Tankwagen-Massaker bleibt ungesühnt

Tankwagen-Massaker bleibt ungesühnt

von IALANA

Am 19. April 2010 hat die Generalbundesanwaltschaft die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen die Verantwortlichen des Bundeswehr-Luftangriffs vom 4.September 2009 bei Kunduz/Afghanistan bekanntgegeben. Bei dem Angriff kamen bis zu 142 Personen ums Leben, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche. Die Deutsche Sektion der IALANA (Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen) protestiert gegen die Verfahrenseinstellung und fordert die Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht. Wir dokumentieren ihre Stellungnahme.

1. Zutreffend ist die Generalbundesanwaltschaft davon ausgegangen, dass es sich bei den militärischen Auseinandersetzungen in Afghanistan zwischen den ISAF-Verbänden einerseits sowie den Taliban und den anderen Widerstandsgruppen andererseits um einen »nichtinternationalen bewaffneten Konflikt« im Sinne des so genannten humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts handelt. Die Strafbarkeit der für den Luftangriff und dessen schreckliche Folgen verantwortlichen Soldaten der Bundeswehr hängt deshalb davon ab, ob es sich dabei um eine völkerrechtlich zulässige oder unzulässige Kampfhandlung handelte.

2. Zuzustimmen ist der Entscheidung der Generalbundesanwaltschaft auch darin, dass die Normen des allgemeinen Strafrechts neben denen des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) anwendbar sind. Sofern also der Verbrechenstatbestand des § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB (Kriegsführungsverbrechen), der für den Tatnachweis einen absichtlichen Verstoß gegen bestimmte Vorschriften des Kriegsvölkerrechts (»humanitäres Völkerrecht«) voraussetzt, nicht erfüllt ist, kommt mithin bei einer durch Soldaten erfolgten Tötung von Zivilpersonen auch eine Strafbarkeit etwa wegen bedingt vorsätzlicher Tötung (§ 212 StGB) oder wegen fahrlässiger Tötung (§ 230 StGB) in Betracht, sofern sich der Täter nicht auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann.

3. Die Einschätzung und Wertung der Generalbundesanwaltschaft, die durch den Luftangriff bei Kunduz am 4.9.2009 erfolgte Tötung der am Tatort offenkundig zahlreich anwesenden afghanischen Zivilpersonen stehe nicht „außer Verhältnis zu dem insgesamt (mit dem Luftangriff) erwarteten konkreten und militärischen Vorteil“ und sei deshalb gerechtfertigt, ist nicht nachvollziehbar. Der von Oberst Klein mit dem Luftangriff angestrebte konkrete unmittelbare militärische Vorteil wird von der Generalbundesanwaltschaft nicht dargelegt, geschweige denn begründet. Die beiden gekaperten Lastwagen saßen seit Stunden im Sand der Flussfurt bei Kunduz fest. Eine konkrete oder gar unmittelbare Gefahr etwa für das mehrere Kilometer entfernte Bundeswehrlager konnte von ihnen schon deshalb schwerlich ausgehen. Zudem hätten sie weiterhin beobachtet und unter Kontrolle gehalten werden können. Was nach Auffassung der Generalbundesanwaltschaft den Tod der zahlreichen unbeteiligten Zivilpersonen im vorliegenden Fall ungeachtet dessen dennoch konkret als „verhältnismäßig“ rechtfertigen können soll, bleibt so im Dunkeln.

4. Völlig unklar bleibt auch, warum – wie die Generalbundesanwaltschaft meint – Oberst Klein davon „ausgehen durfte, dass keine Zivilisten vor Ort waren“. Die Nähe des Dorfes und die ausweislich der Videoaufzeichnungen zahlreichen am Tatort befindlichen Personen, die an den Lastwagen Benzinkanister abfüllten und in Richtung Dorf wegtrugen, sprachen gerade dagegen.

5. Wenn nach Auffassung der Generalbundesanwaltschaft Oberst Klein „sich der Verpflichtung bewusst war, zivile Opfer soweit irgend möglich zu vermeiden“, ist nicht erklärlich, warum er dann dem Vorschlag der beiden US-amerikanischen Flugzeugbesatzungen nicht entsprach, zunächst zur Warnung der am Tatort anwesenden Zivilpersonen zweimal mit den Flugzeugen über den Tatort zu fliegen, ehe man sich zum Bombardieren entschloss. Dazu schweigt sich die Generalbundesanwaltschaft in ihrer Pressemitteilung aus.

6. Wenn Oberst Klein sich tatsächlich der Verpflichtung bewusst gewesen wäre, „zivile Opfer soweit irgend möglich zu vermeiden“, wäre von der Generalbundesanwaltschaft zu klären gewesen, warum dann Oberst Klein und/oder weitere Bundeswehrangehörige dem ISAF-Kommando vor der Bombardierung nach vorliegenden Berichten wahrheitswidrig versichert haben, die Voraussetzungen für einen Luftangriff (»Feindberührung« der eigenen Truppe) seien nach den ISAF-Regeln erfüllt? Hätte eine wahrheitsgemäße Beantwortung der IASF-Anfrage nicht gerade den Luftangriff und damit die zahlreichen zivilen Opfer verhindert?

7. Die vorliegende Einstellungsentscheidung macht deutlich, dass die Generalbundesanwaltschaft in ihrem jetzigen institutionellen Zuschnitt für eine unabhängige und unparteiische Untersuchung strafrechtlich relevanter Vorgänge im Bereich der politisch kontrollierten Exekutive strukturell nicht geeignet ist. An ihrer Spitze steht ein politischer Beamter oder eine Beamtin, der/die von der Exekutive (Bundesregierung) weisungsabhängig ist und bei Fehlen von hinreichendem »Vertrauen« von dieser jederzeit von seinen/ihren Aufgaben entbunden und in den einstweiligen Ruhestand geschickt werden kann. Das macht eine unabhängige und unparteiische Ermittlung und damit auch jede Einstellungsentscheidung strukturell defizitär.

8. Umso notwendiger ist es, nach der nicht nachvollziehbaren Entscheidung der Generalbundesanwaltschaft ein Klageerzwingungsverfahren vor einem unabhängigen deutschen Gericht einzuleiten. Dies kann durch die Opfer des Luftangriffs bzw. ihre überlebenden Angehörigen vor dem zuständigen Oberlandesgericht geschehen. IALANA würde es begrüßen, wenn die von den Opfern beauftragten Rechtsanwälte ein solches Rechtsmittel fristgerecht einlegen würden.

9. Unabhängig von der Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens muss von den zuständigen Stellen der Bundeswehr, letztlich vom Bundesverteidigungsminister, jedenfalls ein wehrdisziplinares Ermittlungsverfahren gegen die für den Luftangriff verantwortlichen Bundeswehrsoldaten eingeleitet werden. Sollte sich dabei herausstellen, dass die von der Generalbundesanwaltschaft – leider nur andeutungsweise – erwähnten innerdienstlichen Einsatzregeln der Bundeswehrführung und des ISAF-Verbandes (»rules of engagement«) von Oberst Klein oder anderen Verantwortlichen im Zusammenhang mit dem Luftangriff nicht eingehalten worden sind, besteht der hinreichende Verdacht, dass diese Soldaten gegen ihre zentralen soldatischen Dienstpflichten zum treuen Dienen (§ 7 Soldatengesetz) sowie zur unverzüglichen und gewissenhaften Befolgung der Befehle von Vorgesetzten (§ 10 Abs. 1 Soldatengesetz) verstoßen haben. Die Einleitung eines wehrdienstgerichtlichen Disziplinarverfahrens wäre dann unausweichlich. Man darf gespannt sein, wie sich der Bundesverteidigungsminister und die ihm unterstellten Stellen insoweit gerieren werden.

IALANA, Deutsche Sektion
www.ialana.de

Gold und Lithium hätt ich gern…

Gold und Lithium hätt ich gern…

von Jürgen Nieth

„Gold und Silber hätt ich gern“, heißt es in einem alten deutschen Volkslied. Aber was ist schon Silber gegenüber Lithium. Schon heute ist der Rohstoff für die Produktion von Akkus für Laptops und Handys heiß begehrt. Lithium wird bisher vor allem aus Salzseen in Südamerika gewonnen sowie mit viel Aufwand in China und Australien aus Mineralien erzeugt. Mit der Zunahme von Hybrid- und Elektroautos sowie dem Ausbau erneuerbarer Energien wird die Nachfrage in den nächsten Jahren enorm steigen. Sonne und Wind liefern nicht kontinuierlich Elektrizität, die Spitzen müssen gespeichert werden. Der Konzern Evonik – der zur Zeit Großspeicher testet – spricht von einem „Megamarkt der Zukunft“ (FR, 15.06.10). Er schätzt das Marktvolumen langfristig auf mehr als zehn Milliarden Euro.

Passgenau kommt da die Meldung, dass sich aus einigen Salzseen unter der afghanischen Provinz Ghazni vermutlich Lithium im Wert von über einer Billion Dollar gewinnen lasse. Die Information stammt aus dem Pentagon. Geologen des US-Verteidigungsministeriums haben jahrelang das afghanische Territorium nach Bodenschätzen untersucht. Gefunden haben sie übrigens nicht nur Lithium, sondern auch Gold und Niobium, ein für Supraleiter benötigtes Metall.

Ein Blick zurück: Als die USA vor fast neun Jahren in Afghanistan einmarschierte, war die Begründung der »Kampf gegen den Terror« und die Zerschlagung von Al Kaida – aber Usama Bin Laden lebt und Al Kaida operiert längst aus anderen Ländern: Somalia, Jemen, Pakistan.

Danach wurden die Menschenrechte bemüht, für deren Verwirklichung die Talibanherrschaft zerschlagen werden musste. Tatsächlich gibt es ein paar Fortschritte: Nach einem Bericht der UNO (UNDPD) gibt es beim Zugang der Kinder zur Grundschule einen Anstieg von 54 auf 60 Prozent, bei der Alphabetisierung einen Anstieg um 2,5 auf 36 Prozent und bei der Kindersterblichkeit einen Rückgang von 257 auf 191 bei 1.000 geborenen Kindern. Insgesamt ist die Bilanz aber erschreckend: Die Zahl der in Armut Lebenden ist von 33 auf 42 Prozent und die Zahl der Unterernährten von 30 auf 39 Prozent gestiegen. Die Zahl der in Slums Wohnenden hat sich von 2,4 Millionen auf 4,5 Millionen fast verdoppelt, während sich der Anteil der Menschen mit Zugang zu sanitären Einrichtungen von 12 auf 5,2 Prozent mehr als halbiert hat. Die Jugendarbeitslosigkeit ist von 26 auf 47 Prozent gestiegen.

Heute ist Afghanistan nicht nur der weltgrößte Hersteller von Opium, Heroin und Haschisch, sondern auch Konsument: Über eine Million Afghanen – das sind acht Prozent der Bevölkerung – sind drogenabhängig. Die Zahl der regelmäßigen Opiumkonsumenten stieg in den letzten fünf Jahren um 53 Prozent, die der Heroinabhängigen sogar um 140 Prozent, Zugang zu medizinischer Hilfe hat nur jeder Zehnte. Das für den Kampf gegen Drogen und organisiertes Verbrechen zuständige UN-Büro in Wien (UNODC) kommt zu dem Schluss, dass viele Afghanen Opiumdevirate konsumieren, um die Härten ihres Lebens zu vergessen. Für die UN-Berichterstatter besonders schockierend, dass im Süden Afghanistans die Hälfte der Opiumkonsumenten ihren Kindern regelmäßig vom Saft des Schlafmohns geben: „Die nächste Generation des Landes ist damit schon zur Sucht verurteilt.“

»Stabilisierungseinsatz« hieß die nächste Begründung für den Einsatz des deutschen Militärs, aber nichts ist stabiler geworden. Die Wahlen wurden gefälscht, ein großer Teil der Gelder für den zivilen Aufbau fließt auf private Konten, die Korruption blüht. Statt Hilfe beim zivilen Aufbau – jahrelang die vorgebliche Hauptaufgabe der Bundeswehr – steht jetzt mehr und mehr die Sicherung der eigenen Truppen im Mittelpunkt. Ein militärischer Sieg ist nicht in Sicht. Mit 102 toten Soldaten ist der Monat Juni 2010 der verlustreichste für die Nato seit Beginn des Krieges.

Was hält die USA und die Nato angesichts dieser Bilanz in Afghanistan?

Es gab sie immer, die Stimmen, die den Afghanistankrieg begründet sahen in den geostrategischen Interessen der USA: von Afghanistan aus die erdöl- und erdgasreiche Region des Mittleren Ostens und der Zentralasiatischen Republiken kontrollieren, sich militärisch festsetzen an der Südflanke Russlands und der Nordostgrenze des Iran.

Diese Stimmen dürften Auftrieb bekommen, wenn sie hören, dass ein Pentagon-Memo von einem „Saudi Arabia of Lithium“ spricht, also von einem strategischen Rohstoff allerersten Ranges; wenn am 14. Juni US-General David H. Petraeus schwärmt: „Das gibt atemberaubende Möglichkeiten… Es gibt zwar noch eine Menge an Wenn und Aber, doch ich denke, dass die Funde sehr bedeutend sind.“

Seit dem 4. Juli ist derselbe Petraeus Oberkommandierender der US- und Isaf-Truppen in Afghanistan. Damit dürfte sich auch für diejenigen, für die ökonomische Interessen bisher kein Kriegsgrund waren, die Frage stellen, ob sie jetzt nicht ein Grund sind, um militärisch einen Fuß in der Tür zu halten. Petraeus hat sich nie zu dem von Obama angekündigten Truppenabzug 2011 bekannt.

Ihr Jürgen Nieth

Neuer General – alte Strategie

Neuer General – alte Strategie

von Jürgen Nieth

„Darf ein Trottel die NATO-Streitkräfte in Afghanistan kommandieren?“ Die Frage stellt Arnd Festerling, (FR 23.06.10) seit General Stanley McChrystal im Rolling Stone Magazin über seine Chefs hergezogen hat. Was war passiert?

