Talibanistan

Talibanistan

oder das Ende staatlicher Ordnung

von Conrad Schetter

Dieser Artikel leistet einen Beitrag zu den gegenwärtigen Debatten um failed states und um den »Krieg gegen den Terrorismus«. So führt das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet, das hier als Talibanistan bezeichnet werden soll, nicht allein das Versagen und die Abwesenheit von Staatlichkeit vor Augen, sondern verkörpert Anti-Staatlichkeit per se. In Talibanistan offenbaren sich daher nicht allein Funktionsschwächen moderner Staatlichkeit, sondern dort ist das Handeln der Bevölkerung Ausdruck einer anti-staatlichen Grundhaltung.

Seit dem 11. September 2001 befindet sich die Region, die sich mondsichelförmig von Westafghanistan über die Städte Kandahar und Quetta bis nach Ostafghanistan und Nordwestpakistan erstreckt, im Fadenkreuz der Operation Enduring Freedom (OEF). Dieses Gebiet wird mehrheitlich von Paschtunen, der größten Stammesgesellschaft der Welt, bewohnt. Hatten die OEF-Kräfte die Taliban im Winter 2001/2 aus den Städten Afghanistans vertrieben, so kehrte diese Bewegung in den letzten Jahren allmählich zurück: Auf pakistanischer Seite errichteten die Taliban in einigen grenznahen Regionen wie Swat oder den Federal Administered Tribal Areas (FATA) Emirate, in denen die shari'a zur Rechtsgrundlage erhoben wurde. Auf weite Teile Süd- und Südostafghanistans hat die afghanische Regierung ebenfalls kaum Einfluss. So gruppiert sich um das Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan eine neue Machtordnung, für die sich in den Medien die Bezeichnung Talibanistan einbürgerte (Roggio 2006, Baker 2007).

Vom Failed State zum Anti-Staat

Auf den ersten Blick könnte man die Situation in Talibanistan als das komplette funktionelle Versagen zweier Staaten deuten: Weder ist der afghanische noch der pakistanische Staat in der Lage, seine territoriale Souveränität und sein Gewaltmonopol in dieser Region aufrecht zu erhalten. Hierdurch unterscheidet sich bereits die Situation fundamental von den meisten failed states, in denen die Vermischung von staatlichen Funktionslogiken, persönlichen Interessen und patrimonialen Abhängigkeiten die Aushöhlung des Ideals einer Weberschen Staatlichkeit bedingt.

Talibanistan befindet sich demnach im Gegensatz zu all dem, was moderne Staatlichkeit ausmacht: Definiert sich der moderne Staat über ein klar begrenztes Territorium, so verfügt Talibanistan weder über klar definierte physische Grenzen noch über eine territoriale Binnengliederung, da Macht auf persönlichen Netzwerken und nicht auf der Kontrolle von Raum basiert. Auch zerfällt Talibanistan in unzählige, hoch dynamische Mikrokosmen, die territorial kaum zu gliedern sind. Schließlich stellt die afghanisch-pakistanische Grenze für die Entstehung Talibanistans eher einen Gunstfaktor als eine Barriere dar. Auch haben die lokalen Eliten weder ein Interesse an der Etablierung eines Gewaltmonopols noch sind sie an einer einheitlichen Verwirklichung bestimmter Normen und Werte in Talibanistan interessiert – etwa der Durchsetzung eines einheitlichen Rechts oder einer übergreifenden Ideologie. Schließlich fühlt sich die Bevölkerung von Talibanistan nicht den Spielregeln der internationalen Gemeinschaft gegenüber verpflichtet: Wir finden eine Gesellschaft, in der international als illegal geächtete Wirtschaftsaktivitäten (z.B. Anbau von Schlafmohn) Normalität genießen und internationale Menschenrechtsstandards als fremd und die soziale Ordnung gefährdend gelten (z.B. Stellung der Frau).

Talibanistan steht daher nicht für ein territoriales Gebilde, in dem eine orthodoxe islamistische Bewegung eine eigene Regierungsform – etwa einen islamischen Gottesstaat – ins Leben ruft und die Gesellschaft von einer islamistisch-orthodoxen Ideologie durchdrungen ist. Talibanistan steht für das genaue Gegenteil, nämlich für die Wiederkehr lokaler Herrschaftsansprüche, die häufig in radikalisierter Form vorgebracht werden, staatliche Einflussnahmen ablehnen und in transnationale Netzwerke eingebunden sind. So bezieht sich der Begriff »Taliban« nicht allein auf religiöse Eiferer; weit mehr wird der Begriff für die Vielzahl an lokalen Kommandeuren, Selbstverteidigungsfronten, Stammesmilizen, Drogenringen, arbeitslosen Jugendlichen und einfachen Straßenräuber verwendet, die je nach Kontext mit- oder gegeneinander kämpfen; selbst der Übergang zu staatlichen Organen ist fließend. Die Eigenbezeichnung »talib« [Religionsschüler] ist heutzutage weit weniger Ausdruck einer religiös-ideologischen Überzeugung als eines diffusen life style, der gegen eine externe Einmischung ausgerichtet ist.

In Talibanistan finden wir eine politische Ordnung, die durch eine hohe Skepsis gegenüber einer Modernisierung in Form staatlicher und internationaler Präsenz geprägt ist. Diese politische Ordnung verbindet lokale Vorstellungen mit militant islamistischen. Jedoch stehen sich lokale und islamistische Vorstellungen je nach Kontext unterschiedlich gegenüber: Mal gehen sie eine Symbiose ein, mal überlappen sie sich, mal schließen sie sich völlig aus und münden in Konflikten. Diese Radikalisierung des Lokalen hat vor allem in den Regionen Erfolg, wo die Bevölkerung niemals die Wohltaten des Staats spüren konnte und in denen der transnationale Handel im Staat und seiner Territorialität nur ein Hindernis erblickt. Talibanistan bedeutet daher die Verteidigung des Lokalen gegen jegliche von außen herangetragene Einflussnahme – ob in Form militärischer Präsenz, staatlicher Ordnung oder auf Modernität beruhender Entwicklungsprogramme – bei einer direkten Verflechtung in globale Netzwerke. Diese gegen Modernität und Staatlichkeit ausgerichtete Grundhaltung lässt sich aus den gesellschaftlichen Prozessen während des 30-jährigen afghanischen Kriegs erklären: So verbanden sich lokale Normen und Wertevorstellungen mit einem militanten Islamismus, und avancierte eine grenzübergreifende (Drogen-)Ökonomie zur materiellen Grundlage weiter Teile der Bevölkerung.

Tribale Ordnung

Die Verwendung des Terminus »tribal« ist im Zusammenhang mit den Paschtunen – anders als in Afrika – keineswegs negativ konnotiert. So drückt die Zugehörigkeit zu einem Stamm aus, dass man auf eine Genealogie verweisen kann und kraft Abstammung eine Legitimationsberechtigung im Hier und Jetzt hat. Jedoch weniger die tribale Ordnung, sondern die Wertevorstellungen, die in der paschtunischen Stammesgesellschaft konserviert werden, formieren die entscheidende Kluft hin zur modernen Gesellschaft. So ist der Grundgedanke, auf dem paschtunische Wert- und Rechtsvorstellungen aufbauen, dass die Existenz des einzelnen Mannes, des Familienverbandes, der Lineage, des Clans, ja aller Paschtunen sich in ständiger Bedrohung befindet und gegen äußere Feinde zu verteidigen ist (Janata & Hassas 1975; Steul 1981). Diese Sicht der Welt als einer feindlichen bildet den Rahmen, in dem sich jedes männliches Stammesmitglied bewegt, um seine Ehre zu verteidigen. Im Kontext dieses männlichen Idealbilds werden etwa Frauen als fehlerhaft verstanden, die durch ihr Verhalten die Ehre der Männer stets gefährden können (Barth 1969). Obgleich der geteilte Wertekanon den Referenzrahmen für alle Stammesmitglieder darstellt, beinhaltet er ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den eigenen männlichen Stammesmitgliedern. Dies erklärt, weshalb die paschtunischen Stammesstrukturen dem Aufbau jeglicher politischer Institutionen, in denen nicht die individuelle Autonomie innerhalb des Kollektivs gewahrt wird, entgegenstehen. Einer Einflussnahme von Außen, die die Gesellschaft grundlegend zu verändern droht, wird stets mit Gegenwehr begegnet. Der Konflikt »Stamm gegen Staat« durchzieht daher die gesamte Staatswerdung Afghanistans und Pakistans im 20. Jahrhundert; beide Staaten waren daher nur ansatzweise in der Lage, die Stämme zu kontrollieren und in den Gesamtstaat einzubinden (Tapper 1983). Die militärische Intervention nach dem 11. September 2001 bedingte, dass in beiden Ländern die lokalen Autonomien der Stammesgebiete mit einem Mal in Frage gestellt wurden. So sehen viele Stämme den »Kampf gegen den Terror« als Vorwand, um den staatlichen Herrschaftsanspruch in den Stammesgebieten durchzusetzen.

Verstärkt wird der Gegensatz zwischen Stamm und Staat durch die Durand Line, die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan. Diese verläuft mitten durch die Stammesgebiete und wird alltäglich von Tausenden Stammesmitgliedern ohne Papiere überquert. Die Durand Line wurde 1893 von einer britischen Grenzkommission festgelegt, wird aber bis heute von Afghanistan aus ethno-nationalistischen und geo-strategischen Gründen nicht anerkannt. Dass die Durand Line gegenwärtig das Epizentrum der gewaltsamen Auseinandersetzungen darstellt, mag nicht verwundern. So ist es den Gegnern der Coalition Forces immer wieder möglich, über die Durand Line nach Pakistan zu flüchten und sich von hier aus neu zu formieren. Die FATA, bei denen es sich um autonome Stammesgebiete mit einer eigenen Gerichtsbarkeit auf pakistanischem Boden handelt, gelten als »sicherer Hafen« für die Taliban (Rubin 2007). Jedoch kann der Durand Line in diesen Auseinandersetzungen auch eine symbolische Bedeutung beigemessen werden. Denn der Widerstand gegen die äußere Einflussnahme erfolgt von der Grenze aus – also dem Ort, an dem sich eigentlich Staatlichkeit territorial manifestieren sollte. Die Durand Line stellt daher ein »terrain of resistance« (Routledge 1993) einer nicht-staatlich verfassten Welt dar.

Militanter Islam

Wenngleich es eine ganze Fülle an Abweichungen und Gegensätze zwischen Schriftislam und paschtunischen Stammesvorstellungen gibt, sehen die Paschtunen selbst keine Unterschiede oder gar Widersprüche zwischen diesen beiden Referenzrahmen. Islamische Geistliche, wenngleich diese aufgrund des Eigenverständnisses der Paschtunen als Bekehrte aus erster Hand keinen hohen gesellschaftlichen Stellenwert genießen, nehmen als außerhalb der tribalen Ordnung stehend in Krisensituationen immer wieder Schlüsselpositionen ein: So sind sie in der Lage, tribale Spaltungen zu überwinden und kurzfristige Allianzen zu stiften (Edwards 1996). Wenn diese Sonderrolle islamischer Geistlicher in der Vergangenheit nur situativ war, so verfestigte sich die Stellung islamischer Eliten aufgrund des nun über 30jährigen Afghanistankriegs in der paschtunischen Gesellschaft beidseits der Durand Line.

Denn mit der Besetzung Afghanistans durch sowjetische Truppen 1979 fand aus den afghanischen Stammesgebieten heraus ein Massenexodus statt, der in einigen afghanischen, grenznahen Provinzen nahezu die ganze Bevölkerung erfasste. Während das Gros der Flüchtlinge in Lagern auf pakistanischer Seite entlang der Grenze aufgefangen wurde, wanderten die Stammeseliten in die Städte Pakistans, nach Europa oder in die USA aus. Damit ging in vielen Stämmen der Einfluss der tribalen Führerschaft auf den Alltag der Stammesbevölkerung verloren. Seit Mitte der 1980er Jahre drängten vor allem einfache Geistliche, die überwiegend aus Medresen in Pakistan stammen, in diese Führungsrollen und stiegen zu wichtigen mujahidin-Kommandeuren auf. Diese Entwicklung lag ganz im Interesse Islamabads, um die tribalen Strukturen zu brechen, die paschtunische Identität abzuschwächen und Kämpfer für den jihad in Afghanistan zu mobilisieren.

Besonders in den Flüchtlingslagern, die von den afghanischen mujahidin-Parteien kontrolliert wurden, gewannen islamistische gegenüber tribalen Momenten in der politischen Kultur der Lager sowie in der Sozialisierung der Flüchtlinge an Bedeutung. Wesentlich war, dass in den Flüchtlingslagern tribale Vorstellungen kaum noch aufrechterhalten werden konnten (Edwards 1986). Islamistische Vorstellungen, die die Widerstandsparteien propagierten, boten sich als Kompensation zur Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildnisses an. Hier ist besonders das Konzept von muhajir [Flüchtling] und mujahid [Kämpfer für die Angelegenheiten Gottes und des Glaubens] zu nennen. Denn ein muhajir handelt in gleicher Weise wie der Prophet, der die hijrah [Flucht] aus Mekka nach Medina vollzogen hat. Nahmen die muhajirin [Pl. von muhajir] den Heiligen Krieg um ihr verlorenes Terrain auf, wurden sie zu mujahidin [Pl. von mugahid] und folgten damit dem Beispiel Mohammeds. Gerade die Vorstellung des mujahid, der im jihad gegen die gottlosen Kommunisten kämpft, konnte somit das paschtunische Stammesideal ersetzen (Ansari 1990).

Im Verlauf des Krieges verschmolz die Kompromisslosigkeit des Stammesdenkens mit einem militanten Islam. Ein militantes, auf der Unterscheidung in »gut« und »böse« aufbauendes Islamverständnis akzeptierten große Teile der Stammesbevölkerung gerade aufgrund seiner einfachen und radikalen Erklärung der Welt und der Aufrechterhaltung von Normen und Wertvorstellungen, die im Stammeskontext entstanden waren. Zum Feindbild avancierten die Einführung modernen Vorstellungen von Gesellschaft, die Gleichstellung von Mann und Frau, Demokratie, Trennung von Religion und Staat etc. Demnach finden Konzepte von Staatlichkeit in den Geisteshaltungen, wie sie gegenwärtig in Talibanistan vorherrschen, keinen Platz. Die starke Betonung des Islam in Talibanistan verfügt daher über eine Innen- und eine Außensicht. In der Außensicht wird mit einem militanten Islam – gerade seit dem 11. September – der Kampf gegen jegliche externe Einflussnahme aufgenommen. So steht der radikalisierte Islam für den Kampf gegen Moderne, Staat und den Westen als Ganzes. In der Innensicht wird gerade im militanten Islam eine Emphase lokaler Werte- und Normvorstellungen gesehen. So bedeutet die Betonung des Islam eine verkürzte Bejahung lokaler Identität. Das Gros der Einwohner Talibanistans versteht den Islam als Referenzrahmen für die Interpretation alltäglicher Handlungen und Entscheidungen und zeigt kein Interesse daran, diesen in eine staatliche Form zu gießen. Jedoch ist dieses Weltbild nicht abgeschlossen oder kohärent, sondern es werden je nach lokalem Kontext einzelne religiöse und tribale Versatzstücke miteinander kombiniert. Daher wäre es verfehlt, hierunter die ideologische Durchsetzung radikaler Islamvorstellungen in einer tribalen Gesellschaft zu verstehen. So spielen ideologische Fragen in der alltäglichen Praxis eine marginale Rolle und stehen häufig orthodoxe, heteropraxe sowie tribale Vorstellungen nebeneinander. Diese Vermischung tribaler mit militant islamischen Elementen ist umso interessanter, da islamistische Strömungen, wie sie etwa Osama bin Laden oder auch Gulbuddin Hekmatyar vertreten, tribale Identitäten und Gesellschaftsformen explizit als unislamische Anachronismen, die sich gegen die Reinheit der ummah richten, kategorisch ablehnen und bekämpfen. Daher ist es eine gewisse Ironie der Geschichte, dass seit dem 11. September ausgerechnet die paschtunische Stammesgesellschaft das Rückgrad des militanten Islamismus bildet.

Der globalisierte Stamm

Die Flüchtlingsbewegung aus Afghanistan in die pakistanischen Grenzgebiete bedingte eine enorme Verstärkung des bereits sehr hohen Bevölkerungsdrucks in dieser ressourcenarmen Region. Die Folge war, dass seit den 1980er Jahren Paschtunen kontinuierlich aus den pakistanischen Stammesgebieten in die großen Städte Pakistans und in die Golfstaaten abwanderten. Seit den 1990er Jahren etablierte sich ein auf Stammesidentitäten beruhendes Handelsnetzwerk, das seine Netzwerke vom Mittleren Osten bis nach Indien und Europa spannt, aber die Gelder in erster Linie zurück in die Stammesgebiete fließen lässt. Die Stammesgebiete erfuhren hierüber einen Anschluss an die globalen Märkte und entwickelten sich – bei Umgehung der pakistanischen Zölle – seit Mitte der 1990er Jahre zu einer Drehscheibe des Warenaustauschs zwischen Südasien, den Golfstaaten, Iran und Zentralasien. Die Grenzregion wird zudem vom Schlafmohnanbau beherrscht. Das Gebiet entlang des Hilmand in Südafghanistan und die ostafghanische Provinz Nangrahar stellen die zwei wichtigsten Opiumanbaugebiete der Welt dar; allein in der Provinz Hilmand werden ca. 40% des weltweiten Opiums angebaut. Die spezifische Rolle der Durand Line als eine »Nicht-Grenze« verstärkt die herausragende Stellung der Stammesgebiete für diese ökonomischen Kreisläufe.

Die Taliban-Bewegung

Im Unterschied zu den 1990er Jahre sind die Taliban gegenwärtig stärker als früher auf lokale Strukturen angewiesen, weshalb sie in den letzten Jahren bewusst tribale Vorstellungen aufgriffen. Gerade die Einbettung in lokale Strukturen trug so zum Wiedererstarken der Taliban bei. Jedoch stellen diese lokalen Strukturen gleichzeitig die größte Herausforderung für die Bewegung dar. So gewannen mit der Rückkehr der Taliban vielerorts Banditen und Drogenhändler, die Seite an Seite mit den militanten Islamisten gegen die OEF/ISAF-Truppen kämpften, an Macht. Diese verfolgen häufig eher Ziele wie Selbstbereicherung oder die Wiederherstellung ihrer persönlichen Machtbasis. Damit kontrastiert ihr Handeln das positive Selbstbild, das die Taliban von sich als Garant für Sicherheit und Ordnung haben. Auch die Tatsache, dass lokale Führer oftmals allein an der Erhaltung ihrer tribalen Autonomie interessiert sind und dementsprechend mal mit der Regierung, mal mit den Aufständischen zusammenarbeiten, ist den Taliban ein Dorn im Auge. Daher sind die Taliban seit geraumer Zeit bemüht, sich als Ordnungsfaktor in Talibanistan durchzusetzen und eine klare Trennlinie hin zum afghanischen Staat und dessen Verbündeten zu ziehen. So wurden beidseits der Durand Line in den letzten Jahren tribale Eliten, die nicht mit den Taliban paktierten, zum Ziel von Attentaten und Lynchprozessen. Weitere Indizien sind Säuberungsaktionen innerhalb der eigenen Reihen, die Zerstörung von Schulen als Symbole der Modernisierung, die schriftliche Erlassung eines Ehrencodex, der so genannten leyah, die Einsetzung eigener Gouverneure und Polizeichefs in eingenommenen Distrikten sowie die wiederholte Erwähnung einer straffen Organisationsstruktur (Giustozzi 2007). All dies soll dokumentieren, dass die Taliban für die Errichtung einer durchstrukturierten Ordnung stehen und eben nicht eine anti-staatliche Bewegung darstellen. Trotz dieser Versuche, ihre Bewegung zu formalisieren und zu vereinheitlichen, zeichnen sich die Taliban durch Heterogenität und interne Zerklüftung aus, zumal die Grenzen hin zu islamistischen Bundesgenossen wie Gulbuddin Hekmatyars hizb-i islami oder den mujahidin-Netzwerken von Jalaluddin Haqqani und Anwar ul-Haq fließend sind.

Die Rückkehr des Lokalen

Ich verstehe Talibanistan nicht als das Gebiet, das von der Bewegung der Taliban kontrolliert wird. Vielmehr ist Talibanistan eine Region, in der durch einen lang anhaltenden Krieg tribale und militante islamistische Normen und Wertvorstellungen radikalisierten und sich miteinander verbanden. In Talibanistan werden die Bedingungen für Herrschaft und Zusammenleben lokal ausgehandelt und variieren je nach Kontext. Gleichwohl bleibt die lokale Ebene an die globale über vielfältige Beziehungsgeflechte angebunden. Jede externe Einflussnahme, die die lokale Ordnung zu stören droht, erlebt eine militante Ablehnung. Die Taliban sind daher ein Produkt von Talibanistan, das jedoch gegenwärtig bemüht ist, sich selbst von den gesellschaftlichen Strukturen Talibanistans abzugrenzen; jedoch zeigt die Fragmentierung entlang lokaler und tribaler Bruchlinien die Tendenz, dass die Taliban-Bewegung selbst wieder in partikulare Strukturen zurückgeführt werden kann.

In Talibanistan erleben wir „den Aufstieg des Lokalen“ (von Trotha 2005), der sich in der Bildung von Stammesherrschaft, lokalen Emiraten oder Kriegsfürstentümer niederschlägt. Die Tatsache, dass die Bevölkerung ihre lokalen Ordnungen gegen sämtliche Versuche, eine übergreifende, staatliche Ordnung zu etablieren, verteidigt, wird von westlichen Betrachtern als Chaos oder Anarchie gewertet. So wird ein westlicher Botschafter zitiert: „Ungoverned spaces are a problem. The whole tribal area is a problem“ (zit. in Gall & Khan 2006); und der Kommentar eines NATO-Befehlshaber schließt sich nahtlos an: „Until we transform the tribal belt, the U.S. is at risk“ (zit. in Rubin 2007: 57). Vor diesem Hintergrund entlarvt sich der »Krieg gegen den Terrorismus« als ein extern geführter Staatsbildungskrieg, in dem lokale Ordnungsmuster bekämpft und staatliche Grenzen durchgesetzt werden müssen, damit Staatlichkeit die Kontrolle über Bevölkerung und Raum gewinnen kann. Die ambivalente Rolle der afghanischen und pakistanischen Regierung, die selbst stark von den anti-staatlichen Strukturen Talibanistans beeinflusst sind, erleichtert diesen Staatsbildungsprozess nicht gerade.

Jedoch ist Talibanistan nicht allein auf die paschtunischen Stammesgebiete beschränkt, weshalb eine Gleichsetzung von Paschtunen und Taliban in die falsche Richtung deutet. Wenngleich ich die Strukturen der paschtunischen Stämme zum Ausgangspunkt meiner Argumentation machte, lautet die These, dass eine radikale Ablehnung von Moderne und Staat im Namen des Islam gerade dort erfolgt, wo tradierte lokale Ordnungen unter Bedingungen wie Flüchtlingsdasein, Urbanisierung oder Krieg nicht mehr ohne Weiteres aufrecht erhalten werden können und militante islamistische Strömungen, die als anti-staatlich, anti-modern oder anti-westlich verstanden werden, an Einfluss gewinnen. Dieses Phänomen des Ineinanderfließens lokaler und militant islamitischer Vorstellungen lässt sich daher auch außerhalb der paschtunischen Stammesgebiete beobachten. So entstanden bereits in den 1990er Jahren wahabitische Emirate in Nuristan, Kunar und in Badakhshan (Roy 1995: 82). Aber auch außerhalb Afghanistans wie im tschetschenisch-georgischen Grenzgebiet (u. a. Pankisi-Tal) oder im Rasht-Tal in Tadschikistan entstanden zeitweise Kleinreiche, in denen lokale mit islamistischen Vorstellungen verschmolzen. Aber nicht nur in entlegenen Bergregionen, sondern auch in den Vororten von Großstädten wie Karatschi, Bagdad und Mogadischu ist Talibanistan längst angekommen.

Literatur

Ansari, Zafar Ishaq (1990): Hijrah in the Islamic Tradition, in: Ewan Anderson & Nancy Dupree (Hrsg.): The Cultural Basis of Afghan Nationalism. London: Pinter, S.3-20.

Baker (2007): The Truth about Talibanistan, in: Time, 22. März, http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,1601850,00.html

Barth, Fredrik (1969): Pashtun Identity and Maintenance, in: Fredrik Barth (Hrsg.): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Differences. Bergen: Universitets Forlaget, S.117-134.

Edwards, David (1986): Marginality and Migration: Cultural Dimension of the Afghan Refugees' Problem, in: International Migration Review Jg. 22, Nr. 2, S.313-325.

Edwards, David (1996): Heroes of the Age. Moral Fault Lines on the Afghan Frontier. Berkeley: University of California Press.

Gall, Carlotta & Ismail Kan (2006): Taliban and Allies. Tighten Grip in North of Pakistan, New York Times 11.12.2006.

Giustozzi, Antonio (2007): Koran, Kalashnikow and Laptop. The Neo-Taliban Insurgency in Afghanista. London: Hurst

Janata, Alfred & Reihanodin Hassas (1975): Ghairatman – der gute Paschtune. Exkurs über die Grundlagen des Pashtunwali, in: Afghanistan Journal Jg. 2, Nr. 3, S.83-97.

Roggio, Bill (2006): Fighting in Afghanistan, Talibanistan, in: The Toronto Times, 21 Mai, http://thetorontotimes.com/content/view/420/69/

Routledge, Paul (1993): Terrain of Resistance. Nonviolent Social Movements and the Contestation of Place in India, Westport: Praeger.

Roy, Olivier (1995): Afghanistan. From Holy War to Civil War. Princeton: Darwin Press

Rubin, Barnett (2007): Saving Afghanistan, in: Foreign Affairs January/February, S.57-78.

Steul, Willy (1981): Pashtunwali. Ein Ehrenkodex und seine rechtliche Relevanz, Wiesbaden: Ergon Verlag (Beiträge zu Südasienforschung 54).

Tapper, Richard (Hrsg.) (1983): The Conflict of Tribe and State in Iran and Afghanistan, New York: St Martin's Press.

von Trotha, Trutz (2005): Der Aufstieg des Lokalen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 28/29, S.32-38.

Dr. Conrad Schetter ist Senior Research Fellow am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn, wo er die Forschungsgruppe »Governance and Conflict« leitet. Der vorliegende Beitrag ist die gekürzte Version eines Artikels, der im Inernationalen Asienforum 2008 (3-4) erschien.

Salami-Taktik

Salami-Taktik

von Jürgen Nieth

„Kaum Bedenken gegen Kampfeinsatz“, lautete am 18.01.08 die Überschrift in der Frankfurter Allgemeinen (FAZ). Bei anderen heißt es: „Kampftrupp für Afghanistan“ (tageszeitung, 17.01.08), „Kämpfen heißt der Auftrag“ (Der Tagesspiegel, 17.01.08), „Deutsche an die Front“ (Frankfurter Rundschau 17.01.08), „Bundeswehr plant Eingreiftruppe für Afghanistan (Süddeutsche Zeitung, 17.01.08) „Auf dem Weg in den Kampfeinsatz“ (Berliner Zeitung, 18.01.08).

Verharmlosen hat Methode

Die Presse spricht aus, was die Regierung nicht hören möchte. „Wenn es um Afghanistan geht, meiden die Spitzenpolitiker der Regierung das Wort »Kampfeinsatz« wie die Pest. In Reden von Kanzlerin Angela Merkel taucht das böse K-Wort nicht auf. Ebenso wenig in Stellungnahmen von Verteidigungsminister Jung (CDU) oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Sie verniedlichen den Militäreinsatz vielmehr regelmäßig als »Hilfe beim Aufbau« (Merkel), »Stabilisierung« (Jung) oder »Unterstützung der afghanischen Regierung« (Steinmeier).“ (Spiegel, 21.01.08, S.40). Das Verharmlosen hat Methode, doch jetzt haben wir eine Situation.

Schnelle Eingreiftruppe an den Hindukush

Norwegen wird seine »Quick Response Force« (QRF), die unter deutschem Oberkommando im Norden Afghanistans operiert, ab Sommer 2008 aufgeben. Die Aufgaben dieser Einheit soll die Bundeswehr übernehmen. „Von offizieller Seite ist der Auftrag zwar noch nicht bestätigt… doch im Prinzip ist die Sache klar: Die Bundeswehr wird voraussichtlich diesen Sommer eine bis zu 250 Soldaten umfassende Kampfeinheit nach Afghanistan schicken.“ (Der Tagesspiegel, 17.01.08, S.9)

Zeit des Frieden Sicherns vorbei

Der norwegische Kommandeur der QRF, „deren Aufgaben die Bundeswehr… übernehmen wird, sagt: ‚Nur Frieden sichern, diese Zeit ist jetzt vorbei' … ‚In Nordafghanistan geht es um einen sehr offensiven Ansatz, nicht um Reaktion.' Die Deutschen… müssten ‚ihre Soldaten mental darauf vorbereiten, Krieg zu führen, anderen Verluste beizubringen', vor allem aber: ‚Sie müssen ihre Soldaten darauf vorbereiten, dass sie ihr Leben verlieren können.'“ (Der Tagesspiegel, 19.01.08, S.5).

Eine neue Qualität?

