinheiten vor. Dies dürfte starke negative Folgen auf die Anerkennung der ANSF in den paschtunisch dominierten Stammesgebieten haben.

Nach elf Jahren US/NATO-Intervention hat nun eine neue Etappe in den kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan begonnen: Mit dem eingeleiteten Abzug der US/NATO-Truppen verändern sich die politischen und militärischen Rahmenbedingungen. Ein Ende des Krieges in Afghanistan ist derzeit jedoch nicht in Sicht. Eine kleine US/NATO-Streitmacht soll im Lande bleiben und weiterhin als Bürgerkriegspartei die afghanischen Sicherheitskräfte sowie das gegenwärtige politische System in Kabul stützen.

Ein Kurswechsel ist erforderlich

Um die Gewalttätigkeiten einzudämmen und zu beenden, ist dringend ein Kurswechsel erforderlich, der statt militärischer Aktionen die Suche nach politischen Lösungen in den Mittelpunkt stellt – mögen die Aussichten auf Erfolg auch gering scheinen.

Innerhalb von Afghanistan gibt es nur wenige Kräfte, die für einen Waffenstillstand und ernsthafte Verhandlungen eintreten. Dazu gehören die 25 jungen »Friedensfreiwilligen«, die in Kabul im Dezember 2012 mit Unterstützung der irischen Friedensnobelpreisträgerin Mairead Maguire begonnen haben, zwei Millionen Unterschriften für einen Waffenstillstand zu sammeln.11 In diesem Sinne aktiv sind neben anderen auch einige Vertreter afghanischer Stämme, darunter Naqibulla Shorish, die den »Shorish-Plan – Ein Weg zum Frieden für Afghanistan«12 ausgearbeitet haben bzw. unterstützen. Allerdings sind solche Positionen bisher nur von geringer politischer Relevanz.

Zwar haben die meisten Akteure, sei es in Afghanistan selbst oder in der Region, Angst vor wachsender Instabilität und einer Zunahme der kriegerischen Auseinandersetzungen, die mit einer Reduzierung der US/NATO-Truppen einhergehen können. Aber es gibt auch Berührungspunkte und/oder überlappende Interessen zwischen den afghanischen und den internationalen Akteuren, so dass eine politische Verhandlungslösung theoretisch trotz starker Divergenzen denkbar scheint.

Schritte zu einer politischen Lösung

Jeder Friedensprozess durchläuft verschiedene Stufen. Er beginnt mit Gesprächen über Gespräche, dem folgen Gespräche über Verhandlungen sowie vertrauensbildende Maßnahmen, bevor tatsächliche Verhandlungen beginnen. Wünschenswert ist natürlich, dass möglichst früh ein Waffenstillstand vereinbart wird. Doch in der Regel gelingt es nicht, dies schon am Anfang des Prozesses zu vereinbaren. Zu berücksichtigen ist, dass in der Konflikttransformation in Afghanistan – ähnlich wie in anderen Ländern – Schritte zum Frieden und zur Entwicklung, soziale und politische Gerechtigkeit kaum gleichzeitig zu erzielen sind.

Die erste Stufe, »Gespräche über Gespräche«, hatte in Afghanistan bereits begonnen. Allerdings sind diese Gespräche schon in ihren Anfängen stecken geblieben und liegen seit März 2012 auf Eis, ohne inhaltliche Fragen auch nur berührt zu haben.13

Die Gesprächspartner

Angesichts der relativen Autonomie der afghanischen Regierung (gegenüber den USA/NATO) dürfte ein Verhandlungsformat USA-Taliban keine Aussicht auf Erfolg haben. Bisher lehnen die Taliban jedoch, anders als die Aufständischen von Hezb-e-Islami ,Verhandlungen mit der gegenwärtigen afghanischen Regierung prinzipiell ab. Sie werden davon abrücken müssen, wie sich auch die afghanische Regierung bzw. die USA/NATO von Vorbedingungen verabschieden müssen. Trotz der mangelhaften demokratischen Legitimierung der Karzai-Regierung ist es weder sinnvoll noch möglich, sie von einem Friedensprozess auszuschließen, da sie einen Teil der afghanischen Gesellschaft repräsentiert. Ein exklusiv von Afghanen geführter Verhandlungsprozess müsste, um erfolgreich zu sein, weitere im Land vorhandene Kräfte berücksichtigen: die politische Opposition in Kabul, die Vertreter der Nord-Allianz, die Zivilgesellschaft und auf Seiten der Aufständischen die Gruppierungen Hezb-e-Islami und das Haqqani-Netzwerk. Eine Rückkoppelung vor allem mit den USA und Pakistan, aber auch mit weiteren regionalen Akteuren ist trotz der Konzentration auf afghanische Gesprächspartner notwendig.

Mediation

Es erscheint unwahrscheinlich, dass angesichts der Geschichte des Landes, der aktuellen afghanischen Konfliktlinien sowie der Verwobenheit der Parteien mit ausländischen Interessen die Afghan/-innen, wenn man sie denn allein ließe, eine Verhandlungslösung finden könnten. Eine Mediation ist wohl erforderlich. Als Mediatoren kämen im Prinzip kleinere Staaten (in Anlehnung an Norwegens Rolle bei dem »Oslo-Friedensprozess« zwischen Israelis und Palästinensern), Einzelpersonen oder Institutionen (wie z.B. das Jimmy Carter Center) oder auch die Vereinten Nationen in Frage.

Schon 2011 plädierte eine hochrangig besetzte internationale Studiengruppe unter Leitung von Lakhdar Brahimi, dem ehemaliger UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan und gegenwärtigem UN-Syrien-Sonderbeauftragten, und Thomas Pickering, dem ehemaligem US-Botschafter bei den Vereinten Nationen und Unterstaatssekretär im Außenministerium der USA, dafür, einen Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für eine Afghanistan-Mediation einzusetzen.14

Die International Crisis Group plädiert für ein kleines Team von Mediatoren, die von den Vereinten Nationen bestimmt werden sollten, da die Aufgabe von einem »Super-Beauftragten« allein nicht zu bewältigen sei.15 Allerdings lehnen die USA und die übrigen NATO-Staaten eine solch neue Rolle der Vereinten Nationen bisher ab. In den letzten zehn Jahren haben sie entscheidend dazu beigetragen, dass die UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) immer weiter an den Rand gedrängt wurde. Gegen die Vereinten Nationen sind aber auch die Taliban, die sie als »Handlanger der Besatzungstruppen« ansehen, da sie die Invasion quasi legitimiert und die Karzai-Regierung anerkannt haben. Auch letztere stand den UN-Aktivitäten in Afghanistan oftmals kritisch gegenüber. Mehrmals wandte sich die Regierung gegen Versuche der UN-Vertretung in Kabul, gegen Wahlfälschungen vorzugehen bzw. mit den Taliban Gespräche zu führen.

Trotzdem bieten die Vereinten Nationen aufgrund ihrer Erfahrungen und Instrumentarien die besten Voraussetzungen für eine solche Rolle. Hilfreich oder gar notwendig wäre allerdings, wenn dies, zum Beispiel durch eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrates, als ein deutlicher Neuanfang der UN-Afghanistanpolitik sichtbar gemacht würde. Dafür müssten insbesondere die USA, aber auch die NATO, bereit sein, eine drastische Reduzierung ihrer Rolle in Afghanistan hinzunehmen. Afghanische Widerstände gegen die Vereintent Nationen könnten minimiert werden, wenn Vertreter von Mitgliedsstaaten der »Organisation für Islamische Zusammenarbeit« in das Mediatoren-Team einbezogen würden. Ebenfalls unterstützend wirken könnte die »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit«, in der viele Nachbarstaaten Afghanistans Mitglied bzw. Beobachter sind und in der das Land selbst Beobachterstatus hat, sowie die »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit«, der nördliche Nachbarstaaten Afghanistans angehören. Allerdings sind diese drei Organisationen weder allein noch zusammen in der Lage, eine führende Rolle in einem Mediationsprozess zu übernehmen. Auch für eine regionale Einbettung des Friedensprozesses könnten am ehesten die Vereinten Nationen bürgen.

Die Agenda von Verhandlungen

Eine Verhandlungsagenda könnte die nachfolgenden Phasen umfassen:

Vertrauensbildende Maßnahmen16

Zunächst müssten in einer Sondierungsphase Voraussetzungen für erfolgreiche Verhandlungen zwischen den afghanischen Seiten geschaffen werden. Dazu gehören als vertrauensbildende Maßnahmen

  • die Freilassung von in Pakistan und in den USA inhaftierten Taliban-Führern, im Gegenzug die Freilassung des gefangenen US-Soldaten,
  • die Streichung weiterer Taliban-Führer von der UN-Terrorliste,17
  • Reisefreiheit für Taliban-Führer,
  • die Eröffnung eines Verbindungsbüros der Taliban, z.B. in Doha/Katar.

Weitere vertrauensbildende Maßnahmen, die die Glaubwürdigkeit in den Willen der beteiligten Parteien zu einer politischen Lösung stärken würde, sind:

  • Freilassung weiterer Gefangener,
  • Einstellung der gezielten Tötungen von Taliban durch die USA/NATO-Truppen,
  • Einstellung von gezielten Tötungen afghanischer Regierungsangestellter und -vertreter durch die Taliban,
  • örtliche oder regionale Feuerpausen/Waffenstillstände, zum Beispiel zur Durchführung von humanitärer Hilfe.

Regelungen für eine Übergangszeit – Waffenstillstand & Übergangsregierung

Zum Schutz der Bevölkerung ist so schnell wie möglich ein genereller Waffenstillstand zu vereinbaren. Möglicherweise lehnen beide Seiten einen solchen Waffenstillstand ab, weil sie »Vorteile« für die jeweils andere Seite erwarten. Insbesondere die Aufständischen könnten damit eine Konsolidierung der von ihnen als illegitim betrachteten und von US/NATO-Truppen unterstützten afghanischen Regierung befürchten – auch hinsichtlich der geplanten Wahlen im April 2014.

Ein umfassender Waffenstillstand scheint eher möglich, wenn gleichzeitig politische Regelungen vereinbart würden. Dies betrifft zum Beispiel eine Einigung auf eine »neutrale« Übergangsregierung. Dafür spricht auch, dass die gegenwärtige afghanische Regierung mit Wahlfälschungen an die Macht gekommen ist und ihre Akzeptanz in der Bevölkerung abnimmt. Eine Übergangsregierung übernähme die Amtsgeschäfte nur für einen begrenzten Zeitraum. Ihre wichtigste Aufgabe wäre, unterstützende Rahmenbedingungen für eine umfassende politische Einigung der Konfliktparteien über die Zukunft Afghanistans zu gewährleisten. Die bisher für April 2014 geplanten Präsidentschaftswahlen müssten verschoben werden, bis ein umfassendes Friedensabkommen abgeschlossen ist.

Ein gravierendes Problem besteht allerdings darin, Personen für eine Übergangsregierung zu finden, auf die sich die verschiedenen Parteien einigen können und denen, zum Beispiel durch eine Loja Dschirga,18 auch eine gewisse demokratische Legitimität gegeben werden kann. Insbesondere die jetzige Regierung sowie die USA und die NATO-Staaten könnten einen solch erheblichen Verlust ihres Einflusses ablehnen. Unter Umständen könnte sich die Einigung auf eine Übergangsregierung deshalb als noch schwieriger erweisen als eine Übereinkunft auf ein umfassendes Friedensabkommen. Denn letzteres würde zwar Regelungen für Wahlverfahren im Rahmen einer neuen Verfassung enthalten, aber die konkrete Machtverteilung auf die später stattzufindenden Wahlen verschieben.

Wegen der Schwierigkeiten, einen Waffenstillstand und/oder eine Übergangsregierung zu vereinbaren, muss damit gerechnet werden, dass die eigentlichen Verhandlungen um ein zukünftiges Afghanistan noch unter Kriegsbedingungen stattfinden werden.

Umfassendes Friedensabkommen

Das Friedensabkommen muss einen Kompromiss beinhalten über die zukünftige politische Ordnung des Landes, d.h. die direkte und indirekte Machtverteilung und die Prinzipien der Machtausübung. Dabei wird es um den Staatsaufbau und die politische Legitimierung seiner Repräsentanten durch Wahlen in einer neuen Verfassung gehen. Die konträren Grundpositionen – Anerkennung der bestehenden Verfassung einerseits, Anerkennung des Islamischen Emirats Afghanistan, also der Staatsform, in der die Taliban geherrscht haben, andererseits – müssten überwunden werden. Unabdingbar dafür wäre, die gegenwärtige Allmacht des Präsidenten durch eine Dezentralisierung zu begrenzen, z. B. durch regionale Wahlen der Provinzgouverneure statt der beliebigen Einsetzung durch den Präsidenten. Der Einfluss einzelner Ethnien bzw. Regionen in der Zentralregierung könnte zudem institutionell verankert werden. Auch die Frage einer präsidialen oder einer parlamentarischen Demokratie sowie nach der Rolle der traditionellen Loja Dschirga ist zu beantworten. Dabei müssten sich die afghanischen Seiten auf ein neues Wahlrecht und Wahlsystem verständigen, z.B. ein neues Wählerverzeichnis, eine größere Berücksichtigung des Verhältniswahlrechts etc.19

Unumstritten ist, dass Afghanistan ein islamischer Staat sein wird. Doch die genaue Rolle des Islam, z. B. der Scharia in der Rechtsprechung, muss definiert werden. Gleiches gilt für die Teilung der Macht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative. Auch der Schutz der Menschen- und speziell der Frauenrechte sowie der Minderheitenschutz müssten Eingang in den Verfassungsprozess finden. Das Minimalziel sollte sein, die UN-Menschenrechtskonvention und damit die Möglichkeit freier Meinungsäußerung und freier politischer Betätigung festzuschreiben.20 Auch sind Wege zur Versöhnung zu definieren. Dazu gehören die Aufarbeitung vergangener Verbrechen (zum Beispiel in einer »Wahrheitskommission«) und Vorschläge für einen Umgang mit der juristischen Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Eine Übereinkunft muss zu Fragen der Sicherheit getroffen werden. Nötig ist, die Neutralität Afghanistans zu bekräftigen. Diese beinhaltet, dass von seinem Boden keine Angriffe gegen andere Staaten geführt werden dürfen. Damit kann auch der Sorge, dass Afghanistan wieder zum »Rückzugsgebiet« eines international agierenden Al-Kaida-Terrornetzwerks werden könnte, entgegengewirkt werden. Für die innere Sicherheit gilt es, die Umrisse einer afghanischen Nachkriegsarmee und -polizei zu skizzieren. Eine Einbeziehung der aufständischen Kämpfer in die Sicherheitskräfte ist vorzusehen. Darüber hinaus wird eine breite Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration von Personal der gegenwärtig völlig überdimensionierten ANSF wie auch von Einheiten der Aufständischen und anderen Milizen zu vereinbaren sein. Entschieden werden muss, ob für eine Übergangszeit dazu eine internationale Friedenssicherungstruppe notwendig ist. Angesichts der Größe der Aufgabe, ein Friedensabkommen in Bezug auf die Sicherheit umzusetzen und die Demilitarisierung des Landes abzusichern, spricht einiges für eine solche Truppe unter unmittelbarer Führung der Vereinten Nationen, zusammengesetzt aus Truppen von Ländern, die bisher nicht in den Konflikt verwickelt waren – also weder Anrainerstaaten noch Staaten, die im Rahmen der ISAF Kontingente stellen.

Zwischen den afghanischen Seiten wird auch Umfang und Zeitraum des Abzugs der US/ISAF-Truppen aus Afghanistan zu vereinbaren sein; ferner, ob ausländische Hilfe für die Ausbildung und Ausstattung der neuen afghanischen Sicherheitskräfte nötig ist bzw. wie sie aussehen soll. Auch hierfür wären konfliktneutrale Staaten unter einem UN-Dach am besten geeignet.

Festgelegt werden muss schließlich, wie ein umfassendes Friedensabkommen der Bevölkerung zur Abstimmung gestellt werden soll. Dies könnte entweder durch eine Loja Dschirga – in der jedoch im Unterschied zu den letzten Loja Dschirgas auch die Aufständischen repräsentiert sind – oder durch eine Volksabstimmung geschehen. Anschließend sind allgemeine Wahlen zu den neuen Staatsorganen entsprechend der neuen Verfassung durchzuführen.

Den Friedensprozess beginnen

Der Umfang der Themen, zu denen Kompromisse gefunden, die Vielzahl der afghanischen, regionalen und internationalen Akteure, die eingebunden werden müssen, sowie die zahlreichen und tiefgehenden Divergenzen der verschiedenen Parteien zeigen, wie kompliziert es sein wird, einen Friedensprozess zu beginnen und ihn sogar erfolgreich abzuschließen. Die gegenwärtige afghanische Regierung ist aufgefordert, angesichts der starken Widerstände gegen einen Friedensprozess für eine Verhandlungslösung zu werben, eine öffentliche Debatte zu organisieren und ihr Mandat für Verhandlungen durch eine breitere politische Beteiligung der im gegenwärtigen politischen System auf zentraler wie auf lokaler Ebene sowie in der Zivilgesellschaft wirkenden Akteure zu stärken.

Soll die, wenn auch kleine, Chance genutzt werden, ist unabdingbar, dass einem Friedensprozess der absolute Vorrang seitens der USA/NATO gegeben wird und die verschiedenen innerafghanischen wie die regionalen und internationalen Akteure ermutigt werden, mit gutem Willen und Kompromissbereitschaft den Friedensprozess zu beginnen. Dazu müssen die USA/NATO mit den dargestellten vertrauensbildenden Maßnahmen unverzüglich beginnen.

Die USA und die NATO sollten den Abzug aus Afghanistan beschleunigen und schon für Ende 2013 planen. Die Diskussion und Beschlussfassung über eine Nachfolgemission der NATO in Afghanistan ist auszusetzen. Eine Beschleunigung des Abzugs könnte die im Kabuler Herrschaftssystem involvierten Kräfte sowie regionale Akteure auch dazu bewegen, den Friedensprozess ernsthafter anzugehen als bisher – aus berechtigter Sorge vor einer möglichen Ausweitung der Gewalttätigkeiten.

