Interview mit Johan Galtung

Interview mit Johan Galtung

Die Fragen stellte Hajo Schmidt

Am 24. Oktober dieses Jahres begeht der norwegische Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung seinen 80. Geburtstag. Johan Galtung, »von Freund und Feind« als ein Begründer der modernen Friedensforschung bezeichnet, hat auch im deutschsprachigen Raum auf Friedenswissenschaft und Friedenspraxis eminenten Einfluss ausgeübt.

Mit 80 Jahren darf sich auch ein so erfahrener und erfolgreicher Friedensforscher und Friedensaktivist wie Du die Frage stellen: Hätte aus mir vielleicht etwas ganz anderes werden können?

Ganz gewiss – hätte ich mich damals, 1951, nur nicht irgendwie berufen gefühlt, bei der Entwicklung einer konflikt- und friedensorientierten Wissenschaft helfen zu können. Bis dahin war der Beruf meines Vaters, also Arzt, aber dann auch die theoretische Chemie und die Physik im Spiel, sie alle aber konnten sich nicht gegenüber meiner neuen Berufung behaupten. Zwar schloss ich meine Mathematik-Studien ab und wusste eine Menge über Mathe, wusste aber auch, dass mir das gewisse Etwas fehlte, das einen richtigen Mathematiker ausmacht – so wie die Musikalität den Musiker. Ich hätte einen ganz ordentlichen Soziologen abgeben können, und könnte behaupten, dass ich dies in Bezug auf Konflikte auch bin. Aber das waren letztlich alles nur Mittel zum Zweck: Friedensstudien.

Das ist die Macht einer ursprünglichen, nunmehr fast 60 Jahre währenden Bindung, und ich bin glücklich und auch ein wenig stolz, ihr die Treue bewahrt zu haben, großartig unterstützt dabei von meinen beiden Frauen: zu Beginn von Ingrid in Norwegen und ab 1969 dann von Fumi in der ganzen Welt.

Welche Erfahrungen und Erlebnisse haben Dich definitiv auf den Weg der Friedensforschung und Konfliktbearbeitung gebracht? Ich denke dabei auch an Gefängniserfahrungen, die »Dritte Welt«-Armut oder die Heirat mit Fumi.

Ich denke, lebensweltlich habe ich ein Doppeltes erfahren. Da ist einmal die Wirkung erlebter Gewalt, insbesondere, als mir die norwegische Staatspolizei im Auftrag der deutschen Besatzer den Vater wegnahm und in ein KZ steckte. Aber auch das ganze Leiden, auf das ich überall in der Welt stieß, sei es nun direkt oder strukturell verursacht. Aber, gleich wichtig oder wichtiger noch: die Erfahrung des Gegenteils! Ich weiß, dass Liebe, Fürsorge, Füreinandereinstehen möglich sind, weil ich davon so viel von liebevollen Eltern mitbekommen habe. Wäre es anders gewesen, hätte man mich gewalttätiger behandelt, hätte ich mich vielleicht statt dessen im Bereich der Sicherheitsstudien engagiert! Und dann die Erfahrung des Wohlfahrtsstaats, dessen Entwicklung ich von etwa meinem zehnten bis fünfunddreißigsten Lebensjahr verfolgte, der zeigte, was möglich ist, der eine Menge Elend beseitigte, bis er dann auch seine eigenen Widersprüche schuf. Und ich erlebte, dass Nachbarstaaten friedlich kooperieren und in Harmonie leben können: die Nordischen Staaten, die zu einer wachsenden, immer stärkeren Eintracht fanden, als die Karikaturen einer Beziehung, nämlich Krieg und Besatzung, beendet wurden. Das waren wirklich starke Erfahrungen!

Gefängnis: Das war natürlich wichtig, um die Welt von unten zu sehen. Viele Dialoge, eine Doktorarbeit und ein Buch entwickelten sich daraus. Aber auch die Wahrnehmung der Absurdität des Systems, was mich später sehr empfänglich machte für alternative Umgangsweisen mit dem, was wir Verbrechen nennen, z.B. in der polynesischen Methode des h‘o pono pono.1

Lateinamerika: das Leiden an der Armut, an das Du erinnert hast, und an der Erfahrung, immer wieder von jemandem hoch aus dem Norden überfallen zu werden, wenn man etwas zu verändern suchte, um sich von den Entsetzlichkeiten zu befreien, die die große Mehrheit quälten.

Und Fumi natürlich: eine immer gegenwärtige Führerin, die Welt und die Dinge anders zu sehen als gewohnt, so wie ich es in meiner Widmung für sie in »A Theory of Civilisation« zum Ausdruck bringe.2.

Von welchen Wissenschaftlern, Denkern, Schriftstellern hast Du Dich besonders angesprochen und bereichert gefühlt?

Hier nur die wichtigsten. Grundlegend war Ibn Khaldun, vor ihm Sorokin und Toynbee. Marx und Smith, Kant und Freud. Nakamura. Die Weisheit der heiligen Texte, in Bibel, Koran, Bhagavadgita, Dao-De-Jing, den Analekten. Gandhi als Sozialwissenschaftler. Aber mehr als aus Überlegungen in den Schriften anderer Leute lernte ich durch die Beobachtung von und das Gespräch mit Menschen aus aller Welt. Ich verfahre eigentlich ganz empirisch und pragmatisch, respektiere meine eigenen Beobachtungen, gleiche sie ab mit denen von anderen und schaue mich dann ganz nüchtern überall in der Welt um nach etwas, das zu funktionieren scheint – wobei ich Bestätigungen und Erfolge sammle, wie ich früher, als Kind, Briefmarken gesammelt habe.

Ich wollte weiter gehen, Gegebenes transzendieren, und glaubte, dazu die condition humaine mehr von oben betrachten zu sollen, nicht einfach als komparative Soziologie, sondern als Soziologie Europas, des Westens, ja, der Welt; und dies nicht nur für die unmittelbare Gegenwart, sondern für zunehmend ehrgeizigere Zeitspannen. Makro-, Weltgeschichte. Und sehr bald fand ich heraus, dass nur wenige auf diesen Spuren wandelten, und dass von diesen viele nicht tief genug gegraben haben dürften – nach ihren eigenen unterbewussten Mythen nämlich, nach der Tiefenkultur und Tiefenstruktur, die ihre Arbeit konditionieren. Habe ich vielleicht ebenso viele Bücher geschrieben (151), wie ich einlässlich gelesen habe? Aber auf einem etwas oberflächlicheren Niveau bin ich wirklich ein gefräßiger Leser.

Ein psychoanalytisch geschulter Leser Deiner Werke, incl. der faszinierenden Autobiographie, könnte sich zu der Charakterisierung versteigen: Galtungs Existenz spannt sich auf zwischen dem Trauma vielfältigster Gewalterfahrung und dem Phantasma der Verwandlung dieser Gewalt in sozialen Kitt und humane Bereicherung. Würdest Du in dieser Kennzeichnung Deine Motive und Bemühungen auf‘s Knappste zusammengefasst erkennen, oder was würdest Du entgegnen?

Überschätze meine Traumata nicht, die nehmen sich doch recht bescheiden aus im Verhältnis zu der Liebe, die ich erfahren habe, und, ja, auch dem (z.B. meinen guten Schulleistungen geschuldeten) Erfolg. Nein, es war mehr das Gefühl, von meinen Talenten einen guten Gebrauch machen zu sollen, und dann das Gefühl, diesen gefunden zu haben. Die Galtungs, seit den Tagen der Wikinger eine alte Familie des niederen Adels, versehen mit dem Stempel »noblesse oblige«, der mich nicht weniger prägte. Vielleicht ging’s also mehr um ein gewisses Elitedenken als um Psychoanalyse?

Als ich Dich Anfang der Achtziger Jahre näher kennen lernte, warst Du für mich und viele meiner KollegInnen der Entdecker einer strukturellen, also in den politischen und ökonomischen Strukturen steckender und durch diese wirkender Gewalt. Wie kam es zur Erweiterung des Gewaltverständnisses um die »kulturelle Gewalt«, und welche Folgen hatte diese Komplettierung zur Gewalttrias von direkter, struktureller und kultureller Gewalt für Dein Friedensdenken und -handeln?

Alles ging aus von der direkten Gewalt und der ewigen Frage nach deren Ursachen, die man dann ja vielleicht beseitigen könnte. Eine wesentliche Annahme bestand darin, dass solcherlei Ursachen teilweise verborgen sein könnten, und ich war beeindruckt von dem formelhaften Gerede der Militärs und sicherheitsorientierten Leute, wenn sie von »Absicht« oder »Fähigkeit« (und Umständen) sprachen. Das ist vielleicht wichtig, wenn man mögliche Feinde zu identifizieren sucht, aber es ist zu bewusst, zu rational, um allein das einschlägige Feld abzustecken, indem man die ganze Welt auf böse Absichten und starke Kapazitäten hin absucht. Das Material also, aus dem Kriege entstehen.

Da ich ein wenig über nicht-indoeuropäische Sprachen gearbeitet hatte, stellte ich mir die Frage: Hat vielleicht die Sprachstruktur etwas mit dieser Problematik zu tun? Ein gut geformter Satz hat Subjekt, Prädikat, Objekt, wobei das Objekt dann das Opfer der Gewalt bezeichnet und das Prädikat eine Tätigkeit, aus der Schaden und Schmerz resultiert. Könnte es nun sein, dass die Idee eines Subjekts uns die »Wer war’s«-Frage stellen, nach einem »whodunit« fragen lässt, nach einem Akteur hinter dem Akt, einem Subjekt mit bestimmter Absicht? Wie verhielte es sich im Falle eines subjekt-freien Satzes, wo Gewalt sich einfach ereignet? Verloren Menschen ihr Leben und Auskommen nicht auch aus anderen Gründen als durch intendiertes Töten und zum Krüppel Machen?

Und hier kommt nun die Soziologie ins Spiel: Eine Struktur schreibt den Menschen gewisse Handlungsweisen, Handlungsgewohnheiten vor; es geht hier mehr um ein Sich-Verhalten als ein Handeln – ein Verhalten, auf das man sich einlässt, weil’s alle so machen, ohne weiteres Nachdenken. Oder um Nicht-Handeln, Akte des Unterlassens: Man tut nichts, wiederum ohne weitere Absicht. Das Ergebnis wäre strukturelle Gewalt, verborgen im Wirken der Tiefenstrukturen, welches das unangeleitete Auge schwer nur wahrnimmt. Aber ich fühlte, dass diese Gewaltverhältnisse, wie direkte Gewalt, aufrechterhalten werden müssen, und zwar durch etwas Solideres als individuelle Absichten.

Dies fand ich nun in der Tiefenkultur, in Ideen, die auch das legitimieren, was sich für bestimmte Menschen als zerstörerisch erweist, man denke an das »survival of the fittest«, die »Armut als Fingerzeig Gottes« und Ähnliches. Das Problem besteht dann darin, diese Tiefenphänomene aufzudecken, und der Mediations-Dialog kann dafür als ein Ansatz dienen: Was veranlasst Dich, genau dieses zu fühlen, zu denken, zu sagen? Ein anderer besteht in der mehr objektivierenden strukturellen und kulturellen Analyse, die nicht mit der Erforschung der öffentlichen Meinung oder der Frage, wie die Kindheit das Weltbild politischer Führer formt, verwechselt werden darf. Wir suchen nach etwas, das einwirkt auf uns alle, aber als etwas Verborgenes. Und das auch Mediatoren nicht ausspart, die ihrerseits jemanden brauchen, der seine oder ihre verborgenen Unterstellungen und Voreingenommenheiten aufdeckt. Hier vor allem ist der Ort, an dem Fumi eine so bedeutsame Quelle der Einsicht für mich darstellt.

Deine Beschäftigung mit den unterschiedlichen Tiefenkulturen der großen Zivilisationen hat auch Ausdruck gefunden in einer neuen, erweiterten Ökonomie- und Entwicklungstheorie. Inwiefern kann diese sich durch die gegenwärtige Finanzkrise bestätigt sehen?

Wenn man ein auf unbegrenztes unendliches Wachstum ausgerichtetes lineares System in eine materialiter endliche Welt einbaut, dann sollte es niemanden überraschen, wenn man früher oder später mit dem Kopf gegen die Wand läuft. Dann kann man versuchen, dieser Situation zu entkommen, indem man eine Finanzökonomie erfindet, die symbolisch ist und sich auf Ziffern auf Bildschirmen und Papier gründet. Nur, wenn die angezeigten Werte nicht gestützt werden durch eine Realökonomie, die sie unterstellterweise zur Grundlage haben und irgendwie reflektieren sollten, dann wird das Ergebnis in kurzen oder tiefer gehenden Crashs bestehen. Im Moment begehen wir beide Fehler gleichzeitig. Nein, die Finanzkrise war so leicht in meinen Theorien seit den frühen 1980er Jahren vorhersehbar, dass ihre Voraussage Züge des Trivialen, des Offensichtlichen hatte. Nur, es wird weiter gehen, in Anbetracht der Unfähigkeit des Westens, den Finanzsektor zu zähmen, und die Realökonomie wieder in Gang zu bekommen. China hat das entgegengesetzte Profil, nämlich eine blühende Realökonomie und eine vernünftig kontrollierte Finanzökonomie. Zumindest fürs erste. Und im übrigen geht’s in Richtung »grüne Ökonomie«…

Und was wären die Maximen einer wirklich an der Verbesserung des Schicksals der großen Bevölkerungsmehrheit interessierten, friedensorientierten Entwicklungspolitik?

Ich denke hier an eine Kombination des marxistischen Bestehens auf Grundbedürfnissen, des buddhistischen »nicht zu viel und nicht zu wenig«, der islamischen Idee der Nähe und des Teilens sowie der japanisch-chinesischen Art des Überwindens von Gegensätzen, wobei soziale Harmonie das umfassende Ziel abgibt. Dazu nehmen würde ich, aus der Tradition des liberalen Westens, ökonomisches Wachstum, Demokratie und Menschenrechte, aber alle drei Posten so verstanden, dass sie nicht allein westliche Kultur und Auffassungen reflektieren. So wie es detaillierter beschrieben ist in meiner »A Theory of Development« und in dem Titel von Paul Scott und mir, »Democracy – Peace – Development«.

Die Ausrichtung des wissenschaftlichen Tuns an der Pazifizierung und Humanisierung der Weltverhältnisse zeigte sich früh schon in Deiner Empirismuskritik und dem Umbau der Friedenswissenschaft zu einer »trilateralen«, einer empirisch-kritisch-konstruktiven Sozialwissenschaft. Inwiefern ist auch die Gründung von TRANSCEND Resultat dieser Denkhaltung? Welche Rolle spielt TRANSCEND nun in deinem Leben und Selbstverständnis?

TRANSCEND als ein Netzwerk von Wissenschaftlern/Aktivisten ist die Verkörperung der Idee, Theorie und Praxis zu verbinden, die ich der medizinischen Wissenschaft entliehen habe, oder anders: den Gesundheitsstudien, wie ich sie zu bezeichnen vorziehe. Aber das bedurfte einer philosophischen Unterfütterung, und die Idee einer trilateralen Wissenschaft, die nicht allein auf Daten und Theorie, sondern auch auf expliziten, präzisen Werten beruht, war das Ergebnis. Das habe ich alles ausgearbeitet in dem Buch »50 Years: 25 Intellectual Landscapes Explored«, das den Versuch darstellt, eine für meinen Geschmack befriedigendere epistemologische Basis zu entwickeln für die Sozialwissenschaften ganz allgemein, nicht nur für Friedensstudien, ein Versuch, der weit über das Gespann Aristoteles – Descartes – Weber hinausgeht. Vorstellungen des Okzidents wie des Orients habe ich als Grundbausteine in das Unternehmen eingebracht, was einige Leute, vornehmlich Deutsche, dazu brachte, mich als Esoteriker zu bezeichnen. Natürlich könnte ich mit gleicher Münze heimzahlen und sie als Provinzler bezeichnen, deren Außenwelt sich auf die kleine Europäische Halbinsel reduziert. Aber lieber würde ich sie einladen, das Buch zu lesen und sich dann selbst zu fragen, ob das »sowohl als auch«, für das ich stehe, uns nicht zu einem besseren Verständnis einer sich globalisierenden Welt verhilft.

Welche Empfehlungen zur Bearbeitung und/oder Transformation des Afghanistan-Konflikts – wenn diese vereinfachende Kennzeichnung gestattet ist – gibt ein an TRANSCEND geschulter Blick?

Ich stehe zu dem, was bei der großen TRANSCEND-Mediation vom Februar 2001 auf den Tisch kam, man vergleiche »50 Years: 100 Peace & Conflict Perspectives«. Hier folgen die grundlegenden Gesichtspunkte:

Alle ausländischen Truppen müssen raus – das bezieht sich auf die Uniformen und nicht notwendigerweise auf die Menschen;

eine Koalitionsregierung mit den Taliban, die von deren moralischer Einstellung Gebrauch macht;

Afghanistan als eine Föderation, welche die Autonomie der den Staat konstituierenden Nationen und die lokale Autonomie von 20.000 Dörfern respektiert – diesbetreffend ist das vergleichbarste Land die Schweiz, insofern beide einen Kern haben, der den Nachbarn abgeht, und gleichwohl sehr viel Gemeinsames mit ihnen;

Afghanistan als wichtiger Teil einer Zentralasiatischen Gemeinschaft, gebildet aus den Nachbarländern mit Einschluss Chinas (aber nicht Russlands und Indiens), die ihre Grenzen öffnet für Menschen derselben Sprache und desselben Glaubens;

eine an menschlichen Grundbedürfnissen orientierte Politik, die den unteren Schichten aufhilft in Bezug auf Ernährung, Kleidung, Unterkunft, Gesundheit und Erziehung, ungeachtet der jeweiligen Nation und des jeweiligen Geschlechts. Von muslimischen Bruderstaaten wie Tunesien, der Türkei, Indonesien oder Mindanao muss Afghanistan lernen, wie man dies in Bezug auf die Gender-Problematik tut.

Für Sicherheit soll gesorgt werden durch die Zusammenarbeit von OEC, der Organization of the Islamic Conference, was auf dieselben Länder verweist, und dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – nicht aber den USA, der NATO und dieser ISAF-Koalition.

Wir brauchen eine internationale, von den Vereinten Nationen gesponsorte Konferenz, mit den USA als Beobachter, da sie nicht zu Zentralasien gehören. Die Shanghai Cooperation Organization, SCO, und ECO, die Economic Cooperation Organization der Türkei, des Iran und Pakistans werden wichtige Rollen spielen.

Was sind, um zum Schluss zu kommen, Deine vier wichtigsten Bücher?

Ohne Zweifel die vier, die in diesem Herbst herauskommen: »A Theory of Conflict«, »A Theory of Development«, »A Theory of Civilization« und »A Theory of Peace«, alle bei TRANSCEND University Press. Ich habe an ihnen über Jahrzehnte gearbeitet, und sie gehen weit hinaus über Zusammenfassungen von bereits Publiziertem und entwickeln neue Ideen. Ich warne aber davor, sie als Einführungstexte nutzen zu wollen, setzen sie doch voraus, grundlegendere Texte vorher gelesen zu haben. Sie erscheinen so spät, weil ich unbedingt wollte, dass sie von der konkreten Praxis inspiriert seien und nicht von der üblichen Praxis des Aufsuchens von Bibliotheken – ich spüre diesen Mangel an Wirklichkeitsnähe bei den meisten akademischen Autoren, bei einem Habermas etwa, aber auch bei mir noch vor einigen Jahrzehnten.

Und welches Deiner Bücher ist Dein Lieblingsbuch?

Nun, am ehesten vielleicht das genannte Buch über Epistemologie, die »25 Landscapes«; vielleicht fühle ich darin doch einige grundlegende Durchbrüche auf dieser Reflexionsebene. Eine Wissenschaft, die sich symmetrisch verhält zu Vergangenheit und Gegenwart, die Holismus und Dialektik paart mit Atomismus und Deduktion etc. Aber was die Praxis betrifft, ist das Flagschiff natürlich das vorher schon genannte »50 Years: 100 Conflict & Peace Perspectives« – ich bin stolz auf die Arbeit, die dahinter steckt.

Was macht der Mensch mit 80, oder: Wird Dein Leben, lieber Johan, sich verändern?

Oh ja! Es gibt immer noch einige akademische Arbeiten, die ich fertig stellen muss, aber das nähert sich seinem Ende. Vielleicht werde ich mich dann auf eine andere Art des Kommunizierens verlegen, fasziniert vom Drama, wie ich es immer gewesen bin. Aspektreich, pointiert, dialogisch. Ob es den Weg ins Theater findet, ist weniger wichtig, die Art und Weise des Kommunizierens, das ist es, worauf es mir ankommt. Um einen kleinen Vorgeschmack zu bekommen, kann man sich meine Stücke in dem gemeinsam mit Graeme McQueen verfassten Buch »Globalising God« ansehen sowie in den »Peace Plays«, die ich mit zwei weiteren Amateur-Dramatikern, Vithal Rajan und S.P. Udayakumar, für TRANSCEND University Press Popular geschrieben habe.

Ich bin so unendlich dankbar für das reichhaltige Leben, das zu führen ich das Privileg habe! Wenn ich mich dabei verstrickt fühle in einen Überlebenswettbewerb mit dem US-Empire, so bin ich überzeugt, bei weit besserer Gesundheit zu sein, werde seinen Niedergang und Fall miterleben und von Herzen die großartige US-Republik genießen, mit all ihren Problemen und wunderbaren Menschen. Wir leben viel dort. Und leben gut!

Anmerkungen

1) Einführende Erläuterungen zu der Methode finden sich in: E. Victoria Shook (1985): Ho‘oponopono. Contemporary Uses of a Hawaiian Problem-Solving Process. Honolulu, HI: University of Hawai’i Press, East-West Center Studies.

2) Alle im Interview genannten Titel Galtungs sind erschienen oder werden erscheinen bei TRANSCEND University Press; www.transcend.org/tup. Eine Ausnahme bildet die Autobiographie Galtungs, die unter dem Titel »Auf Friedenswegen um die Welt: eine autobiographische Reiseskizze« 2006 beim Agenda Verlag, Münster, erschien. Im selben Verlag erschien 2007 auch ein Nachdruck der heute noch unersetzlichen Grundlagenschrift Galtungs »Frieden mit friedlichen Mitteln«.

Die Fragen zum Interview stellte Prof. Dr. Hajo Schmidt, Institut Frieden und Demokratie der FernUniversität in Hagen. Aus Anlass des runden Geburtstags von Johan Galtung veranstaltet das Institut Frieden und Demokratie zusammen mit der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) und der Ev. Akademie Villigst das Festsymposium »Friedensforschung und Weltinnenpolitik im 21. Jahrhundert« (2.-5.12.2010 in Villigst/Schwerte).

Kooperation statt Konfrontation

Kooperation statt Konfrontation

Eine andere Afghanistanpolitik ist möglich

von Andreas Buro

Angesichts der Aufstockung der Interventionstruppen in Afghanistan ist es schwer vorstellbar, dass die führenden Nato-Staaten dem milärischen Weg abschwören und auf zivile Konfliktbearbeitung setzen. Andererseits wird immer deutlicher, dass der Konflikt militärisch nicht lösbar ist. Vor diesem Hintergrund hat Andreas Buro Anforderungen an alle Konfliktbeteiligten in Afghanistan, an Nichtregierungsorganisationen und Friedensbewegung formuliert für eine zivile Konfliktbearbeitung.