»Zivilisten«-Beschimpfung

Michael Hastings, Reporter des Magazins Rolling-Stone, hat vier Wochen lang den Kommandeur der US- und Isaf-Truppen in Afghanistan begleitet und die Gespräche aufgezeichnet. Gespräche, in denen „McChrystal und seine Adlaten über ihre zivilen Vorgesetzten kräftig vom Leder ziehen“. (FR, 23.06.10, S.7). Aus dem Magazin ist zu erfahren,“ dass McChrystal nicht besonders viel für Vizepräsident Joe Biden übrig hat. »Biden, wer ist das?«, fragt der General den Reporter. »Sagten Sie ‚Bite me‘ (Leck mich)?« ergänzt McChrystals Mitarbeiter. Der sendungsbewusste Widerwille des Generals und seiner Leute trifft auch den amerikanischen Botschafter in Kabul, Eikenberry, den Afghanistan-Beauftragten Holbrooke, die Franzosen (in etwa »Ich würde mir lieber von einem Rudel Leuten in den Arsch treten lassen, als zu diesem Dinner zu gehen«), Obama (»verschüchtert«) und Sicherheitsberater James Jones (»Clown«).“ (FAZ, 25.06.10, S.41) Hastings über seine Erfahrungen: McChrystals Truppe, die sich »Team America« nennt, „besteht aus einer »handverlesenen Ansammlung von Killern, Spionen, Genies, Patrioten, politischen Akteuren und regelrechten Maniacs (Irre). Sie besaufen sich bis Mitternacht komplett und grölen ein erfundenes Lied über Afghanistan. McChrystal steht am Rand und ist stolz: »Ich würde für diese Männer sterben. Und sie für mich.«“ (Neues Deutschland, 24.06.10, S.3)

Rückendeckung für McChrystal

Trotz dieser »Ausfälle« des Generals erhält dieser zuerst einmal Rückendeckung: „Afghanische Regierungsmitglieder bis hinauf zu Präsident Hamid Karsai sparen nicht mit Lob. »McChrystal«, sagen sie noch kurz vor seiner Abberufung, »ist der erste Befehlshaber, der unser Land verstanden hat«.“ (Berliner Zeitung, 24.06.10, S.8) Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erklärt „man habe »volles Vertrauen« in McChrystal“. (FR, 23.06.10, S.7) Da möchte auch der deutsche Verteidigungsminister nicht abseits stehen. Karl-Theodor zu Guttenberg in der Bild-Zeitung (24.06.10, S.2): „Ich habe mit McChrystal immer gut zusammengearbeitet und ihn sehr geschätzt. Er war ein wichtiger Garant für die Strategie in Afghanistan, die er entwickelt hat.“

Obama handelt schnell

40 Stunden nachdem Obama die Äußerungen des Generals zur Kenntnis nehmen musste, war der General gefeuert. Damit hat die US-Regierung „zum ersten mal seit der Demission von Douglas McArthur 1951 einen Kriegskommandeur abberufen“. (FR, 24.06.10) Für die Neue Zürcher Zeitung (24.06.10, S.3) wäre eine scharfe Rüge „womöglich die bessere Strafe gewesen. Dass Obama schärfer durchgriff, verrät eine gewisse Dünnhäutigkeit und lässt ihn nicht souverän erscheinen.“ Ganz anders sieht das Der Spiegel (28.06.10, S.84). Für ihn hat Obama schnell gehandelt, „weil er verstand, welche Gefahr ein General bedeutet, der mitten im Krieg die Verbündeten beleidigt und sich über die Zivilisten im Afghanistan-Team des Weißen Hauses mokiert.“ Und für Bernd Pickert (taz, 25.06.10) war Obamas größtes Interesse, „die Affäre McChrystal nicht zu einer Grundsatzdebatte über den Afghanistan-Einsatz ausufern zu lassen.“

Grundsatzdebatte notwendig

Genau diese Grundsatzdebatte wird in mehreren deutschen Medien als dringend notwendig bezeichnet. „McChrystal muss und will an den Sieg der NATO in Afghanistan glauben und sieht doch täglich, dass sich die Sicherheitslage – wie im jüngsten UN-Bericht trocken vermerkt – »nicht verbessert«“. urteilt die FAZ (24.06.10, S.2) „Tatsächlich ist die Lage in Afghanistan, ein halbes Jahr nach Beginn der von Obama angeordneten Truppenverstärkung um 30.000 Soldaten, mehr als verfahren. Die Offensive in der Gegend von Marja ist stecken geblieben… Die angekündigte Groß-Offensive in Kandahar… hat noch immer nicht begonnen.“ (SZ, 25.06.10, S.8) Günther Nonnenmacher hält in der FAZ (25.06.10, S.1) fest, „dass es auch mit dem nächsten Bestandteil der Afghanistan-Strategie nicht zum Besten steht: Der Aufbau einheimischer Sicherheitskräfte – Polizei und Militär – hinkt hinter den Planzielen her.“

Kippt die Stimmung?

Für Christian Wernicke (SZ, 24.06.10, S.8) lauert dann auch hinter „dem grellen Streit um den Kopf eines Generals… eine weitaus grundsätzlichere Frage: Wie lange noch ist Amerika bereit, den Krieg am Hindukusch auszufechten? … Seit ihrem Beginn im Oktober 2001 kamen im Rahmen der »Operation Enduring Freedom« 1.132 uniformierte Amerikaner (und 726 Soldaten anderer Nationen ) ums Leben. Umfragen belegen, dass das amerikanische Volk allmählich den Glauben an den Sinn des Einsatzes verliert: Anfang Juni sagten 53 Prozent der Befragten, Afghanistan sei »den Kampf nicht wert«. Noch im Dezember 2009… bekundeten nur 44 Prozent solche Zweifel. Damals antworteten noch 52 Prozent auf dieselbe Frage von ABC und Washington Post, der Krieg »lohnt den Kampf«.“

Neuer General und alte Strategie

Nachfolger McChrystals ist dessen Vorgesetzter: David Petraeus, Vier-Sterne-General und bisheriger Reginonalkommandeur mit Zuständigkeit für die US-Truppen im Nahen und Mittleren Osten sowie Zentralasien. Petraeus soll Kontinuität dokumentieren. Er ist „Mitautor jenes Handbuchs, das die neuen Regeln des Kämpfens festlegt. 241 Seiten lang ist das Werk und reichert vertraute Grundsätze der Guerilla-Bekämpfung mit vielen zivilen Hinweisen zur Einbindung »sozialer Netzwerke« vor Ort an. Petraeus muss nun seine eigenen Ideen umsetzen.“ Dass das schnell gelingt, daran hat er wohl selbst große Zweifel, denn vorsichtshalber zieht er schon mal den von Obama angekündigten Beginn des Abzugs 2011 in Zweifel: „Wir (sollten) mit Zeitvorgaben vorsichtig sein“, erklärte er dazu Mitte Juni vor dem US-Streitkräfteausschuss. (Spiegel, 28.06.10, S.87)

„Es gibt keinen militärischen Ausweg in Afghanistan. Die Aufständischen und die Taliban-Gruppen, die diesseits und jenseits der Grenze zu Pakistan kämpfen, müssen in einen politischen Prozess einbezogen werden.“ Von dieser Einschätzung Günther Nonnenmachers (FAZ, 25.06.10, S.1) scheinen Politik und Militär in den USA noch weit entfernt.

Tod als ständiger Begleiter

Tod als ständiger Begleiter

von Jürgen Nieth

Sieben getötete Bundeswehrsoldaten in Afghanistan in nicht einmal zwei Wochen. Damit sind bis zum 17. April d. J. 43 deutsche Soldaten in Afghanistan gestorben. Laut CNN starben im selben Zeitraum 1.719 SoldatInnen der multinationalen Truppen, darunter 1.036 Amerikaner, 281 Briten und 142 Kanadier. Alleine die Zahl der 2009 bei Kämpfen und Anschlägen umgekommen afghanischen Zivilisten übertrifft diese Zahl mit 2.412 deutlich (taz 22.04.10, S.1). Doch wie schreibt Jakob Augstein in der Wochenzeitung »Der Freitag« (22.04.10, S.1): „Die Wirklichkeit des Krieges bringt die Teilung in Gut und Böse mit sich, die Überhöhung der eigenen Opfer und die Erniedrigung des Gegners.“

Kriegsrhetorik

Augstein zitiert den BW-Generalinspekteur, der von „Heimtücke und Hinterlist“ der Aufständischen spricht, einen BW-General, der die Angreifer „ruchlose und feige Männer“ nennt und fragt: „Wie »tapfer« mögen wohl die westlichen Truppen den Afghanen vorkommen, wenn sie mit unbemannten Kampf-Drohnen und überschallschnellen Präzionsbomben angreifen?“

Diese Frage stellen sich die Regierenden nicht, ihre erste Schlussfolgerung nach dem Tod der deutschen Soldaten: „Es rasseln die Panzerketten“ (Die Zeit, 15.04.10, S.14)

Mehr Waffen ins Kriegsgebiet

„Da kämpfen (so »Die Zeit«) knapp zehntausend Aufständische, verteilt über ein Land , das so groß ist wie Frankreich, gegen 130.000 Soldaten der größten Militärmacht der Welt. Die Aufständischen schießen aus Kalaschnikows, die älter sind als sie selbst, und legen improvisierte Sprengkörper in den Sand“, die Bundesregierung aber will nach den jüngsten Angriffen weitere 150 gepanzerte Fahrzeuge des Typs Eagle IV für Afghanistan bestellen, Stückpreis inklusive Ausstattung 1 Mill. Euro. Hinzu kommen zwei schwere Panzerhaubitzen 2000, Panzerabwehrraketen vom Typ Tow und zehn gepanzerte »Marder« (SZ 16.04.10, S.5)

Krieg wird jetzt Krieg genannt

Die zweite Schlussfolgerung der Bundesregierung: Krieg darf jetzt umgangssprachlich auch Krieg genannt werden. „Was wir am Karfreitag erleben mussten, bezeichnen die meisten als Krieg. Ich auch.“ So Verteidigungsminister Guttenberg bei der Trauerfeier im niedersächsischen Selsingen am 09. April (FR 10.04.10, S.4) Der Stern (22.04.10, S.51) geht auf die Korrektur ein: „Die offizielle Bezeichnung für den Krieg in Afghanistan lautet »nichtinternationaler bewaffneter Konflikt«, zuvor war der Krieg ein »Stabilisierungseinsatz«, davor – unter Rot-Grün – firmierte der Krieg sogar unter »Friedensmission«. In Wahrheit war es immer Krieg.“

Die sprachliche Nachrüstung ist sicher zum Teil dem öffentlichen Druck nach mehr Ehrlichkeit geschuldet, aber nicht nur. „Es geht um mehr als semantische Frontbegradigung“, schreibt die Zeit (22.04.10, S.3) Dass „das Partnering … mehr Gefechtssituationen mit sich bringen wird wie jene, in denen die sieben Soldaten … gestorben sind, ist zu erwarten.“

Heldentod

„Warum gibt die Kanzlerin den toten Soldaten nicht das letzte Geleit?“ fragte die Bild-Zeitung am 08.04.10. Und schob nach: „In anderen Ländern der NATO ist es durchaus üblich, dass auch die Regierungschefs sich vor den Särgen der toten Afghanistan-Soldaten verneigen.“ Die Kanzlerin war folgsam: „Ich verneige mich vor Ihnen. Deutschland verneigt sich vor Ihnen“, sprach sie anlässlich der Trauerfeier am 09.04., auf der ursprünglich Verteidigungsminister Guttenberg die Regierung alleine vertreten sollte. Dazu U. Ladurner in der Zeit (15.04.10, S.14): „Wenn schon Pathos, dann sollte Angela Merkel oder einer ihrer Minister sich auch vor dem Grab eines zivilen Aufbauhelfers verneigen. Auch sie haben über die Jahre Opfer zu beklagen – viele waren im staatlichen Auftrag da… Nur befriedigt es das Bedürfnis nach Pathos eben nicht, wenn Deutschland sich vor dem Sarg eines Ingenieurs verneigte, der in Afghanistan Brunnen baute.“

Doch was ist schon das Pathos Merkels gegenüber dem Guttenbergs? „In unserem Namen“ seien die Fallschirmjäger „am Karfreitag gefallen, ja am Karfreitag, zynisch von jenen gewählt, denen ein Menschenleben nichts, rein gar nichts zählt“, und „gottlob“ trauere Deutschland „nicht im Verborgenen, sondern in aller Öffentlichkeit“, so der Minister bei der Trauerfeier am 09.04. „Eine seiner Töchter, so… Guttenberg weiter, habe ihn an Ostern gefragt, ob die drei Soldaten »tapfere Helden unseres Landes waren und ob sie stolz auf sie sein dürfe«. Er habe diese Frage »nicht politisch, sondern einfach mit Ja beantwortet«.“ (taz 10.04.10, S.2)

Nach dem »Krieg« haben wir Dank Guttenberg also jetzt auch den »Heldentod« wieder. Da gilt es, auch die Trauerfeiern zu inszenieren.

Trauerinszenierung

„Eine Trauerfeier für gefallene Soldaten ist ein öffentliches Ereignis. Die Bevölkerung soll, das ist erklärtes Ziel des Verteidigungsministeriums, Anteil nehmen am Schicksal »ihrer« Gefallenen. Das Trauern um die Opfer eines Militäreinsatzes soll in der Gesellschaft verankert werden“, schreibt die FAZ (09.04.10, S.2) ohne die Frage nach dem Warum zu stellen. Dieser Frage geht C. Semler in der taz (26.04.10, S.12) nach: „Diese Trauer wird politisch instrumentalisiert, sie wird missbraucht, um dem Tod auf dem Schlachtfeld einen höheren Sinn zu geben. So wenig es sich beim Soldatengelöbnis um ein hilfreiches, dabei harmloses Initiationsritual handelt, so wenig ist auch das feierliche Soldatenbegräbnis nur ein tröstendes Ritual des Übergangs. Beides sind militaristische Exerzitien. Und mit der rituellen Sinngebung wird die Frage weggedrängt, welchen politischen Sinn eigentlich die Präsens deutscher Truppen in Afghanistan hat.“

Tod als ständiger Begleiter

1999 nahm die Bundeswehr zum ersten mal an einem völkerrechtswidrigen Krieg (im Kosovo) teil, seit 2002 steht sie in Afghanistan (aktuell mit 4.450 SoldatInnen), mit weiteren 2.400 ist sie an einem Dutzend Einsätzen auf drei Kontinenten beteiligt. Auf der Trauerfeier für die vier zuletzt getöteten Soldaten stellte Verteidigungsminister Guttenberg die Truppe auf weitere Verluste ein: „Tod und Verwundung sind Begleiter unserer Einsätze geworden, und sie werden es auch in den nächsten Jahren sein, wohl nicht nur in Afghanistan.“ (taz 26.04.10, S.6)

Afghanistan: Militarisierung der Hilfe

Afghanistan: Militarisierung der Hilfe

von Jürgen Lieser

Als der neue Entwicklungsminister Niebel, kaum im Amt, verlauten ließ, dass Hilfsorganisationen sich andere Geldgeber suchen müssten, wenn sie nicht mit der Bundeswehr in Afghanistan zusammenarbeiten wollten, ging ein Schrei der Entrüstung durch parlamentarische Opposition, NRO-Szene und entwicklungspolitisch interessierte Öffentlichkeit. Dabei hatte Niebel nur etwas auf den Punkt gebracht – zugegebenermaßen diplomatisch nicht sehr geschickt verpackt –, was schon unter der vorherigen Regierung längst gängiges Credo war: nämlich das Konzept der »Vernetzten Sicherheit« oder, wie es im NATO-Jargon heißt, des »Comprehensive Approach«.

Anlass und Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Konzeptes der »Vernetzten Sicherheit« als neues Leitbild staatlicher internationaler Sicherheitspolitik waren die Terroranschläge vom September 2001. Damals erklärte die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall, der bis heute andauert, und es folgte kurz darauf die ebenfalls bis heute andauernde Militärintervention in Afghanistan. Deutschland begründet sein militärisches Afghanistan-Engagement mit der Bündnistreue innerhalb der NATO und mit dem Struck`schen Axiom von der Sicherheit Deutschlands, die auch am Hindukusch verteidigt wird. Immerhin wird jetzt auch im politischen Sprachgebrauch von Krieg oder zumindest von »kriegsähnlichen Zuständen« gesprochen. Das ist zwar nicht ausschlaggebend für die Debatte, bringt aber ein Stück mehr Ehrlichkeit in die Diskussion. Dies ist vor allem gegenüber den Soldaten wichtig, die in Afghanistan täglich ihr Leben riskieren. Sie, die Soldaten, haben schon längst begriffen, dass sie keine »Entwicklungshelfer in Uniform« sind, die Brunnen bohren und Schulen bauen dürfen. Das Engagement ziviler Hilfsorganisationen, die ebenfalls unter hohem Risiko in Afghanistan arbeiten, tritt in der politischen Debatte um die Afghanistan-Strategie meist in den Hintergrund gegenüber dem Bundeswehreinsatz. In dieser Wahrnehmung spiegelt sich auch das Missverhältnis zwischen dem militärischen und dem zivilen Aufwand wider, den Deutschland in Afghanistan betreibt.

»Vernetzte Sicherheit«, so wie sie z.B. im Weißbuch der Bundeswehr von 2006 definiert ist, meint das koordinierte Zusammenwirken politischer, militärischer und ziviler Kräfte, um sicherheitspolitische Ziele durchzusetzen. Allerdings räumt das Weißbuch ein, dass Sicherheit nicht „allein durch Streitkräfte gewährleistet werden“ kann (Kapitel 1.4). Auch Verteidigungsminister von Guttenberg weiß, dass die political correctness im Falle von Afghanistan verlangt darauf hinzuweisen, dass der Konflikt allein mit militärischen Mitteln nicht zu lösen ist, und dass der zivile Wiederaufbau Vorrang haben muss. Warum aber dann weiter mit der Dominanz des Militärischen und der Strategie, durch weitere Truppenaufstockungen in Afghanistan zum Erfolg zu kommen? Warum die zunehmende Unterordnung des zivilen Engagements unter das militärische? Das genau nämlich meint Niebel mit seinem Erpressungsversuch der Hilfsorganisationen. Das ist auch das Ziel der so genannten Provincial Reconstruction Teams, der angeblich so zivilen Wiederaufbauteams, die zu 95 Prozent aus Soldaten und nur zu fünf Prozent aus zivilen Mitarbeitern bestehen.