Anmerkungen

1) Im Folgenden sind mit »Taliban« ausschließlich die afghanischen Taliban gemeint.

2) Ahmed Rashid (2012): Am Abgrund. Pakistan, Afghanistan und der Westen. London/Berlin: Leske, S.137

3) Vgl. Thomas Ruttig et al.: The International Community’s Engagement in Afghanistan Beyond 2014. Afghanistan Analysts Network, Dezember 2011, S.4ff.

4) Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung nach ebd., S.8.

5) Prisca Benelli/Antonio Donini/Norah Niland (2012): Afghanistan: Humanitarianism in Uncertain Times. Feinstein International Center, Tufts University, S.6.

6) Graham Bowley/Matthew Rosenberg: In Afghanistan, Businesses Plan Their Own Exits. New York Times, 30. März 2012.

7) Diese Folgen des Abzugs internationaler Truppen werden zwar im letzen »Fortschrittsbericht Afghanistan« der Bundesregierung vom November 2012 benannt, aber deutlich unterschätzt.

8) Jim Garamone: NATO Planners Look to Enduring Force in Afghanistan. American Forces Press Service, 17. Januar 2013.

9) Cheryl Pellerin: ISAF Deputy Details Final Afghan Security Transition. American Forces Press Service, 27. März 2013.

10) Ahmed Rashid, a.a.O., S.102.

11) Vgl. 2millionfriends.org.

12) Der Shorish-Plan – Ein Weg zum Frieden für Afghanistan. Dokumentiert in: Friedensforum Nr. 5-2012, S.24f; einsehbar auch unter dfg-vk-bonn-rhein-sieg.de.

13) Vgl. Nils Wörner: Sondierungsgespräche und Friedensinitiativen in Afghanistan. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 70, November 2012, S.4; und International Crisis Group (ICG): Talking about talks: Towards a political settlement in Afghanistan. Asia Report Nr. 221, März 2012, S.28f.

14) S. Lakhdar Brahimi u. Thomas R. Pickering (2011): Afghanistan – Den Frieden verhandeln. Bericht der Internationalen Task Force für Afghanistan im Auftrag der Century Foundation. Deutsche Übersetzung erschienen als Studie bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, S.54. Der Studiengruppe gehörten u.a. an: James Dobbins, (RAND-Mitarbeiter und ehemaliger US-Sonderbeauftragter für Afghanistan), Igor Iwanow (ehemaliger Außenminister Russlands), Wang Yingfan (ehemaliger UN-Botschafter Chinas), Sadako Ogata (ehemalige UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge) und Walter Kolbow (ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium Deutschlands).

15) ICG: Talking about talks, a.a.O., S.37.

16) Vgl. zu den Agenda-Kapiteln vor allem: Brahimi/Pickering, a.a.O., S.13.ff; ICG März 2012, a.a.O., S.34 f.; Shorish-Plan, a.a.O.

17) Die UN-Liste von Taliban-Mitglieder, die internationalen Sanktionen unterliegen, ist zunächst um fünf, später um weitere 14 auf nunmehr 124 Personen reduziert worden. Siehe Wörner, a.a.O., S.6.

18) Zur Loja Dschirga vgl. Brahimi/Pickering, a.a.O., S.23.

19) Vgl. International Crisis Group:Afghanistan: The long hard road to the 2014 transition. Asia Report Nr. 236, Oktober 2012, S.2f.

20) Vgl. dazu Anatol Lieven: Afghanistan – The Best Way to Peace. The New Yorker Review of Books, 9. Februar 2012.

Jerry Sommer, Düsseldorf, ist Politologe und Historiker. Er arbeitet als freier Journalist und ist Research Assocciate am Bonn International Center for Conversion. Paul Schäfer ist Bundestagsabgeordneter und Obmann der Fraktion »Die Linke« im Verteidigungsausschuss.

Für ein selbstbestimmtes Afghanistan

Für ein selbstbestimmtes Afghanistan

Internationale Konferenz, 4.12.2012, Bonn

von Lucas Wirl

Mehr als 350 Friedensbewegte und KriegsgegnerInnen aus 17 Ländern diskutierten am 4.12.2011, einen Tag vor der internationalen Afghanistankonferenz der Regierungen, über ein selbstbestimmtes Afghanistan und über alternative, nicht-militärische Friedenslösungen. Das Treffen auf Einladung des »Protestbündnisses gegen Petersberg II« und des »No to War No to Nato Network«, an dem über 80 europäische Exil-AfghanInnen sowie einige afghanische OppositionspolitikerInnen teilnahmen, bot eine wichtige Chance zum international-afghanischen Dialog. Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges in Afghanistan wurde eine Plattform geschaffen, die einen breiten Meinungs- und Informationsaustausch zuließ.

Die Feststellung, dass nur ein Abzug der ausländischen Truppen zu einem selbstbestimmten, demokratischen und emanzipatorischen Afghanistan führt, durchzog die gesamte Konferenz. Die von allen Teilnehmenden geteilten gemeinsamen Nenner waren die Ablehnung des Krieges, die Erkenntnis, dass die westliche Afghanistanpolitik gescheitert ist, sowie eine umfassende Kritik der einen Tag später stattfindenden Afghanistankonferenz der Regierungen. Jeremy Corbyn, Abgeordneter der britischen Labour Party, formulierte die grundlegende Kritik: „Nach der politischen Aufteilung Afrikas auf der Berliner Konferenz von 1884 wird erneut unter Ausschluss der regionalen Kräfte über die Zukunft eines Landes entschieden. Das ist moderner Kolonialismus.“

Einen der exklusiven Politik der Herrschenden genau entgegengesetzten Ansatz verfolgte die internationale Konferenz der Friedensbewegung: Hier entfaltete sich ein breiter Dialog, bei dem alle willkommen sind, die zur Diskussion über einen Friedensprozess in Afghanistan bereit sind. „Eine Fortsetzung des Dialogs zwischen europäischen und afghanischen Friedensbewegten ist dringend erforderlich, um diesen zu intensivieren und um gemeinsame Positionen für Frieden in Afghanistan weiter zu entwickeln“, sagte Reiner Braun, einer der Veranstalter der Konferenz, im Abschlussplenum. Der von den Veranstaltern unterbreitete Vorschlag, im Herbst 2012 eine europäisch-afghanische Friedenskonferenz abzuhalten, wurde mit großer Zustimmung aufgenommen.

Einem echten, ehrlichen Friedensprozess stehen die Militarisierung der Politik und Gesellschaft und damit die Unterordnung des Zivilen unter das Militärische insgesamt sowie ökonomische Interessen im Wege. Während die nordirische Friedensnobelpreisträgerin, Mairead Maguire, Gewaltfreiheit, Kompromissfähigkeit und Geduld als Voraussetzungen für Frieden bezeichnete, hob die afghanische Oppositionspolitikerin Malalai Joya hervor, dass die westlichen Staaten mit dem Krieg in Afghanistan ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen in Afghanistan verfolgten, anstatt den Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung nachzukommen. „Anstelle von geplanten industriellen Großprojekten zur Ausbeutung unserer Ressourcen, bei deren Bau nur westliche Firmen profitieren, müssen westliche Gelder für die Bildung der afghanischen Bevölkerung eingesetzt werden. Nur durch Bildung für die breite Bevölkerung kann sich ein selbstbestimmtes Afghanistan entwickeln. Daran haben der Westen und die korrupte Karsai-Regierung jedoch kein Interesse“, so Joya. Der US-Amerikaner Joseph Gerson berichtete über den Beginn eines Umdenkens in den USA, das vom Militarismus weg führt. Er informierte, dass „sich durch die ökonomische Krise und die offensichtlichen Irrwege der Politik zum ersten Mal seit Vietnam breite Teile der Gesellschaft gegen den Krieg in Afghanistan zu stellen beginnen“.

Die internationale Konferenz der Friedensbewegung war durch die intensiven Diskussionen mit afghanischen und internationalen Friedensbewegten und KriegsgegnerInnen ein großer Erfolg. Eine der vielen jungen Konferenzteilnehmerinnen sagte, es freue sie, einen Kontakt zu Afghaninnen und Afghanen aufgebaut und viel über die Kultur und politischen Einstellungen der afghanischen Bevölkerung gelernt zu haben.

Lucas Wirl

An der Vorbereitung der Afghanistankonferenz waren die W&F-Herausgebergruppen IALANA und NaturwissenschaftlerInnen-Initiative beteiligt. Kontaktadresse für Informationen zur europäisch-afghanischen Konferenz im Herbst 2012: kongress@ialana.de.

Kriegsbilanz? Fehlanzeige!

Kriegsbilanz? Fehlanzeige!

von Jürgen Nieth

Delegationen aus 85 Staaten und 15 internationale Organisationen trafen sich am 5. Dezember 2011 zur 2. Bonner Afghanistankonferenz. Genau zehn Jahre vorher hatten auf dem Bonner Petersberg die Vertreter zahlreicher Staaten das Ende der Taliban-Herrschaft gefeiert und „Karzai zum Hoffnungsträger für das neue Afghanistans erklärt“ (FR, 06.12.11, S.8). Nach zehn Jahren Zeit für eine Bilanz? Fehlanzeige!

„Unverbindliches zum Krieg …“

… titelt »Die Welt« (06.12.11, S.7). Und sie hält fest: „[…] ausführliche Rückschau inklusive Bilanz wäre für alle Beteiligten wenig erfreulich ausgefallen: Von dem damals ausgerufenen Ziel eines demokratischen Rechtsstaates nach westlichem Vorbild ist Afghanistan weit entfernt. Also lieber nicht darüber reden.“

„Karzai ist längst kein Hoffnungsträger mehr. Sondern jemand, der seine Partner unzählige Male bitter enttäuscht hat.“ (Berliner Zeitung, 06.12.11, S.6) Das wird auch im Umfeld der Konferenz deutlich: „Vor allem in amerikanischen Kreisen wurden am Montag ernste Vorwürfe gegen Karzai erhoben. Die Korruption nehme rapide zu, hieß es. Der Präsident nutze mafiöse Strukturen zur Machterhaltung und pflege gute Beziehungen zu bestechlichen Warlords.“ (Neue Zürcher Zeitung, 06.12.11, S.3) Auf der Konferenz allerdings gibt es Kritik – wenn überhaupt – nur diplomatisch verpackt. Die deutsche Bundeskanzlerin an Karsai: „Aber niemand entlässt Sie aus Ihrer Verantwortung, die Drogengeschäfte und die Korruption mit Ihren eigenen Fähigkeiten und Mitteln zu bekämpfen.“ Ein Appell, der offenbar nicht ankam: „Karsai nickt und nickt, dabei hört er kaum hin. Während Merkels Rede legt er die Kopfhörer ab, die ihm eine Simultanübersetzung bieten.“ (Stuttgarter Nachrichten, 06.12.11, S.2)

Die Bilanz des »Tagesspiegel«: „Es war der Tag der Diplomatie.“ (06.12.11, S.4)

Warum diese Konferenz?

1.000 Teilnehmer aus 85 Ländern. „Mehr als 100 Redner [traten] ans Mikrofon und trugen ihre Plattitüden vor […] Wirklich diskutiert wurde nicht.“ (Die Welt, 06.12.11, S.3)

Für die FAZ war das „Ziel der Konferenz […] ein Tauschgeschäft. Die Afghanen versprachen, ihr Land in Ordnung zu bringen, das interessierte Ausland sagte ihnen dafür Aufbauhilfe für die Zeit nach dem Abzug der Kampftruppen im Jahr 2014 zu.“ (FAZ, 06.12.11, S.4)

Für Thorsten Knuf „liegt der Gedanke nahe, dass es dort [in Bonn] nicht allein darum geht, ein Signal in Richtung Afghanistan zu senden. Sondern auch eines in Richtung der kriegsmüden Völker Europas, Amerikas und anderswo. Der Westen hat erkannt, dass er den Krieg nicht gewinnen kann.“ (FR 05.12.11, S.2) Auch »Die Welt« spricht von einer Botschaft „an die kriegsmüden Bürger in den Truppenstellerstaaten. Das internationale Engagement ist endlich.“ (05.12.11, S.8) Einen Tag später heißt es: „Keine westliche Regierung verfügt mehr über die Kraft, ein längeres Engagement im eigenen Land durchzusetzen.“ (Die Welt, 06.12.11, S.7)

Abzug – aber nicht ganz?

Vom Abzug der Kampftruppen bis 2014 wird gesprochen, doch das muss nicht ein Ende des militärischen Engagements bedeuten. So kritisierte der iranische Außenminister in Bonn „die Absicht »mancher« Nato-Staaten [gemeint sind hier vor allem die USA, J.N.], auch nach 2014 Militärbasen in Afghanistan zu behalten“ (Tagesspiegel, 06.12.11, S.4).

Aber auch die schwarz-gelbe Bundesregierung möchte den Fuß in der Tür halten. Sie strebt über die internationale Zusammenarbeit hinaus ein eigenes Partnerschaftsabkommen mit Afghanistan an. „Merkel nannte als Schwerpunkte eines solchen Abkommens das Training der afghanischen Sicherheitskräfte, die Berufsausbildung und die Erschließung der Rohstoffe des Landes.“ (taz, 07.12.11, S.6) Von „Billionen, die darauf warten, ausgebeutet zu werden“ hatte Karzai vorher gesprochen. Und Außenminister Guido Westerwelle redete von „enormem wirtschaftlichen Potenzial“ (Stuttgarter Nachrichten, 06.12.11, S.2).

UN nicht erwünscht

„Die meisten Länder setzen darauf, dass die Vereinten Nationen […] 2014 […] in Afghanistan die Führung übernehmen. Doch [UN-Generalsekretär] Ban bestätigte, dass der afghanische Außenminister Rasul vor einigen Monaten in einem Brief an Ban gegenteilige Forderungen erhob. Demnach soll die UN-Mission Unama ihre Präsens im Land deutlich reduzieren, damit die Regierung autonom über die internationalen Hilfsgüter verfügen kann; außerdem wünscht sich die Regierung Karzai, dass sich die UN aus der Organisation von Wahlen zurückziehen.“ (FAZ, 06.12.11, S.4)

Es geht um Geld, viel Geld

Nach Vorstellung von Karzai sollen die NATO-Staaten „seinem Land nach 2014 einen Teil jenes Geldes […] überlassen, dass sie durch den Abzug einsparen. Fünf Prozent der bisherigen Militärausgaben hält er für angemessen.“ Karzai wörtlich: „Ich nenne das die Dividende, die bei der Übergabe von den Isaf-Truppen an die Afghanen fällig wird.“ (Tagesspiegel, 06.12.11, S.4)

Angesichts der internationalen Militärausgaben, die von afghanischer Seite auf „mehr als 100 Milliarden US-Dollar im Jahr“ beziffert werden, wären das fünf Milliarden. (Lübecker Nachrichten, 06.12.11, S.4) Deutschland gibt für den Bundeswehreinsatz am Hindukusch jährlich 1,4 Milliarden Euro aus, zusätzlich 100 Millionen Euro für das Training afghanischer Sicherheitskräfte. Nach der Forderung Karzais kämen also zu den 430 Millionen Euro, die bisher pro Jahr für den Wiederaufbau gezahlt werden, mindestens 70 Millionen dazu.

Hinter den Kulissen geht es aber bereits um ganz andere Summen. „Der afghanische Finanzminister nannte die Zahl von sieben Milliarden Euro jährlich, die Kabul brauche, um den Sicherheitsapparat nach Abzug der internationalen Truppen bezahlen zu können.“ (Hannoversche Allgemeine, 06.12.11, S.2) Und »Die Welt« schreibt: „In internen Berechnungen der afghanischen Regierung ist laut »Washington Post« von zehn Milliarden [Dollar] die Rede. Angesichts von allein rund sieben Milliarden Dollar für die Bezahlung der afghanischen Sicherheitskräfte ist auch das noch ein eher niedrig angesetzter Betrag.“ (06.12.11, S.7)

Trübe Aussichten

„Für Mitte 2012 ist eine Folgekonferenz in Tokio geplant. Dort soll es erstmals um konkrete Summen für Afghanistan gehen.“ (Berliner Zeitung, 06.12.11, S.6) An einer Tatsache dürfte sich bis dahin kaum etwas geändert haben: „Die afghanische Regierung und der Sicherheitsapparat sind korrupt bis ins Mark.“ (Thorsten Knuf in der FR, 05.12.11, S.3)

Jürgen Nieth

Kein Frieden ohne Frauen in Afghanistan

Kein Frieden ohne Frauen in Afghanistan

von Monika Hauser

Zehn Jahre werden im Dezember vergangen sein, wenn nach der ersten Afghanistankonferenz auf dem Petersberg in Bonn 2001 afghanische und internationale PolitikerInnen erneut zusammenkommen, um über das Schicksal Afghanistans zu entscheiden. Viel hat die internationale Gemeinschaft in das Land investiert – Hoffnung, Kraft, Wissen, militärisches Engagement und reichlich Geld –, doch noch immer befindet es sich im Krieg. Derzeit ist ein Ende der Gewaltspirale – Kampf gegen Aufständische auf der einen und die Zunahme terroristischer Anschläge auf der anderen Seite – nicht in Sicht.

Von der Aufbruchstimmung nach dem Fall der Taliban ist derzeit nicht mehr viel zu spüren, vielmehr dominieren Unsicherheit, Frustration und Bitterkeit. Zu viele Fehler haben die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung in den vergangenen Jahren gemacht. Ein ganz wesentlicher: Die fehlende Einbeziehung afghanischer Frauen in den Friedens- und Wiederaufbauprozess des Landes. Zwar soll sich bei den Verhandlungen in Bonn im Dezember dieses Jahres die afghanische Delegation bis zu 25 Prozent aus Frauen zusammensetzen. Ob sie eine bestimmende Rolle im Prozess einnehmen werden, ist jedoch stark zu bezweifeln.

Obwohl der Militäreinsatz in Afghanistan immer wieder auch damit legitimiert wurde, afghanische Frauen aus ihrer Unterdrückung befreien zu wollen, sprach die Strategie der Waffen eine ganz andere Sprache. Aufstandsbekämpfung lautete die Devise, und nicht Schutz der Menschenrechte und Demokratieaufbau, von präventivem Schutz von Frauen vor (sexualisierter) Gewalt ganz zu schweigen.