Die Kriegsstrategie der USA in Afghanistan steckt in einer tiefen Krise. Erfolge stellen sich nicht ein, der Juni 2010 ist für die Nato-Truppen mit 102 getöteten Soldaten der verlustreichste Monat seit Beginn des Krieges. Es wächst die Einsicht, dass der Konflikt militärisch nicht lösbar ist. Politik und Militär thematisieren verstärkt die zivil-militärische Zusammenarbeit als Voraussetzung um Köpfe und Herzen der Bevölkerung zu gewinnen. Eine Strategie, die angesichts der »Kollateralschäden« des Militäreinsatzes als gescheitert angesehen werden muss. Verhandlungen mit Gruppierungen der militärischen Gegener – bis hin zu Teilen der Taliban – werden deshalb immer realistischer. Doch ob ein Vorgehen nach dem Prinzip »Teile und Herrsche« den Konflikt befrieden kann, ist gleichfalls mehr als fraglich.

Eine Chance zur Konfliktlösung liegt dagegen in einem konsequent beschrittenen nichtmilitärischen Weg. In einem Dossier der »Kooperation für Frieden« zum Afghanistankonflikt1 habe ich aufgelistet, welche Beiträge die am Konflikt Beteiligten und die an einer Konfliktlösung Interessierten für eine zivile Konfliktbearbeitung leisten können (die untenstehenden Vorschläge basieren auf diesem Text). Dabei ist nicht davon auszugehen, dass alle Parteien gleichzeitig in einen solchen Friedensprozess einsteigen. Es ist aber möglich, eine Dynamik in Gang zu setzen, die immer mehr Beteiligte in einen solchen Prozess einbezieht, wenn alle an einer solchen Wende interessierten Kräfte nach ihren jeweiligen Möglichkeiten auf die Konfliktbeteiligten einwirken.

Wie schnell ein solcher Prozess Fahrt aufnimmt, das hängt natürlich auch davon ab, wie stark die Impulsgeber sind. Deshalb muss Deutschland eine besondere Rolle zugemutet werden, die in einem – zugegeben – scharfen Kontrast zur biusherigen Politik der Bundesregierung steht.

Anforderungen an die deutsche Politik

Es geht nicht nur um einem Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan, es geht um eine grundsätzliche andere Politik: Weg von der Militär dominierten Machtpolitik, hin zu einer an ziviler Konfliktlösung und Partnerschaft orientierten. Das würde beinhalten:

Deutschland nennt ein festes, nahe liegendes Datum, bis zu dem die deutschen Truppen aus Afghanistan abgezogen werden. Es gibt damit ein deutliches Signal der Neuorientierung. Die Bundeswehreinheiten erhalten die Anweisung, sich ab sofort nicht in Kämpfe einzumischen. Dies gilt sowohl für die ISAF-Truppen, für die Quick-Reaction Force (QRF) und für den Einsatz der Tornados. Dabei ist an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu denken, das den verfassungsgemäßen Einsatz von Tornados an die heute nicht mehr gegebene deutliche Trennung von OEF und ISAF band.

Berlin gibt gleichzeitig bekannt, dass es seine zivile Hilfe je nach Bedarf bis zu dem Betrag aufstocken wird, der durch den Abzug der Truppen frei wird. Für den Bundeswehreinsatz sind in diesem Jahr offiziell über 1 Mrd. Euro eingeplant, die tatsächlichen Kosten liegen wesentlich höher – nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung liegen sie sogar bei etwa drei Mrd. Euro jährlich. Diese frei werdenden Mittel werden für Entwicklungsprojekte in Afghanistan zur Verfügung gestellt, die von Orten und/oder Regionen des Landes gemeinsam für wichtig und nützlich gehalten werden, und die die Lebensbedingungen der Menschen vornehmlich auf dem Lande verbessern. Im Mittelpunkt sollten die schulische, soziale und medizinische Versorgung sowie die Förderung von Frauenprojekten stehen. Ferner geht es um die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Förderung von landwirtschaftlichen Produktionen, die unabhängig vom Mohnanbau macht. Entsprechende Vorschläge der UN liegen auf dem Tisch. Deutsche Afghanistan-ExpertInnen sollten gebeten werden, Strategien der Entwicklung für die unterschiedlichen Bedingungen in Afghanistan zu entwerfen und zur Diskussion zu stellen. Eine Zusammenarbeit mit dem »National Solidarity Program« (NSP) der Weltbank, das an lokalen Bedürfnissen ansetzt, könnte unter den vorgenannten Bedingungen eines eigenen afghanischen Entwicklungspolitikprozesses geprüft werden.

Die Bundesregierung erklärt ihre Bereitschaft, als Vermittlerin zwischen den Konfliktparteien, sowohl innerhalb Afghanistans, als auch mit den Interventionsmächten, zu dienen. Sie nimmt die erforderlichen Kontakte für diese Mission auf und beginnt mit bilateralen Gesprächen, um die Vorstellungen und Wünsche der einzelnen Akteure zu erfahren und weiter zu vermitteln.

Die Bundesregierung beendet das Nebeneinander der Ministerien als Geber und setzt eine effektiv und transparent geführte Koordinierung ein. Die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und andere einschlägige Dienste werden beauftragt, angepasste Technologien für die Produktion von Gebrauchsgegenständen vorzuschlagen, die unter den Bedingungen vor Ort produziert werden können. Die weltweit erfolgreichen Modelle der Kleinkredite werden in Afghanistan eingesetzt, um die Wirtschaft anzukurbeln.

Für die Projekte sollen zunächst Regionen mit besonders günstigen Bedingungen ausgewählt werden, in denen auch eine gewisse Konzentration von Projekten verwirklicht werden kann. Dabei darf der paschtunische Siedlungsbereich nicht ausgespart werden. Erfolgreiche Projekte werden auf andere Regionen ausstrahlen. Die Menschen werden verstehen, dass sich Frieden und Kooperation für sie lohnen. So wächst die Bereitschaft, sich an Projekten aktiv zu beteiligen und Konflikte friedlich zu lösen.

Die Konzentration auf den ländlichen Bereich schließt nicht aus, auch allgemeine oder städtische Projekte zu unterstützen. Dazu kann die rechtsstaatliche Ausbildung von Polizisten gehören, soweit diese nicht zu Kampftruppen umfunktioniert werden.

Die Festlegung der Projekte bedarf unabdingbar der Einbeziehung und der Zustimmung der örtlichen oder regionalen Kräfte, auch derer, die sich den Taliban zuordnen. Wer Aussöhnung will, darf die bisherigen Gegner nicht ausgrenzen. Auf diese Weise können auch Dialog und Zusammenarbeit der verschiedenen Kräfte vor Ort, sowie Vertrauen untereinander gefördert werden.

Die ins Ausland geflohene afghanische Intelligenz sollte ermutigt werden, in ihre Heimat zurückzukehren, um dort an der Entwicklung mitzuwirken. Dem könnte auch eine vorübergehende materielle Förderung dienen. Allerdings stoßen Exil-AfghanInnen bei ihrer Rückkehr oft auf Ablehnung und Neid wegen der vermuteten Übernahme westlicher Lebensformen und Einstellungen. Deshalb sollte der Qualifizierung von AfghanInnen im Inland zusätzlich eine hohe Priorität eingeräumt werden.

Die folgenden Prinzipien sollten bei Entwicklungsprojekten maßgebend sein:

Vorschläge für Projekte können von allen Seiten gemacht werden.

Alle zuständigen Kräfte werden zur Erörterung und Beschlussfassung der Projekte von denen eingeladen, die den Vorschlag gemacht haben.

Projekte werden nur verwirklicht, wenn alle Seiten einschließlich der GeberInnen zustimmen.

Die bisherigen entwicklungspolitischen Projekte werden einer sorgfältigen Bewertung (Evaluation) unterzogen.

Für die Ausführung von Arbeiten werden möglichst örtliche Kräfte einbezogen, auch wenn sich dadurch die Kosten erhöhen sollten. Wichtig ist, dass Einkommen durch Arbeit entsteht, die Produktionsstrukturen im Lande gefördert werden und gleichzeitig eine Qualifizierung von Arbeitskräften ermöglicht wird.

Korruption ist nicht hinnehmbar, selbst wenn dann ein Projekt nicht verwirklicht werden kann.

Projekte und die dabei gemachten Erfahrungen sind im ganzen Land zu publizieren, um die Arbeit und ihre Prinzipien bekannt zu machen.

Von Seiten der Bundesrepublik muss die Zusammenarbeit so koordiniert werden, dass die verwirrende Konkurrenz verschiedener staatlicher und NRO-Akteure überwunden und damit die Wirksamkeit der Maßnahme gesteigert wird.

NRO-Akteure werden an ihre erklärte Hilfsaufgabe erinnert, die nicht im faktischen Widerspruch zum Selbstentfaltungspotential der Kräfte vor Ort stehen darf.

Die Bundesregierung appelliert an die Nato, solche Projekte, Orte und Regionen nicht in die Kriegführung einzubeziehen, auch wenn an den Projekten den Taliban nahestehende Kräfte beteiligt sind. Solche Appelle sollten auch von denjenigen ausgehen, die an den Projekten interessiert sind und dort mitarbeiten. Das Auswärtige Amt kann helfen, das Konzept der Friedenszonen in Afghanistan wirksam zu machen.

Die Bundesregierung bemüht sich gleichzeitig darum, dass andere in Afghanistan engagierte Nato- und EU-Staaten ihrem Beispiel folgen. Kleinere Nato-Staaten könnten ein Interesse haben, sich dem interventionistischen Militärkurs der USA und der Nato zu entziehen, da zivile Strategien ihnen viel bessere wirtschaftliche Möglichkeiten in Nah- und Mittelostasien versprechen. Die Bundesregierung erläutert ihre neue Politik der Nato und den USA.

Mit einer derartigen Politik kann Deutschland eine Wende hin zum tatsächlichen Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung einleiten. Das wäre ein Signal, das weit über Afghanistan hinaus gehört würde.

Anforderungen …

… an die UNO

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beendet seine Politik der Abstinenz, was die Wahrnehmung seiner Verantwortung für Afghanistan angeht und bedient sich des in der Satzung der Vereinten Nationen in Kap. VI (Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten) kodifizierten Instrumentariums zur Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit in Afghanistan.

… an die USA

Nach der Aufstockung der US-Truppen um weitere 30.000 Soldaten in diesem Jahr, ist es schwer vorstellbar, dass die USA ziviler Konfliktbearbeitung Vorrang einräumen. Erstes Ziel sollte es deshalb sein, international soviel Druck auf die US-Regierung auszuüben, dass diese die Zusage geben muss, dass sie die Politik der Zivilen Konfliktbearbeitung respektiert und nicht durch militärische Aktionen beschädigt; dass sie die militärische Eskalation, Verfolgungen und Folter beendet und Gespräche mit allen Konfliktakteuren führt, mit dem Ziel, den militärischen Konfliktaustrag zu beenden.

Die USA müssen deutlich machen, dass sie nach einem Abzug der Interventionstruppen ihre Militärstützpunkte auflösen und die volle Souveränität Afghanistans respektieren werden, und dass sie alles Erforderliche unternehmen werden, um die Landminen und die Bomblets der US-Streubomben unschädlich zu machen, so dass das Land wieder gefahrlos betreten und bearbeitet werden kann.

… an die EU

Die EU setzt sich für die Etablierung eines friedlichen Konfliktlösungsmechanismus nach dem Vorbild des »Helsinki-Prozesses« (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, KSZE) ein. Sie bietet an, die hierbei gewonnenen Erfahrungen einzubringen.

… an die militärisch beteiligten Nato-Mitglieder

Die anderen militärisch in Afghanistan beteiligten Nato-Mitglieder stellen ihre militärischen Aktionen ein und stärken stattdessen in gegenseitiger Abstimmung die entwicklungspolitische Unterstützung. Sie beteiligen sich in ihren Stationierungsgebieten an der Beseitigung von Landminen und Bomblets der US-Streubomben.

… an die afghanischen Stämme und Gruppierungen

Eine zivile Konfliktlösung in Afghanistan bedarf natürlich der aktiven Unterstützung der afghanischen Stämme und Gruppierungen. Deshalb sind entwicklungspolitische Projekte, die der armen ländlichen Bevölkerung nutzen, von großer Bedeutung. Da der geringe Ausbildungsstand der afghanischen Bevölkerung ein großes Hindernis ist auf dem Wege zu einer eigenständigen Entwicklung ist es notwendig, Alphabetisierung, schulische, berufliche und technische Ausbildung in einer Weise zu fördern, die mit den Traditionen und religiösen Vorstellungen der afghanischen Gesellschaft verträglich sind, aber die legitimen Ansprüche benachteiligter Bevölkerungsgruppen und vor allem der Frauen aufgreifen. Es kommt darauf an:

Untereinander den Dialog über solche Projekte zu suchen, um eine breite Unterstützung zu sichern.

Diesen neuen Ansatz abzusichern und die darin engagierten Personen zu schützen.

Zu prüfen, ob sie emigrierte afghanische Fachleute einladen wollen, um an Durchführungen von Projekten mitzuarbeiten.

Regionale Friedens-Jirgas abzuhalten, um dort neben konkreten Projekten auch die Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes zu erörtern. Dabei gilt es auch, Taliban-Kräfte in den Dialog einzubeziehen.

… an die Gruppierungen der Taliban

Die Taliban-Gruppierungen, die zum Dialog bereit sind, müssen das öffentlich machen. Sie dürfen die Dialogbereitschaft nicht an Vorbedingungen knüpfen, die von der Seite der Interventen nicht oder noch nicht erfüllt werden können. Sie sollten den Dialog untereinander und mit anderen Kräften in Afghanistan aufnehmen, um eine gemeinsame gesellschaftliche Perspektive zu entwickeln. Es muss von ihnen erwartet werden, dass sie die Angriffe auf die Zivilbevölkerung des Landes einzustellen, und ihren politischen Alleinvertretungsanspruch zugunsten einer Politik der Kooperation aufgeben.

… an die Kräfte der ehemaligen Nord-Allianz und andere Warlords

Letzteres gillt auch für die Kräfte der ehemaligen Nord-Allianz und andere Warlords, die außerdem nach und nach ihre Privatarmeen (Milizen) aufzulösen müssen. Sie sollten dabei unterstützt werden, damit die so frei werdenden Personen für Entwicklungsprojekte im jeweiligen Bereich eingesetzt werden können.

… an die Regierung in Kabul

Die Regierung in Kabul muss sich mit den in der nationalen Friedens-Jirga zusammengeschlossenen Stämmen in Verbindung setzen mit dem Ziel, die Regierung auf eine breitere Basis zu stellen und den dominanten Einfluss der Warlords und Opium-Barone im politischen Prozess zurückzudrängen, sowie einen Dialog-Prozess zur Überwindung von Gewalt in Gang zu setzen. Weiter ist notwendig:

Gespräche mit den Taliban aufzunehmen bzw. zu intensivieren, um sie in den politischen Prozess für Entwicklung und Frieden einzubeziehen.

Schutzzölle zu errichten, um eine eigenständige landwirtschaftliche, handwerkliche und industrielle Entwicklung zu ermöglichen.

Die Freilassung von gefangenen Frauen und Männern, denen keine strafrechtlichen Vergehen nachgewiesen werden können. Besonders Frauen werden oft mit höchst zweifelhaften Vorwürfen in Gefängnissen festgehalten.

… an die Nachbarstaaten Afghanistans

Von den Nachbarstaaten muss verlangt werden, dass sie keine Waffen nach Afghanistan liefern und Lieferungen durch Waffenhändler unterbinden, dass sie ihre wirtschaftliche Kooperation mit Afghanistan stärken, auch wenn Afghanistan für bestimmte Einfuhren Schutzzölle erheben sollte.

… an die internationalen NROs

Von den in Afghanistan arbeitenden internationalen NROs muss erwaret werden, dass sie jede zivil-muilitärische Zusammenarbeit ablehnen, da diese in der Regel nur der Legitimierung des Militärischen dient. Die NROs sollten sich einer Politik der zivilen Konfliktbearbeitung verpflichten und das auch gegenüber staatlichen Dienststellen und in der Öffentlichkeit vertreten.

Es gibt wenige friedenspolitische Ansätze in der afghanischen Gesellschaft und diese stehen unter einem erheblichen Druck. Mit einigen gibt es bereits durch den Zivilen Friedensdienst und als Projekt mit zivik-Mitteln geförderte Kooperationsbeziehungen. Die NROs sollten einen engeren Austausch mit solchen Ansätzen suchen und diese in die Konzeptdiskussion einbeziehen.

Rolle und Aufgaben der Friedensbewegung

Die friedenspolitisch engagierten Menschen in unserem land sollten die für Frieden eintretenden Kräfte in Afghanistan, wie z. B. die Nationale Friedens-Jirga, unterstützen, sie in Europa bekannt machen und ihre Forderungen zur Diskussion stellen. Sie sollte sich mit dem hier vorgeschlagenen Konzept befassen, es bei Zustimmung in der Öffentlichkeit, gegenüber den politischen Parteien, Gewerkschaften und Kirchen bekannt machen und vertreten. Sie sollten dazu beitragen, dass die Vorschläge für eine zivile Konfliktbearbeitung auch in den Zivilgesellschaften der anderen Nato-Staaten verbreitet werden und dass in Zusammenarbeit mit dortigen Bewegungen, Gruppierungen und Institutionen eine Kampagne für eine politische Wende eingeleitet wird. Dazu gehört:

Den Konflikt ständig differenziert zu analysieren. Die Gefahren der jetzigen Militärintervention in Afghanistan zu thematisieren und gegen diese Politik zu protestieren.

Mit dieser Kritik auch SoldatInnen, die nach Afghanistan geschickt werden, zu konfrontieren.

Gesellschaftliche und ökonomische Interessengruppen, die von einer Fortsetzung des militärischen Konflikts profitieren, öffentlich anzuprangern.

Anmerkung

1) Andreas Buro: Der Afghanistankonflikt, Dossier IV der Kooperation für den Frieden, Römerstr. 88, 53111 Bonn, 36 S., 1,20 Euro

Prof. em. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.

Ohne die Menschen geht es nicht

Ohne die Menschen geht es nicht

Theater als Waffe des Friedens

von Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

Angesichts der weiterhin problematischen Situation in Afghanistan bietet Community-based Theater ein kreatives und basisdemokratisches Mittel der zivilen Konfliktbearbeitung. Es leistet einen wesentlichen Beitrag zur Bearbeitung sensibler Themen wie Vergangenheitsbewältigung. Ziel ist es,Orte des gelebten Friedens zu ermöglichen.

Das Land Afghanistan ist mit Sicherheit nicht für eine Theatertradition bzw. für eine Wertschätzung des Theaters bekannt. Gefördert während der Jahre sowjetischen Einflusses hatte die Schauspielerei in den Jahren des Bürgerkrieges und bei den Taliban nicht viel zu lachen und auch heute noch hat das Theater bei vielen AfghanInnen den Ruf, ein niederer Beruf zu sein, der höchstens zur Belustigung taugt, darüber hinaus aber auch gewisse Islamische Gesetze – das Abbilden des menschlichen Anlitzes – verletzt. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Theateraktivitäten der letzten Jahren vor allem die Elite, oft aus dem Ausland heimgekehrte AfghanInnen, bedienten bzw. »Donor-driven« sind. Letzteres bedeutet, bestimmte Theaterprojekte werden auf Wunsch großer internationaler Geldgeber durchgeführt, die dann auch über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entscheiden, welche Themen für die afghanische Bevölkerung wichtig sind. Im Regelfall sind das Theaterstücke mit den Schwerpunkten Demokratieerziehung, Drogenmissbrauch und Frauenrechte, die alle einen wenig pädagogischen dafür aber um so mehr belehrenden Tenor haben. So verkommt das Theater häufig zu einer reinen Propagandaveranstaltung, die zwar manchmal eine beachtliche Menschenmenge anzieht – oft gibt es trotz der verschlechterten Sicherheitslage mehrere Hundert Zuschauer, die sich amüsieren und ein wenig von ihrem von Armut und Gewalt geprägten Alltag abgelenkt werden. Das ist symbolisch für die Rolle der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan: Wenig Mitbestimmung der normalen Bevölkerung, finanzielle Fokussierung auf Themenschwerpunkte, die den Interessen der Geldgeber entsprechen und der Versuch, den afghanischen Menschen die Welt zu erklären, da ihnen diese Fähigkeit nach rund dreißig Jahren Krieg von vielen schlichtweg abgesprochen wird. Das Resultat: auch knapp neun Jahre nach Einmarsch der US-amerikanischen Truppen und dem zumindest oberflächlichem Ende der Taliban-Herrschaft ist keine grundsätzliche Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse und schon gar keine größere Liebe zu einer repräsentativen Demokratie oder einer Reduktion der Opiumproduktion festzustellen. Im Gegenteil, nach dem PR-Debakel der Präsidentschaftswahlen, den zunehmenden zivilen Opfern und den Scheinerfolgen in Bezug auf Bildung, Gesundheit und Frauenrechte ist bei vielen AfghanInnen, zumindest in der Hauptstadt Kabul, eine Demokratiemüdigkeit spürbar. Diese äußert sich immer häufiger in Frustration und Ablehnung der ausländischen Präsenz, ob militärisch oder zivil, auch wenn die Konsequenz des Wunsches, ein Verschwinden sämtlicher »Charidjis1« im Normalfall noch nicht geäußert wird.

Theater als Mittel ziviler Konfliktbearbeitung

Die Idee, mit Theater einen kleinen Beitrag zu leisten, damit in Afghanistan endlich Frieden einkehren kann, wurde geboren in der Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) und der afghanischen Kulturorganisation >Foundation for Culture and Civil Society< (FCCS). Die Zusammenarbeit ist Teil einer vor einigen Jahren von der deutschen Bundesregierung begonnenen Friedensoffensive, dem Zivilen Friedensdienst (ZFD), der mittlerweile in vielen Konflikt- und Post-Konfliktländern zum Einsatz kommt und in Afghanistan besonders stark vertreten ist. DED und FCCS suchten Mitte 2006 nach einer Person, die die Themen Frieden und Theater kombinieren würde. Die spezifische Herangehensweise wurde dabei bewusst offen gelassen, weshalb für mich, als mir die Stelle angeboten wurde, die Möglichkeit bestand, den Schwerpunkt auf verschiedene partizipative und interaktive Theatermethoden wie das Theater der Unterdrückten2 oder das Playback Theater3, in Afghanistan heutzutage als »Community-based Theatre« bekannt, zu legen. Zunächst jedoch war sowohl bei FCCS als auch bei vielen potentiellen Partnern die Skepsis gegenüber der Methoden spürbar. Ein Theater, das mit ganz gewöhnlichen, in der Regel nicht lesen und schreiben könnenden Menschen arbeitet, sollte als Mittel der Konfliktbearbeitung taugen? Das war für viele EntwicklungshelferInnen und einheimische Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen kaum vorstellbar. Deshalb habe ich, ermutigt durch erste Erfolge in behutsam durchgeführten Workshops mit Frauengruppen, taubstummen Kindern sowie Heroinabhängigen, nach wenigen Monaten die professionelle Unabhängigkeit gesucht. Stück für Stück und nach unzähligen Gesprächen, Workshops und Aufführungen sind die beiden Techniken schließlich zum Herzstück friedensfördender Theaterarbeit in Afghanistan geworden. Sie haben in der Anfang 2009 von jungen afghanischen Menschenrechtsaktivisten gegründeten und später von mir trainierten Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO4 ) ein rein-afghanisches Zuhause gefunden, das sich in extrem kurzer Zeit auch schon überregional (so etwa auf einer Theaterkonferenz in Ruanda) einen Namen gemacht hat. Es nutzt ganz bewusst unterschiedliche partizipative Theatermethodiken, um mit verschiedenen, gesellschaftlich gesehen eher unterpriviligierten Gruppen das Theater als Waffe des Friedens und zur gesellschaftlichen Veränderung einzusetzen. AHRDO arbeitet in verschiedenen Teilen Afghanistans, hauptsächlich mit Frauen, Jugendlichen und schwerpunktmäßig Gruppen von Kriegsopfern zum Thema »Transitional Justice« (TJ), d.h. Vergangenheitsaufarbeitung. Diese Thematik stellt in Afghanistan ein Tabu dar, da viele der ehemaligen Warlords und Massenmörder, von Präsident Karzai und der internationalen Gemeinschaft umgarnt, ihre Macht erhalten konnten bzw. wieder errungen haben. Deshalb wird Strafverfolgung nicht besonders gefördert – und selbst ein Gedenken an die mindestens 1,5 Millionen Opfer in drei Jahrzehnten Krieg ist nicht unproblematisch. Im Gegenteil: Diejenigen, die sich für eine Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen in Vergangenheit und Gegenwart (inklusive ziviler Opfer in Folge von Angriffen der Nato- bzw. der afghanischen Armee) einsetzen, haben im Jahr neun nach der Scheinbefreiung von den Taliban manchmal mit gewalttätiger Verfolgung und dem bewussten Vertuschen sämtlicher Beteiligter zu rechnen. Die Folge: Viele TJ-Aktivisten werden bedroht und leben heute im Untergrund oder im Exil.