Von den Wehrexperten der Bundestagsopposition sieht Paul Schäfer (Linke) das ähnlich: „Mit der Ausgangsüberlegung eines Friedenssicherungsmandats hat so ein Einsatz nichts mehr zu tun… es muss klar sein: Es geht dabei um Töten und getötet werden.“ (taz, 18.01.08, S.5) Birgit Homburger (FDP) sieht eine neue Qualität des Einsatzes und fordert „das Verteidigungsministerium auf, (diese) offen und ehrlich zu benennen. Nach der Entsendung der Tornado-Aufklärungsflugzeuge im April 2007 würde das Aufgabenspektrum der Bundeswehr… durch »offensive Operationen« erneut erweitert.“ (SZ, 18.01.08, S.5) Grünen Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei räumt zwar ein, „dass für eine QRF ein »militärisch härteres und riskanteres Aufgabenprofil« gelte als für die Absicherung der Regionalen Wiederaufbauteams… Man könne jedoch nicht von einer neuen Qualität sprechen, weil diese Anforderung von Anfang an zu den Aufgaben der Bundeswehr gehört habe.“ (SZ, 18.01.08, S.5) Nachtweis Fraktionskollege Bonde beschreibt „den Unterschied zwischen dem laufenden Einsatz und der Arbeit der Eingreiftruppe mit »einem Tick mehr Material« – also anderen Fahrzeugen und anderen Waffen.“ (taz, 17.01.08)

Salamitaktik

Eine Bundeswehr zum Schutz von Wiederaufbauteams, ihr Einsatz auf den Norden Afghanistans beschränkt. Das war die Botschaft der Vergangenheit (die natürlich nie die ganze Wahrheit enthielt, siehe KSK-Einsätze). Dann folgte der Beschluss zur Entsendung von Tornado-Aufklärungsflugzeugen. Jetzt geht es um eine Schnelle Eingreiftruppe, Einsatzgebiet der Norden. Aber: Das norwegische Kontingent, das die Funktion wahrnahm, die die Bundeswehr übernehmen soll, nahm „im Herbst 2007 an einer Offensive an der Grenze zwischen dem Norden und dem Westen teil – außerhalb des Einsatzgebietes der Bundeswehr.“ (FR 17.01.08, S.1) Und bereits im letzten November sprach sich SPD-Verteidigungsexperte Reiner Arnold für „eine landesweit agierende Isaf-Eingreiftruppe aus, die auch für Kampfeinsätze ausgerüstet sein müsse. Auch Deutschland solle sich mit Bundeswehr-Soldaten an einer solchen Eingreiftruppe beteiligen.“ (SZ 17.01.08, S.6) Diskutiert wird aber nicht nur eine Ausdehnung des Einsatzbereiches, sondern auch die Entsendung von mehr Soldaten. „Die Einschätzung Arnolds, dass die NATO künftig mehr deutsche Kampftruppen für Afghanistan fordern dürfte, wird in der Union im Grundsatz geteilt… CDU Verteidigungsexperte Bernd Siebert: …'Wenn es am Ende auf uns zukommt, werden wir uns dem nicht entziehen können'.“ (SZ 17.01.08, S.6) SPD-Fraktionschef Struck sieht das wohl ähnlich: Wenn die Bundeswehr neue Aufgaben übernehme…, werde er sich bei der nächsten Mandatsverlängerung im Herbst nicht sperren, die Truppenstärke von derzeit maximal 3.500 Soldaten zu erhöhen.“ (Spiegel, 21.01.08, S.40)

Das Militär denkt noch weiter

Brigadegenerral Kasdorf, Chef des Isaf-Stabs in Kabul, hat laut über den Einsatz von Panzern nachgedacht. „'Man muss überlegen, welche Rolle schwere Ausrüstung künftig spielt… Ohne dass ich einen Panzerkrieg herbeireden möchte'.“ (FAZ 17.01.08, S.1) Und sieben der ranghöchsten ehemaligen Generäle wenden sich nicht nur gegen „zu frühe Festlegungen von Kontingentobergrenzen.“ Sie sehen angesichts der zunehmenden Auslandseinsätze der Bundeswehr vor allem Bedarf an Führung. Sie empfehlen „'eine in der Hierarchie des BMVG höher angesiedelte Operationsabteilung'. Diese solle unmittelbar dem Generalinspekteur unterstellt werden… Im Klartext: die Bundeswehr solle endlich so etwas wie einen Generalstab erhalten.“ (Die Zeit, 17.01.08, S.9) Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde – zumindest offiziell – in deutschen Militärkreisen dieser Begriff gemieden. Sind es nur die »Ehemaligen«, die so denken?

„Firmenchefs holen sich gern Unternehmensberater ins Haus, um bereits definierten Reformbedarf als Erkenntnis externer Fachleute ausgeben… zu können… (Der) Bericht einer Gruppe pensionierter Offiziere über die Organisation von Auslandseinsätzen der Bundeswehr liest sich streckenweise so, als habe Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhahn heimlich Regie geführt.“ (SZ 19.01.08, S.7)

Tornados nach Afghanistan

Tornados nach Afghanistan

von Jürgen Nieth

Die deutsche Luftwaffe wird sechs Tornados in Afghanistan
einsetzen. Die Piloten sollen dort vor allem mit Aufklärungsflügen die
Nato-Truppen unterstützen. So hat es der Bundestag am 09.03.07 beschlossen.
Doch noch nie waren die Gegenstimmen zu einen Auslandseinsatz der Bundeswehr so
zahlreich, wie diesmal: 157 Abgeordnete stimmten gegen den Einsatz, 11
enthielten sich und »nur« 405 Parlamentarier votierten dafür.

Riss durch alle Fraktionen…

…titelt die TAZ (10.03.07). Und sie stellt weiter fest: „Die
Spaltung in Ja und Nein zog sich durch alle Fraktionen mit Ausnahme der Linken,
die den Einsatz geschlossen ablehnt. Besonders krass zeigte sie sich bei den
Sozialdemokraten: Dort standen 69 Nein-Stimmen 133 Ja-Stimmen gegenüber. In der
Debatte… hatten vor allem die SPD-Redner noch einmal versucht, ihre
Parteigenossen für den »Tornado«-Einsatz zu gewinnen. Nein-Stimmen kamen erst
gar nicht zu Wort.“
Am kontroversesten verlief die Debatte bei den Grünen. „26
Abgeordnete stimmten mit Ja, 21 mit Nein, 4 enthielten sich.“

Gute Gründe fürs Nein

Es gibt „viele und gute Gründe nicht in den Krieg zu
ziehen“,
kommentiert Arnd Festerling den Bundestags-Beschluss in der FR
(10.03.07). Und weiter: „Wenn man Pazifist, in überhaupt keinen; wenn man
Realist ist, zumindest nicht in einen, den man nicht gewinnen kann. Der Krieg
in Afghanistan kann nicht gewonnen werden. Jedenfalls nicht so, jedenfalls
nicht bald, jedenfalls nicht, ohne noch viel mehr Soldaten in den Kampf zu
schicken, jedenfalls nicht, ohne unendlich viel mehr zivile Hilfe zu leisten.
Und weil das so ist, hätte es unserem Parlament überhaupt nicht geschadet, wenn
in dieser Frage von Krieg und Frieden – die immer auch eine von Leben und Tod
ist – noch mehr Abgeordnete nicht ach so realpolitisch und pragmatisch
abgestimmt hätten. Es war eine gute Gelegenheit, Nein zu sagen.“

Zweifel am Erfolg…

…äußern sich auch in anderen Medien. Der Spiegel (19.03.07)
fragt nach dem Sinn des Einsatzes: „Aber wofür? In den Jahren der Besetzung
hat sich zwar in einigen Teilen des Landes etwas getan, …aber die Mehrheit der
Afghanen lebt immer noch unter mittelalterlichen Bedingungen… Einzige
Boombranche des Landes ist das Drogengeschäft. Unter den Augen der
internationalen Staatengemeinschaft wurde das bettelarme Land zum größten
Opium-Erzeuger der Welt. 92 Prozent des globalen Angebots werden in Afghanistan
hergestellt und spülen so etwa drei Milliarden Dollar in die Kassen der
Drogenbarone, zu denen auch (der Bruder des Präsidenten) Ahmed Karzai gehören
soll.“

Das meiste Geld fürs Militär

„Der Einsatz der sechs Tornados plus etwa 500 Soldaten
der Luftwaffe kostet bis Oktober – dann steht die Verlängerung zur Debatte – 35
Millionen Euro. Die Ausgaben für die Staionierung der 2.900 Bundeswehrsoldaten
im Rahmen der Nato-Schutztruppe belaufen sich auf 450 Millionen Euro,“
schreibt
K. Kouffen in der TAZ (10.03.07). Und sie stellt im Vergleich fest, dass
demgegenüber bisher nur „jährlich 80 Millionen für den zivilen Aufbau“
standen.
Der Chef des Deutschen Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, greift diesen Punkt
in einem Interview mit dem Tagesspiegel (09.03.07) auf: „In Afghanistan wird
viel zu wenig für den zivilen Aufbau, für wirtschaftliche Entwicklung, für den
Aufbau der Polizei getan… wenn Menschen glauben sollen, dass ein demokratisches
System für sie die bessere Option ist, dann … (müssen) wir soviel in den Aufbau
stecken, dass jeder mit Augen sieht … Obendrein haben unsere Verbündeten in
einem Ausmaß Zivilisten ins Jenseits gebombt – das ist kontraproduktiv.“

Erweiterter Kriegseinsatz befürchtet

Überall wächst die Befürchtung, dass die Deutschen…
immer stärker in den Krieg hineingezogen werden können. ‚Es werden weitere
Forderungen der Nato kommen‘, befürchtet auch (SPD)Fraktionschef Struck.“ 
(Spiegel 19.03.07). In der Bild am
Sonntag (11.03.07) spricht derselbe Struck davon, dass dieser Einsatz „noch
ein Jahrzehnt dauern (kann). Man muss in Afghanistan in langen Linien denken,
und eine Offensive ist noch kein Sieg.“

Schon jetzt gehen die Meinungen auseinander, ob der Tornade-Einsatz »nur«
Aufklärung oder schon ein Kampfeinsatz ist. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
(10.03.07) spricht über die Aufklärungsvariante von „Illusionen… die nicht
zuletzt von den zuständigen Ministern genährt worden waren.“
Sie zitiert
den außenpolitischen Sprecher der Unionsfraktion, Eckart von Klaeden, nachdem
die Nato geführte „ISAF und (die amerikanische geführte Operation Enduring
Freedom) OEF immer weiter miteinander verzahnt“
würden. Es sei eine
Illusion, „dass man von weiteren Anforderungen verschont bleiben würde. ‚Als
Bündnispartner müssen wir bereit sein, nicht nur dieselben Lasten zu tragen,
sondern auch dieselben Risiken‘.“

Ein Soldat weigert sich

Oberstleutnant Jürgen Rose ist für die logistische
Unterstützung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr zuständig und hat „bei
seinen Vorgesetzten die Mithilfe beim anstehenden Tornado-Einsatz der Bundeswehr
in Afghanistan verweigert und den Antrag gestellt, von weiteren Aufgaben im
Zusammenhang mit dem Auftrag entbunden zu werden“,
heißt es in der Welt
(17.03.07). Sie zitiert Rose: „‘Der Einsatz ist völkerrechtswidrig…, die
Kriegsführung im Süden Afghanistans schert sich nicht um den Schutz der
Zivilbevölkerung‘, Die Kampfeinsätze der USA im Süden sind nicht vom
UN-Sicherheitsrat mandatiert.“
Die schnelle Reaktion der Bunderswehr, die
den Offizier versetzte, kommentiert die Zeitung: „Die Bundeswehr versucht…
offenbar, einer öffentlichen Debatte über Dienstverweigerung im Zusammenhang
mit dem Tornado-Einsatz in Afghanistan keinen weiteren Nährboden zu bereiten.
denn der Aufklärungseinsatz wird laut Umfragen von der Bevölkerung mehrheitlich
abgelehnt. Diese Skepsis teilen auch die Soldaten.“

Verfassungsbeschwerde

Die Befürchtung, „dass Deutschland in einen
völkerrechtswidrigen Krieg verstrickt wird“,
war Anlass für die beiden
Unionsabgeordneten Gauweiler und Wimmer das Bundesverfassungsgericht anzurufen
(Süddeutche Zeitung 10.03.07). Nachdem die Klage »formal« abgelehnt wurde, da
einzelne Abgeordnete keine Rechte des Bundestages geltend machen können,
sondern nur Fraktionen, klagt jetzt die Linksfraktion in Karlsruhe.

„Verteidigung am Hindukusch“

„Verteidigung am Hindukusch“

von Jürgen Nieth

Der 15. Deutsche Bundestag hat auf einer Sondersitzung am
28. September die Verlängerung um 12 Monate und die Erweiterung des Afghanistan-Mandats
beschlossen. Von den 553 anwesenden Bundestagsabgeordneten stimmten 535 dem
Einsatz zu, 14 stimmten mit Nein und vier enthielten sich der Stimme.

Die »Ganz große Koalition«

„Über Einsätze der Bundeswehr im Ausland befindet der
Deutsche Bundestag in der Regel mit mehr als »nur« der Mehrheit einer großen
Koalition. Bis auf die PDS billigen traditionell alle Parteien (von einigen
Dissidenten abgesehen) die Mandate für die Truppe. 36 Mal war das der Fall, wie
der CDU-Politiker Friedbert Pflüger hervorhob, seitdem die noch amtierende
Regierungskoalition ausgerechnet mit der Entscheidung über die Beteiligung am
Krieg auf dem Balkan ihr Werk begann.“
(Thomas Köter, FR 29.09.2005)

Sondersitzung des abgewählten Bundestages

Deutschland hat am 18. September einen neuen Bundestag
gewählt, bis zu dessen Konstituierung ist der alte noch im Amt. Warum eine
Sondersitzung des alten Bundestages? Die offizielle Lesart: „Die
Sondersitzung des Bundestages war nötig geworden, weil die Vereinten Nationen
(UN) in diesen Tagen das Mandat für die ISAF (International Security Assistance
Force, d. R.) verlängert hat. Mit 3.000 der mehr als 11.000 Soldaten in
Afghanistan ist Deutschland der größte Truppensteller. Bisher durfte die
Bundeswehr bis zu 2.250 Soldaten einsetzen“ (FR 29.09.2005)

Eine andere Einschätzung trifft Bettina Gaus in der TAZ
(22.09.2005): „Es scheint zu einer lieben Gewohnheit zu werden, dass ein
abgewähltes Parlament noch sicherheitspolitische Entscheidungen treffen darf.
1999 ging es um den möglichen NATO-Einsatz im Kosovo… (jetzt) soll erneut ein
abgewählter Bundestag über Verlängerung und Modalitäten eines Einsatzes
entscheiden, dieses Mal in Afghanistan. Ohne die Fraktion der Linkspartei,
versteht sich. Dem alten Parlament hat sie ja noch nicht angehört… Vom Respekt
vor dem Wählerwillen… zeugt das nicht. Zumal es keineswegs unvermeidlich wäre.
Der neue Bundestag muss sich spätestens bis zum 18. Oktober konstituieren, aber
nichts spricht dagegen, dass er früher zusammen tritt. Das Mandat für Afghanistan
läuft am 13. Oktober aus. Angesichts der breiten Zustimmung zu der Operation
entschiede der neue Bundestag ebenso wie der alte. Aber immerhin könnte die
Linkspartei dann das tun, wofür sie gewählt wurde
: einer abweichenden
Position parlamentarisches Gehör verschaffen.“

Das Risiko steigt

Die Truppe wird nach dem Bundestagsbeschluss aufgestockt und
ihr Verantwortungsbereich ausgeweitet. Der Einsatz war am Anfang auf die
Hauptstadt Kabul begrenzt, später folgte Kundus und schließlich Faisabad.
Künftig soll es auch nach Masar-i-Scharif gehen. „Die regionale Begrenzung,
die sich die Deutschen zum Selbstschutz auferlegten, ist also weitgehend
gefallen. das Risiko steigt
(Peter Münch, SZ 29.09.2005).

Bisher hat der Afghanistan-Einsatz 17 deutschen Soldaten das
Leben gekostet, doch erst jetzt wird es wohl eine richtig „heikle Mission“ (Spiegel
Nr. 40/2005). Der Bundestagsbeschluss wird „das deutsche Operationsgebiet
praktisch auf ganz Afghanistan“
ausdehnen. „Die deutschen erhalten nun
einen eigenen Sektor, den relativ ruhigen Norden, wo seit je das Drogengeschäft
floriert… Richtig gefährlich ist indes ein Auftrag, den die Deutschen
zusätzlich übernehmen
: Eine schnelle Eingreiftruppe mit CH-53-Hubschraubern
des Heeres und »Transall«-Transportflugzeugen der Luftwaffe soll notfalls… den
britischen Einheiten im Süden“ bewaffneten Beistand geben. „Dort gibt es
immer noch Gefechte mit »militanten Opositionskräften«, wie die NATO eher
verharmlosend die Gegner der Karzei-Regierung nennt.“

Die TAZ weist darauf hin, dass „wenn schon nicht
rechtlich, so doch faktisch… die UN-Friedensmission längst eng verzahnt (ist)
mit dem US-geführten Kampfeinsatz »enduring freedom«. Auch an letzterem sind
übrigens deutsche Soldaten beteiligt, was sie genau tun, bleibt der
Öffentlichkeit verborgen (22.09.05)

Die Rechtmäßigkeit des Einsatzes

Spätestens die oben angesprochene Verzahnung des
Bundeswehreinsatzes mit »enduring freedom« wirft die Frage nach der
Übereinstimmung mit dem Grundgesetz auf. Die Wochenzeitung »Die Zeit«
(30.09.05) stellt sarkastisch fest: „Die Bundeswehr ist weiterhin zur
Landesverteidigung, sicher. Bloß kaum noch in Deutschland.“

Die Ost-West-Wochenzeitung »Freitag« (30.09.05) bezeichnet
den Afghanistan Einsatz „als Muster für die erstrebte weltweite
Interventionsfähigkeit deutscher Streitkräfte“,
und sie lässt den
Völkerrechtler Norman Paech zu Wort kommen, der die Schlussfolgerung zieht,
dass das Grundgesetz „einem weltweiten Einsatz der Bundeswehr widerspricht.“

Steigende Kosten

Mit der Ausdehnung des Bundeswehreinsatzes steigen auch die
Kosten. Die zusätzlichen Ausgaben „bezifferte Struck für dieses Jahr auf
41,5 Millionen Euro. Die Gesamtkosten für ISAF im Jahr 2006 beliefen sich auf
227 Millionen Euro.“
(FR 22.09.05)

Die SZ (29.09.05) rechnet sogar mit rund 319 Millionen Euro
für das nächste Jahr

Drogen

Seit dem US-geführten Militäreinsatz in Afghanistan ist das
Land wieder zum führenden Opiumproduzenten aufgestiegen. „Der Drogenhandel
(ist der) wichtig­ste Wirtschaftsfaktor in Afghanistan
: Rund 87 Prozent der
Weltproduktion an Roh­opium kommen aus dem Land. Im vergangenen Jahr belief
sich der geschätzte Erlös daraus auf 2,8 Milliarden US-Dollar.“ (Spiegel
1.10.05) Weiter heißt es dort: Die Bundeswehr soll u.a. für ein sicheres Umfeld
sorgen, indem die afghanische Regierung selbst gegen die Opiumkartelle vorgehen
kann. Doch für „die Drogenbekämpfung zuständig ist ausgerechnet der
heimliche Regent der Region Kunduz, Mohammed Daud, der selbst als einer der
größ­ten Drogenbarone gilt. Als Patron am neuen Stützpunkt der Deutschen in
Masar-i-Scharif agiert hinter den Kullissen der streitbare Abdul Raschid
Dostum“,
der früher „mit seiner auch drogenfinanzierten Miliz“ an
der Seite der Sowjets kämpfte und jetzt oberster Militärberater Karzais und
Armeechef ist. „Kein einfacher Geprächspartner für den deutschen
Brigadegeneral Kiesheyer.“

Afghanistan

Afghanistan

Die Entwicklung seit dem Najibullah-Regime

von Jürgen Burggraf

Als 1988 die Truppen der ehemaligen Sowjetunion Afghanistan verließen, hofften viele auf einen schnellen Frieden. Eine trügerische Hoffnung, wie sich zeigte. Ein riesiges Waffenlager hatten die Großmächte hinterlassen und gleich ein halbes Dutzend Staaten verfolgte in dem Vielvölkerstaat eigene strategische Interessen. In immer wieder wechselnden Koalitionen ging das grausame Morden bis heute weiter. Ein Ende des Bürgerkrieges ist trotz internationaler Bemühungen wenig wahrscheinlich.

Die afghanische Gesellschaft ist bis heute eine vorindustrielle, stark segmentierte Agrargesellschaft mit einer schwachen Zentralgewalt und weitgehender Autonomie der auf Familien-, Sippen- und Stammesverbänden basierenden Dorfgemeinschaften geblieben.

Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat mit folgender Bevölkerungsaufteilung: Paschtunen (etwa 45%), die den Anspruch auf die politische Führung Afghanistans erheben; 28% Tadschiken; Hazara 8-10%; Uzbeken ca. 9%; Turkmenen 3%; ferner weitere 30 kleinere lokale Ethnien. Etwa 80% der Afghanen sind Sunniten; ca. 18% Schiiten (Zwölferschia). Der Rest der Bevölkerung verteilt sich auf islamische Sekten (Ismailiten, Sufi-Orden).

Die Struktur des Afghanistan-Konfliktes

Seit dem Ende der 70er Jahre war der Widerstand gegen den afghanischen Staat und dessen kommunistische Führung weitgehend tribal organisiert und deshalb entlang ethnischer Linien fragmentiert. Der Aufruf zum Jihad und externe Druckausübung schufen bis 1992 einen gewissen Grad der Einigkeit.

Der Abzug der Sowjets (gemäß Genfer Abkommen 1988) und die spätere Einstellung ihrer materiellen Unterstützung schufen ein politisches und militärisches Vakuum. Dieses konnte angesichts der Fragmentierung des Widerstandes nicht von einer Führung mit nationalem Machtanspruch ausgefüllt werden, zumal der Widerstand nicht in Afghanistan, sondern auf fremdem Territorium (Pakistan, Iran) organisiert worden war. Der Übernahme einer nationalen Führungs- und Integrationsrolle durch den exilierten König verweigerten sich Pakistan (bis 1995) und die Mujahidin-Führer. Vor 1979 existieren keine national-säkularen Parteien, von der kommunistischen abgesehen, in Afghanistan, und diese wurden auch später nicht aufgebaut. Nach 1979 erhielten dann ausschließlich religiös-fundamentalistische Organisationen ausländische Unterstützung in ihrem Kampf gegen das Kabuler Regime. Ein weiterer Versuch der nationalen Integration ist in dem Bemühen um die Wiederbelebung der »Loya Jirga« (afghanische Stämmeversammlung) zu sehen. Diese kann für sich den Anspruch erheben auf Übereinstimmung mit eigenständigen politischen Traditionen Afghanistans und somit auf politische Legitimität. Ihre Konstituierung scheiterte aber an ethnischen Zerklüftungen, dem Widerstand der Mujahidin und Pakistans.

Pakistan organisierte weitgehend die internationale Hilfe an die sunnitischen Widerstandsgruppen, ohne damit aber die Herausbildung einer einheitlichen afghanischen Widerstandsfront, die seine Kontrolle unterminiert hätte, fördern zu wollen. Selbst nicht-islamistisch orientierte Gruppen mußten sich zum Erhalt von militärischer Unterstützung islamistisch gebärden. Diese Umstände bewirkten eine immer stärker um sich greifende Islamisierung der afghanischen Gesellschaft und Politik. Die Langzeitfolge war: Auf der Basis der militärischen Stärke und Anziehungskraft der Mujahidin-Organisationen setzte ein Prozeß der Herauslösung und Autonomisierung von Herrschaftsverbänden und -territorien aus dem afghanischen Staatsverband ein.

Die Interessen externer Akteure

Pakistan geht es darum, eine ihm freundlich gesinnte Staatsführung in Kabul zu fördern, um sich die Möglichkeit zu eröffnen, einen profitablen Handel mit seinem Nachbarland und dessen nördlichen Anrainerstaaten, die besonders aufgrund ihrer immensen Rohstoffvorkommen interessant sind, zu führen. Ferner benötigt Pakistan eine kooperative Kabuler Führung zur Lösung des afghanischen Flüchtlingsproblems. Jedoch fördert eine starke Kabuler Zentralregierung nicht die Absicht Pakistans, wirkungsvollen Einfluß auf das politische Geschehen in Afghanistan zu nehmen. Deshalb verhinderte Pakistan, daß die afghanische »Loya Jirga« oder der exilierte König Zahir Shah nationale Führungs- und Integrationsrollen übernehmen konnten. Vielmehr stärkte Pakistan – unter besonderen Förderung der paschtunischen Gruppen – die Mujahidin-Fraktionen. Diese Politik diente auch dem Zweck, die Einflußnahme des regionalen Kontrahenten Indien, der besonders die turkmenischen Mujahidin fördert, einzudämmen. Die Pakistan-orientierten Mujahidin sollen nicht zuletzt auch einen Schutz gegen die Ausweitung des iranisch-schiitischen Revolutionsmodell auf Afghanistan bieten. Es muß Pakistan aufgrund seiner eigenen ethnischen Zusammensetzung auch daran gelegen sein, groß-paschtunische Aspirationen in Afghanistan unter Kontrolle zu halten.

Saudi-Arabien und der Iran führen mittels der Unterstützung ihrer jeweiligen Klientel in Afghanistan einen religiös (Gegensatz Sunna-Schia) und machtpolitisch fundierten Stellvertreterkonflikt um die Führung der islamischen Welt. Saudi-Arabien unterstützt im wesentlichen die von Pakistan anerkannten Mujahidin-Gruppen; Iran neben den afghanischen Schiiten auch uzbekisch-tadschikische Kräfte.

Turkmenistan, Uzbekistan und Tadschikistan stehen hinter den ihnen ethnisch nahestehenden Konfliktparteien mit dem Ziel, das Ausgreifen des islamischen Fundamentalismus über Nordafghanistans hinaus zu verhindern.

Rußland geht es darum, unter Eindämmung des islamischen Fundamentalismus die Stabilität und die russischen Einflußmöglichkeiten im südlichen »nahen Ausland«, zu dem auch die GUS-Mitglieder Turkmenistan, Uzbekistan und Tadschikistan gehören, zu gewährleisten. Deshalb protegiert Rußland General Dostum und seine Verbündeten. Diese Stabilität ist für Rußland deshalb wichtig, weil es an der Ausbeutung der transkaukasischen Rohstoffvorkommen teilhaben will. Afghanistan ist geostrategisch von Bedeutung, weil es territorial die Möglichkeit bietet, einen von russischer (oder iranischer) Kontrolle unabhängigen Landweg für den Abtransport transkaukasischer Rohstoffe – besonders Erdöl und Erdgas – zu bieten. Von gleicher zentraler Bedeutung ist das Land mit Bezug auf zentralasiatische Handelswege. Diese Transportmöglichkeiten zu verhindern, liegt im Interesse Rußlands (und des Irans).

China verfolgt neben ökonomischen auch sicherheitspolitische Interessen im afghanischen Konflikt. Es befürchtet die Beeinflussung seiner turkstämmigen Bevölkerungsminderheiten durch die Lage in Afghanistan (Unruhen unter den chinesischen Uiguren 1997!).

Die USA und ihre Verbündeten streben letztlich ein Regime in Kabul an, das ein Mindestmaß an inner-afghanischer und regionaler Stabilität gewährleisten, den freien Zugang zu wichtigen Rohstoffen und Absatzmärkten der Region fördern und den Export von Drogen, der »islamischen Ideologie« und Terrorismus eindämmen kann. Dieses Ziel verfolgend haben die USA prinzipiell die pakistanische Afghanistan-Politik mitgetragen.

Diverse externe Parteien nutzen den afghanischen Bürgerkrieg zum profitablen Absatz ihrer Rüstungsgüter (u.a. Ukraine, Ägypten, Türkei, Israel, Libyen, Sudan).

Die Entwicklung in Afghanistan von 1992 bis 1997

Die Sowjetunion erklärte sich Ende 1991 bereit, eine islamische Übergangsregierung in Afghanistan zu akzeptieren, sofern das Najibullah-Regime an deren Zustandekommen beteiligt würde. Mit den USA einigte sich die Sowjetunion auf die Einstellung der jeweiligen Militärhilfe für 1992. Die Mujahidin lehnten jedoch die sowjetischen Forderungen ab. Nach militärischen Siegen der Mujahidin und General Dostums (21.3. Bündnis Dostum-Masud) Anfang 1992 gab Präsident Najibullah im März bekannt, er sei zur Abgabe der Macht bereit. Am 16.4. übergab er die Regierungsgeschäfte an einen Viererrat seiner Watan-Partei. Am 25.4.1992 marschierte Masud, unterstützt durch die Truppen Dostums und die schiitische Hizb-e Wahdat, in Kabul ein, um einer »paschtunischen Lösung« für das afghanische Machtvakuum zuvorzukommen. Daraufhin gaben die von Pakistan unterstützten Mujahidin-Gruppen ihre Vorstellungen zur Gestaltung der Übergangszeit in Afghanistan bekannt (Peshawar Accords: Bildung eines Übergangsrats aus allen zehn Mujahidin-Fraktionen, Präsident dieses Rats für zwei Monate Mujaddadi, danach Rabbani für vier Monate, Hikmatyar, Masud und Sayyaf erhalten Schlüsselministerien). Eine nationale »Shura« solle eine Interimsregierung für die nächsten 18 Monate benennen und freie Wahlen vorbereiten. Die Hizb-i Wahdat und Dostums (Jonbush-i Milli-i Islami) lehnten diese Regelungen ab. Bald verwarf auch Hikmatyar die Einigung, da diese der Anerkennung der nicht-paschtunischen Dominanz in Kabul gleichgekommen wäre. Abkommen zwischen ihm und Rabbani zur Aufteilung der Macht scheiterten mehrfach. Ende 1992 wurde Rabbani von der »Shura« für weitere 18 Monate im Präsidentenamt bestätigt. Ein Zerwürfnis zwischen der Hizb-i Wahdat, der Jamiat-i Islami und der Jonbush nutzte Hikmatyar zum Bündnis mit der Hizb-i Wahdat (Januar 1993). Ferner hielt er eine taktisch begründete Waffenruhe mit den Kräften Dostums ein.

Ende Januar 1993 einigten sich sechs Mujahidin-Gruppen unter saudi-arabischer Vermittlung auf eine Friedensformel (Abkommen von Jalalabad). Danach sollten die Kriegshandlungen eingestellt, der Führungsrat der Mujahidin wiederbelebt und binnen eines Jahres Wahlen abgehalten werden. Hikmatyar unterstützte das Abkommen; Rabbani lehnte es ab und ernannte vielmehr Dostum zum stellvertretenden Verteidigungsminister Afghanistans, um sich seiner Loyalität gegen Hikmatyar zu versichern. Im März 1993 vermittelten Pakistan, Saudi-Arabien und Iran das Abkommen von Islamabad. Danach sollte Rabbanis Amtszeit als Präsident auf 18 Monate begrenzt werden, während Hikmatyar den Posten des Premierministers besetzen sollte. Innerhalb von acht Monaten sollten nationale Wahlen vorbereitet werden. Ein gemeinsamer Mujahidin-Rat sollte das Verteidigungsministerium kontrollieren, für die Einsammlung der Waffen in Afghanistan und die Durchsetzung eines landesweiten Waffenstillstandes sorgen. U.a. unterschrieben Rabbani und Hikmatyar den Vertrag. Dostum war aus den Vereinbarungen ausgeschlossen. Hintergrund des Abkommens war das Bemühen Pakistans, die Gefahren für die eigene staatliche Stabilität durch die Einwirkungen des afghanischen Bürgerkriegs einzudämmen. Es mußte ferner erkennen, daß die in Hikmatyar gesetzten militärischen Hoffnungen sich nicht erfüllt hatten. Aufgrund des fortwährenden Krieges blieb das Abkommen wirkungslos.