Chancen wurden vertan. Das über Jahrzehnte kriegsgeschüttelte und von Willkür und autoritäter Macht dominierte Land wurde nicht von den Vorteilen einer zivilen Gesellschaft überzeugt. Das Potenzial von Frauen, auf die Schaffung einer geschlechtergerechten Friedensgesellschaft hinzuwirken, wurde viel zu wenig genutzt. Anstelle dessen ging es den westlichen Strategen offensichtlich nur um ihre eigenen Interessen.

Wären 2001 die Hälfte der Konferenz-TeilnehmerInnen Frauen gewesen – anstelle von 95 Prozent Männer, einschließlich der Warlords, die die internationale Gemeinschaft sehenden Auges akzeptiert hatte –, dann sähe es heute in Afghanistan mit Sicherheit anders aus. Statt auf Waffen und Clanchefs zu setzen, hätten Frauen die Realitäten der Zivilbevölkerung im Blick gehabt: Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und der Zugang zu medizinischer Versorgung wären zu wichtigen Zielen geworden. Einige kompetente afghanische Frauen hätten Staatsgeschäfte übernehmen können.

Doch auch elf Jahre nach der Verabschiedung der UN-Resolution 1325, die unter anderem eine stärkere politische Mitbestimmung von Frauen fordert, sind die Afghaninnen weit entfernt von einer realen Beteiligung an der Friedens- und Sicherheitspolitik ihres Landes.

Entgegen der vollmundigen Behauptungen der NATO-Mächte ist die Lage von Mädchen und Frauen in Afghanistan ein Jahrzehnt nach dem 11. September und dem Beginn des NATO-Einsatzes katastrophal. Gab es kurz nach dem Fall der Taliban noch Hoffnung auf mehr Sicherheit und damit größere individuelle Freiheiten und ökonomische Verbesserung, so zeigt sich heute ein weit verbreitetes Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Unsicherheit.

Zwar sieht Artikel 22 der afghanischen Verfassung die Gleichberechtigung von Frauen und Männern vor dem Gesetz vor. In der Realität müssen Frauen und Mädchen jedoch täglich erleben, wie ihre verfassungsgemäßen Rechte mit Füßen getreten werden. Durch konservative und frauenfeindliche Rechtsprechung werden Frauen regelmäßig zu Unrecht angeklagt und verurteilt, wenn sie denn überhaupt einen Prozess bekommen.

Laut einem Bericht von UNIFEM (United Nations Development Fund for Women) werden 87 Prozent aller Frauen „regelmäßig geschlagen“. 80 Prozent aller Ehen werden unter Zwang geschlossen, die Hälfte der Ehefrauen ist bei der Heirat unter 16 Jahre alt. Dementsprechend hoch ist die Zahl der Risikoschwangerschaften und der Müttersterblichkeit. Vergewaltigungen sind laut UNAMA (UN Assistance Mission in Afghanistan) „in allen Teilen des Landes eine Alltagserscheinung“. Neben dieser Alltagsgewalt in den Familien wächst das Risiko für Frauen, die öffentlich um Gleichberechtigung und Demokratie kämpfen: Morde an Frauenrechtsaktivistinnen, Journalistinnen und weiblichen Parlamentsmitgliedern wurden in den vergangenen Jahren immer häufiger. „Ich lebe jeden Tag in Angst“, erklärte eine Mitarbeiterin einer internationalen Nichtregierungsorganisation (NRO) der Journalistin Ann Jones in einer Reportage zur Lage der afghanischen Frauen. Drei ihrer Kolleginnen wurden entführt, geschlagen, gefoltert und mit dem Tode bedroht, falls sie ihre Arbeit für die NRO fortsetzen würden.

Mit Präsident Karsais zweiter Amtszeit hat sich das Klima für Frauen weiter verschärft. So ist der seit 2010 amtierende Justizminister Habibullah Ghaleb, ein 71-jähriger islamischer Rechtsgelehrter, ein offener Gegner von Frauenrechten. Er fragte, wozu eine islamische Gesellschaft Frauenhäuser brauche, und schloss bereits zwei Zufluchten, die von der internationalen Gemeinschaft finanziert worden waren. Unter dem Vorwurf, Frauenhäuser seien Horte der Prostitution und Sittenlosigkeit, sollten gemäß einer neuen Verordnung die übrigen Schutzhäuser fortan unter strenger Kontrolle der Regierung stehen. Nur durch massiven Protest seitens afghanischer und internationaler Frauenrechtsgruppen, aber auch internationaler Regierungen, konnte die afghanische Regierung zum Einlenken bewegt werden.

Geradezu zynisch und absurd ist ein Erlass des obersten Gerichtshofes in Kabul, der für seine ultra-konservativen Richter bekannt ist. Demnach können Mädchen und Frauen, die – meist aufgrund von Gewalt und Zwangsehen – von Zuhause fliehen, künftig strafrechtlich verfolgt werden. Suchen sie Zuflucht bei Fremden, so auch in einem Frauenhaus, können sie gemäß der neuen Verordnung wegen Ehebruchs oder Prostitution verurteilt werden. Schutzsuchende werden auf diese Weise diffamiert und kriminalisiert – ein eklatanter Rückschritt in Sachen Frauenrechte!

Doch wie soll eine kollektiv traumatisierte Gesellschaft wie die afghanische sich demokratisch entwickeln können, wenn tagtäglich weitere Gewalt stattfindet? Wie soll eine Demokratie aufgebaut werden mit Männern, die Demokratiefeinde sind?

Fest steht: Der Aufbau einer tragfähigen Justiz und einer demokratisch ausgerichteten Polizei wie überhaupt von zivilgesellschaftlichen Strukturen und die Stärkung und Verankerung von Menschen- und Frauenrechten wurden sträflich versäumt. Jahrelang hat Präsident Karsai Familienangehörige und ehemalige Warlords mit Posten versorgt, statt in die Ausbildung von Staatsbeamten zu investieren, für die Menschenrechte und Demokratie keine leeren Worte sind.

Auch der beim NATO-Gipfel in Lissabon 2010 viel beschworene Strategiewechsel der Bündnispartner hin zu mehr zivilem Wiederaufbau ist nicht zu erkennen. Es bleibt die Grundhaltung der internationalen Gemeinschaft, dass Stabilität und Sicherheit ausschließlich über militärische Sicherheit definiert werden. Dabei bedeutet Sicherheit wesentlich mehr, als nur die Abwesenheit von militärischer Gewalt. So sind unter anderem der Schutz von Frauen vor (sexualisierter) Gewalt und ein funktionierendes Justizsystem elementar wichtig für den Aufbau und die Entstehung eines nachhaltigen Friedens. Was zudem fehlt, ist die Einsicht, dass das Wiedererstarken konservativer Kräfte in direktem Zusammenhang mit der weit verbreiteten Straflosigkeit und der mangelnden Gerechtigkeit für die einfache Bevölkerung steht. Dort, wo der Staat seine Verantwortung nicht wahrnimmt, insbesondere in abgelegenen, schwer zugänglichen Gebieten, treibt er die Menschen förmlich in die Arme der Taliban.

Auf der Afghanistankonferenz Anfang Dezember 2011 in Bonn sollen nun erstmals vorrangig zivile Aspekte des Afghanistan-Einsatzes behandelt und die Erfahrungen der ersten sechs Monate des als »Transition« bezeichneten Prozesses der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die AfghanInnen ausgewertet werden. Doch eine solche Auswertung greift zu kurz, wenn sich »Transition« nur auf die Übergabe der Verantwortung im militärischen Sinne, nicht aber auch auf den Staatsaufbau sowie den Aufbau eines tragfähigen Justizsystems bezieht.

Zu befürchten ist, dass sich an der Geringschätzung eines stabilen Justizsystems und eines auf Menschenrechten basierenden Staatswesens für die Stabilität Afghanistans auch weiterhin nichts ändern wird. In den vergangenen Wochen mussten afghanische Frauen sich immer wieder anhören, dass sie mit einem „negativen Frieden“ rechnen müssten, also damit, dass bestenfalls irgendwann die Waffen im Land endlich schweigen, Frauen- und Menschenrechte jedoch weiterhin mit Füssen getreten werden. Mit der „Übergabe in Verantwortung“ stiehlt sich die internationale Politik in einer Weise aus einer Affäre, die an Verantwortungslosigkeit nicht zu überbieten ist.

Trotz der für Frauen äußerst schwierigen Bedingungen hat sich in den vergangenen Jahren eine heterogene afghanische Frauenbewegung entwickelt, die sich von alltäglichen Bedrohungen nicht abhalten lässt, ihre eigenen Vorstellungen von Demokratie und Frieden zu formulieren. Bei einem Runden Tisch des Afghan Women Network Ende Juli konstatierten die Veranstalterinnen klar, dass es ohne eine erfolgreiche Versöhnung keinen erfolgreichen Übergangsprozess geben werde. Dabei kann und darf Versöhnung nicht allein heißen, dass ehemalige Taliban-Kämpfer in die afghanische Gesellschaft reintegriert werden, sondern muss auch ethnische Konflikte und die Unterdrückung afghanischer Frauen bei gleichzeitiger Aufarbeitung der Kriegsverbrechen thematisieren.

Klar ist: Ein dauerhafter Friede in Afghanistan wird nur dann eine reale Chance haben, wenn Frauen bei allen künftigen Friedensgesprächen mit am Tisch sitzen. Und klar ist auch: Bei der bevorstehenden Konferenz im alten Bundestag gehören Frauenrechte auf die Agenda. UN-Resolution 1325 betont, der Ausschluss von Frauen aus der Friedenspolitik bedeute ein Hindernis für den Frieden. Diese sicherheits- und friedenspolitische Relevanz der Resolution wird allerdings bis heute weitestgehend unterschätzt und ignoriert. Auch von den internationalen PolitikerInnen!

Die afghanische Bevölkerung, die mutigen afghanischen Aktivistinnen haben unsere aufrichtige und engagierte Solidarität weiterhin verdient. Jetzt, über die zweite Afghanistankonferenz in Bonn und über 2014 hinaus!

Monika Hauser ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied von medica mondial und Trägerin des Alternativen Nobelpreises 2008.

Stoppt den Krieg in Afghanistan

Stoppt den Krieg in Afghanistan

Konferenz über »Perspektiven für Frieden und Entwicklung«, 19.-20. Februar 2011, Hannover

von Ute Finckh-Krämer

Anderthalb Jahre lang hatten sich Aktive aus den drei friedenspolitischen Fachverbänden Bundesausschuss Friedensratschlag, Kooperation für den Frieden und Plattform Zivile Konfliktbearbeitung regelmäßig mit VertreterInnen des Verbands Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) zusammen gesetzt, um die jeweiligen Standpunkte und Einschätzungen zu Afghanistan auszutauschen bzw. zu verstehen und auszuloten, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede es dabei gibt. Dieser Diskussionsprozess, von dem ein Zwischenstand im März 2010 zu Papier gebracht worden war, wurde im Februar 2011 durch die Konferenz »Stoppt den Krieg in Afghanistan – Perspektiven für Frieden und Entwicklung« für die Mitglieder der beteiligten Dachverbände geöffnet. Dabei wurden zunächst mit Unterstützung externer ExpertInnen die Situation in Afghanistan und die Politik der Bundesregierung bzw. der externen Akteure analysiert. Anschließend wurden in Arbeitsgruppen gemeinsame Positionen bzw. Empfehlungen erarbeitet und überlegt, welche Themen weiterer Analyse und Diskussion bedürfen und welche Ansatzpunkte es für eine weitere Zusammenarbeit gibt.

Gut 160 Personen waren zur Konferenz gekommen – mehr, als die Vorbereitungsgruppe erwartet hatte. Dabei war die Friedensbewegung wesentlich stärker vertreten als die entwicklungspolitische Seite. Es wurde konzentriert zugehört und konstruktiv diskutiert, auch dort, wo die unterschiedlichen Perspektiven von Friedensbewegung und Entwicklungszusammenarbeit deutlich wurden: Während für die Friedensbewegung der Grundsatz »Von deutschem Boden darf kein Krieg ausgehen!« und die grundsätzliche Ablehnung alles Militärischen die entscheidenden Ansatzpunkte für die Diskussion und die politische Aktion sind, steht für die in Afghanistan tätigen Organisationen die Frage im Mittelpunkt, wie die afghanische Gesellschaft konstruktiv unterstützt und die Arbeit mit afghanischen Partner weiterhin ermöglicht und qualifiziert werden kann.

Schwerpunkt der Konferenz sollte der Austausch zwischen den beiden deutschen Bewegungen sein, daher waren keine afghanischen ReferentInnen eingeladen worden. Es waren aber eine ganze Reihe von in Deutschland lebenden Afghaninnen und Afghanen als TeilnehmerInnen gekommen. Sie brachten aus dem Publikum bzw. in den Arbeitsgruppen ihre Perspektive ein und erinnerten z.B. daran, dass in Afghanistan nicht erst seit 2001, sondern seit 33 Jahren Krieg herrscht. Sie wiesen überdies darauf hin, wie sehr dieser Krieg durch Einmischung von außen verursacht und verschärft wurde, und halfen, ein differenziertes Bild dieses multiethnischen Landes zu zeichnen.

Durch die konstruktive Diskussions- und Arbeitsatmosphäre konnten eine Menge Standpunkte dargestellt und vermittelt werden. Jede Auswahl und jeder Bericht ist – wie uns die ZEIT-Redakteurin Andrea Böhm und der Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, Stephan Hebel, an konkreten Beispielen veranschaulichten – subjektiv. Hier also eine subjektive Auswahl:

Für die Arbeit in Konflikt- und Krisengebieten ist die Berufung auf Menschenrechte sowohl als grundsätzliche Legitimation als auch als Maßstab des eigenen Handelns unverzichtbar. Dass Menschenrechtsargumente zum Teil missbraucht werden (bis hin zur Rechtfertigung militärischer Interventionen), spricht nicht gegen die Menschenrechte, sondern nur gegen die, die sie missbrauchen. Das gilt auch und gerade für Frauenrechte.

Das Völkerrecht hat zwei zentrale Säulen: die staatliche Souveränität nach Artikel 2 (7) der UN-Charta und die Menschenrechtskonvention. Beide stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, es muss – auch dort, wo zivile staatliche Stellen, Hilfsorganisationen oder Friedensgruppen sich in anderen Ländern engagieren – immer wieder geklärt werden, was zulässige Unterstützung im weitesten Sinne und was unzulässige Einmischung ist.

Wir müssen immer wieder von unserer eigenen Regierung bzw. von der vom Westen unterstützten afghanischen Regierung die Achtung der Menschenrechte einfordern. Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Truppen bleiben in Afghanistan weitgehend straflos, was die Menschen dort zu Recht empört.

Wenn wir den Abzug der ausländischen Truppen fordern, müssen wir die Einwände der Hilfsorganisationen und vieler VertreterInnen der afghanischen Zivilgesellschaft (auch und gerade der Frauenorganisationen) ernst nehmen, die bei einem unkontrollierten Abzug eine weitere Gewalteskalation befürchten, die diejenige am meisten gefährdet, die uns am nächsten stehen: die Menschen in Afghanistan, die sich aktiv für Frieden, Demokratie und Menschenrechte einsetzen.

Wichtige Erkenntnisse, Vorschläge, Forderungen

Wer – wie die Internationale Gemeinschaft auf den verschiedenen Afghanistankonferenzen – mehr als 20 verschiedene Ziele nebeneinander stellt, kann keines dieser Ziele verwirklichen. Welches ist unser Hauptziel für Afghanistan, welche Mittel müssten zu seiner Erreichung eingesetzt werden?

Es hat sich als grundsätzlicher Irrtum erwiesen, dass „State-Building ein Ersatz sein könne für Peace-Building“ (Andreas Ernst in der NZZ vom 18.2.2011 in einem ausführlichen Artikel zur Situation im Kosovo).

Armut und Arbeitslosigkeit sind die größten Sorgen der afghanischen Bevölkerung. Die Reste der afghanischen Wirtschaft, die 2001 noch existierten, wurden nicht zuletzt durch die neoliberale Marktöffnung zerstört. Es ist ein geschützter Wirtschaftsraum nötig, der z.B. Garantiepreise für Landwirtschaftsprodukte ermöglicht – wie in der EU.

Der Teufelskreis von Kriegsökonomie und Drogenwirtschaft könnte durch eine Legalisierung der Drogen in den Haupt-Konsumentenländern durchbrochen werden. Dieser Diskussion, so schwierig sie ist, sollten wir uns stellen.

Der Einsatz von Gewalt muss gerechtfertigt werden, nicht der Verzicht darauf – das müssen wir einfordern!

In den Medien ist in den letzten Jahren das Thema »Krieg« entpolitisiert worden. Mit der Emotionalisierung und Personalisierung des Soldaten soll seine Glaubwürdigkeit auf den Krieg übertragen werden. Dieses Kriegsbild müssen wir dekonstruieren.

Die Welt hat sich seit 1989 dramatisch verändert, die damaligen Erklärungsmodelle taugen oft nicht mehr.

Wir müssen die Stärkung von Basisinitiativen/Reformkräften in den Mittelpunkt der eigenen Arbeit stellen und politisch als Ziel für die Aktivitäten der Bundesregierung bzw. der internationalen Gemeinschaft einfordern – auch wenn für die konkrete Arbeit vor Ort eine begrenzte Zusammenarbeit mit dem formalen Staat unumgänglich ist.

Derzeit wird ein Teil der externen Hilfe dazu missbraucht, das korrupte Regime von Präsident Karsai zu stabilisieren. Daher sollten wir mit undifferenzierten Forderungen nach »mehr ziviler Aufbauhilfe« vorsichtig sein – auch damit können Gewaltstrukturen gestützt werden. Von den Mitteln, die derzeit in den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte fließen, ganz zu schweigen. Wir müssen also genauer hinschauen, welche Partner zu welchem Zweck welche Mittel erhalten, und darauf bestehen, dass die Verwendung der Mittel kontrolliert wird – sowohl bei den Empfängern als auch bei den zwischengeschalteten Trägerorganisationen.