Das Konzept der »Vernetzten Sicherheit« und die dafür eingeforderte zivil-militärische Zusammenarbeit führt notwendigerweise zu einer Instrumentalisierung ziviler Hilfe für militärische Ziele bzw. zu einer Militarisierung der Hilfe. Es kommt zu einer unseligen Verwischung der Grenzen zwischen den Aufgaben von Streitkräften, die politischer Natur sind, und dem humanitären Mandat ziviler Hilfsorganisationen. Für die NRO ist politische Unabhängigkeit aber eine unverzichtbare Voraussetzung, um in gewaltsamen Konflikten Hilfe nach den humanitären Prinzipien leisten zu können. In Afghanistan führt diese Verwischung der Grenzen zwischen militärischem und zivilem Engagement, wie es im PRT-Konzept zum Ausdruck kommt, auch dazu, dass Hilfsorganisationen als verlängerter Arm der ISAF-Truppen angesehen und damit zur Zielscheibe gewaltsamer Übergriffe werden. Nicht nur für die Unabhängigkeit, sondern auch für den Selbstschutz der Hilfsorganisationen ist es daher angeraten, auf eine konsequente und sichtbare Arbeitsteilung zu achten und eine Zusammenarbeit mit den ISAF-Truppen zu meiden.

Jürgen Lieser ist stellvertretender Vorsitzender von VENRO (Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V.). Vorher war er viele Jahre Leiter der Katastrophenhilfe bei Caritas-Intenational.

Kirche und Staat

Kirche und Staat

von Jürgen Nieth

„Bischöfin Käßmann löst Empörung aus“ (Welt am Sonntag, 03.01.10., S.1), „Streit über den Sinn des Afghanistan-Einsatzes – Scharfe Kritik an Käßmann“ (FAZ 05.01.10., S.1) „Käßmann will das Militär schon lange überflüssig machen“ (FAZ 05.01.10., S.5) „Soldaten fürchten um kirchlichen Rückhalt“ (taz, 05.01.10, S.7), „Klare Worte von der Kanzel“ (Süddeutsche Zeitung 07.01.10, S.2) „Populistische Fundamentalkritik“ (Spiegel, 11.01.10, S.17). So einige Schlagzeilen nach dem Neujahrsgottesdienst der EKD-Ratsvorsitzenden, Bischöfin Margot Käßmann, in der Dresdner Frauenkirche.

Kritik und Unterstellungen

Für den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Ruprecht Polenz (CDU), macht es sich Frau Käßmann „zu einfach“, wenn sie die Botschaft vermittele, man könne kurzfristig aus Afghanistan abziehen, „ohne sich schuldig zu machen“ (FAZ 04.01., S.1). Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), wirft der Bischöfin vor, sie übe „populistische Fundamentalkritik“ und vermittle Tausenden von Soldaten das Gefühl, in Afghanistan gegen Gottes Gebot zu verstoßen. Es sei naiv in Afghanistan mit „Gebeten und Kerzen“ Frieden schaffen zu wollen wie vor 20 Jahren in der DDR, „aber niemand hindert Frau Käßmann daran, sich am Hindukusch mit den Taliban in ein Zelt zu setzen und über ihre Phantasien zu diskutieren, gemeinsame Rituale mit Gebeten und Kerzen zu entwickeln.“ (Spiegel 11.01., S.17)

Ähnlich zynische Töne schlägt der Vorsitzende der grünen Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks, in der Welt am Sonntag (03.01., S.8) an: „»So rasch wie möglich« sollen die deutschen Truppen abziehen (wer sollte da widersprechen?), aber »nicht völlig überhastet«, nein, vielmehr sollte über einen »ruhigen und geordneten Rückzug nachgedacht werden«. Irgendjemand soll freilich den »Waffen- und Drogenhandel« unterbinden, alldieweil »religiös motivierte Vermittler« zwischen den Fronten pendeln und eine friedliche Lösung stiften. So malt sich die Ratsvorsitzende der EKD den Weg zum Frieden aus… Sie (Frau Käßmann) vermehren damit die Inflation politischer Stellungnahmen von Kirchenoberen, die selten über gut gemeinte Banalitäten hinauskommen.“

Mit den in Anführungszeichen gesetzten Passagen (»…«) vermittelt Fücks den Eindruck die Bischöfin zu zitieren. Ein Blick in die Predigt zeigt, dass dem nicht so ist.

Die Neujahrspredigt

In ihrer Neujahrspredigt hat die Bischöfin der banalen Floskel »Alles ist gut« ein »Es ist nichts gut« in Sachen Klima, Kinderarmut, Armutsscham und Leistungsdruck entgegengesetzt. Und eben auch ein: „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Weiter heißt es dann: „All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun mal Waffen benutzen und auch Zivilisten getötet werden. Das wissen die Menschen in Dresden besonders gut! Wir brauchen Menschen, die nicht erschrecken vor der Logik des Krieges, sondern ein klares Friedenszeugnis in der Welt, gegen Gewalt und Krieg aufbegehren und sagen: Die Hoffnung auf Gottes Zukunft gibt mir schon hier und jetzt den Mut von Alternativen zu reden und mich dafür einzusetzen. Manche finden das naiv. Ein Bundeswehroffizier schrieb mir, etwas zynisch, ich meine wohl, ich könnte mit weiblichem Charme Taliban vom Frieden überzeugen. Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen.“

Nicht gelesen aber verstanden?

Frau Käßmann hat also Recht, wenn sie einigen Kritikern „perfide Unterstellungen“ vorwirft. „Ich denke, viele haben meine Predigt gar nicht gelesen“, sagte sie gegenüber dpa (03.01.). Vielleicht ist es aber auch so, dass die Kritiker die Predigt verstanden haben – auch ohne genau nachzulesen – und sich getroffen fühlen. „Die Aufregung hat etwas mit dem schlechten Gewissen der so pragmatisch-schlauen Truppenentsender zu tun, die offenbar mit ihrem kriegerischen Latein am Ende sind“, schreibt Friedrich Schorlemmer im Freitag (07.01., S.1). Das Medienecho zeigt, dass viele die von Käßmann angeregte Grundsatzdebatte fürchten und deshalb mit allen Mitteln zurückgeschlagen. Wie S. Löwenstein in der FAZ (05.01., S.5): Frau Käßmann war „von Anfang an dagegen, dass Deutschland sich an diesem Einsatz beteiligt… als Präsidentin der Zentralstelle für Kriegsdienstverweigerung, die sie seit 2003 ist, (will sie) langfristig das Militär überflüssig machen.“ Er selbst spricht statt Krieg von Einsatz, kritisiert aber, dass die Bischöfin von »Einsatztruppen« spreche (ein Wort, das in der Neujahrspredigt nicht vorkommt): „Hört sich doch »Einsatztruppen« fast so an wie die »Einsatzgruppen« der nationalsozialistischen SS.“

Für den SPD-Außenpolitiker Klose ist es schon „problematisch“, dass Frau Käßmann sich als EKD-Ratsvorsitzende überhaupt zum Thema Afghanistan geäußert hat. „Sie hat sich mit ihrer Äußerung in Gegensatz zur Mehrheit des Bundestages gesetzt“ und vertritt „die Position der Linkspartei“ (Welt am Sonntag 03.01., S.1). Davon abgesehen, dass die Zeit, in der die Kirche das Handeln der Herrschenden abzusichern hatte – und die Waffen segnete – vorbei ist, hat Klose offensichtlich auch noch nicht gemerkt, dass die Mehrheit im Bundestag in dieser Frage gegen die Mehrheit der Bevölkerung handelt. Im jüngsten Votum „sprechen sich 71 Prozent für einen schnellen Abzug deutscher Soldaten aus, mehr als je zuvor.“ (FR 11.01.)

Darf die Kirche das?

Inzwischen mehren sich aus beiden Kirchen die Stimmen, die eine offene Diskussion über Afghanistan fordern: „Natürlich geht es dabei langfristig um eine Exitstrategie.“ (Stephan Ackermann, kath. Bischof von Trier, FR 06.01.). Ein „realistisches Ausstiegsszenario“ fordert auch der Präses der Ev. Kirche im Rheinland. Der Präsident von Pax Christi, Bischof Algermissen, fordert einen Kurswechsel in der Afghanistanpolitik und „den schrittweisen Abzug der Bundeswehr“ (PE Pax Christi, 19.01.).

Anthropologie und »Human Terrain«

Anthropologie und »Human Terrain«

Die Kriege im Irak und in Afghanistan

von Hugh Gusterson

Der Einsatz von Sozialwissenschaftlern in der Aufstandsbekämpfung hat in den US-Streitkräften eine lange Tradition. Mit der Zunahme aufständischer Aktivitäten im Irak und in Afghanistan wurde erneut der Versuch unternommen, sozialwissenschaftliche Expertise für militärische Interessen dienstbar zu machen. Doch dieser Versuch traf auf Widerspruch aus der Disziplin.

Jeder Krieg hinterlässt seine Spuren in unserer Sprache. Im Falle des Ersten Weltkriegs war es der »Grabenkrieg«, im ersten Golfkrieg die »intelligente Bombe« und in den Kriegen im Irak und in Afghanistan wohl »human terrain« – von der Amerikanischen Gesellschaft für Mundart im Rahmen des Wettbewerbs um die beschönigendste Formulierung des Jahres 2007 zum Sieger erklärt.1 Einer der führender Exponenten dieser Redewendung ist General David Petraeus, der Oberkommandierende des U.S. Central Command, der schrieb, dass „der Kern jeder Aufstandsbekämpfungsstrategie auf die Tatsache gerichtet sein muss, dass das entscheidende Terrain das menschliche Terrain ist, nicht das Gelände oder die Überquerung von Flüssen.“ 2

General Petraeus war der ranghöchste Offizier einer Gruppe von Offizieren, die sich in den letzten Jahren mit der Wiederbelebung der Aufstandsbekämpfungsdoktrin im US-Militär befasst hat. Als die USA zunächst in Afghanistan im Jahr 2001 und dann im Irak im Jahr 2003 eindrangen – mit Donald Rumsfeld als Verteidigungsminister und »Shock and Awe« als Mantra, lag das Augenmerk darauf die Zahl der US-Truppen niedrig zu halten und die Mächtigkeit von Hochtechnologie zu nutzen, um rasch jeden Widerstand gegen die US-Streitkräfte zu zerstören. Es wurde angenommen, dass sich der Widerstand, einmal zerstört, nicht neu gruppieren werde. Als Donald Rumsfeld Ende 2006 zurücktrat, zeigte sich, dass seine Strategie, wenig Truppen mit Hochtechnologie-Waffen zu kombinieren, zwar für die erste Phase des Krieges eindrucksvolle Erfolge gebracht hatte, aber hinsichtlich der längerfristigen Aufgabe der Besatzung unangemessen war – zumal sich sowohl im Irak als auch in Afghanistan kraftvolle Aufstände entwickelten, die die USA nicht einzudämmen vermochten. Als Reaktion auf diese Aufstände stellte das Pentagon – nun unter Leitung von Robert Gates – erhebliche Mittel zur Untersuchung von Aufständen bereit.

Das Ergebnis war eine neue Aufstandsbekämpfungsdoktrin, die sich an der der europäischen Kolonialmächte orientiert und die Bedeutung der Gewinnung der »Herzen und Hirne« der afghanischen und irakischen Bevölkerungen in ihrer Bedeutung militärischen Operationen gleichstellt. Gemäß der neuen Doktrin wurde es wichtig, die Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung zu verstehen und kulturell informierte Möglichkeiten zu finden, diesen, wo möglich, gerecht zu werden. Gleichzeitig ging es darum, die Aufständischen zu isolieren und den Kampf um Einfluss sowohl politisch als auch militärisch zu betrachten. Von Offizieren der mittleren Ebene wurde nun erwartet, dass sie sich mit den Dorfältesten zum Tee treffen und Entwicklungsprojekte betreuen statt lediglich Aufständische zu verfolgen und zu töten. Während einige Brigaden Taliban-Lager angriffen, biederten sich andere bei Dorfbewohnern an und fragten, was die USA für sie tun könnten. David Kilcullen, General Petraeus' Sonderbeauftragter für Counterinsurgency, bezeichnete diesen Ansatz mit dem berühmt gewordenen Begriff „bewaffnete Sozialarbeit.“ 3

Als Teil dieses Ansatzes kündigte die US-Armee 2007 an, »Human Terrain«-Teams in den Irak und nach Afghanistan zu entsenden. Obwohl die Teams im Einzelfall variieren, bestehen diese in der Theorie aus fünf Personen – drei Militärs und zwei ZivilistInnen. Die ZivilistInnen sind Sozialwissenschaftler oder Regionalspezialistinnen. Als das Programm im Herbst 2007 angekündigt wurde, war ins Auge gefasst worden, dass die SozialwissenschaftlerInnen vor allem AnthropologInnen mit Kenntnissen der lokalen Sprache und Kultur sein sollten; allerdings erfüllten nur wenige der tatsächlich Angeworbenen diese Kriterien. Meist tragen sie US-Militäruniformen und haben die Möglichkeit Waffen zu tragen, wofür sie ausgebildet wurden. Bisher wurden drei SozialwissenschaftlerInnen aus »Human Terrain«-Teams getötet: Paula Lloyd interviewte gerade einen als harmlos eingestuften Dorfbewohner, als dieser plötzlich Benzin über sie goss und sie anzündete. Die beiden anderen starben durch Bomben.4

Die »Human Terrain«-Teams werden durch so genannte »Reach Back Research Cells« in Kansas und Virginia unterstützt, die „damit beauftragt sind, auf Anforderung Studien aus allgemein zugänglichen Quellen zu Problemen zu erstellen, die für Kommandeure und im Frontbereich eingesetzte sozialwissenschaftliche Teams sowohl im Irak als auch in Afghanistan von Bedeutung sind.“ 5 Diese Forschung kann von ethnischer Geographie über Heiratsgewohnheiten bis zu örtlichen religiösen Vorstellungen alles umfassen. Im April 2009 gab es insgesamt 27 »Human Terrain«-Teams, von denen sechs in Afghanistan operierten und 21 im Irak. Die Obama-Administration beabsichtigt gegenwärtig, 40 Millionen US-Dollar in die Ausweitung des »Human Terrain«-Programms zu stecken.6

Es ist aus verschiedenen Gründen schwer darzustellen, was die »Human Terrain«-Teams tatsächlich tun. Einer der Gründe besteht darin, dass die Teams zum Teil improvisieren, so dass unterschiedliche Teams auch unterschiedlich arbeiten. Ein weiterer ist, dass das »Human Terrain«-Programm – wie andere militärische Programme auch – für Außenstehende nicht leicht zu durchschauen ist. Und schließlich ist das »Human Terrain«-Programm von einer so umfassenden PR-Kampagne begleitet gewesen, dass schwer zu erkennen ist, was Propaganda und was zutreffende Beschreibung ist. Das Pentagon hebt hervor, dass die »Human Terrain«-Teams dazu angehalten sind, ein umfassendes Bild der örtlichen kulturellen Geographie („kartiere das menschliche Terrain“) zu erstellen und Hinweise bezüglich lokaler Gewohnheiten vorzuhalten, aber nicht dazu, der militärischen Aufklärung bei der Auswahl von Zielen zu helfen, die dann – dem Militärjargon zufolge – mit »kinetischer Wucht« behandelt werden. Ein Journalist, der im Grundsatz mit dem »Human Terrain«-Programm sympathisierte, beschrieb deren Aktivitäten wie folgt: „Die frühen Teams stellten grundlegende interkulturelle Auswertungen bereit. Sie gaben Hinweise dazu, welches Geschenk – etwa eine neues Gewehr – an einen irakischen Scheich Sinn machen würde oder ob sein Begrüßungsangebot eines Lammes anzunehmen sei (ja) bzw. ob blutbeschmierte Fahrzeuge in der Nähe ein Grund zur Sorge seien (nein, sie sind Teil eines Segnungsrituals) (…) Später begannen diese SpezialistInnen, Wege vorzuschlagen wie die Unterstützung der örtlichen Bevölkerung zugunsten der Aufständischen beendet und statt dessen der von den USA unterstützten Regierung zugutekommen könnte.“ 7