Auf der anderen Seite sind in den letzten Jahren verstärkt Opfergruppierungen gegründet worden, die sich für ein Recht auf historische Wahrheit einsetzen und Haftstrafen für die Mörder ihrer Familienangehörigen fordern. Dass die internationale Gemeinschaft sich nicht stärker für die Opfer einsetzt, ist für viele ein Zeichen internationaler Doppelmoral. Das Resultat ist ein äußerst kritisches Infrage stellen der Arbeit der internationalen Gemeinschaft, das im Jahr 2010 sehr häufig in offene Ablehnung oder Zynismus mündet. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Grund dafür, dass in Afghanistan nach wie vor kaum von Fortschritt und (demokratischer) Entwicklung die Rede sein kann. Die Menschen erwarten konkrete Resultate. Nach rund dreißig Jahren gebrochener Versprechen (von AfghanInnen wie Ausländern) ist bei vielen die Geduldsschwelle äußerst niedrig. Das Vertrauen in die Demokratie schwindet rasant.

Aus diesem Grund ist die Arbeit mit den verschiedenen partizipativen Theaterformen vielleicht doppelt wichtig. Obwohl sich dieses Werkzeug nicht leicht messbaren Erfolgen unterwerfen lässt, sind Ziele und Wirkung der Arbeit dennoch ersichtlich bzw. spürbar: Das Theater kreiert Orte physischer und emotionaler Sicherheit (Stichwort »Safe Space«), in denen Menschen verschiedener Colour (im afghanischen Fall verschiedener Ethnien sowie Männer und Frauen) in einem sicheren Raum zusammentreffen, um gemeinsam sensible Themen zu diskutieren, zu analysieren und aus der Sicht normaler BürgerInnen konkrete Veränderungsvorschläge zu entwerfen. Auch stimulieren diese Orte den freien Meinungsaustausch im Sinne real existierender Meinungsfreiheit sowie der Möglichkeit, gefördert durch die verschiedenen Theaterspiele und –übungen, neue Ideen, Gedanken und Alternativen zu denken und zu entwickeln. Selbst das einfache Zusammenkommen einer Gruppe von Menschen, um für einige Stunden den tristen und von Angst und Gefahr geprägten Lebensalltag hinter sich zu lassen, sich abzulenken, zu spielen, zu lachen und zu weinen, ist ein keinesfalls zu unterschätzender Effekt. Darüber hinaus trägt das Theater zur Gemeinschaftsbildung bei, zu besserem gegenseitigen Verständnis sowie zu neu definierten, auf Respekt basierenden, zwischenmenschlichen Beziehungen. Es fördert einen Protagonismus von unten, d.h. einen auf partizipativ- und basisdemokratischen Idealen basierenden Austausch, in dem die Analyse gesellschaftlicher Konflikte und deren potentielle Handlungsalternativen nicht länger exklusiv den traditionellen politischen Eliten überlassen wird. Im Gegenteil, normale Bürger und Bürgerinnen ermächtigen sich selbst und emanzipieren sich ein Stück weit von den Eliten, um fortan, zumindest in der Form eines theatralischen Aktivismus, eine stärkere Präsenz in der Bearbeitung ihrer Konflikte für sich zu beanspruchen. Die finale Zielsetzung besteht daher in einer stärkeren Mobilisierung der Menschen bei gleichzeitiger Demokratisierung von Debatte und Entscheidungsverfahren. Dass viele dieser Ziele und Wirkungen nur fragiler und temporärer Natur sein können, und möglicherweise außerhalb des theatralischen Raumes, in der kalten Realität von mehr als dreißig Jahren Krieg, ihre Wirkung ein wenig verlieren ist nicht auszuschließen. Deshalb muss immer wieder hervorgehoben werden, dass »Friedensbildung« natürlich ein langwieriger, notwendigerweise aus verschiedenen Ansätzen bestehender, Prozess sein muss, in dem künstlerische Werkzeuge wie das Theater (aber auch Poesie und Literatur) eine kleine, aber mit Sicherheit wertvolle Komponente darstellen.

Die Erinnerung stirbt zuletzt

Im konkreten Fall des Themas »Transitional Justice« hat die bereits erwähnte Afghanistan Human Rights and Democracy Organization, gefördert u. a. vom International Center for Transitional Justice (ICTJ), der GTZ sowie der Friedrich-Ebert Stiftung, das Theater vor allem mit drei Zielsetzungen verbunden:

Bewusstseinsbildung mit Bezug auf die inhaltlichen Komponenten von Transitional Justice, d.h. mit Hilfe auf den afghanischen Kontext bezogener (eher konventioneller) Theaterstücke, didaktischen Materials sowie Diskussionsrunden wird der afghanischen Bevölkerung die Möglichkeit gegeben, sich zum Thema Vergangenheitsaufarbeitung zu informieren.

Dokumentation und Wahrheitsfindung. Verschiedene interaktive Theatermethoden und vor allem das Playback Theater werden genutzt, um einen Raum zu schaffen, in denen die zahlreichen Opfer der letzten Dekaden ihre persönlichen Geschichten erzählen und kollektiv verarbeiten können und diese Geschichten zeitgleich dokumentiert werden, um so einen partizipativen Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten.

Interaktive Forum-Theaterstücke5 zum Thema Menschenrechtsverletzungen werden gemeinsam mit Opfergruppierungen sowie anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren (z.B. der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission) erarbeitet und dann einem größeren, wenn auch aus Sicherheitsgründen meist geladenen, Publikum präsentiert, um gemeinsam konkrete Handlungsalternativen auszuarbeiten, diese im theatralischem Raum zu testen und dann mit Hilfe von Anwälten ein Strategiepapier auszuarbeiten, wie die afghanische Regierung, afghanische zivilgesellschaftliche Organisationen sowie die internationale Gemeinschaft das Thema konkret angehen sollen.

Es geht bei diesen drei Theater-Aktivitäten also gewissermaßen um eine direkte Auseinandersetzung mit Vergangenheit (Dokumentation/Wahrheitsfindung), Gegenwart (Was beinhaltet Transitional Justice?) und Zukunft (Welche konkreten Aktionen sind notwendig, um die Themen Krieg und Verletzung des Völkerrechts positiv und vor allem gerecht zu gestalten). All dies immer mit der Grundprämisse, dass die afghanische Bevölkerung ein Recht darauf hat, gehört zu werden und bewusst mitzuentscheiden, wie das Thema dreißig Jahre Krieg angegangen werden soll. Millionen von Witwen, Waisen und andere, häufig auf sich allein gestellte und von der eigenen Familie missachtete Kriegsopfer sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder von ihren Repräsentanten und politischen Herrschern ignoriert worden. Im Zuge der Theateraktivitäten haben einige von ihnen ihre Enttäuschung, Wut, Trauer und Ablehnung dieser Politik kundgetan. Sie haben im Theater ein Werkzeug gefunden zur Selbstermächtigung. Selbst neue Opfergruppierungen haben sich als direktes Resultat einiger Theaterworkshops sowie Theateraufführungen gegründet. Es scheint, als habe das bewusste Ansprechen von dreißig Jahren massiver Gewalt durch das Theater bei vielen ganz normalen AfghanInnen Hoffnung und Energie geweckt. Sie erkennen, dass der so unbefriedigende Status Quo keinesfalls unveränderlich ist. Die im Juni 2010 von verschiedenen afghanischen Organisationen durchgeführte »Victim’s Jirga«, ein Zusammentreffen hunderte Opfer und zivilgesellschaftlicher Akteure zum Thema Menschenrechtsverletzungen als Folge von Krieg, ist dabei besonders hervorzuheben. So ein bewusstes und vor allem öffentliches Einfordern von Gerechtigkeit und Anerkennung von Kriegsgewalt war bis vor kurzem undenkbar. Es gibt keinen Zweifel daran, dass rund 2 ½ Jahre Basistheaterarbeit zu diesem Thema einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet hat, dass »Transitional Justice« nicht einfach von der offiziell politischen Erdoberfläche verschwunden ist, wie von vielen ehemaligen und aktuellen Straftätern gewünscht. Selbst viele internationale Geldgeber sind mittlerweile davon überzeugt, dass die Arbeit mit dem Theater in der derzeitigen, immer schwieriger und chaotischer werdenden Lage, eines der wenigen Medien ist, mit dem dieses sehr sensible und gefährliche Thema auf respektvolle und vor allem demokratische (im Sinne des Einbeziehens gewöhnlicher AfghanInnen) Art und Weise behandelt werden kann. Dies zahlt sich nun auch für AHRDO aus, da sie endlich längerfristig ihre Theateraktivitäten planen und durchführen sowie andere Menschen aus verschiedenen Teilen des Landes in den unterschiedlichen Techniken trainieren kann. Damit wird nachhaltige Friedensarbeit, sollte die Lage im Land sich nicht weiter verschlechtern, zumindest eine Möglichkeit.

Ist mit dem Theater also ernsthaft Frieden zu schaffen? Wenn man bedenkt, wie viele Milliarden Euro in den letzten neun Jahren von Militär und internationaler Gemeinschaft in Afghanistan investiert wurden, um – zumindest offiziell – Demokratie und Menschenrechte zu fördern, so ist es sicherlich ein wenig verwunderlich, möglicherweise sogar befremdend, dass ein extrem kostengünstiges, unscheinbares aber zugängliches sowie realdemokratisches Medium wie das Theater bei vielen tausenden AfghanInnen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Ethnie, so positiv aufgenommen wurde.

Es ist ein Armutszeugnis für die gesamte internationale Gemeinschaft, dass innerhalb der Theateraktivitäten die Hauptkritik seitens der TeilnehmerInnen der fehlende menschliche Kontakt mit EntwicklungshelferInnen und Militärs ist. Viele der TeilnehmerInnen sehen sich als Spielball verschiedener Interessen, die mit Demokratie und Menschenrechten nur sehr wenig zu tun haben. Das Wort »Besatzung« hat das ehemals populäre »Befreiung« im Wortschatz vieler AfghanInnen verdrängt. In den Projekten wurde selbst die Gefahr sichtbar, dass die Menschen wieder selbst die Waffe in die Hand nehmen gegen diejenigen, die weiterhin Gewalt und Menschenopfer produzieren – d. h. sowohl gegen die Taliban als auch gegen regierungstreue oder internationale Kräfte. Drei Dekaden Krieg können so schnell zu vier, fünf oder zu einem immer währenden Krieg werden. Eine angst einflößende Vision, die aber nicht zur Prophezeiung werden muss. Vor allem dann nicht, wenn es endlich nach dem Willen der ganz gewöhnlichen AfghanInnen geht. Diese nämlich zeigen in sämtlichen Theateraktivitäten eine große Bereitschaft und Fähigkeit das Wort Frieden nicht nur in den Mund zu nehmen, sondern es auch real zu praktizieren, sozusagen als gelebter Frieden im theatralischen Raum. Frei nach dem Motto: Bühne frei, jetzt kommt das Volk.

Anmerkungen

1) „Ausländer“ auf Dari

2) Das Theater der Unterdrückten ist Theater der, von und für die Unterdrückten. Es ist ein System, das den Menschen die Handlung innerhalb der Fiktion des Theaters ermöglicht, um damit Protagonisten, d.h. handende Subjekte, ihrer eigenen Leben zu werden.

3) Playback-Theater ist eine besondere Form des interaktiven Theaters, in der das Publikum eingeladen ist, individuelle Momente und Erlebnisse sowie Geschichten aus dem Leben zu erzählen und eine Gruppe von SchauspielerInnen und Musiker diese aus dem Stegreif improvisieren.

4) www.ahrdo.org

5) Im Forum-Theater wird ein Konfliktsituation gemeinsam mit dem Publikum bearbeitet.

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn arbeitet seit März 2007 für verschiedene Organisationen in Afghanistan. Darüber hinaus hat er mit verschiedenen partizipativen Theatermethoden in Australien, Bolivien, Deutschland, Kolumbien, Ruanda und Tadschikistan gearbeitet. Sein Buch über die Arbeit mit dem Theater in Afghanistan wird im Herbst 2010 im Ibidem-Verlag erscheinen. Mail: communitybasedtheatre@gmail.com

Lehren aus Afghanistan

Lehren aus Afghanistan

Zehn Thesen und ein Plädoyer

von AFK

Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) haben die Situation in Afghanistan analysiert und einige allgemeine friedenspolitische Lehren aus dem Fall Afghanistan gezogen, die sie in zehn Thesen zusammen gefasst haben. Sie kommen zu dem Schluss, dass eine Neuorientierung der Politik hin zu einen konsequenten Ausbau der nicht-militärischen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung unerlässlich ist.

Mit dem Luftschlag von Kundus am 4. September 2009 hat die deutsche Afghanistanpolitik ihre »Unschuld« verloren. Nach jahrelangen Beschönigungen, Vertuschungen und Halbherzigkeiten braucht diese Politik nun endlich Ehrlichkeit, Offenheit und Konsequenz. Die Bundeswehr hat auf ihrem langen Weg zur Einsatzarmee in Afghanistan den Rubikon hin zu Kampfeinsätzen im Rahmen eines asymmetrischen Konflikts überschritten und sich in einen Krieg verstrickt. Dringend erforderlich ist daher nicht nur eine schonungslose Überprüfung der deutschen Afghanistanpolitik, sondern darüber hinaus eine Debatte über deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik im Allgemeinen.

Wie es mit Afghanistan weitergehen wird, weiß niemand. Nach unserer Auffassung sind es vor allem drei Problemfelder, die im Interesse einer friedlichen Entwicklung in dem geschundenen Land einer konstruktiven Bearbeitung bedürfen: die »Afghanisierung« der Sicherheit, die innerafghanische Versöhnung und das regionale Umfeld.

Erste These: Der afghanische Staat wird vermutlich auf lange Sicht wesentliche Kernfunktionen nicht effektiv ausüben können.

Dies gilt insbesondere für die Durchsetzung eines flächendeckenden Gewaltmonopols. Daher ist es eine Illusion zu glauben, durch den beschleunigten Aufbau einer nationalen personalstarken Armee und Polizei könnte schon bald das Ziel „sich selbst tragender Sicherheitsstrukturen“ erreicht werden. Um verlässliche Sicherheit zu gewährleisten, bedarf es vielmehr der Ausbildung und Stärkung lokaler Sicherheitsstrukturen im Kontext eines von der afghanischen Gesellschaft selbst getragenen Aushandlungs- und Versöhnungsprozesses.

Zweite These: Der Prozess des Ausgleichs und der Versöhnung muss die »Aufständischen« bzw. die »Taliban einschließen.

Dies setzt voraus, sich von eindimensionalen Feindbildern zu verabschieden, die sehr heterogene Gruppierungen von lokalen Gewaltakteuren mit recht unterschiedlichen Interessen und Motiven pauschal zum »Gegner« erklären. Die geduldige Klärung von Streitfragen in einem langwierigen Verhandlungsprozess dürfte allerdings nicht leicht fallen. In Anbetracht der allseits eingestandenen Nichtgewinnbarkeit des Krieges durch die aus- und inländischen Truppen kann es letztlich nur eine Verhandlungslösung geben.

Dritte These: Zu einer dauerhaften Stabilisierung Afghanistans kann es nur kommen, wenn es dafür ein gedeihliches regionales Umfeld gibt.

Hierzu bedarf es eines auf Frieden zielenden Verhaltens der Staaten und Regionalmächte in der engeren und weiteren Umgebung Afghanistans. Dies gilt besonders für Pakistan, das am unmittelbarsten und intensivsten in die afghanische Krise verstrickt ist. Doch gilt es auch andere Länder der Region wie Russland, China und Indien, den Iran und die Türkei sowie die zentralasiatischen Anrainerstaaten in eine tragfähige regionale Sicherheitsarchitektur zur Stabilisierung Afghanistans einzubeziehen.

Allgemeinen friedenspolitischen Lehren

Welche allgemeinen friedenspolitischen Lehren sind aus der verfahrenen Lage in Afghanistan zu ziehen?

Vierte These: Mit militärischen Mitteln kann der islamistisch inspirierte Terrorismus nicht nachhaltig eingedämmt werden.

Der militärisch geführte »Anti-Terror-Krieg« hat eher zur Erosion völker- und menschenrechtlicher Normen sowie zur Unglaubwürdigkeit des Westens als Wertegemeinschaft beigetragen. Erforderlich sind demgegenüber diplomatisch-politische, polizeilich-juristische, entwicklungspolitische sowie integrations- und kulturpolitische Herangehensweisen und Methoden. Zudem scheinen mittlerweile von »hausgemachten« Terroristen in den Ländern des Westens größere Gefahren auszugehen als von fernen Gesellschaften in Afghanistan, Somalia oder im Jemen.

Fünfte These: Asymetrische Kriege sind militärisch nicht gewinnbar

Historisch-komparative Untersuchungen über Aufstandsbewegungen, Erhebungen gegen Fremdherrschaft und asymmetrische Gewaltkonflikte haben deutlich gemacht, dass derartige Kriege in der Regel nicht im klassischen militärischen Sinne »gewonnen« werden können, da es sich hierbei stets eher um soziale und politische als um militärische Konflikte handelt.

Sechste These: Politische Prävention ist sinnvoller als militärische Intervention

Eine frühzeitige nicht-militärische Prävention in Krisen ist einer aufwendigen und langwierigen, militärisch gestützten, reaktiv-kurativen Krisenbearbeitung vorzuziehen. Eine effektive Krisenprävention kann dazu beitragen, selbst solche, durch fragwürdige Politiken westlicher Staaten mit verursachten Krisenlagen wie Afghanistan gar nicht erst entstehen zu lassen. Hier sei nur auf die langjährige Vernachlässigung des Landes durch den Westen nach dem Abzug der Sowjets sowie an das zögerliche und defizitäre internationale Engagement in den ersten Jahren des Wiederaufbaus verwiesen.

Siebte These: Das Projekt des »Staaten bauens« muss mit Bescheidenheit und ohne Illusionen betrieben werden

Die Fähigkeit externer Akteure zur Kontrolle und Steuerung komplexer sozialer Dynamiken in fremden Gesellschaften in einem gewünschten ordnungspolitischen und normativen Sinn (nämlich des Modells des liberalen OECD-Staates mit Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten) wird weit überschätzt. Letztlich können nur eigenständige Prozesse der Staatsbildung zum Ziel führen und nur solche können von außen unterstützt werden. Daher sind zahlreiche externe Versuche, ob mit oder ohne militärische Mittel, Staaten nach westlichem Muster zu formen, weit hinter ihren Zielen zurückgeblieben, oder ganz gescheitert. Dies gilt auch für Afghanistan.

Achte These: Zivile Konfliktbearbeitung in Krisenregionen ist friedenspolitisch unabdingbar.

Unrealistisch ist ein sozialtechnologischer Machbarkeitsglauben, der in fremden Gesellschaften mit Hilfe des Militärs »Frieden schaffen«, »Staaten bauen« oder »Stabilität herstellen« will. Vielmehr ist in diesen Gesellschaften eine intensive Förderung von eigenständiger lokaler Konfliktbearbeitung vonnöten. Denn die Hauptakteure in Friedensprozessen sind die in den Krisenregionen lebenden Menschen. Friede kann nie von außen implantiert werden, sondern muss von innen her wachsen. Daher gilt es, lokale Kapazitäten für den Frieden zu stärken und politische Räume für die Entfaltung eigenständiger Friedensprozesse zu eröffnen oder zu weiten.

Neunte These: Deutschland muss seinen Aktionsplan zur zivilen Krisenprävention konsequent umsetzen.

Unbestreitbar hat es in den letzten Jahren in konzeptioneller und organisatorischer Hinsicht friedenspolitische Fortschritte gegeben. Einen Höhepunkt stellte im Jahr 2004 die Verabschiedung des »Aktionsplans Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« durch die Bundesregierung dar. Doch mangelt es dem Aktionsplan bis heute an einem deutlichen Umsetzungswillen der Politik sowie an einer klaren regionalen und sektoralen Prioritäten- und Schwerpunktsetzung. Dem koordinierenden Ressortkreis fehlt es nach wie vor an politischer Steuerungskompetenz und Ressourcen. Der anhaltende Ressort-Egoismus behindert eine bessere Abstimmung zwischen den Ministerien. Schließlich ist es nicht gelungen, die Anliegen ziviler Krisenprävention auf wirkungsvolle Weise in der Öffentlichkeit zu propagieren. Daher fordern wir nachdrücklich eine politische Aufwertung des Konzepts und der Agenda ziviler Krisenprävention sowie einen massiven Ausbau der Infrastruktur und Ressourcenausstattung ziviler Konfliktbearbeitung.

Zehnte These: Eine kritische Evaluierung der Auslandseinsätze der Bundeswehr ist überfällig.

Wenn auch nicht von einer umfassenden »Militarisierung« der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik zu sprechen ist, so ist doch unverkennbar, dass es zu einer wachsenden Kluft zwischen militärischen Einsätzen und ziviler friedenspolitischer Konfliktbearbeitung sowie bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit zu einer Dominanz des Militärischen gekommen ist. Zudem ist die friedenspolitische Bilanz von Auslandseinsätzen der Bundeswehr durchaus strittig. Eine unabhängige, umfassende und kritische Evaluierung dieser Einsätze ist daher, nicht zuletzt angesichts ihrer immensen Kosten, dringend geboten.