Frauenrechte können nur als Teil der Menschenrechte insgesamt verwirklicht werden. Die Aufklärung der gesamten Bevölkerung in Afghanistan, welche Rechte ihnen nach der afghanischen Verfassung und den derzeit existierenden Gesetzen zustehen, ist dafür essentiell. Das setzt wiederum voraus, dass Alphabetisierungs- und Bildungsprojekte eine größere Priorität erhalten. Dieser Punkt wurde – wie der folgende – von afghanischen Teilnehmerinnen eingebracht.

Die gesamte afghanische Bevölkerung ist durch 33 Jahre Krieg und Bürgerkrieg traumatisiert. Gewalt gegen Frauen ist teilweise eine Folge der Traumata der Männer. Daher ist Traumaarbeit nicht nur mit Frauen, sondern auch mit Männern sinnvoll und notwendig.

Verhandlungen über lokale Waffenstillstände sind der erste Schritt zum Frieden, müssen aber die lokale Bevölkerung als Akteure mit einbeziehen (Männer und Frauen) und die lokalen Gegebenheiten berücksichtigen.

Die NATO ist Kriegspartei, kann daher nicht die Verantwortung für einen Friedensprozess übernehmen. Wer könnte die Federführung für einen Mediationsprozess im Sinne von Kapitel VI der UN-Charta übernehmen – vielleicht Norwegen?

Eine Gruppe unter Federführung von Roland Vogt (ehemaliger BSV-Vorsitzender) möchte an einem konkreten Friedensplan für Afghanistan arbeiten (Fokus: Welcher Beitrag kann von unserer Seite respektive von der deutschen Regierung zum Frieden in Afghanistan geleistet werden?).

Für die voraussichtlich Ende November in Bonn stattfindende internationale Afghanistankonferenz (Petersberg II) ist anscheinend geplant, sowohl VertreterInnen der afghanischen Zivilgesellschaft als auch von internationalen Hilfsorganisationen/NGOs zuzulassen. Wir sollten gemeinsam fordern, dass diese VertreterInnen nicht als Alibipersonen missbraucht werden und gleichzeitig (ähnlich wie die Münchner Friedenskonferenz als Gegenveranstaltung zur Münchner Sicherheitskonferenz) mit geeigneten eigenen Veranstaltungen unsere Analyse und unsere Vorschläge zu Gehör bringen. Eine ganze Reihe der Anwesenden möchte sich hier konkret beteiligen.

Es bestand Einigkeit darüber, dass der Diskussionsprozess zwischen den beteiligten Dachverbänden weitergeführt werden sollte. Die Vorbereitungsgruppe ist entschlossen, diese Erwartung zu erfüllen.

Es soll eine Tagungsdokumentation erstellt werden, die von den Webseiten der beteiligten Dachverbände geladen werden kann.

Ute Finckh-Krämer

Abziehen, um zu bleiben

Abziehen, um zu bleiben

Der Plan B für Afghanistan

von Arne C. Seifert

Die NATO und mit ihr die Bundesregierung versuchen, die kritische Öffentlichkeit in Sachen Afghanistan-Krieg zu beschwichtigen. Immer wieder heißt es: Der Rückzug der Truppen ist beschlossen, er beginnt in diesem Jahr – wenn die Umstände es erlauben. Aber es sind jene »Wenn« und »Umstände«, die misstrauisch machen und beunruhigen. Denn zu den »Umständen« zählen nicht nur die Unsicherheiten bezüglich der innerafghanischen Entwicklung, dazu gehören auch die ökonomischen und strategischen Interessen der NATO-Staaten, die mit ihren Truppen in Afghanistan stehen.

Die NATO erhält die essentiellen äußeren Grundlagen für ihren Kriegseinsatz in Afghanistan weiterhin aufrecht. Weder ist der Beistandsfall nach Art. 5 des NATO-Vertrags ausgesetzt, noch hat die NATO beim UN-Sicherheitsrat die Einstellung der Maßnahmen des Beistandsfalls beantragt, wie es Absatz 2 des Art. 5 vorsieht: „Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.“1 Wenn die Bundesregierung ihre Versprechungen ernst meint, dann muss sie als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat beantragen, entsprechende Schritte nach Art.5/Abs.2 einzuleiten. Schließlich macht es nur Sinn, an dem alten Mandat festzuhalten, wenn man in irgendeiner Form zusammen mit den USA in Afghanistan militärisch präsent bleiben will.

Anhaltende Präsenz in Afghanistan?

Für Letzteres spricht die intensive Diskussion unter US-Sicherheitsexperten über ein Verbleiben der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan nach 2014. Im Mittelpunkt der Erörterungen steht ein Wechsel weg vom primär militärischen Afghanistan-Szenario hin zu einem gemischt politisch-militärischen. Das strategische Ziel ist eine langfristige Präsenz in Afghanistan mit einer Hegemonieprojektion in die angrenzenden Regionen. Anders gesagt: Was die USA auf militärischem Wege bisher nicht erreichen konnten, soll jetzt mit einem Strategiewechsel erreicht werden. Dabei geht es um »state building« und verstärkten »zivilem Aufbau«, in der Diskussion ist aber auch die Teilung Afghanistans entlang seiner ethnischen Bruchlinien in einen paschtunischen Osten und Süden, einen tadschikischen, usbekischen, hazarischen Norden und Westen sowie eine Kernregion um Kabul.

Unter Stichworten wie „Plan B“ für Afghanistan, „Wie der Krieg doch noch gewonnen werden kann“, „Finish the Job“ und „Withdraw in order to stay“, führen prominente US-Politiker und -Diplomaten das Wort, darunter Robert D. Blackwill vom Council of Foreign Relations und ehemaliger Botschafter in Indien, Paul D. Miller von der National Defense University und ehemaliger Direktor für Afghanistan im US National Security Council unter George W. Bush und Barack Obama.

Originalzitate: „Ein Sieg ist doch noch möglich, wenn den Truppen und ihren zivilen Partnern ausreichend Zeit gegeben wird, um ihre Mission zu vollenden.“ 2 „Zeit ist die wichtigste Ressource, welche die USA (in Afghanistan – A.S.) brauchen, nicht mehr Truppen.“ 3 „Obama sollte ISAF die Zeit lassen“, welche sie benötigt, um die „Schwäche der afghanischen. Regierung“ zu beheben, welche die „wichtigste strategische Bedrohung ist.“ 4 Letzteres erfordere, dass die „Obama-Regierung ein dramatisch anspruchsvolleres Capacity Building-Programm auflegt und dieses mit einer kraftvoll verstärkten zivilen Präsenz in der afghanischen Verwaltung und im Rechtssystem beginnt.“ 5

Weil ein Sieg noch möglich wäre, solle, so Blackwill, „die US-Regierung aufhören, über Exit-Strategien zu reden, sondern die USA auf die Übernahme einer langfristigen Kampfmission von 35.000 bis 40.000 Mann orientieren.“ 6

Da „Washington sich damit zu arrangieren hat, dass die Taliban den größten Teil des paschtunischen Ostens und Südens unvermeidbar kontrollieren werden“,7 wird in der Diskussion auf eine Doppelstrategie orientiert, der zufolge die „USA und ihre afghanischen sowie ausländischen Partner eine umfassende Antiterrorismus-Strategie in Paschtu-Afghanistan und eine Nation-Building-Strategie im Rest des Landes starten, der sie sich mindestens für die nächsten sieben bis zehn Jahre verpflichten.“ 8 „Eine de-facto-Teilung (Afghanistans – A.S.) bietet der Obama-Administration die beste Alternative zu einer strategischen Niederlage.“ 9

Der »Plan B«

Der Präsident Obama empfohlene »Plan B« sieht Folgendes vor: „Die USA und ihre Verbündeten ziehen ihre Bodenkampftruppen über mehrere Monate hinweg vom größten Teil Paschtu-Afghanistans ab, einschließlich Kandahar. ISAF beendet die Kampfhandlungen in den Bergen, Schluchten und städtischen Gebieten Süd- und Ost-Afghanistans. […] Gleichzeitig konzentriert Washington seine Kräfte auf die Verteidigung der von Paschtunen nicht dominierten Bereiche im Norden und Westen Afghanistans, einschließlich Kabul. Den afghanischen Taliban wird ein modus vivendi angeboten, in dem beide Seiten übereinkommen, das von ihnen jeweils kontrollierte Gebiet nicht zu erweitern.[…] Washington bezieht in dieses Unternehmen Tadschiken, Usbeken, Hazaras und unterstützungsbereite Paschtunen ein, ebenso Afghanistans Nachbarn und den UN-Sicherheitsrat (!).“ 10

In dieser Diskussion wird auch das strategische Ziel formuliert: „Mit ihrer anhaltenden militärischen Präsenz in Afghanistan beabsichtigen die USA, für viele Jahre eine einflussreiche Macht in Süd- und Zentralasien zu bleiben.“ 11Es geht also um ein stabiles geopolitisches »Standbein« der USA in unmittelbarer Nachbarschaft zu Zentralasien, China, Pakistan, Iran, dem Arabischen Meer und Persischen Golf.

Bereits 2005 stellte eine Studie für die US-Luftstreitkräfte fest, dass „das US-Militär sich nicht einfach aus der Region verabschieden kann, wenn die »Operation Enduring Freedom« beendet oder verringert wird.“ 12 Vielmehr müssten die USA für eine ganze Reihe von Szenarien vorbereitet sein: „Intervention in einen indisch-pakistanischen Krieg, Unterstützungsmissionen von Ländern, die von Anti-Terror- oder Anti-Aufstandsoperationen betroffen sind; Erdöl- und Erdgasleitungssicherheit.“ 13 „Kein anderer Platz würde die USA dichter an die pakistanisch-indische Grenze führen, weder Oman oder Thailand noch Diego Garcia.“ 14

Es lässt sich nicht voraussagen, ob und welche dieser »Plan B«-Varianten sich durchsetzen. Dass sie eine Rolle spielen ist aber sicher, da sie den weltpolitischen Interessen der USA entsprechen. Ihre Reflexion finden sie in der Out-of-Area-Orientierung der NATO, die laut General Kujat das Gebiet „Kaukasus, Nah- und Mittelost, Mittelmeerraum, Afrika südlich der Sahara“ 15 einschließt.

Diese Verquickung erlaubt zu vermuten, dass hinter den Tönen, wie, man dürfe einen „Abzug nicht überstürzen“ und die „Afghanen nicht allein oder den Taliban überlassen“, auch hierzulande Überlegungen zu einem »>Plan B« bestehen. Noch wird das alles in leisen Tönen vorgetragen. Aber wer genau hinhörte, dem entging nicht, dass auf der Münchner Sicherheitskonferenz die EU-Außenbeauftragte Ashton davon sprach, die EU werde noch lange in Afghanistan bleiben.

Bei den Entscheidungen über die weitere Afghanistan-Politik der westlichen Allianz und damit auch der Bundesregierung geht es nicht nur um Krieg oder Frieden in Afghanistan, es geht um die strategische Grundorientierung: Wird die auf weltweite militärische Intervention gerichtete Politik beibehalten oder überwunden?

Das internationale Kräfteverhältnis verändert sich, aufsteigende Staaten machen der Transatlantischen Allianz ihr Machtmonopol streitig. Die Bewegungen und Gegenbewegungen großer Mächte drohen miteinander zu kollidieren. Die »Rückkehr zum Krieg als Mittel in der internationalen Politik« von Seiten der westlichen Allianz läuft unvermeidlich auf die Gefahr einer Internationalisierung des Kriegs selbst hinaus. Ein neuralgischer Punkt ist und bleibt hier Afghanistan mit seiner west-, süd- und zentralasiatischen Nachbarschaft. Wer aus der Transatlantischen Allianz hierher geht um zu bleiben, um Macht und Überlegenheit zu »projizieren«, schaut einigen seiner Konkurrenten – China, Indien, Russland, aber auch Iran – direkt in die Augen.

Militär-politische Rückkehr in die Weltpolitik

Am 12. September 1990 verpflichtete sich die Bundesrepublik im Vertrag »Über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland« dazu, „dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“.16 Elf Jahre später, nach dem 11. September 2001, erklärten Georg W. Bush und seine Berater17 dem »Terror« den Krieg. Den folgenden NATO-Beistandsbeschluss nutze die deutsche politischen Klasse zur militär-politischen Rückkehr Deutschlands in die Weltpolitik. Der Charakter, den jene Rückkehr in ihrem ersten großen »Probelauf« in Afghanistan bloß legte, unterscheidet sich von dem der USA im Irak lediglich durch seine völkerrechtliche Veredelung vermittels eines UN-Mandats.

Die neusten Meldungen signalisieren Zeitdruck: Das afghanische Präsidentenamt teilte anlässlich eines Besuches von US-Verteidigungsminister Gates am 6. März 2011 mit, dass zwischen beiden Seiten Verhandlungen über ein »Abkommen zur dauerhaften Stationierung amerikanischer Truppen und zu einer Sicherheitspartnerschaft« aufgenommen wurden. „Washington wünsche die Verhandlungen schnellstmöglich zum Abschluss zu bringen. Ein ähnliches Abkommen hat Amerika mit dem Irak geschlossen.“18 Bundesaußenminister Westerwelle erklärte auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die von der Nato geführte Schutztruppe (Isaf) sei gemeinsam nach Afghanistan gegangen und werde auch gemeinsam herausgehen.19

Wird sie das? Auch dann, wenn die USA dauerhaft in Afghanistan bleiben? Die Entscheidung über ein weiteres Verbleiben der Bundeswehr in Afghanistan bietet vielleicht eine letzte Chance für eine Neubesinnung über den Charakter deutscher Außen- und Sicherheitspolitik als Friedenspolitik. Militärisch an der Seite der USA in Afghanistan wird das nicht gelingen.

Anmerkungen

1) Nordatlantikvertrag vom 4.4.1949, Art.5. In: Völkerrechtliche Verträge, 8.Auflage 1999, Beck-Texte, S.43.

2) Paul D. Miller: How the War in Afghanistan Can Be Won. Foreign Affairs, Januar-Februar 2011, S.52.

3) Ebenda, S.61.

4) Ebenda, S.65.

5) Ebenda.

6) Robert D. Blackwill: Plan B in Afghanistan. Foreign Affairs, Januar-Februar 2011, S.44.

7) Ebenda.

8) Ebenda.

9) Ebenda.

10) Ebenda, S.45.

11 ) Ebenda, S.46.

12) Oliker, Olga und David A. Shlapak (2005): US Interests in Central Asia. Policy, Priorities and Military Roles. Prepared for the United States Airforce. Santa Monica: Rand Corporation, RAND Project Air Force, p 44.

13) Ebenda, S.46.

14) Ebenda, S.42.

15) General Harald Kujat, Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, Montagsgespräch der Rheinmetall DeTec AG, 7.5.2005; http://www.rheinmetall-detec.de/index.php?lang=2§fid=2987.

16) Zwei plus Vier Vertrag, Artikel 2. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Vertragsarchiv.

17) Es sei daran erinnert: Paul D. Miller war im Council für Afghanistan zuständig.

18) FAZ, Online-Ausgabe, 8.3.2011, S.1.

19) Ebenda.

Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a.D., ist Mitglied des Vorstands des Verbandes für internationale Politik und Völkerrecht, Berlin.

Kosten des Krieges

Kosten des Krieges

Die Folgen der US-Antwort auf 9/11

von Andrea Mazzarino

In einer Rede , die der damalige US-Präsident George W. Bush am 28. Juni 2005 auf dem Armeestützpunkt Fort Bragg in North Carolina hielt, sagte er Folgendes über den Irakkrieg: „Angesichts all dieser Gewalt bin ich mir der Frage vieler Amerikaner bewusst: Sind es die Opfer wert? Sie sind es wert, und sie sind unverzichtbar für die zukünftige Sicherheit unseres Landes.“ Als Gründe benannte Bush u.a. die Schaffung von Frieden und Demokratie im Nahen und Mittleren Osten und die Niederwerfung religiöser Extremisten, die zur Durchsetzung ihrer Ideologie bereit seien, Zivilisten zu töten.1 Solange keine vollständige Bilanz der Kosten vorliegt, können wir allerdings nicht abschließend erörtern, ob es die Kriege im Irak und Afghanistan wert waren oder nicht.

Die Ergebnisse des Projektes »Costs of War« (Kosten des Krieges), eines interdisziplinären Forschungsverbundes am Eisenhower Research Project der Brown Universität, legen nahe, dass die Kosten der drei Kriege der USA in Afghanistan und Pakistan (seit 2001) und im Irak (seit 2003) ungeheuer groß sind, sich jeweils unterscheiden und in den beteiligten Ländern sowie den Ländern der internationalen Koalition noch lange nachwirken werden. In diesem Beitrag sollen einige Kernergebnisse des fortlaufenden Projekts erläutert werden.

Humanitäre Kosten

Unter humanitären Gesichtspunkten schließen die Kosten des Krieges auch Todes- und Verletzungsfälle von Soldaten und Zivilisten sowie massive interne und externe Vertreibungen ein. Bis heute2 sind 11.431 Angehörige der US-amerikanischen und Koalitionsstreitkräfte in direkter Folge der genannten Kriege ums Leben gekommen; bei 147.987 wurden Verletzungen und medizinische Probleme diagnostiziert.3

Neben enormen Fluchtbewegungen der Zivilbevölkerung in allen drei Nationen haben die Kriege zum gewaltsamen Tod vieler Zivilisten geführt: 12.000 in Afghanistan, 120.000 in Irak und 20.000 in Pakistan. Es sind viel mehr Menschen den Kriegen zum Opfer gefallen als den Terroranschlägen vom 11. September 2001, 91 Prozent davon Zivilisten.4 Das Missverhältnis der Opferzahlen in diesen Ländern schmälert nicht die Bedeutung jener 2.752 Menschen, die durch die Terrorangriffe vom 11. September in den USA ums Leben kamen oder verletzt wurden.5 Gleichwohl verdeutlichen die Vergleichszahlen die Ironie, die in Bushs Verurteilung derjenigen liegt, die zur Durchsetzung ihrer eigenen Ziele Zivilisten töten.