Eine Kommission, die von der »American Anthropological Association« eingesetzt wurde, um das »Human Terrain«-Programm zu bewerten, listet eine Reihe von Fragen auf, die die »Human Terrain«-Teams beantworten sollten: Warum werfen Kinder Steine nach uns? Wo sollen wir unser Geld investieren? Vertraut die einheimische Bevölkerung der Polizei? Fühlen sich die Menschen bei der Stimmabgabe sicher? Gibt es Konflikte in den Dörfern? Schließen sich die Menschen dem Aufstand an, weil ihnen Möglichkeiten des ökonomischen Aufstiegs fehlen? Die Kommission zitierte auch einen Angehörigen des Programms mit der Aussage: „Wir stellen das Gefüge dar, in dem die »bad guys« operieren und geben den Einheiten eine Grundlage, um ihr Operationsgebiet zu verstehen oder herauszubekommen, ob Taliban in einem Dorf leben oder wo diese sein könnten.“ 8

Die AnthropologInnen reagieren

Im Sommer 2006 rief der Versuch der CIA, eine Stellenausschreibung im Rundbrief der » American Anthropological Association (AAA)« zu schalten, Unruhe im Verband hervor. Daraufhin ernannte die Vereinigung eine Kommission zur Ausarbeitung einer Richtlinie bezüglich der Beziehung zwischen AnthropologInnen und dem nationalen Sicherheitsstaat. Gerade als diese »Commission on the Engagement of Anthropology with the US Security and Intelligence Communities (CEAUSSIC)« ihren Bericht im Herbst 2007 vorlegen wollte, wurde das »Human Terrain«-Programm der US-Armee öffentlich angekündigt.9 Damit hatte die CEAUSSIC keine Zeit, das »Human Terrain«-Programm zu berücksichtigen, aber die AAA-Spitze sah es als notwendig an, zu einem Programm Position zu beziehen, das rasch öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Daher veröffentlichte das AAA-Leitungsgremium am 31. Oktober 2007 eine Stellungnahme, der zu Folge „der Vorstand der Amerikanischen Anthropologischen Vereinigung beschließt, dass (1) das HTS-Programm Bedingungen schafft, die dazu geeignet sind, dass AnthropologInnen in Situationen geraten, in denen ihre Arbeit eine Verletzung der AAA-Ethikregeln darstellt, und dass (2) die Verwendung von AnthropologInnen im Rahmen des Programms eine Gefahr für die AnthropologInnen selbst sowie für die Personen, die die AnthropologInnen beforschen, darstellt. Daher drückt der Vorstand seine Missbilligung des HTS-Programms aus“ (im Original: Hervorhebung des letzten Satzes).10 Der Vorstand verfasste diese Stellungnahme zu einem Zeitpunkt, als das von mir im Herbst 2007 mit begründete »Network of Concerned Anthropologists« einen Aufruf herausgab, „keine Forschungen oder andere Aktivitäten zur Unterstützung von Aufstandsbekämpfungsaktivitäten im Irak oder an anderen Schauplätzen des »Krieges gegen den Terror« durchzuführen“. Zur Bestürzung des US-Militärs unterzeichneten in wenigen Monaten rund 1.000 AnthropologInnen diese Verpflichtung.11

Ende 2007 bat der AAA-Vorstand das CEAUSSIC, sich erneut zu konstituieren und ein weiteres Jahr damit zu verbringen, das »Human Terrain«-Programm zu untersuchen. Zu den elf beteiligten AnthropologInnen dieser Kommission gehörten auch jeweils einer, der für die US Marines bzw. die US-Armee tätig war, sowie ein weiterer, der für ein Atomwaffenlabor arbeitete. Außerdem wirkten zwei Gründer des »Network of Concerned Anthropologists« mit. Der Bericht der Kommission, der im Dezember 2009 vom Vorstand angenommen wurde, ist gegenüber dem »Human Terrain«-Programm sehr kritisch und schlussfolgert, dass die Kartierung humanitären Verhaltens „nicht länger als legitime berufliche Tätigkeit von AnthropologInnen angesehen werden kann“. Er fügt hinzu, dass „das CEAUSSIC vorschlägt, dass die AAA die Unvereinbarkeit des HTS mit der disziplinären Ethik und den Verfahren für Stellensuchende herausstellt und dass zudem das Problem anzuerkennen ist, dass es dem HTS erlaubt ist, im Verteidigungsministerium die Bedeutung von »Anthropologie« zu bestimmen.“ 12

Ohne eine Bezugnahme auf die Ethikrichtlinien der AAA13 ist die große Zurückweisung des »Human Terrain«-Programms nicht zu verstehen. Drei Bestimmungen der Ethikrichtlinie sind von besonderer Bedeutung. Die erste ist abgeleitet aus dem Nürnberger Kodex und hält fest, dass die anthropologisch Beforschten eine Einverständniserklärung abgeben, bevor sie erforscht werden. Freilich macht Patricia Omidian, die als angewandte Anthropologin in Afghanistan arbeitet, deutlich: „Ein Gemeinwesen als Angehörige/r des Militär zu betreten, als eine Person mit der Macht und dem Gewicht der US-Armee im Rücken, bedeutet, ein Ausmaß an Macht mitzubringen, dem sich eine einheimische Person nicht widersetzen kann – denn jede solche Reaktion kann dazu führen, inhaftiert oder getötet zu werden.“ 14 Mit anderen Worten: ein Afghane oder Iraker, der nicht mit dem Anthropologen sprechen möchte, könnte Angst haben, dies zu sagen.

Ein zweiter zentraler Grundsatz des AAA-Ethikcodes besagt, dass sich AnthropologInnen nicht in einer Weise verhalten sollten, die es anderen AnthropologInnen erschwert, ihre Arbeit zu machen. Viele AnthropologInnen im Feld haben die Erfahrung gemacht, dass man sie halb im Scherz fragte, ob sie Spione seien. Einige Pechvögel sind von der einheimischen Polizei festgehalten und befragt worden. Viele AnthropologInnen fürchten nun, dass alle AnthropologInnen als verdächtig gelten und einige daher nicht mehr in der Lage sind, ihre Feldarbeit zu machen, wenn AnthropologInnen dafür bekannt sind, dass sie für das US-Militär in Kriegszonen das „menschliche Terrain kartieren“.

Als drittes Prinzip ist die Richtlinie relevant, dass AnthropologInnen denjenigen, die sie beforschen, keinen Schaden zufügen sollen: „Anthropologische ForscherInnen müssen alles in ihrer Macht stehende tun, damit ihre Forschung nicht die Sicherheit, Würde oder Privatsphäre der Menschen verletzt, mit denen sie arbeiten, Forschung durchführen oder andere berufliche Aktivitäten ausführen.“ 15

An dieser Stelle drückt der CEAUSSIC-Bericht seine größte Besorgnis aus. Folgt man dem Bericht, so bemühen sich einige der »Human Terrain«-Teams intensiv darum, die Anonymität der Iraker und Afghaner zu bewahren, mit denen sie gesprochen haben. Andere tun dies jedoch nicht und so besteht die Gefahr, dass von AnthropologInnen gesammelte Daten für die militärische Zielplanung verwandt werden, selbst wenn das nicht die Absicht der AnthropologInnen war, die die Daten gesammelt haben. Um mit den Worten von Oberstleutnant Gian Gentile zu sprechen, der ein Geschwader im Irak befehligt: „Die AnthropologInnen sollten sich nicht selbst belügen. Ob sie es wahrhaben oder nicht, die »Human Terrain«-Teams tragen in allgemeiner und scharfsinniger Weise zum Gesamtwissen eines Kommandeurs bei, das ihm erlaubt den Feind zu identifizieren und zu töten.“ 16 Außerdem ist es trotz des AAA-Ethikcodes klar, dass einige der AnthropologInnen in »Human Terrain«-Teams gar nichts dagegen haben, Informationen bereit zu stellen, das auch zur Tötung von Irakern und Afghanen verwandt werden kann. Die »Dallas Morning News« zitierten eine Anthropologin mit der Äußerung, dass es „sie nicht interessiere, was mit ihren Informationen geschehe, selbst wenn es Teil von Aufklärungsmaterial wird, das von U.S. Special Forces dazu benutzt wird, Anführer der Aufständischen zu töten oder gefangen zu nehmen… ›Mich interessiert nur, unsere Kenntnisse an so viele Soldaten wie möglich weiterzugeben. Die Realität da draußen ist, dass es Leute gibt, die darauf aus sind, bad guys zu töten. (…) Und die operieren nicht in einem Vakuum‹.“ 17

Schlussfolgerung

Obwohl Jahresgehälter bis zu 300.000 US-Dollar geboten wurden, ist die Rekrutierung für das »Human Terrain«-Programm im Großen und Ganzen ein erstaunlicher Fehlschlag gewesen. Laut CEAUSSIC-Bericht waren im Programm im April 2009 417 Personen beschäftigt. Von diesen waren nur sechs promovierte AnthropologInnen. Weitere fünf hatten entsprechende Masterabschlüsse. Der Bericht hält fest, dass „die große Mehrheit der derzeitigen Beschäftigten des »Human Terrain«-Programms in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und Abschlüssen als in der Anthropologie versehen ist, obwohl dieser eine zentrale Rolle im Programm zugewiesen wurde.“ 18 Außerdem seien die rekrutierten AnthropologInnen keine ExpertInnen in Sprache und Kultur des Mittleren Ostens bzw. Südwestasiens. Einer ist beispielsweise ein auf Lateinamerika spezialisierter Archäologe, ein anderer hat Feldforschung auf den Philippinen gemacht, wo er Jäger und Sammler beforschte. Abhängig von Übersetzern, nicht vertraut mit der lokalen Kultur und naiv im Umgang mit Waffen, ist unklar, ob diese AnthropologInnen nicht eher eine Last als ein Gewinn für das US-Militär sind. Während sie dazu vorgesehen waren, bei Konflikten zwischen dem Militär und der Bevölkerung der besetzten Länder Irak und Afghanistan zu vermitteln, haben die »Human Terrain«-Teams erhebliche Konflikte zwischen dem Militär und der Berufsgruppe der AnthropologInnen verursacht. Es ist Zeugnis der ethische Integrität der Anthropologie als Disziplin, dass die US-Armee – trotz der Versuchung sehr hoher Vergütung und angesichts der schlechtesten Arbeitsmarktlage für AnthropologInnen seit Menschengedenken – nur so wenige AnthropologInnen für die »Human Terrain«-Teams rekrutieren konnte.

Eine kleine, jedoch zunehmende Zahl von AnthropologInnen arbeitet für den nationalen Sicherheitsstaat USA in anderen Kontexten, besonders bei der Ausbildung des Offizierkorps und bei der Erstellung von Analysen für Militärfirmen. Während eine große Zahl von AnthropologInnen sich derartigen Tätigkeiten verweigern würde, gibt es doch keinen Konsens in der Disziplin, dass es berufsständisch falsch wäre es zu tun. Andererseits halten sich auch jene AnthropologInnen, die für den nationalen Sicherheitsstaat arbeiten, weithin an den Konsens der Disziplin, dass sich AnthropologInnen vom »Human Terrain«-Programm fernhalten sollten. Obwohl die »American Anthropological Association« nicht über den Einfluss verfügt, jene auszuschließen, die gegen ihre Vorschriften verstoßen, und obwohl einige der in »Human Terrain«-Teams tätigen AnthropologInnen hartnäckig behaupten, sie seien im Recht19, ist sehr deutlich, dass diese lediglich einen kleinen, marginalen Teil der Disziplin darstellen.

Angesichts öffentlicher Berichte über Korruption und organisatorische Mängel im»Human Terrain«-Programm haben zudem einige Offiziere mit Angriffen begonnen; sie sagen es wäre besser, ein rein militärisches Programm ohne SozialwissenschaftlerInnen zu fahren.20

Was die Zukunft bringen wird, ist unklar. Das »Human Terrain«-Programm könnte als ein fehlgeschlagener Versuch eingestellt werden; es könnte dahinsiechen in seiner gegenwärtigen Form mit einer Crew aus schlecht ausgesuchten SozialwissenschaftlerInnen oder es könnte – wie einige Militärs es empfehlen – in ein rein militärisches Programm umgewandelt werden ohne zivile SozialwissenschaftlerInnen. Eines aber ist inzwischen klar: Es wird nicht das gemeinsame Unternehmen zwischen Militär und zivilen AnthropologInnen sein, das seine Schöpfer beabsichtigten.

Anmerkungen

1) http://www.americandialect.org/Word-of-the-Year_2007.pdf, S.3.

2) David Petraeus: »Afghanistan is hard all the time, but it's doable«, The Times Online September 18, 2009 http://www.timesonline.co.uk/tol/comment/columnists/guest_contributors/article6839220.ece

3) Die wichtigsten Texte zur neuen US-Counterinsurgency-Doktrin der US-Armee sind: U.S. Army (2007): The U.S. Army/ Marine Corps Counterinsurgency Field Manual (Chicago: University of Chicago Press); Barak A. Salmoni & Paula Holmes-Eber (2008): Operational Culture for the Warfighter: Principles and Applications (Quantico, VA: Marine Corps University Press); David Kilcullen (2009): The Accidental Guerilla: Fighting Small Wars in the Midst of a Big One (New York: Oxford University Press); David Galula (2006): Counterinsurgency Warfare: Theory and Practice (Westport CT: Praeger); John Nagl (2002): Counterinsurgency Lessons From Malaya and Vietnam: Learning to Eat Soup with a Knife (Westport, CT: Praeger).

4) Farah Stockman: »Anthropologist's War Death Reverberates«, Boston Globe February 12, 2009. Vgl. auch http://humanterrainsystem.army.mil/memoriam.html

5) Nathan Hodge: »Inside the Brain of Human Terrain«, Danger Room March 13, 2009, http://www.wired.com/dangerroom/2009/03/the-human-terra-2/.

6) AAA Commission on the Engagement of Anthropology With the US Security and Intelligence Communities (CEAUSSIC): Final Report on the Army's Human Terrain System Proof of Concept Program, October 14, 2009, p.13, p.6. http://www.aaanet.org/cmtes/commissions/CEAUSSIC/upload/CEAUSSIC_HTS_Final_Report.pdf. Vgl. auch: Roberto Gonzalez (2008): American Counterinsurgency: Human Science and the Human Terrain (Chicago: Prickly Paradigm Press).

7) Noah Schachtman: »Army Anthropologist's Controversial Culture Clash«, Wired.Com September 23, 2008, http://blog.wired.com/defense/2008/09/controversial-a.html

8) CEAUSSIC pp.28-9

9) Hintergrundinformationen zum CEAUSSIC finden sich unter http://www.aaanet.org/cmtes/commissions/CEAUSSIC/index.cfm. Vgl. auch http://www.aaanet.org/pdf/upload/FINAL_Report_Complete.pdf für den Bericht von 2007.

10) Vgl. http://www.aaanet.org/issues/policy-advocacy/Statement-on-HTS.cfm für die ganze Stellungnahme.

11) Weitere Informationen zum »Network of Concerned Anthropologists« finden sich unter http://concerned.anthropologists.googlepages.com/. Im Jahr 2009 veröffentlichte das Netzwerk The Counter-Counterinsurgency Manual (Chicago: Prickly Paradigm Press), ein Buch mit Beiträgen verschiedener AutorInnen, die die Militarisierung der Sozialwissenschaften und die US-Counterinsurgency-Strategie kritisieren.