Thesen und Lehren fordern ein Fazit:

Plädoyer für nichtmilitärische Krisenprävention und zivile Komnfliktbearbeitung

In der überfälligen Debatte über deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik ist eine nachhaltige Neuorientierung dieser Politik zugunsten des zivilen Elements anzustreben. Der wohlfeilen politischen Rhetorik muss endlich die realpolitische Substanzausfüllung des Konzepts ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung folgen. Das überkommene Ungleichgewicht zwischen militärischen und zivilen Fähigkeiten, Kapazitäten und Ressourcen gilt es zu überwinden. Gerade der Fall Afghanistan zeigt deutlich diese schon lang anhaltende Schieflage zwischen militärischen und zivilen Mitteln und bekräftigt die Erkenntnis, dass Militär ein in seiner Wirkung immer wieder weit überschätztes, immens teures und letztlich untaugliches Instrument nachhaltiger Konfliktbearbeitung und Friedenspolitik ist.

Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft für Frieden- und Konfliktforschung (AFK): Dr. Barbara Müller, Prof. Dr. Berthold Meyer, Prof. Dr. Volker Matthies, PD Dr. Thomas Kater, M.A. Sandra Dieterich, Wilhelm Nolte, Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, M.A. Jutta Viebach, Christoph Werthmann.
Die Langfassung des Dokuments kann eingesehen werden unter »volkermatthies@t-online.de«

Pakistan im Visier

Pakistan im Visier

von Graham Usher

Unter dem Kürzel »Afpak« ist die Regionalisierung des Afghanistan-Krieges in der Strategiedebatte der USA bekannt geworden; tatsächlich hat der Krieg zahlreiche regionale Dimensionen und verschiedene Akteure versuchen, die Entwicklung in Afghanistan zu beeinflussen. Dabei ist – wie am Beispiel Pakistans gezeigt wird – das Verhältnis zu den Taliban und aktuellen Entwicklungen, wie etwa dem möglichen Rückzug der US- und NATO-Truppen, von einer Vielzahl von Faktoren abhängig.

Pakistan steht im Mittelpunkt des Plans von Präsident Barack Obama, den US-Krieg in Afghanistan zu beruhigen. Wenn es – wie er beteuert – das „allumfassende Ziel“ ist, „Al Qaeda in Afghanistan zu stören, zu demontieren und zu besiegen“, dann wird der Krieg vor allem in Pakistan geführt werden. Denn in Afghanistan ist Al Qaeda mit seinen weniger als einhundert Kämpfern schon vor längerem besiegt worden.

Und wenn es das Ziel des Militärs ist, die Taliban zu schwächen, dann wird der Kampf vor allem im Süden Afghanistans und an seinen südlichen Grenzen zu Pakistan, dem paschtunischen Kernland des Aufstandes, geführt werden. Wenn die Taliban-Guerilla bloß die Grenze nach Pakistan überschreitet, ist Islamabad als Haltelinie gefordert, die eine Neuformierung der Taliban verhindert und diese stattdessen festsetzt und zerschlägt. Geht es nach den Visionen, die US-General David Petraeus, Kommandierender des US-Zentralkommandos CENTCOM, gegenüber dem US-Kongress formuliert hat, dann sollen die pakistanischen Armee und Sicherheitsdienste als „Fanghandschuh oder als Amboss“ für den US-amerikanischen Werfer bzw. Hammer dienen.

Pakistan allerdings ist geneigt, weder die eine noch die andere Rolle zu übernehmen. Das militärische Establishment des Landes steht Obamas Truppenverstärkung (»surge«) in Afghanistan ablehnend gegenüber, weil es fürchtet, dass die Talibankämpfer dadurch tatsächlich über die Grenze getrieben werden, wo sie sich einem Talibanaufstand auf pakistanischem Gebiet anschließen würden, in den bereits jetzt 200.000 pakistanische Soldaten entlang der Grenze zu Afghanistan verstrickt sind. Pakistans belagerte Zivilregierung will auch keinen Beginn des Rückzugs der US-Truppen im Juli 2011, wie Obama es angekündigt hat. Wie langsam auch immer die Reduzierung stattfinden würde – die Regierung weiß, dass mit dem Abzug der USA aus Afghanistan auch der besondere Status Pakistans als Frontstaat verschwände – und damit auch die damit verbundene Freigebigkeit. Und die Bevölkerung Pakistans lehnt sowohl die Truppenaufstockung als auch den Rückzug ab. Während die Klugen unter ihnen anerkennen, dass sich Pakistan einer im eigenen Land entstandenen islamistischen Rebellion in den Stammesgebieten und in der nordwestlichen Grenzprovinz gegenübersieht, wissen die meisten, dass die historische Ursache ihres Konflikts in der elendigen 30-jährigen Verwicklung des US-Militärs wie der pakistanischen Streitkräfte in die Verhältnisse in Afghanistan zu finden ist.

Bevölkerung, Regierung und Militär teilen die Interpretation, dass Obamas kürzliche Attacke auf die Taliban die Anerkennung der US-Niederlage ist. Für einige ist es zudem die Rehabilitierung der pakistanischen Militärstrategie gegenüber Afghanistan, nachdem General Pervez Musharraf dazu gezwungen worden war, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im »Kampf gegen den Terror« die Seiten zu wechseln.

Die Strategie bestand in selektiver Aufstandsbekämpfung. Auf Drängen der USA haben Agenten der Armee und der Geheimdienste Jagd auf Al Qaeda gemacht und der CIA bzw. den Visieren von »Predator«-Drohnen eine große Zahl von Flüchtlingen und Verdächtigen – aber auch etliche einheimische Gegner, die nichts mit Al Qaeda zu tun haben – ausgeliefert. Der bekannteste Gefangene ist Khalid Sheikh Mohammed, der angebliche Vordenker der Anschläge vom 11. September, den die Obama-Administration vor ein Zivilgericht in New York stellen möchte. Im Jahr 2009 hat die Armee – in einer verspäteten Offenbarung von Eigeninteresse – den Kampf mit den pakistanischen Taliban und anderen mit diesen kooperierenden sunnitischen Jihad-Gruppen in deren neuen »Emiraten« in Swat, Bajaur und Südwasiristan gesucht, also in jenen Gebieten, die Obama als das Epizentrum des gewaltsamen, von Al Qaeda praktizierten Extremismus bezeichnet hat. Als Vergeltung und in Erinnerung an Al Qaeda im Irak richten diese Gruppen in pakistanischen Städten wie Peschawar Massaker an.

Allerdings hat die Armee niemals die afghanischen Taliban und deren Anführer Mullah Omar verfolgt. Auch hat sie nie mit den afghanischen Taliban verbündeten Kommandeuren wie Jalaluddin und Sirajuddin Haqqani oder Gulbuddin Hekmatjar zugesetzt, deren Bataillone sich in Balutschistan und Stammesgebieten wie Nordwasiristan aufhalten. Diese Milizen bekämpfen die US- und NATO-Streitkräfte in Afghanistan, haben aber kein Interesse daran bzw. lehnen es explizit ab, den Aufstand auf Pakistan auszuweiten. Die Armee hat stattdessen – wie der pakistanische Militärexperte Ayesha Siddiqa formuliert – vielfältige Beziehungen zu diesen »pro-pakistanischen« Gruppen als „eine Art Versicherung“ gepflegt. „Das Militär hat vor 9/11 in den Taliban einen Aktivposten gesehen. Warum sollte es diesen zerstören, besonders wenn die ausländischen Truppen abziehen und in Afghanistan ein Machtvakuum entsteht?“

In den kommenden 18 Monaten wird Washington enormen Druck auf Islamabad ausüben, um eine Änderung dieses Kalkül zu erreichen. Nur wenige pakistanische Beobachter gehen davon aus, dass die Armee und ihre Geheimdienste dies können oder wollen. Diese gutbezahlten Klienten der USA wollen ihre Förderer nicht unbedingt bluten sehen in Afghanistan, aber sie sind widerspenstig gegenüber dessen Mahnungen, weil kein Staat zu Handlungen gezwungen werden kann, die er als selbstzerstörerisch ansieht. Kein pakistanischer General glaubt, dass Obamas Truppenaufstockung die Taliban innerhalb von 18 Monaten zum Rückzug zwingen kann, wo dies doch US- und NATO-Truppen seit acht Jahren vergeblich versuchten haben. Und sobald im Endergebnis die Auseinandersetzung von Washington für beendet erklärt wird, benötigt Pakistan die früheren Mitspieler, die afghanischen Taliban, die Haqqanis und Hekmatjar, um den Kampf in dem nach-amerikanischen afghanischen Kriegen aufzunehmen.

Eine Front zuviel

Während Obama sehr klar formulierte, was in Afghanistan zu tun sei, blieb er anlässlich der Verkündung der Truppenaufstockung vor Kadetten in West Point am 1. Dezember 2009 bezüglich Pakistan recht bedeckt. Er konterte den Vorwurf, die USA seien – wie bereits nach dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan 1989 – wieder dabei, die Region Hals über Kopf zu verlassen, mit einem Bekenntnis zur Fortsetzung der Engagements zugunsten Islamabads. „Amerika wird ein starker Unterstützer der pakistanischen Sicherheit und Prosperität auch noch lange nach der Einstellung der Kampfhandlungen bleiben“, betonte er. Aber Washington werde „keine sicheren Rückzugsorte für Terroristen, deren Aufenthalt bekannt und deren Ziele eindeutig seien, tolerieren“, fügte er mit Blick auf die Praxis Pakistans, einige radikale Islamisten zu bekämpfen, andere jedoch ungestört zu lassen, hinzu.

Vor dem Senatskomitee für die Streitkräfte äußerte sich Außenministerin Hillary Clinton am 2. Dezember 2009 über die neue Politik hingegen deutlicher. „Es ist schwierig, die verschiedenen Gruppen, die in Pakistan operieren und die alle – so denken wir – in der einen oder anderen Weise mit Al Qaeda in Verbindung stehen, auseinander zu halten, einige auszulassen und andere zu verfolgen“, sagte sie. „Es wird unser fortgesetztes Bemühen sein (…), zu einer Situation zu kommen, in der die Pakistani mehr gegen all die aufständischen terroristischen Gruppen tun, die sie bedrohen, die uns und die afghanische Bevölkerung in Afghanistan bedrohen sowie andere Nachbarn in der Region.“

Um zu einer solchen Situation zu kommen, schlagen die USA einen Deal vor. Die Obama-Administration wird Islamabad anbieten, dass die US-Hilfs- und Handelszusagen „unbegrenztes Potential“ haben und dass ihre Diplomaten dabei helfen werden, die Spannungen mit Indien um die umstrittene Region Kaschmir und bezüglich der Anschläge in Mumbai 2008, bei denen New Delhi von einer Beteiligung pakistanischer Stellen ausgeht, zu reduzieren. Im Gegenzug wird von der pakistanischen Armee erwartet, dass sie gegen die Rückzugsorte der afghanischen Taliban und mit ihr verbündeter Aufständischer auf dem eigenen Staatsgebiet vorgeht – oder US-Spezialeinheiten die Möglichkeit dazu gibt. Ein pakistanischer Offizieller interpretierte die Botschaft der Obama-Administration so: „Wenn pakistanische Hilfe nicht stattfindet, müssen die USA es selbst in die Hand nehmen.“

Die deutliche Sprache ist kein Bluff. Obama hat bereits einen neuen CIA-Plan bestätigt, demzufolge das Einsatzgebiet der »Predator«-Drohnen innerhalb Pakistans von den Stammesgebieten auf die »befriedeten« Regionen wie Balutschistan ausgedehnt wird, wo Mullah Omar angeblich zeitweise Zuflucht sucht. Der Plan sieht bei der Verfolgung von Taliban- und/oder Al Qaeda-Kämpfern zudem Kommando-Aktionen auf pakistanischem Gebiet vor. Während seiner bisherigen Amtszeit hat Obama mehr Angriffe mit Drohnen autorisiert und dadurch sind mehr pakistanische, afghanische oder andere Menschen innerhalb Pakistans ums Leben gekommen als in den acht Jahren von Präsident George W. Bush. Einige dieser Operationen – gewöhnlich Mordanschläge auf vermutete Al Qaeda-Flüchtige oder ausländische Kämpfer – wurden in Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Geheimdienst durchgeführt.

Andere hingegen nicht. Zahlreiche Raketenangriffe haben zudem ZivilistInnen getötet, was zu einer weiteren Intensivierung der ohnehin in vielen Teilen des Landes bereits anzutreffenden anti-amerikanischen Stimmung geführt hat. In der Öffentlichkeit verurteilt die Armee die Drohnen-Angriffe als kontraproduktiv bezüglich des Versuchs der Spaltung der Militanten von den Stämmen im Grenzgebiet. Im privaten Gespräch ätzen die Generäle, dass jede »Hellfire«-Rakete, die in Süd- und Nord-Wasiristan die Erde umgräbt, die Aussagen der radikalen Islamisten (und anderer Oppositionskräfte) bestätigen, dass Pakistan nur ein Handlanger im »Krieg der USA« ist.

Trotz der tatsächlichen und stillschweigenden Drohungen aus Washington ist die Armee nicht besonders willens, mehr als das zu tun, was bisher bereits getan wird. Ein Grund dafür liegt in der Geschichte. Unter Druck der USA drang das pakistanische Militär zunächst 2004 in Süd-Wasiristan ein, um Flüchtige der Al Qaeda zu jagen. Damit begann eine vierjährige Serie von Offensiven, die von »Friedensabkommen« mit Stämmen unterbrochen wurde, die mit den pakistanischen Taliban kooperierten. Diese »Stammeskampagnen« waren ein Desaster. Sie führten lediglich dazu, dass die pakistanischen Taliban von einem Ableger des großen afghanischen Bruders zu einer lebendigen, mit Al Qaeda verbündeten Stammesbewegung wurden, die im Jahr 2008 etwa 30.000 Männer unter Waffen hatte und den Großteil der Stammesgebiete und weite Gebiete der ruhigen nordwestlichen Grenzprovinz kontrollierte.

Der Armee gelang es 2009, einen Teil dieses Gebietes durch Counterinsurgency-Kampagnen zurückzugewinnen. Einerseits verfügt sie über Waffenüberlegenheit, aber sie hat zugleich Mühe darauf verwandt, zwischen jenen Stammesgebieten zu unterscheiden, die pakistanische Taliban beherbergen, die dem Staat feindlich gegenüberstehen, und jenen, die afghanischen Taliban Zuflucht ermöglichen, die gegen US- und NATO-Truppen kämpfen, gegenüber Islamabad jedoch untätig sind. Geht es nach Obama, dann soll Pakistan auf diese Unterscheidung verzichten.

Es ist eine Front zu viel, sagt der Armeesprecher, Generalmajor Athar Abbas. „Wenn wir es mit allen Stammesmilizen aufnehmen, einschließlich den Haqqanis und anderen pro-afghanischen Talibangruppen, und die USA das Land morgen verlassen, werden wir uns allein einem Aufstand der Stämme gegenüber sehen. Wir möchten nicht, dass ihr kurzfristiger Vorteil unsere langfristige Pein wird.“

Einkreisung

Es gibt weitere Gründe für die Zurückhaltung der Armee, sich an Obamas Truppenaufstockung zu beteiligen. Historisch hat die Armee sich mit den afghanischen Taliban verbündet, um pakistanische Einflussnahme in Afghanistan zu ermöglichen, insbesondere im paschtunischen Gürtel, der durch beide Länder verläuft. Aus diesem Eigeninteresse hat Islamabad die Taliban zwischen 1996 und 2001 unterstützt, als die Miliz eine de facto Regierung errichtete, die den Großteil Afghanistans kontrollierte. Daher rühren die noch immer existierenden Kontakte mit den afghanischen Taliban, den Haqqanis und Hekamtjar. Es ist illusorisch anzunehmen, diese Kontakte würden von der Armee angesichts eines absehbaren Rückzugs der USA aufgegeben. Die Verbindungen werden enger, nicht nur um der Truppenaufstockung zu widerstehen, sondern auch um den Einfluss der Armee nach dem US-Rückzug zu stärken.

Soweit es das pakistanische Militär betrifft, so sieht es sich in Afghanistan zwei Gegnern gegenüber – und das sind weder die Taliban noch Al Qaeda. Ein Feind ist das Regime von Präsident Hamid Karzai, insbesondere seine entstehenden militärischen und Geheimdienstabteilungen. Diese Kräfte werden zumeist von tadschikischen Warlords kommandiert, die früher zur »Nordallianz« gehörten, ein Konglomerat von anti-Taliban-Milizen, das 2001 gemeinsam mit US-Spezialeinheiten die Taliban-Regierung gestürzt hat. Die Pakistani betrachten die Tadschiken als feindlich und aufständisch gegenüber den sich beidseits der Grenze erstreckenden paschtunischen Gebieten, von denen die Karzai-Regierung glaubt, sie vielen zur Gänze unter afghanische Souveränität. Zudem macht die Armee die von Tadschiken dominierten Geheimdienste für einen Teil der Unruhen in Pakistan verantwortlich.

Der zweite Gegner ist Indien, mit dem Pakistan in einem lang-dauernden Konflikt verwickelt ist. Der Einfluss Indiens in Afghanistan ist – in den Worten eines in Kabul ansässigen Botschafters – „strategisch und weitreichend“, so dass Pakistan gebührend alarmiert ist. Die Regierung in Neu Delhi war der regionale Rückhalt der »Nordallianz« und ist nun Karzais stärkster Verbündeter in Südasien. Indien ist einer der größten ausländischen Kreditgeber Afghanistans und hat zur Ausbildung der Streitkräfte beigetragen. Zusammen mit dem Iran hat Indien in Westafghanistan ein Straßennetz gebaut, das Kabul Zugang zum Persischen Golf ermöglicht, ohne pakistanische Häfen nutzen zu müssen – Kapazitäten also, die Islamabad als lebensnotwendig für seine ökonomische Zukunft betrachtet.

Angesichts der fortgesetzten Stationierung des Großteils der Streitkräfte an der Ostgrenze zu Indien und eines nicht beigelegten Konflikts in Kaschmir ist es der Albtraum Islamabads, dass indische und pro-indische afghanische Streitkräfte die Lücke füllen, die auf der westlichen Flanke durch den Abzug der US- und NATO-Truppen entstehen wird. „Wir sind besorgt über das übertriebene Engagement Indiens in Afghanistan“, sagt Abbas. „Wir betrachten es als Einkreisung. Was wird morgen geschehen, wenn amerikanische Ausbilder durch indische ersetzt werden? Die Führung in Afghanistan ist vollständig dominiert durch die Indien-freundliche »Nordallianz«. Deren Angliederung an Indien betrachten wir mit großer Sorge. Wir sehen darin ein zukünftiges Zwei-Fronten-Szenario.“

Historisch gesehen haben bewaffnete Einheiten ethnischer Gruppen – teilweise auf Geheiß von Regionalmächten – Machtvakua in Afghanistan gefüllt. Die afghanischen Taliban sind die stärkste Kampftruppe unter den Paschtunen, der größten ethnischen Gruppe in Afghanistan. Sie sind in der Vergangenheit von Pakistan gegen tadschikische, hasarische und usbekische Kämpfer, die wiederum von Indien, dem Iran und Russland unterstützt wurden, gefördert worden. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Machtbalance in Zukunft umkippt noch dass die Loyalitäten sich verschieben werden, sagt Ahmed Rashid, ein altgedienter Analytiker der Situation Afghanistans. „Liegt es im Interesse Pakistans, die afghanischen Taliban gegen sich aufzubringen, wenn diese in den kommenden zwei bis drei Jahren wieder an die Macht kommen?“ fragt er.

Wiederholt sich Geschichte?

Gibt es irgendeine Hoffnung darauf, dass sich eine düstere Wiederholung der afghanischen Geschichte vermeiden lässt? Statt die Taliban in Afghanistan zu schwächen, könnten USA und NATO anfangen, mit ihnen zu verhandeln. Die Grundlage der Gespräche ist klar: Rückzug gegen die Zusicherung der Taliban, die Macht mit anderen afghanischen Gruppen zu teilen und transnationale Akteure wie Al Qaeda daran zu hindern, von afghanischem Territorium aus andere anzugreifen, sei es in der Nähe oder in der Ferne.

Pakistanische Regierungen haben diese Linie seit den späten 1990er Jahren angeboten; die Logik von Verhandlungen beinhaltet, dass das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Taliban und Al Qaeda weniger ideologischer Art ist, sondern von materiellen oder taktischen Interessen bestimmt ist, und dass die Taliban im Kern eine paschtunische Bewegung und keine islamistische sind. Als Gegenleistung für eine Beteiligung an der Macht würden sich die Anführer der Taliban gegen ihre jihadistischen Verbündeten wenden, argumentiert Asif Ahmed Ali, ein ehemaliger pakistanischer Außenminister: „Wir müssen mit den Taliban sprechen. Es gibt keinen Frieden in Pakistan und in Afghanistan ohne solche Gespräche. Die Taliban sind die einzige Kraft, die Al Qaeda vertreiben kann.“

Ein nationaler Pakt, der den Taliban und anderen afghanischen Gruppen gerecht würde, könnte in ein umfassenderes regionales Abkommen eingebettet werden, bei dem alle Nachbarn Afghanistans ihre Verbündeten bzw. die ihnen nahestehenden Gruppen dazu drängen müssten, einer fairen Vertretung in einem »neutralen« afghanischen Gemeinwesen zuzustimmen. Iran, Saudi-Arabien, Russland, China und die zentralasiatischen Republiken würden alle Einfluss auf ein solches Abkommen haben, aber die entscheidenden Akteure sind Pakistan und Indien.

Zur Beendigung der Stellvertreterkriege in Afghanistan wäre es notwendig, dass Islamabad seine Unterstützung jihadistischer Gruppen beendet, die Indien und Neu Delhi angreifen, und zu ernsthaften Verhandlungen zur Beendigung des Kaschmir-Konflikts findet. Bewegung zugunsten eines indisch-pakistanischen Friedens könnte der Schlüssel für eine Reduzierung der autochthonen Kämpfe in Afghanistan sein. Frieden zwischen den beiden bedeutendsten südasiatischen Mächten ist tatsächlich, wie Obama JournalistInnen im Rahmen eines Mittagessens im Weißen Haus sagte, „das Wichtigste für eine lang andauernde Stabilität in der Region“.

Leider hat der Präsident diese Einsicht im Rahmen seiner Rede in West Point nicht weiter ausgeführt, die die Bedeutung einer regionalen Perspektive für das Afghanistanproblem kaum erwähnte. Auch hat er bisher keine ernsthaften Aufrufe an die Taliban zu Verhandlungen gerichtet, sondern den Olivenzweig nur jenen gereicht, die „der Gewalt abschwören und die Menschenrechte ihrer Mitbürger respektieren“ – Bedingungen, die die Mehrheit der Minister Karsais, die Gesamtheit seiner bewaffneten Verbände und die Mehrheit des US- und NATO-Militärs ausschließen.

Stattdessen scheint Obama in Afghanistan – ganz wie Bush im Irak – ganz auf eine Erhöhung der Truppenzahl und der Waffen zu vertrauen, um eine Phase im Kampf zu ermöglichen, die für die Installierung eines Regimes nötig ist, das in den kommenden regionalen Kriegen für die Interessen Washingtons kämpfen wird. Im schlechtesten Fall kann die Truppenaufstockung Afghanistan jene Art intergruppaler Metzelei hinterlassen, die sich bereits in den 1990er Jahren als Inkubator für Al Qaeda erwiesen hat. Der günstigste Fall könnte darin bestehen, dass durch die Truppenzuführung „die Taliban gezwungen werden, sich mit den USA auf einen Abzug zu verständigen“, meint der Pakistanexperte Shuja Nawaz. Aber Verhandlungen könnten ein solches Ergebnis rascher bringen als eine Fortsetzung des Krieges.