Soziale Kosten

Die sozialen Kosten der Kriege betreffen in den USA im weitesten Sinne den Verlust von Bürgerrechten an Universitäten,6 die Betreuung von Veteranen durch ihre Familien und Gemeinden,7 die drastische Zunahme häuslicher Gewalt in Familien von Militärs8. Für die in den Kriegsgebieten lebenden Zivilisten gehören zu den Kosten u.a. die Zerstörung von öffentlicher Infrastruktur wie z.B. Krankenhäusern sowie der Verlust der Existenzgrundlage und der Sicherheit.9

In diesem Kontext verdient das Gender-Thema besondere Aufmerksamkeit, weil es in der Begründung der Regierung Bush für die Invasion in Afghanistan und Irak eine zentrale Rolle spielte. Auf einer Pressekonferenz im Jahr 2005 sagte Bush, „die Tatsache, dass Irak eine demokratische Verfassung haben wird, die den Frauen und Minderheiten Rechte einräumt, wird im Nahen und Mittleren Osten einen wichtigen Wendepunkt markieren“.10 Die Realität zeigt ein anderes Bild des Lebens von irakischen Frauen nach dem Beginn des Krieges. Vor dem Golfkrieg 1991 und den Sanktionen in den nachfolgenden 13 Jahren waren sie die ersten arabischen Frauen, die Positionen im akademischen Bereich, im Rechtswesen, der Medizin und der Regierung einnahmen.11 Irakische Frauen wiesen mit 23% der bezahlten Arbeitskräfte im Irak die höchste Beschäftigungsrate von Frauen in der arabischen Welt auf.12 Sie stellten die überwiegende Mehrheit der Angestellten im staatlichen Bereich, z.B. im Gesundheits-, Ingenieurs- und Erziehungswesen.13 Mit Zunahme der Arbeitslosigkeit im staatlichen Bereich in den 1990er Jahren, hatten Männern weit bessere Chancen als Frauen, der Arbeitslosigkeit durch Gründung eigener Unternehmen zu entkommen.14

Nach Kriegsbeginn 2003 waren Beschäftigte der öffentlichen Hand besonders stark betroffen, weil ehemalige irakische Staatsbetriebe infolge des wachsenden Wettbewerbs mit ausländischen Unternehmen oder der Übernahme durch ausländische Investoren von der Bildfläche verschwanden.15 2006 waren mehr als 70% der irakischen Frauen arbeitslos, und ihre Arbeitslosenquote war deutlich höher als die der Männer.16 Im Januar 2009 waren nur noch 17% der irakischen Frauen im aktiven Berufsleben,17 gegenüber 42% im Iran und 29% in Jordanien.18 Ein Hauptargument der Regierung Bush zur Begründung dieser Kriege ist damit nicht haltbar.

Volkswirtschaftliche Kosten

Zusätzlich zu den Kriegslasten, die die Menschen und das Gemeinwesen tragen müssen, sind die volkswirtschaftlichen Kosten der Kriege bei weitem höher, als von der US-Regierung prognostiziert. Seit 2001 hat die amerikanische Regierung aus dem Verteidigungshaushalt schätzungsweise zwei Billionen US-Dollar ausgegeben.19 Dabei ist eine weitere Billion US-Dollar noch gar nicht eingerechnet, die in den nächsten 40 Jahren voraussichtlich für die Gesundheitsversorgung von Veteranen, Invaliditätszahlungen sowie Pensionen fällig werden.20 Diese Kosten ziehen Mittel von anderen Ausgaben für soziale Zwecke ab.

Zwischen 2000 und Ende 2009 hat die Regierung ihre Ausgaben für militärische Aktivposten auf 341 Mrd. US-Dollar erhöht. Würde der gleiche Betrag in die öffentliche Infrastruktur investiert, würde dies aufgrund der gesteigerten Profitabilität einem zusätzlichen Zuschuss um 7,4% an den Privatsektor gleich kommen (das entspricht ca. 150 Mrd. US-Dollar).21 Und auf internationaler Ebene ist keineswegs sichergestellt, dass die Wiederaufbauhilfen, die die USA für die Kriegsgebiete zur Verfügung stellt, wirklich eingesetzt werden, um das Leben der Menschen zu verbessern. Mehr als die Hälfte der 126,5 Mrd. US-Dollar, die die USA für internationale Hilfsmaßnahmen bereit stellte, muss dem nationalen Sicherheitshaushalt zugerechnet werden und wurde z.B. für Militärdienstleister ausgegeben anstatt für das Gesundheitswesen und den Wiederaufbau der Infrastruktur.22

Die US-Regierung und die Zivilbevölkerung in Afghanistan, Pakistan und dem Irak müssen infolge der Invasionen und Besatzungen nach 9/11 viele unvorhergesehene Kosten tragen. Am 1. September 2010 erklärte Präsident Obama den Krieg im Irak offiziell für beendet, nachdem im vorangegangenen August knapp 100.000 amerikanische Soldaten aus dem Land abgezogen worden waren: „Die USA haben einen hohen Preis bezahlt, um die Zukunft des Irak in die Hände seines Volkes zu legen. Wir haben unsere jungen Männer und Frauen entsandt, um enorme Opfer zu bringen, und in Zeiten knapper Kassen im eigenen Land gewaltige Mittel im Ausland aufgewandt […] Nun ist es an der Zeit, das Kapitel abzuschließen.“ 23 Bevor wir das Kapitel dieser Kriege abschließen, brauchen wir eine gründliche Prüfung der Kosten, weil nur dann eine wirklich demokratische Diskussion über die Folgen einsetzen kann.

Anmerkungen

1) Transcript: Bush Speech on Iraq. 28. Juni 2005; www.foxnews.com/story/0,2933,160969,00.html.

2) Dieser Artikel wurde bei W&F am 23. Februar 2011 eingereicht.

3) Catherine Lutz (2011): U.S. and Coalition Casualties for The Burdens of War. An Accounting of the U.S. Military Response to 9/11. Unveröffentlichtes Manuskript vom 5.2.2011, S.3, 5.

4) Catherine Lutz und Neta Crawford (2011): Human Consequences. The Body Counts. Eisenhower Study Group. Unveröffentlichtes Manuskript vom 18.2.2011, S.2.

5) David W. Dunlap: September 11 Death Toll Rises by One, to 2,752. The New York Times, 16. Januar 2009.

6) Hugh Gusterson (2011): The Education System and the Costs of War. Unveröffentlichtes Manuskript vom 3.1.2011.

7) Alison Howell (2011): Who Bears the Burden? Shifting the Responsibility of Care. Uunveröffentlichtes Manuskript vom 29.12.2010.

8) Zoe Wool (2011): The War Comes Home. Unveröffentlichtes Manuskript vom 16.1.2011, S.5-6. Da das Verteidigungsministerium und der Rechnungshof der USA keine verlässlichen Daten über entsprechende Vorfälle in Militärfamilien und -gemeinschaften vorlegen, gibt es keine eindeutigen Beweise, dass dieser Anstieg mit dem Krieg im Irak in Zusammenhang steht.

9) Vgl. z. B. Dahr Jamail (2011): A Wounded Country. Unveröffentlichtes Manuskript vom 5.2.2011; dort werden einige der sozialen Kosten des Irakkriegs aufgelistet.

10) T.G.: Iraqi women? No worries, says Bush. Salon, 23. August 2005; www.salon.com/news/politics/war_room/2005/08/23/women.

11) (B)Russell(s) Tribunal Dossier (2006): Iraqi Women Under Occupation; www.brussellstribunal.org/pdf/Women.pdf.

12) United Nations Development Fund for Women (UNIFEM): Iraq. Country Profiles, Reports, and Fact Sheets on Iraq. 18. Mai 2007.

13) Cynthia Enloe (2010): Nimo’s War, Emma’s War: Making Feminist Sense of the Iraq War. Berkeley: University of California Press, S.24-25.

14) Enloe, a.a.O., S.29.

15) Enloe, a.a.O., S.31.

16) (B)Russell(s) Tribunal Dossier, a.a.O.

17) United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs: Iraq Labor Force Analysis 2003-2008. Januar 2009.

18) Tina Susman: Iraq. Unemployment Bad and Getting Worse, Los Angeles Times Blog, 15. Februar 2009.

19) Wheeler, Winslow: The Uncertain but Larger Pentagon Costs of the Post-9/11 Wars. Unveröffentlichtes Manuskript vom 19.2.2011.

20) Bilmes, Linda: Costs of Caring for Veterans of the Iraq and Afghanistan Wars. Unveröffentlichtes Manuskript vom 31.1.2011.

21) Heintz, James: Military Assets and Public Investment. Unveröffentlichtes Manuskript vom 2.2.2011.

22) Anita Dancs (2011): International Assistance Spending Due to War. Unveröffentlichtes Manuskript vom 28.1.2011.

23) Ewen MacAskill: Barack Obama ends the war in Iraq. Guardian online, 1. September 2010.

Andrea Mazzarino ist Kulturanthropologin. Ihre Schwerpunktthemen sind Gender in Politik, Geschäftsleben und Unternehmerschaft sowie Russland und die ehemalige Sowjetunion. Sie promovierte 2010 an der Brown University in Antrophologie und lehrt momentan an der Brown University und am Connecticut College. Übersetzt von Andreas Henneka

Fass ohne Boden

Fass ohne Boden

Die Kosten des deutschen Afghanistan-Einsatzes

von Jürgen Wagner

Bereits die offiziellen Kosten des Kriegseinsatzes in Afghanistan sind astronomisch. Berücksichtigt man den Haushaltansatz für 2011 mit, geben bis Herbst dieses Jahres laut Regierungsangaben allein die USA über 400 Mrd. Dollar für den Krieg aus. Es ist vor allem den Arbeiten von Joseph Stiglitz und Linda Bilmes zu verdanken, dass solche Zahlen kritisch hinterfragt werden können. Wie sie am Beispiel des Irak nachgewiesen haben, sind die tatsächlichen Kosten von Kriegseinsätzen für die USA um ein Vielfaches höher als die offiziellen Angaben, da die Regierung bestrebt ist, zahlreiche Posten heraus- und damit die Gesamtkosten schön zu rechnen.1 Dasselbe gilt auch für die Bundesrepublik, wie eine im Mai 2010 veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt, die die Gesamtausgaben für den deutschen Afghanistan-Einsatzes erstmals auf breiter Grundlage errechnete.2

Die offiziellen Kosten des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan sind in jüngster Zeit aufgrund immer umfangreicherer Truppenentsendungen regelrecht explodiert. Durch die letzte Erhöhung des Kontingentes auf 5.350 Soldaten Anfang 2010 stiegen die Kosten für zwölf Monate erstmals über die Milliardengrenze. Im neuen Mandatszeitraum von Januar 2011 bis Januar 2012 sind erneut 1.069,9 Mio. Euro vorgesehen. Doch wie die DIW-Studie nachweist, sind diese Angaben bei weitem zu gering. Die Autoren betonten dabei explizit, ihr Ziel habe nicht darin bestanden, ein Urteil über Sinn bzw. Unsinn des Einsatzes zu fällen, sondern zu prüfen, inwieweit die offiziellen Zahlen des Verteidigungsministeriums der Realität entsprechen. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: „Wir [können] nicht untersuchen, ob das militärische Engagement die angefallenen Kosten wert ist. Wir können jedoch feststellen, dass eine große Diskrepanz zwischen den Schätzungen des Verteidigungsministeriums und unseren eigenen Schätzungen zu den Gesamtkosten des Einsatzes besteht.“ (S.11)

Konservative Berechnungsgrundlagen

Obwohl die DIW-Studie zahlreiche unberücksichtigte Posten mit in ihre Berechnungen einbezieht, bewegt sie sich mit ihren jeweiligen Schätzungen – denn aufgrund fehlender Daten bleibt oft nichts anderes übrig, als »Pi mal Daumen« zu verfahren – am unteren Rand des möglichen Spektrums. Aus diesem Grund ist es den Autoren auch wichtig zu betonen, dass ihre „Schätzungen äußerst konservativ sind“. (S.10) Auch wenn die Studie insgesamt außerordentlich sorgfältig recherchiert und ausgewogen ist, versäumen es die Autoren an manchen Stellen, auf weitere verdeckte Kosten hinzuweisen. Zumeist benennen sie aber transparent, was und was nicht in ihren Berechnungsprozess eingeflossen ist. So etwa, dass Folgekosten außerhalb des monetären Bereichs unberücksichtigt blieben: „Wir beziehen ebenfalls keine nicht-finanziellen Kosten wie durch den Krieg verursachte ökologische oder kulturelle Schäden mit ein.“ (S.3)

Insgesamt fallen laut der DIW-Studie zusätzliche Kosten in vier unterschiedlichen Bereichen an:

Verteidigungsministerium

Zusätzlich zu den offiziellen Zahlen berechnet die DIW-Studie noch weitere Posten mit ein. So fallen durch den Krieg höhere Soldzahlungen sowie Ausgaben für den – irgendwann ja in jedem Fall einmal stattfindenden – Rückzug an. Ferner berücksichtigen die Autoren auch die Materialabnutzung: „[A]ngesichts der Umstände, unter denen die Ausrüstung nun zum Einsatz kommt (sowohl mit größerer Intensität als auch unter Bedingungen, die dem Wert der Ausrüstung sehr viel weniger zuträglich sind), muss die stärkere Wertminderung einbezogen werden.“ (S.4) Auch diese Berechnung wurde nach Angaben der Studie sehr konservativ ausgelegt. Denn es wird angenommen, dass die Kriegsgüter auch ohne den Einsatz angeschafft worden wären, was vor allem für das dort erstmals von der Bundeswehr eingesetzte schwere Gerät zumindest in diesem Umfang bezweifelt werden kann. Unberücksichtigt und unerwähnt bleiben zudem die immensen Summen, die generell für die Aufrechterhaltung einer auf offensive Kriegführung ausgerichteten Truppe aufgewendet werden müssen.

Belastungen für andere staatliche Ministerien

Einen wichtigen, von offizieller Seite unberücksichtigten Aspekt stellen die Versorgungsansprüche im Einsatz zu Schaden gekommener Soldaten dar: „Wir gehen davon aus, dass jeder achte Soldat, der körperlich oder psychisch erkrankt (insbesondere aufgrund von posttraumatischem Stress), mit einer permanenten Behinderung leben muss.“ (S.4) Während in den USA etwa 40% der Soldaten psychisch erkranken, gehen die DIW-Autoren für Deutschland lediglich von 4,2% aus, was der offiziell gemeldeten Zahl entspricht. Da aber gerade in diesem Bereich eine enorme Dunkelziffer besteht, ist auch diese Schätzung extrem niedrig angesiedelt.3 Darüber hinaus wird vom DIW auch die für Hinterbliebene gestorbener Soldaten anfallende Witwen- oder Witwerrente hinzuaddiert.

Weiter wird davon ausgegangen, der Krieg verschärfe die Bedrohungslage in Deutschland, was hierzulande eine Erhöhung der Sicherheitsausgaben im Etat des Innenministeriums zur Folge habe, eine Einschätzung, die im Übrigen auch von Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz geteilt wird. Eher gering sind Ausgaben, die im Auswärtigen Amt anfallen; deutlich gewichtiger sind die für den Entwicklungsetat anzusetzenden Mehraufwendungen. Die seit Beginn des Einsatzes drastisch erhöhte deutsche Entwicklungshilfe für Afghanistan ist für die DIW-Autoren richtigerweise eine direkte Folge des Krieges. Auch wenn in der Praxis eher eine Umschichtung von strategisch »unbedeutenderen« Ländern erfolgte, anstatt einer Erhöhung der Entwicklungshilfe, handelt es sich hierbei nichtsdestotrotz um kriegsbedingte Mehrausgaben. Als letzten Posten in diesem Bereich führen die Autoren noch die Ausgaben für die Polizeiausbildung an, auch hier werden aber lediglich die des Deutschen Polizeiprojektteams (GPPT) berücksichtigt, nicht aber die der EU-Ausbildungsmission EUPOL Afghanistan, an der Deutschland jedoch ebenfalls personell wie finanziell beteiligt ist.

Folgekosten staatlicher Finanzierung

Irgendwoher müssen die Gelder für den Afghanistan-Einsatz kommen – und überall fallen Folgekosten in der ein oder anderen Form an. Bei einer erhöhten Kreditaufnahme sind dies Zinszahlungen, doch auch Einsparungen in anderen Bereichen sind nicht zum Nulltarif zu haben, „wenn diese Mittel ursprünglich einer produktiveren Nutzung zugeteilt waren“. (S.6)

Nicht aus Haushaltsmitteln bestrittene Kosten

In diesen, wie die Autoren zugestehen, moralisch nicht unproblematischen Bereich, fallen Kosten, die sich nicht unmittelbar im Haushalt niederschlagen, jedoch dennoch für die Gesellschaft anfallen: „Diese Kosten, die unserer Schätzung hinzugefügt werden müssen, umfassen nicht vom Staat übernommene medizinische Kosten, den Verlust von Soldatenleben sowie Produktivitätseinbußen bei verletzten Soldaten. Die Bezifferung des Wertes eines Soldatenlebens ist ein besonders heikles Thema, da die Berechnung des Wertes eines Menschenlebens als unethisch gelten kann.“ (S.7) Nichtsdestotrotz gelangen die Autoren zu einer konkreten (und wiederum sehr konservativen) Zahl, was ein Soldatenleben »wert« ist: 2,05 Mio. Euro.

Geschätzte Gesamtkosten der Beteiligung Deutschlands seit Kriegsbeginn nach Szenarien
(in Milliarden Euro zu Preisen des Jahres 2010)

Szenarien Unteres Ende Punktschätzung Oberes Ende
Komplettrückzug 2011 18,3 25,488 32,6
Realistisch (Abzug 2016) 26,2 36,478 46,8
Umfassendes Engagement (Verbleib bis 2020) 53,3 72,589 91,9
Quelle: Berechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)

Die Rechnung in drei Szenarien

Offiziell gibt das Verteidigungsministerium an, der Einsatz in Afghanistan habe zwischen 2001 und 2010 mittlerweile 4,1 Mrd. Euro verschlungen. Die DIW-Studie kommt zu ganz anderen Summen. Auf Basis der zuvor aufgeführten zusätzlich zu berücksichtigenden Ausgabeposten berechnen die Autoren die Gesamtkosten des Einsatzes für drei unterschiedliche Szenarien. Die Ergebnisse weisen aufgrund der teils unsicheren Datenlage eine breite Streuung auf, sind in ihrer Grundaussage jedoch eindeutig: In jeder erdenklichen Konstellation liegen die realen Kosten des Krieges weit über den offiziell ausgewiesenen Zahlen.