Zu Beginn des Jahres 1994 brach der seit langem schwelende Konflikt zwischen Rabbani (und Masud) und General Dostum offen aus. Der Grund dafür war Dostums Fernhalten von der Machtteilhabe in den Abkommen des Vorjahres, gegen das er jetzt opponierte. Ebenso hielten sich Gerüchte, die Jamiat-i Islami plane mit Tadschikistan ein Bündnis hinter seinem Rücken. Nach der Forderung Hikmatyars, den Präsidenten und seine Regierung abzusetzen, signalisierte Rabbani die Bereitschaft zu Verhandlungen mit Hikmatyar, nicht jedoch mit Dostum. Hikmatyar verweigerte sich der Initiative, eine »Loya Jirga« einzuberufen, die einen Präsidenten bestimmen sollte mit Blick auf das Ende der Amtszeit Rabbanis gemäß dem Islamabad-Abkommen von 1993. Wie zu erwarten, lehnte Rabbani seinen Rücktritt zum vereinbarten Zeitpunkt ab. Parallel dazu gelang es Rabbanis Truppen, die vereinten Kräfte Hikmatyars und Dostums aus Kabul herauszudrängen. Im November tauchten die Taliban als neue Partei im afghanischen Konflikt auf, als sie die Stadt Kandahar eroberten und bald weite Teile des Südostens Afghanistans unter ihre Kontrolle brachten.

Anfang Februar 1995 überließ Hikmatyar den Taliban kampflos sein Hauptquartier, um ihnen zu ermöglichen, ihre Kampfkraft gegen Rabbanis Truppen zu konzentrieren. Rabbani widersetzte sich ihnen erfolgreich. Erst im Spätsommer gelangen den Taliban in taktischer Koordination mit Dostum und Hikmatyar wieder militärische Erfolge gegen die Regierungstruppen. Sie nahmen die wichtige Luftwaffenbasis Shindand ein, überrannten Herat, schlugen den mit Rabbani verbündeten Ismail Khan in die Flucht und brachten Teile des strategisch wichtigen Hazarajat (Zentralafghanistan) unter ihre Kontrolle. Sie erklärten sich bereit, mit einem Islamischen Koordinierungsrat unter Ausschluß Rabbanis zu kooperieren. Dieser knüpfte seinen Rücktritt nun an die Vorbedingung, daß die ausländische Einmischung (Pakistan, Taliban) in die inneren Angelegenheiten Afghanistans eingestellt würde.

Im April 1996 unternahmen die Regierungstruppen vergeblich den Versuch, Herat aus der Kontrolle der Taliban zu befreien, um so die Beschaffungswege für die Militärhilfe aus Iran abzusichern. Iran war verstärkt zur Unterstützung der Regierungstruppen übergegangen, um die Ausweitung des Einflusses der sunnitischen Taliban einzudämmen. Unter dem militärischen Druck der »Koranschüler« gingen Rabbani und Hikmatyar am 24.5.1996 ein militärisch-politisches Bündnis ein. Seitdem erhielt Hikmatyar mit iranischer Hilfe Waffen und Material aus Masuds Arsenalen. Weiterhin unterstützten Rußland und Indien diese Allianz. Rußland organisierte eine Luftbrücke und Landverbindungen zwischen Tadschikistan und den von Rabbani gehaltenen Gebieten. Im Gegenzug verbürgten sich die Regierungskräfte, die Unterstützung islamistischer Akteure in Tadschikistan zu unterbinden. Die USA gingen immer offener dazu über, die Taliban materiell zu unterstützen und politische Kontakte mit ihnen aufzunehmen.

Am 27.9.1996 nahmen die Taliban Kabul ein. Sie erklärten Afghanistan zu einem islamischen Staat und begannen sogleich mit der Umsetzung ihrer radikal-islamischen Ordnungsvorstellungen. In der Folge richteten sie ihre Kräfte auf die Verfolgung Rabbanis/Masuds und Hikmatyars. Anfang Oktober schlossen Dostum, Rabbani und andere Mujahidin-Führer einen Verteidigungspakt gegen die Taliban und drängten die Frontlinie wieder zurück nach Kabul.

Noch im September 1996 einigten sich die afghanischen Kriegsparteien auf ein Abkommen zur Sicherheit der Pipelinetrassen durch Afganistan vor dem Hintergrund des Planes eines von den USA und Saudi-Arabien angeführten multinationalen Konsortiums zum Bau einer Erdgaspipeline von Turkmenistan nach Pakistan.

Die aktuelle Lage in Afghanistan

Anfang 1997 stießen die Taliban über pakistanisches Territorium in den Norden Afghanistans vor. Ferner konzentrierten sie ihre Kräfte auf die Einnahme der schiitischen Gebiete Ghowrband und Bamiyan, mit dem Ziel, eine westlich des Salang-Tunnels gelegene Paßstraße zu überqueren.

In Absprache mit den Taliban revoltierten im Mai des Jahres einerseits General Abdul Malik, der Außenminister der von Dostum kontrollierten Gebiete (Dostum setzte sich in die Türkei ab), andererseits General Bashir Salangi, der im Auftrag Masuds den Salang-Tunnel kontrollierte. Die Taliban nutzten dies zum Durchbruch in den Norden und zur Besetzung weiter Teile dieses Landesteils. Nachdem sie mit der Entwaffnung ihrer Gegner begannen, stießen sie auf heftigen Widerstand, der sie zum Rückzug zwang. Im Juni bestätigte Abdul Malik den Verteidigungspakt mit Rabbani, Masud u.a. Einen Monat später rückte diese Allianz wieder auf Kabul vor, entriß den Taliban Charykar, die Luftwaffenbasis Bagram und erneut die Kontrolle über den Salang-Paß. Im September des Jahres kehrte General Dostum aus seinem türkischen Exil zurück. Sofort brachen schwere interfraktionelle Kämpfe in und um Mazar-i Sharif aus.

Am 25. Oktober benannten die Taliban ihren Staatsteil in »Islamisches Emirat von Afghanistan« um. Dieser Akt läßt mehrere Annahmen zu: 1. der Anführer (Emir) der Taliban, Mullah Muhammad ‘Umar, will so seine(n) Herrschaft(-sanspruch) institutionalisieren und absichern; 2. es scheint sich anzudeuten, daß die Taliban unter Hinnahme der reellen Kräfteverhältnisse zwischen den Kriegsparteien bereit sind, eine Teilung des Landes zu akzeptieren und damit ihren gesamtafghanischen Herrschaftsanspruch zu relativieren; 3. eine politische Lösung für ganz Afghanistan wird weiter erschwert.

Im Oktober 1997 gab das bereits erwähnte Konsortium den Baubeginn seiner Erdgas-Pipeline bekannt; zusätzlich will Unocal (USA) eine Erdol-Pipeline bauen. Neben russischem und iranischem Widerstand ist zu erwarten, daß auch die Taliban sich – zumindest vorübergehend – diesem Projekt widersetzen werden, um so ihre Bauzusage an die Unterstützung ihrer Bemühungen um internationale Anerkennung zu binden (sie wurden bisher nur von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan diplomatisch anerkannt).

Auch 1998 war die militärische Lage an den afghanischen Frontlinien weitgehend unverändert. Die politische Lage im Land erfuhr insofern eine neue Nuance, als daß Spannungen innerhalb der Taliban-Koalition deutlicher wurden. Diese haben verschiedene Ursachen: Einerseits erzeugen das harsche islamische Regime und die Zwangsrekrutierungen der Taliban Widerstand. Andererseits artikulieren Befürworter einer wie auch immer gearteten politischen Lösung für Afghanistan unter den Taliban ihre Positionen zunehmend deutlicher gegenüber den Hardlinern. Ferner gibt es Friktionen zwischen den Anführern der paschtunischen Flüchtlinge in Pakistan und der Taliban-Führung in Afghanistan.

Die Lage der Kinder im afghanischen Bürgerkrieg

Afghanistan verzeichnet eine Kindersterblichkeitsrate von 25%. Jährlich sterben im Land über 250.000 Kinder an Unterernährung, an vermeidbaren oder relativ leicht heilbaren Krankheiten. Jedes Jahr werden ca. 8.000 Menschen Opfer explodierender Anti-Personen-Minen, rund 4.000 erliegen ihren Verletzungen. Ein Drittel aller Minenopfer sind Kinder. Eine große Anzahl von afghanischen Kindern ist aufgrund der Kriegseinwirkungen hochgradig traumatisiert. Internationale humanitäre Bemühungen zum Schutz und zur Versorgung von Kindern werden durch die Bürgerkriegssituation behindert bzw. unmöglich gemacht. Dieser Mißstand hat sich in weiten Teilen Afghanistans nach der Machtübernahme der Taliban noch verschärft. Besonders Programme der allgemeinen Gesundheitsaufklärung für Frauen und Mädchen werden von den Taliban verhindert. Auf der Grundlage ihres strikten Sittenkodex beschränken sie massiv die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen. Es ist zu berücksichtigen, daß 25% aller Frauen in Afghanistan Kriegswitwen und aufgrund dieser Lebenssituation Haupternährerinnen ihrer Familien sind. Dieser Rolle können sie aber nicht oder nur unter größten Schwierigkeiten unter dem Regime der Taliban gerecht werden – mit der Folge, daß dieser Umstand zusätzlich zur Unterversorgung und -entwicklung vieler Kinder in Afghanistan beiträgt.

Frauen und Mädchen werden Opfer sexuellen Mißbrauchs. Die Taliban verweigern Mädchen in einem Alter ab neun Jahren in weiten Teilen ihres Herrschaftsbereiches jegliche schulische oder sonstige Ausbildung (sofern sie in öffentlichen Einrichtungen durchgeführt wird). Jungen werden zum Kriegsdienst zwangsrekrutiert.

Internationale Bemühungen um die Beilegung des Konfliktes

Sowohl die Liga der Islamischen Welt als auch die Islamische Konferenzorganisation schalteten sich in internationale Vermittlungsbemühungen ein. In beide Organisationen entsenden die am Afghanistan-Konflikt interessierten arabischen und islamischen Parteien Gesandte. Während die Liga der Islamischen Welt die Aufgabe hat, pan-islamische Ideen (saudischer Prägung) zu verbreiten, stellt sich die Islamische Konferenzorganisation (IKO) als eine Ansammlung von verschiedensten zwischenstaatlichen Konferenzen auf diversen Ebenen ihrer Mitgliedsstaaten dar, die aufgrund großer Spannungen zwischen ihren »progressiven« und »konservativen« Mitgliedern politisch gespalten und folglich in ihrer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit begrenzt sind. Dennoch hat die IKO wiederholt ihre Hilfe für die Schaffung und Einhaltung eines stabilen Waffenstillstandes in Afghanistan angeboten. Aus diesem Angebot wurde ihre Bereitschaft abgeleitet, eine internationale Friedenstruppe für Afghanistan aufzustellen.

Bisher besaßen beide Organisationen nicht die politischen Kapazitäten, um im Afghanistan-Konflikt als Vermittler erfolgreich zu agieren bzw. sie konnten nicht von allen Bürgerkriegsparteien als unparteiisch anerkannt werden. Auch wurden ihre Aktivitäten durch Handlungen (etwa Waffenlieferungen) ihrer Mitglieder konterkariert. Als einziger Akteur mit echten Vermittlungsressourcen blieben nur die Vereinten Nationen übrig.

Die Rolle der Vereinten Nationen

Die UNO war seit 1979 mit dem Afghanistan-Konflikt befaßt. Jedoch war ihr Sicherheitsrat lange durch die sowjetische Veto-Position paralysiert. Deshalb konzentrierten sich die UN-Bemühungen auf die Generalversammlung und den UN-Generalsekretär. Sein Sonderbeauftragter, Diego Cordovaz, erreichte 1988 den Abschluß des Genfer Abkommens. Da die Mujahidin das Abkommen ablehnten, konnte es keine Grundlage für Frieden in Afghanistan werden. Die Bemühungen des UN-Sondergesandten Benon Sevan scheiterten bis 1991/92 daran, daß sich die Mujahidin weigerten, mit der Regierung Najibullah eine politische Lösung für Afghanistan auszuhandeln.

Nach der Eskalation der Kämpfe zwischen den Mujahidin-Fraktionen 1992/93 unternahm ein neuer UN-Sondergesandter, Mahmud Mestiri, abermals den Versuch der Vermittlung. Er sah 1994/95 seine Aufgabe darin, die Mujahidin, aber besonders Präsident Rabbani, auf einen Mechanismus zur Übergabe der Macht an ein Gremium mit breiter politischer Basis zu verpflichten. Dabei unterstützten ihn Pakistan, die USA und König Zahir Shah. Mestiri behauptete, die afghanische Regierung sei tadschikisch dominiert und damit keine repräsentative Vertretung des afghanischen Volkes. Dabei übersah er aber den demographischen Kräfteausgleich zwischen Paschtunen und Tadschiken und die Tatsache, daß die Rabbani-Regierung auch von paschtunischen Kräften getragen wurde. Die Vernachlässigung dieser Aspekte ließ Mestiris Mission scheitern. Er hielt an seinem Plan auch noch fest, als die Regierungstruppen 1994 gegen die Kräfte Hikmatyars und Dostums und 1995 gegen die Taliban militärische Siege erlangten. Mestiri ging 1995 soweit, die Legitimität Rabbanis öffentlich in Frage zu stellen. Damit verließ er die Position des neutralen Vermittlers. Nach seiner Demission wurde im Juli 1996 der deutsche Diplomat Norbert Holl zum Leiter der UN-Mission in Afghanistan ernannt. Seine Pendeldiplomatie zwischen allen am Konflikt beteiligten Parteien für die Entwicklung eines Friedenskonzeptes wurde jedoch durch die Einnahme Kabuls durch die Taliban, die Fortdauer des Krieges, intrafraktionelle Spannungen auf allen Seiten und nicht zuletzt durch die Ausrufung des afghanischen Emirats 1997 maßgeblich erschwert. Deshalb konzentrierte er sich 1996/97 umso mehr darauf, die Modalitäten eines stabilen Waffenstillstandes, der Entmilitarisierung Kabuls und der Übernahme polizeilicher Befugnisse in der Stadt durch eine neutrale Kraft auszuhandeln. Seit Juli 1997 ist Lakdhar Ibrahimi neuer UN-Sondergesandter für Afghanistan. In mehreren Anläufen versuchten er und der Generalsekretär seitdem, ein umfassendes Waffenembargo gegen Afghanistan sowie dessen effektive Umsetzung zu erreichen. Diese Bemühungen erhielten wie bereits 1996 die Unterstützung der USA. Im März 1998 kündigten die UNO und die IKO eine gemeinsame Initiative zu Friedensverhandlungen aller afghanischen Kriegsparteien an. Deren Ergebnis lag zum Redaktionsschluß noch nicht vor.

Fazit

Die Vermittlungsfähigkeit der Vereinten Nationen im afghanischen Konflikt hat Grenzen. Diese sind einerseits durch die Intransigenz und Kooperationsunwilligkeit der Konfliktparteien gezogen. Andererseits durch den Rahmen, der dem Handeln der UNO durch den politischen Willen ihrer Mitglieder vorgegeben ist. Wenn diese durch militärische Unterstützung verschiedener afghanischer Konfliktparteien und durch das Austragen diverser Stellvertreterkriege um regionale Machtstellungen oder geostrategische und -ökonomische Einflußsphären die Friedensbemühungen der UNO unterlaufen, muß diese machtlos bleiben.

Versuch einer Prognose zukünftiger Entwicklungen

Ein Ende des Bürgerkriegs in Afghanistan scheint nicht absehbar. Die militärische Stärke und politische Kohäsion der Kriegsparteien und -allianzen ist kaum präzise einzuschätzen. Die Intensität der ausländischen Unterstützung für die jeweilgen Kriegsparteien bleibt ebenso unkalkulierbar. Gegenwärtig erscheinen folgende – auch komplementär denkbare – Szenarien möglich:

  • Das militärische »Hin und Her« des afghanischen Bürgerkriegs wird fortgesetzt, da keine Kriegspartei die Ressourcen hat, militärisch die Oberhand zu erlangen und ihre Ordnungsvorstellungen dem ganzen Land aufzuzwingen. Dies berücksichtigt die Tatsache, daß die Kriegsparteien und -allianzen keine homogenen politisch-militärischen Kräfte darstellen, sondern entlang ethnischer Linien fragmentiert sind und ebenso den Umstand fortwährender externer Intervention.
  • Die Herauslösung und Autonomisierung von Herrschaftsverbänden und -territorien aus dem afghanischen Staatsverband schreitet in Richtung auf die Errichtung quasi-souveräner Teilstaaten auf dem Gebiet Afghanistans fort. Vorstellbar ist die Zweiteilung des Landes in ein südafghanisch-paschtunisches Emirat unter Taliban-Herrschaft und einen nördlichen »Turk«-Staat. Offen bliebe in einer solchen Spekulation etwa die Zukunft der Hizb-i Islami Hikmatyars oder der schiitischen Hizb-i Wahdat. Diese Variente würde konföderale Strukturen zwischen beiden Landesteilen nicht grundsätzlich ausschließen, zumal dann nicht, wenn entspechender externer Druck ausgeübt würde. Angesichts der ökonomischen, logistischen und damit forwährend sicherheitspolitischen Interessen diverser Staaten an Afghanistan und der Interessen der Konfliktparteien selbst scheint dies nicht illusorisch.
  • Die internationale Staatengemeinschaft verständigt sich auf ein umfassendes Waffenembargo gegen Afghanistan, das von der UNO effektiv umgesetzt und überwacht wird, und erhöht damit den Druck auf die afghanischen Konfliktparteien, eine politische Konfliktlösung unter Vermittlung der Vereinten Nationen anzuvisieren.

Jürgen Burggraf arbeitet als Wissenschaftlicher Assistent eines Europaabgeordneten in Brüssel.

Afghanistan: Frieden ist möglich!

Afghanistan: Frieden ist möglich!

von Matin Baraki

»Wenn das Wasser an der Quelle dreckig ist, dann ist der ganze Fluss verschmutzt«, lautet ein afghanisches Sprichwort. Das afghanische Wasser wurde vorsätzlich auf dem Petersberg 2001 getrübt, mit schwerwiegenden Folgen.

Die Zerstörung der staatlichen Strukturen Afghanistans nahm schon 1979 ihren Anfang. Der ehemalige CIA-Direktor Robert Gates schrieb in seinen Memoiren, dass die US-Geheimdienste mit der Unterstützung der afghanischen Islamisten bereits sechs Monate vor der sowjetischen Intervention Ende 1979 begonnen haben. Auch der Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, bestätigte, dass dieser am 3. Juli 1979 die erste Direktive über die geheime Unterstützung für die islamistische Opposition gegen die Regierung in Kabul unterzeichnet hatte.1 Danach folgte die sowjetische Intervention und damit wurde der Afghanistan-Konflikt internationalisiert. Weder ist sein Ende absehbar, noch sind die verheerenden Folgen ansatzweise bewältigt.

Petersberg

Nach der Vertreibung der Taliban 2001 bestand eine reale Chance, die Staatlichkeit Afghanistans wiederherzustellen. Noch während des Krieges gegen Afghanistan fand unter formaler UN-Ägide Ende 2001 eine internationale Konferenz statt, auf der die Grundlage für den künftigen Status des Landes gelegt wurde.2 Nicht in Afghanistan durch Afghanen, sondern auf dem Petersberg wurden die Weichen gestellt und eine Regierung auf massiven Druck der über zwanzig anwesenden US-Vertreter unter Beteiligung dreier islamistischer und einer monarchistischen Gruppe gebildet. Hamid Karsai, der seit Beginn des afghanischen Bürgerkrieges enge Verbindungen zur CIA unterhalten hatte und sich im Indischen Ozean auf einem US-Kriegsschiff befand, wurde zum Interimsministerpräsidenten ernannt. Da diese Regierung weder Legitimation noch Rückhalt in Afghanistan hatte, wurde sie von einer internationalen Schutztruppe, gebildet von Soldaten aus NATO-Staaten, nach Kabul begleitet und vor Ort weiter gesichert. Wie schon in der Vergangenheit wurde eine militärische »Lösung« des Konfliktes favorisiert. Afghanistan ist seitdem zu einem regelrechten Übungsplatz von USA und NATO geworden, wo die neuesten Waffen und die Einsatzfähigkeit der Soldaten getestet werden.

Das afghanische Volk war somit vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Auf der Grundlage des Petersberger Fahrplans wurden zwischen 2002 und 2005 mehrere Wahlprozeduren durchgeführt. Im Dezember 2001 war Karsai in das Amt des Ministerpräsidenten eingeführt und dann im Juni 2002 auf einer Loya Djirga (Ratsversammlung) zum Präsidenten gewählt worden, wobei 24 Stimmen mehr abgegeben wurden als Abgeordnete anwesend waren.3 An der Tür zum Wahlzelt waren Abgeordnete durch Minister und Gouverneure per Unterschrift verpflichtet worden, für Karsai zu stimmen.4 Im Vorfeld dieser Wahlen hatten die USA 10 Mio. $ ausgegeben, um für ihn Stimmen zu kaufen. Anfang Januar 2004 wurde auf einer weiteren Loya Djirga eine Verfassung verabschiedet und Afghanistan als Islamische Republik proklamiert. 2004 wurden dann Präsidentschaftswahlen und 2005 Parlamentswahlen abgehalten, wobei Drohung, Gewalt, Mord und Stimmenkauf die Regel waren. Die »New York Times« nannte die Art und Weise, wie die Wahlen zustande kamen „eine plumpe amerikanische Aktion“.5 Bei all diesen Aktionen war die internationale Gemeinschaft präsent: die Vereinten Nationen mit ihrem Beauftragten für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, die Europäische Union mit ihrem Repräsentanten, dem spanischen Diplomaten Francesc Vendrell, und die USA als Hauptakteur mit ihrem Botschafter Zalmay Khalilzad. Alle entscheidenden Beschlüsse wurden entweder im Büro Karsais oder in der US-Botschaft gefasst. Sowohl UN- wie EU-Vertreter ließen sich von den USA instrumentalisieren und nickten die getroffenen Entscheidungen nur noch ab. Damit haben sie ihre Neutralität und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Es war dann nur logisch, dass die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Istanbul am 28. Juni 2004 die Entmachtung bzw. Unterordnung der Schutztruppe »International Security Assistance Force« (ISAF) unter NATO-Kommando beschloss. Das Land wurde nach einem Operationsplan des NATO-Hauptquartiers unter den Besatzern in vier etwa gleich große Sektoren aufgeteilt.6 Dadurch sind faktisch die Aufsichtsfunktion der UNO, die Souveränität und Eigenstaatlichkeit Afghanistans aufgehoben worden. Diese Demütigung der Afghanen ist der Nährboden, auf dem der Widerstand wächst. Solange militärische Besetzung und Fremdbestimmung andauern, wird in Afghanistan keine Ruhe, kein Wiederaufbau und keine zivile Lösung des Konfliktes möglich sein. Da USA und NATO beabsichtigen, für sehr lange Zeit im Lande zu bleiben, haben sie dafür entsprechende politische und militärische Voraussetzungen geschaffen. Noch vor den Parlamentswahlen hatte Karsai eine sog. »Nationale Konferenz« einberufen, auf der 100 Personen aus seiner Entourage zusammen kamen. Sie bevollmächtigten ihn, mit den USA einen Vertrag zu schließen, auf dessen Grundlage die Militäreinheiten der Vereinigten Staaten auf unabsehbare Zeit in Afghanistan bleiben dürfen.

Afghanistan als Protektorat

Hat Afghanistan eine souveräne und unabhängige Regierung? Das jetzige Kabuler Kabinett besteht zu über 50% aus American Afghans, den Rest stellen Euro-Afghanen und einige willfährige Warlords. Hinzu kommen noch die US-Berater, die in allen Ämtern präsent sind und die Entscheidungskompetenz haben.

Der 11. September 2001 wurde zum Anlass des Krieges gegen Afghanistan, obwohl dieser schon lange vorher geplant war, denn bereits im Juni 2001 hatte die Bush-Administration ihren regionalen Verbündeten Pakistan darüber informiert, wie der ehemalige Außenminister Pakistans Naiz Naik bestätigte.7 Ende September 2006 brüstete sich auch der ehemalige US-Präsident Bill Clinton damit, einen solchen Krieg gegen Afghanistan geplant zu haben.8 Unter dem formalen Dach der UNO wurde das Land zu einem Protektorat der internationalen Gemeinschaft degradiert. Seit Beginn der 1990er Jahre werden die »Treuhandschaft«9 und das »liberale Protektorat«, das auch als »liberaler Imperialismus« bezeichnet wird, als eine Chance zu »nation building« und zur Demokratisierung von außen propagiert. Die »failing states« sollen für geraume Zeit unter internationale Verwaltung gestellt werden, und es wird einem »neuen Interventionismus« der westlichen Mächte mit »robustem« militärischem Mandat das Wort geredet.10 In Afghanistan wurde diese »Theorie« umgesetzt. Da die internationale Gemeinschaft zum größten Teil aus NATO-Ländern unter US-Führung besteht, ist sie selber voreingenommen und Partei. Sie kann die Probleme des Landes nicht lösen – im Gegenteil, sie ist Teil des Problems geworden. Da die UNO zur Schaffung der Protektorate wesentlich mitbeigetragen und sich damit diskreditiert hat, kann sie keine angemessene und glaubwürdige Führungsfunktion mehr übernehmen. Weil Protektorate faktisch Kolonien sind, können im günstigsten Fall Probleme nur verschoben, im ungünstigsten Fall verschlimmert werden. Zu einer Lösung kommt es, wie an Afghanistan ersichtlich, nicht.

Gerade durch den Status als Protektorat ist die Wirtschaft Afghanistans zerstört worden. Wie der Kabuler Wirtschaftsminister Mohammad Amin Farhang hervorhob, bestehen 99% aller Waren auf dem afghanischen Markt aus Importen. Der einheimischen Wirtschaft wird jegliche Chance genommen sich zu entwickeln. Da die Heroinbarone im Staatsapparat integriert sind, nutzen sie den »Wirtschaftsboom« zur Geldwäsche. Sie investieren nur im Luxussegment, wie Hotels, Häuser und Lebensmittel für den Bedarf zahlungskräftiger Ausländer. Ein Wiederaufbau für breite Schichten der Bevölkerung findet kaum statt. Die Arbeitslosigkeit beträgt mancherorts ca. 70%11, vor allem in Osten und Süden sogar 90%. Dort sympathisieren bereits 80% der Menschen mit den Taliban.12 Den Afghanen wurden blühende Landschaften versprochen; nun müssen wir seit fünf Jahren erleben, dass der Westen „eine Menge Lügen erzählt und falsche Versprechungen macht13 wie Dorfbewohner im Süden des Landes äußerten. „Die Taliban haben die Kontrolle über die südliche Hälfte Afghanistans wiedererlangt“14, konstatierte »Senlis Council«, ein internationaler Think Tank. Das von der UN in Millionenhöhe unterstützte Rückkehrprogramm für afghanische Flüchtlinge muss deswegen scheitern, weil sie weder Arbeit noch Unterkunft finden. Die im Rahmen der Demobilisierung freigesetzten 50.000 Kämpfer der Warlords mehren nicht nur zusätzlich das Heer der Arbeitslosen, sondern sind zu einem Faktor von Destabilität, Kriminalität und Unruhe geworden. Da sie keine bezahlte Beschäftigung finden können, gehen sie entweder zurück zu ihrem Warlord oder schließen sich den Taliban bzw. Al Qaeda an. Die Sicherheitslage ist so schlecht wie seit dem Sturz des Taliban-Regimes nicht mehr. Ende Mai konnten die Taliban sogar gut ausgerüstete Polizei-Einheiten in die Flucht schlagen.15 Attentate und Angriffe nehmen zu. Bis Juni 2006 wurden schon so viele Anschläge verübt, wie im letzten Jahr insgesamt. Allein seit Mitte Mai 2006 kamen mehr als 600 Menschen ums Leben.16 Andere Quellen berichten von 1.100 bzw. 1.300 Opfern.17

Der Bevölkerung geht es dabei immer schlechter. Selbst in Kabul funktionieren weder Wasser- noch Stromversorgung. Wegen der katastrophalen sanitären Verhältnisse kommt es in den heißen Sommermonaten wiederholt zu Cholera-Epidemien. Die Mietpreise in der Stadt sind selbst für die Menschen, die Arbeit haben, unerschwinglich geworden. Eine weltweit einmalige Korruption führt zu weiteren Belastungen.

Eine Friedensalternative

Zu diesen schon auf dem Petersberg falsch gestellten Weichen gab es eine Alternative, die jedoch nie diskutiert wurde. Der beste und einzig gangbare Weg zur Befriedung Afghanistans wäre die Bildung einer repräsentativen Regierung in Afghanistan gewesen und eben nicht irgendwo weit weg im Ausland. Unter strengster Kontrolle nicht der »internationalen Gemeinschaft«, sondern der Blockfreien Staaten, der Konferenz der Islamischen Staaten, der internationalen Gewerkschaften, von Friedens- und Frauenorganisationen hätten Wahlen für eine Loya Djirga durchgeführt und auf dieser repräsentativen Versammlung eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung einer Verfassung sowie von Parteien- und Wahlgesetzen gewählt werden müssen. Ich bin davon überzeugt, dass ein solches Verfahren ganz andere Ergebnisse gehabt hätte als die heutigen vom Petersberg. Eine Regierung, vom Volk gewählt, hätte auch in Kabul kaum etwas zu befürchten. Im schlimmsten Fall hätte man, wenn für kurze Zeit Militärschutz benötigt worden wäre, ihn von den Staaten in Anspruch nehmen können, denen das Land nahe steht, wie den Blockfreien und den islamischen Staaten. Afghanistan gehört bekanntlich zu deren Gründungsmitgliedern.18 Damit wäre auch den Islamisten der Wind aus den Segeln genommen, denn Afghanistan wäre dann nicht von »ungläubigen Christen« und dem »großen Satan« besetzt. Diese Alternative war jedoch von Anfang an unerwünscht. Selbst heute ist es noch nicht zu spät, diesen Weg einzuschlagen und die Petersberger Fehler zu korrigieren. Aber wer könnte diese Forderungen schon durchsetzen, selbst wenn es in Afghanistan am nationalen Interesse orientierte patriotische Kräfte gäbe?