12) CEAUSSIC: Final Report on The Army's Human Terrain System Proof of Concept Program, http://www.aaanet.org/cmtes/commissions/CEAUSSIC/upload/CEAUSSIC_HTS_Final_Report.pdf, S.3

13) http://www.aaanet.org/committees/ethics/ethcode.htm. Der AAA-Ethikcode von 1971, der schärfer war und von vielen in der AAA noch als Richtlinie angesehen wird, findet sich unter: http://www.aaanet.org/stmts/ethstmnt.htm.

14) Patricia Omidian: »Living and Working in a War Zone: An Applied Anthropologist in Afghanistan«, Practicing Anthropology 31(2), 2009, S .4-11 (10).

15) Code of Ethics of the American Anthropological Association (1998) http://www.aaanet.org/committees/ethics/ethcode.htm.

16) Dieser Kommentar war ursprünglich an einen Blog von Marcus Griffin gepostet worden, einen »Human Terrain«-Team Anthropologen. Nachdem der Kommentar einen Tag später in einem Papier von Roberto Gonzalez zitiert worden war, einem der führenden Kritiker des »Human Terrain«-Systems, wurde der Blog geschlossen.

17) Jim Landers: »Anthropologist from Plano Maps Afghanistan's Human Terrain for Army«, Dallas Morning News, March 9, 2009.

18) CEAUSSIC 2009, S.12-13.

19) Adam Silverman: »The Why and How of Human Terrain Teams«, Inside Higher Ed, February 19, 2009, http://www.insidehighered.com/views/2009/02/19/humanterrain.

20) Ben Connable: »All Our Eggs in a Broken Basket: How the Human Terrain System is Undermining Sustainable Military Cultural Competence«. Military Review March/April, 2009, S.57-64. Zur Unordnung im »Human Terrain«-Programm vgl. John Stanton (2009): General Petraeus' Favorite Mushroom: Inside the US Army's Human Terrain System (Wiseman).

Hugh Gusterson ist Professor für Anthropologie und Sociologie an der George Mason University.

Es geht keinem um Afghanistan

Es geht keinem um Afghanistan

von Conrad Schetter

Wer sich dem deutschen Feldlager in Kundus nähert, dem steigen Erinnerungen an die Cowboy- und Indianerfilme der Kindheit hoch. Die Soldaten leben außerhalb der Stadt in einem bis an die Zähne bewaffneten Fort, das es mit der Infrastruktur einer deutschen Kleinstadt samt Post, Läden und Cafés aufnehmen kann. Angeheuerte afghanische Milizionäre bewachen den äußersten Wehrring. So müssen schon einige Hürden genommen werden, bis man in das Innere vordringt und den ersten deutschen Soldaten zu Gesicht bekommt: Von diesem Fort aus soll Sicherheit für die Bevölkerung von Kundus ausgehen, die für den Aufbau der Provinz als so unerlässlich erachtet wird – so zumindest die offizielle Begründung der Bundesregierung für die deutsche Truppenpräsenz.

Wie in jedem Indianerfilm gerät das Fort früher oder später in einen Belagerungszustand. Die Bevölkerung von Kundus, wegen deren Sicherheit man ja einst hier Palisaden errichtete, verschwindet dabei zunehmend aus dem Blickfeld. Die Bundeswehr entwickelte einen Tunnelblick, in dem sie den Showdown mit dem Gegner sucht, der pauschal als Taliban bezeichnet wird. Dieser Gegner sitzt nicht irgendwo in entlegenen Bergen, sondern direkt unterhalb des Bundeswehrlagers im Distrikt Chahar Darra. Zudem verstand es dieser Gegner in den letzten Monaten, ein um das andere Mal die Bundeswehr vorzuführen, sie in Scharmützel zu verwickeln, ihr Verluste beizubringen und dennoch unsichtbar zu bleiben. Welchen Offizier reitet da nicht die Wut, ob eines so listenreichen und zermürbenden Feindes. Dem nicht genug muss sich die Bundeswehr nun schon seit Jahren von den angelsächsischen NATO-Kollegen anhören, sich hasenfüßig im Norden des Lands zu verbarrikadieren und nicht in den Süden zu gehen, wo echter Krieg herrsche.

Die Entführung zweier Tanklaster in der Nacht vom 3. auf den 4. September, wenige Kilometer von dem deutschen Fort entfernt, gab nun die Möglichkeit, den Gegner zu stellen: Mehrere Dutzend Menschen, die auf verschwommenen Bildern dürftig als Feind identifiziert wurden, eröffneten die Chance zum Gegenangriff. Demnach sprachen die ersten Presseerklärungen der Bundeswehr von einem erfolgreichen Schlag gegen die Taliban, und glaubte Verteidigungsminister Franz-Josef Jung lange – viel zu lange – von einem glänzenden Sieg sprechen zu können.

Erst Nachrichten über zivile Opfer veranlassten die Bundeswehr, Argumente nachzuschieben, um das friedensumwobene Bild der Schutztruppe wieder herzustellen. Dies wirkte unbeholfen und unglaubwürdig: So sickerte schnell an die Öffentlichkeit, dass die Informationslage, auf deren Basis der Befehl angeordnet worden war, äußerst dünn gewesen war und dass viele Zivilisten – unter diesen auch Kinder – zu Tode gekommen waren; auch verstieß der Einsatz gegen NATO-Regeln, da Luftnahunterstützung nur angefordert werden darf, wenn sich Truppen in Bedrängnis befinden. Ebenfalls das Argument, dass nicht genügend Soldaten für das Ausrücken einer Patrouille zur Verfügung standen und man daher die Luftwaffe alarmiert habe, ist nicht stichhaltig. So konzentriert sich der Bundeswehreinsatz mit gut 900 Mann in Kundus fast ausschließlich auf den »Problemdistrikt« Chahar Darra.

Weit eher verdeutlicht die Anforderung von Luftunterstützung, dass die Lage der Deutschen um einiges prekärer ist, als es die Bundesregierung zugeben mag: Jede Nacht wird das Lager beschossen. Patrouillen fahren fast täglich auf Minen. Die Bundeswehr kann sich faktisch nicht mehr aus dem Lager herauswagen. Bislang ist es nur vielen glücklichen Umständen zu verdanken, dass nicht mehr Soldaten zu Tode gekommen sind. Welcher diensthabende Offizier will da schon seine Leute nachts rausschicken, wo doch an jeder Ecke ein Hinterhalt lauert. Diesen Zustand bezeichnet der Volksmund – abgesehen von juristischen Griffelspitzern – als Krieg.

Auch die nachgeschobene Erklärung, dass es sich um einen Akt der Selbstverteidigung des deutschen Lagers gehandelt habe, mutet unglaubwürdig an: So waren die entführten Fahrzeuge im Flussbett festgefahren. Die Gefahr eines Angriffs auf das Lager durch zu fahrenden Bomben umfunktionierte Öltanker, wie sie das Verteidigungsministerium verbreitete, ist ebenfalls bizarr. Die Zufahrtstraße zum Camp ist auf große Distanz hin kontrollierbar; gegnerische Fahrzeuge haben nicht die Möglichkeit, Fahrt aufzunehmen.

Gerade das letztgenannte Argument offenbart die Nabelschau des gesamten Einsatzes. So lässt die Begründung, dass die Sicherheit der Bundeswehr gefährdet gewesen sei, aufhorchen. Anscheinend spielt die Ausgangsbegründung für den Einsatz in Afghanistan keine Rolle mehr. Es geht eben schon längst nicht mehr um die Sicherheit der afghanischen Zivilbevölkerung, sondern nur um die der deutschen Soldaten. Dass die Öltanker etwa den belebten Marktplatz von Kundus in ein Flammenmeer hätten verwandeln können, wird gar nicht erst in Erwägung gezogen. Diese Betriebsblindheit scheint nicht einmal dem Pressestab der Bundeswehr aufgefallen zu sein.

Dies kann nur zweierlei bedeuten: Entweder geht die Bundeswehr davon aus, dass die Aufständischen gar kein Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung darstellen – vielleicht da sie im Zweifelsfall eher mit dem Widerstand als mit der Bundeswehr sympathisiert; oder es hat sich der Bundeswehreinsatz so sehr auf das Kräftemessen mit den Aufständischen fixiert, dass die Zivilbevölkerung gar keine Rolle mehr spielt. Welche Argumentationslinie sich auch in den Köpfen der Bundeswehr durchgesetzt haben mag, man ist weit von der eigentlichen Aufgabe abgerückt und nimmt – wenn auch nach langem Zögern, dann aber mit öffentlichem Bedauern – den Tod von Zivilisten in Kauf, die es doch zu schützen gilt. Wie unter diesen Umständen in Zukunft noch Entwicklungsprojekte erfolgreich durchgeführt und das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewonnen werden soll, bleibt schleierhaft. Die Bundeswehr vollzog daher in jener Nacht unwiderrufbar und für jeden Einwohner von Kundus spürbar den Schritt vom Friedensbringer zur Kriegspartei.

Die Fokussierung des deutschen Afghanistan-Engagements auf die Sicherheit derjenigen, die eigentlich Sicherheit bringen sollen, ist jedoch nicht neu; sie wurde nur durch die Luftangriffe von Kundus offensichtlich. So ist die deutsche Entwicklungszusammenarbeit vor allem darauf ausgerichtet, durch den Bau von Brücken, Schulen und Brunnen die Sicherheit der deutschen Soldaten zu verbessern. Entwicklungsmaßnahmen sind längst Sicherheitsinteressen untergeordnet. Dieses selbstreferentielle Vorgehen, das die afghanische Zivilbevölkerung weitgehend außen vor lässt, wird dann mit dem markigen Schlagwort »Keine Entwicklung ohne Sicherheit, keine Sicherheit ohne Entwicklung« propagiert.

Die Negierung der Afghanen prägt auch das politische Getöse im deutschen Wahlkampf. So dreht sich die Diskussion allein darum, ob und wann die deutschen Soldaten aus Afghanistan abziehen sollen. Auch hier erfolgt eine eigenartige Selbstbeschäftigung, die das ferne Afghanistan zur Bühne deutscher Außen- und Sicherheitspolitik degradiert. Dieser Schlagabtausch – ob durch die klare Forderung der Linken nach einem sofortigen Abzug, durch die wolkige Regierungserklärung der Bundeskanzlerin oder den jüngsten 10-Punkteplan von Außenminister Frank-Walter Steinmeier – umgeht die Debatte, worum es in Afghanistan eigentlich gehen soll: Wozu man dort Bundeswehrsoldaten benötigt? Weshalb Milliarden in das Land gepumpt werden? Internationale Politiker und Experten doktern seit Jahren an Afghanistan herum, ohne eine klare Zielsetzung entwickelt zu haben. Geht es nun um Terrorbekämpfung, um Staatsaufbau, um die Einführung von Demokratie und Menschenrechten oder – wie gegenwärtig immer stärker gepredigt – nur noch um Stabilität? Acht Jahre nach der Intervention muss die internationale Gemeinschaft mehr und mehr eingestehen, dass sie es weder verstanden hat, realistische Zielsetzungen zu formulieren, noch in einem der gerade genannten Bereiche grundlegende Fortschritte erzielt zu haben.

Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass es die Interventen kaum für nötig hielten, sich auf die afghanischen Realitäten und Bedürfnisse einzulassen – abgesehen von folkloristischen Momenten wie der Einberufung einer Loya Jirga im Juni 2002. Kaum einer fragt, welche Zukunft sich die Afghanen selbst wünschen – vielleicht da die Antwort zu unbequem ist, wenn afghanische Vorstellungen zu sehr von den eigenen abweichen. Diese Diskrepanz zwischen den ehrgeizigen Zielen, die sich die internationale Gemeinschaft gesteckt hat, und divergierenden afghanischen Wirklichkeiten wird in der gegenwärtigen Situation offensichtlich: So machen die Manipulation bei den kürzlich abgehaltenen Präsidentschaftswahlen in Afghanistan auch der deutschen Öffentlichkeit klar, dass das Land noch weit von den ambitionierten Zielen entfernt ist.

Wenn sich jedoch die Politik auf keine Diskussion über die Zielsetzung und die zu wählenden Instrumente einlassen will und die Afghanen wie Objekte und nicht wie gleichwertige und gleichberechtigte Subjekte behandelt, wie kann dies dann von den Soldaten vor Ort verlangt werden? So durchzieht die gesamte Intervention von der politischen Entscheidungsebene bis hin zum einfachen Bundeswehrsoldaten der Habitus einer zivilisatorischen Überlegenheit und die Ignoranz gegenüber afghanischen Lebenswirklichkeiten. Die Afghanen bleiben die »wilden Indianer« außerhalb des Forts, denen im besten Fall der Eigenwert einer Karl May Romantik zugesprochen wird.

Conrad Schetter ist Senior Research Fellow am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn.

Afghanistan – die Dialektik eines prominenten Diskurses

Afghanistan – die Dialektik eines prominenten Diskurses

von Thorsten Hinz

Afghanistan gehört seit dem 11. September 2001 zu den Ländern, die in den internationalen Debatten überpräsent sind. Diese Überrepräsentanz hat vor allem mit dem militärischen Engagement des Westens zu tun. Es ist ein Diskurs, der über die Jahre erschreckend wenig Fortschritte und Ergebnisse für die viel geplagte afghanische Zivilgesellschaft erbracht, dafür aber umso mehr Hoffnungen auf internationale Friedenslösungen untergraben hat. Es scheint das alte Wort von Max Horkheimer und Theodor Adorno zu gelten – es darf viel geredet werden, aber niemand hört mehr hin. Es ist ein Reden und Schreiben, das in der Wirkungslosigkeit und im Scheitern zynisch wird. Auch Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen sowie Hilfswerke müssen sich im Falle Afghanistan fragen, was sowohl ihre Arbeit als auch ihre Kritik bislang für Folgen gezeitigt hat, inwieweit sie nicht selbst Teil eines sich im Kreise drehenden Diskurses sind.

Terrorgefahr

Die Präsenz des westlichen Militärs in Afghanistan wird durch die Terrorgefahr legitimiert, die sich augenscheinlich im Treiben von Al-Kaida und Taliban zeigt und das als eine weltweite Gefahr gesehen wird. Es ist zum einen dieses Terror- und Bedrohungsargument, das zum größten und teuersten Bundeswehr-Einsatz außerhalb Deutschlands geführt hat, mit mittlerweile rund 4.500 in Afghanistan stationierten Soldaten und Soldatinnen. Das Terrorargument wird aber zugleich von der deutschen und den anderen am ISAF-Mandat beteiligten Regierungen durch das Schutz- und Sicherungsargument ergänzt. ISAF steht für International Security Assistance Force und bezeichnet das militärische Mandat, das der UN Sicherheitsrat mit der Resolution 1386 nach dem Sturz der Taliban zum Schutz der Karzai-Übergangsregierung Ende 2001 ausgesprochen hatte. Das UN-Mandat umfasste damals 5.000 Soldaten. Nach der Niederlage des Taliban-Regimes sollten die im Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn benannte Übergangsregierung sowie die afghanische Zivilbevölkerung beim Neuanfang, bei der Neuordnung und dem Wiederaufbau beschützt und begleitet werden.

In Reden über das Terror- bzw. Bedrohungsargument wird von Politikern fast aller Bundestagsfraktionen immer wieder betont, dass die »westliche Freiheit und Demokratie am Hindukusch verteidigt werden müsse«. Die dortige Präsenz der Bundeswehr leiste einen wichtigen Beitrag zur Verhinderung von geplanten Terroranschlägen in der westlichen Welt, so der Tenor. Entsprechend folgerichtig scheint auch die immer wieder mit einer breiten Mehrheit erfolgende Verlängerung des Afghanistan-Mandates im Bundestag zu sein, zuletzt im Herbst 2008. Interessanterweise widersprechen diese Mehrheiten der durch zahlreiche Erhebungen erfragten Stimmung in der deutschen Bevölkerung. Bis zu 70% der Bürger und Bürgerinnen haben sich Ende 2008 in verschiedenen Umfragen eindeutig gegen das Engagement der Bundeswehr in Afghanistan ausgesprochen. Diese Ablehnung speist sich allerdings weniger aus einer grundsätzlichen kritischen Haltung gegenüber dem Bedrohungsargument als vielmehr aus der Sorge, dass die Bundeswehr sich in einen endlosen Krieg mit zahllosen Opfern in den eigenen Reihen verwickeln könnte.