Im ersten Szenario wird davon ausgegangen, dass alle deutschen Truppen Ende 2011 das Land verlassen werden. Für diesen, von den Autoren zu Recht als äußerst unwahrscheinlich erachteten Fall, gelangt die Studie zu dem Ergebnis, dass sich die Gesamtsumme zwischen 18 und 33 Mrd. Euro bewegen wird. Dem zweiten, »realistischen« Szenario liegt die Annahme zugrunde, dass „die Truppen bis zum Jahr 2016 in Afghanistan stationiert sind, wobei die deutsche Beteiligung in den Jahren 2011 bis 2013 auf gleichem Niveau bleibt, während von 2014 bis 2016 jedes Jahr ein Drittel der Truppen abgezogen wird“. (S.7) Hier kommt die Studie zu dem Schluss, dass die Kosten zwischen 26,2 und 46,8 Mrd. Euro liegen werden. Explosionsartig würden die Kosten nochmals steigen, sollte Deutschland seinen Kriegsbeitrag erneut ausbauen, wie im letzten Szenario angenommen wird. Auf Grundlage einer Verdopplung der Präsenz bei anschließend gleich bleibendem Niveau bis zum Jahr 2020 würde sich der Gesamtbetrag dann zwischen 53,3 und 91,9 Mrd. bewegen.

Außerdem berechnet die Studie noch die künftig jährlich anfallenden Einsatzkosten: „Unseren Schätzungen zufolge kostet jedes weitere Jahr, in dem Deutschland am Einsatz in Afghanistan teilnimmt, zusätzliche 2,5 bis 3 Milliarden Euro. Dies steht im Widerspruch zum offiziellen Kriegsbudget, das für das Jahr 2010 1.059 Millionen Euro beträgt.“ (S.2)

Fazit

Abseits aller – berechtigter – moralischer Bedenken gegenüber dem Krieg am Hindukusch steht zu hoffen, dass die Ergebnisse der DIW-Studie angesichts tief greifender Kürzungen im Sozialbereich der Forderung nach einem sofortigen Abzug zusätzlichen Rückenwind verleihen können. Interessant an der DIW-Studie ist zudem nicht nur, dass ein – relativ staatsnahes – Wirtschaftsinstitut zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kosten dieses Einsatzes weit höher sind, als die Politik der Bevölkerung gerne glauben machen will. Vielmehr hat das DIW darüber hinaus eine Blaupause vorgelegt, die als künftige Grundlage zur Berechnung der Kosten anderer Bundeswehreinsätze herangezogen werden könnte.

Anmerkungen

1) Joseph Stiglitz and Linda Bilmes: The Three Trillion Dollar War: The True Cost of the Iraq Conflict. New York: Norton & Company.

2) Tilman Brück, Olaf J. de Groot, Friedrich Schneider: Eine erste Schätzung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan. DIW Berlin, Wochenbericht 21/2010, S.2-11; www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.356890.de/10-21-1.pdf.

3) Vgl. Fabian Virchow, Willi Butollo, Roger Braas und Karin Griese: Unsichtbare Wunden. Posttraumatische Belastungsstörungen als Folge von Krieg und Gewalt. W&F-Dossier Nr. 61/2009.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) und in der Redaktion von W&F.

Grenzen von ZIMIK in Afghanistan

Grenzen von ZIMIK in Afghanistan

von Robert Lindner

Immer wieder wurde in jüngerer Zeit in W&F-Artikeln auf die Probleme verwiesen, die sich aus der von der Bundesregierung gewünschten und geförderten zivil-militärischen Zusammenarbeit (ZIMIK), also der Kooperation von zivilgesellschaftlichen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen mit dem Militär, ergeben. Robert Lindner beleuchtet dieses Thema gezielt im Kontext des Afghanistankriegs.

Im Oktober 2010 präsentierte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) das Ergebnis einer repräsentativen dimap-Studie über die Einstellung der Deutschen zum Regierungsansatz der »vernetzten Sicherheit«.

Zum Hintergrund: Vor fast einem Jahr kündigte Entwicklungsminister Dirk Niebel öffentlich an, die Vergabe von Fördermitteln an private Hilfsorganisationen künftig von deren Bereitschaft abhängig zu machen, in Afghanistan mit der Bundeswehr zusammenzuarbeiten. Sein Ministerium setzte diese Ankündigung im Mai 2010 mit der Einrichtung einer »NRO-Fazilität Afghanistan« um, eines mit zehn Millionen Euro ausgestatteten Finanzierungsinstrumentes für private Entwicklungsorganisationen, die sich bei der Kooperation zum Konzept der »vernetzten Sicherheit« bekennen müssen. Der entwicklungspolitische Dachverband VENRO äußerte heftige Kritik an einer derartigen Konditionierung von Hilfsgeldern und protestierte gegen jeglichen Druck auf zivilgesellschaftliche Organisationen, ihre Arbeit in eine politisch-militärische Gesamtstrategie einzufügen. VENRO sieht durch die BMZ-Politik die grundlegenden Arbeitsprinzipien deutscher Nichtregierungsorganisationen (NRO) bedroht, nämlich Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und die ausschließliche Orientierung an den Bedürfnissen der Not leidenden Menschen.1

Hans-Jürgen Beerfeltz, Staatssekretär im BMZ, sah bei der Präsentation des Umfrageergebnisses den neuen Kurs seines Ministeriums bestätigt: „In der Diskussion um den von der Bundesregierung vertretenen Ansatz der vernetzten Sicherheit in Afghanistan sprechen sich der Umfrage zufolge 81 Prozent der Deutschen für eine Abstimmung zwischen Hilfsorganisationen und der Bundeswehr bei der Entwicklungsarbeit aus. […] Lediglich 14 Prozent der Befragten lehnen eine Abstimmung zwischen zivilen und militärischen Partnern in Ländern wie etwa Afghanistan ab. Dieses Votum zeigt deutlich, dass die in jüngster Zeit insbesondere von NRO vorgebrachte Kritik am vernetzten Ansatz der Bundesregierung im weit überwiegenden Teil der Bevölkerung keinen Rückhalt findet.“ 2

Hier sind dem Staatssekretär offensichtlich in der Hitze der in den vergangenen Monaten scharf geführten Auseinandersetzung zwischen seinem Ministerium und einem Teil der entwicklungspolitischen NRO-Szene die Begriffe und Maßstäbe durcheinander geraten: Viele Hilfsorganisationen verweigern nämlich mitnichten jegliche Interaktion mit militärischen Akteuren wie der Bundeswehr, etwa wenn es um logistische Abstimmung geht, die weder die Sicherheit des eigenen Personals noch die ihrer Zielgruppen gefährdet. Etwas in dieser Art werden wohl auch die 81 Prozent der Befragten bei ihrer zustimmenden Antwort im Sinn gehabt haben.

Eine Kooperation im Sinn der »vernetzten Sicherheit« geht jedoch weit über streng limitierten Informationsaustausch hinaus. Obwohl es bislang von Seiten der Bundesregierung keine umfassende und schlüssige Darlegung des Begriffes der »vernetzten Sicherheit« gibt,3 handelt es sich dabei offenbar um eine sicherheitspolitische Agenda, die durch ein „koordiniertes Vorgehen aller Beteiligten und die Integration aller Instrumente, der zivilen und der militärischen“,4 umgesetzt werden soll. Sicherheitspolitik ist aber für die große Mehrheit der deutschen entwicklungspolitischer NRO definitiv keine Leitlinie ihrer Arbeit.

Wäre in der Umfrage etwa gefragt worden, ob man die Unabhängigkeit der Hilfsorganisationen von militärischer Einflussnahme befürworten würde, hätte vermutlich eine ähnlich große Zahl von Bürgerinnen und Bürger mit »Ja« geantwortet.

Die beschriebenen Vorgänge deuten darauf hin, dass die Bundesregierung ihr Engagement in Afghanistan zunehmend unter sicherheitspolitische Maßgaben stellt, anstatt Priorität auf zivile Mittel zu legen und konsequent eine friedliche Entwicklung zu fördern. Wie die Vorgänge um die BMZ-Umfrage zeigen, sollen zudem nicht mehr nur die »Köpfe und Herzen« der Menschen in Afghanistan, sondern vor allem auch jener in Deutschland gewonnen werden.

Mit vereinten Kräften für Stabilität und Sicherheit?

Auch wenn die Bundesregierung für ihre Sicherheitspolitik speziell zu Afghanistan eine eigenständige Rolle beansprucht, ist ihr Konzept der »Vernetzten Sicherheit« doch nichts wesentlich anderes als eine etwas zahmere Ausprägung des innerhalb der NATO unter Führung der USA entwickelten »Comprehensive Approach« – eines Ansatzes, der derzeit in Afghanistan im Sinne einer militärisch geführten »Counterinsurgency«-Strategie („shape, clear, hold and build“), zu Deutsch »Aufstandsbekämpfung«, angewendet wird. Diese Strategie basiert auf der Annahme, dass asymmetrische Konflikte wie in Afghanistan nicht mehr alleine mit militärischen Mitteln zu gewinnen sind.

Dies mag zutreffend sein, wenn vorrangig mit Kategorien wie »Sieg« oder »Niederlage« operiert wird. Im Zeitalter der »neuen Kriege« handelt es sich jedoch oftmals um langwierige Konflikte mit sehr komplexen Ursachen, die sich von lokalen Streitigkeiten zu militärisch organisierten Aufstandsbewegungen und wieder zurück entwickeln können. Derartige Konflikte lassen sich in der Regel nur dann dauerhaft beenden, wenn ihre Ursachen beseitigt werden, nicht, indem lediglich eine kurzfristige Reduktion des Gewaltniveaus angestrebt wird. Allgemein gilt: Zivilen Probleme sollte mit zivilen Mitteln, Sicherheitsproblemen mit polizeilichen oder militärischen Mitteln begegnet werden. Besonders gefährlich wird es, wenn zivile Maßnahmen wie humanitäre Hilfe oder Entwicklungshilfe als taktische Mittel einer Sicherheitsstrategie begriffen und dementsprechend instrumentalisiert werden.

Die Bundesregierung setzt bei ihrer Begründung des »vernetzten Ansatzes« voraus, es gebe für Politik, Militär und Nichtregierungsorganisationen eine „gemeinsame Verantwortung für ein gemeinsames Ziel“.5 Verfechter dieses Ansatzes folgern daraus, zivile und militärische Akteure müssten an einem Strang ziehen. Worin soll aber diese angebliche Gemeinsamkeit bestehen? Aus dem Bundesverteidigungsministerium wurde dazu in der Vergangenheit erklärt, es gehe darum, „die Stabilisierung von Kriegs- und/ oder Krisengebieten zu verwirklichen“.6 »Stabilität« ist der Schlüsselbegriff einer sicherheitspolitischen Doktrin, wie sie dem Strategischen Konzept der NATO zugrunde liegt.

Unabhängige Hilfsorganisationen setzen sich jedoch andere Prioritäten, nämlich vor allem den Bedarf der Not leidenden Menschen. Stabilität kann für die Ausübung ihrer Arbeit förderlich sein, ist aber kein Selbstzweck – auch unter der Schreckensherrschaft der Taliban gab es eine gewisse Stabilität, dies aber um den Preis schlimmster Menschenrechtsverletzungen. Viele Hilfsorganisationen konnten übrigens auch unter diesen schlimmen Bedingungen zumindest eingeschränkt operieren, auch vorher schon, während des sowjetisch-afghanischen Kriegs und des darauf folgenden Bürgerkriegs.

Die Kontroverse um die zivil-militärische Kooperation ist keineswegs neu. Spätestens seit den Balkan-Einsätzen der 1990er Jahre gibt es in Deutschland eine intensive Debatte um »integrierte Missionen« unter dem Dach der Vereinten Nationen, bei denen parallel »robuste« (auf Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta mandatierte) Kampfeinsätze, Not- und Entwicklungshilfe sowie Staatsaufbau durchgeführt werden. Im Unterschied zu den (gemäß Kapitel VI operierenden) Blauhelmen in Post-Konfliktsituationen sind Militärkräfte nach Kapitel VII keine neutralen Akteure, sondern selbst Konfliktparteien.

Innerhalb der entwicklungspolitischen Gemeinschaft gibt es seit Jahren einen Diskussions- und Klärungsprozess darüber, ob, wann und in welcher Weise NRO mit solchen robusten Militärkräften kooperieren sollen. In Bezug auf Afghanistan wird diese Diskussion vor allem um die von der NATO eingeführten Provincial Reconstruction Teams (PRTs, Regionale Wiederaufbauteams) geführt.7

Oberste Leitlinie der unter dem Dach von VENRO organisierten Hilfsorganisationen ist beim Umgang mit Konfliktparteien stets die Wahrung ihrer eigenen Unabhängigkeit und damit die Akzeptanz bei ihren Zielgruppen, also jenen Menschen, die sie mit ihrer Arbeit erreichen wollen. Unsere Erfahrung zeigt: Werden wir von diesen Menschen oder von Gewaltakteuren, die in ihrem Umfeld operieren, nicht mehr als unparteilich wahrgenommen, geraten häufig nicht nur unsere eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und unsere einheimischen Partner in große Gefahr, sondern auch die Empfänger unserer Hilfe, indem sie von militanten Kräften zu »Kollaborateuren« der Gegenseite und damit zu vermeintlich legitimen Angriffszielen erklärt werden.

Ausgehend vom »Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006« sind Bundesregierung und Bundeswehr darum bemüht, zivilgesellschaftliche Akteure als Partner für vernetzte Sicherheitskonzepte zu gewinnen. Einzelne nichtstaatliche Hilfsorganisationen haben daraufhin eigene Grundsätze für die zivil-militärische Zusammenarbeit formuliert8 und sind in einen Dialog mit Politik und Militär eingetreten, um Möglichkeiten und Grenzen derartiger Interaktionen auszuloten. Zum Beispiel diskutierten im November 2008 bei einem Afghanistan-Symposium in Bad Boll Vertreter von Ministerien, Bundeswehr und Nichtregierungsorganisationen darüber, in welchen konkreten Situationen welche Art von Informationen ausgetauscht werden können. Auf dem Podium bestand am Ende weitgehende Einigkeit, dass dieses sensible Thema keine Polemisierung verträgt und von allen Beteiligten ein hohes Maß an Verantwortung bei der Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben verlangt.9

Sicherheit in Afghanistan und die Arbeit unabhängiger Hilfsorganisationen

Trotz der Verstärkung der internationalen Streitkräfte von 90.000 im vergangenen Jahr auf aktuell rund 140.000 konnten die Aufständischen keineswegs zurückgedrängt und die Sicherheitslage beruhigt werden. Im Gegenteil: Die bewaffneten oppositionellen Gruppen haben mittlerweile mehr als die Hälfte des Landes unter Kontrolle oder üben dort starken Einfluss aus, und zwar nicht mehr nur im Süden und Osten, sondern zunehmend auch im Norden, im zentralen Bergland und im Westen. In einem Drittel des Landes hat die afghanische Regierung so gut wie nichts zu sagen. Entsprechend ist es den Taliban gelungen, in weiten Teilen Afghanistans faktisch Regierungsfunktionen auszuüben.

Die Sicherheitslage wird immer dramatischer. Leidtragend ist vor allem die Zivilbevölkerung. 2010 ist das Jahr, in dem seit Ausbruch der Kämpfe am meisten Zivilisten ums Leben gekommen sind oder verletzt wurden. UN-Schätzungen zufolge ist die Zahl der zivilen Todesopfer auf 2.412 angestiegen, was einer Steigerung um 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2009 entsprechen würde.10

Im ersten Halbjahr 2010 haben im Vergleich mit dem Vorjahr die zivilen Opfer durch Angriffe von bewaffneten Oppositionsgruppen um 53 Prozent zugenommen. Dem gegenüber hat die Zahl der Opfer als Folge von alliierten Militäroperationen um 30 Prozent abgenommen.11 Hier scheint sich der Befehl von ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal vom Juli letzten Jahres (2009) zur Reduzierung von Luftangriffen und anderen Kampftaktiken, die zu besonders vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung führen und die Menschen verbittern (z.B. nächtliche Hausdurchsuchungen), positiv ausgewirkt zu haben. Allerdings hat Presseberichten zufolge die ISAF-Führung registriert, dass seit dem Beginn der zweiten Jahreshälfte (zumeist helikoptergestützte) Luftangriffe wieder signifikant zunehmen und dementsprechend die zivilen Opferzahlen ansteigen.12

Besonders gefährlich ist die Lage der Bevölkerung dort, wo groß angelegte Militäroperationen durchgeführt werden. Im Verlauf der im Sommer 2010 begonnenen alliierten Operation »Hamkari« in der Provinz Kandahar sind bereits zahlreiche Menschen bei den Kämpfen ums Leben gekommen, wurden verletzt oder mussten fliehen. So hat das Mirwais-Krankenhaus in Kandahar im vergangenen August und September doppelt so viele Menschen mit Schussverletzungen behandelt wie in den gleichen Monaten im Vorjahr. Außerdem haben in Afghanistan nicht nur in besonders umkämpften Gebieten Morde und Anschläge sowie entsprechende Drohungen gegen Stammesälteste, Dorfvorstände oder andere Personen zugenommen, die verdächtigt werden, mit alliierten Kräften oder Regierungsstellen zu kooperieren. Nach Angaben der Vereinten Nationen resultieren derzeit etwa 14 Prozent aller zivilen Todesopfer aus politisch motivierten Morden. Im Mai und Juni 2010 wurde dabei ein Spitzenwert von 18 pro Woche erreicht, so dass von einer regelrechten Rache- und Einschüchterungskampagne gesprochen werden kann. Der Bürgermeister von Kandahar-Stadt drückte die Lage seiner Mitbürger so aus: „Jeder hier ist ein Ziel.“

Die Sicherheitslage hat sich nicht nur im Süden, sondern auch im Norden des Landes verschärft. Zivile Todesopfer haben dort um 136 Prozent zugenommen.13 So operieren extremistische Gruppen mittlerweile auch in früher relativ sicheren Provinzen wie Takhar und Badakhshan.