In jedem Fall erkennt das pakistanische Militär derzeit nichts, das es zu einer Revision der Strategie selektiver Aufstandsbekämpfung veranlassen könnte. Die Armee wird nicht der »Amboss« sein, gegen den der US-»Hammer« schlägt, um die afghanischen Taliban zu zerschlagen. Sie könnte zwar als »Fanghandschuh« fungieren, aber nicht in dem von Petraeus metaphorisch gemeinten Sinne. Im »Fanghandschuh« ruht der Ball, nachdem der gegnerische Schlagmann ausgeholt hat; aber viel öfter nimmt der Fänger den Ball heraus und wift ihn direkt zum Werfer zurück.

Graham Usher ist Mitherausgeber des »Middle East Report«.

Stationen der Eskalation

Stationen der Eskalation

von Michael Haid

Wie konnte es in Afghanistan nur soweit kommen? Das fragt sich inzwischen so mancher, nicht nur aus der Friedensbewegung. Dieser Beitrag fasst die wesentlichen Eskalationsschritte der letzten Jahre sowie einige der wichtigsten Daten und Fakten zum Krieg in Afghanistan zusammen.

Im August 2003 übernahm die NATO das Kommando über die International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan. Anfangs wurde der Einsatz noch als »Stabilisierungsmission« bezeichnet, im Laufe der Jahre wurde der Operationsschwerpunkt jedoch immer deutlicher in Richtung offensiver Aufstandsbekämpfung verschoben. Dazu trug u.a. die im Jahr 2006 getroffene Entscheidung bei, das ISAF-Aktionsgebiet auf den schwer umkämpften Süden und Osten des Landes auszuweiten. Nahezu zeitgleich erfolgte die Änderung der Einsatzregeln, die für Afghanistan lange Zeit vorschrieben, dass Waffengewalt ausschließlich zur Selbstverteidigung nach einem erfolgten Angriff eingesetzt werden durfte. Seit Anfang 2006 ist auch die aktive Bekämpfung von Widerstandsgruppen erlaubt. Hinzu kommen massive Truppenerhöhungen – inzwischen ist die Zahl der in Afghanistan stationierten NATO-Soldaten auf 119.500 angestiegen. Außerdem kämpfen dort noch ca. 30.000 Soldaten unter alleinigem US-Kommando (Stand: 7.6.2010). Der Einsatz hat sich grundsätzlich verändert, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik nüchtern feststellt: „In ganz Afghanistan hat sich die ISAF-Mission seit 2006 von einer reinen Stabilisierungsoperation zu einem Einsatz mit dem Schwerpunkt Aufstandsbekämpfung entwickelt.“ 1

Per Salamitaktik in den Krieg

Da der Krieg in Afghanistan von der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung abgelehnt wird, sieht sich die Bundesregierung zu einer Salamitaktik gezwungen. Anfang 2007 wurde entschieden, Bundeswehr-Tornados im Süden und Osten Afghanistans einzusetzen. Diese liefern Zieldaten, auf deren Grundlage anschließend Bombardierungen erfolgen. Am 30. Juni 2008 übernahm die Bundeswehr die »Quick Reaction Force« (QRF), 250 Soldaten wurden im Norden und Westen Afghanistans eingesetzt. Ihre Aufgabe ist primär die Bekämpfung Aufständischer. Im Herbst 2008 wurde das Bundeswehr-Kontingent dann erneut, diesmal von 3.500 auf 4.500 Soldaten, vergrößert.

Im Sommer 2009 die nächste Eskalation: Die Bundeswehr beteiligte sich mit 300 Soldaten an der Operation Adler. Sie sollte im Raum Kunduz ein Gebiet »befreien«, das zuvor von Aufständischen erobert worden war. Dabei kam erstmals seit 1945 von deutscher Seite wieder schweres Gerät (Mörser und Schützenpanzer) zum Einsatz. Nahezu zeitgleich erfolgte die Anpassung der »Nationalen Klarstellungen« zum Nato-Operationsplan. In einer so genannten Taschenkarte zusammengefasst regeln sie, wann die Soldaten in Afghanistan Gewalt einsetzen dürfen. Im Juli 2009 wurden die diesbezüglichen Grenzen erheblich gelockert, indem folgender Satz gestrichen wurde: „Die Anwendung tödlicher Gewalt ist verboten, solange nicht ein Angriff stattfindet oder unmittelbar bevorsteht.“ 2 In gewisser Weise ist deshalb die Tragödie des Luftangriffes auf die Tanklaster bei Kunduz im September 2009, dem über 140 Menschen zum Opfer fielen, eine Folge der sukzessiven Brutalisierung des deutschen Vorgehens in Afghanistan.

Der bislang letzte wesentliche Schritt ist die nochmalige Kontingentserhöhung von 4.500 auf nunmehr 5.350 Soldaten. Damit steigen die offiziellen jährlichen Kosten des Einsatzes auf 1.059 Mrd. Euro – laut Berechnungen des Deutschen Intituts für Wirtschaftsforschung belaufen sich diese real allerdings auf 2.5 bis 3 Mrd. Euro jährlich.3

Das Drama in Zahlen

In welchem Ausmaß der Krieg in Afghanistan in den letzten Jahren eskaliert ist, lässt sich anhand der so genannten »Sicherheitsvorfälle« ermessen. Sie beschreiben die bewaffneten Zusammenstöße westlicher Truppen mit dem afghanischen Widerstand. Wurden im Jahr 2005 noch etwa 1.750 Vorfälle gemeldet, so stieg diese Zahl von 3.500 (2006) über 6.000 (2007) auf 10.000 (2008) und 16.000 (2009) dramatisch an – Tendenz 2010 weiter steigend. Innerhalb von fünf Jahren haben sich die Kampfhandlungen also verzehnfacht.

Analog hierzu steigen auch die Opfer des Krieges. Angaben der Vereinten Nationen zufolge fielen dem Krieg – bei hoher Dunkelziffer – im Jahr 2006 insgesamt 929, im Folgejahr schon 1.523, dann 2.118 und schließlich, 2009, 2.259 afghanische Zivilisten zum Opfer. Auch unter den westlichen Truppen steigt die Zahl der Toten, 1.811 waren es bislang, 1.103 davon stammten aus den USA, 42 aus Deutschland (Stand: 10.6.2010).4

Vor diesem Hintergrund sollte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass ein Ausstieg aus der beschriebenen Eskalationsspirale durch einen sofortigen Truppenabzug dringend erforderlich ist. Leider scheint dies derzeit aber in den Überlegungen kaum eine Rolle zu spielen.

Anmerkungen

1) Noetzel, Timo/Zapfe, Martin: Aufstandsbekämpfung als Auftrag: Instrumente und Planungsstrukturen für den ISAF-Einsatz, SWP-Studie, Mai 2008, S.15.

2) Neue Regeln erlauben Deutschen offensiveres Vorgehen, Spiegel Online, 04.07.2009.

3) Brück, T. u.a.: Eine erste Schätzung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan, Wochenbericht des DIW Berlin 21/2010, S.2-11.

4) Vgl. Campbell, Jason H./Shapiro, Jeremy: Afghanistan Index. Tracking Variables of Reconstruction & Security in Post-9/11 Afghanistan, Brookings Institution, 11.06.2010.

Michael Haid ist Politikwissenschaftler und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung.

Für eine Handvoll Dollar

Für eine Handvoll Dollar

Versöhnung und Reintegration in Afghanistan

von Susanne Schmeidl und Nick Miszak

Das »Afghanistan Peace and Reintegration Program« (APRP), das der Friedensjirga Anfang Juni zur Diskussion vorgelegt wurde, steht auf einem sehr wackeligen Fundament. Es geht davon aus, dass in Afghanistan wirtschaftliche und politische Bedingungen existieren, die eine Form nachhaltigen Regierens erlauben, die auch für Talibankämpfer attraktiv ist. Außerdem baut das Programm auf einem vereinfachten Verständnis der Taliban auf, dass sich stark auf politische Kompromisse mit der Talibanführung und auf finanzielle Abfindungen konzentriert. Im vorliegenden Beitrag beleuchten die Autoren den afghanischen Vorschlag und zeigen mögliche Alternativen auf. Dabei heben sie hervor, dass es wichtig ist, die Komplexität der Situation zu verstehen und die zu ergreifenden Maßnahmen diesem Verständnis anzupassen. Sehr wichtig ist es, das große Tabu der Vergangenheitsbewältigung anzugehen. Auch wenn ein Versöhnungsprozess nicht leicht ist, können es sich Afghanistan und die internationale Gemeinschaft nicht leisten, eine friedliche Entwicklung erneut durch falsche Ansätze zu verspielen.

Mittlerweile ist auch dem letzten Beobachter klar geworden, dass die Intervention von 2001 die Taliban nicht vernichtet, sondern lediglich in den Untergrund und später in den Aufstand gegen den Afghanischen Staat und ihre ISAF Schutzmacht getrieben hat. Seit 2006 haben die Taliban in Afghanistan zunehmend an Stärke gewonnen. Gestützt wurden sie dabei von ausländischen Geldgebern und Akteuren, begünstigt wurden sie durch eine schwache und korrupte afghanische Regierung, einem Militäreinsatz der internationalen Gemeinschaft, der zahlreiche zivile Opfer bei Luftangriffen in Kauf nahm und zu dem nächtliche Hausdurchsuchungen gehören, und einer Politik, die nicht in der Lage war, die Kriegsfürsten in ihrer Macht zu beschränken. Nach der Einsicht der internationalen Gemeinschaft, dass die Probleme in Afghanistan rein militärisch nicht lösbar sind, stellt sich die Frage nach möglichen politischen Alternativen. Damit sind Versöhnung und Reintegration von Aufständischen gut acht Jahre nach der Bonner Afghanistan-Konferenz ein heiß diskutiertes Thema und zentrales Anliegen der afghanischen Regierung und ihrer internationalen Unterstützer. Obwohl die Bevölkerung von Afghanistan und internationale Hilfsorganisationen diesen verspäteten Schritt begrüßen, gibt es Zweifel, ob der vom »Afghanistan Peace and Reintegration Program« verfolgte Ansatz nicht in eine weitere Sackgasse führt.

Das Afghanischen Friedens- und Reintegrationsprogramm

Das Ziel des Afghanischen Friedens- und Reintegrationsprogramms ist die Förderung von Frieden durch einen politischen Prozess, in dem sich Talibankämpfer und -führung von der Gewalt abwenden und an einem konstruktiven Prozess der Reintegration beteiligen. Als Anreiz dient die Chance, vom Frieden und einer nachhaltigen Regierungsführung und Entwicklung profitieren zu können. Der Plan sieht eine zweiteilige Strategie vor. Erstens sollen die afghanische Sicherheit und die zivilen Regierungsinstitutionen gestärkt werden. Zweitens geht es um die Schaffung politischer und psychologischer Bedingungen, die einen dauerhaften und gerechten Frieden ermöglichen.

So einleuchtend das Konzept auf den ersten Blick erscheinen mag wird nach einer genauen Betrachtung klar, dass der Plan auf wackeligem Untergrund aufgebaut ist. Die Initiatoren des Programms gehen davon aus, dass in Afghanistan wirtschaftliche und politische Bedingungen existieren, die ein nachhaltiges Regieren erlauben, in das man Talibankämpfer einbinden kann. Dabei ist es gerade das Fehlen von Vertrauen in den eigenen Staat (insbesondere Polizei und Justiz), die Enttäuschung über die Regierungsführung der vergangenen acht Jahre, und die ungerechte Verteilung von wirtschaftlicher und politischer Macht zwischen einer Minderheit von Interventionsgewinnern – vor allem Nordallianz und alliierte paschtunische Kriegsfürsten – und den Verlieren – zu denen die Masse der afghanischen Zivilgesellschaft gehört –, das viele Afghanen dazu treibt, sich den Taliban anzuschließen, oder sich ihnen nicht in den Weg zu stellen.

Vereinfachtes Verständnis der Taliban

Der erste Schritt auf der taktischen und operationalen Ebene zielt auf die Reintegration des sogenannten Taliban-Fußvolks und auf lokale Führungskräfte, die nicht primär ideologisch motiviert sind. Sie bilden – so die Annahme – den größten Teil der Talibanbewegung (Islamic Republic of Afghanistan 2010, S.5). Der Schwerpunkt liegt hier auf »Wiedereingliederungspaketen«, von denen nicht die Einzelperson, sondern die Gemeinschaft, in die die Aufständischen zu integrieren sind, profitieren soll. Solche Wiedereingliederungspakete enthalten Mittelzuwendungen, wie zum Beispiel Entwicklungsprojekte, aber auch Programme zur beruflichen Bildung und Deradikalisierung. Allerdings scheint diesen Paketen die vereinfachte Hypothese zu Grunde zu liegen, dass die Taliban entweder aus Armut (»Zehn-Dollar-Taliban«) oder Ideologie kämpfen, nicht aber etwa wegen einer berechtigten Kritik an der Regierung oder unter dem Einfluss anderer Staaten, die die Taliban instrumentalisieren, um ihre eigenen regionalpolitischen Strategien zu fördern.

Eine sinnvolle Reintegrationsstrategie sollte deshalb auf einem fundierten Verständnis der Aufständischen aufbauen und nicht auf der Propaganda der Talibanführung, die nur zu gern die Einheit der Bewegung und ihrer Ziele propagiert. Der interne Zusammenhalt der Taliban sollte nicht überbewertet werden. Die Taliban sind ein komplexes Phänomen, das weder durch Ideologie, Armut, Stammesfehden, schlechte Regierungsführung, Steuerung von Außen, oder militärische Fehltritte allein hinreichend erklärt werden kann. Gleichzeitig sind all diese Elemente Teil des facettenreichen Aufstandes, weshalb nicht jeder Mitläufer der Taliban automatisch für ein politisch motiviertes Reintegrationsprogramm geeignet ist.

Die meisten Afghanen machen einen klaren Unterschied zwischen Taliban mit einer politischen bzw. ideologischen Haltung (die häufig beschuldigt werden, von außen gesteuert zu sein), und einer breiten Masse, die sich aus diversen anderen Gründen dem Aufstand anschließt oder diesen toleriert. Die Differenzierung zwischen dem »harten Kern« und den »gemäßigten« Taliban, die in den internationalen Medien zirkuliert, hat im ländlichen Afghanistan wenig Bedeutung.

Hier wird eher zwischen dem fairen und ehrlichen Taliban, »Taliban-e asli« (der wirkliche Taliban), oder auch »Taliban-e Pak« (der saubere Taliban) und dem niederträchtigen und grausamen (zalem ) Taliban, meist fremde Kämpfer aus dem Ausland oder anderen Regionen von Afghanistan, unterschieden (van Bijlert, 2009, S.160). Letztere sind häufig auch an der Sprache zu erkennen. Dazu gehören auch kriminelle Elemente, sogenannte »Taliban-e duzd« (Dieb-Taliban) bzw. Taugenichtse (badmash) (vgl. van Bijlert, 2009, S.160). Des Weiteren kann man folgende analytische Unterscheidungen vornehmen:

Die Alte Garde Der harte Kern des ersten Taliban-Regimes von Mullah Omar. Neben dem ausländischen Taliban sind sie die ideologischste Gruppe und werden vom Pakistanischen Geheimdienst (ISI) gefördert und gesteuert. In dieser Gruppe ist Versöhnung ohne die Einbeziehung Pakistans und ohne ein Verzicht auf bestimmte Menschenrechte, insbesondere solcher von Frauen und Minderheiten, sehr schwer durchzusetzen.

Der Neo-Taliban Hauptsächlich junge Männer, die vorwiegend in privaten Koranschulen, den sogenannten Madrassas in Pakistan durch ausländische Taliban oder durch Mullahs, die der alten Garde nahe stehen, ausgebildet und indoktriniert werden. Wie die Vertreter der Alten Garde, sind die Neo-Taliban sehr entschlossen, verfügen aber über ein verzerrtes Bild von ihrem eigenen Land, in dem sie nie gelebt haben. In dieser Gruppe könnten Deradikalisierungsprogramme ansetzen. Dabei sollte auch die Förderung und Kontrolle religiöser Schulen in Afghanistan in Betracht gezogen werden (türkisches Modell).

Politische Opportunisten Ehemalige Mujahedien oder lokale Kriegsfürsten, die hoffen, durch den Anschluss an die Taliban politischen Einfluss und/oder Vorteile im Kampf um die Verteilung von Ressourcen zu gewinnen. Um diese Gruppe kooperationswillig zu stimmen, sind ein verbessertes Justizsystem und gute Regierungsführung wichtiger als Geld. Allerdings sind einige dieser Vertreter möglicherweise Intriganten von denen angenommen werden muss, dass sie in Friedenszeiten nicht wirklich kooperieren.

Opportunisten aus wirtschaftlichen Gründen Kriminelle, Waffen- und Drogenhändler, denen es in der jetzigen Situation gut ins Konzept passt, sich den Taliban anzuschließen. Hier scheinen ein solider Rechts- und Polizeiapparat sowie funktionierender Strafvollzug wirksamer als ein Reintegrationsprogramm. Das Entfernen krimineller Elemente würde die Taliban wirksam schwächen, da sie mit kriminellen Netzwerken kooperieren, um die Regierung zu delegitimieren.

Der Außenseiter-Taliban Einzelpersonen, oder deren Familienmitglieder, die von Kriegsfürsten in Regierungsfunktionen entweder aus dem politischen Prozess ausgeschlossen und/oder schikaniert, bzw. Opfer von Menschenrechtsverletzungen wie Folter oder willkürlicher Verhaftung wurden. Gerade in dieser Gruppe sind Vergangenheitsbewältigung und eine verbesserte Repräsentanz und Transparenz der Regierung unabdingbar.

Der Armutstaliban Auch wenn die Idee des »Zehn-Dollar-Taliban« eine sehr starke Vereinfachung darstellt, so gibt es durchaus Personen, die sich den Taliban aus einer ökonomischen Notlage heraus anschließen. Manche Bauern kompensieren auf diese Weise ihre Verluste im Opiumanbau. Hier sind Reintegrationspakete und eine nachhaltige Entwicklung sinnvoll und wünschenswert.

Der Zwangstaliban Viele schließen sich den Taliban aus fehlenden Alternativen an. Wenn ein Dorf in einem Gebiet unter Talibanherrschaft liegt und vermeiden will, dass fremde Taliban die Kontrolle übernehmen, ist es am einfachsten, eine eigene Talibanzelle zu gründen. Mancherorts, wie z.B. in Kunduz, gehen die Taliban auch mit massiven Einschüchterungsmethoden vor. Hier ist es wichtig, die afghanischen Sicherheitskräfte zu stärken, um den Druck durch fremde Taliban zu vermindern. Die Annahme, dass es einfach ist, sich dem Taliban zu widersetzten, muss jedoch dringend korrigiert werden.

Die Vielfalt an Beweggründen, sich den Taliban anzuschließen, weckt starke Zweifel an der Wirksamkeit eines Versöhnungsprogramms, das sich auf politische Kompromisse mit der Talibanführung und finanzielle Abfindungen beschränkt. Darüber hinaus gilt es sich in Erinnerung zu rufen, wie viel Geld schon in die relativ unsicheren Gebiete Afghanistans geflossen ist (Waldman, 2008). Es stellt sich also die Frage, warum die Talibankämpfer nicht schon früher ihre Waffen gegen Lehrbuch und landwirtschaftliches Gerät eingetauscht haben. Afghanistans kurze Geschichte seit der Bonner Konferenz ist davon geprägt, dass immense Geldmittel in schlecht geplante Programme investiert wurden. Trotz zweier Entwaffnungsprogramme, dem »Disarmament, Demobilisation and Reintegration« (DDR) und dem »Disbandment of Illegal Armed Groups« (DIAG) Programm ist es bis heute nicht gelungen, ehemalige Mujahedinkämpfer erfolgreich in die Gesellschaft zu reintegrieren. Auch das erste Talibanreintegrationsprogramm, das »Strengthening Peace Programme« (Programme Tahkim Sulh PTS), war erfolglos (Waldman 2010, Semple 2009). Warum also sollte das neu erdachte Programm auf einmal besser sein? Die starke Zunahme von Milizen in Kunduz spricht Bände über den fehlenden Erfolg von Entwaffnungs- und Reintegrationsprogrammen in Afghanistan. Die zunehmende Unsicherheit in dieser Provinz ist eine Chance für ehemalige Mujahedinführer, wieder an Ansehen zu gewinnen. Ein Prozess der nachhaltigen Befriedung birgt für sie nur Nachteile.

Ein Blick auf die bisherige Entwicklung lässt den Schluss zu, daß ein neues Programm aufgelegt wird, sobald ein altes gescheitert ist, ohne genau zu analysieren, was anders gemacht werden sollte. Auch mit Blick auf das neue afghanische Friedens- und Reintegrationsprogramm scheint es, als ob man nicht viel von der Vergangenheit gelernt hat. Zum einen setzt es eine problematische Taktik fort, die viele Afghanen verzweifeln lässt: Belohnt werden Gebiete und Gemeinschaften, in denen Unsicherheit und Gewalt herrscht. Wo bleibt die Belohnung für die Afghanen, die trotz Kritik an der Regierung versuchen, an einem demokratischen Prozess friedlich mitzuwirken (Frogh 2010)? Man kommt zum Schluss, dass in Afghanistan Gewalt statt friedfertiges Verhalten und Kooperation belohnt wird.

Wiedereingliederung ohne Versöhnung

Der zweite »strategische und politische« Teil des Programms zielt auf die Führung der Taliban ab (Islamic Republic of Afghanistan 2010, S.5). Die Angebote auf dieser Ebene beinhalten die Trockenlegung der Taliban-Zufluchtsorte unter anderem in Pakistan, den Wegfall von UN-Sanktionen, die Loslösung von Al-Qaida, weitere politische Zugeständnisse und ein mögliches Exil in Drittländern. Gerade dieser Teil macht vielen Afghanen Sorgen, weil er nicht ausgereift erscheint. Nach Ansicht vieler Afghanen, ist dass »Afghanische Problem« mindestens so sehr selbst verschuldet, wie Folge der Einmischung anderer Staaten. Demnach ist die Versöhnungs- und Reintegrationsstrategie von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht auch auf regionaler Ebene unterstützt wird. Die Verhaftung von Talibanführern wie Mullah Baradar in Pakistan im Februar dieses Jahres könnte man in diesem Zusammenhang auch so interpretieren, dass die pakistanische Führung nur willens ist, verhandlungsbereite Taliban auszuliefern, und den harten Kern schützt.

Zudem fragen sich viele Afghanen, welchen Preis Präsident Karzai zu zahlen bereit ist, um sich mit den Taliban auszusöhnen. Bis jetzt hat die afghanische Regierung den Begriff Aussöhnung durch Vergangenheitsbewältigung nicht verwendet. Auch in dem neuen Programm scheint das nicht vorgesehen. Viele Afghanen befürchten deshalb ein weiteres politisches Zugeständnis in der Art des Amnestiegesetzes, das Präsident Karzai trotz wiederholten Beteuerns, dass er es nie unterschreiben würde, still und heimlich im März diesen Jahres verabschiedet hat (Human Rights Watch 2010). Wenn der Präsident schon einmal Kriegsverbrecher ohne eine öffentliche Debatte begnadigt hat, wieso sollte er es nicht ein zweites Mal tun? Indirekt lässt sich folgern, dass man Sitz und Stimme in der Regierung und politische Konzessionen weiterhin nicht auf Grundlage von Kompetenz oder durch faire und transparente Verhandlungen erreicht, sondern sie sich sprichwörtlich erkämpft.