Es ist unbestritten, dass Al-Kaida ein hochgefährliches Terror-Netzwerk ist, das nachweislich in aller Welt schreckliche Attentate mit zahllosen Opfern verübt hat, insbesondere unter der Zivilbevölkerung. Richtig ist auch, dass in Zeiten des Taliban-Regimes Al-Kaida unter Führung von Osama Bin Laden in Afghanistan Unterschlupf gesucht und gefunden hat. Mit dem 11. September 2001 und dem Sturz des Taliban-Regimes ist allerdings eine radikale Wende der Gesamtsituation eingetreten. Al-Kaida und andere weltweit operierende Terror-Netzwerke sind heute extrem mobile und flexible Strukturen, die überall zuschlagen können. Es sind Einheiten, die immer stärker ohne Anbindung an eine Hierarchie agieren, die keinem spezifischen Befehl folgen und die unter bestimmten Bedingungen in nahezu jeder mitteleuropäischen Kleinstadt entstehen können. Die Londoner Bombenanschläge vom 7. Juli 2005 wurden von solcherart Attentäter durchgeführt. Auch die 2008 enttarnte »Sauerland-Gruppe« spiegelt diese ganz andere Bedrohungssituation wider. Es ist eine Bedrohung, die kein afghanisches oder pakistanisches Hinterland mehr braucht. Der Journalist und Taliban-Experte Ahmed Rashid hat in gut recherchierten Beiträgen immer wieder erläutert wie diese moderne »omnipotente Bedrohung«, oder konkreter: ein „weltumfassender Dschihad“, ihren Anfang nahmen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Islamistische Kreise hatten damals die westliche Welt als negative Bedrohungs- und Projektionsfläche entdeckt.

Selbstredend spielt bei den weltweit vernetzten Terror-Netzwerken auch die »elektronische Globalisierung« eine maßgebliche Rolle. Das Internet bietet unzählige Optionen, um sich virtuell zu treffen, zu besprechen und voneinander zu lernen. Baupläne für Bomben und Sprengfallen, Anschlagsaufrufe sowie Attentats-Konzepte kursieren in großer Zahl und lassen sich selbst von Computer-Amateuren mit entsprechenden Sprachkenntnissen relativ leicht finden. Natürlich ist unumstritten, dass in hochsensitiven Konflikt- und Krisenregionen wie beispielsweise in Kaschmir, Palästina, Jemen, Sudan, Somalia, Kongo, Kolumbien oder eben auch Afghanistan asymmetrische Terrorstrukturen viel leichter gedeihen und wachsen als in stabilen sozial-ökonomischen Verhältnissen. Die knappe und bei weitem unvollständige Aufzählung zeigt allerdings das Dilemma, in das die USA die Welt mit ihrem Aufruf zum »war against terror« gestürzt hat. Es ist ein Aufruf, der verlangen würde, dass überall dort, wo sich Terror-Netzwerke aufhalten oder aufhalten könnten, militärisch interveniert werden müsste. Der Aufruf hat eine Hybris entfesselt, in die unter anderem der Irak-Krieg, der Libanon-Krieg zwischen Israel und Hizbollah und die heftigen Konflikte mit dem Iran als einer aus westlicher Sicht potenziell gefährlichen Mittelmacht zu subsumieren sind.

Die Debatte über so genannte »humanitäre militärische Interventionen«, sich berufend auf die UN-Resolution 60/1 (2005), ist seit den »Balkan-Interventionen« und dem Scheitern der Weltgemeinschaft beim Genozid in Ruanda eine der großen Themen auf der Ebene der Vereinten Nationen. Verkürzt dargestellt geht es um die Klärung folgender Frage: Was sind die Eindämmungs- oder Verhinderungspotentiale der Weltgemeinschaft im Falle regionaler oder nationaler massiver Menschenrechtsverletzungen?

In der Diskussion um das Terrorargument muss nicht zuletzt darauf hingewiesen werden, dass die Taliban eine eindeutig regionale, aber durchaus heterogene Bewegung sind, die vor allem zwei Dinge eint: erstens ein radikal sunnitisch geprägter Islam wie er in den Madrassas im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet gelehrt wird und zweitens das Ziel, Afghanistan von jeglicher Fremdherrschaft frei zu halten. Die Taliban haben keine globale Perspektive und taugen entsprechend nur sehr begrenzt für die Bedrohungsszenarien, die in Westeuropa und den USA als Rechtfertigung für den Einsatz dienen.

Schutz und Sicherheit

Das zweite entscheidende Argument für die Präsenz des Westens am Hindukusch dreht sich um den Schutz der afghanischen Bevölkerung. Es ist ein Schutz- und Sicherungsargument, das sich sowohl im militärischen ISAF-Mandat ausdrückt als auch im zivilen UNAMA-Mandat (UNAMA = United Nations Assistance Mission in Afghanistan). Beide Mandate sind Ergebnisse der Bonner Petersberg Konferenz und haben bis heute den Auftrag, die afghanische Regierung zu schützen und zu unterstützen. Die obige kurze Reflexion über die Taliban hat bereits angedeutet, dass das Phänomen »Taliban« mit dem durch US-Kräfte massiv unterstützten Sieg der Nordallianz im Herbst 2001 nicht sein Ende gefunden hat. Die Rückkehr und Machtentfaltung der Taliban ist für viele westliche Beobachter ein Absurdum, sollte doch gerade der afghanischen Bevölkerung das Leid aus den Jahren von 1996 bis 2001 – symbolisiert mit Begriffen wie Burka, Scharia und Steinigungen – noch sehr bewusst sein. Übersehen wird dabei, dass es gerade unverhältnismäßige westliche Militär-Aktionen sind, die die afghanische Bevölkerung verunsichern, ihr den Eindruck einer Besatzung vermitteln und sie für Taliban-Offerten anfällig macht. Allein im Jahr 2008 ist die ohnehin bereits hohe Zahl der Zivilopfer um weitere 40% angestiegen. Hier wirkt auch das kollektive Trauma der sowjetischen Okkupationszeit (1979-1989) nach. Die Gewaltspirale in den Kämpfen zwischen ISAF/NATO- und OEF-Verbänden gegen Taliban und andere Aufständische, bei denen es in den letzten acht Jahren mehrere Tausend zivile Opfer zu beklagen gibt, tut ein Übriges. Viele Afghanen sehen sich inzwischen in Kriegszeiten zurückgekehrt. Es ist ein Krieg, bei dem sie sich von denen, die sie eigentlich schützen sollten, nicht geschützt fühlen. Sie sehen NATO-Truppen, die sich in ihren Camps und Kasernen verbarrikadiert haben und kaum noch Kontakt zur Zivilbevölkerung zulassen. Schließlich sind sie mit einer jungen afghanischen Armee und Polizei konfrontiert, in denen Korruption, willkürliche Gewalt und Überläufertum grassieren.

Astrid Suhrke beschreibt in einem Aufsatz von 2008 wie sich die NATO, die das ISAF-Mandat leitet und maßgeblich ausübt, von der ursprünglich gewollten Stabilisierungs- und Schutzrolle in einen Krieg hat manövrieren lassen, wie aus einem militärischen „light footprint“ ein „heavy footprint“ wurde, mit jetzt mehr als 61.000 NATO-Soldaten in Afghanistan (Stand: 13. März 2009). Einen der entscheidenden Gründe hierfür sieht sie in der immer enger gewordenen Verflechtung von ISAF- und OEF-Mandat (Suhrke 2008). Auch wenn Politiker formell und aus gutem Grund auf die Trennung der beiden Mandate hinweisen, ist diese »Trennung« aus Sicht der afghanischen Bevölkerung nicht mehr existent. Die Bevölkerung sieht keinen Unterschied mehr zwischen Einsätzen, bei denen »Terroristen« gejagt werden, oder solchen, bei denen sie selbst eigentlich geschützt werden sollte und doch im Rahmen der Aufstandsbekämpfung immer wieder die höchsten Opferzahlen zu beklagen hat. Suhrke rät deshalb der NATO dringend größere Kampfeinsätze, Luftangriffe und Offensiven künftig zu vermeiden, will sie nicht den letzten Rest an Vertrauen und Hoffnung bei der Zivilbevölkerung verspielen. Fatal wirken auch Äußerungen von hochrangigen US-Militärs, die immer unverhohlener eine Zusammenführung von ISAF- und OEF-Mandat fordern und damit zusätzlich den eigentlichen Schutz- und Sicherungsauftrag der ISAF untergraben. Bei der Entsendung der deutschen »Tornados« nach Afghanistan war auch nicht von ungefähr eine der kritischsten Fragen, inwieweit diese nicht eher den OEF-Truppen nützen als den ISAF-Truppen. Manche europäische Politiker und Militärs mögen über die zunehmende Feindschaft und Ablehnung innerhalb der afghanischen Zivilbevölkerung alarmiert sein. Sie verhindern damit nicht, dass die Glaubwürdigkeit des Westens immer weiter und immer schneller erodiert. Theodor Fontane hat nach einer von drei gescheiterten britischen Afghanistan-Invasionen eine lyrische Mahnung formuliert, die höchst aktuell klingt: „Die hören sollen, sie hören nicht mehr/ Vernichtet ist das ganze Heer,/ Mit dreizehntausend der Zug begann,/ Einer kam heim aus Afghanistan.“

Schwierige Hilfe

Das kurze Nachdenken über die Legitimierung der westlichen Präsenz in Afghanistan gibt ein besseres Verständnis für die problematischen Rahmenbedingungen, in denen Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen sowie Hilfswerke ihrem humanitären Mandat in Afghanistan zu entsprechen versuchen. Es ist ein Kontext, der in den letzten Jahren immer schwieriger und politischer geworden ist. Es ist ein Kontext, in dem die humanitären Mandate ihre Unabhängigkeit immer wieder neu behaupten müssen.

Die Afghanistan-Konferenz in Paris im Juni 2008 hatte Vertreter von 90 Staaten und internationalen Organisationen zusammengerufen, um Bilanz über den Stand von Wiederaufbau, Entwicklung und Stabilisierung zu ziehen. Während der Konferenz wurde auch die so genannte Nationale Afghanische Entwicklungsstrategie (ANDS) vorgestellt. In ihr hat die afghanische Regierung einen Plan für die wichtigsten Bereiche des Wiederaufbaus bis zum Jahr 2012 ausgearbeitet. Das, was die afghanische Regierung im Zusammenspiel und mit Unterstützung von UNAMA und den Unterstützer-Staaten im zivilen Bereich über das »National Solidarity Program« (NSP) und die »Afghanistan National Development Strategy« (ANDS) an Aufbau und Entwicklung zu verwirklichen versuchte, ist allerdings bis heute nur wenig erfolgreich gewesen.

Nach wie vor lebt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in extremer Armut und hat nur geringe Aussichten, dem Kreislauf der Not zu entkommen. Matt Waldman, der Afghanistan-Experte der britischen Hilfsorganisation »Oxfam«, hat im Vorfeld der Pariser Afghanistan-Konferenz gemeinsam mit der Dachorganisation der in Afghanistan engagierten Nichtregierungsorganisationen ACBAR (Agency Coordinating Body For Afghan Relief) die Studie »Falling Short. Aid Effectiveness in Afghanistan« veröffentlicht (Waldman 2008). Die Studie kommt zu einem vernichtenden Urteil über die bislang geleistete Hilfe: 100 Millionen US-Dollar an täglichen Militärkosten für die US-Streitkräfte stehen sieben Millionen US-Dollar an täglichen zivilen Hilfen aller Geldgeber gegenüber. Von 39 Milliarden US-Dollar, die die internationale Staatengemeinschaft für die Jahre 2002 bis 2011 an Hilfe zugesagt hat, wurden bislang nur 40 Prozent eingelöst. Länder wie Indien, Spanien oder Frankreich kommen ihren Zusagen nur sehr schleppend nach. Auch die Asiatische Entwicklungsbank hat bislang nur ein Drittel ihrer Zusagen eingelöst. In den Jahren 2002 und 2003 betrug die Pro-Kopf-Hilfe für Afghanistan jährlich 57 US-Dollar. Das kontrastiert beispielsweise mit Ländern wie Bosnien oder Ost-Timor, in denen die jährliche Pro-Kopf-Hilfe in den ersten zwei Einsatzjahren 679 US-Dollar beziehungsweise 233 US-Dollar betragen hatte. In den Jahren 2007/2008 zeigte sich, dass afghanische Kriegsprovinzen wie Helmand, Zabul, Nimroz und Uruzgan eine Pro-Kopf-Hilfe von jährlich rund 200 US-Dollar erhalten haben. Relativ friedliche Provinzen dagegen, die zudem zu den ärmsten in Gesamtafghanistan zählen, wie beispielsweise Sari Pul, Daikundi oder Takhar, empfingen in diesen Jahren dagegen nur etwa 60 US-Dollar Pro-Kopf-Hilfe. Dieser Umstand hat zu Recht die Bewohner dieser Regionen fragen lassen, ob Krieg ein Kriterium für die Vergabe von zivilen Leistungen sei.

Besonders kritisch ist zudem, dass in Afghanistan große Teile der ohnehin spärlichen Entwicklungshilfe für sicherheitsrelevante Bereiche verausgabt werden und damit nicht mehr der Armutsbekämpfung zur Verfügung stehen. Über die Zivil-Miliärische Zusammenarbeit erfolgt dabei eine hochproblematische Vermischung, teilweise bis hin zu dem Punkt einer direkten Kriegsunterstützung. Ein Beitrag im »Small Wars Journal« (Mann 2008) mit dem bezeichnenden Titel »Die Integration von Spezialeinheiten und USAID in Afghanistan« etwa beschreibt, auf welche Weise die US-Entwicklungshilfeagentur dort einen direkten Beitrag zur Aufstandsbekämpfung leistet. Sie vergibt gezielt Gelder als „Belohnung für Gemeinden, die Aufständische hinausgeworfen haben“ und zur „Stärkung der örtlichen Bereitschaft und der Fähigkeiten, sich den Aufständischen zu widersetzen.“ Weiter gehe es für USAID darum, die „Aufständischen von der Bevölkerung zu isolieren.“ Der Beitrag endet folgerichtig mit dem Fazit: „Die Entwicklungshilfeagenturen müssen die Samthandschuhe ausziehen.“

Vor diesem Hintergrund kritisierte »Caritas international« (2008), dass „die Ausschüttung der Hilfsgelder nicht an den tatsächlichen Hilfs-Bedarf gekoppelt ist, sondern sich vielmehr an der Aufstandsbekämpfung orientiert.“ Damit verlieren zivile Organisationen, selbst die, die eine solche Kooperation ablehnen, ihre – für die Gewährleistung humanitärer Hilfe und für die Sicherheit der Helfer essenzielle – politische Neutralität. Sie werden in den Augen der afghanischen Bevölkerung zu integralen Bestandteilen des Besatzungsregimes und damit zu Gegnern. Zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch die »Stiftung Wissenschaft und Politik« (Hoffmann 2008, S.49): „Die Verquickung staatlicher und nichtstaatlicher Ansätze raubt der zivilen Hilfe zunehmend jene Eigenständigkeit, die sie gerade ihrem nicht-staatlichen Charakter verdankt, und lässt sie als Teil der politisch-militärischen Strategie der in Afghanistan präsenten Staaten erscheinen.“

All diese Faktoren tragen dazu bei, dass in Afghanistan erschreckenderweise weiterhin 4,5 Millionen Menschen unter extremem Mangel an Nahrungsmitteln und Trinkwasser leiden. Eine Millionen Kleinkinder und Babys sind unterernährt und haben weltweit gesehen mit die schlechtesten Chancen, ihr fünftes Lebensjahr zu erreichen. Auch im achten Jahr der internationalen Hilfe für Afghanistan zählt die Mütter- und Kindersterblichkeit zu den höchsten in der Welt. Nahezu fünf Millionen mehrheitlich unfreiwillige Rückkehrer aus den Nachbarstaaten Pakistan und Iran wissen nicht, wie sie ihren täglichen Lebensunterhalt bewältigen und wie sie in einem Land mit zerstörter Infrastruktur soziale und wirtschaftliche Perspektiven aufbauen können.