Ein nachhaltiger Wiederaufbau, der ein »Krieg gegen den Hunger« wäre, wie es »Senlis Council« formuliert, einer, der allen Afghanen zugute kommt, muss die erste Priorität sein. Die Milliarden Dollars, auf diversen internationalen Geberkonferenzen dem Land versprochen und auf einem Sonderkonto bei der Weltbank geparkt, fließen über die 2.500 in Kabul stationierten und mit allen Vollmachten ausgestatteten »Non Governmental Organizations« (NGO), die „oft gegeneinander statt miteinander“19 arbeiten, in die Geberländer zurück. Sie fungieren faktisch als Ersatzregierung und zerstören die afghanische Wirtschaft noch weiter. Einheimische Unternehmen erhalten von ihnen kaum Aufträge. Der naive und energische Franco-Afghane Ramazan Bachardoust wurde auf Wunsch der Pariser Regierung nach Kabul delegiert und von Karsai zum Planungsminister ernannt. Als er die Machenschaften der NGOs, die er „als die neue Al Qaida in Afghanistan bezeichnet“20, aufdecken wollte, wurde er von Karsai entlassen.21

Afghanistans ökonomische Perspektive liegt in der Abkoppelung von kolonialähnlichen wirtschaftlichen Strukturen und der Hinwendung zu einer regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den industriell entwickelteren Nachbarn Indien, China, Iran und Pakistan sowie in einer Süd-Süd-Kooperation.

Als NATO-Protektorat hat Afghanistan weder politische noch ökonomische Perspektiven, geschweige denn eine friedliche Zukunft. Außerdem: die von der NATO favorisierte »militärische Lösung« kann es nicht geben. Selbst wenn es sie gäbe, wäre sie ein gigantischer »Ressourcenschlucker« und stünde in einem eklatanten Missverhältnis zu einer politischen Lösung. Seit 2002 wurden in Afghanistan 82,5 Mrd. $ für den Krieg ausgegeben, jedoch nur 7,3 Mrd. für den Wiederaufbau. „Damit übersteigen die Militärausgaben die Hilfsmittel um 900 Prozent.“22 Es ist längst überfällig, dass der Westen seine Strategie überdenkt, um Afghanistan vor der Spirale der unkontrollierten Gewalt zu bewahren.

Der Anfang von Ende des Protektorats am Hindukusch wäre zum Beispiel, dass die Bundeswehr sofort aus Afghanistan abgezogen wird. Sie besitzt keine wichtige Funktion für die Sicherheit des Landes. Wenn die politischen Rahmenbedingungen geschaffen sind, können dann alle weiteren Besatzer ihre Armee abziehen.

Anmerkungen

1) Vgl. Les Révélations d’un Ancien Conseiller de Carter, „Oui, la CIA est entrée en Afghanistan avant les Russes…“, in: Le Nouvel Observateur, 15-21.1.1998, S.76.

2) Baraki, Matin: Afghanistan nach »Petersberg«: in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Jg. 47, 2002, H. 2, S.147-150.

3) Vgl. Karsei fordert Einigkeit und Opferbereitschaft, in: FR, 14.6.2002, S.2.

4) Vgl. Pohly, Michael: Am Anfang war der Wahlbetrug, in: Bedrohte Völker-Pogrom, Göttingen, Nr. 218 (2/2003), S.8 http://www.gfbv.de/dokus/dossiers/afghanistan/pohly_pog218.htm.

5) Zitiert nach: Paasch, Rolf: Stunde der Strippenzieher, in: FR, 19.6.2002, S.3.

6) Vgl. Nato hofft auf baldige Ausweitung von Isaf, in: FAZ, 29.10.2004, S.7.

7) Vgl. Hahn, Dorothea: Vergebliche Suche nach der »goldenen Brücke«, in: TAZ, 3./4.11.2001.

8) Vgl. Leyendecker, Hans: „Ich habe es versucht“, in: SZ, 25.9.2006, S.2.

9) Ulrich Menzel von der Universität Braunschweig ist ein maßgeblicher Vertreter dieser »Theorie«.

10) Diese »Theorie« wird von Prof. Menzel und Prof. Franz Nuscheler von der Universität Duisburg favorisiert.

11) Lüders, Michael: Nur die Milliarden aus dem Ausland halten Karsai an der Macht, in: FR, 24.4.2006, S.6.

12) Vgl. Möllhoff, Christine: „Westen hat in Afghanistan versagt“, in: FR, 14.9.2006, S.6.

13) Ebenda.

14) Ebenda.

15) Vgl. Spiegel online, 31.5.2006.

16) Vgl. Petersen, Britta u.a.: Bundeswehr will präventiv zuschlagen, in: Financial Times Deutschland, 12.7.2006, S.15.

17) Vgl. Spiegel online, 28.6.2006; Deutschlandfunk, 10.7.2006.

18) Weitere Gründungsmitglieder der Blockfreien Staaten waren Ägypten, Indien, Indonesien und die Bundesrepublik Jugoslawien.

19) Fischer, Karen: Afghanistan kommt nicht zur Ruhe, in: Hintergrund Politik, Deutschlandfunk, 26.6.2006, 18:40 Uhr.

20) Busse, Nikolas: Böse Blicke, in: FAZ, 4.6.2005, S.3.

21) Vgl. Koelbl, Susanne: Versickernde Milliarden, in: Der Spiegel, Nr. 13, 26.3.2005, S.117.

22) vgl. Anmerkung 12

Dr. Matin Baraki ist Lehrbeauftragter an den Universitäten in Marburg, Giessen und Kassel

2008: Yes we can – 2010: No I can´t?

2008: Yes we can – 2010: No I can´t?

Ein Jahr US-Außen- und Militärpolitik unter Obama

von Claudia Haydt, Joachim Guilliard, Regina Hagen, Andreas Henneka, Ali Fathollah-Nejad, Jürgen Nieth, Jürgen Scheffran, Jürgen Wagner und Tobias Lambert

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 1/2010
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

zum Anfang | Hoffnungsträger – Friedensnobelpreis – Kriegsherr

von Jürgen Nieth

Gesundheitsreform, eine andere Klimapolitik, Abzug aus dem Irak, Auflösung Guantanamo, Folterverbot, die Respektierung der Verbündeten und der anderen Regierungen sowie der internationalen Institutionen, die Achtung anderer Religionen und Kulturen – das alles gehörte zu Obamas Wahlkampfthemen. Davor lagen zwei Amtsperioden Bush mit einem unter falschen Vorzeichen begonnenen Irakkrieg, mit Lug und Trug gegenüber Freund und Feind, einer Missachtung der UN, internationaler Organisationen und Vereinbarungen, mit einer kaum zu überbietenden Islamphobie.

Der Redaktionsschluss dieses Dossiers war am 15. Januar 2010; aus diesem Grund konnten zwei Ereignisse nicht mehr berücksichtigt werden, die für die Perspektive Obamas und seiner Politik sehr wichtig werden können:

1. Am 20. Januar 2010 gewann bei einer Nachwahl zum US-Senat in Massachusetts – einer alten Hochburg der Demokraten – ein Republikaner. Die Demokraten verloren hier den 60. Senatssitz und damit die Möglichkeit, auch umstrittene Projekte zügig gegen die Republikaner durchzusetzen. Damit dürfte vor allem die bereits abgespeckte Gesundheitsreform gefährdet sein. Aber auch auf die im Frühjahr stattfindende Konferenz zur nuklearen Nichtweiterverbreitung dürfte dies Auswirkungen haben. Es droht wieder einmal ein fauler Kompromiss – weil mehr in den USA nicht durchzusetzen ist.

2. Nach der Erdbebenkatastrophe in Haiti haben die USA dort praktisch die Macht übernommen. 15.000 GIs sollen die Sicherheit garantieren, sie kontrollieren den Flughafen, die Ein- und Ausreise, sie bestimmen, welche Flugzeuge mit Hilfsgütern landen können und welche nicht, usw. Anstatt die vor Ort durch das Erdbeben betroffene UNO-Peace-Keeping-Truppe zu stärken, wurden deren Checkpoints handstreichartig übernommen. Selbstverständlich erfordert eine Katastrophe, wie die in Haiti, ein schnelles umfassendes internationales Handeln. Der Einsatz von Militär kann notwendig sein, wenn nur dieses über technische Mittel verfügt, die für Rettungs- und Versorgungsaktionen notwendig sind und die die Hilfsorganisationen nicht haben. Im konkreten Fall aber wurden alle Relationen verschoben, und vor allem lässt das selbstherrliche Auftreten der USA aufhorchen, das an die alte »Hinterhofpolitik« erinnert.

Von allen KandidatInnen hatte Obama das schärfste Kontrastprogramm zu seinem Vorgänger, und zusammen mit dem optimistischen »Yes we can« mobilisierte er Millionen, die sich selbst aktiv und mit Geld im Wahlkampf engagierten und Obama schließlich zum Sieger machten. Obama war Hoffnungsträger, national, vor allem aber auch international. Und wie fast immer: Wenn einer erst mal zum Symbol für Veränderungen geworden ist, verbinden sich damit auch viele unrealistische Erwartungen. Auch bei Obama gab es Erwartungen, die weit über das hinaus gehen, was er im Wahlkampf versprochen hat. Er hat den Abzug aus dem Irak versprochen, aber nie Krieg als Mittel der Politik ausgeschlossen. Nach dem Einmarsch der USA in den Irak bekannte er im Oktober 2002: „Ich bin nicht gegen alle Kriege, nur gegen dumme Kriege.“ Obama hat nie eine schnelle Beendigung des Afghanistankrieges in Aussicht gestellt, auch wenn die Kampagnen der Republikaner, die ihn mal als Muslim, mal als Pazifisten oder sogar Sozialisten bezeichneten, diesen Eindruck erwecken konnten. Was ist aus den Wahlkampfversprechen geworden, wie sieht es mit den Erwartungen in Obamas Politik aus, ein Jahr nach seinem Start als Präsident der USA?

Neue Töne aus Washington

In seiner Antrittsrede als Präsident versprach Obama am 20.01.2009 den Rückzug aus dem Irak sowie seinen Einsatz für Frieden in Afghanistan und für ein Ende der atomaren Bedrohung. Zwei Tage später ordnete er die (bis heute nicht erfolgte) Schließung des Gefangenenlagers und Folterzentrums Guantanamo Bay an. Später im Jahr verurteilte er mehrfach Folter, die Verantwortlichen der Bush-Administration für die Folter blieben aber straffrei.

Das Thema Rüstungsbegrenzung und atomare Abrüstung griff Obama das ganze Jahr über immer wieder auf. Bereits am 1. April vereinbarte er mit dem russischen Präsidenten Medwedew Gespräche über eine atomare Abrüstung, und fünf Tage später formulierte er seiner Prager Rede die Vision von einer atomwaffenfreien Welt. Am 17. September erklärte der amerikanische Präsident den Verzicht auf die Stationierung von Abwehrraketen in Polen und den Bau einer Radarstation in Tschechien. Beide Projekte der Bush-Regierung hatte Russland als Provokation und Bedrohung empfunden.

Eine Woche später stellte Obama vor dem UN-Sicherheitsrat seinen Plan für eine atomwaffenfreie Welt vor, der danach einstimmig vom UN-Sicherheitsrat als Resolution verabschiedet wurde. Es ist eine Absichtserklärung, die den Staaten leider keinerlei bindende Verpflichtungen auferlegt.

Auf vielen politischen Handlungsfeldern agiert Obamas anders als sein Vorgänger:

Im April verfügte er, dass alle Reisebeschränkungen für Exilkubaner aufgehoben werden und dass diese ihren Verwandten auf Kuba wieder Geld senden dürfen.

Gleichfalls im April sprach sich Obama in der türkischen Hauptstadt für einen »neuen Dialog« mit der islamischen Welt aus. Seine Formulierung, dass die USA sich »nicht im Krieg mit dem Islam befinden« wird als Bruch mit der Bush-Doktrin »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« verstanden. In seiner Rede an der Universität von Kairo vertiefte er im Juni diese Gedanken. Er rief die muslimische Welt zur Versöhnung mit den USA auf, ging auf die islamische Welt zu, ganz ohne die Arroganz der Hegemonialmacht, die seine Vorgängerregierungen ausgezeichnet hatte. Obama kündigte an, die Hamas in die Gespräche zur Lösung des Nahostkonflikts einzubeziehen, dem Iran sprach er das Recht auf zivile Nutzung der Atomenergie zu und er bot direkte Gespräche ohne Vorbedingungen an.

Im September erklärte sich die US-Regierung bereit zu direkten Gesprächen mit Nordkorea, die die Bush-Regierung ausgeschlossen hatte. Nach jahrelanger Brüskierung der UN und anderer internationaler Gremien durch die USA kam es unter Obama zur Wende.

Ende Juni verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Klimaschutzgesetz, in dem erstmals Obergrenzen für den Ausstoß von Kohlendioxid festgelegt werden. Auch wenn die in diesem Gesetz festgelegten Obergrenzen deutlich zu hoch und die Klimapolitik insgesamt nach wie vor kritikwürdig ist (siehe J. Scheffran in diesem Dossier), muss festgehalten werden, dass diese Fragen unter Bush kein Thema gewesen waren.

Im September gaben die USA ihren Widerstand gegen den UN-Menschenrechtsrat auf, sie nahmen erstmals als Vollmitglied an einer Sitzung teil.

Gleichfalls im September leitete mit Obama zum ersten Mal nach vielen Jahren ein US-Präsident eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates.

Nach 122 Jahren wurde im Dezember vereinbart, dass die USA den Indianern Entschädigung zahlen für die Landnahme. Die Summe von 3,4 Milliarden US-Dollar klingt läppisch, die damit verbundene Anerkennung, dass Hunderttausenden Indianern Unrecht geschehen ist, hat aber einen hohen symbolischen Wert für die Betroffenen.

Friedensnobelpreisträger Obama

Außen- und militärpolitische Fragen standen auch im Mittelpunkt, als das Nobelpreiskomitee am 9. Oktober 2009 Obama den Friedensnobelpreis zusprach. In der Begründung heißt es: „Barack Obama erhält den Friedensnobelpreis für seinen außergewöhnlichen Einsatz zur Stärkung der internationalen Diplomatie und der Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Das Komitee hat besonderes Gewicht auf seine Vision und seinen Einsatz für eine Welt ohne Atomwaffen gelegt. Obama hat als Präsident ein neues Klima in der internationalen Politik geschaffen. Multilaterale Diplomatie steht wieder im Mittelpunkt, mit besonderem Gewicht auf der Rolle, die die UN und andere internationale Organisationen spielen. Dialog und Verhandlungen sind hier die bevorzugten Mittel, um auch die schwierigsten internationalen Konflikte zu lösen. Die Vision einer atomwaffenfreien Welt hat auf kraftvolle Weise Verhandlungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle neu belebt. Durch Obamas Initiativen spielen die Vereinigten Staaten jetzt eine konstruktive Rolle zur Bewältigung der Klima-Herausforderungen, mit denen die Welt konfrontiert ist.

Demokratie und Menschenrechte sollen gestärkt werden. Es geschieht selten, dass jemand wie jetzt Obama die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht und neue Hoffnungen auf eine bessere Zukunft entfacht. Seine Diplomatie fußt auf der Vorstellung, dass diejenigen, die die Welt führen sollen, dies auf der Grundlage von Werten… tun müssen, die von der Mehrheit der Weltbevölkerung geteilt werden…“

Man darf sicher davon ausgehen, dass das Nobelpreiskomitee nicht zu den Institutionen zählt, die illusionäre Erwartungen in die Politik Obamas hatten. Eher sollte wohl mit der Preisvergabe die in der Begründung skizzierte Politik gestärkt werden. Jedoch gerade dieser Effekt wird international stark angezweifelt.

Der »Stern« zitiert über Seiten kritische, ja hasserfüllte Stimmen aus den USA. Er kommt zu dem Schluss: „Mit dem Friedensnobelpreis sind Barack Obamas Sorgen nicht kleiner, sondern größer geworden. Ein Jahr nach seiner Wahl zum Präsidenten muss er den Gegnern im Land nun erst recht beweisen, dass er Amerikas Interessen vertritt.“ (Stern, 15.10.09, S.24) Ähnliche Stimmungsbilder vermitteln auch die US-Korrespondenten der anderen Zeitungen. Zusammengefasst im »Tagesspiegel« (12.10.09, S.6) mit: „Rechts Häme, links Sorge“. Die FR (10.10.09, S.5) stellt für eine andere Region fest: „In Nahost versteht keiner den Nobelpreis-Entscheid“. Die „Palästinenser beklagen, dass es ihm, dem Hoffnungsträger aller Unterdrückten, im Nahost-Konflikt an Mumm und Nachdruck fehle. Und die Israelis finden sich von Obama nicht genügend gemocht und beachtet.“ (siehe auch C. Haydt in diesem Dossier)

Die wichtigste Kritik geht aber in die Richtung, dass es vor allem Ankündigungen, Versprechen, Reden sind, die in der Begründung der Nobelpreisvergabe gewürdigt werden. Die Schlagzeile auf der Titelseite der »Neuen Zürcher Zeitung« (17.10.09) lautet denn auch: „Der Zauber großer Worte“. Und der »Stern« (15.10.09, S.24) fast zusammen: „Obama ist wie ein Architekt, der für seine Zeichnungen geehrt wird, aber noch kein einziges Haus gebaut hat. Es ist eine Wette auf eine bessere Zukunft. Die Norweger haben »Hope« und »Change« gewählt, wie seine Wähler vor einem Jahr, aber nicht seine Leistungen“ (Stern, 15.10.09, S.24) Auch »Der Spiegel« überschreibt seine Titelstory zum Friedensnobelpreis mit „Die Worte und die Welt“ (12.10.09, S.96). Weiter heißt es: „Der Friedensnobelpreis belohnt nicht sein Handeln, sondern eine Idee und die neue Bescheidenheit der Weltmacht.“

Bescheiden gab sich auch Obama selbst, nachdem er von der Preisvergabe erfuhr. Er sei „beschämt…, er sehe die Auszeichnung nicht als Bestätigung für Erreichtes, sondern als »Aufruf zum Handeln«“ (FAZ 10.10.09, S.2). Eine große Chance zum Handeln hat er jedoch verpasst. Ende November ließ er durch seinen Sprecher Ian Kelly mitteilen, dass die USA entgegen früheren Bekundungen doch nicht dem internationalen Abkommen zur Ächtung der Landminen beitreten. Man habe die bisherige Position noch mal überdacht und sei zu dem Schluss gekommen, „weder unseren nationalen Verteidigungsanforderungen noch unseren Sicherheitsverpflichtungen gegenüber unseren Freunden und Verbündeten genügen zu können, wenn wir diese Konvention unterzeichnen.“ Landminen töten auch noch nach den Kriegen und vor allem Zivilisten. Nach Angaben der »Internationalen Kampagne zur Ächtung von Landminen« (die 1998 den Friedensnobelpreis erhielt) wurden alleine 2008 über 5.000 Todesfälle registriert, ein Drittel davon Kinder.

Die USA sind das einzige NATO-Mitglied, das den »Ächtungsvertrag« bisher nicht unterzeichnet hat. Sie haben zwar seit dem Golfkrieg von 1991 keine Landminen mehr eingesetzt, produzieren auch keine mehr und sind mit 1,5 Milliarden US-Dollar jährlich der größte Zahler zur Beseitigung dieser heimtückischen Waffen; sie behalten sich aber weiterhin die Einsatzoption offen. Ein Beschluss zur Verschrottung der 10 Millionen in den USA lagernden Landminen wäre auch ein Signal an Russland, China und Israel gewesen, die drei anderen prominenten Nichtunterzeichner. So kommentierte die FR (26.11.09) den Rückzieher mit „Nobel dreht sich im Grabe um“.

Kriegsrechtfertigung zur Friedenspreisvergabe

Die fünf Damen und Herren im Osloer Komitee haben sich zur Preisverleihung wahrscheinlich einen Friedenspräsidenten gewünscht, bekommen haben sie aber den Oberbefehlshaber einer Armee, die in fremden Ländern zwei Kriege führt. Der Abzug aus dem Irak rückt weiter weg (s. J. Guilliard in diesem Dossier), und der Afghanistankrieg eskaliert. Noch bevor Obama zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises noch Norwegen reiste, verfügte er die Entsendung weiterer 30.000 SoldatInnen. Zu Beginn seiner Amtszeit waren 32.000 US-AmerikanerInnen in Afghanistan im Einsatz, nach dieser Aufstockung sind es fast 100.000 (s. J. Wagner in diesem Dossier). Sie bekamen einen Präsidenten, der den Friedenspreis nutzte, um Kriege zu rechtfertigen.

Ja, es gab sie auch diesmal, die sprichwörtliche Bescheidenheit: „Verglichen mit einigen Großen der Geschichte, die diese Auszeichnung erhalten haben – Schweitzer und King, Marschall und Mandela – sind meine Verdienste gering.“ Auch die kritische Sicht des Krieges fehlte nicht: „In den Kriegen von heute sterben mehr Zivilisten als Soldaten; sie säen die Saat künftiger Konflikte, schwächen die Volkswirtschaften, brechen Zivilgesellschaften entzwei, vermehren die Zahl der Flüchtlinge und versetzen Kinder in Angst und Schrecken.“ Der Friedensbegriff in seiner Rede ist ein umfassender. Es geht nicht nur um die Abwesenheit des sichtbaren Konflikts. „Nur ein Frieden, der auf den unveräußerlichen Rechten und der Würde des Einzelnen beruht, kann ein dauerhafter Friede sein… Ein gerechter Friede beinhaltet nicht nur zivile und politische Rechte – er muss wirtschaftliche Sicherheit garantieren.“ Die Vision dagegen blieb eher schwammig, nebulös: „Lasst uns nach einer Welt streben, wie sie sein sollte – danach, dass der Funken des Göttlichen sprüht, der unsere Seelen nach wie vor berührt… Irgendwo jetzt nimmt sich eine Mutter, die von Armut gestraft ist, die Zeit, ihrem Kind beizubringen, dass die grausame Welt auch einen Platz für seine Träume hat.“

Dominierend dagegen die Rechtfertigung von Kriegen: „Es wird Zeiten geben, in denen die Nationen den Einsatz ihres Militärs nicht nur für nötig halten, sondern auch für moralisch gerechtfertigt… Ich sehe die Welt, wie sie ist, und ich kann die Augen nicht verschließen… Das Böse existiert in der Welt. Eine gewaltfreie Bewegung hätte Hitlers Truppen nicht aufhalten können. Verhandlungen können die Anführer der El Kaida nicht dazu bringen, ihre Waffen niederzulegen. Zu sagen, dass Krieg manchmal notwendig ist, ist kein Aufruf zum Zynismus. Es ist die Wahrnehmung der Geschichte, der Unzulänglichkeiten der Menschheit und der Begrenztheit der Vernunft.“

Das ist nicht „Die Friedensbotschaft des Kriegspräsidenten“ (FR 11.12.09, S.2), es ist eher »eine Kriegsbotschaft zur Friedenspreisvergabe«. Selbst für die FAZ (11.12.09., S.1) ist es nur „eine nüchterne, ernüchternde Rede… (mit) wenig… Visionen für eine neue, friedliche Welt“. Und in der FR (11.12.09.) schreibt D. Ostermann: „Zur Frage aber, wie er den Nobel-Vorschusslorbeer in den verbleibenden drei Jahren seiner Amtszeit zu rechtfertigen gedenkt, hat er erstaunlich wenig gesagt. Da war viel Theorie über das Führen gerechter Kriege und wenig Konkretes zum Frieden.“

Reflektierend und differenzierend – wie diese Rede in TAZ und FAZ bezeichnet wird – ist sie eben nur bis zu dieser Kriegsrechtfertigung. Die bedient eher alte Klischees. Wieder einmal wird Hitler bemüht, um Krieg zu rechtfertigen. Das faschistische Deutschland hat fast ganz Europa und Nordafrika überfallen – welches Land hat denn die USA angegriffen, oder von welchem Land aus droht den USA ein Angriff? Die Führung von Al Kaida operierte gestern von Afghanistan aus, heute sitzt sie wahrscheinlich in Pakistan (oder bereits im Jemen?), morgen unter Umständen in Somalia – Krieg ist ganz offensichtlich nicht das geeignete Instrument zur Bekämpfung des Terrors. Im Gegenteil: Vor dem Einmarsch der USA in den Irak hatte Al Kaida dort keine Chance, danach bekamen die Terroristen dort Zulauf. Krieg und Besatzung sind eine gute Voraussetzung zur Rekrutierung in Terrornetzwerke. Obama ist (im Gegensatz zu Bush) nicht zuzutrauen, dass er das nicht weiß, aber er bemüht die alten Klischees.

Fazit

Wenn nach einem Jahr Bilanz gezogen wird, gilt es die Ergebnisse an den tatsächlichen Versprechen zu messen und nicht an den eigenen Wünschen. Gleichzeitig sollte berücksichtigt werden, dass nach einem Regierungswechsel nicht alle Aufgaben gleichzeitig angegangen werden können – manchmal ganz objektiv innenpolitische Fragen wichtiger sein können als außenpolitische. Hinzu kommt, dass ein angekündigter Politikwechsel Gegenkräfte mobilisiert – manchmal auch in der eigenen Partei. Was ein Präsident will und was er kann, ist also nicht unbedingt identisch.

Obama hat nach acht Jahren Bush ein schweres Erbe angetreten. Die innenpolitischen Herausforderungen sind enorm. Obama selbst hat erklärt, dass er ohne ökonomische Fortschritte, ohne Bewältigung der Krisenfolgen, seine Wiederwahl in drei Jahren gefährdet sieht. Die Wirtschaftskrise hat aber ganze Landstriche in Amerikas Industrieregionen verwüstet, die Arbeitslosenquote ist so hoch wie seit einem Viertel Jahrhundert nicht mehr, der Dollar ist so schwach wie selten zuvor. Lediglich bei der Gesundheitsreform zeigt sich innenpolitisch für Obama Licht am Horizont.

Die außen- und umweltpolitischen Herausforderungen sind riesig. Die USA führen zwei Kriege, die den Handlungsspielraum – auch finanziell – einengen; die Rolle als dominierende Weltmacht bröckelt sichtbar. Obamas Reden machen deutlich, dass vor diesem Hintergrund für ihn eine einfache Fortsetzung der US-Politik der letzten Jahrzehnte nicht in Frage kommt. Die Auftritte in Prag, Kairo und vor der UNO, die aktive Rückkehr in internationale Gremien sind Signale für eine den Realitäten Rechnung tragende und politische Lösungen bevorzugende Politik – in deren Mittelpunkt bei ihm selbstverständlich die Interessen der USA stehen. Nur auf diesem Feld fehlen bisher die Erfolge. Der innenpolitische Widerstand – auch der aus den eigenen Reihen – spielt hier sicher eine wichtige Rolle. Die Nichtkooperation anderer Regierungen – darunter auch verbündeter, wie die Israels – kommt hinzu. Aber auch das eigene Handeln ist oft – zu oft – durch ein Zurückweichen vor dem innenpolitischen Gegner, durch Inkonsequenz gekennzeichnet. Es mehren sich die Stimmen derer, die sich im Wahlkampf für ihn engagiert haben und die jetzt tief enttäuscht sind.

Obamas Wahlkampfslogan hieß »Yes we can« und nicht »Yes I can«. Es war ein beispielloser Wahlkampf, indem sich mehr Menschen engagierten als jemals zuvor, im Internet genauso wie auf der Straße und auch mit Millionen Kleinspenden. Es war eine breite Koalition aus Gebildeten und Künstlern, Gewerkschaftern und Jugendlichen, Frauen, Latinos und Afroamerikanern, die ihm zur Nominierung und später zum Wahlsieg verhalf. Dieses Potenzial ist unverzichtbar für einen wirklichen Politikwechsel. Obama braucht außerparlamentarische Bewegung – national für soziale Maßnahmen und die Beendigung der Kriege, international für erste Schritte Richtung atomarer Abrüstung. Er muss zurück zum »Yes we can«!

Jürgen Nieth, Journalist, ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F.

zum Anfang | Hoffnungsschimmer oder Realität?

Barack Obama und die atomwaffenfreie Welt

von Regina Hagen

Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Hoffnungsschimmer kein Ersatz ist für tatsächliche Ergebnisse“ erinnerte Jayantha Dhanapala, ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär für Abrüstungsangelegenheiten, knapp ein Jahr nach Antritt der Regierung Obama die Öffentlichkeit. Seine Mahnung – der Anlass war die Umstellung der Weltuntergangsuhr von »5 vor 12« auf »6 vor 12« – beschreibt die Lage recht treffend.

Schon im Wahlkampf hatte Barack Obama versprochen, sich für eine Welt ohne Atomwaffen stark zu machen. Einige Wochen nach Amtsantritt stellte er im April 2009 in einer programmatischen Rede in Prag seine Pläne für nukleare Abrüstung vor. Die gaben zwar noch keinen Weg zur atomwaffenfreien Welt vor, wurden angesichts von rund 23.000 weiterhin existenten Atomwaffen – 95% davon im Besitz der USA und Russlands – aber positiv aufgenommen. Eine fast schon euphorische Stimmung erfasste kurz darauf viele Diplomaten, die in New York zusammentrafen, um die Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages vom Mai 2010 vorzubereiten. Sonst nüchterne Herren klammerten sich im düsteren Sitzungssaal der Vereinten Nationen an die Hoffnung, dass ein Richtungswechsel möglich sei: „Yes, we can!“

Kein Jahr danach weicht die Euphorie der Ernüchterung. Was ist passiert? Hat Präsident Obama seine Vision schon verloren? Erliegt er dem Druck der rüstungsverliebten »Falken« in Repräsentantenhaus und Senat? Sind die Lobbyisten aus Industrie, Militär und Forschungsestablishment einfach zu stark? Oder mit Brecht: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“?

Obamas Rede in Prag

In seiner Prager Rede betonte Obama „…als Nuklearmacht – als einzige Nuklearmacht, die eine Atomwaffe eingesetzt hat – haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verantwortung zu handeln. …“ Dieses Eingeständnis war ein Novum, und schon für sich Applaus wert. Obama versicherte ferner, „dass die Vereinigten Staaten entschlossen sind, sich für den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Atomwaffen einzusetzen.“ Eine solche Absicht hatte ein US-Präsident erst zwei Mal bekundet: Harry S. Truman vor den neu gegründeten Vereinten Nationen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (damals arbeitete die Sowjetunion mit Hochdruck an der Entwicklung einer Atombombe und ließ sich nicht auf eine entsprechende Regelung ein) und 1986 Ronald Reagan, als er mit Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär der KPdSU, kurz vor dem Abschluss eines Abkommens über die vollständige Abrüstung des gesamten Nukleararsenals stand; dieses Vorhaben scheiterte, weil Reagan nicht auf seinen weltumspannenden Raketenabwehrschirm verzichten wollte.