Ein Teil der Probleme in Afghanistan existiert gerade aus dem Grund, dass sich das Land nie richtig mit seiner Vergangenheit und vor allem nicht mit Menschenrechtsverstößen beschäftigt und Kriegsverbrechern Zugang zur Regierung erlaubt hat. Ein Afghane, der an einer Jirga für die Kriegsopfer am 9. Mai 2010 teilnahm, bringt das Dilemma auf den Punkt: „Ich fordere nicht Rache, sondern Gerechtigkeit. Ich möchte wissen, warum sie taten, was sie taten und ich benötige, dass sie es zumindest zugeben, und sich bei den Leuten entschuldigen.“ (Frogh 2010).

Kann man Frieden wirklich mit Stillschweigen und Unterdrückung, ohne Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung erreichen? Und das alles zu welchem Preis? Möglicherweise stehen mit dem neuen Programm die hart erkämpften Rechte der afghanischen Gesellschaft, insbesondere die der Frauen, für einen Deal mit den Taliban auf dem Spiel, ohne dass eine Garantie für Frieden damit verbunden ist. Wo ist die Garantie, dass im Falle einer Regierungsbeteiligung der »verärgerten Brüder« die Probleme und Konflikte in Afghanistan wirklich überwunden werden? So wie die afghanische Regierung und die internationalen militärischen Streitkräfte die Komplexität der Taliban vereinfachen, so fehlt auch ein detailliertes Verständnis von den lokalen Konflikten, die den Aufstand und insbesondere den Unwillen, sich den Taliban zu widersetzen, schüren. Neben dem Fehlen öffentlicher Güter wie Sicherheit, Gerechtigkeit und ökonomischen Möglichkeiten, sind die folgenden Faktoren nicht zu unterschätzen:

Machtkämpfe zwischen Stammesführern, die eine Seite dazu bringen, ihre Unterstützung für die Regierung zurückzuziehen und/oder die aktive Unterstützung der Taliban zu suchen;

Manipulation von latenten Spannungen zwischen Stämmen und Gemeinschaften, aber auch gezielte Marginalisierung und Ausschluss von Stammesführern durch Kriegsfürsten, die der Regierung nahestehen oder selbst Regierungsämter bekleiden;

Marginalisierung und Vernachlässigung von spezifischen Gruppen wie Nomaden (Kuchi) und Binnenflüchtlingen (Schmeidl, Mundt und Mizak 2009; Schmeidl und Mundt 2010);

Fehler der internationalen Militärs, insbesondere durch ihre Kooperation mit lokalen Kriegsfürsten.

Fazit

Trotz des dringenden Bedarfs an Versöhnung und Wiedereingliederung gibt es Zweifel, ob die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft auf dem richtigen Weg sind. Der gegenwärtige Vorschlag, der zur Diskussion steht, scheint der Komplexität der lokalen Konflikte und der Talibanbewegung nicht gerecht zu werden. Individuen, die entweder selbst in der afghanischen Regierung oder zumindest eng mit ihr verbunden sind, spielten in den vergangenen Jahren eher die Rolle des Konfliktverschärfers, als die einer neutralen Instanz. Das Fehlverhalten von korrupten Regierungsbeamten hat viel zur Desillusionierung der Bevölkerung und damit zum Wachstum der Taliban beigetragen. Ein Reintegrations- und Versöhnungsprogramm, das solchen Individuen anvertraut wird, das eigene Schuldverhalten aber nicht zum Teil des Prozesses macht, setzt sich von Anfang an der Gefahr aus, als einseitig angesehen zu werden.

Versöhnung und Reintegration müssen als ein Prozess begriffen werden, der auf verschiedenen Ebenen, also international, national und lokal gleichzeitig ansetzt. Außerdem sind die folgenden Punkte zu berücksichtigen:

Die internationalen und afghanischen Akteure müssen sich auf eine Strategie einigen und am selben Strang ziehen. Hier ist der erste Schritt getan, auch wenn es unklar ist, was die afghanische Regierung davon hält, wenn Teile der US-Armee versuchen, Taliban durch Garantien und andere Maßnahmen davon zu überzeugen, die Waffen zu strecken (Bumiller 2010).

Der Umgang mit Friedensstörern und Kriminellen. Auch wenn alle eine politische Lösung bevorzugen, muss man sich damit auseinandersetzen, wie man jenen Individuen auf der Regierungs- und Talibanseite begegnet, die einer politischen Lösung grundsätzlich mit Abneigung gegenüber stehen. Viele lokale Machthaber sind an Versöhnung und Reintegration nicht interessiert, sie bevorzugen den Status Quo, der ihnen Macht und Reichtum garantiert. Ein häufig identifizierter »Friedensstörer« ist Pakistan. Präsident Karzai hat in einem Gespräch mit dem Spiegel angesprochen, was viele Afghanen denken: Das größte Problem ist der sichere Unterschlupf der Taliban im Nachbarland.1 Ein Stammesältester aus dem Südosten beschreibt das Problem folgendermaßen: „Solange man den Hauptschalter nicht ausschaltet, ist es hart, die einzelnen Glühbirnen nacheinander herauszuschrauben.“ Und ein oberster Richter aus Kunduz meint: „Man muss einen Fluss an der Quelle blockieren, sonst überschwemmt er einfach andere Gebiete.“ Allerdings scheinen sich viele internationale Politiker gerade vor diesem Problem zu scheuen.

Der Umgang mit bzw. die Lösung von lokalen Konflikten bezüglich Ressourcen, wie beispielsweise Land und Wasser, die von Taliban ausgenutzt werden. Hier ist es entscheidend, Maßnahmen zu finden, die es erlauben, Landkonflikte unbürokratisch, schnell und nachhaltig zu lösen. Ein besonderes Augenmerk sollte marginalisierten Gruppen (Nomaden, Binnenflüchtlinge) zukommen, welche die Taliban unter Umständen als Schutzmacht begreifen.

Auch wenn wir in den vergangenen acht Jahren versucht haben, das zu ignorieren: An Vergangenheitsbewältigung, Versöhnung und Übergangsjustiz führt kein Weg vorbei. Im Streit darüber, ob Sicherheit höher zu gewichten sei als Gerechtigkeit, hat bisher das Sicherheitsdenken die Oberhand behalten. Dabei hat gerade die afghanische Zivilgesellschaft wiederholt darauf hingewiesen, dass sie sich Gerechtigkeit wünscht und dass Menschenrechtsverbrecher keinen Zugang zur Regierung finden dürfen. Es ist interessant, dass in einem Land, in dem es traditionelle Schlichtungsmethoden gibt, die auf »restituierender Justiz« und Täter-Opfer-Ausgleich anstelle von Strafvollzug basieren, dieses Werkzeug noch nicht zur Vergangenheitsbewältigung in Betracht gezogen wurde, obwohl es in manchen Gegenden von Stammesältesten als Hilfestellung zur Versöhnung und Reintegration angeboten wurde.

Bisher sehen die Perspektiven für Versöhnung und Reintegration in Afghanistan schlecht aus. Dennoch gibt es Möglichkeiten, wenn man bereit ist, Zeit zu investieren, um die Komplexität der Situation zu verstehen, die Maßnahmen diesem Verständnis anzupassen und das große Tabu der Vergangenheitsbewältigung anzugehen. Afghanistan ist an einem Punkt angekommen, wo der Preis der nachhaltigen Wiedereingliederung weit über eine handvoll Dollar hinausreicht.

Anmerkung

1) http://www.spiegel.de/international/world/0,1518,675140,00.html [download 28. April 2010].

Literatur:

Bumiller, Elisabeth (2010): U.S. Tries Luring Taliban Foot Soldiers Back to Society, The New York Times, 23 May 2010, http://www.nytimes.com/2010/05/24/world/asia/24reconcile.html [download 1. Juni 2010].

Frogh, Wazhma (2010): Will the Afghan government’s reintegration and reconciliation efforts bring peace to Afghanistan?, Afghan Voices Series, Sydney: The Lowy Institute.

Human Rights Watch (2010): Afghanistan: Repeal Amnesty Law, 10 March 2010, http://www.hrw.org/en/news/2010/03/10/afghanistan-repeal-amnesty-law [download 1. Juni 2010].

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Schmeidl, Susanne/Alexander D. Mundt (2010): Nomads or Internally displaced? The Transformation of Afghanistan‘s Kuchi, Vortrag an der 51th Annual Convention of the International Studies Association, New Orleans, LA, 17-20 February 2010.

Schmeidl, Susanne/Alexander D. Mundt/Nick Miszak (2009): Beyond the Blanket: Towards more Effective Protection for Internally Displaced Persons in Southern Afghanistan, Joint Report of the Brookings/Bern Project on Internal Displacement and The Liaison Office, Washington D.C.: The Brookings Institution.

Semple, Michael (2009): Reconciliation in Afghanistan, Washington, DC: US Institute of Peace.

SPIEGEL Interview with Hamid Karzai: There Has To Be Peace Now, 31 January 2010, http://www.spiegel.de/international/world/0,1518,675140,00.html [download 1. Juni 2010].

van Bijlert, Martine (2009): Unruly Commanders and Violent Power Struggles: Taliban Networks in Uruzgan“, in: Antonio Giustozzi (ed.) Decoding the New Taliban: Insights from the Afghan Field, London: Hurst & Company, S,155-179.

Waldman, Matt (2008): Falling Short: Aid Effectiveness in Afghanistan. Kabul: ACBAR.

Waldman, Matt (2010): Golden Surrender? The Risks, Challenges, and Implications of Reintegration in Afghanistan, Discussion Paper, Kabul: Afghanistan Analyst Network.

Susanne Schmeidl ist Mitbegründerin der afghanischen Nichtregierungsorganisation The Liaison Office (TLO) und begleitet deren Forschungs- und Friedensföderungsvorhaben. Sie ist Gastforscherin am Asia-Pacific College of Diplomacy, The Australian National University. Sie arbeitet zu Afghanistan seit 2000 und leitete das swisspeace Büro in Kabul zwischen 2002 und 2005 und koordierte das Afghan Civil Society Forum.
Nick Miszak arbeitet seit drei Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei The Liaison Office’s (TLO) in Kabul, Afghanistan mit Schwerpunkt auf Konfliktanalysen in den Provinzen Kandahar, Uruzgan und Helmand. Vorher arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department der Gesellschaftswissenschaften der Universität Fribourg und als Assistent bei swisspeace in Bern.

Neoliberaler Umbau und Guerillakrieg

Testfall Afghanistan

Neoliberaler Umbau und Guerillakrieg

von Jürgen Wagner

In der Debatte über die Hintergründe des Afghanistan-Kriegs wurde in zahlreichen Veröffentlichungen auf geostrategische Interessen verwiesen. Tatsächlich existierten in Washington schon lange vor den Anschlägen des 11. September Pläne für eine bewaffnete Intervention, u.a. weil eine militärische Präsenz in unmittelbarer Nähe zu Russland sowie der angrenzenden ölreichen kaspischen Region angestrebt wurde. Zudem wird das westliche Interesse hervorgehoben, Afghanistan als alternative Transitroute zu erschließen, um die enormen kaspischen Energievorkommen unter Umgehung Russlands dem Weltmarkt zuführen zu können. Zweifellos spielten und spielen diese Überlegungen eine wichtige Rolle, allerdings verwundert es dennoch, wie wenig Aufmerksamkeit dem radikalen neoliberalen Umbau Afghanistans gewidmet wird, obwohl sich dieser als ein wesentlicher Eskalationsfaktor erwiesen hat.1

Der Krieg in Afghanistan ist kein »bedauerlicher« Einzelfall, sondern viel eher Prototyp für künftige NATO-Einsätze zur »Stabilisierung« (sprich: Kontrolle) missliebiger Staaten. Darauf verweist jedenfalls der im Auftrag von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen Mitte Mai 2010 vorgelegte Entwurf für ein neues Strategisches Konzept: „Angesichts des komplexen und unvorhersagbaren Sicherheitsklimas, das höchstwahrscheinlich in den nächsten Jahrzehnten vorherrschen wird, ist es unmöglich, eine NATO-Teilnahme an ähnlichen (hoffentlich weniger ausufernden) Stabilisierungseinsätzen auszuschließen.“ 2

Das proklamierte Ziel war von Anfang an, in Afghanistan ein tragfähiges System zu errichten – nach einem bewaffneten westlichen Eingriff mit anschließender militärischer Besatzung. Deshalb ist es von Bedeutung, dass die wirtschaftlichen Prämissen, die dem Staatsaufbau zugrunde gelegt wurden, frühzeitig auf einen radikalen neoliberalen Umbau der afghanischen Ökonomie abzielten. Zahlreiche Studien haben sich inzwischen kritisch mit diesem neoliberalen Nation Building in Afghanistan (und in anderen Ländern) auseinandergesetzt. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass marktradikale Konzepte untauglich sind, um die soziale Lage der Bevölkerung zu verbessern, sie in den meisten Fällen die Armut sogar noch vergrößern. Afghanistan macht hier keine Ausnahme, im Gegenteil.3

Die Entscheidung, dennoch unbeirrt den eigenen ordnungspolitischen Prämissen Vorrang vor den Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung einzuräumen, ist in Kombination mit den zahlreichen Zivilopfern jedoch eine Hauptursache für die wachsende Ablehnung der westlichen Präsenz. Da gleichzeitig die Zahl derjenigen zunimmt, die bereit sind auch gewaltsame Mittel anzuwenden, ist eine beängstigende Eskalationsdynamik entstanden. Sie hat zur Folge, dass in Afghanistan inzwischen weit mehr auf dem Spiel steht als geostrategische Interessen oder die Profite westlicher Konzerne. Mittlerweile entscheidet sich am Hindukusch, inwieweit die in der NATO versammelten westlichen Staaten künftig in der Lage sein werden, in einer zunehmend brüchiger werdenden Weltordnung ihre (neoliberalen) Ordnungsvorstellungen zur Not auch mit Gewalt durchzusetzen. Scheitern sie bei diesem Versuch, steht die Existenz der NATO selbst auf dem Spiel – »make or break« heißt die Devise, wie Kanzlerin Angela Merkel betont: „Ich glaube, sagen zu können […], dass die Stabilisierung Afghanistans derzeit eine der größten Herausforderungen für die NATO und ihre Mitgliedstaaten ist. Sie ist gleichsam so etwas wie ein Lackmustest für ein erfolgreiches Krisenmanagement und für eine handlungsfähige NATO.“ 4

Die neoliberale Umstrukturierung

In Bosnien, im Kosovo, im Irak und auch in Afghanistan, überall versucht der Westen dasselbe radikalliberale Wirtschaftsprogramm durchzusetzen. Der Wahnsinn hat Methode: Verschleuderung des Staatseigentums durch umfassende Privatisierungen, Öffnung für ausländische Investitionen und Güter, Steuererleichterungen für ausländische Unternehmen, etc.5

Für Afghanistan holte der Internationale Währungsfond (IWF) unmittelbar nach Vertreibung der Taliban ein offenbar schon längst ausgearbeitetes Programm hervor, das den konsequenten neoliberalen Umbau des Landes vorsah.6 Hierbei konnte man sich auf die willfährige, weil von der Unterstützung der »internationalen Gemeinschaft« abhängige Übergangsregierung unter Hamid Karzai verlassen. So stellte der IWF befriedigt fest: „Von Anfang an haben die afghanischen Behörden sich stark darauf verpflichtet, fiskalische Stabilität und Disziplin aufrecht zu erhalten, um den Wiederaufbau und die Erholung der Wirtschaft zu unterstützen. […] Die Wirtschaft wird auf liberalen und offenen Märkten basieren, angeführt von Aktivitäten des Privatsektors und mit einem geringen Grad an staatlichen Eingriffen. Der Außenhandel und Zahlungsverkehr […] werden auch liberal sein und Privatinvestitionen werden gefördert. In ihren Anstrengungen, all diese Ziele zu erreichen, erhalten die Behörden die Unterstützung des IWF, der Asiatischen Entwicklungsbank, der Weltbank und von zahlreichen bilateralen Gebern.“ 7

Bereits im April 2002 legte die Übergangsregierung das Afghan National Development Framework (NDF) vor, in dem die grundlegenden ökonomischen Weichenstellungen in Richtung einer marktradikalen Umstrukturierung beschrieben wurden – und zwar in einem Dokument, das nicht einmal in Dari (eine der wichtigsten Landessprachen Afghanistans) übersetzt wurde.8 In dem NDF hieß es, man strebe „geringe Unternehmenssteuern für alle Investoren“ sowie „die Errichtung eines Freihandelsregimes mit niedrigen und vorhersehbaren Zöllen“ an.9 Auf verschiedenen Konferenzen wurde anschließend dafür gesorgt, dass dieses marktradikale Programm einen festen und verbindlichen Rahmen erhielt. Dies geschah zunächst über die vorläufige Afghanische Nationale Entwicklungsstrategie (ANDS) aus dem Jahr 2006, der eine endgültige Fassung zwei Jahre später folgte. Die ANDS stellt das zentrale Dokument für den Aufbau afghanischer Wirtschaftsstrukturen dar und orientiert sich strikt an den neoliberalen Vorgaben der westlichen Besatzer: „Unsere ökonomische Vision ist es, eine liberale Marktwirtschaft aufzubauen. […] Um dies zu erreichen, werden wir ein förderliches Umfeld für den Privatsektor entwickeln, damit er Profite generieren und vernünftige Steuern bezahlen kann.“ 10

So konnte Germany Trade and Invest (früher: Bundesamt für Außenwirtschaft) bereits 2007 feststellen: „Ein Erfolg ist die mit Hilfe der Bundesregierung geschaffene ‚Afghan Investment Support Agency – AISA‘, die Investoren innerhalb von nur einer Woche sämtliche Formalitäten abnimmt, deren Registrierung vornimmt und eine Steuernummer vergibt. […] Die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Wirtschaft und der Schutz von Investoren wurden in die neue afghanische Verfassung aufgenommen; […] Afghanistan kann als eine der offensten Volkswirtschaften überhaupt, auf jeden Fall aber als die offenste Volkswirtschaft der Region bezeichnet werden. Handelsbeschränkungen und Subventionen sind praktisch nicht existent, und die afghanische Regierung zeigt sich sehr aufgeschlossen für Investitionen im Land.“ 11 Der betreffende Satz der afghanischen Verfassung lautet wörtlich: „Der Staat ermuntert und schützt private Kapitalinvestitionen und Unternehmen auf der Basis der Marktwirtschaft und garantiert deren Schutz im Einklang mit den rechtlichen Bestimmungen.“ 12

Bereits früh wurden auf dieser Grundlage auch rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, etwa mittels eines Investitionsschutzgesetzes (Law on Domestic and Foreign Private Investment), das von der Bertelsmann-Stiftung folgendermaßen zusammengefasst wurde: „Im September 2002 ratifizierte die afghanische Regierung das law on domestic and foreign private investment in Afghanistan, das keine Unterscheidung zwischen ausländischen und inländischen Investitionen macht. Dieses Gesetz ermöglicht 100% ausländische Investitionen, den vollständigen Transfer von Gewinnen und Kapital aus dem Land heraus, internationale Schlichtungsverfahren sowie ‚stromlinienförmige‘ Lizenzverfahren. Auch werden Ausländer, die Kapital nach Afghanistan bringen, für vier bis acht Jahre von Steuern befreit.“ 13 Ferner wurde laut afghanischer Regierung auf Betreiben von IWF und Weltbank die Steuergesetzgebung »vereinfacht«, indem eine Flat-Tax von 20% auf Unternehmensgewinne eingeführt wurde.14 Auch die Senkung der durchschnittlichen Zölle auf Importwaren von vormals 43% auf nunmehr 5,3% ist ein typisches Rezept aus der neoliberalen Giftküche.15

Zusammengefasst können die westlichen Protegés mit der Umsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen durch die afghanische Regierung überaus zufrieden sein, wie es etwa das Investment Climate Statement des US-Außenministeriums vom Mai 2010 zum Ausdruck bringt: „Die Regierung Afghanistans hat wichtige Maßnahmen zur Förderung eines wirtschaftsfreundlichen Umfelds ergriffen, um sowohl ausländische als auch inländische Investitionen zu fördern […], einschließlich einer Währungsreform, vereinheitlichten Zolltarifen und einem vereinfachten Steuersystem.“ 16

Humanitäre Katastrophe und wachsender Widerstand

All diese wirtschaftlichen »Reformen« wurden damit begründet, dass die Herausbildung eines möglichst umfassenden privatwirtschaftlichen Sektors, verbunden mit ausländischen Direktinvestitionen, die durch möglichst vorteilhafte Rahmenbedingungen maximal gefördert werden müssten, der optimale Weg zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage in Afghanistan sei. Schon frühzeitig warnten Beobachter davor, dass eine derartige Auslieferung an den Weltmarkt zwar ganz den Vorstellungen von IWF und Weltbank entspricht, für die Entwicklung einer eigenen afghanischen Industrie und für die Entwicklung einer am Bedarf der Bevölkerung orientierten Landwirtschaft aber untauglich ist.17 So führt die Senkung der Zölle dazu, dass das Land mit ausländischen Waren überschwemmt wird: „Man kann Kosmetika aus Europa kaufen und dann fragt man sich, wo bleibt überhaupt noch ein Spielraum für eine neue privatwirtschaftliche Produktion in Afghanistan selbst, wenn die Importwaren viel günstiger zu erwerben sind?“, so Citha Mass von der Stiftung Wissenschaft und Politik.18 Als Resultat weist Afghanistan ein Handelsbilanzdefizit von ca. 6.5 Mrd. Dollar allein im Jahr 2008 aus. Im selben Jahr stehen den deutschen Exporten von 267,7 Mio. Euro unbedeutende Importe aus Afghanistan in Höhe von 2,7 Mio. gegenüber. Daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern: „Die Handelsbilanz wird auch langfristig passiv bleiben“, prognostiziert Germany Trade and Invest.19

Die umfangreichen Zollreduzierungen haben zur Folge, dass die einheimischen Betriebe der ausländischen Konkurrenz nahezu schutzlos ausgeliefert sind. Die ANDS aber nimmt die Nichtkonkurrenzfähigkeit zum Anlass, sich für die umfassende Privatisierung der staatseigenen Unternehmen auszusprechen.20 Schon das Präsidentendekret Nr. 103 (Dezember 2005) beauftragte das afghanische Finanzministerium, die Privatisierung von Staatsbetrieben zu prüfen. Als Ergebnis wurde vorgeschlagen, dass in einer ersten Runde lediglich neun von 65 untersuchten Betrieben in staatlicher Hand verbleiben, die restlichen 56 jedoch entweder liquidiert oder privatisiert werden sollen.21 Um generell Investitionen in den Privatsektor zu fördern, wurde, wie bereits erwähnt, die Afghan Investment Support Agency ins Leben gerufen. Ihren Angaben zufolge haben sich bis Anfang 2010 etwa 7.500 Unternehmen als Investoren registrieren lassen. Das erfasste Investitionsvolumen belief sich Ende 2008 auf ca. 2,8 Mrd. US$. Zu den großen ausländischen Investoren zählen u.a.: Siemens, Tobishima Japan, British Petroleum, Air Arabia, Alcatel, Dagris, Coca-Cola, KPMG, Roshan, Hyatt, Serena Hotels und DHL.22 Auch indische und vor allem chinesische Unternehmen sind in Afghanistan aktiv. Insbesondere was die Ausbeutung der afghanischen Rohstoffvorkommen anbelangt, die jüngsten Berichten zufolge weit größer sind als bislang vermutet, hat sich China mittlerweile als wichtigster Akteur auf dem dortigen Markt etabliert.23