Und auch Angehörige von Hilfsorganisationen geraten immer mehr ins Schussfeld. Im Vergleich zu 2009 sind in 2010 47 Prozent mehr NRO-Mitarbeiter ums Leben gekommen. Entführungen haben um 60 Prozent zugenommen, und zwar vor allem konzentriert auf den Norden.14 Oxfam verlor zum Beispiel Ende August 2010 bei einem Sprengstoffanschlag im Distrikt Shar-i-Buzurg im Westen der Provinz Badakhshan zwei afghanische Mitarbeiter, ein weiterer wurde verletzt. Die Deutsche Welthungerhilfe musste 2007 aus Sicherheitsgründen ihr Büro in Kundus schließen und zog sich 2009 auch aus der Nachbarprovinz Takhar zurück, nachdem dort ein afghanischer Mitarbeiter bei einem Sprengstoffanschlag ums Leben gekommen war. Acht Minenräumer, die einer Partnerorganisation der deutschen NRO medico international angehörten, kamen 2008 und 2009 bei Überfällen ums Leben; weitere 80 Mitarbeiter wurden entführt und kamen erst nach langwierigen Verhandlungen wieder frei. Die Kölner NRO medica mondiale musste Ende 2008 ihre Rechtsberatung von Frauen in Kandahar einstellen, weil ihre Arbeit zu gefährlich geworden ist.

Trotz dieser schlimmen Entwicklungen gibt es jedoch auch vorsichtig positive Zeichen. So wurden in letzter Zeit die meisten entführten NRO-Angehörigen später wieder freigelassen, und in einigen Landesteilen sind bewaffnete aufständische Gruppen zunehmend bereit, unabhängige Hilfsorganisationen unbehelligt arbeiten zu lassen.

Anders als vielfach angenommen, behandeln Taliban und andere aufständische Gruppen nichtstaatliche Hilfsorganisationen keineswegs pauschal als feindliche Kräfte. Es ist erkennbar, dass Militante in vielen Fällen sehr wohl differenzieren, ob NRO unabhängig arbeiten und ob sie entsprechende Distanz zu Konfliktparteien wahren oder nicht.

Dies gilt eingeschränkt auch für die Zivilbevölkerung, um deren »Hearts and Minds« von allen Seiten gerungen wird. Denn auch gut gemeinte Hilfsprojekte in Konfliktgebieten, die von Militärs selbst durchgeführt oder gefördert werden, stellen häufig eher eine Gefährdung als einen Nutzen für die Menschen dar. Eine gemeinsame Studie von CARE, dem afghanischen Bildungsministerium und der Weltbank ergab, dass die Mehrheit der befragten Afghanen ihre Kinder äußerst ungern in Schulen schicken, die von PRTs errichtet worden sind, da sie dort eine erhöhte Gefahr von Angriffen befürchten. Ein Gemeindevertreter in Daikundi sagte zu den Forschern: Wir sind sehr arm und benötigen dringend Entwicklungsprojekte, aber wir wissen, dass überall dort, wo die internationalen Truppen hingehen, ihnen die Taliban folgen.“ 15 UN-Vertreter sprechen gar von einer »Gegenstrategie« der Aufständischen, militärisch verantwortete Aufbauprojekte bevorzugt anzugreifen.

Zivile Hilfe, die im Zuge einer militärisch geprägten Strategie der Aufstandsbekämpfung eingesetzt wird, um den Rückhalt des Gegners in der Bevölkerung zu schwächen, ist aber nicht nur gefährlich, sondern in der Regel auch wenig effektiv. Forschern der Tufts-Universität in Boston zufolge gibt es zudem nur wenige Hinweise, dass militärisch dominierte Projekte für mehr Stabilität sorgen würden – im Gegenteil, dadurch würde häufig die Korruption befördert, die Legitimität afghanischer Regierungsinstitutionen beschädigt und auch die Glaubwürdigkeit der internationalen Akteure untergraben.16

Eine große Schwäche von militärisch geprägter Hilfe ist häufig die Konzentration auf das eigene Operationsgebiet und die Auslegung der Maßnahmen auf kurzfristige anstatt längerfristige Effekte. Meist handelt es sich um kleine Vorhaben, mit denen möglichst schnell die lokale Infrastruktur verbessert werden soll (Quick-Impact-Projekte). Die Bevölkerung soll dadurch vorgeführt bekommen, dass sie von der Anwesenheit der fremden Truppen profitiert. Damit soll die Sympathie der Bevölkerung gewonnen und indirekt die Sicherheit der eigenen Soldaten erhöht werden (Force Protection). Ob das betreffende Projekt im jeweiligen sozialen und ethnischen Kontext überhaupt tragfähig ist und ob es auch noch in mehreren Monaten oder Jahren funktioniert, wenn der Militäreinsatz vielleicht schon beendet ist, ist hingegen oft nachrangig.

Zwar gibt es Versuche, durch verstärkte Einbeziehung der Betroffenen in die entsprechenden Maßnahmen grundlegende Konzeptions- und Ausführungsmängel zu vermeiden (zum Beispiel im Rahmen des von der Bundesregierung geförderten »Provincial Development Fund«-Programms), aber aus entwicklungspolitischer Sicht wäre das Geld wesentlich besser in kontinuierliche Entwicklungsarbeit statt in sporadische und oft genug kurzlebige Kleinprojekte angelegt.

Selbst eine häufig zitierte Studie der Freien Universität Berlin, die im Auftrag des deutschen Entwicklungsministeriums über mehrere Jahre hinweg die Wirksamkeit zivil-militärischer Projekte in Nord-Afghanistan untersucht hat,17 sieht den Nutzen von Quick-Impact-Projekten kritisch. Diese seien zwar recht gut geeignet, um schnell Kontakt zur Bevölkerung zu gewinnen, aber relativ unwirksam, um das Ansehen der ausländischen Truppen zu erhöhen. Ausschlaggebend dafür sei vielmehr deren Fähigkeit, für Schutz und Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. „Mehr Hilfe vermindert nicht das Bedrohungsgefühl“, so die Autoren der Studie. Außerdem sei Entwicklungshilfe generell nur wenig geeignet, die Sicherheit (bzw. das Sicherheitsempfinden) der Zivilbevölkerung zu erhöhen. Im Gegenteil fühlten sich viele Befragte, die von Hilfsprojekten erreicht wurden, sogar stärker bedroht, da sie befürchteten, dass ihre Gemeinschaften dadurch vermehrt zum Angriffsziel von Aufständischen würden.

Grundlagen und Standards für die zivil-militärische Zusammenarbeit

Es gibt zahlreiche allgemein anerkannte Prinzipien und Richtlinien, die die Zusammenarbeit zwischen Hilfsorganisationen und militärischen Akteuren in der humanitären Hilfe regeln. Genannt seien hier zum Beispiel der Verhaltenskodex der Rot-Kreuz-/Rot-Halbmond-Bewegung, die Oslo Guidelines, der EU-Konsens zur humanitären Hilfe und das Sphere-Handbuch. Überall dort wird klar die Trennung von humanitärem und militärischem Mandat verlangt. Nur in streng definierten Ausnahmefällen dürfen militärische Akteure selbst Nothilfe leisten. Für Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere von staatlicher Seite, gelten die humanitären Prinzipien nicht oder nur eingeschränkt. Da viele große Hilfsorganisationen aber sowohl in der Not- als auch in der Entwicklungshilfe engagiert sind, orientieren sie sich in der Praxis in allen ihren Tätigkeitsfeldern am Gebot der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit – wer humanitäre Hilfe leistet, kann seine dort praktizierten Grundsätze nicht bei der Entwicklungsarbeit aufgeben, ohne seine gesamte Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Was Afghanistan betrifft, haben sich die Vereinten Nationen, NRO, NATO-geführte Truppen und die afghanische Regierungsarmee im August 2008 auf spezifische zivil-militärische Richtlinien für humanitäre und militärische Akteure verständigt.18 Darin sind die grundlegenden humanitären Prinzipien wiederholt und auf die konkrete Situation in Afghanistan angepasst. Zum Beispiel wird auf das Recht von Hilfsorganisationen verwiesen, keine Informationen an das Militär weiterzugeben, wenn diese für militärische Zwecke eingesetzt werden und das Leben von Zivilisten gefährden könnten (vgl. Kasten S.41).

Eine wichtige Errungenschaft der Richtlinien besteht zum Beispiel darin, dass die NATO-geführten Provincial Reconstruction Teams angewiesen wurden, keine humanitäre Hilfe zu leisten, außer sie werden von den zuständigen zivilen Behörden eigens dazu aufgefordert. Die Richtlinien beziehen sich ferner auf ein Dokument des PRT Executive Steering Committee von 2007, das ausdrücklich darauf hinweist, dass humanitäre Hilfe nicht für politische Zwecke, Kontaktpflege oder für »Hearts and Minds«-Zwecke eingesetzt werden darf. Schließlich haben die Richtlinien auch bewirkt, dass seit Mai 2009 NATO-Truppen keine weißen Fahrzeuge mehr benutzen dürfen, um von unabhängigen humanitären Akteuren unterschieden werden zu können. Leider bestehen noch immer erhebliche Umsetzungsdefizite, und es gibt keinen Überprüfungsmechanismus, so dass die Einführung der Richtlinien bestenfalls als halber Erfolg bezeichnet werden kann. Hier auf internationaler Ebene, z.B. innerhalb der NATO, für Abhilfe zu sorgen, wäre eine äußerst verdienstvolle Aufgabe für Bundesregierung und Bundeswehr.

Ausgewählte Empfehlungen für politische und militärische Akteure im Kontext der NATO

1. Schutz der Zivilbevölkerung

Bei Militäroperationen verstärkt auf die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten achten und nur verhältnismäßige Gewalt einsetzen (z.B. Reduzierung bzw. sorgfältigere Vorbereitung von Luftangriffen und nächtlichen Hausdurchsuchungen; keine Stationierung von Truppen nahe an Bevölkerungszentren).

Bei Militäroperationen sicherstellen, dass der Zugang von unabhängigen Hilfsorganisationen zur hilfsbedürftigen Bevölkerung nicht gefährdet wird.

2. Zivil-militärische Beziehungen

Klare Trennung von militärischem Einsatz und zivilem Aufbau; keine Instrumentalisierung von Projekten und Akteuren der Entwicklungshilfe.

Im Zuge des laufenden Übergabeprozesses der internationalen Gemeinschaft eine Strategie zur Beendigung der PRTs entwickeln; keine Weiterführung der PRTs unter neuer Trägerschaft, etwa der afghanischen Nationalarmee.

Konsequente Umsetzung der »Zivil-militärischen Richtlinien für Afghanistan« (Siehe Anm. 17 des Hauptartikels) und Weiterentwicklung des bestehenden Überprüfungsmechanismus.

3. Sicherheitssektorreform

Kein weiterer Aufbau von Dorfmilizen und anderen paramilitärischen Kräften wie z.B. im Rahmen des Afghan Public Protection Program (AP3) oder der Afghan Local Police (ALP); stattdessen mehr Anstrengungen zum Ausbau der regulären Sicherheitskräfte entsprechend internationaler Standards (Qualität statt Quantität).

4. Entschädigung von zivilen Opfern alliierter Militäroperationen

Einheitliche und umfassende Umsetzung der im Juni 2010 beschlossenen ISAF-Entschädigungsrichtlinien und Verbesserung des bestehenden Untersuchungsgremiums zu zivilen Opfern (Civilian casualty tracking cell).

Harmonisierung mit der Entschädigungspraxis der afghanischen Regierung.

5. Entwicklungshilfe

Parallel zur Beendigung der PRTs Ausbau der Kapazitäten von lokalen zivilen Einrichtungen und Organisationen, um selbstbestimmt Entwicklungsprojekte planen und durchführen zu können.

Anmerkungen

1) VENRO: Stellungnahme zur Ausschreibung des BMZ zur NRO-Fazilität Afghanistan im Rahmen des Titels »Förderung privater deutscher Träger«, 30.06.2010; www.venro.org/ fileadmin/redaktion/dokumente/Dokumente_ 2010/Home/Juli_2010/VENRO-Stellung nahmr_AFG-Fazilitaet_final.pdf.

2) Pressemitteilung des BMZ vom 20.10.2010: Umfrage: Was halten die Deutschen vom Ansatz der vernetzten Sicherheit und einer stärkeren Beteiligung deutscher Firmen an Entwicklungsprojekten?; www.bmz.de/de/presse/ aktuelleMeldungen/2010/oktober/20101020_umfrage/index.html.

3) Das »Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006« widmet dem Begriff der »vernetzten Sicherheit« zwar einen eigenen Abschnitt, bleibt aber eine umfassende Definition schuldig. Ergänzende Erläuterungen dazu finden sich im Anhang der Ausschreibung des BMZ für die neue Fazilität, siehe bengo-Sonderausgabe Rundbrief – Mai 2010: NRO-Fazilität Afghanistan; www.bengo.de/fileadmin/user_upload/redaktion/Downloads/Rundbrief-Archiv/Vernetzte_Sicherheit-DefBMZ.pdf.

4) bengo-Sonderausgabe Rundbrief – Mai 2010. op.cit.

5) Ibid.

6) Generalmajor Bühler: Das Konzept der vernetzten Sicherheit aus der Perspektive des BMVg. Vortrag bei der Tagung »Gesicherte Entwicklung? Zunehmende Verschränkung von Sicherheits- und Entwicklungspolitik «, Bad Boll, 3.-4. November 2008; www.ev-akademie-boll.de/fileadmin/res/otg/670108-buehler.pdf.

7) VENRO: Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan. Eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen Hilfsorganisationen. VENRO-Positionspapier 1/2009; www.venro.org/fileadmin/Publikationen/Afghanistan-Positionspapier_ PRT.pdf.

8) Deutsche Welthungerhilfe: Zusammenarbeit mit militärischen Kräften (englischsprachige Version). Standpunkt Nr. 1/2008; www.welthungerhilfe.de/fileadmin/media/pdf/Englische_Seite/Policy_paper_CIMIC_ neu2.pdf.

9) Evangelische Akademie Bad Boll: Gesicherte Entwicklung? Die zunehmende Verschränkung von Sicherheits- und Entwicklungspolitik als Herausforderung für die Praxis. Tagung am 3.-4. November 2008; Online-Dokumentation auf www.ev-akademie-boll.de/.

10) AFP-Meldung vom 2.1.2011; www.google. com/hostednews/afp/article/ALeqM5iJTNK gqA1cpHyk8KjYMaUWqQMSWw?docId=CNG.fcc9574b9436174206d9a85a1ded8062.531.

11) UNAMA Human Rights, Mid-Year Report 2010: Protection of Civilians in Armed Conflict. August 2010; http://unama.unmissions.org/Default.aspx?tabid=4529.

12) Los Angeles Times vom 1.11.2010: Afghan civilian deaths caused by allied forces rise; http://articles.latimes.com/2010/nov/01/world/la-fg-afghan-civilians-20101102. Der Bericht bezieht sich auf einen internen ISAF-Bericht über den Zeitraum 2008-2009.

13) UNAMA Human Rights, Mid-Year Report 2010. op.cit.

14) The Afghanistan NGO Safety Office (ANSO): ANSO Quarterly Data Report, Q3. October 2010; www.afgnso.org/index_files/Page595.htm.

15) Action Aid, Afghanaid, CARE, Oxfam und andere: Quick Impact, Quick Collapse – The Dangers of Militarized Aid in Afghanistan; www.oxfam.de/publikationen/quick-impact-quick-collapse.

16) Andrew Wilder und Stuart Gordon: Money can’t buy America Love. Foreign Policy, December 1 2009; www.foreignpolicy.com/ articles/2009/12/01/money_cant_buy_ america_love.

17) Federal Ministry for Economic Cooperation and Development (BMZ): Assessing the Impact of Development Cooperation in North East Afghanistan 2005 – 2009. Final Report. Die Studie wurde von Christoph Zürcher, Jan Böhnke und Jan Koehler vom Sonderforschungsbereich 700 der Freien Universität Berlin durchgeführt; www.bmz.de/en/ publications/type_of_publication/evaluation/evaluation_reports_since_2006/BMZ_Eval049e_web.pdf.

18) Guidelines for the Interaction and Coordination of Humanitarian Actors and Military Actors in Afghanistan (2008); PDF-Datei unter http://ochaonline.un.org/OchaLinkClick.aspx? link=ocha&docId=1112406.

Robert Lindner ist Mitarbeiter der Entwicklungsorganisation Oxfam Deutschland und arbeitet dort als Politikberater für Humanitäre Hilfe und Rüstungskontrolle. Dieser Beitrag wurde für das Akteurs-Symposium »Zivile und militärische Akteure in Afghanistan – getrennt im Einsatz für ein gemeinsames Ziel?« im CIMIC-Zentrum in Nienburg im November 2010 geschrieben.

Mit den Taliban verhandeln

Mit den Taliban verhandeln

Frieden durch Einbeziehung aller Konfliktparteien

von Otmar Steinbicker

Der Krieg in Afghanistan ist militärisch nicht zu gewinnen. Diese Einsicht setzt sich auch mehr und mehr in den NATO-Staaten durch. Die vielfach propagierte Lösung, nämlich der Abzug der NATO-Truppen nach Übergabe des militärischen Auftrags an afghanisches Militär und Polizei, kaschiert nur das eigene Scheitern und wird dem Land keinen Frieden bringen. Frieden gibt es nur, wenn alle Konfliktparteien die Möglichkeit haben, ihre Interessen in Verhandlungen einzubringen und an zu erarbeitenden Kompromissen mitzuarbeiten. Die Afghanen haben eine jahrhundertealte Erfahrung darin, Streitigkeiten – ob zwischen Stämmen und Nationalitäten oder zwischen Familien und Individuen – durch Verhandlungen und Kompromisse zu beenden. Das ist Teil ihrer Kultur. Hieran anknüpfend untersucht der Autor die Möglichkeiten für eine zivile Lösung des gegenwärtigen Konflikts.