Obama weiter: „Zunächst werden die Vereinigten Staaten konkrete Schritte in Richtung einer Welt ohne Atomwaffen unternehmen. Um die Denkmuster des Kalten Kriegs zu überwinden, werden wir die Rolle von Atomwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie reduzieren und andere anhalten, dasselbe zu tun. … Um unsere Sprengköpfe und Vorräte zu reduzieren werden wir noch dieses Jahr einen neuen strategischen Abrüstungsvertrag mit Russland abschließen.“ Er sagte aber auch folgende Sätze – und die wurden von vielen Bürgern und Journalisten überhört: „Dieses Ziel wird nicht schnell erreicht werden – möglicherweise nicht zu meinen Lebzeiten. … Täuschen Sie sich nicht: Solange es diese Waffen gibt, werden wir ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung unserer Verbündeten garantieren.“ Und: „Solange eine Bedrohung von Iran ausgeht, planen wir ein kosteneffektives und bewährtes Raketenabwehrsystem zu bauen.“ (Übersetzung der Zitate: Amerikadienst)

Mit dieser Rede hatte Obama das Spannungsfeld vorgegeben, in dem seine Politik jetzt aufgerieben wird: Er skizzierte eine Politik, die sich nur mit Unterstützung sämtlicher demokratischer und etlicher republikanischer Senatoren umsetzen lässt. Und er versprach Fortschritte in der Abrüstung bei gleichzeitiger Wahrung, ja sogar gleichzeitigem Ausbau der unangefochtenen militärischen Stärke der USA.

Der Kongress bestimmt mit

Spätestens am 28. Oktober holte die Realität Obama ein: Er unterzeichnete den »National Defense Authorization Act 2010«, das Gesetz über den Verteidigungshaushalt der USA für das Finanzjahr 2010, das am 1.10.2009 begann.1 Im Gesamtumfang von 680,2 Mrd. US$ sind u.a. 16,5 Mrd. US$ für militärische »Nuklearaktivitäten« und 9,2 Mrd. US$ für Raketenabwehr enthalten.

Ein wichtiges Element des Verteidigungshaushaltes sind die »Sense of Congress«-Texte. In diesen äußert der Kongress seine Ansicht zu bestimmten Themenbereichen. So mischt sich der Kongress etwa in die Verhandlungen über das START-Nachfolgeabkommen mit Russland und die Debatte über den Abzug von Atomwaffen aus Europa ein. „Es ist die Ansicht des Kongresses, dass – (1) der Präsident an der von den Vereinigten Staaten geäußerten Haltung festhalten sollte, dass der Nachfolgevertrag des START-Abkommens ballistische Raketenabwehrsysteme, Weltraumfähigkeiten oder hoch entwickelte konventionelle Waffensysteme der Vereinigten Staaten in keiner Weise einschränken wird; (2) die erweiterte Sicherheit und Zuverlässigkeit des Nuklearwaffenarsenals, die Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes und die Aufrechterhaltung der nuklearen Trägersysteme Voraussetzung sind, um weitere Einschnitte in das Nuklearwaffenarsenal der Vereinigten Staaten zu ermöglichen; …“ (Sec. 1251)

Im Klartext sagen diese sperrigen Sätze, dass Obama nur dann auf die Ratifizierung eines neuen START-Vertrags durch den Senat hoffen kann, wenn die Stationierung von Raketenabwehr, die Militarisierung des Weltraums, der Ausbau der konventionellen Kriegsführungsfähigkeiten sowie die Modernisierung des Atomwaffenarsenals samt Trägersystemen gewährleistet ist. »Fewer and newer« (weniger, dafür besser) hieß der Slogan für dieses Verfahren schon während der Bush-Administration.

Dass sie ihre Forderungen an Obama ernst meinen, zeigten Mitte Dezember 2009 alle 40 republikanischen Senatoren und Joe Lieberman, einer von zwei Parteilosen im Senat. In einem Brief an den Präsidenten forderten sie ein „substantielles Programm zur Modernisierung unserer nuklearen Abschreckung[skapazitäten]“ einschließlich der umfassenden und raschen Aufrüstung der W76- und B61-Sprengköpfe. Die W76-Modernisierung würde zur Entwicklung eines neuen Sprengkopftyps beitragen – ein weiterer Versuch zur Wiederbelegung des eingestampften »Reliable Replacement Warhead«-Programms. Die B61-Bomben sind von den USA im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO in fünf Ländern Europas stationiert, darunter auch in Deutschland. Während die neue Bundesregierung nach zähem Ringen die Vereinbarung traf, dass „wir uns im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden“, stellten die gewählten Repräsentanten der USA zeitgleich die Weichen für die Modernisierung just dieser Waffen.

Geben und Nehmen

Die Lage des demokratischen Präsidenten Obama ist nicht einfach. Die Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages, beispielsweise des START-Nachfolgevertrages oder des seit Jahren überfälligen umfassenden Teststoppabkommens, bedarf im 100-köpfigen Senat einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Folglich muss Obama alle 58 demokratischen, die zwei parteilosen und sieben republikanische Senatoren für die Sache gewinnen. Das ist bei Obamas Partei»freunden« schon schwierig genug und scheint bei den Republikanern fast ausgeschlossen, obschon auch ihr letzter Präsidentschaftskandidat McCain sich mehrfach für die atomwaffenfreie Welt ausgesprochen hat.

Weiter kompliziert wird die Gemengelage durch andere Faktoren.

Der russische Präsident Putin ließ Ende Dezember unmissverständlich wissen, Voraussetzung für ein START-Nachfolgeabkommen sei die Beschränkung der US-Raketenabwehr. Nicht zuletzt deshalb konnten sich die Unterhändler der USA und Russlands bislang nicht auf Details zur Verifikation des neuen Vertrags einigen: Moskau will den USA keine telemetrischen Daten über Raketentests mehr liefern, die Einblick in die Fähigkeiten dieses Arsenals liefern. So verschieben sich der Vertragsabschluss und damit die Ratifizierung immer weiter nach hinten, und inzwischen betonte Russlands Präsident Medwedew, die „strategische nukleare Komponente ist die wichtigste Mission“ für das laufende Jahr.

Präsident Obama und Außenministerin Clinton läuft schon jetzt die Zeit für die Kompromissfindung davon. Im Herbst dieses Jahres werden ein Drittel der Senatoren und das ganze Repräsentantenhaus neu gewählt. Dabei können sich die Mehrheitsverhältnisse im Kongress schon wieder erheblich verschieben und die Durchsetzung von Obamas Gesetzesvorhaben weiter erschweren. Um zu großem Unmut vorzubeugen, wird Obama in seinem Entwurf zum Verteidigungshaushalt 2011, den der Kongress am 1. Februar erwartet, erhebliche Zugeständnisse machen. In der Diskussion sind Milliardensummen für den Ausbau des Nuklearwaffenkomplexes (Forschungs-, Test- und Fertigungseinrichtungen) wie für Entwicklung und Produktion eines neuen Sprengkopftyps.

Fällige Arsenal-, Doktrin- und verteidigungspolitische Berichte

Durch Gesetze bzw. Anweisungen des Präsidenten ist die US-Regierung gezwungen, dem Kongress in nächster Zeit etliche Berichte vorzulegen, in denen Arsenale, Fähigkeiten, Doktrinen und Politiken untersucht und Vorschläge für die Zukunft ausgearbeitet werden. Die Berichte werden parallel erarbeitet und beziehen sich aufeinander.

Quadrennial Defense Review (QDR)

Muss dem Kongress alle vier Jahre vorgelegt werden, und zwar jeweils Anfang Februar gleichzeitig mit dem Entwurf für den Verteidigungshaushalt für das folgende Jahr.

Der QDR soll nationale Verteidigungsstrategie, Struktur der Streitkräfte, Modernisierungsbedarf, Infrastrukturanforderungen, Finanzbedarf und Verteidigungsdoktrine und -politiken beschreiben und auf dieser Basis das Militärprogramm der USA für die nächsten 20 Jahre vorgeben.

Nuclear Posture Review (NPR)

Überprüft Nuklearwaffenpolitik und -fähigkeiten und gibt für die nächsten fünf bis zehn Jahre die Eckpunkte zur nuklearen Abschreckung, Strategie und Arsenalgröße vor. Der NPR sollte dem US-Kongress eigentlich Ende Dezember 2009 vorgelegt werden, Obama war aber nach Insider-Berichten mit den bisherigen Entwürfen unzufrieden und hat erhebliche Änderungen eingefordert.

Neben Zielgrößen für das künftige Arsenal an Sprengköpfen und Trägersystemen soll der Bericht auch die Rolle der Nuklearstreitkräfte in den USA, politische Rahmenbedingungen, den Zusammenhang zwischen Abschreckungspolitik, Zielstrategie und Rüstungskontrolle, die Wechselwirkungen zwischen nuklearen, konventionellen und Raketenabwehr-Kapazitäten, Pläne zur Modernisierung von nuklearen Sprengköpfen und Trägersystemen sowie die Aufrechterhaltung und Modernisierung des Nuklearwaffenkomplexes abdecken.

Der Inhalt des NPR wird maßgeblich mit darüber entscheiden, ob das angestrebte START-Nachfolgeabkommen und weitere Rüstungskontrollverträge eine Chance auf Ratifizierung durch den Senat bekommen.

Ballistic Missile Defense Review (BMDR)

Der Bericht zur Überprüfung der Raketenabwehr-Politik und -Strategie ist im Januar 2010 fällig. Der BMDR soll die Rolle der Raketenabwehr in der nationalen Sicherheits- und Militärstrategie darlegen, den strategischen Kontext für die aktuellen und künftigen Raketenabwehrprogramme und -budgets festlegen und die Raketenabwehr auf strategische Anforderungen abstimmen. Ausgangspunkt ist der Beschluss der Regierung Obama, bei der Raketenabwehr all das umzusetzen, was technisch möglich ist. Das bedeutet Vorrang für den Schutz von „US-Streitkräften und Verbündeten“ vor Kurz- und Mittelstreckenraketen, wofür schon einigermaßen brauchbare Testergebnisse vorliegen. Parallel soll die Entwicklung von Systemen zur Abwehr von Langstreckenraketen, von denen zwar bereits zwei Dutzend stationiert aber noch nie realistisch getestet wurde, weiter betrieben werden. Ausdrücklich einbezogen ist der „schrittweise, anpassungfähige“ Ausbau von Raketenabwehr in und um Europa.

Space Policy Review

Präsident Obama wies vergangenes Jahr seine Behörden an, bis Oktober 2009 die nationale Weltraumpolitik zu überprüfen und auch die Aktivitäten unter die Lupe zu nehmen, die der Geheimhaltung unterliegen. Die Berichterstellung verzögert sich bis mindestens März 2010, es ist aber davon auszugehen, dass der Text Ausgangspunkt wird für eine neue Weltraumstrategie und -politik. Die letzte Weltraumpolitik (Space Policy) der Ära Bush postulierte 2006 die Ablehnung jeglicher vertragsbasierter Rüstungskontrolle, die die Handlungsoptionen der USA einschränken würde.

In allernächster Zeit muss die Regierung eine Reihe von Berichten und Planungen mit erheblichen Auswirkungen auf Verteidigungspolitik und -doktrin abliefern (siehe Kasten). Der »Nuclear Posture Review« wäre ein guter Ansatzpunkt, um, wie von Obama in Prag versprochen, „die Rolle von Atomwaffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie [zu] reduzieren“. Das erfordert allerdings gewaltigen Mut: Missbilligt der Senat die dort vorgezeichnete Richtung, verspielt Obama jede Chance auf Unterstützung seines Abrüstungskurses durch den Senat.

Fortschritte bei der Nichtverbreitung sind ebenfalls keine zu verzeichnen. Nordkorea spielt weiterhin Katz“ und Maus, Birma scheint sich für Atomwaffen zu interessieren, und die Gespräche mit Iran brachten noch keinen Erfolg. Die »nukleare Energie-Renaissance« mit einer fast ungehinderten Verbreitung nuklearer Technologien und -materialien macht den Versuch der Eindämmung zunehmend schwer.

Im Mai 2010 findet in New York die nächste Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag statt. Nach dem Scheitern der Konferenz von 2005 müssen hier Fortschritte her. Kann Obama dann weder START-Nachfolge noch die Zustimmung des Senats zum Teststoppabkommen vorweisen, ist Sand im Getriebe, bevor das Treffen beginnt.

Im September 2009 erregte Präsident Obamas Ankündigung, auf die Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik zu verzichten, große Aufmerksamkeit. Auch hier haben viele aber nicht richtig hingehört. Angekündigt wurde kein Verzicht auf Raketenabwehr per se. Ganz im Gegenteil. Am 19.9.2009 schrieb US-Verteidigungsminister Robert Gates höchstpersönlich einen Kommentar für die »New York Times«. Überschrift: „A Better Missile Defense for a Safer Europe“ (eine bessere Raketenabwehr für ein sichereres Europa). Der Artikel beginnt mit dem Satz „Die Zukunft von Raketenabwehr in Europa ist gewährleistet.“ und endet mit „Damit wird Raketenabwehr in Europa gestärkt, nicht verschrottet.“ Gates erläutert, dass es die für Osteuropa vorgesehenen Systemkomponenten noch gar nicht gibt und eine Stationierung mittelfristig aus technischen Gründen kaum möglich wäre. Jetzt hingegen wird integriert, was es gibt – boden- und seegestützte SM3-Abfangsysteme gegen kurz- und mittelreichende Raketen, luft-, weltraum- und bodengestützte Sensorsysteme, Radarsysteme überall auf der Welt – und gleichzeitig laufen Forschung und Entwicklung der Langstreckensysteme weiter. „Auf jeden Fall sind die Fakten klar: Amerikanische Raketenabwehr auf dem [europäischen] Festland geht weiter, und zwar nicht nur in Mitteleuropa, wo die Stationierung von SM-3 am wahrscheinlichsten ist, sondern hoffentlich auch in anderen NATO-Ländern“ schreibt Gates. Im Blog des Weißen Hauses heißt es dazu „stärkere, schlauere und schnellere Abwehr“ (17.9.2009).

Konnten sich die osteuropäischen NATO-Partner auf diese Neuplanung gut einlassen, so setzen sie dem Wunsch Deutschlands nach Abzug der US-Atomwaffen Widerstand entgegen. Polen ist angeblich gar bereit, die Atomwaffen auf eigenem Territorium zu stationieren. Dies ist Folge des anhaltenden Misstrauens gegen Russland, das seinerseits auf die Bedrohung durch US-Raketenabwehr wie auf die überlegenen konventionellen Kräfte der NATO verweist.

Und wie von kritischen Experten seit Jahren prognostiziert, setzte die Raketenabwehr inzwischen eine eigene Rüstungsspirale in Gang. Mitte Januar 2009 triumphierte China mit einem erfolgreichen Abwehrtest; die gleiche Technologie hatte sich drei Jahre zuvor schon beim Abschuss eines Weltraumsatelliten bewährt. Größere Raketenabwehrprogramme einschließlich ihrer inhärenten Tauglichkeit zum Antisatellitensystem werden außerdem von Russland, Indien und Israel betrieben. Die NATO liegt noch etwas zurück, und Länder wie Taiwan, Japan und Südkorea kaufen einfach US-Technologie ein.

In diesem Bereich rächt sich besonders, dass die Regierung Bush hartnäckig auf Raketenabwehr beharrte, ein Moratorium für Raketentests verweigerte und Verhandlungen über einen völkerrechtlichen Vertrag zum Verbot von Weltraumwaffen ausschloss. Da Raketenabwehr die Erstschlagfähigkeit erhöht, behindert sie überdies die nukleare Abrüstung.

Die Liste ließe sich fortführen, es ist aber auch so schon klar, dass Obama vor einem kaum bewältigbaren Berg von Aufgaben steht und die Hindernisse groß sind. Überdies ist er selbst keineswegs Pazifist und will die unbestrittene (militärische) Führerschaft seines Landes aufrecht erhalten. Da bleibt der friedensbewegten Zivilgesellschaft hier wie andernorts nur eins: Nicht aufgeben, weiter um eine bessere Welt streiten. Und was wir heute nicht schaffen: Morgen ist wieder ein Tag.

Anmerkungen

1) Das Gesetz zum Verteidigungshaushalt steht am Ende eines monatelangen, mühsamen Aushandlungsprozesses zwischen den beiden Kammern des Kongresses, also dem Repräsentantenhaus und dem Senat, zwischen »Tauben« und »Falken«, zwischen nationalen Interessen und Projekten zugunsten einzelner Wahlbezirke und dort ansässiger Unternehmen, und zeichnet sich durch ein erstaunliches Sammelsurium an informativen Details, Meinungsäußerungen des Kongresses, Handlungsanweisungen an Regierung und Verwaltung, Einforderung von Regierungsberichten und sachfremden Ausgabenposten und Gesetzen aus (zu letzteren zählt im aktuellen Fall z.B. ein Strafgesetz, das die Höchststrafen für Gewaltverbrechen gegen Minderheiten ausweitet).

Regina Hagen ist Abrüstungsberaterin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) und aktiv im Kampagnenrat „unsere zukunft – atomwaffenfrei“ sowie Mitglied der W&F-Redaktion.

zum Anfang | Obamas Afghanistan-Strategie:

Bürgerkrieg unter westlicher Beaufsichtigung

von Jürgen Wagner

Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte US-Präsident Barack Obama den Einsatz am Hindukusch zur Chefsache erklärt und eine grundlegende Überprüfung der Afghanistan-Strategie angeordnet. Im März 2009 wurden die Kernelemente der neuen US-Strategie präsentiert: Im Detail setzt sie erstens auf eine massive Aufstockung der westlichen Truppen und die Ausweitung der Kampfzone nach Pakistan (AFPAK); zweitens sollen sich die EU-Verbündeten, allen voran Deutschland, künftig noch stärker beteiligen als dies ohnehin bereits der Fall ist; schließlich soll drittens eine »Afghanisierung« des Krieges über den Ausbau der staatlichen Repressionsapparate (Armee und Polizei) die westlichen Truppen erheblich entlasten.

Nachdem diese Maßnahmen den Krieg wie absehbar noch weiter eskaliert haben, entbrannte in Washington eine heftige Debatte um das weitere Vorgehen. Auf der einen Seite fand sich US-General Stanley McChrystal, Kommandeur der NATO Truppen in Afghanistan, der nachdrücklich eine weitere Truppenaufstockung forderte. Auf der anderen Seite plädierte Vizepräsident Joseph Biden dafür, das Engagement künftig auf die Bekämpfung von Al-Kaida zu beschränken und die Truppen-Präsenz deutlich zu reduzieren. Am 1. Dezember 2009 verkündete Obama seine Entscheidung in dieser Frage, die augenscheinlich auf einen schlechten Kompromiss dieser beiden Ansätze zielt: Zunächst wird Zahl der Soldaten nochmals erhöht, perspektivisch (ab 2011) soll aber die »Afghanisierung« des Krieges eine Truppenverringerung in Richtung der Biden-Lösung ermöglichen.

Allerdings beabsichtigt man keineswegs, vollständig aus dem Land abzuziehen, wie sowohl Außenministerin Hillary Clinton als auch Verteidigungsminister Robert Gates kurz nach Obamas Rede klarstellten (Antiwar.com, 23.12.2009). Vielmehr sollen erhebliche westliche Truppenteile als »Rückversicherung« im Land verbleiben, um bei Bedarf einzugreifen, wenn die afghanischen Regierungstruppen in allzu große Schwierigkeiten geraten. Der vollmundig versprochene (Teil)Abzug ist also eine Mogelpackung: »Bürgerkrieg unter westlicher Beaufsichtigung«, mit dieser Formel lässt sich Obamas Afghanistan-Strategie bündig zusammenfassen.

Truppenaufstockung und Ausweitung der Kampfzone

Als Obama Anfang 2009 sein Amt antrat, befanden sich etwa 32.000 US-Soldaten am Hindukusch. Innerhalb von nicht einmal 12 Monaten wurde diese Zahl im Rahmen der neuen US-Afghanistanstrategie auf 68.000 mehr als verdoppelt. Vor dem Hintergrund der – trotz Truppenverdopplung – qualitativ wie quantitativ weiter eskalierenden Kampfhandlungen wurden Obama laut »New York Times« (11.11.2009) vier verschiedene Optionen vorgelegt. Sie sahen einen weiteren Truppenaufwuchs von entweder 20.000, 25.000 oder 30.000 Soldaten vor (die letzte Option wird nicht näher beschrieben, schien aber keine Truppenerhöhungen beinhaltet zu haben). Am 1. Dezember verkündete der US-Präsident seine Entscheidung: 30.000 zusätzliche US-Soldaten sollen „so schnell wie möglich“ entsendet werden, damit wären fast 100.000 US-SoldatInnen im Afghanistan-Einsatz.

Ein weiteres zentrales Element der neuen US-Strategie ist die Ausweitung des Kampfgebietes auf Pakistan: Afghanistan und Pakistan seien nunmehr als einheitliches Kriegsgebiet zu begreifen und der Kampf fortan auf beiden Seiten der Grenzen auszutragen. Seither setzen die USA verstärkt auf den Einsatz unbemannter Drohnen, während gleichzeitig Pakistan massiv dazu gedrängt wird, seine Angriffe gegen tatsächliche oder mutmaßliche Rückzugsgebiete des Widerstands auszuweiten. Laut »Los Angeles Times« (03.08.2009) wurde mittlerweile im Pentagon eine »Pakistanisch-Afghanische Koordinationseinheit« ins Leben gerufen, die die Kampfhandlungen zusammenführen soll. Vor diesem Hintergrund stellt Lothar Rühl, von 1982-1989 Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, zutreffend fest: „Der afghanische Krieg hat sich schon seit längerem über die Grenze ausgebreitet und begonnen, beide Länder zu einem Kriegsgebiet Südwestasien zu verschmelzen.“ (FAZ, 25.05.2009)

Druck auf die Verbündeten

Unmissverständlich macht die US-Regierung deutlich, dass sie nicht gedenkt, die neuerlichen Truppenaufstockungen vollständig im Alleingang zu schultern. So erklärte der amerikanische NATO-Botschafter Ivo Daalder Anfang Juli 2009: „Die Vereinigten Staaten erfüllen ihren Teil, Europa und Deutschland können und sollten mehr tun.“ (FAZ, 01.07.2009) Obwohl die EU-Verbündeten allein zwischen Ende 2006 und Frühjahr 2009 ihre Beteiligung an der NATO-Truppe ISAF um über 50% erhöhten, forderte Obama weitere 7.000-9.000 Soldaten.

Allerdings hält sich die Begeisterung dafür in den Reihen der EU-Staaten angesichts der Skepsis in der eigenen Bevölkerung in engen Grenzen. Washington wird jedoch zumindest in anderen Bereichen auf Kompensationsleistungen drängen. Eine Kompromisslösung könnte in einem deutlich erhöhten Beitrag zum Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte liegen, ein Bereich, in dem die Europäische Union bereits heute massiv engagiert ist. So sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates: Ich denke offen gestanden, da wir unsere Anforderungen auf zivile Experten und Polizeiausbilder konzentrieren werden, wird dies für Europäer zu Hause einfacher sein, als die Bitte, mehr Soldaten zu schicken. Die Dinge, um die wir bitten, sind für sie politisch einfacher, so dass sie trotz ihrer Wirtschaftsprobleme diese Anforderungen erfüllen werden.“ (Streitkräfte & Strategien, 04.04.2009)

»Afghanisierung« des Krieges

Das US-Militär hat schon lange vorgerechnet, dass für eine »erfolgreiche« Aufstandsbekämpfung 20-25 Soldaten auf 1.000 Einwohner erforderlich sind. Für Afghanistan wären demnach 640.000-800.000 SoldatInnen notwendig.1 Da ein solch großes Kontingent niemals mobilisiert werden kann, beabsichtigt man die Lücke zwischen verfügbaren Truppen und tatsächlichem Bedarf durch eine massive »Afghanisierung« des Krieges zu schließen.

Für diesen Zweck wurden die Zielgrößen der afghanischen Polizei und Armee drastisch nach oben gesetzt. Sollte die afghanische Armee ursprünglich 70.000 Soldaten umfassen, so wurde diese Zahl schnell auf 134.000 angehoben. Inzwischen hat ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal als neue Zielgröße 270.000 ausgegeben. Auch die afghanische Polizei, de facto Paramilitärs, soll deutlich vergrößert werden. Ursprünglich waren 62.000 anvisiert, nun sind 140.000-160.000 Polizisten vorgesehen (CNN, 04.08.2009).

Baldmöglichst sollen also einheimische Kräfte in der Lage sein, den Großteil der Kampfhandlungen im Alleingang zu schultern. Sehenden Auges wird hierdurch jedoch ein neuerlicher Bürgerkrieg in Kauf genommen – die Szenarien, was passiert, wenn diese »Strategie« weiter verfolgt wird, liegen bereits auf dem Tisch.

Afghanistans Zukunft: Dauerbürgerkrieg

Das »Center for a New American Security«, eine Denkfabrik mit engsten Verbindungen zur Obama-Administration, veröffentlichte im Oktober 2009 ein Papier, in dem drei mögliche Zukunftsszenarien für Afghanistan präsentiert werden.2 Unwahrscheinlich, aber möglich sei eine nachhaltige Stabilisierung des Landes ebenso wie der – aus westlicher Sicht – schlimmste Fall, ein Sieg der Widerstandsgruppen über die Karzai-Regierung. Vermutlich werde die Entwicklung aber in folgende Richtung gehen: „…die Obama-Regierung (wird) vorsichtig zu einer koordinierten Anti-Terror-Mission übergehen, bei der das alliierte Engagement sich auf das Training der afghanischen Armee, die Durchführung von Präzisionsangriffen aus der Luft und Spezialoperationen am Boden beschränkt. [..] Dieses wahrscheinlichste Szenario erlaubt es den USA und ihren Verbündeten weiterhin Einfluss in Zentralasien auszuüben und eine vollständige Rückkehr der Taliban zu verhindern.“ Damit wären dann auch die Präferenzen Joseph Bidens berücksichtigt, der, wie bereits erwähnt, das US-Engagement genau hierauf beschränkt wissen will. Allerdings betont das Papier auch: „Eine kurzfristige Truppenerhöhung wird diesem Übergang vorausgehen.“ Genau dies ist nun ebenfalls eingetreten.

Recht unverblümt wird zudem beschrieben, was ein solches Szenario für Afghanistan bedeuten würde: „Afghanistan bleibt im Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Kabul, die im Wesentlichen von den Politikern und Warlords geführt wird, die das Land zwischen 1992 und 1996 befehligten, und einer entrechteten paschtunischen Gesellschaft im Süden und Osten gefangen.“

Pro-westlicher Militärstaat

Auffällig ist, wie gebetsmühlenartig Barack Obama versucht, jede Gruppierung, die gegen die US-Präsenz vorgeht, unterschiedslos mit den Taliban und – noch absurder – mit Al Kaida gleichzusetzen und hierdurch als religiöse Fanatiker zu diskreditieren. Eine im Oktober 2009 veröffentlichte Untersuchung des US-Militärs über die Zusammensetzung des Widerstands kommt jedoch zu einem vollständig anderen Ergebnis: „Bei lediglich 10 Prozent der Aufständischen handelt es sich um Hardcore-Ideologen, die für die Taliban kämpfen“, so ein Geheimdienstoffizier, der an der Abfassung des Berichts beteiligt war (»Boston Globe«, 09.10.2009).

Noch deutlicher sind die Aussagen des US-Militärs Matthew P. Hoh, der in Afghanistan an prominenter Stelle für den zivilen Wiederaufbau zuständig war. Er quittierte im September 2009 seinen Dienst und begründete diesen Schritt in seinem Rücktrittsschreiben folgendermaßen: „Der paschtunische Aufstand, der sich aus zahlreichen, scheinbar endlosen lokalen Gruppen zusammensetzt, wird durch das gespeist, was die paschtunische Bevölkerung als einen andauernden Angriff auf ihre Kultur, Traditionen und Religion durch interne und externe Feinde ansieht, der seit Jahrhunderten anhält. Die amerikanische und die NATO-Präsenz und Operationen in paschtunischen Tälern und Dörfern stellen ebenso wie die afghanischen Polizei- und Armeeeinheiten, die nicht aus Paschtunen bestehen, eine Besatzungsmacht dar, vor deren Hintergrund der Aufstand gerechtfertigt ist. Sowohl im Regionalkommando Ost als auch Süd habe ich beobachtet, dass der Großteil des Widerstands nicht das weiße Banner der Taliban trägt, sondern eher gegen die Präsenz ausländischer Soldaten und gegen Steuern kämpft, die ihm von einer Regierung in Kabul auferlegt werden, die sie nicht repräsentiert.“ Anschließend schreibt Hoh über die Karzai-Regierung: Sie zeichne sich u.a. durch „eklatante Korruption und unverfrorene Bestechlichkeit“ aus und an der Spitze stehe ein Präsident, „dessen Vertraute und Chefberater sich aus Drogenbaronen und Kriegsverbrechern zusammensetzen, die unsere Anstrengungen zur Drogenbekämpfung und zum Aufbau eines Rechtsstaats lächerlich machen.“ (Antiwar.com, 28.10.2009)

Ausgerechnet dieser, spätestens seit den »Wahlen« im Sommer 2009 vollkommen diskreditierten Regierung gibt man nun also die Repressionsapparate in die Hand, um sich gegen den Widerstand in der eigenen Bevölkerung an der Macht halten zu können. Dies ist umso bedenklicher, da diese »Sicherheits«kräfte bereits heute ein beängstigendes Eigenleben entwickeln und zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollkommen unklar ist, woher künftig die Gelder für diesen Repressionsapparat kommen sollen – aus dem derzeitigen (und wohl auch künftigen) afghanischen Haushalt jedenfalls nicht.

Laut Rory Stewart, Direktor des »Carr Center on Human Rights Policy«, dürften sich die Kosten für die afghanischen Sicherheitskräfte auf zwei bis drei Mrd. US-Dollar im Jahr belaufen – ein Vielfaches der gesamten Staatseinnahmen. „Wir kritisieren Entwicklungsländer dafür, wenn sie 30% ihres Budgets für Rüstung ausgeben; wir drängen Afghanistan dazu 500% seines Haushalts hierfür aufzuwenden. …Wir sollten kein Geburtshelfer eines autoritären Militärstaats sein. Die hieraus resultierenden Sicherheitsgewinne mögen unseren kurzfristigen Interessen dienen, aber nicht den langfristigen Interessen der Afghanen.“3

Hauptsache die Herrscher in Kabul bleiben weiterhin pro-westlich, alles andere scheint mittlerweile weitgehend egal zu sein. Ein Kommentar von Sven Hansen in der »taz« (13.09.2009) fasste das folgendermaßen zusammen: „Das Maximum, das der Westen in Afghanistan noch erhoffen kann, ist, einen autoritären Potentaten zu hinterlassen, der, getreu dem US-amerikanischen Bonmot ›Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn‹, die Regierung auf prowestlichem Kurs hält. Sicherheitspolitisch könnte das sogar funktionieren, weil dessen Terror sich dann »nur« gegen die eigene Bevölkerung und vielleicht noch gegen Nachbarstaaten, nicht aber gegen den Westen richtet.“

Anmerkungen

1) Fick, Nathaniel & Nagl, John: Counterinsurgency Field Manual: Afghanistan Edition, in: Foreign Policy Januar/Februar 2009.