Laut Germany Trade and Invest sind die wirtschaftlichen Erfolge trotzdem bestenfalls bescheiden: „Die Wirtschaft verzeichnete im Finanzjahr 2008/09 (21.3.08 bis 20.3.09) mit einem Plus von nur noch 3,6% ein stark reduziertes Wachstum.“ Zugleich fehlen aufgrund niedriger Zölle und Steuern die erforderlichen Staatseinnahmen, um mittels sozialpolitischer Maßnahmen die Not im Land zu lindern: „Das Steueraufkommen ist eines der niedrigsten im Weltvergleich.“ 24 Da wiegt es umso schwerer, dass große Teile der ohnehin nicht gerade üppigen Entwicklungshilfe für sicherheitsrelevante Maßnahmen verausgabt oder gleich für häufig vollkommen sinnlose Projekte in die Taschen westlicher Konzerne verschoben werden.25

Für die Bevölkerung sind die Folgen dieser neoliberalen »Wiederaufbaupolitik« verheerend. Im Sommer 2009 zog Thomas Gebauer, Geschäftsführer von medico international, eine vernichtende Bilanz: „Acht Jahre Intervention haben Afghanistan nicht aus der Armut geführt – im Gegenteil. Soziale Not und Arbeitslosigkeit greifen um sich, von Wiederaufbau kaum eine Spur: 4,5 Millionen Afghanen sind von Engpässen in der Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung bedroht. Einer Million Kindern mangelt es an ausreichender Ernährung. Allein die Drogenwirtschaft floriert. Der Aufbau einer nachhaltigen Ökonomie ist den neoliberalen Vorgaben der Invasoren zum Opfer gefallen.“ 26

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass ein wachsender Teil der afghanischen Bevölkerung die westlichen Akteure als Okkupanten und nicht als Wohltäter betrachtet: „In einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung und des National Centre for Policy Research (NCPR) der Universität Kabul im April 2009 durchgeführten Befragung von mehr als 5.000 Personen in fünf Provinzen Afghanistans haben 64 Prozent jedes Vertrauen in die Rolle der ISAF als Sicherheitsgarantie verloren. 62 Prozent nahmen ISAF als militärische Besatzer wahr.“ 27

Dabei ist es grob verkürzt, wenn diejenigen, die sich dem gewaltsamen Widerstand anschließen, pauschal mit den Taliban oder – noch absurder – mit Al Kaida in einen Topf geworfen werden. Das US-Militär hat im Oktober 2009 eine Untersuchung über die Zusammensetzung des Widerstands veröffentlicht. Ein Geheimdienstoffizier, der an der Abfassung des Berichts beteiligt war, kommt zu der Feststellung: „Bei lediglich 10 Prozent der Aufständischen handelt es sich um Hardcore-Ideologen, die für die Taliban kämpfen.“ 28 Auch der International Council on Security and Development (ICOS), eine kanadische Denkfabrik, kommt auf Basis umfassender Feldforschung zu dem Ergebnis, der Widerstand setzte sich primär aus „armutsgetriebenen ‚Graswurzelgruppen‘“ zusammen: „Das Versagen der internationalen Gemeinschaft, den Bedürfnissen und Wünschen der afghanischen Bevölkerung ausreichend Aufmerksamkeit zu schenken und diese mittels einer effektiven Politik zu adressieren, ist ein Schlüsselaspekt für die wachsende Popularität des Aufstandes.“ 29 In dieses Bild passen auch die Ergebnisse einer Umfrage von Oxfam: „70 Prozent der Befragten in Afghanistan nennen Armut und Arbeitslosigkeit als Hauptursache für den andauernden bewaffneten Konflikt in ihrem Land.“ 30

Fazit

Der mit dem Militäreinsatz der NATO verbundene Tod zahlreicher Zivilisten ist eine der wesentlichen Ursachen für den Ansehensverlust des Westens und die Stärkung des Widerstandes. Die zweite ist der neoliberale Umbau Afghanistans im Zuge der westlichen Besatzung.

Der eingeschlagene Weg – Verstärkung der Truppen und Forcierung des neoliberalen Markmodells – kann deshalb auch nicht zur Lösung des Afghanistan-Konflikts führen. Dafür müsste der Militäreinsatz mit seinen »Kollateralschäden« in der Zivilbevölkerung auf Null heruntergefahren, eine nationale Industrie und Landwirtschaft gefördert, Korruption bekämpft sowie Verteilungsgerechtigkeit, Bildung und Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt gestellt werden

Anmerkungen

1) Vgl. zu den geostrategischen Interessen Ruf, Werner: Afghanistan im Fadenkreuz der Geostrategie, in: SPW, Heft 176, Februar 2010; Wagner, Jürgen: Das ewige Imperium. Die US-Außenpolitik als Krisenfaktor, Hamburg 2002, S.49-87.

2) NATO 2020: Assured Security; Dynamic Engagement, May 17, 2010, S.32.

3) Vgl. zur Kritik des neoliberalen Nation Building Richmond, Oliver P./Franks, Jason: Liberal peace transitions: between statebuilding and peacebuilding, Edinburgh 2009; Chandler, David (ed.): Statebuilding and Intervention: Policies, Practices and Paradigms, London 2009; Newman, Edward/Paris, Roland/Richmond, Oliver P. (eds.): New Perspectives on Liberal Peacebuilding, Tokyo 2009; Paris, Robert/Sisk, Timothy D. (eds.): The Dilemmas of Statebuilding: Confronting the contradictions of postwar peace operations, London 2009; Pugh, Michael/Cooper, Neil/Turner, Mandy (eds.): Whose peace? critical perspectives on the political economy of peacebuilding, Basingstoke 2008; Barbara, Julien: Rethinking neo-liberal state building, in: Development in Practice, June 2008, S.307-318; Lacher, Wolfram: Iraq: Exception to, or Epitome of Contemporary Post-Conflict Reconstruction?, in: International Peacekeeping, April 2007, S.237-250; Chandler, David: Empire in Denial: The Politics of State-building, London 2006.

4) Merkel, Angela: Handlungsfähigkeit der Nato stärken, Rede zum 50-jährigen Jubiläum der Deutschen-Atlantischen Gesellschaft: http://www.deutscheatlantischegesellschaft.de/cms/upload/reden/redemerkel.pdf.

5) Vgl. Wagner, Jürgen: Neue Kriege und Neoliberaler Kolonialismus: Systemadministration im Zeitalter des totalen Marktes, in: ÖSFK (Hg.): Söldner, Schurken, Seepiraten. Von der Privatisierung der Sicherheit und dem Chaos der „neuen“ Kriege, Berlin/Wien 2010, S.180-200.

6) Vgl. Carlin, Anne: Rush to reengagement in Afghanistan. The IFIs‘ Post-Conflict Agenda, Banc Information Center, December 2003.

7) Islamic State of Afghanistan: Rebuilding a Macroeconomic Framework for Reconstruction and Growth, IMF Country Report No. 03/299, September 2003, S.8.

8) Castillo, Graciana del: Rebuilding War-Torn States. The Challenge of Post-Conflict Economic Reconstruction, Oxford 2008, S.170.

9) National Development Framework (Draft), Kabul, April 2002, S.43.

10) Afghanistan National Development Strategy (ANDS), Islamic Republic of Afghanistan, April 2008, S.17.

11) Wirtschaftsentwicklung 2006, Bundesamt für Außenwirtschaft, 19.01.2007, S.4.

12) Official Afghan Constitution, Article 10: http://arabic.cnn.com/afghanistan/ConstitutionAfghanistan.pdf.

13) Bertelsmann Transformationsindex: Afghanistan: http://bti2003.bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/laendergutachten/asien_ozeanien/Afghanistan.pdf. Die Steuerbefreiungen wurden im Jahr 2005 teils modifiziert und etwas abgeschwächt. Vgl. World Bank: Afghanistan. Managing Public Finances for Development, Volume III, Report No. 34582-AF, December 22, 2005, S.1.

14) Afghanistan: Income Tax Law (consolidation to 31 March 2005), Article 3.

15) World Bank: Afghanistan. Managing Public Finances for Development, Volume I, Report No. 34582-AF, December 22, 2005, S.36.

16) Investment Climate Statement Afghanistan, US State Department, Bureau of Economic, Energy and Business Affairs, May 2010: http://www.state.gov/e/eeb/rls/othr/ics/2010/138776.htm. Auch der Internationale Währungsfond stellt der afghanischen Regierung ein ähnlich gutes Zeugnis aus. Vgl. Afghanistan National Development Strategy: First Annual Report (2008/09), IMF Country Report No. 09/319, November 2009.

17) Vgl. Johnson, Chris/Leslie, Jolyon: Afghanistan: the mirage of peace, New York 2004, S.186; Castillo 2008, S.177.

18) Herrscherin über Wachstum und Entwicklung? Die Weltbank in Zeiten der Krise, WDR 5 – Das Feature, 19./20.04.2009.

19) Wirtschaftstrends kompakt Afghanistan, Germany Trade & Invest, Juni 2009, S.8.

20) ANDS 2008, S.83f.

21) Vgl. Investment Climate Statement Afghanistan 2010.

22) Germany Trade & Invest 2009, S.6.

23) Wallace, Charles: China, Not U.S., Likely to Benefit from Afghanistan‘s Mineral Riches, dailyfinance.com, 14.06.2010: http://srph.it/9E0IHr.

24) Germany Trade & Invest 2009, S.1 und 3.

25) Vgl. Wagner, Jürgen: Deutschland und der Lackmustest Afghanistan: Neoliberaler Kolonialismus und Zivil-Militärische Aufstandsbekämpfung, in: Jäger, Glenn (Hg.): Umgangssprachlich: Krieg. Testfall Afghanistan und deutsche Politik, Köln 2010 (im Erscheinen).

26) Gebauer, Thomas: Höchste Zeit zur Umkehr, Neues Deutschland, 10.07.2009. Auch der Länderbericht des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) gelangt zu dem Ergebnis, die humanitäre Lage habe sich seit Beginn des NATO-Einsatzes gegenüber der Taliban-Herrschaft sogar weiter verschlechtert. Afghanistan Human Development Report 2007, UNDP 2007, S.18-23.

27) Strutynski, Peter: Auf halbem Wege: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/science/gutachten09-rez.html. Auch Umfragen im April 2010 ergaben die schlechteste Einstellung gegenüber den westlichen Truppen seit Erhebung solcher Zahlen: Kaplan, Fed: How Are Things Going in Afghanistan? A Pentagon report says: not well, Slate, 14.05.2010.

28) Taliban not main Afghan enemy, Boston Globe, 09.10.2009.

29) ICOS: Struggle for Kabul: The Taliban Advance, London, December 2008, S.15.

30) Afghanen machen Armut und Arbeitslosigkeit für Krieg verantwortlich, Oxfam Pressemitteilung, 17.11.2009.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung und Redakteur von Wissenschaft & Frieden.

US-Diplomat tritt zurück

US-Diplomat tritt zurück

Scharfe Kritik an der Afghanistan-Strategie der US-Regierung – Eine Dokumentation

von Matthew P. Hoh

Der Politische Offizier im auswärtigen Dienst und Oberbefehlshaber der Zivilkräfte der US-Regierung in der afghanischen Provinz Zabul, Matthew P. Hoh, trat am 10. September 2009 von seinen Funktionen zurück. In einem Offenen Berief an Botschafterin Nancy J. Powell, Generaldirektorin des auswärtigen Dienstes und Personaldirektorin des Außenministeriums der USA, analysiert er die Lage in Afghanistan, schildert Bestechung und Korruption, zieht eine Parallele zum Vietnamkrieg und legt dar, warum auch dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. W&F dokumentiert das Kündigungsschreiben in deutscher Übersetzung.

Sehr geehrte Frau Botschafterin, mit großem Bedauern und Enttäuschung trete ich hiermit von meinem Posten als Politischer Offizier im auswärtigen Dienst sowie als Oberbefehlshaber der Zivilkräfte der US-Regierung in der Provinz Zabul zurück. Von den vergangenen zehn Jahren meiner Dienstzeit habe ich unserem Land sechs in Übersee gedient und war 2004/2005 sowie 2006/2007 als Offizier der US-Marines und als Zivilangestellter im Auftrag des Verteidigungsministeriums in den Tälern von Euphrat und Tigris stationiert. Ich habe diese Aufgaben nicht leichtfertig oder mit unangemessenen Erwartungen angetreten und ging auch nicht davon aus, dass mein Einsatz ohne Opfer, Entbehrungen und Schwierigkeiten bleiben würde. Während meines fünfmonatigen Dienstes in Afghanistan habe ich allerdings jegliches Verständnis und Vertrauen in die strategischen Ziele der US-amerikanischen Präsenz in Afghanistan verloren. Ich hege Zweifel und Vorbehalte gegenüber unserer gegenwärtigen wie unserer künftigen Strategie.

Der Grund für meinen Rücktritt liegt aber nicht in der Art und Weise, wie wir diesen Krieg führen, sondern warum wir dies tun und mit welchem Ziel. Um es einfach auszudrücken: Ich kann weder den Wert noch den Nutzen von immer weiteren amerikanischen Opfern und der anhaltenden Unterstützung für die afghanische Regierung in diesem Krieg erkennen, der in Wahrheit nichts anderes als ein nunmehr 35 Jahre anhaltender Bürgerkrieg ist.

In diesem Herbst jährt sich der Beginn der amerikanischen Operationen in Afghanistan zum achten Mal. Im kommenden Herbst wird die US-Armee ebenso lange im Land stationiert sein wie einst die Rote Armee. Wie die Sowjets erhalten wir einen scheiternden Staat am Leben und propagieren eine Ideologie und ein Regierungssystem, das die Leute weder kennen noch wollen.

Wenn man die Geschichte Afghanistans als großes Bühnenstück betrachtet, haben die USA nichts weiter als eine Nebenrolle unter vielen in dieser Tragödie inne, in der nicht nur einzelne Stämme, Täler, Clans, Dörfer und Familien gegeneinander, sondern spätestens seit der Herrschaft König Zahir Shas das urbane, säkulare, gebildete und moderne Afghanistan gegen das ländliche, religiöse, analphabetische und traditionelle kämpft. Diese zweite Gruppe unterstützt den paschtunischen Aufstand, der von einer Vielzahl lokaler Gruppen getragen wird. Die Paschtunen haben das Gefühl, seit Jahrhunderten Angriffen innerer wie äußerer Feinde auf ihr Land, ihre Kultur, ihre Traditionen und ihre Religion ausgesetzt zu sein. Die Anwesenheit von US- und Nato-Truppen rechtfertigt den Aufstand in ihren Augen ebenso wie diejenige nicht-paschtunischer Soldaten und Polizisten. Sowohl im Osten als auch im Süden habe ich die Beobachtung gemacht, dass es bei den meisten Kämpfen nicht darum geht, dem weißen Banner der Taliban zum Sieg zu verhelfen, sondern in erster Linie darum, die Besatzungsmacht zu vertreiben und sich gegen die Erhebung von Steuern durch die nicht-repräsentative Regierung in Kabul zu wenden.

Die US-amerikanische Militärpräsenz im Land trägt einen großen Teil zur Legitimierung des Aufstandes der Paschtunen bei. Ebenso führt unsere Unterstützung der afghanischen Regierung, wie sie im Augenblick erfolgt, dazu, die Distanz zwischen Regierung und Bevölkerung zu vergrößern. Die Versäumnisse der afghanischen Regierung, vor allem in Anbetracht der von amerikanischer Seite erbrachten Opfer an Menschenleben und Dollar, sind gewaltig und nehmen immer noch weiter zu:

Offenkundige, unverfrorene Bestechung und Korruption

Ein Präsident, zu dessen Vertrauten und engsten Beratern Drogenbarone und Kriegsverbrecher zählen, die sich über unser Rechtsstaatsprinzip und unsere Bemühungen in Sachen Drogenbekämpfung lustig machen.

Ein System aus Provinz- und Bezirks-Anführern, das sich aus politischen Strippenziehern, Opportunisten und Machthabern zusammensetzt, deren Zusammenarbeit allein auf unseren Verträgen zur Entwicklungs- und Wiederaufbauhilfe basiert und sich auf diese beschränkt und die keinerlei politisches oder ökonomisches Interesse an ernsthaften Versuchen zur Aussöhnung zu haben scheinen.

Die jüngste, von Betrug bestimmte und von einer niedrigen Wahlbeteiligung korrumpierte Wahl, die unserem Feind einen enormen Sieg bereitet hat. Dieser ruft nun zu einem allgemeinen Boykott auf und stellt in der ganzen Welt die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung unserer Regierung für die handlungsunfähige und illegitime afghanische Regierung in Frage.

Unsere Unterstützung einer solchen Regierung in Verbindung mit einem mangelnden Verständnis der wahren Natur des Aufstandes erinnert mich in erschreckender Weise an Süd-Vietnam, wo wir ebenfalls auf Kosten des inneren Friedens unseres Landes eine unbeliebte und korrupte Regierung gegen einen Aufstand unterstützten, dessen nationalistische Dimension wir in arroganter Weise missverstanden, da wir den Konflikt nur vor dem Hintergrund unserer Ideologie des Kalten Krieges begreifen konnten.

Ich halte die Gründe, weshalb wir verlangen, dass unsere Männer und Frauen in Afghanistan Blut vergießen und Opfer bringen, für fadenscheinig. Um ehrlich zu sein, unsere Strategie, Afghanistan zu sichern, um Aufstände und die Neugruppierung von Al-Qaida zu verhindern, würde verlangen, dass wir auch im Westen Pakistans, in Somalia, im Sudan, im Jemen und in einigen anderen Ländern einmarschieren und sie besetzt halten. Unsere Präsenz in Afghanistan hat Pakistan zunehmend destabilisiert und zu weiteren Aufständen geführt – in einem Land, von dem wir zu Recht fürchten, dass die geschwächte Regierung die Kontrolle über die pakistanischen Atomwaffen verlieren könnte. Wenn wir die Ziele, die wir uns gesetzt haben, konsequent verfolgen würden, dann müssten wir Pakistan besetzen und nicht Afghanistan. Dazu kommt, dass die Anschläge vom 11. September 2001 und die Anschläge in Madrid und London im Wesentlichen in Westeuropa geplant und organisiert wurden; dieser Aspekt belegt, dass die Bedrohung von den klassischen geographischen und politischen Grenzen losgelöst ist. Schlussendlich müssten wir, wenn wir davon ausgehen, dass wir unseren militärischen und finanziellen Beitrag in Afghanistan leisten, weil wir in Sorge um einen »Failed State« sind, der durch Korruption und Armut geschwächt und von Kriminellen und Drogenbossen beherrscht wird, auch unsere Verpflichtungen und unser Engagement gegenüber Mexiko neu bewerten und verstärken.

Nach acht Jahren Krieg gibt es weltweit keine Armee, die engagierter, erfahrener oder disziplinierter wäre als die US-Truppen. Ich glaube, dass keine andere Armee jemals vor einer derart komplexen, undurchsichtigen Sisyphos-Aufgabe stand wie die US-Truppen sie in Afghanistan angenommen haben. Das taktische Geschick und die Leistung unserer Soldaten, Seeleute, Piloten und Marinesoldaten ist beispiellos und steht nicht zur Debatte. Doch ihr Einsatzgebiet ist in diesem Fall nicht mit dem europäischen oder asiatischen Raum des Zweiten Weltkriegs vergleichbar. Hier geht es vielmehr um einen Krieg, auf den unsere Männer und Frauen von unserer militärischen, zivilen und politischen Führung nicht angemessen vorbereitet wurden. Unsere Streitkräfte, die voller Hingabe und guten Glaubens sind, wurden auf einen Konflikt verpflichtet, der ohne Strategie und genauen Zeitplan zu einem rücksichtslosen, politisch zweckdienlichen und naiven Desaster wurde. Dasselbe gilt für die engagierten und fähigen zivilen Kader, zu denen sowohl Angestellte der US-Regierung als auch unabhängige Organisationen zählen. Sie glauben an ihre Mission und bringen dafür Opfer, doch sie wurden weder richtig ausgebildet noch werden sie richtig geleitet, da sich die Leitlinien und Ziele am politischen Klima in Washington orientieren und nicht an jenem, das in den Städten, Dörfern, Gebirgen und Tälern Afghanistans herrscht.

„Wir zahlen uns in Afghanistan zu Tode“, so unterrichtet einer der fähigsten und intelligentesten Kommandeure, die Amerika hat, jeden Besucher, jede Stabsdelegation und jeden leitenden Offizier. Wir belegen die Wirtschaft der Vereinigten Staaten mit einer Hypothek auf einen Krieg, der, selbst wenn wir unsere Anstrengungen erhöhen, für viele Jahre eine Bürde bleiben wird. Erfolg und Sieg, wie auch immer sie aussehen werden, können nicht in den nächsten Jahren und auch nicht nach weiteren Milliardenausgaben erreicht werden, sondern erst Jahrzehnte und Generationen später. Die Vereinigten Staaten haben keine Staatskasse, die diese Art von Erfolg und Sieg trägt.

Mir ist bewusst, dass mein Brief sehr emotional ist. Bitte entschuldigen Sie, falls er zu aufgebracht klingt. Ich vertraue darauf, dass Sie diesen Krieg und die Opfer, die tausende von Familien bringen, verstehen. Diese Familien wurden von ihren Liebsten getrennt, die eingesetzt wurden, um unser Land zu verteidigen. Ihr Zuhause trägt die Risse, Umbrüche und Narben von vielen aufeinander folgenden Einsätzen. Tausende unserer Männer und Frauen sind mit körperlichen und seelischen Wunden nach Hause zurückgekehrt. Einige dieser Wunden werden niemals heilen oder mit den Jahren noch schlimmer werden. Von den Toten kehren nur die sterblichen Überreste zu ihren Familien zurück. Ihnen muss versichert werden, dass die Ziele, für die sie ihr Leben gelassen haben, die verlorene Zukunft, die verlorene Liebe und die unverwirklichten Lebensträume wert waren. Ich habe die Zuversicht verloren, dass solche Zusagen noch gemacht werden können. Aus diesen Gründen reiche ich meinen Rücktritt ein.

Hochachtungsvoll
Matthew P. Hoh, Oberbevollmächtigter der Zivilkräfte Provinz Zabul, Afghanistan.

Holger Hutt und Christine Käppeler haben den Text für die Wochenzeitung »Freitag« übersetzt, die uns die Übersetzung freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.

»Unser Krieg« am Hindukusch

»Unser Krieg« am Hindukusch

Afghanistan und Völkerrecht

von Norman Paech

Nach dem Massaker von Kundus flammte die juristische Diskussion wieder auf. Auch wenn es dabei in erster Linie um das Strafrecht ging, so stellte der Vorfall erneut die Legitimation des Einsatzes der Bundeswehr in Frage. Der Autor geht ein auf die völkerrechtlichen Grundlagen des Afghanistankrieges, die Legitimation von OEF und ISAF. Er stellt die Frage nach der Grenze im humanitären Völkerrecht: Kollateralschäden oder Kriegsverbrechen.