Auswege

In zwei Positionspapieren fordern die in Afghanistan engagierten deutschen Hilfsorganisationen folgerichtig von der internationalen Staatengemeinschaft dreierlei, will man nicht alsbald in Afghanistan scheitern (VENRO 2008/2009): Erstens muss in gemeinsamen Anstrengungen der Teufelskreis der Gewalt durchbrochen und eine realistische Exit-Strategie für das Militärengagement definiert werden. Zivile und militärische Mandate dürfen nicht vermischt werden, was in der Konsequenz bedeutet, dass »Regionale Wiederaufbauteams« (PRT) und »Regionale Beraterteams« (PAT) aufzulösen sind. Insbesondere wird auch vor Überlegungen gewarnt, dass die Zivil-Militärische Zusammenarbeit künftig von Afghanistan „auf andere Konflikt- beziehungsweise Post-Konfliktszenarien übertragen wird“ (VENRO 2009). Zweitens muss sich sowohl finanziell als auch in den Aktivitäten ein klarer Vorrang von zivilem Aufbau und nachhaltiger Entwicklung zeigen. Drittens sollen sich alle Seiten dafür einsetzen, Menschenrechte zu schützen und Versöhnung anzuregen. Dazu gehört, dass das von der Karzai-Regierung verabschiedete und von den USA unterstützte Amnestiegesetz zurückgenommen wird. Gerade die Kooperationen von NATO-Truppen und afghanischer Regierung mit ehemaligen Kriegsverbrechern und aktuellen Warlords sorgen für hohe Frustration innerhalb der afghanischen Zivilbevölkerung.

Diese drei Hauptanliegen benennen einen Rahmen, in dem die humanitäre Hilfe in Afghanistan neu gedeihen und ihre Kompetenz und ihre Nähe zur afghanischen Bevölkerung für eine bessere Zukunft einsetzen könnte. Durch eine erfolgreiche und von der afghanischen Bevölkerung anerkannte humanitäre Hilfe, Menschenrechts- und Entwicklungszusammenarbeit kann ein Beitrag geleistet werden, der insgesamt das Ansehen des Westens in ein vielschichtigeres und positiveres Licht hebt. 2009 wird für Afghanistan ein Schicksalsjahr. Es ist das Jahr, in dem der neue amerikanische Präsident Barack Obama neue Weichen für Afghanistan stellen will und in dem die afghanische Bevölkerung einen neuen Präsidenten wählt. Es ist ein Jahr, in dem die internationale Staatengemeinschaft endlich eine positive »Afghanisierung« zulassen sollte und in dem sie den schon lange verkündeten Strategiewechsel in konkrete Aktivitäten in den Bereichen Koordination, Ownership, Transparenz, Wiederaufbau und Sicherheit münden lassen sollte. Afghanistan braucht nicht mehr internationale Soldaten, sondern Geld und Investitionen, Geduld und Vertrauen, Koordination und Weitsicht – kurzum einen abgestimmten politischen Willen aller wichtiger Akteure.

Um diesen Willen zu rufen und einzufordern, müssen Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen künftig noch viel deutlicher machen, dass sie ausschließlich auf der Seite der bedrohten und verletzten afghanischen Zivilbevölkerung stehen, dass sie nicht Teil einer wie auch immer zu verstehenden okzidentalen Bedrohung sind (Buruma/ Margalit 2005). Um ihre Unabhängigkeit zu wahren und Vertrauen zu gewinnen, müssen sie sich gegen jedwede Instrumentalisierung wehren. Sie dürfen sich weder in einer zynischen Dialektik verlieren noch dort hineindrängen lassen. Es ist Zähigkeit und Phantasie gefragt, um den vielfältigen Bedrohungen zu widerstehen, um mit den Menschen in Afghanistan neue Wege der Hoffnung zu beschreiten. Peter Rühmkorf hat für das Widerstehen unvergessene Worte gefunden:

„Widersteht! im Siegen Ungeübte, zwischen Scylla hier und dort Charybde schwankt der Wechselkurs der Odyssee … Finsternis kommt reichlich nachgeflossen; aber du mit – such sie dir! – Genossen! teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr, leicht und jäh – Bleib erschütterbar! Bleib erschütterbar – und widersteh.“

Literatur

Buruma, Ian/Margalit, Avishai (2005): Okzidentalismus: Der Westen in den Augen seiner Feinde.

Caritas international 2008: Caritas fordert Strategiewechsel für Afghanistan.

Hoffmann, Claudia (2008): Das Problem der Sicherheit für NGOs in Afghanistan, in: Schmidt, Peter (Hg.): Das internationale Engagement in Afghanistan, SWP Studie, S.49-55.

Mann, Sloan (2008): The Integration of Special Operation Forces and USAID in Afghanistan, in: Small Wars Journal, August 2008.

Suhrke, Astrid (2008): A Contradictory Mission? NATO from Stabilization to Combat, in: International Peacekeeping, 15 (2): 214-236.

VENRO (2008): Perspektiven für Frieden, Wiederaufbau und Entwicklung in Afghanistan. Deutsche Hilfsorganisationen ziehen nach einem Jahr Bilanz. VENRO-Positionspapier.

VENRO (2009): Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan: Eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen Hilfsorganisationen.

Waldman, Matt (2008): Falling short: aid effectiveness in Afghanistan, in: ACBAR advocacy series.

Dr. Thorsten Hinz, Ethnologe und Philosoph, ist Afghanistan-Experte bei Caritas international, dem Hilfswerk der Deutschen Caritas, mit Sitz in Freiburg im Breisgau.

Afghanistan after Bush

Afghanistan after Bush

Neue Probleme, aber auch neue Chancen für die Friedensbewegung

von Peter Strutynski

Ute Finck-Krämer hat in der letzten Ausgabe von W&F den verdienstvollen Versuch unternommen, die Beziehungen zwischen Friedensbewegung und Friedensforschung im Lichte aktueller Entwicklungen in der internationalen Politik neu zu bestimmen. Herausgekommen ist eine beeindruckende Auflistung von Themen und Problemen, mit denen die Friedensbewegung konfrontiert ist und zu denen sie sich von der Friedensforschung, die diesen Namen auch verdient, da sie selbst ein ernsthaftes Interesse an gewaltfreier Konflikttransformation hat, wissenschaftliche Expertise und politische Unterstützung erwartet.

Im politischen Alltag agiert die Friedensbewegung häufig auf sich allein gestellt: Sie muss auf die Zumutungen der Rüstungs-, Militär- und Kriegspolitik der Herrschenden unmittelbar reagieren und kann nicht warten, bis dazu einschlägige Analysen aus den Friedensforschungsinstituten vorliegen. Hinzu kommt, dass friedenspolitische Positionen nicht immer auch wissenschaftlich fundiert oder gar »bewiesen« werden können – sie müssen vielmehr politisch entschieden werden. Ich möchte sogar einen Schritt weiter gehen und behaupte, dass auch wissenschaftliche Fragestellungen, Analysemethoden und Untersuchungsergebnisse häufig ein Politikum darstellen und keineswegs Resultat eines voraussetzungslosen und herrschaftsfreien Diskurses sind. So können die nachfolgenden Überlegungen sowohl als im weitesten Sinn wissenschaftlich beeinflusste Stellungnahme eines Friedensaktivisten als auch als politische Meinungsäußerung eines Friedensforschers gelesen werden.

Während George W. Bush in seiner achtjährigen Amtszeit kaum eine Gelegenheit ausließ, auf Probleme der internationalen Politik unilateral und – wenn es sich anbot – mit Gewalt zu antworten, ist die Welt voller Erwartungen und Hoffnungen, die sich an seinen Amtsnachfolger, Barack Obama, richten. Obamas historischer Wahlsieg vom 4. November 2008 hat aber nicht nur berechtigte Freude, sondern auch kritische Töne hervorgerufen, die umso lauter wurden, je deutlicher sich die personellen Konturen der künftigen US-Administration abzeichneten. Gründlichen Nachdenkens bedürfen aus friedenspolitischer Sicht vor allem die mit der Wahl Barack Obamas anstehenden bzw. möglichen Änderungen der (welt)politischen Rahmenbedingungen. Was also ist vernünftigerweise zu erwarten?

Als eine der wenigen Friedensgruppen, die sich zu Obama geäußert haben, hat der »Bundesausschuss Friedensratschlag« in einer ersten Stellungnahme am Tag des Wahlsiegs dessen außenpolitische Agenda einer kritischen Analyse unterzogen und ist dabei zu einer nüchternen Einschätzung gelangt.1 Neben einer Reihe positiver Ansätze – so etwa Obamas Plädoyer für eine atomwaffenfreie Welt, sein Angebot, auch mit »Schurkenstaaten« zu verhandeln oder sein Versprechen, das illegale US-Gefängnis in Guantanamo aufzulösen – findet sich bei ihm und seinem Beraterstab leider auch sehr viel Altvertrautes, darunter vor allem die noch in seiner Siegesrede in Chicago2 hervorgehobene Bestimmung der großen amerikanischen Nation zur »american leadership« in der Welt.

Obama und der israelisch-palästinensische Konflikt

Innerhalb dieser Führerschaft, die nichts anderes ist als die Fortsetzung des Unilateralismus der USA mit anderen Mitteln, gibt es zweifellos zahlreiche außenpolitische Themen, in denen ein partieller oder zumindest ein atmosphärischer Politikwechsel möglich erscheint. Dazu gehört die Wiederaufnahme von Verhandlungen im israelisch-palästinensischen Konflikt. Nachdem George W. Bush mit seinem großspurig begonnenen Annapolis-Projekt so kläglich gescheitert ist, dass selbst die gewiefte Taktikerin Condoleezza Rice bei ihrer letzten Nahost-Reise nur noch verschämt daran erinnern wollte und stattdessen die sehr viel ältere »road map« bemühte, könnte Obama die längst im Nirgendwo verlorenen Fäden des Friedensprozesses wieder ausfindig machen und zusammenführen.

Die Betonung liegt auf könnte, denn die Israellobby in den Vereinigten Staaten, der sich Obama seit seiner AIPAC-Rede im Juni d.J. in besonderer Weise verpflichtet fühlt3, schläft nicht. Die politische Führung und die Meinungselite Israels lässt keine Gelegenheit aus, Obama an seine ererbten Verpflichtungen zu erinnern. Die liberale »Haaretz« verwies unmittelbar nach der Wahl auf den Einfluss der jüdischen Gemeinde in den USA: „Der Natur der Sache gemäß wird ein demokratischer Präsident, der eine überwältigende jüdische Unterstützung erhalten hat, darauf achten, diese kleine, aber reiche und aktive Gemeinschaft nicht zu verprellen“ (Akiva Eldar in »Haaretz«, 05.11.2008). Und auch das Glückwunschschreiben des noch amtierenden israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert machte klar, wie eng der Spielraum eines US-Präsidenten in der Nahostfrage ist. Olmert: „Seien Sie ein großer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn Sie ein großer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein werden, versprechen Sie auch viel für Israel und für die gesamte Region und für alle unsere Nachbarn.“

So ist auch nicht daran zu zweifeln, dass Obama, zu dessen Nahost-Beratern zwei „Israel liebende Juden“ (»Haaretz«) gehören, der frühere Botschafter Dan Kertzer und der strategische Berater Dan Shapiro, dass also Obama der von den früheren Präsidenten übernommenen Verpflichtung zur Militärhilfe weiterhin nachkommen wird. Auch das hatte er in der erwähnten Rede bei der AIPAC-Konferenz versprochen, und seine außenpolitische Beraterin Susan Rice wiederholte diese Zusicherung laut »Haaretz« (06.11.2008) vor kurzem bei einem geschlossenen Treffen mit AIPAC-Aktivisten. Man darf darauf gespannt sein, ob und wie es Obama gelingen wird, auch die palästinensische Seite, einschließlich Hamas, in die Gespräche einzubeziehen. Wenn im Frühjahr 2009 laut Ankündigung des russischen Außenministers eine Nahost-Konferenz in Moskau stattfindet, könnte Obamas Teilnahme daran einen partiellen Kurswechsel der US-Nahostpolitik signalisieren; nicht in der Sache, wohl aber in der Form, und die Form ist in der Diplomatie nicht ganz unwichtig. Dies aber auch nur, wenn neben palästinensischen Vertreter aus dem Westjordanland auch Vertreter aus dem Gazastreifen teilnehmen würden.

Obama und der Iran

Gegenüber dem Iran hat sich Obama bei seiner AIPAC-Rede mindestens ebenso unversöhnlich geäußert, wie wir das von seinem Vorgänger gewöhnt sind. Er plädierte für schärfere Sanktionen auch ohne UNO und ließ keinen Zweifel daran, dass er sich auch eine militärische Option offen halten möchte. „Die Gefahr aus dem Iran ist real und mein Ziel wird es sein, diese Gefahr zu beseitigen“, sagte Obama der Pro-Israel-Lobby (nach eigenem Bekunden „America‘s leading pro-Israel lobby“) und fuhr fort: „Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um nukleare Waffen im Iran zu verhindern, alles!“ So ist denn auch das Gesprächsangebot Obamas an die Adresse der Gegner der USA eine zwiespältige Angelegenheit. In »Haaretz« werden dazu hohe israelische Beamte zitiert, die überzeugt davon seien, dass Obama nach dem Scheitern der Gespräche den Iran angreifen würde. Es wird sich zeigen, ob die künftige Iran-Politik allein vom israelischen Regierungsstandpunkt aus bestimmt wird oder ob sich aus der Gesprächsbereitschaft Obamas nicht doch noch eine andere Dynamik der Diplomatie entwickelt. Darauf zielte wohl auch das Glückwunschschreiben, das Mahmud Ahmadinedschad an Obama gerichtet hat4 [5] – zum ersten Mal seit 1979, dass überhaupt ein solcher Glückwunsch aus Teheran in Washington eintraf. Darin brachte der iranische Präsident nicht nur seine Hoffnungen und Erwartungen an eine veränderte US-Außenpolitik zum Ausdruck, eine Politik, „die die vollen Rechte aller Nationen ermutigt, besonders der unterdrückten Nationen Palästinas, Iraks und Afghanistans“. Er bot auch – wenngleich in sehr allgemeiner Form – seine Bereitschaft an, den USA hierbei entgegen zu kommen, sodass Hoffnung bestehe, „dass der allmächtige Gott helfen wird und dass der ungeheure Schaden, der in der Vergangenheit angerichtet wurde, etwas verringert werden kann“.

Wichtig wird jedenfalls sein, ob Obama, falls es tatsächlich zu direkten Gesprächen kommt, neben der Sicherheit der Atommacht Israels in der Region auch die berechtigten Sicherheitsinteressen der Nicht-Atommacht Iran ernst nimmt. Dies allerdings würde einen Bruch mit der US-amerikanischen Staatsdoktrin bedeuten. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist als sehr gering einzuschätzen und würde gegen Null tendieren, wenn Hillary Clinton neue Außenministerin würde. Immerhin hatte sie sich im Vorwahlkampf zu der Bemerkung hinreißen lassen, sie würde als Präsidentin im Fall eines iranischen Angriffs auf Israel den Iran angreifen und die USA seinen in der Lage, den Iran „komplett auszulöschen“ (Süddeutsche Zeitung, 23.04.2008).