2) Exum, Andrew: Afghanistan 2011: Three Scenarios, CNAS Policy Brief, 22.10.2009.

3) Stewart, Rory: The Irresistible Illusion, London Review of Books, 07.07.2009.

Jürgen Wagner ist Politologe, Geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und Mitarbeiter im W&F-Redaktionsteam.

zum Anfang | Irak: Kein Ende der Besatzung in Sicht

von Joachim Guilliard

Offiziell ist das Ende der Besatzung nun eingeleitet. Wie im Truppenstationierungsabkommen (SOFA) vom Herbst 2008 vereinbart, zogen sich im Juni 2009 Tausende US-Soldaten aus den Städten in die umliegenden Militärbasen zurück. Viele Iraker feierten den Abzug überschwänglich und Regierungschef Nuri al-Maliki sprach von einem „großen Sieg“ über die Besatzer. Doch entgegen den großen Hoffnungen, die viele in den Amtsantritt Barack Obamas setzten, ist der vollständige Abzug der Besatzungstruppen noch lange nicht in Sicht. Generell hat sich die Irakpolitik Washingtons seither kaum geändert und auch die Lage vor Ort blieb katastrophal.

Washingtons »Stabilisierungsstrategie«

Zentraler Punkt in Washingtons Irak-Strategie ist, das neue Regime durch eine bessere Beteiligung von oppositionellen Kräften an der Macht zu stabilisieren. Bei jeder Gelegenheit fordern Präsident Obama und die kommandierenden US-Generäle die irakische Regierung auf, endlich die »Aussöhnung« zwischen den Konfessionen und den verschiedenen politischen Kräften in die Wege zu leiten. Genauso gut könnten sie aber auch deren Selbstauflösung fordern. Besteht das Wesen des neuen, von den Besatzern maßgeblich gestalteten, sektiererischen und völlig korrupten Regimes doch exakt darin, dass die Regierungsparteien ihre Ministerien als Pfründe verwalten und dazu nutzen, ihre mit US-Hilfe geschaffenen Machtpositionen dauerhaft zu sichern.

Auch unter Obama setzt die Besatzungsmacht auf den neuen starken Mann im Irak, Ministerpräsident Nuri al-Maliki, der im Laufe des Jahres seine Machtposition weiter ausbauen konnte. Sukzessive besetzte er – am Parlament vorbei – Schlüsselposition in Regierung, Verwaltung, Polizei und Militär mit Getreuen aus seiner Partei oder seinem Familienclan. Mit US-Hilfe hat er sich zudem einen eigenen Geheimdienst und mächtige militärische Spezialeinheiten zugelegt. Diese, von »Green Berets« ausgebildeten, 4.500 Mann starken »Iraq Special Operations Forces« (ISOF) operieren völlig verdeckt – unter Malikis Oberbefehl und unter Aufsicht der US-Armee, aber ohne sonstige Kontrolle irakischer Institutionen. Die neuen Todesschwadrone gelten mittlerweile als schlagkräftigste Truppe des Landes (»Le Monde diplomatique«, 10.07.2009).

Viele Beamte, Geistliche und Politiker im Irak, so der britische »Guardian« (30.04.2009), sprechen bereits von einer neuen Diktatur und vergleichen Maliki mit Saddam Hussein. Sechs Jahre nach Kriegsbeginn würde das Land nach ziemlich vertrauten Linien aufgebaut, so das Fazit der Zeitung: „Konzentration von Macht, schattenhafte Geheimdienste und Korruption.“

Auch andere Zeitungen, wie »The Economist« (03.09.2009) oder »Der Spiegel« (19.10.2009) charakterisieren den »neuen Irak« immer öfter als Polizeistaat. Typisch bei all diesen Berichten ist, dass sie zwar die irakische Seite sehr kritisch beschreiben, die dominierende Rolle der Besatzer jedoch völlig ausblenden. Dabei sind diese durch unzählige ?Berater« in allen wesentlichen Bereichen involviert und waren auch von Anfang an in hohem Maße in die Korruption verwickelt. Besatzung und »Polizeistaat« sind zwei Seiten einer Medaille.

Der versprochene Truppenabzug blieb aus

Im Wahlkampf hatte Obama versprochen, die im Irak stationierten US-Truppen innerhalb von sechzehn Monaten abzuziehen – beginnend mit seinem Amtsantritt jeden Monat fünf bis zehntausend Mann. Als er Ende Februar 2009 seine Pläne für den Irak vorstellte, war nur noch vom Abzug der Kampftruppen bis August 2010 die Rede. Der Rest, mehr als die Hälfte der ca. 130.000 Soldaten, soll – wie von Amtsvorgänger Bush bereits im Stationierungsabkommen zugesichert – bis 2012 das Land verlassen.

Der Rückzug soll, so Obama, verantwortungsvoll erfolgen, also lediglich dann, wenn es die politische und militärische Lage vor Ort erlaubt. Wirklich verlässlich bei seinen Ankündigungen war somit nur die definitive Verlängerung der Besatzung um drei weitere Jahre.

Die Lage vor Ort verhinderte bisher auch einen nennenswerten Abzug von Truppen. Sie werden zur Absicherung der kommenden Parlamentswahlen und der anschließenden Regierungsbildung noch gebraucht. Letzteres kann sich leicht bis Sommer 2010 hinziehen. Dadurch liegt die Zahl der US-Soldaten zur Zeit im Irak nur geringfügig unter dem Niveau, das sie vor der Anfang 2007 begonnenen Truppenerhöhung hatte. Da ein guter Teil der abgezogenen Soldaten durch private Söldner ersetzt wurde, liegt die Gesamtzahl der bewaffneten Besatzungskräfte sogar noch höher als damals.

Der gefeierte Rückzug aus den Städten ist vielerorts ebenfalls nur Etikettenschwindel. Zehntausende US-Soldaten sind in den Städten verblieben und führen nun als »Trainings- und Unterstützungstruppen« den Kampf gegen die Opposition fort. Offener Krieg herrscht insbesondere noch in den Nordprovinzen, rund um Mosul und Baquba, wo US-Truppen regelmäßig große Militäroperationen durchführen.

Laut Stationierungsabkommen müsste die US-Armee nun ihre Operationen stets mit der irakischen Regierung abstimmen. Auch dies konnten die Iraker bisher nicht durchsetzen. „Mag sein, dass etwas bei der Übersetzung [des Abkommens] verloren ging“, erwiderte der Kommandeur der für Bagdad zuständigen US-Division dreist den Kritikern des vertragswidrigen Vorgehens. Sie hätten auf keinen Fall vor, vollständig aus der Stadt zu verschwinden und würden garantiert auch keine Einschränkungen ihrer Operationsfreiheit hinnehmen. Dies könnte von ihren Gegnern ausgenutzt werden und so ihre Sicherheit gefährden. Seine Truppen würden daher auch weiterhin Gefechtsoperationen im Stadtgebiet von Bagdad durchführen – mit oder ohne Hilfe der Iraker (»Washington Post«, 18.07.2009).

Das Stationierungsabkommen legt an sich klar fest, dass der Abzug der US-Truppen Ende 2011 vollzogen sein muss. Die kommandierenden US-Generäle haben jedoch von Anfang an deutlich gemacht, dass sie diesen Termin keinesfalls für verbindlich halten. Mittlerweile hat auch der irakische Präsident Nouri al-Maliki – u.a. in seiner Rede vor dem »U.S. Institute of Peace« am 24. Juli 2009 – laut über eine Verlängerung der US-Truppen-Präsenz über 2011 hinaus nachgedacht (»Washington Independent«, 23.07.2009). Er weiß, dass sich seine Regierung ohne US-Truppen nicht lange halten kann.

Nicht nur der Abzug der fremden Truppen lässt auf sich warten, sondern auch die Normalisierung der Lebensbedingungen. Noch immer ist die Versorgungslage schlecht, gibt es sauberes Wasser und Strom nur stundenweise und liegt das Gesundheits- und Bildungswesen am Boden. Millionen Iraker hungern und der Nahrungsmangel weitet sich sogar noch aus, wie die UN-Nachrichtenagentur IRIN am 08.11.2009 vermeldete.

Gründe sind der Rückgang der heimischen landwirtschaftlichen Produktion aufgrund der 2003 erzwungenen Öffnung des Landes für zollfreie Importe und dem Wegfall staatlicher Unterstützung, sowie Inflation, Arbeitslosigkeit und das Zusammenbrechen des Systems zur Verteilung verbilligter Nahrungsmittelhilfe, von denen 60% der Bevölkerung völlig abhängig sind. Nach offiziellen irakischen Angaben beträgt die Arbeitslosigkeit noch 18-20%, fast ein Viertel der 25 bis 28 Millionen Iraker lebt unter der Armutsgrenze. Unabhängige Hilfsorganisationen gehen noch von wesentlich höheren Zahlen aus. Nur wenige der mehr als zwei Millionen ins Ausland geflohenen Flüchtlinge wagten unter diesen Bedingungen die Rückkehr.

Besatzung in der Sackgasse

Unabhängig davon, wie viele US-Truppen im Land bleiben, befindet sich die Besatzung in einer Sackgasse. Die USA kommen mit ihren Plänen im Irak nicht voran. Sie sind nach wie vor die dominierende Macht, ihr Einfluss hat sich aber deutlich verringert. Auch das SOFA, obwohl nur halbherzig befolgt, schränkt den Handlungsspielraum der US-Truppen und letztlich auch ihre Autorität im Land spürbar ein.

Obama möchte durchaus die Truppenzahl deutlich verringern – die Rede war oft auf 30.000 bis 50.000 Mann -, um so den sichtbaren Eindruck von Besatzung zu vermindern, die immensen Kosten zu reduzieren und vor allem auch um Kräfte für Afghanistan freizumachen. Doch noch sitzen die verbündeten irakischen Politiker nicht fest im Sattel und die USA haben ihr wesentliches Ziel, die dauerhafte Kontrolle über den Irak, noch nicht erreicht. Nichts zeigt diese Absicht so deutlich, wie die riesige Festung im Zentrum Bagdads, die als US-Botschaft firmiert. Auch Obama machte bisher keinerlei Anstalten, den riesigen Stab von über tausend Mitarbeitern – weit mehr als das britische Empire für das zehnmal so große Indien im Einsatz hatte – zu reduzieren. Dieser Stab aus Diplomaten, Geheimdienstleuten, Verwaltungs-, Wirtschafts- und sonstigen Experten soll auch in Zukunft das eigentliche administrative Herz Iraks bilden, das mit Hilfe der zahlreichen Berater auf allen Ebenen der irakischen Regierung und Verwaltung, alle wesentlichen Entscheidungen im Irak beeinflusst.

Aufgrund des breiten Widerstands in der Bevölkerung, dem auch die Maliki-Regierung Rechnung tragen muss, sind jedoch die meisten Maßnahmen und Projekte blockiert, von der Gründung einer »staatlichen Anstalt für Privatisierung« bis zum neuen Ölgesetz, das eine Privatisierung der Ölproduktion ermöglichen würde. In spektakulären Auktionen bot der Irak ausländischen Konzernen nun zwar Abkommen über die Ausbeutung umfangreicher irakischer Ölfelder an. Diese sind aber weit von den Wunschvorstellungen der westlichen Öl-Multis entfernt, für die die Bush-Regierung nicht zuletzt in den Krieg zog. Es handelt sich um reine Dienstleistungsverträge mit dem Ziel, die Fördermengen von Ölfeldern drastisch zu steigern. Die Auftragnehmer bekommen als Entgelt nur einen festen Betrag zwischen 1,20 und 2,00 US-Dollar für jedes zusätzlich geförderte Barrel Öl. Bei Laufzeiten von 20 Jahren sind dabei durchaus zweistellige Milliardenbeträge zu verdienen. Sie erhalten aber nach wie vor weder Anteile am geförderten Öl noch an den Reserven. Von den großen US-Konzernen kam allein Exxon Mobil zum Zuge, ansonsten dominieren asiatische Firmen, allen voran die staatliche chinesische National Petroleum Corporation CNPC. (siehe »Magere Beute«, junge Welt, 31.12.2009)

Noch sind die Verträge nicht unter Dach und Fach. Im Parlament, das gemäß des immer noch gültigen Gesetzes aus der Baath-Ära alle Verträge mit ausländischen Firmen billigen muss, regt sich Widerstand, und mehr noch in der staatlichen Ölindustrie – vom Management bis zu den Gewerkschaften.

Niemand weiß, wie es nach den Parlamentswahlen im Frühjahr 2010 weitergehen wird. Neue Regierungen könnten die auf wackliger Rechtsgrundlage geschlossenen Verträge jeder Zeit annullieren. Vor allem für die westlichen Konzerne gibt es dagegen nur eine Garantie: die dauerhafte Präsenz der US-amerikanischen Truppen.

Joachim Guillard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher zu diesem Bereich

zum Anfang | Iran: Gescheiterter Auftakt im Atompoker

von Ali Fathollah-Nejad

Der Verhandlungsprozess zwischen dem Westen und dem Iran war in der Vergangenheit nicht von Erfolg gekrönt, vielmehr hat sein Misslingen zur Eskalation des Konfliktes beigetragen. Es war ein vorhersehbares Scheitern, der vom Westen bevorzugte »Zuckerbrot-und-Peitsche«-Ansatz setzte auf Letzteres, ohne das Erstere ernst zu nehmen.1 Durch die machtpolitisch forcierte rechtliche Diskriminierung Irans im sog. Atomstreit, perpetuiert von den den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) missachtenden Atommächten USA, Großbritannien, Frankreich und Israel, wurde mit der Konstruktion des Schreckgespenstes iranische, »islamische« Bombe politischer Druck auf Teheran erzeugt.

Nach acht Jahren der konfrontativen Bush-Politik, deren neokonservatives Säbelrasseln die Welt an den Abgrund eines Krieges mit Iran brachte, wurden an Obamas versöhnlichere Töne viele Hoffnungen geknüpft. Mit seiner Ankündigung mit Teheran in direkte Verhandlungen zu treten, wurde dann auch formal betrachtet ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen beiden Ländern eröffnet. Die erste Episode begann am 1. Oktober 2009, als in Genf Verhandlungen zur Beilegung des »Atomstreits« zwischen Iran und den G5+1 (den fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern und Deutschland) begannen.

Zu der strategischen Notwendigkeit für die USA, angesichts ihrer Kriege im Irak und in Afghanistan mit der Regionalmacht Iran direkte Gespräche zu führen, kam eine nuklearpolitische Dimension hinzu. Für seine von den USA zu Schah-Zeiten erbaute Teheraner Forschungsanlage, die medizinische Radio-Isotope herstellt, benötigt der Iran auf 20% angereichertes Uran. Teheran hatte 23 kg dieses Brennstoffes zwischen 1988 und 1993 von Argentinien erhalten. Da diese Lieferung im Laufe des Jahres 2010 verbraucht sein wird, rief Irans Außenminister Manouchehr Mottaki in einem Schreiben vom Juni 2009 die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEA) an, um unter deren Aufsicht das benötigte Uran für den weiteren Betrieb der Anlage zu erwerben. Zu den Aufgaben der IAEA gehört es, Mitgliedsländern, wie dem Iran, beim Betrieb ihres zivilen Atomprogramms behilflich zu sein. Dem stehen in diesem Fall jedoch die gegen Iran verhängten UN-Sicherheitsratsresolutionen diametral entgegen. Das ist auch ein Grund dafür, warum Teheran die Legalität dieser UN-Resolutionen anzweifelt.

Iranische Break-Out Capability verzögern

Als Washington von der iranischen Anfrage erfuhr, wurde eine diplomatische Strategie erarbeitet, die darauf abzielte, die iranischen Bestände an leicht angereichertem Uran (low enriched uranium, LEU) zu reduzieren, um somit zu verhindern, dass das Land genügend Brennstoff für eine Atombombe habe (break-out capability). Bei einem Moskau-Besuch im Juli 2009 stellte der Berater des Weißen Hauses für Fragen des iranischen Atomprogramms im Besonderen und nuklearer Proliferation im Allgemeinen, Gary Samore, einen Plan vor, womit Teherans »break-out capability« um ein Jahr verzögert werden würde. Damit sollte Spielraum für Verhandlungen gewonnen werden. Iranisches LEU sollte demnach in Russland in höher angereicherte Brennstäbe umgewandelt werden.

Eine Woche nachdem Iran seine Teilnahme an den Genfer Gesprächen zusagte, wurde der Bau einer bis dato unbekannten Atomanlage in Qom bekanntgegeben. Eine Flut der Empörung setzte insbesondere in westlichen Hauptstädten ein. Eine Untersuchung der Hintergründe – der später von IAEA-Direktor Mohammad El-Baradei als „Loch in einem Berg“ bezeichneten geplanten Atomanlage – deutete auf sicherheitspolitische Motive hin. So bestätigte Irans IAEA-Vertreter, Ali-Asghar Soltanieh, dass die Anlage für den Fall geplant sei, dass Israel die Haupt-Anreicherungsanlage in Natanz zerstöre.2 Kein so unrealistisches Szenario, schließlich hatte auch US-Vizepräsident Biden im Juli 2009 einen Angriff Israels für durchaus möglich gehalten. Gary Samore hatte bereits vor seiner Berufung zum Regierungsbeauftragten dafür geworben, israelische Angriffsdrohungen für die US-Diplomatie gegenüber Iran nutzbar zu machen.

Am Rande der UN-Vollversammlung im September 2009 sagte der EU-Außenbeauftragte Javier Solana, dass die G5+1 bei den geplanten Verhandlungen weiterhin auf einer Beendigung des iranischen Atomprogramms bestehen würden. Anfang Oktober in Genf legten die G5+1 ein Angebot vor.3 Danach sollte 80% des iranischen LEU zur 20prozentigen Anreicherung nach Russland gebracht und danach in Frankreich zu Brennstoff für die Teheraner Anlage weiterverarbeitet werden. Die wieder in den Iran gebrachten Brennstäbe könnten dann nicht mehr bis zu einem waffentauglichen Grade angereichert werden. Für Washington wäre es ein diplomatischer Sieg gewesen, wenn Iran tatsächlich den Großteil seines angereicherten Urans außer Landes geschafft hätte.

Prinzipielle Zustimmung einer geschwächten Regierung

Zu diesem Zeitpunkt war die Regierung von Mahmoud Ahmadinejad durch die innenpolitische Krise infolge der Präsidentschaftswahlen vom Juni in die Defensive geraten. Sie hoffte, durch einen diplomatischen Erfolg in Form eines Durchbruchs in der Atomfrage, der Opposition im eigenen Land Wind aus den Segeln nehmen zu können. Der dem Präsidenten nahestehende Atomunterhändler und Vorsitzende des Obersten Nationalen Sicherheitsrats, Saeed Jalili, wurde angehalten, sich kooperativ zu zeigen, und er hat denn auch das Angebot der Großmächte nicht ausgeschlagen. Laut Angaben eines hochrangigen US-Vertreters (vermutlich der oberste US-Diplomat William Burns) hatte Iran dem Vorschlag sogar »im Prinzip« zugestimmt und war bereit, von seinem Bestand von ca. 1.800 kg LEU 1.200 kg zur Weiterverarbeitung ins Ausland zu verschicken.4 Zwei Wochen später und somit wenige Tage vor der für den 19. bis 21. Oktober anberaumten zweiten Verhandlungsrunde in Wien dementierte ein iranischer Offizieller die westlichen Medienberichte über eine Zustimmung seines Landes zu dem unterbreiteten Genfer Vorschlag.

Teheraner Konsens versus ideale Lösung des Westens

In der österreichischen Hauptstadt stand ein von Mohammad El-Baradei vorbereiteter Entwurf eines Atomabkommens zwischen den G5+1 und Iran im Zentrum der Gespräche, der den Genfer Vorschlag widerspiegelte. Ein französischer Diplomat bekundete gegenüber der »Washington Post«, dass der Entwurf „nicht sehr weit“ von der für den Westen idealen Lösung liege. Am letzten Tag der Wiener Gespräche meldeten westliche Medien wieder eine Zustimmung Irans. Soltanieh sah den Entwurf „auf dem richtigen Weg“, eine Entscheidung könne aber erst nach sorgfältiger Prüfung erfolgen. El-Baradei selbst unterstrich, dass es keine Einigung gegeben habe, forderte Teheran aber auf, innerhalb von zwei Tagen zu antworten.

Die iranische Antwort ließ jedoch auf sich warten. In den dortigen Machtzirkeln setzte eine Diskussion über das Für-und-Wider des vorliegenden Entwurfs ein, die fast eine Woche dauern sollte. Protest meldete sich auch aus der inneriranischen Opposition, so von den unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Mir-Hossein Mousavi und Mohsen Rezai (amtierender Vorsitzender des mächtigen Schlichtungsrates). Die Kritikpunkte umfassten den Vorwurf des Ausverkaufs des Atomprogramms, zumal die Rückkehr des höher angereicherten Urans nicht ohne Weiteres garantiert werden könne. Der ehemalige Atomunterhändler und amtierende Parlamentspräsident Ali Larijani sowie der Vorsitzende des Parlamentsausschusses zu Fragen nationaler Sicherheit und Außenpolitik, Alaeddin Boroujerdi, schlugen stattdessen vor, dass Iran das benötigte Uran aus dem Ausland käuflich erwerben solle. Als am 29. Oktober Mousavis Anprangerung des westlichen Vorschlags veröffentlicht wurde, wonach dieser „alle Anstrengungen von tausenden [iranischen] Wissenschaftlern in den Wind schlägt“, gab Teheran seinen Gegenvorschlag bekannt.5 Dieser spiegelte den drei Tage zuvor dargelegten Vorschlag Boroujerdis wider, der im Kern einen »simultanen Austausch« vorsieht.6 Demnach soll das LEU in mehreren Schritten außer Landes gebracht werden und nicht in einer einzigen Lieferung, sodass ein gleichzeitiger Austausch zwischen Irans LEU mit dem höher angereicherten Brennstoff aus dem Ausland stattfände. Bahman Nirumand erfasst die westliche Perspektive wie folgt: „Ein sofortiger Tausch des niedrig angereicherten Urans gegen höher angereichertes Material, wie es Iran nun offenbar fordert, würde dagegen keinen Spielraum für Gespräche garantieren. Auch eine schrittweise Lieferung des Urans ins Ausland dürfte auf Ablehnung stoßen, weil dadurch die kritische Menge von spaltbarem Material für den Bau einer Atombombe nicht unterschritten werden dürfte.“ 7

Iran will Trumpfkarte nicht aus der Hand geben

Während der Westen durch die signifikante Reduzierung des Bestands an LEU auf iranischem Boden aus einer Position der Stärke verhandeln will, wittert Teheran die Gefahr, dadurch nicht auf Augenhöhe Gespräche führen zu können. Ganz in diesem Sinne führt Gareth Porter ein strategisches Motiv Teherans ins Feld: „Diese [iranische] Ablehnung des Plans spiegelt die Erkenntnis wider, dass der El-Baradei-Entwurf Iran seines Verhandlungsgewichtes entledigen würde, den sie [die Iraner] so schmerzhaft in der Form von LEU-Beständen angehäuft hatten. Hochrangige iranische Offizielle in Fragen nationaler Sicherheit hatten in informellen Gesprächen zugegeben, dass der Hauptzweck der Anhäufung leicht angereicherten Urans darin bestünde, die Vereinigten Staaten dazu zu bringen, sich an den Tisch zu setzen und ernsthaft mit Iran zu verhandeln. Sie hatten beobachtet, dass in der Vergangenheit – bevor das Anreicherungsprogramm begann – die Vereinigten Staaten kein Interesse in Verhandlungen hegten. Von dieser strategischen Perspektive aus ist Iran in einer Position, mit den Vereinigten Staaten in einer Weise zu verhandeln, was unter den Regierungen von Rafsanjani und Khatami der Fall war.“ 8

Der Teheraner Konsens vom »simultanen Austausch« sollte nunmehr die iranische Position wiedergeben, sodass man das für Ende 2009 angesetzte US-Ultimatum bezüglich des IAEA-Vorschlags verstreichen ließ. Nachdem ein Anfang Dezember von Iran unterbreiteter Vorschlag, dieses Tauschgeschäft auf der im Persischen Golf gelegenen Insel Kish vorzunehmen, von den USA (da auf iranischem Territorium) brüsk abgelehnt wurde, zeichnete sich Ende 2009 eine vielversprechende Option ab. Die Türkei, die mit Iran und den USA gute Beziehungen unterhält, soll als Land dienen, in dem der Austausch unternommen werden könnte.9

Washington pokerte zu hoch

Für das vorzeitige Scheitern der Verhandlungen kommt der diplomatischen Strategie Washingtons eine zentrale Rolle zu. Gemeinsam mit seinen EU-Partnern sahen die USA die goldene Möglichkeit, einen diplomatischen Sieg einzufahren, indem man mit einem nebulösen Deal Irans Atomprogramm quasi physisch aushebeln wollte. Diese unrealistische Aussicht machte indes blind dafür, dass Verhandlungen zwischen beiden Seiten Spannungen abbauen und einen Interessenausgleich anstreben sollten. Stattdessen haben die USA und ihre EU-Partner die Erfahrungen aus dem Verhandlungsprozess der letzten Jahre vollkommen ignoriert und nunmehr zu hoch gepokert.10 Und auch nach wie vor setzt man auf das bankrotte »Zuckerbrot-und-Peitsche-Model«, das nur dazu geeignet ist, Fronten zu verhärten und durchaus existente Initiativen zur Konfliktbeilegung außen vor zu lassen.

Risiken der geschwächten iranischen Position

Die inneriranische Herrschaftskrise nach den Präsidentschaftswahlen vom Juni 2009 hat dazu geführt, dass die an Legitimität leidende iranische Regierung im andauernden Konflikt mit dem Westen geneigt ist, Zugeständnisse ans Ausland zu machen. Das war bereits bei den Genfer Verhandlungen zu beobachten. Der Westen wiederum hofft, aus eben jener Schwäche Teherans Profit schlagen zu können.11

In Washington ist man parteiübergreifend zuversichtlich, bereits aus der Tatsache, direkte Verhandlungen »versucht« zu haben, politisches Kapital schlagen zu können. Von einem maßgeblichen Teil der strategischen Kreise in den USA wird (Schein-)Diplomatie als notwendiger Schritt der Kriegslegitimation erachtet. Sanktionen – bis hin zu »lähmenden« – werden denn auch angestrebt, um Teherans Weigerung, sich dem US-amerikanischen Willen zu beugen, zu bestrafen. Doch wirtschaftliche Sanktionen gehen in der Regel zu Lasten der Bevölkerung, während sie die Hardliner auf allen Seiten eher stärken.12

In Iran stehen turbulente Monate bevor. Es wird darauf zu achten sein, dass das Ausland diese Situation nicht rücksichtslos zugunsten eigener, wenn auch kurzsichtiger, strategischer Vorteile ausnutzt. Es gilt nach wie vor, dass die vom Westen betriebene Zwangsdiplomatie gegenüber Iran – wie man es in diplomatischen Studien zutreffend formuliert – eine für die Entwicklung des westasiatischen Landes nachteilhafte Dynamik erzeugt. Solange Obamas Iran-Politik dem Bush-Modus verfangen ist – das statt auf einen Ausgleich auf eine Unterwerfung unter US-Interessen abzielt -, ist der sog. Iran-Konflikt weit davon entfernt, beigelegt zu werden.

Anmerkungen

1) Ali Fathollah-Nejad, »Don“t blame the messenger for the message«? Wie die EU-Diplomatie den Weg für einen US-Angriff auf Iran ebnet, Tübingen: Informationsstelle Militarisierung (Studien zur Militarisierung Europas, Nr. 28/2007).

2) Gareth Porter, New Doubt Cast on U.S. Claim Qom Plant is Illicit, Inter Press Service (IPS), 02.10.2009; ibid., Secrecy shrouds Iran“s contingency centers, Asia Times Online, 19.11.2009.

3) Vgl. Jim Lobe, Iran: New Nuke Charges Raise Stakes in Upcoming Talks, IPS, 25.09.2009.

4) Julian Borger, Iran agrees to send uranium abroad after talks breakthrough, The Guardian, 02.10.2009, S.21; Louis Charbonneau, Iran nuclear talks with U.S. and allies eases tension, Reuters, 02.10.2009.

5) Vgl. Yossi Melman, Iran to IAEA: Access to nuclear fuel before uranium deal, Haaretz.com 30.10.2009.

6) Es wird weithin angenommen, dass der Vorsitzende des zuvor genannten Ausschusses, dem Boroujerdi vorsitzt, die Meinung des tonangebenden Staatsoberhaupts Ali Khamenei wiedergibt.

7) Bahman Nirumand, Iran-Report, Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, Jg. 8, Nr. 11 (Nov. 2009), S.10.

8) Gareth Porter, The US/Iran Talks: The Road to Diplomatic Failure, CounterPunch 10.12.2009.

9) Vgl. Iran warming to Turkish role in nuke dispute, todayszaman.com 31.12.2009.

10) Vgl. Porter (Fußnote 8).

11) Für ein markantes Beispiel vgl. Jürgen Bätz, Bewegung im Atomstreit? Die innere Instabilität des Iran als Chance für den Westen, Internationale Politik und Gesellschaft Nr. 4/2009, S.65-81.

12) Vgl. Ali Fathollah-Nejad & Miriam Shabafrouz, Zenith – Zeitschrift für den Orient Jg. 11 (2009), Nr. 4, S.38-39.

Ali Fathollah-Nejad ist Politologe und lehrt zurzeit an der University of Westminster/GB. Im Universitätsverlag Potsdam ist von ihm erschienen: Der Iran-Konflikt und die Obama-Regierung – Alter Wein in neuen Schläuchen?; Homepage: fathollah-nejad.com.

zum Anfang | Im Nahen-Osten nichts Neues?