Der »Fortschrittsbericht Afghanistan« der Bundesregierung vom Dezember 2010 enthält neben vielen Aussagen, die von der Friedensbewegung zu Recht kritisiert werden, doch eine bemerkenswerte Erkenntnis: „Auch wenn die von den Vereinten Nationen mandatierte internationale Militärpräsenz einen entscheidenden Beitrag in Afghanistan leistet, kann der dortige Konflikt nicht allein militärisch gelöst werden. Der Weg zu einem stabilen und sicheren Staat erfordert letztlich eine »politische Lösung«, einen Prozess der Verständigung und des politischen Ausgleichs mit der Insurgenz.“1 Wenn aber ein politischer Ausgleich mit der Insurgenz gesucht wird, dann wird man ernsthafte Gespräche und irgendwann auch offizielle Verhandlungen mit den Aufständischen führen müssen. Ein politischer Ausgleich heißt zugleich, dass auch die Interessen der Aufständischen berücksichtigt werden müssen.

Für Gespräche und Verhandlungen braucht man Partner auf der anderen Seite. Man kann nicht zugleich versuchen, sie zu töten und mit ihnen zu sprechen. Wenn also der Prozess der Verständigung und des politischen Ausgleichs mit der Insurgenz ernst genommen werden soll, dann bedeutet das eine strikte Unterordnung des Militärs unter das Primat der Politik. Dann müssen die Erfordernisse eines Verständigungsprozesses sowohl für die Bundesregierung als auch für die NATO Vorrang haben gegenüber militärischen Optionen.

Berücksichtigt werden muss ferner, dass als Basis jeglicher Friedenslösung für Afghanistan eine Verständigung der unterschiedlichen afghanischen Akteure erfolgen muss. Darauf kann und muss dann eine Verständigung der Nachbarländer und der internationalen Akteure zur Sicherung dieser Friedenslösung aufsetzen.

Historische Konflikte und traditionelle Lösungen

Für die innerafghanische Konfliktlösung sind wiederum die für uns eher fremde afghanische Kultur und die historischen Erfahrungen des afghanischen Volkes mit Kriegen, Konflikten und Konfliktlösungen zu berücksichtigen.

Gegensätze und Konflikte – auch blutige Konflikte – durchziehen die afghanische Gesellschaft nicht erst seit den letzten 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg. Die Afghanen haben im Laufe der Jahrhunderte eigene, für sie funktionierende Formen ziviler Konfliktlösung gefunden, die aus unserer Sicht vielleicht archaisch anmuten, aber immer lösungsorientiert und oftmals zumindest temporär erfolgreich waren – wie ja auch die deutschen und europäischen Friedensschlüsse zumindest bis 1945 allenfalls temporär erfolgreich waren.

Die traditionellen Gegensätze und Konflikte innerhalb der afghanischen Gesellschaft sind allgemein bekannt. Daher will ich sie hier nur stichwortartig nennen:

Gegensatz zwischen städtischer »Moderne« und ländlichem »Mittelalter«,

Konflikte zwischen verschiedenen Nationalitäten und

Konflikte zwischen verschiedenen Stämmen innerhalb der Nationalitäten mit häufig wechselnden Koalitionen, auch zwischen Familien innerhalb der Stämme.

Aber neben den traditionellen Konflikten gibt es auch ebenso traditionelle Formen ziviler Konfliktlösungen. Das waren und sind vor allem Versammlungen (Jirgen) von den Dorfältesten bis zu den Stammesführern der großen afghanischen Stämme. Die Afghanen haben in Jahrhunderten blutiger Auseinandersetzungen gelernt, Konflikte durch Verhandlungen und Kompromisslösungen zu beenden. Verhandlungen und Kompromisslösungen kamen und kommen nicht nur bei Streitigkeiten zwischen Stämmen und Nationalitäten zur Anwendung, sondern auch beim Streit zwischen Familien und Individuen – auch in Ermangelung eines allgemein akzeptierten Justizsystems, das auf römischem Recht basiert. Konflikte durch Verhandlungen und Kompromisse zu lösen gehört also zum unmittelbaren Kern der afghanischen Kultur. Jeder Afghane kennt das und weiß damit umzugehen, gleich ob er zur Nordallianz oder zu den Taliban, zu dieser oder jener Nationalität, zu diesem oder jenem Stamm gehört.

Für Historiker ist dabei sicherlich erstaunlich: Bei allen schweren Konflikten, die die afghanische Zivilgesellschaft seit Jahrhunderten durchziehen, ist es ausländischen Mächten niemals gelungen, dauerhaft eine Herrschaft über Afghanistan zu sichern. Nicht einmal das britische Kolonialreich, das wie kein anderes eine wahre Meisterschaft entwickelt hatte, in seinen Kolonien unterschiedliche Volksgruppen gegeneinander aufzubringen, um so besser die Herrschaft sichern zu können, hatte in Afghanistan Erfolg. Gegen solche Spaltungsversuche stand eine starke Verankerung des Islam und ein afghanisches Nationalgefühl. Die Verbindung von beidem hielt trotz der starken und vielfältigen Konflikte die Gesellschaft zusammen.

Die Nationale Friedens-Jirga

An diese afghanische Tradition der Konfliktlösung knüpfte sehr bewusst die am 8./9. Mai 2008 von mehr als 3.000 vorwiegend paschtunischen Stammesführern, religiösen Würdenträgern, Abgeordneten und Intellektuellen gegründete Nationale Friedens-Jirga Afghanistans an. Sie darf trotz Namensgleichheit nicht verwechselt werden mit der von Präsident Karsai einberufenen »Friedens-Jirga«.

Diese Stammesführer, die die kriegsmüde Bevölkerung vor allem des Südens und Ostens repräsentieren, formulierten als Ziel eine Verhandlungslösung für Afghanistan, die alle Teile der afghanischen Gesellschaft inklusive der Taliban einbezieht, sowie den Abzug der ausländischen Truppen. An der Gründung dieser Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans nahmen als Gäste auch ausländische Diplomaten, darunter Vertreter der Deutschen Botschaft, teil. Im Juli 2009 versicherte der damalige UN-Repräsentant in Afghanistan, Kai Eide, der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans seine Unterstützung.

Zum 1.9.2008 verabschiedeten die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans und die deutsche Kooperation für den Frieden, ein Zusammenschluss von mehr als 50 der größten deutschen Friedensorganisationen und -initiativen, eine gemeinsame Erklärung. Darin wurden auch Forderungen und Vorschläge an die Bundesregierung formuliert:2

„1. keine weiteren Kampfhandlungen auf dem Territorium Afghanistans durchzuführen… Die Zahl der in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten darf nicht erhöht werden, sondern es muss eine konkrete Planung mit festen Daten für einen raschen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan vorgelegt werden.

2. durch eigene Schritte, eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern, in Gesprächen mit den unterschiedlichen Gruppierungen der afghanischen Opposition einschließlich der Taliban und mit der afghanischen Regierung eine neue Tür für Verhandlungen öffnen und einen Verhandlungsprozess nach Kräften zu fördern. …

3. zivile Hilfe je nach Bedarf bis zu dem Betrag aufzustocken, der durch den Abzug der Truppen frei wird. …

4. durch eigene diplomatische Schritte, eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern die Perspektive einer internationalen Konferenz Afghanistans und seiner Nachbarstaaten (Pakistan, Iran, Usbekistan, Tadschikistan u.a.) zu eröffnen, um die Souveränität Afghanistans wiederherzustellen und einen Weg zu Frieden und Sicherheit in der Region zu ebnen. Vor allem Staaten wie Indien, China, Russland, USA, die europäischen Länder sowie die Islamische Konferenz und blockfreie Länder müssen als Beobachter und Garantiemächte an einer solchen Konferenz teilnehmen, um künftige Interventionen auszuschließen.“

Im Anschluss an diese Erklärung gab es Bemühungen der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans, die Taliban im Raum Kundus für einen Waffenstillstand zu gewinnen, um die Bundesregierung für eine Moderation von Verhandlungen zwischen den afghanischen Konfliktparteien zu gewinnen. Ab März 2009 gab es Zusagen der Taliban zu einem solchen Waffenstillstand im Raum Kundus. Leider zeigte das Auswärtige Amt damals daran kein Interesse.

Initiativen für einen Waffenstillstand

Einen eigenen Vorstoß unternahm der regionale Talibankommandeur in Kundus, Qari Bashir, im Mai 2009. Er rief kurzerhand einen deutschen Journalisten an und bat ihn, einen Kontakt zur Bundeswehr in Kundus zu vermitteln, um über den von der Friedens-Jirga gewünschten Waffenstillstand zu sprechen. Oberst Georg Klein, damals verantwortlicher Kommandeur in Kundus, hielt das Gesprächsangebot allerdings für nicht glaubwürdig.

Am 31.7.2009 veröffentlichten die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans und die Kooperation für den Frieden eine weitere gemeinsame Erklärung mit einem Vorschlag für einen regionalen Waffenstillstand für Kundus und verwiesen dabei auf ihre Erfahrungen im Bemühen um eine Waffenstillstandsvereinbarung.

Unmittelbar nach dem Bombardement der Tanklaster bei Kundus am 4.9.2009 stieß dieser Waffenstillstandsvorschlag auch in hohen NATO-Kreisen auf Zustimmung. Vor diesem Hintergrund gelang es, den Talibankommandeur Qari Bashir für einen einseitigen Waffenstillstand im Raum Kundus zu gewinnen, der bis Anfang November hielt. Die Talibanorganisation Quetta Shura um Mullah Omar wurde ebenfalls kontaktiert und zeigte sich bereit, einen solchen Waffenstillstand gegebenenfalls auf ganz Afghanistan auszudehnen. Leider konnten sich die Befürworter des Waffenstillstands innerhalb der NATO damals nicht durchsetzen.

Aus den von Wikileaks veröffentlichten NATO-Dokumenten geht hervor, dass die Bundeswehr in Kundus Qari Bashir auf die NATO-Fahndungsliste (»zur Ergreifung«) setzen ließ. Bashir wurde Anfang November 2009 bei einer Aktion von Spezialkräften der US-Armee und der afghanischen Armee getötet.

Trotz des Scheiterns dieser Initiative konnten informelle Kontakte zu beiden Seiten der Konfliktparteien aufrechterhalten werden. Das bot die Chance, weiterhin zu sondieren.

Dabei zeigte sich, dass auch nach der Verhaftung des verhandlungsbereiten Mullah Barader, einem der führenden Köpfe der Quetta Shura, durch den pakistanischen Geheimdienst und die Neubildung der 18-köpfigen Führungsgruppe der Quetta Shura die Diskussion über die Möglichkeit von Verhandlungslösungen dort weiter ging und positiv weiter geht.

Positionsänderungen bei den Taliban?

Zum einen hat es bei der Quetta Shura deutliche Entwicklungen gegeben, nicht nur weg von Al Kaida und dem pakistanischen militärischen Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence), sondern auch weg von der Rechtfertigung der schrecklichen Herrschaftspraxis zwischen 1996 und 2001. Zum anderen zeigen sich Spielräume für weitere Entwicklungen, auch wenn einige Entwicklungen sicherlich Zeit brauchen. Vorsichtige Bewegung zeigt sich sogar in der für Taliban besonders ideologiebefrachteten Frage der Frauenrechte. So hat Mullah Omar in seiner jüngsten Botschaft zum Ramadan zum ersten Mal das Wort »Frauenrechte« formuliert, wenn auch eingeschränkt auf »islamische« und ohne weitere Definition, was er darunter versteht.

Entscheidend für Positionsveränderungen bei den Taliban wird sein, inwieweit sie sich als nationale afghanische Kraft verstehen und definieren. Denn die Talibanherrschaft war ein massiver Bruch mit afghanischen Traditionen. In den 1980er Jahren hatten vor allem wahabitische Missionare aus Saudi-Arabien Einfluss auf die Koranschulen in den pakistanischen Flüchtlingslagern und ihre Schüler (Taliban) gewonnen, mit religiös-fundamentalistischen Auffassungen, wie sie in Afghanistan zuvor kaum bekannt waren. Auch die Kämpfer von Al Kaida, die damals nicht zuletzt mit westlicher Hilfe nach Afghanistan kamen, um dort gegen die sowjetische Armee zu kämpfen, hingen diesen wahabitischen Vorstellungen an.

Eine Rückbesinnung auf afghanische Traditionen ermöglicht und verlangt eine Trennung von Al Kaida. Diese Trennung wurde vor einem Jahr von der Quetta Shura öffentlich verkündet und wird von Diplomaten als ernsthaft akzeptiert. Wesentlich schwieriger gestaltet sich die nötige Trennung vom pakistanischen Geheimdienst ISI. Dieser war wesentlich an der Gründung der Talibanbewegung beteiligt und hatte lange Zeit bestimmenden Einfluss. Versuche der Taliban, sich davon zu lösen, werden vom ISI mit Verhaftungen, aber auch mit Attentaten bekämpft. Willfährige Talibanführer werden dagegen vom ISI vor den Nachstellungen der US-Geheimdienste geschützt.

Für eine Friedenslösung wird eine Rückbesinnung der Taliban auf afghanische Traditionen der Neutralität und Blockfreiheit wichtig werden. Afghanistan gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Bewegung der Blockfreien Staaten. Auf der Basis dieser Tradition ist eine Absage an ausländische Mächte, Militärstützpunkte in Afghanistan zu unterhalten, ebenso selbstverständlich wie die Mitarbeit in den Vereinten Nationen unter Anerkennung ihrer Beschlüsse einschließlich der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte. Zu den Selbstverständlichkeiten gehört dann auch, dass Afghanistan nach einem Abzug der ausländischen Truppen keine Basis für terroristische Aktivitäten bilden wird, die sich gegen die afghanische Bevölkerung oder gegen ausländische Staaten richten.

Sicherlich werden die Taliban ihrerseits Wert darauf legen, auch solche afghanische Traditionen wieder lebendig werden zu lassen, die nicht westlichen Wertvorstellungen entsprechen. Nach dem Abzug der ausländischen Truppen werden die Afghanen selbst und ohne Einmischung von außen die Grundlagen der afghanischen Innenpolitik neu bestimmen.

Zu den afghanischen Traditionen gehören aber auch Frauenrechte. So wurde in Afghanistan 1919, also im gleichen Jahr wie in Deutschland, das Frauenwahlrecht eingeführt. Das Recht der Frauen auf Bildung und Berufsausübung hat ebenfalls Tradition.

Gesprächspartner der Taliban aus der afghanischen Friedensbewegung wie aus der europäischen Diplomatie signalisieren, dass die Aufständischen in dieser Richtung konzessionsbereit sind, ja sogar bereits ein Elf-Punkte-Positionspapier an US-General Petraeus übermittelt haben.

Noch sind allerdings die Gesprächsfäden zwischen dem Westen und den Taliban dünn. Zwei direkte Gespräche zwischen Abgesandten der Quetta Shura und ISAF-Offizieren im Juli und August 2010 zeigten ernsthafte Möglichkeiten für eine Friedenslösung auf. Andererseits fehlt auf westlicher Seite noch immer der Wille zur ernsthaften Umsetzung.

Ein Fahrplan für eine Friedenslösung

Wie könnte ein Fahrplan für eine Friedenslösung aussehen?

In einem ersten Schritt könnten auf regionaler Ebene im Zusammenhang mit der Realisierung von Waffenstillständen weitergehende Vereinbarungen getroffen werden, zum Beispiel über eine gemeinsam zu errichtende Provinzverwaltung, über gemeinsame Sicherheitsstrukturen sowie über ein gemeinsames Vorgehen gegen Korruption und Drogenanbau. Konkrete Erfahrungen mit Möglichkeiten und Problemen in diesen Prozessen könnten dann in die Verhandlungen über eine Friedenslösung auf nationaler Ebene einfließen.

In einem zweiten Schritt wird sich dann über kurz oder lang auch für ganz Afghanistan die Frage einer gemeinsamen Übergangsregierung unter Einschluss der Taliban und der Vertreter der Karsai-Regierung (inklusive Nordallianz) stellen. Eine solche Übergangsregierung muss natürlich zeitlich befristet werden. Ein Zeitraum von zwei Jahren wäre vielleicht realistisch. Die Taliban formieren sich in diesem Zeitraum als politische Partei und nehmen an Wahlen teil, und die internationalen Truppen werden im Laufe der Frist der Übergangsregierung abgezogen.

Werden sich die verschiedenen afghanischen Konfliktparteien auf einen solchen oder ähnlichen Weg des Dialoges einlassen? Da bleiben nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg Fragen offen. Andererseits gibt es hinter den Kulissen manche Anzeichen für Kriegsmüdigkeit und Gesprächsbereitschaft bei den verschiedenen Fraktionen in Afghanistan. So trafen sich bereits auf Konferenzen im Ausland Vertreter unterschiedlicher Konfliktparteien, allerdings ohne Teilnahme der Taliban.

Ein größeres Problem als die afghanischen Seiten stellt möglicherweise Pakistan dar. Sein Geheimdienst ISI baute schließlich die Taliban auf und kontrollierte sie über lange Zeit. Eine Talibanführung, die sich auf afghanische Traditionen und Unabhängigkeit besinnt, ist nicht in pakistanischem Interesse. Hier werden wohl nur die Einbeziehung Pakistans in Verhandlungen mit den anderen Nachbarländern Afghanistans sowie internationaler Druck helfen.

Anmerkungen

1) Fortschrittsbericht Afghanistan zur Unterrichtung des Deutschen Bundestags, Dezember 2010, S.162; online auf www.auswaertiges-amt.de.

2) Die vollständige Erklärung steht unter www.koop-frieden.de/dokumente/ KoFrie-Jirga.pdf.

Otmar Steinbicker ist freier Journalist und Herausgeber des Aachener Friedensmagazins (www aixpaix.de).