Obama und die US-Raketenabwehr in Polen und Tschechien

Eher könnte positive Bewegung in die Raketenabwehrpläne Washingtons in Tschechien und Polen kommen. Im Wahlkampf hat Obama seine Entscheidung immer von der technischen Machbarkeit und der Finanzierung des Projekts abhängig gemacht. Solange hier nicht alle Zweifel ausgeräumt seien, neige er wohl eher dazu, das Vorhaben einzustellen. Wachsender Widerstand in Tschechien selbst gegen die geplante Radaranlage sowie die anhaltende Kritik aus Moskau, gepaart mit der Ankündigung einer konkreten Antwort in Form einer Raketenstationierung in Kaliningrad, sollten ihre Wirkung nicht verfehlen. Der Beraterstab um Obama vermeidet bisher jede klare Stellungnahme – so dass noch Hoffnung besteht, dass das Projekt in der ursprünglichen Form aufgegeben wird.

Der russische Präsident Medwedjew hatte in seiner Rede zur Lage der Nation am 5. November 2008 zunächst klar gestellt, dass als Gegenmaßnahme zu den US-Plänen in Kaliningrad Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander aufgestellt würden, was in Washington als Provokation gewertet wurde. Gut eine Woche später bot Medwedjew in einem Interview mit dem »Figaro« an, auf die Maßnahme in Kaliningrad ganz zu verzichten (»zero option«), wenn auch die USA einlenkten (13.11.2008). Die Antwort aus dem Pentagon vom noch amtierenden Verteidigungsminister Robert Gates fiel harsch aus: Medwedjews Ankündigung sei nicht ernst zu nehmen. Der US-Plan ziele nicht gegen Russland, sondern diene allein dem Schutz vor iranischen Mittelstreckenraketen. Was bleibt Medwedjew anderes übrig, als auf die neue Administration zu setzen. Im Interview liest sich das wie ein Mantra: „Die erste Reaktion, die wir von der neuen US-Administration erhalten, gibt uns begründete Hoffnung.“

Obama und der Irak

Am eindeutigsten waren bislang die Äußerungen Obamas, wenn es um die Zukunft des Irak ging. Er versprach im Wahlkampf des Öfteren, dass er als Präsident die US-Truppen binnen Jahresfrist aus dem Irak abziehen werde. Allerdings ließ er offen, wie viele reguläre Kampftruppen er in den US-Stützpunkten im Irak lassen werde und wie viele Söldner im Dienste privater »Sicherheitsfirmen« weiterhin dort bleiben würden. Deren Zahl wird heute auf über 150.000 geschätzt und übertrifft damit die Zahl der GIs, die im September 2008 mit 146.000 beziffert wurde.

Seine Irak-Position hat Obama in einem Namensartikel in der »New York Times« vom 14. Juli 2008 umrissen („My Plan for Iraq“). „Ich war gegen den Krieg in Irak, bevor er begann, und ich würde ihn als Präsident beenden“, schrieb er dort. Der Irakkrieg sei ein „großer Fehler“ gewesen und habe die USA vom Kampf gegen Al Kaida und die Taliban abgebracht. Irak hatte nichts zu tun mit 9/11 und stellte zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung für die USA dar. Obama ist auch überzeugt, dass die Iraker nach einem Abzug der Amerikaner selbst für Sicherheit sorgen können.

So weit, so gut. Für Obama ist es mit dem Abzug aus dem Irak aber nicht getan. Seine Fürsorge gilt nicht etwa den US-Soldaten, die endlich nach Hause zurück geholt würden, wie es die amerikanische Friedensbewegung mit Unterstützung der Mehrheit der US-Bevölkerung fordert. Sondern am liebsten würde er zumindest einen Teil der Truppen gleich weiter nach Mittelasien schicken. Das eigentliche strategische Ziel der USA liegt nämlich nach Überzeugung Obamas in Afghanistan und Pakistan. Mindestens zwei zusätzliche Kampfbrigaden würde er nach Afghanistan schicken, versprach Obama. „Ich werde den Krieg im Irak verantwortungsbewusst beenden und den Kampf gegen Al Kaida und die Taliban in Afghanistan zu Ende führen“, verkündete Obama auch auf dem Nominierungsparteitag Ende August 2008 in Denver. Gleichzeitig droht er Islamabad ganz unverhohlen, auch ohne Zustimmung auf pakistanischem Territorium militärisch aktiv zu werden: „Falls es nicht mit uns zusammen arbeiten will, muss es Pakistan klar sein, dass wir wichtige Terroristenziele wie Bin Laden angreifen werden, wenn wir sie in unserem Visier haben.“5

Obama, Afghanistan und die Friedensbewegung

Somit bekommt die Friedensbewegung der USA ein neues Problem. Der Afghanistankrieg stand stets im Schatten des großen Irakkriegs – was die Zahl der operierenden Truppen, aber auch was die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit betraf. Auch die Friedensbewegung – von kleinen »radikalen« Gruppierungen abgesehen – kümmerte sich nicht um den Krieg am Hindukusch. Das beginnt sich jedoch zu ändern und dürfte zu einer Neupositionierung der Friedensbewegung führen, wenn die Irakfrage erst einmal im Sinne Obamas »gelöst« ist. Die US-Organisation »Code Pink«, die einen sehr engagierten Wahlkampf für Obama gemacht hatte, meldete unmittelbar nach dessen Sieg ihre Forderung an: „Wir wollen nicht, dass die Truppen aus dem Irak in einen anderen aussichtslosen Krieg nach Afghanistan umgelenkt werden“, heißt es in einer Stellungnahme vom 5. November.6

Diesen Gefallen wird ihnen Obama nicht tun. Er wird aber die Truppen, die aus dem Irak abgezogen werden, auch nicht eins zu eins nach Afghanistan weiterschicken. Geplant ist bisher, dass die derzeit in Afghanistan stationierten 31.000 US-Soldaten um bis zu 20.000 Soldaten verstärkt werden sollen. Per Saldo würden also – vorübergehend – doch sehr viel mehr Soldaten wieder in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Damit wäre der Friedensbewegung scheinbar ein Stück weit entgegen gekommen, und es ist von einem längeren Prozess der Informations- und Aufklärungsarbeit auszugehen, bevor der sich ausweitende Krieg in und um Afghanistan die amerikanische Gesellschaft ähnlich stark tangiert, wie es der Irakkrieg getan hat.

Ähnlichen Mobilisierungsschwierigkeiten dürfte sich auch die Friedensbewegung in Deutschland gegenüber sehen. Schon bisher fehlte der Bewegung der große Schwung. Trotz erheblicher gemeinsamer Anstrengungen ist die Friedensbewegung mit ihrer Afghanistan-Kampagne auch 2008 keinen entscheidenden Schritt voran gekommen – die Zunahme der Nein-Stimmen im Bundestag gegen den ISAF-Einsatz ist zu gering ausgefallen und die Verbreiterung des aktiven Protestes in andere soziale Bewegungen (v.a. die Gewerkschaften) und gesellschaftliche Gruppen hinein ist im wesentlichen nicht erfolgt. Dem widerspricht nicht, dass es in der Bevölkerung nach wie vor eine stabile Mehrheit gegen den Afghanistankrieg gibt. Sie lässt sich nur nicht »auf die Straße« bringen – aus Gründen, die ich an anderer Stelle diskutiert habe.7 Dennoch sind die Friedensaktivistinnen und -aktivisten nach wie vor überzeugt, dass die Afghanistanfrage auch in Zukunft ein Einheit stiftender Kristallisationspunkt der Friedensbewegung in ihrer sonstigen Vielfalt bleiben wird.

Die Aussichten auf eine Verbesserung der Mobilisierungsfähigkeit der kriegskritischen Bevölkerung sind auch nur verhalten optimistisch einzuschätzen, zumal sich die künftige Afghanistan-Politik der Bundesregierung noch stärker positiv auf die scheinbar kooperativere und verbindlichere Politik der Obama-Administration beziehen wird.

Und der Druck aus Washington wird stärker werden und er wird zudem von wichtigen europäischen »Partnern« an die Berliner Adresse weiter gegeben. Ein Beispiel hierfür lieferte bereits Großbritannien ab. London steht bereits heute unter dem Druck Washingtons, mehr Truppen nach Afghanistan senden zu sollen. Zumal bis zum Jahresende 2008 ca. 4.000 britischen Truppen aus dem südlichen Irak (Basra) abgezogen sein werden. Der Chef der Royal Air Force, Marshal Sir Jock Stirrup, trat allen Mutmaßungen über eine umstandslose Verlegung der Irak-Verbände nach Afghanistan mit zwei Begründungen entgegen (»The Guardian« 10.11.2008): Einmal sei das britische Militär durch den Irakeinsatz überbeansprucht gewesen und müsse jetzt die Gelegenheit wahrnehmen, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Und zweitens müssten andere Nationen stärker herangezogen werden. Der britische Außenminister David Miliband assistierte seinem Stabschef und wies darauf hin, dass die Lasten im Bündnis bislang sehr „unfair“ verteilt wären. Immerhin stehen 8.000 britische Soldaten in Afghanistan, sie stellen somit das zweitgrößte Kontingent der NATO. London sei im Falle einer Anforderung von Obama bereit, mehr Ausrüstung in den Süden Afghanistans zu schicken; von den 4.000 aus Irak abgezogenen Soldaten könnten aber höchstens „ein paar hundert“ abgezweigt werden.

Die Botschaft an andere Staaten ist somit klar. Berlin hat mit dem ISAF-Beschluss vom Oktober 2008 einen geschickten Schachzug getan. Einerseits hat es die Truppen von 3.500 auf die neue Obergrenze von 4.500 erhöht und damit evtl. Forderungen aus Washington, London oder Brüssel ein wenig den Wind aus den Segeln genommen. Zum anderen wurde das Mandat diesmal nicht um zwölf, sondern um 14 Monate verlängert. Das hat gleich drei Vorteile. Gegenüber dem Ausland wird Berlin argumentieren können, dass man an die demokratischen Entscheidungen des Parlaments gebunden sei. Und im Inneren können sich Merkel und Steinmeier als große Verweigerer darstellen, die den Anfechtungen aus Washington trotzig ihren Bundestagsbeschluss entgegen halten: „Wir haben unseren amerikanischen Freunden gesagt, dass wir zur Zeit keinen Spielraum haben, die Truppen in Afghanistan weiter zu erhöhen.“ Und schließlich wird versucht werden, die Öffentlichkeit auf den nächsten Bundestag zu verweisen und somit die Debatte aus dem Wahlkampf heraus zu halten. Dies zu vereiteln, ist die vordringlichste Aufgabe der Friedensbewegung im Superwahljahr 2009.

Ausblick

Barack Obama hat seit seinem Wahlsieg viele gute und schlechte Ratschläge bekommen. Die schlechtesten kamen von seinen politischen Gegnern der Republikanischen Partei, die plötzlich so taten, als müsse der Präsident der USA alle Amerikaner vertreten, also auch die konservativste und reaktionärste Variante des »american way of life«. Dabei hatte doch gerade »ihr« Präsident George W. Bush acht Jahre lang ohne jede Rücksicht auf die Opposition, ohne Rücksicht auf die wachsende Kriegsgegnerschaft der Bevölkerung und die Weltmeinung regiert. Das Wahlergebnis vom 4. November 2008 zeigte unmissverständlich, dass diese Politik nicht mehr gewünscht wurde. Es ist zu hoffen, dass Obama diese Lehre nicht vergisst. In seinem ersten Interview nach dem Wahlsieg hat er jedenfalls unterschiedliche Signale ausgesandt: Einerseits wiederholte er sein Wahlversprechen, dass er beabsichtige, das extralegale Gefangenenlager in Guantánamo zu schließen und dass er keine Folter zulassen werde. Andererseits betonte er in markigen Worten die Notwendigkeit der Verlagerung des Krieges nach Afghanistan, um Al Kaida „auszurotten“ und Osama Bin Laden gefangen zu nehmen oder zu töten.8

Aus Sicht der europäischen politischen Klasse kommt Obama gerade zur richtigen Zeit. Das System Bush war zuletzt doch selbst in konservativen Kreisen diskreditiert, nicht weil sie seine Grundüberzeugungen nicht weiterhin teilen würden, sondern weil sie spüren, dass die gegenwärtige Krise der globalen Finanzmärkte, die ihren Ausgang zweifellos in den USA genommen hat, mit den üblichen neoliberalen Beschwörungsformeln nicht zu meistern sein wird. Im parteiübergreifenden Jubel über Obamas Wahlsieg spiegelt sich eben auch die Erkenntnis, dass die für notwendig erachteten Stabilisierungsmaßnahmen des Finanzsystems glaubwürdig nur von einer neuen Administration in Angriff genommen werden können. Obama steht für die Re-Regulierung der Finanzmärkte ebenso wie für die Wiederentdeckung des sozialen Wohlfahrtsstaats und für mehr Kooperation in der Außenpolitik. Selten war der Ruf nach Multilateralismus in der Weltpolitik lauter als heute, da der Crash der Finanzmärkte uns die Grenzen des »grenzenlosen« Globalismus so drastisch vor Augen führte. Die Europäische Union hat dies als Chance gesehen und internationale Mechanismen zur Kontrolle der Finanzmärkte verlangt – vielleicht ein erster Schritt zu einer neuen Regulationsweise des imperialen Kapitalismus.

Eine solche Sicht verträgt sich dann aber nicht mehr mit einer Politik der Alleingänge, der Hemdsärmeligkeit und der Dominanz in der Welt. Dass die USA zur Führerschaft in der Welt auserkoren sind, glaubt auch Obama. Neben »change« war »leadership« die meist gebrauchte politische Vokabel in seinem Wahlkampf. Im Unterschied zu den traditionalistischen Kräften des nordamerikanischen Hegemonialdenkens versucht Obama, amerikanische Vorherrschaft nicht konfrontativ, sondern kooperativ und konsensual herzustellen. Er wird die Bündnispartner in der NATO zu überzeugen versuchen, dass sie mehr für ihre eigene und die Sicherheit des Bündnisses tun sollen. Er wird in Afghanistan mit »gutem Beispiel« vorangehen und mehr US-Truppen in den Krieg schicken und dabei erwarten, dass andere Partner gleiches tun. Mit anderen Worten: Bush war für die Friedensbewegung in den USA und hier zu Lande der einfachere Gegner. Obama ist schwerer zu nehmen. Allerdings hat er so viele Hoffnungen auf ein »change« geweckt, dass seine Anhänger im Inneren und im Ausland die Fortsetzung der US-Politik »mit anderen Mitteln« nicht hinnehmen werden. Afghanistan könnte bald selbst in den USA zum Lackmustest der Friedensfähigkeit der neuen Administration werden und die hiesigen Kriegsbefürworter können dann nicht mehr im Windschatten seines guten Rufs ihr Handwerk betreiben.

Anmerkungen

1) Getrübte Freude in der Friedensbewegung über den neuen US-Präsidenten. Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag zum Wahlsieg Obamas, 5. November 2008 (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/obama-baf.html).

2) „Yes, we can“. Rede nach dem Wahlsieg am 4. November 2008 in Chicago (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/obama5.html).

3) „Wer Israel bedroht, bedroht uns“. Rede auf der AIPAC-Konferenz am 4. Juni 2008 in Washington DC (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Iran/obama.html). AIPAC = American Israel Public Affairs Committee.

4) „Pfad der Rechtschaffenheit“. Glückwunschschreiben des iranischen Präsidenten an Barack Obama vom 6. November 2008 (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Iran/obama2.html).

5) Zit. nach Wolfgang Kötter: Kein Friedensengel im Weißen Haus (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/koetter.html).

6) Stellungnahmen aus der deutschen und amerikanischen Friedensbewegung zur Wahl von Obama (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/obama-baf.html).

7) Umfrageergebnisse ersetzen keine Bewegung. Probleme und Perspektiven der Afghanistan-Kampagne der Friedensbewegung, von Peter Strutynski (http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Afghanistan/strutynski7.html).

8) Barack Obama im Interview beim US-Fernsehsender CBS am 16. November 2008.

Dr. Peter Strutynski ist Mitbegründer und langjähriges Mitglied der AG Friedensforschung an der Universität Kassel sowie Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.