Wenig Hoffnung im Israel-Palästina-Konflikt

von Claudia Haydt

Der ermordete israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin fasste seine Motivation für den Osloer-Friedensprozess in die Worte: „Frieden schließt man nicht mit seinen Freunden. Frieden schließt man mit seinen Feinden.“ Auch der Wahlkampf des nun nicht mehr ganz so neuen US-Präsidenten Barack Obama war von dieser versöhnlichen Rhetorik gegenüber den Konfliktparteien des Nahen und Mittleren Ostens geprägt. Bereits im Sommer 2008 kündigte Obama an, dass er im Nahost-Friedensprozess „eine aktive Rolle“ übernehmen werde: „Ich werde mich persönlich engagieren und alles tun, was mir möglich ist, um die Sache des Friedens vom Beginn meines Amtes an voranzutreiben“ 1

Ein Jahr nach der Amtseinführung Obamas ist es Zeit für eine erste Bilanz der neuen US-Politik gegenüber Israel und Palästina.

Schwerer Start

Zwischen der Wahl Obamas am 4. November 2008 und seiner Amtseinführung am 20. Januar 2009 eskalierte die Situation im Nahen Osten dramatisch. Die israelische Armee starte am 27. Dezember 2008 die Operation »Gegossenes Blei« im Gazastreifen. Bis zum Ende der Invasion starben 1.434 PalästinenserInnen, darunter viele Zivilisten, und 13 Israelis. Der neue US-Präsident hatte noch in seinem Wahlkampf im Sommer 2008 die israelische Stadt Sderoth besucht, die immer wieder Ziel palästinensischer Raketen geworden war, und dort erklärt, auch er würde alles unternehmen, um sein Zuhause und seine Töchter vor drohenden Hamas-Raketen zu schützen. Dies betrachtete die israelische Regierung offensichtlich als Freibrief für den Angriff auf Gaza. Drei Tage vor Obamas Amtseinführung stellte Israel die Kampfhandlungen allerdings ein, vielleicht um ihn nicht allzu stark zu provozieren.

Wohlwollende Kommentatoren sahen in Obamas Schweigen während des Gaza-Krieges eine Rücksichtnahme gegenüber seinem Amtsvorgänger George W. Bush in dessen »Amtsführung der letzten Tage« er sich nicht einmischen wolle.

Bereits am zweiten Tag von Obamas Präsidentschaft schien sich dann die Hoffnung auf eine neue Politik in der Region zu erfüllen. Der neue Präsident machte den erfahrenen Diplomaten und Ex-Senator George Mitchell zum Sondergesandten für den Nahen Osten. Dieser hatte sehr ausdauernd und schlussendlich erfolgreich das Ende des Nordirlandkonfliktes begleitet und ihm war auch die politische Gemengelage im Nahen Osten nicht fremd. Er hatte 2001 den nach ihm benannten »Mitchell-Report« verfasst, der später zur Grundlage der Road-Map wurde.

Doch Mitchells Bilanz ist nach sieben Vermittlungsmissionen im Jahr 2009 äußerst mager. Das liegt auch an den politischen Rahmenbedingungen. Einerseits haben nach dem Gaza-Krieg die israelischen Parlamentswahlen zu einem weiteren Rechtsrutsch in der israelischen Regierung geführt. Andererseits gibt es auf der palästinensischen Seite eine tiefe Spaltung zwischen der von der Fatah dominierten West-Bank und dem Hamas kontrollierten Gazastreifen. Mahmud Abbas wird als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) faktisch nur noch von außen an der Macht gehalten. Selbst in seiner eigenen Fatah-Partei hat er kaum noch Rückhalt.

Obamas Kairoer Rede

Barack Obama beherrscht den Umgang mit symbolischen Gesten. In einer Rede vor Studierenden an der Universität in Kairo am 4. Juni 2009 sprach er von „neuen Anfängen“ in der Beziehung zwischen den USA und der arabischen Welt, er sprach von „Frieden“ und vor allem von „gegenseitigem Respekt“. Obama verglich in seiner Rede die Situation der PalästinenserInnen mit denen der Schwarzen in den USA oder in Südafrika. Diese Äußerungen wurden in vielen arabischen Ländern positiv aufgenommen, sie wurden als Zeichen für eine neue Ebene der Verständigung gesehen. Gleichzeitig kam es zu starkem Widerspruch aus Israel und auch von vielen US-amerikanischen Politikern (Republikanern wie Demokraten).

Die große Begeisterung nach dieser Obama-Rede verblasste im arabischen Raum, spätestens als klar wurde, dass seine Vertreter in der UN den »Goldstone-Report« ablehnen würden – jenen Report, der im Auftrag der UN erstellt worden war, um eine völkerrechtlich Bilanzierung des Gaza-Krieges vorzunehmen. Der 575 Seiten umfassende Bericht beschuldigte sowohl Israel als auch die Hamas der Kriegsverbrechen. Die israelische Armee sieht sich in dem Bericht jedoch mit deutlich weitergehenden Vorwürfen konfrontiert als ihre palästinensischen Gegner. Dazu gehört die unterschiedslose Tötung von Zivilisten, der Einsatz international geächteter Phosphormunition und die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur – einschließlich Schulen und Krankenhäusern.

Einfrieren des Siedlungsbaus?

»Land für Frieden«, das ist die Formel die dem Oslo-Prozess und der Road-Map zugrunde liegt. Durch einen Verzicht Israels auf die 1967 eroberten Gebiete soll die Grundlage für einen lebensfähigen palästinensischen Staat gelegt werden. Eine vertraglich garantierte friedliche Koexistenz und Friedensverträge mit den arabischen Nachbarn sollen den Friedensprozess absichern. Doch ein großer Teil des Landes, das für einen palästinensischen Staat vorgesehen ist, wird massiv durch Mauerbau, Straßen und Siedlungsbau von Israel in Besitz genommen. 460.000 Siedler leben in den besetzten Gebieten, beinahe 200.000 davon im annektierten Ost-Jerusalem.

Nach internationalem Recht sind die israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland illegal. Sie verstoßen gegen das Völkerrecht, das einer Besatzungsmacht verbietet, Bürger aus ihrem eigenen Territorium in besetztes Gebiet zu transferieren (Vierte Genfer Konvention, Artikel 49), und sie befinden sich in Widerspruch zur UN-Resolution 478 von 1980. Bereits in der Road Map wurde deswegen ein Siedlungsstopp festgelegt, doch noch keine US-Administration hat bisher entschlossen auf eine Durchsetzung gedrängt.

Im Gegenteil, George W. Bush hat im April 2004 in einem Briefwechsel mit Ariel Sharon signalisiert, die USA würden die geschaffenen Fakten als „realities on the ground“ 2 anerkennen und von Israel nicht verlangen, die Hauptsiedlungsblöcke zu räumen. Daraus leitet die israelische Regierung bis heute das Recht ab, wenigstens innerhalb dieser Hauptsiedlungsblöcke (einschließlich des annektierten Ost-Jerusalem) neuen Wohnraum für Israelis bauen zu können. Entsprechend groß war die israelische Irritation, als plötzlich unter Obama von Seiten der US-Administration ein totaler Baustopp als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Palästinensern verlangt wurde. Bei einem Treffen Mitchells mit Netanjahu im August 2009 in London wurde allerdings deutlich, dass die Position der USA doch nicht so fest war und die US-Administration einen Kompromiss suchte.

Das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Mitchell und der israelischen Regierung war dann ein zehnmonatiges Moratorium, in dem keine neuen Bauten entstehen sollen. Ostjerusalem bleibt von dieser Regelung aber ausgenommen.

Die israelische Friedensgruppe »Peace Now« beobachtet seit Jahren die Entwicklung der Siedlungen und sie wies in einer Studie im Dezember 2009 daraufhin, dass durch Ausnahmen und Tricks während des Siedlungsmoratoriums mit einem höheren Bauvolumen zu rechnen ist als im Jahr zuvor (Lara Friedman, Peace Now, 10.12.2009). Insgesamt wird trotz des offiziell »eingefrorenen« Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten zur Zeit mehr gebaut als im gesamten israelischen Kernland. US-Außenministerin Hillary Clinton bezeichnete Netanyahus Siedlungsbaukompromiss dessen ungeachtet als „bisher einmaliges“ Angebot.

Für die Palästinenser und die arabischen Nachbarn Israels ist diese Entwicklung extrem enttäuschend. Dennoch ist durch die Auseinandersetzung um ein Siedlungsmoratorium die internationale öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Thema stark gewachsen. Folgen dieser erhöhten Aufmerksamkeit jedoch keine konkreten Veränderungen, kann die Situation regional eskalieren, möglicherweise bis hin zu einer dritten Intifada.

Gemeinsame Sicherheitsinteressen

Vor dem Amtsantritt Obamas spekulierte die israelische liberale Tageszeitung Ha“aretz (25.12.2008), dass Obama Israel zwingen könnte, Inspektionen im israelischen Reaktor Dimona zuzulassen. Obama setzte die Frage der atomaren Abrüstung durch seine engagierte Rede in Prag im Vorfeld des NATO-Jubiläumsgipfels Anfang April 2009 dann auch tatsächlich wieder auf die internationale Agenda. Im Nahen Osten hat die Frage der atomaren Bewaffnung eine besondere Brisanz. Israel, das nie dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist, verfügt über geschätzte 200 bis 500 atomare Sprengsätze (vgl. Jürgen Rose in W&F, 4/2004, S.51-54). Es wachsen die Spannungen zwischen Israel und Iran, und gleichzeitig nimmt der internationale Druck auf den Iran zu, die Urananreicherung einzustellen, um keine eigenen Atomwaffen produzieren zu können. Unter diesen Umständen ist es sehr zu begrüßen, dass es – wohl auf Druck der US-Administration – Ende September 2009 seit 30 Jahren ein erstes Treffen zwischen Israel und Iran gab (vgl. Silke Mertins in Financial Times Deutschland vom 23.10.2009). Das Geheimtreffen fand im Rahmen einer Konferenz der Kommission zur atomaren Nichtverbreitung und Abrüstung statt. Bereits im Mai 2009 hatte die US-Regierung sehr deutlich vor einem israelischen Angriff auf iranische Atomanlagen gewarnt (Aluf Benn in Ha“aretz 14.5.2009), was in Israels rechter Regierung für eine gewisse Verstimmung gesorgt hatte. Allerdings ist damit ein israelischer Angriff auf den Iran nicht ausgeschlossen, sondern lediglich an eine vorherige Koordination mit den USA gekoppelt. Offensichtlich versucht die US-Administration, Israel als treibenden Akteur im Nahen Osten in seine Schranken zu weisen, hält aber gleichzeitig an seiner Politik der Stärke und der »gemeinsamen Sicherheitsinteressen« zwischen Israel und den USA fest.

Nur wenige Tage nach dieser Warnung signalisierte am 21. Mai 2009 die Obama-Administration, dass sie Israel nicht zur Offenlegung seiner atomaren Fähigkeiten zwingen würde, sondern weiterhin die israelische Politik der nuklearen Ambiguität stützen wird.3 Ein Schritt in Richtung eines atomwaffenfreien Nahen Osten sieht anders aus.

Verbal ist bei Obama der Anti-Terror-Kampf aus dem Fokus verschwunden. Er positioniert sich nicht – wie sein Vorgänger – rhetorisch gegen eine »Achse des Bösen«. Dennoch bleibt es bei den wesentlichen Grundlagen des gemeinsamen »Antiterrorkampfes«, und in diesen ist und bleibt Israel eng eingebunden. Bereits in Oktober 2009 gab es gemeinsame Übungen zwischen NATO und der israelischen Marine zur Überwachung des Mittelmeers. Anschließend wurde öffentlich bekannt gegeben, dass Israel an der NATO-Antiterror-»Operation Active Endeavour« (OAE) mit einem Kriegsschiff teilnehmen wird. Dies kann auch als Anzeichen interpretiert werden, dass der Plan einer möglichen NATO-Mitgliedschaft Israels von den USA ernsthafter als bisher verfolgt wird. Auf jeden Fall beteiligt sich die NATO damit direkt an der seeseitigen Blockade Gazas.

An der Nase herumgeführt?

Viele Kommentatoren urteilen, dass sich der in der internationalen Politik noch unerfahrene Obama von der israelischen Regierung an der Nase herumführen lasse. Sollte das stimmen, dann nur deshalb, weil Obama und seine Berater es akzeptiert haben. Die USA sind alles andere als machtlos gegenüber Israel. Sie können z.B. ankündigen, zukünftig kein Veto mehr gegen Verurteilungen Israels im Sicherheitsrat einzulegen. Ebenso hängt Israel von Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützung für diese Waffenlieferungen ab.

Nach wie vor erhält Israel Militärhilfe in Milliardenhöhe. Am 23. November 2009 boten die USA die Kooperation bei hochmodernen Kampfflugzeugen an, das Arrow 3 Raketensystem wird vollständig von den USA für Israel beschafft. Und am 21. Dezember hat Obama 202 Millionen Dollar für ein israelisches Raketenabwehrprogramm genehmigt.

Ein weiterer wichtiger Hebel, den die USA in der Hand halten, ist die Kreditgarantie, die die USA regelmäßig für israelische Anleihen im Ausland geben. Unter George Bush Senior wurde dieser bereits erfolgreich gegenüber dem israelischen Premierminister Yitzhak Shamir eingesetzt. Als Shamir Ende 1991 nicht zur Madrider Friedenskonferenz mit der PLO kommen wollte, drohte Bush damit, die Garantien in Höhe von 10 Milliarden Dollar zurückzuziehen. Shamir fuhr nach Madrid. Jetzt hat Mitchell laut überlegt (BBC 10.1.2010), dass die USA diesen Schritt wiederholen könnten. Dass von dieser Drohung aber zur Zeit kein größerer Druck ausgeht, liegt daran, dass im Juni letzten Jahres entsprechende Kreditgarantien für die nächsten zwei Jahre gegeben wurden. Hinzu kommt, dass Stimmen aus dem Weißen Haus zu hören waren, die sich gegen die Streichung der Garantien aussprachen.

2009: Ein verlorenes Jahr für den Friedensprozess

Das Jahr 2009 war ein verlorenes Jahr für den Friedensprozess. Wird 2010 besser? „Irgendwann muss die Administration der Tatsache ins Auge sehen, dass die Gräben zwischen beiden Seiten heute größer sind als gestern, und selbst gestern waren sie schon unüberwindba“ 4, schreibt Robert Malley, Direktor des Nahost-Programms der »International Crisis Group« und ehemaliger Nahostberater Bill Clintons.

Am 4. Januar 2010 berichtete die israelische Tageszeitung Ma“ariv von einer neuen Initiative des US-Vermittlers Mitchell, die Verhandlungen auf zwei Jahre zu begrenzen und ohne Vorbedingungen sofort beginnen zu lassen. Ob dies wirklich erfolgversprechend sein wird, hängt neben dem Ende der Belagerung des Gazastreifens von zwei wesentlichen Punkten ab. Zum einen müssen die Vermittler, und da spielen im Nah-Ost-Quartett die USA die wichtigste Rolle, tatsächlich entschlossen sein, auch Druck auf die israelische Regierung auszuüben. Zum anderen sind auf der palästinensischen Seite dringend Neuwahlen nötig. Abbas hat keine Autorität mehr. Die Wahlen müssen von der PA und der Hamas gemeinsam organisiert werden, wenn die Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht dauerhaft zementiert werden soll. Das Nahost-Quartett muss nach dieser Wahl die Entscheidung der palästinensischen Bevölkerung – wie auch immer diese ausfallen sollte – anerkennen. Nur eine solche repräsentative palästinensische Regierung wird in einen Verhandlungsprozess stark und glaubwürdig agieren können und gleichzeitig auch die Autorität haben, dafür sorgen zu können, dass der Raketenbeschuss auf israelische Städte eingestellt wird.

Es bleibt zu hoffen, dass Obamas angeschlagene Administration die Kraft und vor allem den politischen Willen findet, einen Verhandlungsprozess in Gang zu setzen, in den alle beteiligten Kräfte einbezogen werden und der einem gerechten Frieden zum Ziel hat.

Anmerkungen

1) http://www.aipac.org/Publications/SpeechesByPolicymakers/PC_08_Obama.pdf

2) Vgl. Settlement Report, Vol. 14 No. 3, May-June 2004.

3) Steve Sheffey, The Huffington Post – 13 Jan 2010.

4) http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-468/_nr-1260/i.html

Claudia Haydt ist Religionswissenschaftlerin und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung.

zum Anfang | Barack Obamas Ostasienpolitik: Eine Zwischenbilanz

von Andreas Henneka

Mit dem Eintritt in den Pazifikkrieg im Dezember 1944 und den sich daraus ergebenden Konsequenzen sind die USA zu einer ordnungsbestimmenden Kraft in Ostasien geworden. Der Wunsch, eigene Interessen zu wahren, sowie eine Vielzahl von Bündnisverträgen und die machtpolitische Rivalität gegenüber Russland und der VR China sorgen dafür, dass die Entwicklung in der Region unter fortwährender Beobachtung der Entscheidungsträger in Washington steht. Zu den außenpolitischen Herausforderungen der neuen US-Regierung unter Barack Obama zählt deshalb die Ausarbeitung eines klaren Konzepts, das den USA auch in den kommenden Jahrzehnten Handlungsfähigkeit und Einfluss in Ostasien sichert.

Enge Partnerschaft trotz vorhandener Spannungen

Mit Blick auf dieses im Wahlkampf formulierte Selbstverständnis ist zu erwarten gewesen, dass die politische Agenda, mit der Barack Obama sich Anfang November 2009 zu seinem Antrittsbesuch nach Tokio, Beijing und Seoul aufmachte, ambitioniert und couragiert klingen würde. Neben Fragen zur Klima- und Wirtschaftsentwicklung standen sicherheitspolitische Themen im Vordergrund. Grundsätzlich kann die Situation hinsichtlich der US-amerikanischen Außenbeziehungen zu den Staaten in der Region als günstig beschrieben werden. Das strategische Bündnis mit Südkorea, Japan und Taiwan steht ungeachtet mancher Kontroversen auf einem festen Fundament. Auch die Beziehung zur Volksrepublik China hat sich gefestigt, wie sich am Besuch George Bushs jun. während der Olympischen Spiele und einem im Juni 2008 getroffenen Abkommen über Zusammenarbeit in den Bereichen Energie und Umweltschutz zeigen lässt. Gleichzeitig prägt eine Reihe von Konflikten das Verhältnis der USA zur Region und damit ihre Politik. Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stehen die Auseinandersetzung um das nordkoreanische Raketen- und Nuklearprogramm sowie die Kontrolle über die Meerenge von Taiwan. Ein Blick auf die geostrategischen Gegebenheiten an Ort und Stelle macht deutlich, dass die politischen Leitlinien der in der Region aktiven Akteure von weiteren Konstanten beeinflusst werden.

Für die Vereinigten Staaten gehört Ostasien zu den strategisch wichtigsten Regionen. Festmachen lässt sich das schon an der Stärke der amerikanischen Truppen, die im gesamten Pazifikraum operieren. Laut Selbstauskunft des amerikanischen Oberkommandos im Pazifik, dem »U.S. Pacific Command«, beläuft sich die Zahl des Personals auf annähernd 250.000. Das entspricht einem Fünftel der Gesamtstärke der amerikanischen Streitkräfte. Allein die Seestreitkräfte unterhalten an Ort und Stelle mehr als 135.000 Personen sowie 180 Schiffe und 1.400 Flugzeuge. Es folgen die Landstreitkräfte mit 50.000 Angehörigen, davon vier Stryker Großverbände, die Luftstreitkräfte mit ca. 39.000 Personen und 350 Flugzeugen, über 13.000 Personen der U.S. Küstenwache sowie 1.200 Angehörige von teilstreitkräfteübergreifenden Spezialeinheiten. Es liegt auf der Hand, dass die ständige Bereitstellung dieser Militärmacht nicht allein der Einhegung des nordkoreanischen Nuklear- und Raketenprogramms bzw. der Sicherung der Schifffahrtswege in der Meerenge von Taiwan gilt. Auch die Ausübung der »Schutzmachtfunktion« gegenüber seinen regionalen Verbündeten macht die Aufrechterhaltung eines solch gewaltigen Militärapparats nicht zwingend erforderlich. Angesichts seiner technischen Fähigkeiten im Militärbereich wäre Washington zweifelsfrei in der Lage, die Sicherheit seiner Verbündeten mit weniger Personal und Gerät an Ort und Stelle zu garantieren. Es liegt deshalb nahe, die Zurschaustellung militärischer Stärke mit dem politischen Willen zu verknüpfen, gegenüber den beiden regionalen Großmächten VR China und Russland Präsenz zu zeigen. Denn ungeachtet mannigfaltiger Zusammenarbeit vertreten Washington, Moskau und Beijing in Ostasien unterschiedliche Interessen. Das Aufgabenfeld der amerikanischen Streitkräfte in der Region lässt sich demnach folgendermaßen zusammenfassen: Das Verhindern militärischer Auseinandersetzungen, Schutz der Verbündeten, Sicherung der Handelswege sowie die demonstrierte Fähigkeit, militärisch gegen jeden potentiellen Gegner zu bestehen.

Erwartungen an Obama

Die Kommentare ostasiatischer Tageszeitungen zur Wahl Barack Obamas zum 44. Präsidenten der USA fielen insgesamt verhaltener aus als die euphorische Berichterstattung ihrer westlichen Pendants. Das mag kulturelle Gründe haben. Zurückhaltung und leises Auftreten sind Attribute, die im Westen mit Blick auf asiatische Eigenschaften häufig auffallen. Sachlich betrachtet ist die Ursache für die gesetzten Reaktionen darin zu suchen, dass die Erwartungshaltung der ostasiatischen Staats- und Regierungschefs an den neuen Mann im Weißen Haus eine völlig andere ist als die der Europäer und der arabischen Welt. In europäischen Hauptstädten ist Erleichterung darüber zu spüren, dass die von der vergangenen US-Regierung gezogene Grenze zwischen einem »alten« und einem »neuen« Europa aufgehoben wurde. Gegenüber der arabischen Welt hat Barack Obama mit seiner versöhnlichen Rede in Kairo politischen Boden gut machen können. In Ostasien waren diese Debatten nie von sonderlichem Interesse, weil man schlicht nicht direkt davon betroffen war. Gleichwohl man das weniger polarisierende Auftreten des neuen Präsidenten wohlwollend zur Kenntnis nimmt, findet die Bewertung Obamas in Ostasien auf einer anderen Ebene statt. Dank wirtschaftlicher und militärischer Prosperität treten die ostasiatischen Länder mit großem Selbstbewusstsein auf. Institutionell rücken sie dank verschiedener Plattformen wie beispielsweise dem »Asean Regional Forum« immer enger zusammen. Die VR China ist mittlerweile zum größten Gläubiger der USA geworden. Und angesichts der politischen Veränderungsprozesse hat sich die Kooperation zwischen der VR China und den traditionellen Verbündeten der USA in der Region verstärkt. Im Mai 2008 stattete Präsident Hu Jintao Tokio einen Besuch ab, in dessen Verlauf eine Vereinbarung geschlossen wurde, die Gasvorkommen im ostchinesischen Meer gemeinsam zu erschließen. In Reaktion auf das Erdbeben in Sichuan leistete Japan große Hilfe. Auch im Militärbereich ist ein wachsender Austausch beider Länder zu beobachten. Verbessert hat sich auch das innerchinesische Verhältnis. Direkte Flüge zwischen der VR China und Taiwan und der wirtschaftliche Handel nehmen zu. Ungelöst bleibt die Einbindung Taiwans in internationale Organisationen, was Beijing wegen seiner Ein-China-Politik weiter blockiert. Im Verhältnis zwischen Südkorea und der VR China haben die Besuche auf höchster politischer Ebene zugenommen. Weitgehende Kooperationsvereinbarungen wurden getroffen, wie z.B. in den Bereichen Terrorismusbekämpfung, Klimaschutz und Freihandelsabkommen. Das beschriebene Bild zeigt, dass Obama in seiner Außenpolitik große Flexibilität und politische Geschicklichkeit an den Tag legen muss, wenn er sich in die wachsende Kooperation zwischen den ostasiatischen Staaten in einer für die USA gleichermaßen vorteilhaften Weise einbringen will. Die Rolle eines bestimmenden Akteurs werden die USA nur dann weiter füllen können, wenn es ihnen gelingt, allen Entscheidungsträgern in der Region das Gefühl zu vermitteln, als Partner ernst genommen zu werden.

Zugpferd oder lahmer Gaul

Barack Obama ist mit dem Versprechen in sein Amt gestartet, die Außenpolitik seines Landes auf ein neues, von gegenseitigem Vertrauen und Respekt geprägtes Fundament zu stellen. Damit hat er sich zum Hoffnungsträger jener stilisiert, die den offenen Dialog als eigentliches Werkzeug politischen Handelns verstehen. Ob sich Obama zum Zugpferd oder zum lahmen Gaul entwickelt, wird die Zukunft zeigen. Zum jetzigen Zeitpunkt, da auch in Washington die Konsolidierung der Wirtschaft im Vordergrund steht und die bevorstehenden Kongresswahlen Barack Obamas politischen Spielraum einschränken, ist es unmöglich, ein sicheres Urteil über seine weitere diese Region betreffende Außenpolitik zu fällen. Hingewiesen sei an dieser Stelle darauf, dass schon vor seiner Wahl Anzeichen zu erkennen waren, die gegen den von Vielen prophezeiten radikalen Neubeginn in der amerikanischen Außenpolitik sprachen. Wahrgenommen wurden sie angesichts der rasch um sich greifenden »Obamanie« kaum. Ein Blick auf die Mitglieder von Obamas engstem Beraterkreis macht deutlich, dass die Mehrzahl zu jenem Teil des politischen Establishments gehört, für den ein starkes Militär einen Eckpfeiler erfolgreicher Außenpolitik bildet. Ungeachtet des Bekenntnisses zur friedlichen Koexistenz wird die Option militärischer Gewalt als ultima ratio weiterhin Bestand haben. Ob sich so Dialogangebote beispielsweise gegenüber Nordkorea glaubhaft vermitteln lassen, ist fraglich. Vor allem zu Hause werfen Kritiker dem US-Präsidenten vor, mit seinem moderaten Auftreten in den vergangenen Monaten Schwäche gegenüber jenen signalisiert zu haben, die gegenüber dem Westen im allgemeinen und den USA im besonderen negativ eingestellt sind. Auch in Ostasien lassen sich Stimmen vernehmen, die Obamas Führungsstil, den seine Befürworter als besonnen, seine Gegner als zögerlich charakterisieren, als nicht angemessen betrachten. Sie warnen davor, dass in ihrer internationalen Bedeutung stetig wachsende Länder wie die VR China den gefälligen, bisher wenig verbindlichen Regierungsstil zum Anlass nehmen, Washingtons Bemühungen nur wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen, ohne sich auf konkrete Zusagen einzulassen. Stattdessen würden sie angesichts ihrer gewachsenen Machtstellung eigene Forderungen und Vorgaben formulieren. Im Westen wie im Osten verbindet die Kritiker die Einschätzung, dass Barack Obama in seiner Leistung durchschnittlich bleiben und nicht die erhoffte Kraft zur Erneuerung entfalten wird.

Mühsamer Start

In Peking ist es dem neuen US-Präsidenten nicht gelungen, seinen Gesprächspartner, Präsident Hu Jintao, in Kernfragen auf verbindliche Zusagen zu verpflichten. Was die Themen Klimaschutz und Wirtschaftskrise betrifft, ist es bei allgemein formulierten Absichtsbekundungen geblieben. Im Umgang mit Iran konnten keine für Washington befriedigenden Zusagen erreicht werden. Und auch in anderen sicherheitspolitischen Fragen, wie dem nordkoreanischen Nuklearprogramm oder der Nutzung des Weltraums, blieb es bei Formulierungen, die eine enge Zusammenarbeit in diesen Bereichen in Aussicht stellen. Immerhin wurde unter Obama der Austausch ranghoher Militärs zwischen beiden Länder wieder aufgenommen, der im Oktober 2008 wegen eines geplanten Waffengeschäfts mit Taiwan auf Eis gelegt worden war. Ob Obama dem Verkauf amerikanischer Waffen zustimmen wird oder nicht, ist auch nach seiner Rückkehr aus Ostasien noch nicht endgültig entschieden. Das bedeutet, dass weder Beijing noch Taipei auf ein klares Konzept Washingtons setzen können. Was die Beziehungen zu Japan betrifft, so stand der Antrittsbesuch in Tokio im Zeichen der neu gewählten Regierung unter Yukio Hatoyama und der wieder entbrannten Diskussion um die Verlagerung des amerikanischen Militärflughafens in Futenma auf Okinawa. Obwohl unter der Vorgängerregierung schon ein Abkommen über die Restrukturierung des Stützpunktes ausgehandelt wurde, hat die neue japanische Regierung durchgesetzt, das Thema in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe nochmals zu diskutieren. Zukünftig möchte Tokio nicht länger als »Juniorpartner« behandelt werden und erwartet in allen bilateralen Bereichen Gespräche auf Augenhöhe. Die Grundlagen des zwischen beiden Ländern bestehenden Sicherheitsvertrags stehen nicht zur Diskussion, beispielsweise aber die Frage, ob mit Nuklearwaffen bestückte amerikanische Zerstörer japanische Häfen anlaufen dürfen. Die in diesem Zusammenhang jüngst bekannt gewordene Existenz eines 1969 zwischen beiden Ländern unterzeichneten Geheimabkommens, das es mit Nuklearwaffen bestückten US-Kriegsschiffen erlaubt, japanische Häfen anzulaufen, hat in der japanischen Bevölkerung für großen Unmut gesorgt. Wie in Beijing, so lässt sich in Tokio der Versuch beobachten, das Ansehen und den politischen Einfluss durch den Ausbau nachbarschaftlicher Beziehungen zu stärken und den politischen Spielraum gegenüber den USA zu vergrößern. Manche Kommentatoren haben das Auftreten der chinesischen und japanischen Führung gegenüber Obama als arrogant und unnachgiebig beschrieben. Viele gehen davon aus, dass es dem US-Präsidenten in Tokio und Beijing nicht gelungen ist, sich als willenstarkes und durchsetzungsfähiges Zugpferd zu präsentieren. Demzufolge lässt sich als Höhepunkt seiner Ostasienreise der Besuch in Seoul bewerten, wo Obama keinen substantiellen Widerstand zu gewahren hatte. Das weitere Engagement Seouls in Afghanistan ist in »trockenen Tüchern«, und in Bezug auf Nordkorea scheint man sich über die Politik eines umfassenden Handels mit Pyongyang einig, der die bisherige Schritt-für-Schritt Strategie ablösen soll.