Die Auseinandersetzungen um den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wurden nur selten mit juristischen Argumenten geführt. Das hat bei der Friedensbewegung seine Gründe in den Niederlagen, die sie sich holte, als sie das Bundesverfassungsgericht gegen die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu Hilfe rief. Da war zunächst das bekannte »out-of-area« Urteil von 1994,1 mit dem das Bundesverfassungsgericht in einer denkbar knappen 4 zu 4-Entscheidung die Grenzen der Landesverteidigung geöffnet und der Bundeswehr faktisch die Welt als Einsatzgebiet erschlossen hatte. Damit war das alte Konzept des Grundgesetzes von der Bundeswehr als ausschließlicher Verteidigungsarmee überholt und aufgegeben worden.

Die PDS hatte im Jahr 2000 noch einmal versucht, diese Umwandlung des NATO-Bündnisses von einem Verteidigungs- zu einem weltweiten Interventionsinstrument, welches die Staats- und Regierungschefs im April 1999 noch während der Bombardierung Jugoslawiens in Washington beschlossen hatten, mittels des Bundesverfassungsgerichts in das Parlament zurückzuholen. Doch vergebens, das Gericht räumte in außen- und sicherheitspolitischen Fragen der Exekutive einen weiten parlamentsfreien Entscheidungsspielraum ein und akzeptierte auch diese »kalte« Umwandlung der NATO ohne Vertragsänderung.2 Noch einmal wandte sich 2007 die Linksfraktion im Bundestag an das Bundesverfassungsgericht, als die Bundeswehr in Afghanistan durch Tornado-Aufklärungsflugzeuge verstärkt wurde, ohne dass wiederum der Bundestag beteiligt wurde. Aber auch dieser Versuch scheiterte, das Gericht akzeptierte ein weiteres Mal die Entscheidung der Regierung.3

Mit diesen Entscheidungen war faktisch das Grundgesetz durch Regierungsbeschluss und Richterspruch in einem wesentlichen Teil verändert worden. Aus der Bundeswehr zur Verteidigung des deutschen Territoriums, wie es das Grundgesetz in Art. 87 a und 115 a bestimmt hatte, war eine Interventionsarmee mit internationalem Kampfauftrag geworden. Ein Widerstand gegen diese Entwicklung mit juristischen Mitteln hatte damit keine Aussicht auf Erfolg mehr.

Jüngst jedoch flammte die juristische Diskussion wieder auf, als es um die Verantwortlichkeit für den Tod zahlreicher Zivilisten bei dem von Oberst Klein befohlenen Angriff auf zwei Tanklastzüge ging, die in einer Furt des Kundus-Flusses festgefahren waren. Die dabei auftauchenden juristischen Probleme sind allerdings ganz anderer Natur, da sie das Strafrecht und die strafprozessrechtliche Zuständigkeit deutscher Gerichte betrifft. Der Vorfall, der zu Recht als Massaker bezeichnet wurde, stellte jedoch die Legitimation des Einsatzes der Bundeswehr erneut in Frage. Allmählich verlangen Zweidrittel der Deutschen den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, eine Forderung, die durch immer neue Meldungen vom Tod deutscher Soldaten verstärkt wird. Gleichzeitig belegt der semantische Rückzug – unter Verlust eines Ministers – vom »Stabilisierungseinsatz« zum »Krieg« nicht nur steigende Einsicht in die Realitäten am Hindukusch, sondern auch die zunehmende Schwäche der Position der Regierung trotz aller Durchhalte- und Siegparolen an den Särgen der Soldaten. Wenn allerdings der Führer der sozialdemokratischen Opposition Gabriel statt dringender Überlegungen über einen Abzug der Bundeswehr nur ein neues Bundestagsmandat verlangt, zeigt er wenig Einsicht in die völkerrechtliche Tragweite dessen, was seinerzeit seine Partei in der Regierung selbst mit beschlossen hat.

Es ist also Zeit noch einmal auf die rechtlichen Fragen dieses Krieges zurückzukommen, und zwar auf drei Ebenen: Zunächst geht es um die völkerrechtlichen Grundlagen des Militäreinsatzes im Rahmen der International Security Assistance Force (ISAF) und der Operation Enduring Freedom (OEF), um die Frage, ob die USA und ihre Alliierten überhaupt militärisch in Afghanistan eingreifen durften, das sog. jus ad bellum. Sodann geht es um die Rechte, Pflichten und Bindungen, die sich aus dem humanitären Völkerrecht für die Soldaten ergeben, das sog. jus in bello, und schließlich um die Verantwortlichkeit für die Verstöße gegen nationales und internationales Strafrecht.

Verteidigung und Stabilisierung? Zur völkerrechtlichen Legitimation von OEF und ISAF

Lassen wir einmal die immer noch nicht geklärten Umstände der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 und die nicht verstummenden Zweifel an der Urheberschaft beiseite, so qualifizierte sie der UNO-Sicherheitsrat doch in seiner ersten Resolution 1368 vom folgenden Tag als „Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit“. Diese Feststellung hätte gem. Art. 39 UNO Charta die Möglichkeit eröffnet, Zwangsmaßnahmen gem. Art. 42 UNO Charta zu verfügen. Dieses hatten die USA gewünscht, der Sicherheitsrat konnte sich jedoch weder so früh nach dem Anschlag noch in seiner späteren Resolution 1373 vom 28. September 2001 zu einem solchen Schritt entschließen. Er wies lediglich allgemein und abstrakt auf das Recht zur Selbstverteidigung hin und rief die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit politischen, wirtschaftlichen, polizeilichen und gesetzgeberischen Maßnahmen auf. Am 12. September 2001 hatte der NATO-Rat schon beschlossen, die Terroranschläge als Angriffe auf alle Bündnispartner im Sinne der Beistandsverpflichtung des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages zu betrachten. Am 4. Oktober 2001 bekräftigte er dann die Beistandsverpflichtung aus Artikel 5.

Die Schnelligkeit, mit der die US-Regierung die Täter als bis dahin in der Öffentlichkeit noch völlig unbekannte Al Qaida und ihren Operationsort Afghanistan identifizieren konnte, verblüffte zumindest. Später stellt sich heraus, dass die Attentäter aus den arabischen Staaten, vor allem Saudi-Arabien, und Hamburg stammten. Dennoch sprangen Bundesregierung und Bundestag sofort auf den Zug der »kollektiven Selbstverteidigung« auf, und beschlossen die Beteiligung der Bundeswehr mit 3.900 Soldaten an der OEF auf der Grundlage des Art. 51 UNO Charta und des Artikels 24 Abs. 2 GG am 7. und 16. November. Der damalige Verteidigungsminister Struck sollte das dann damit begründen, dass die deutschen Sicherheitsinteressen auch am Hindukusch verteidigt würden. Hält man sich allerdings an den Wortlaut des Art. 51 UNO Charta, so bestanden schon damals, noch z. Zt. der Herrschaft der Taliban, Zweifel, ob es sich bei einem einmaligen Anschlag einer Terrorgruppe um einen Angriff Afghanistans handelte. Man nahm die Afghanen einfach dafür in Haftung, dass sie Al Qaida offenbar einen Unterschlupf gewährt hatten. Das mehrfache Angebot der Taliban, den Führer von Al Qaida, Osama Bin Laden, auszuliefern, hatte man schon vor dem Anschlag abgelehnt, und wies es offenbar auch nach dem Anschlag zurück.4

Konnte man diese Zweifel in der Empörung über den Terror unmittelbar nach dem Anschlag noch beiseite schieben, so lässt sich eine solche Verteidigungslegitimation jedoch nicht über Jahre hin begründen. Art. 51 UNO Charta lässt Maßnahmen der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung nur solange zu, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ Dies war aber schon im Dezember 2001 mit der Einrichtung der ISAF der Fall.

Selbstverteidigung setzt einen unmittelbaren Angriff auf das eigene Territorium oder das eines Bündnispartners voraus. Mit der Beseitigung der Talibanherrschaft im Herbst 2001 und der Vertreibung Osama bin Ladens und der Al Qaida aus den Grenzgebirgen Afghanistans war der »Verteidigungsauftrag« der Militärintervention aber erfüllt. Es drohte keine unmittelbare und gegenwärtige Gefahr mehr für das Territorium der USA, geschweigen denn für Deutschland. Zwar war damit der internationale Terrorismus noch nicht aus der Welt, aber seine diffuse Drohung lieferte keine Legitimation mehr für die Fortsetzung eines eskalierenden »Verteidigungskrieges« in Afghanistan über mehrere Jahre hinaus bis heute.

Die Bundeswehr hat sich aus dem Antiterrorkampf im Rahmen der OEF in Afghanistan schließlich zurückgezogen, da die Bundesregierung 2008 den Auftrag nicht erneuert hat. Für sie besteht der zweifelhafte Auftrag nur noch am Horn von Afrika und im Mittelmeer fort. Die USA, die die UNO und das Völkerrecht bei ihren Kriegen im Mittleren Osten ohnehin als lästig und überflüssig betrachten, haben hingegen vor kurzem die Selbständigkeit der beiden Kampfeinsätze ISAF und OEF, die schon seit längerem nur noch auf dem Papier bestand, auch formal aufgehoben. Wenn auch der Sicherheitsrat in seinen ISAF-Mandaten immer die notwendige Koordination mit der OEF betont hat, so hat er die Trennung niemals aufgehoben, da er die OEF nicht mit einem Mandat nach Art. 42 UNO Charta ausgestattet hat. Zu erinnern ist an die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Tornado-Urteil von 2007, dass der militärische Einsatz der NATO „insgesamt als Verstoß gegen das Völkerrecht erscheinen“ könne, „wenn die Operation Enduring Freedom in Afghanistan für sich genommen gegen das Völkerrecht verstieße und dies auf ISAF übergreifen könnte.“5

Die ISAF ist eineinhalb Monate nach Beginn der militärischen Operationen der USA am 21. Dezember 2001 vom UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1383 eingerichtet worden. Diese und alle in jährlichem Rhythmus folgenden Resolutionen6 basieren auf den Artikeln 39 und 42 des VII. Kapitels der UNO Charta. Wie der Name des Kommandos besagt, sollte es sich von Anfang an um internationale Sicherheitsunterstützungskräfte zum Schutz der afghanischen Souveränität, der zunächst provisorischen und später gewählten Regierung sowie der in Afghanistan operierenden internationalen Hilfsorganisationen handeln. Dazu war sie allerdings mit einem Mandat ausgerüstet, dass den Truppen der USA und ihren schließlich 43 angeschlossenen Koalitionsstaaten, „alle zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Mittel“, d.h. alle notwendigen militärischen Mittel erlaubte.

Damit verfügt auch die Bundeswehr über die freie Auswahl des Kriegsgeräts, welches sie für notwendig erachtet, sei es Nachtsichtgeräte oder Panzerhaubitzen und Kampfhubschrauber. Die jüngst entfachte Diskussion über die Notwendigkeit eines neuen Bundestagsmandats, wenn jetzt schweres Kampfgerät eingesetzt werden müsse, folgt eher politischem Kalkül als juristischen Gründen. Denn die Bundestagsmandate haben sich immer eng auf die UNO-Mandate mit ihrem unbegrenzten Mitteleinsatz bezogen. Weder die UNO noch der Deutsche Bundestag haben auf die stetige Kriegseskalation und Ausdehnung des Einsatzes auf Pakistan reagiert, indem sie etwa die sukzessive Aufrüstung eingeschränkt hätten.

Auch die berechtigte Kritik an der mangelnden demokratischen Legitimation des Petersberger Abkommens vom 5. Dezember 2001, auf dem nicht nur die Einrichtung der Übergangsregierung mit ihrem zweifelhaften Personal, sondern auch das Mandat der militärischen Absicherung beruhte,7 vermag die völkerrechtliche Legitimation der UNO-Resolutionen kaum ernstlich in Frage zu stellen.8 Faktisch beschränkt sich die Souveränität Afghanistans auf die eines Protektorats unter US-amerikanischer Oberhoheit und die Rolle der Regierung Karsai auf die eines Satrapen unter fremder Vasallität. Auch die Wahlen von 2009, auf deren Gewinn sich Karsai jetzt stützen kann, waren ähnlich wie die vorangegangenen Wahlen zur Verfassungsversammlung von Manipulationen und Fälschungen, Drohungen und Erpressungen sowie Stimmenkauf geprägt, die das Prädikat demokratisch nur als weitere Fälschung entlarven.

Das schließt nicht aus, dass es immer wieder zu erheblichen Differenzen zwischen Herr und Vasall kommen kann, wie in der jüngsten Kritik Karsais an der Politik der USA erkennbar.9 Diese Kritik hat zwar Irritationen in US-amerikanischen Regierungskreisen erzeugt, aber nichts grundsätzlich an der totalen Abhängigkeit von den USA geändert, die nicht nur das militärische, sondern auch das politische und ökonomische Geschehen am Hindukusch diktieren.

Rechtlich beseitigt dieser Zustand allerdings nicht die Legitimation der Mandate, solange nicht der UN-Sicherheitsrat aus den ihm ohne Zweifel bekannten Defiziten Konsequenzen zieht. Die schon lange beobachtete Vermischung von Stabilisierungseinsatz (ISAF) und Antiterrorkampf (OEF) stellt jedoch auch ein rechtliches Problem für die ISAF-Mandate dar. US-Militärs haben selbst eingeräumt, dass sich Al-Qaida Kämpfer aus Afghanistan nach Pakistan, Jemen, Somalia und in andere arabische Staaten zurückgezogen hätten. Der »Verteidigungsauftrag« ist also »erfüllt«, bzw. der Feind im Land abhanden gekommen, es sei denn, man überträgt den Antiterrorkampf auf die Taliban, die immer schon als Terroristen behandelt worden sind. Dies ist in der Tat das Konzept, welches hinter der Integration der OEF in ISAF steht, von dem UNO-Mandat jedoch nicht getragen wird. Auch auf diese Veränderung des Kriegsschauplatzes hat der UN-Sicherheitsrat bisher nicht reagiert – ein Zeichen dafür, wie das Kräfteverhältnis im Sicherheitsrat in dieser Frage verteilt ist.

Kollateralschaden oder Kriegsverbrechen? Zu den Grenzen des humanitären Völkerrechts

Entscheidende völkerrechtliche Bedenken ergeben sich gegen den militärischen Einsatz allerdings gerade aus den Dimensionen, die dieser Krieg im Laufe der Jahre angenommen und zu welchen Opfern er inzwischen geführt hat. Dabei spielt der lange semantische Tanz der Bundesregierung um den Kriegsbegriff juristisch keine Rolle, da er im Völkerrecht nicht vorkommt. Hier kommt es nur darauf an, dass es sich nicht lediglich um örtliche Tumulte und Aufstandsbekämpfung, sondern um einen bewaffneten Konflikt handelt, der bereits über die Grenzen Afghanistans hinaus nach Pakistan internationale Dimensionen angenommen hat. Die Bundesregierung geht dennoch von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt i.S. des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen und des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977 aus. Nach diesen Vorschriften ist ein bewaffneter Konflikt nur dann international, wenn er zwischen zwei oder mehreren Völkerrechtssubjekten, d.h. Staaten, ausgefochten wird. Das war zweifellos der Fall in den ersten drei Monaten, als die Taliban noch die Regierung in Afghanistan bildeten und von den USA direkt bekämpft wurden. Mit ihrer Vertreibung aus der Regierung und Ersetzung durch eine neue Regierung unter Karsai wurden sie zu Aufständischen und verloren den Status eines Völkerrechtssubjektes. Trotz seiner Ausdehnung auf Pakistan und der Beteiligung internationaler Kämpfer aus Tschetschenien, Saudi-Arabien und anderen Länder auf der Seite der Taliban und von 44 Staaten auf der Seite der Regierung Karsai findet auf diesen Konflikt nunmehr das für nicht-internationale bewaffnete Konflikte geltende humanitäre Völkerrecht Anwendung.10 Dieses in den Genfer Konventionen von 1949 und den beiden Zusatzprotokollen von 1977 kodifizierte Recht ist sehr viel vollständiger und präziser als es die immer wieder zu hörende Klage über die Rechtsunsicherheit, mit der die deutschen Soldaten ihre Aufgaben am Hindukusch zu versehen hätten, vorspiegelt. Dabei erlauben die Regeln des bewaffneten Konfliktes den Soldaten Maßnahmen gegen den Feind, z.B. in Bezug auf gezielte Tötungen und zivile Kollateralschäden, die ihnen in Friedenszeiten versagt sind. Die Klage orientiert sich offensichtlich an dem rechtlichen Freiraum, den sich das US-Militär oft ohne Rücksicht auf diese Regeln bei ihren Operationen nimmt.

Die Unterschiede in den völkerrechtlichen Standards zwischen internationalen und nicht-internationalen Konflikten sind zunehmend geringer geworden, da Gewohnheitsrecht und die zahlreichen Menschenrechtsverträge die Bedingungen, unter denen die Konfliktparteien gegeneinander militärisch vorgehen dürfen, weitgehend angeglichen haben. In beiden Konflikten hat der Schutz der Zivilbevölkerung absoluten Vorrang. Während im internationalen Konflikt die Angehörigen der Streitkräfte den Status von Kombattanten haben, „d.h. sie sind berechtigt, unmittelbar an Streitigkeiten teilzunehmen“ (Art. 43 Abs. 1 Zusatzprotokoll I), gibt es den Kombattantenstatus in den nicht-internationalen bewaffneten Konflikten nicht. Allerdings dürfen alle jene, die sich in organisierten bewaffneten Gruppen dauerhaft oder auch als einzelne Zivilisten zeitweise an den Kämpfen beteiligen, militärisch jederzeit angegriffen werden. Organisierte Kämpfer erlangen ihren zivilen Status und den damit verbundenen Schutz erst dann wieder, wenn sie sich von den Kampfschauplätzen und -organisationen erkennbar entfernt haben. Zivilisten hingegen, die sich nur gelegentlich an den Kämpfen beteiligen, erlangen den Zivilschutz dadurch wieder, dass sie ihre Kampfhandlungen beendigen. Das ist bei einem Guerillakampf, wie er in Afghanistan vom Widerstand geführt wird, nicht immer leicht zu entscheiden. Welchen Status hat ein Bauer, der tagsüber sein Land bestellt und nachts zu den Waffen greift? Ist er auch tagsüber legitimes Ziel militärischer Angriffe? Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat dazu in einem neueren Gutachten11 gesagt, dass eine dauerhafte Beteiligung an bewaffneten Auseinandersetzungen den Zivilschutz aufhebt und die Person als militärisches Ziel freigibt. Allerdings hat es eine wichtige Einschränkung hinzugefügt. Eine gezielte Tötung ist dann unzulässig, wenn eine Festnahme der Person ohne größere Gefahr möglich ist. So schwierig diese Entscheidungen in einem Gelände wie Afghanistan auch zu treffen sein mögen, im Zweifel muss eine Person als Zivilist behandelt werden und genießt entsprechenden Schutz.

Diese Einschränkung, die allerdings nicht in gleicher Weise verbindlich ist wie die Genfer Regeln, hätte auch für den Angriffsbefehl auf die beiden Tanklastzüge bei Kundus gegolten. Die große Anzahl nicht bewaffneter Personen am Tatort hätte auf jeden Fall größere Vorsicht und eine eindeutigere Warnung geboten, wie sie offensichtlich auch von den Piloten der US Air Force vorgeschlagen worden war. Denn auch bei internationalen bewaffneten Konflikten gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen zivilen Opfern und dem unmittelbaren militärischen Vorteil. Auf jeden Fall sind unterschiedslose Angriffe verboten, die faktisch keine Rücksicht auf die zivilen Opfer nehmen. Alle Informationen sprechen dafür, dass sowohl dem deutschen wie dem US-amerikanischen Militär die große Anzahl ziviler Personen bei den Tanklastzügen bekannt war, deren Tod deshalb nicht als bloßer Kollateralschaden in Kauf genommen werden durfte.12 Zudem war die militärische Gefahr, die von den beiden Tanklastzügen ausging, sowie der militärische Vorteil durch die Vernichtung der Laster offensichtlich gering. Denn sie befanden sich auf dem Weg nach Chardara in entgegengesetzter Richtung des deutschen Camps und waren in der Furt des Flusses steckengeblieben.

Anmerkungen

1) Urteil v. 12. Juli 1994, BVerfGE 90, 286 ff.

2) Urteil v. 22. November 2001, BVerfGE 104, 151 ff.

3) Urteil vom 3. Juli 2007, AZ BvE 2/07, BVerfGE 118, 244 ff.

4) Vgl. Spiegel Online, 14. 10. 2001; The Guardian, 11.11. 2003.

5) Vgl. BVerfGE 118, 244 (275).

6) Vgl. die vorerst letzte Resolution 1809 vom 8.10.2009.

7) Vgl. Matin Baraki: Afghanistan nach den Taliban. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 48/2004, S.24 ff.

8) Vgl. Diether Deiseroth: Jenseits des Rechts. Deutschlands »Kampfeinsatz« am Hindukusch. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2009, S.45 ff.

9) So hat Karsai jüngst auf einem Essen mit afghanischen Journalisten im Präsidentenpalast den USA vorgeworfen, nur deswegen in Afghanistan zu sein, um das Land und die Region zu beherrschen, und dass sie deswegen ein Übereinkommen mit den Taliban verhindern. Er, Karsai, sei der einzige, der dagegen aufstehen könne. Vgl. New York Times v. 31. 3. 2010.

10) So auch Stefan Oeter, Anna Gebhardt: Welches Recht gilt in welchem Konflikt? In: Kompass Soldat und Kirche 3/10, S.4 ff.; Christian Schaller: Rechtssicherheit im Auslandseinsatz, SWP Aktuell 67, Dezember 2009, S.2 ff.

11) ICRC, Interpretive guidance on the notion of direct participation in hostilities under international humanitarian law, Genf, Mai 2009.

12) Jüngste Untersuchungen, die von den deutschen Journalisten Marcel Mettelsiefen und Christoph Reuter vor Ort durchgeführt wurden, haben genauere Daten ergeben, die aktuell in einer Ausstellung in Potsdam und demnächst in einer Publikation im Verlag Rogner & Bernhardt unter dem Titel »Kunduz, 4. September 2009« präsentiert werden. Dort heißt es u.a.: „Die Frage, wer starb, ließ sich klären: 91 Menschen, alle männlich, vom Kind bis zum Greis. Fast alle waren zur Furt gekommen, um Treibstoff in ihre mitgebrachten Behältnisse abzufüllen und nach Hause zu tragen. Unmöglich zu klären hingegen bleibt, wer von den Toten Talib oder Zivilist war. Dies schon deshalb, weil eine solche Unterscheidbarkeit eine Fiktion ist. Der Bezirk Chardara wird von den Taliban kontrolliert, es gibt Sympathisanten, Opportunisten, Menschen, die aus Angst zu Mitläufern wurden, zig Wesen aus der Zwischenwelt der Grautöne, die in der deutschen Debatte kaum jemand wahrnimmt. Afghanische Polizei und afghanischer Geheimdienst in Kunduz behaupten, mindestens die Hälfte der Toten seien Aufständische gewesen. Der Gouverneur hält sowieso alle in Chardara für Taliban und ist der Meinung, der Bezirk sollte viel häufiger bombardiert werden. Die Angehörigen wiederum beteuern, nur Zivilisten seien durch die Bomben gestorben.“

Prof. em. Dr. Norman Paech lehrte Öfffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP). Von 2005 bis 2009 war er als Parteiloser für »Die Linke« Abgeordneter im Deutschen Bundestag.