Leerlauf

Im Rückblick lässt sich festhalten, dass sich die Probleme in Ostasien seit Obamas Antritt nicht wesentlich verschärft haben. Konkrete Ergebnisse, geschweige denn Durchbrüche in den hier angerissenen Bereichen, hat es ebenfalls nicht gegeben. Harmonisch scheint unter dem Eindruck der bisherigen Zusammentreffen das Verhältnis zu Südkorea. Auch die Beziehung zu Japan wird stabil bleiben, wenngleich sich in Tokio unter der aktuellen Regierung neue Akzente im Umgang mit Washington abzeichnen. Schwierig bleibt die Politik gegenüber der VR China. Die wachsenden Investitionen in die chinesischen Luft- und Seestreitkräfte beobachtet Washington mit Sorge. Dennoch wird eine abgestimmte Politik mit der VR China allein wegen der wirtschaftlichen Verflechtung beider Länder immer wichtiger werden. In welche Richtung sich dabei die Allianz mit Taiwan bewegt, bleibt offen. Skeptisch ist insbesondere die Entwicklung zwischen Washington und Pyongyang zu sehen. Obamas Ankündigungen im Wahlkampf, sich ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch setzen zu wollen, stehen die Statements ranghoher Mitarbeiter – wie seiner Außenministerin Hillary Clinton – entgegen, dass ein offener und gleichberechtigter Dialog erst in Frage kommt, wenn Pyongyang sein Nuklearprogramm nachprüfbar aufgegeben hat. Dass die nordkoreanische Regierung ihr stärkstes Druckmittel ohne Gegenleistung aus der Hand gibt, ist freilich nicht zu erwarten. Die jüngsten Gespräche zwischen dem amerikanischen Sondergesandten Stephen Bosworth und nordkoreanischen Vertretern hatten die Funktion, die Lage zu sondieren. Konkrete Vorgaben für das weitere gemeinsame Vorgehen sind dabei nicht herausgekommen.

Andreas Henneka ist Doktorand und Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sein Forschungsinteresse gilt insbesondere den Bereichen der Friedens- und Konfliktforschung, Rüstungskontrolle sowie Außen- und Sicherheitspolitik mit dem regionalen Schwerpunkt Ostasien. Er gehört der W&F-Redaktion an.

zum Anfang | Rein rhetorischer Neubeginn

Die Obama-Administration setzt in ihrer Politik gegenüber Lateinamerika auf Kontinuität

von Tobias Lambert

Eine »Partnerschaft auf Augenhöhe« versprach Barack Obama seinen lateinamerikanischen AmtskollegInnen zu Beginn seiner Amtszeit. Das Verhalten gegenüber den PutschistInnen in Honduras und der Ausbau der militärischen Präsenz der USA in Kolumbien erstickten die Hoffnungen auf gleichberechtigte Beziehungen jedoch im Keim.

Das erste Zusammentreffen mit seinen lateinamerikanischen und karibischen AmtskollegInnen verlief vergleichsweise harmonisch. Auf dem Amerika-Gipfel im April 2009 in Trinidad und Tobago weckte US-Präsident Barack Obama große Hoffnungen auf dem Subkontinent. Bereits im Vorfeld hatte er bezüglich Geldsendungen und Telekommunikation eine leichte Lockerung der mittlerweile in fast ganz Lateinamerika abgelehnten Blockadepolitik gegenüber Kuba bekannt gegeben. Auf dem Gipfel selbst schlug Obama einen ungewohnten Ton an: „Wir haben uns manchmal abgekoppelt und manchmal wollten wir unsere Bedingungen diktieren“, kommentierte er den seit Formulierung der Monroe-Doktrin (1823) praktizierten Hegemonialanspruch der USA gegenüber Lateinamerika. Als künftige Leitlinie kündigte er eine Politik des „gegenseitigen Respekts und Zuhörens“ sowie eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“ an.

Neues Selbstbewustsein in Lateinamerika

Noch auf dem vorherigen Amerika-Gipfel in Argentinien 2005 wurde der damalige US-Präsident George W. Bush mit zahlreichen Protestaktionen begrüßt und die US-amerikanische Vision einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) vorerst beerdigt. Das Scheitern von ALCA offenbarte, dass die USA in ihrem »Hinterhof« im vergangenen Jahrzehnt deutlich an Einfluss verloren haben. Während Bushs Präsidentschaft wurden in den meisten lateinamerikanischen Ländern US-freundliche Eliten abgewählt. Zahlreiche politische Initiativen entstanden unter Ausschluss der USA. Venezuela und Kuba initiierten Ende 2004 einen solidarischen Staatenbund als Gegenentwurf zu ALCA, dem als Bolivarianische Allianz für die Amerikas (ALBA) heute unter anderem Bolivien, Nicaragua und Ecuador angehören. Auf Initiative Brasiliens hin wurde im Mai 2008 zudem die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) gegründet, der alle zwölf unabhängigen Länder Südamerikas angehören. Daneben wurden von Venezuela ausgehend Projekte wie der multistaatliche Fernsehsender »Telesur« und die »Bank des Südens« ins Leben gerufen.

Von den USA dominierte Finanzinstitutionen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Interamerikanische Entwicklungsbank büßten hingegen an Bedeutung ein. Gleiches gilt für die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in deren Rahmen der Unilateralismus der USA stets als Multilateralismus verkauft wurde, und die militärische Zusammenarbeit mit den USA unter Führung des US-Südkommandos (US-SOUTHCOM).

Das Scheitern von ALCA führte in der Folge zu einer Ausdifferenzierung der US-Lateinamerikapolitik nach Ländern und Regionen. Freihandelsabkommen werden heute bilateral, politische und militärische Bündnisse ad-hoc nach der jeweiligen politischen Konjunktur geschlossen. Grob schematisiert zielt die aktuelle US-Lateinamerikapolitik auf eine politische Isolierung Venezuelas, Boliviens und der übrigen ALBA-Staaten ab. Als Gegenpol sollen sozialdemokratisch regierte Länder wie Uruguay, vor allem aber die aufstrebende Regionalmacht Brasilien nach Möglichkeit in die eigene Politik eingebunden werden. Die neoliberalen Regierungen in Kolumbien, Peru, Panama, Mexiko und Chile genießen hingegen breiten US-amerikanischen Rückhalt bei weiteren Privatisierungen von Staatsunternehmen und Bodenschätzen, die in den Ländern selbst häufig zu gewalttätigen Konflikten führen. Besondere Beziehungen pflegen die USA zu Mexiko und den zentralamerikanischen Staaten, die durch Freihandelsabkommen und Migration eng mit dem Norden verbunden sind. In dem innerhalb Mexikos eskalierenden Krieg zwischen Regierung und verschiedenen Drogenkartellen unterstützt Obama wie sein Vorgänger Bush die massive Militarisierung innerhalb des Nachbarstaates. Doch für eine Kontinuität in der US-Lateinamerikapolitik sprechen am deutlichsten das Verhalten der US-Regierung gegenüber dem Putsch in Honduras und der Ausbau der US-Militärpräsenz in Kolumbien.

Der Putsch in Honduras als erster Test

Der Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya, den die rechten honduranischen Eliten am 28. Juni 2009 mit Hilfe des Militärs durchführten, wurde zum ersten ernsthaften Test für Barack Obama in Lateinamerika. Die Eliten warfen Zelaya unter anderem vor, mittels einer Verfassunggebenden Versammlung eine weitere Amtszeit angestrebt und Honduras durch den Beitritt zu ALBA dem (diesmal chavistischen) »Kommunismus« ausgeliefert zu haben.

Die Haltung der USA gegenüber der international isolierten De-Facto-Regierung blieb dabei von Beginn an abwartend. Obama stellte sich zwar zunächst rhetorisch hinter Zelaya und verhängte geringe Sanktionen. Von einem Putsch sprach er aber offiziell nicht. Das Flugzeug, das Zelaya am 28. Juni nach Costa Rica brachte, hatte zudem einen Zwischenstopp auf der nördlich von der Hauptstadt Tegucigalpa liegenden US-Militärbasis Soto Cano eingelegt.

Letztlich unterstützten die USA mit Nachdruck die Konsolidierung der auf dem Putsch basierenden politischen Machtverhältnisse. US-Unterhändler Thomas Shannon sorgte Ende Oktober dafür, dass ein Abkommen zwischen Zelaya und der de-facto-Regierung zustande kam. Dabei ließ sich die Verhandlungsdelegation von Zelaya offensichtlich über den Tisch ziehen: Dessen Rückkehr ins Präsidentenamt wurde in dem Abkommen nicht verpflichtend festgelegt, sondern dem Parlament überlassen. Anfang Dezember sprach es sich mehrheitlich dagegen aus.

Am 27. November ließ die Putschregierung zudem die bereits vor dem Putsch für diesen Tag geplanten Wahlen durchführen. Obwohl diese in einem Klima der Repression gegen die Widerstandsbewegung sowie unter Einschränkung der Pressefreiheit stattfanden, erkannten die USA neben US-freundlichen Ländern wie Costa Rica, Panama, Peru und Kolumbien Wahlsieger Pepe Lobo von der Nationalen Partei umgehend an.

Am Beispiel Honduras zeigt sich die Umsetzung der von Hillary Clinton bereits vor Obamas Amtsantritt beschworenen Strategie der »smart power« (»intelligente Macht«). Diese stellt eine Mischung aus Elementen der »hard power« (»harte Macht«) und »soft power« (»weicher Macht«) dar. Während »harte Macht« die Durchsetzung politischer Ziele durch militärischen Druck bedeutet, beschränkt sich »weiche Macht« darauf, die Gefolgschaft anderer Staaten mit sanfteren Mitteln wie Diplomatie oder kulturellen Einflüssen herzustellen. »Intelligente Macht« hingegen kann von Fall zu Fall unterschiedlich eingesetzt werden und ist aufgrund der großen Bandbreite möglicher Instrumente schwerer zu durchschauen.

Viele soziale Bewegungen in Lateinamerika und die Regierungen der ALBA-Staaten sehen in dem Putsch in Honduras einen Angriff auf ALBA selbst und die demokratischen Transformationsprozesse in der Region. Ähnliche Bestrebungen mit teils massiver Einflussnahme seitens der US-Regierung unter George W. Bush waren 2002 beim kurzzeitigen Putsch in Venezuela und 2008 bei den sezessionistischen Unruhen im oppositionell dominierten Tiefland in Bolivien gescheitert. Die venezolanische Regierung selbst geht fest davon aus, dass ihr Einfluss in Zukunft auch mit militärischen Mitteln eingedämmt werden soll und der enge US-Verbündete Kolumbien dafür als Brückenkopf herhalten muss.

Kolumbien als Brückenkopf der USA

Am 30. Oktober 2009 unterzeichneten die USA und Kolumbien ein »Abkommen über Kooperation in militärischen Fragen«, das den US-Streitkräften für die kommenden zehn Jahre die Nutzung von sieben kolumbianischen Militärstützpunkten ermöglicht. Bereits seit dem Jahr 2000 unterstützten die USA Kolumbien im Rahmen des »Plan Colombia« mit bisher etwa sechs Milliarden US-Dollar. Die Unterstützung wurde mit dem »Krieg gegen die Drogen« begründet, diente aber von Anfang an auch der Bekämpfung der kolumbianischen Guerillagruppen und ziviler linker Strukturen. Das neue Militärabkommen soll laut Obama ausschließlich auf den innerkolumbianischen »Krieg gegen Drogen und Terrorismus« beschränkt sein. Die Nachbarländer Kolumbiens trauen diesen Aussagen allerdings spätestens seit dem gezielten Raketenangriff, den die kolumbianischen Streitkräfte mit Hilfe der USA im März 2007 auf ein Versteck der FARC-Guerilla in Ecuador verübten, kaum.

Fast alle südamerikanischen Staatschefs meldeten auf dem UNASUR-Gipfel Ende August letzten Jahres offen Bedenken hinsichtlich des Militärabkommens an, ohne dass sich die USA und Kolumbien davon abbringen ließen. Die Befürchtungen, dass von den Basen eine Bedrohung für die Region ausgehen könnte, sind dabei keineswegs aus der Luft gegriffen. Als die US-Luftwaffe im Mai 2009 beim US-Kongress 46 Millionen US-Dollar zum Ausbau der kolumbianischen Luftwaffenbasis Palanquero beantragte, hieß es zur Begründung, Palanquero sei „eine einmalige Gelegenheit, umfassende Operationen in einer kritischen Teilregion unserer Hemisphäre durchzuführen, in der Sicherheit und Stabilität ständig durch Rauschgift-finanzierte Aufstände, Anti-US-Regierungen, vorherrschende Armut und wiederkehrende Naturkatastrophen bedroht sind.“

Am deutlichsten protestiert die venezolanische Regierung gegen die Nutzung der Basen. Insgesamt elf Stützpunkte werden die USA künftig in unmittelbarer Nähe des Erdöl-Staates betreiben oder nutzen, darunter zwei Luftstützpunkte auf den Niederländischen Antillen, die nur wenige Kilometer vor der venezolanischen Küste liegen. Zusätzliche Sorge bereitet Venezuela die bereits Mitte 2008 erfolgte Reaktivierung der vierten Flotte des US-Südkommandos. Diese kreuzt an der lateinamerikanischen Atlantikküste und war seit 1950 nicht mehr aktiv. Wie groß die Skepsis gegenüber US-amerikanischer Militärpräsenz in Lateinamerika ist, zeigte sich auch im Zuge des US-Engagements nach dem Erdbeben in Haiti Mitte Januar dieses Jahres. Die Regierungen Venezuelas, Boliviens und Nicaraguas befürchten, dass die Militarisierung der Insel in die Errichtung einer weiteren dauerhaften US-Basis münden könnte.

Die US-Regierung lässt kaum eine Möglichkeit aus, die ihrer Meinung nach »den Fortschritt bedrohende« Rolle Venezuelas und dessen Präsidenten Hugo Chávez in der Region zu kritisieren und bekommt dabei tatkräftige Unterstützung durch die kolumbianischen Verbündeten. Seit letztem Jahr verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Venezuela und Kolumbien rapide. Venezuela rüstet mit Hinweis auf die mögliche Bedrohung weiter auf und vergibt Milliardenaufträge nach Russland, weil die USA bereits seit 2005 keine Waffen mehr nach Venezuela verkaufen. Brasilien gab im vergangenen September sogar noch umfangreichere Waffendeals mit Frankreich bekannt. Hillary Clinton zeigte sich allerdings nur über die venezolanischen Waffenkäufe „besorgt“. Dabei beliefen sich die Militärausgaben Venezuelas im Jahr 2008 auf vergleichsweise geringe 1,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), während sich der Wert in Brasilien auf 1,6 Prozent und in Kolumbien gar auf 5,6 Prozent des BIP belief.

Das State Departement und vor allem das Pentagon verfolgen gegenüber Lateinamerika eine Politik, die den von Obama zu Beginn seiner Amtszeit getroffenen Aussagen teilweise offen entgegen steht und das Konfliktpotenzial in der Region deutlich erhöht. Im Rahmen einer Strategie der »intelligenten Macht« stellt dies womöglich keinen Widerspruch dar. Für einen Neubeginn und eine »Partnerschaft auf Augenhöhe« reicht ein rein rhetorischer Schwenk jedoch nicht aus.

Tobias Lambert ist Mitarbeiter der Zeitschrift »Lateinamerika-Nachrichten«.

zum Anfang | Die Klimapolitik der Obama-Regierung

von Jürgen Scheffran

Als US-Präsident Barack Obama am 10. Dezember 2009 in Oslo den Friedensnobelpreis in Empfang nahm, wurde seine Rede bei der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen auf einer Leinwand übertragen. Bald waren zahlreiche Konferenzteilnehmer, darunter internationale Medienvertreter, um das Spektakel versammelt. Nachdem Obama seine Rede beendet hatte, erhielt er mäßigen Applaus. Manchen schien entgangen zu sein, dass er den Friedensnobelpreis zum Anlass genommen hatte, aktuelle und zukünftige Kriege der USA in der Welt zu rechtfertigen.

Als Obama dann eine knappe Woche später am 18. Dezember in Kopenhagen auftrat, waren die Erwartungen groß. Die seit zwei Wochen andauernden Verhandlungen waren festgefahren. Der Konflikt zwischen dem Schutz des Weltklimas und den Interessen an einem anhaltenden Wirtschaftswachstum schienen unüberwindlich. Längst verlief die Trennungslinie nicht mehr nur zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Aufstrebende Länder wie China und Indien wollten sich ihre nachholende Entwicklung nicht von den reichen Indutrienationen beschneiden lassen, die selbst über Jahrzehnte hinweg ungehemmt die Atmosphäre als Deponie für ihre Treibhausgase benutzt hatten. Das Dilemma wurde besonders für die ärmsten Länder offenkundig: sie haben bislang am wenigsten zur globalen Erwärmung beigetragen, werden jedoch am stärksten betroffen sein.

Dass Obama diesen gordischen Knoten auflösen könnte, sahen manche als letzten Hoffnungsschimmer, die Klimaverhandlungen noch zu retten. Sie wurden jedoch enttäuscht. Statt substanzieller Zugeständnisse, die die Fronten hätten in Bewegung bringen können, hatte der Repräsentant des historisch größten Umweltverschmutzers lediglich weitere Rhetorik im Gepäck. Daher konnte der Versuch, die Staats- und Regierungschef der Welt zu einem Deal in letzter Minute zu bewegen, nicht erfolgreich sein. Obamas Strategie, eine Vereinbarung der USA mit den Schwellenländern China, Indien, Brasilien und Südafrika zu erzielen, schloss die Europäer ebenso aus wie die ärmeren Entwicklungsländer, also die Staatengruppen, die am stärksten auf konkrete Verpflichtungen gedrängt hatten. Dementsprechend blieb der weniger als vier Seiten umfassende »Copenhagen Accord« ein Minimalkompromiss der Staaten, die konkrete Klimaschutzmaßnahmen auf einen späteren Zeitpunkt verschieben wollen. Die politische Erklärung sieht vor, die Erderwärmung auf zwei Grad bis Ende des Jahrhunderts begrenzen zu wollen (was für die USA immerhin ein Novum bedeutet), sowie finanzielle Zusagen der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern. Die von vielen geforderten und erwarteten konkreten Reduktionsziele für den Ausstoß von Treibhausgasen konnten nicht erreicht werden. Zudem blieb die Vereinbarung unverbindlich, da eine Zustimmung anderer Staaten, die bei der Aushandlung nicht beteiligt waren, nach einer teilweise chaotischen Nachtsitzung nicht mehr möglich war. Damit war nach Ansicht der meisten Kommentatoren der Klimagipfel von Kopenhagen gescheitert.

Der amerikanische Präsident, der vor dem Ende der Konferenz bereits abgereist war, bezeichnete das Ergebnis jedoch als „bedeutsamen und beispiellosen Durchbruch“, als ersten Schritt auf dem Weg zu einem rechtlich bindenden Abkommen. Besonders auf die heimische Öffentlichkeit zielte die Aussage, er habe China wichtige Zugeständnisse bei der Überprüfung zukünftiger Emissionsverpflichtungen abgerungen. In Teilen der US-Medien wurde der Eindruck erweckt, erst durch den persönlichen Einsatz des Politstars aus Washington sei es möglich geworden, einer zerstrittenen Weltgemeinschaft den Weg zu weisen. Mit dem Ergebnis zufrieden war, neben China, auch Saudi Arabien, dessen Delegierter sich bemüht hatte, den von einem Meeresspiegelanstieg am stärksten betroffenen kleinen Inselstaaten entgegen zu halten, die Vermeidung von CO2-Emissionen würde für sein Land ein großes Opfer bedeuten.

Nach dem Debakel von Kopenhagen begannen die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Dabei wurde von westlichen Politikern und Medien vor allem der seit kurzem größte Emittent China als Hauptverantwortlicher ausgemacht, ungeachtet der Tatsache, dass hier die CO2-Emissionen pro-Kopf ein Vielfaches unter denen der USA liegen (und auch deutlich unter denen Europas). Nicht-Regierungs-Organisationen gingen auch mit der US-Regierung hart ins Gericht, wobei einige US-NGOs aber angesichts der Widerstände im eigenen Land immer noch Verständnis für Obama hatten.

Als frischgebackener Präsident hatte Barack Obama noch große Versprechungen für den Klimaschutz gemacht: „Meine Präsidentschaft wird ein neues Kapitel in der Führerschaft Amerikas zum Klimawandel markieren, das unsere Sicherheit stärkt und in diesem Prozess Millionen neuer Jobs schafft. … Jetzt ist die Zeit, dieser Herausforderung ein für alle Mal zu begegnen. … Aufschub ist keine Option mehr. Leugnung ist nicht länger eine akzeptable Antwort.“ 1 Konkret stellte er in Aussicht, die CO2-Emissionen der USA bis 2050 um 80% zu reduzieren und 150 Milliarden US-Dollar in Technologien zur Energieeinsparung zu investieren.

Wie das erfolgen könnte, haben verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen aufgezeigt. Gerade weil der »American Way of Life« auf einem verschwenderischen Umgang mit natürlichen Ressourcen gründet, gibt es hier große Veränderungs- und Einsparpotenziale, die Spielräume für Politik schaffen. Von dem 80% Reduktionsziel wäre der allergrößte Teil durch technische Effizienzverbesserungen und Einsparungen in Transport, Energieerzeugung und in der Elektrizitätsversorgung zu erreichen, wobei die sogenannten »niedrig hängenden Früchte« wirksamer Maßnahmen besonders kostengünstig zu erreichen wären. Der Rest könnte durch die Umstellung des fossilen Energiesystems auf erneuerbare Energien erreicht werden sowie eventuell auch durch Maßnahmen der CO2-Lagerung, sofern diese kostengünstig und sicher zu realisieren sind. Die Voraussetzungen für ein Umdenken hatte u.a. der Schock durch den Hurricane Katrina im Jahr 2005 geschaffen, der die US-Gesellschaft aufgerüttelt hat. Aber auch der Klimafilm von Al Gore, der unbequeme Wahrheiten ans Licht gebracht hat, das Bewusstsein über die fatale Abhängigkeit vom Erdöl sowie zahllose Aktivitäten in Kommunen, Unternehmen und Bundesstaaten haben Veränderungen bewirkt.

Nach der Wirtschaftkrise von 2008 ist jedoch ein gegenläufiger Trend erkennbar. Eine treibende Kraft bleibt dabei die Lobby aus US-Erdölkonzernen, Kohleindustrie und andere Industriezweigen, die von dem alten ressourcenintensiven System profitieren und lieber auf nachsorgende Konzepte wie »saubere Kohle« (clean coal), Kernenergie und Manipulation des Klimasystems durch Geoengineering setzen. In jüngsten Umfragen hat der Klimaschutz in der US-Bevölkerung unter der Obama-Administration an Priorität verloren. Nur noch knapp die Hälfte aller US-Bürger glaubt an den Klimawandel und dass dieser von Menschenhand verursacht wird – rund 20% weniger als zwei Jahre zuvor.2 Dies überrascht nur bedingt in einem Land, in dem große Teile der Bevölkerung die Evolutionstheorie in Zweifel ziehen und eine Antihaltung zur Wissenschaft zum guten Ton unter Konservativen gehört. Die Enthüllung der E-Mails von britischen Klimaforschern war Wasser auf die Mühlen der Klimaskeptiker, wobei die Substanz dieser E-Mails weniger eine Rolle spielte als vielmehr ihre Nutzbarmachung in einer ideologisch zugespitzten Debatte. Dies wird daran erkennbar, dass republikanische Kongressabgeordnete ankündigten, nach Kopenhagen zu reisen, um dem »wissenschaftlichen Faschismus« entgegen zu treten.3

Angesichts anhaltender Widerstände ist die Realität in der Energie- und Klimapolitik der USA deutlich hinter den Wahlkampfversprechungen Obamas zurückgeblieben. Bedeutsam ist die Erklärung der Umweltschutzbehörde EPA (Environmental Protection Agency), Treibhausgase seien eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt, was es erlaubt, bestehende Gesetze anzuwenden. Bislang wurden einige staatliche Programme zum Umbau des Energiesystems aufgelegt, teilweise aus Extramitteln zur Belebung von Wirtschaft und Infrastruktur (»Stimulus Package«). Die EPA setzt in starkem Maße auf die Unterstützung freiwilliger Maßnahmen der Unternehmen, die im Umbau des Energiesystems einen Wachstumsmarkt der Zukunft erkennen. Hierzu gehören etwa die Programme »Climate Leaders«, »Energy Star« und »Clean Energy-Environment State Partnership«, mit der Energieeffizienz und -einsparung und saubere Energieerzeugung gefördert werden sollen. »WasteWise« ist ein freiwilliges Programm zur Reduzierung und Nutzung von Haushaltsabfällen, um klimaschädliche Methanemissionen aus Abfalldeponien zu vermeiden.

Unter den Gesetzes-Initiativen ist besonders das von den demokratischen Abgeordneten Henry A. Waxman (Kalifornien) und Edward J. Markey (Massachusetts) im Repräsentantenhaus vorgelegte »American Clean Energy and Security Act« (ACES, H.R. 2454) zu nennen, das am 26. Juni 2009 mit 219 gegen 212 Stimmen angenommen wurde. Damit hat erstmals eines der beiden Häuser im US-Kongress der Begrenzung von klimaschädlichen Treibhausgasen zugestimmt und einen rechtlichen Rahmen für die Schaffung eines Emissionshandelssystems vorgelegt. Um rechtlich verbindlich zu werden, bedarf der Entwurf jedoch der Zustimmung im US-Senat. Der von den Senatoren John Kerry (Massachussetts) und Barbara Boxer (Kalifornien) vorgelegte »Clean Energy Jobs and American Power Act« (Senate 1733) sieht die Verteilung von Emissionsrechten auf energieintensive Industriezweige vor, die ab 2012 gehandelt werden können, mit dem Ziel, die Treibhausgas-Emissionen im Zeitraum 2005 bis 2020 um 20% zu reduzieren (und nicht, wie im Kyoto-Protokoll vorgesehen im Zeitraum 1990 bis 2012). Die Kosten seien nach Schätzung der EPA moderat: Pro Haushalt werden zusätzliche Kosten von 80-111 US-Dollar pro Jahr erwartet, also rund 30 Cent pro Tag. Die Demokraten beabsichtigen, dieses Klimagesetz im Frühjahr 2010 im US-Senat durchzubringen, was angesichts der schwierigen Mehrheitsverhältnisse zu einem Kraftakt werden dürfte.

Während diese und andere Gesetzes-Initiativen in die richtige Richtung weisen, ist eine umfassende und integrierte Strategie, die die langfristig erforderlichen Klimaziele angehen würde, nicht erkennbar. Als Grund wird angeführt, dies sei im US-Kongress angesichts des anhaltenden Fundamentalwiderstandes der republikanischen Partei nicht durchsetzbar, ungeachtet einiger Stimmen, die sich zum Fürsprecher für den Klimaschutz gemacht haben wie der republikanische Gouverneur Kaliforniens, Arnold Schwarzenegger. Dementsprechend hat Präsident Obama der Klimapolitik auf nationaler Ebene bislang keine hohe Priorität gegeben und auch international wenig Engagement gezeigt. Die moderaten nationalen Ziele, die deutlich hinter den für eine internationale Vereinbarung notwendigen Zielen bleiben, müssen erst noch durchgesetzt werden.

Nach Ansicht von Naomi Klein reicht es nicht, das bisherige Versagen der US-Klimapolitik allein durch die Widerstände im US-Kongress zu erklären, denn die Regierung hätte durchaus Steuerungsmöglichkeiten gehabt, die sie aber nicht genutzt hat.4 Zu den verpassten Gelegenheiten gehöre das »Stimulus Package«, mit dem Obama die Chance hatte, Milliardensummen für den Ausbau des öffentlichen Transportsystems und die Schaffung intelligenter und dezentraler Elektrizitätsnetze auf Grundlage erneuerbarer Energien einzusetzen. Statt die Mittel für einen umfassenden Umbau des Energiesystems zu nutzen, machte er Zugeständnisse für Steuersenkungen, um die Unterstützung von Republikanern zu gewinnen, was diese jedoch eher als Schwäche auslegten und dazu nutzten, ihren Widerstand gegen Obama zu organisieren. Ebenso wenig nutzte er staatliche Hilfsprogramme für die danieder liegende Automobilindustrie, um diese zur Herstellung emissionsärmerer Fahrzeuge und Technologien zu veranlassen oder gar vom Auto weg zukommen. Und schließlich investierte die Regierung riesige Geldmittel in die Rettung von Banken, ohne dies etwa mit Auflagen zur Kreditvergabe für umweltfreundliche Unternehmen und Projekte zu verbinden.

Wenn der Staat die Wirtschaft retten muss, warum dann nicht auch zur Durchsetzung staatlicher Umweltziele? Wie Naomi Klein bemerkt, habe kein anderer US-Präsident seit Roosevelt so viele Gelegenheiten gehabt, „die USA in etwas zu transformieren, das die Stabilität des Lebens auf diesem Planeten nicht bedroht.“ Die Chancen für eine Transformation der Industriegesellschaft, für einen »Green New Deal«, seien verpasst worden.

Wäre Obama mit einer entsprechenden weitblickenden Agenda nach Kopenhagen gekommen, so hätte er die Führungsrolle für eine internationale Zusammenarbeit übernehmen können, die er in seinen Reden so gerne beansprucht. Ohne ein gemeinsames Vorgehen der Weltgemeinschaft besteht die Gefahr, dass sich die mit dem Klimawandel verbundenen Probleme und Risiken bestehende Konfliktlinien verschärfen und letztlich zu einem „Kampf aller gegen alle“ (Elinor Ostrom) führen.5 Obama selbst hatte in seiner Nobelpreisrede darauf hingewiesen: „Aus diesem Grund muss die Welt zusammen gegen den Klimawandel vorgehen. Es gibt wenig wissenschaftliche Zweifel daran, dass wir, wenn wir nichts tun, mehr Dürren, mehr Hunger, mehr Massenvertreibungen sehen werden – alles Entwicklungen, die noch jahrzehntelang weitere Konflikte verursachen werden. Aus diesem Grund fordern nicht nur Wissenschaftler und Umweltaktivisten schnelle und umfassende Maßnahmen – sondern auch militärische Befehlshaber in meinem Land und in anderen, die wissen, dass unsere gemeinsame Sicherheit auf dem Spiel steht.“ 6

Hier zeigt sich die Ambivalenz der Debatte über die sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels. Wenn das Kind (in diesem Falle die Welt) erst einmal in den Brunnen der Klimakatastrophe gefallen ist, dann könnte Politik zum Katastrophen- und Konfliktmanagement werden. Schon jetzt wird in den USA das Klimaproblem von Think Tanks und Politikern (wie jüngst von Joe Lieberman) als zukünftige Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen. Das dürfte nicht die Lösung des Klimaproblems sein, die Obama im Wahlkampf versprochen hat.

Anmerkungen

1) John Broder: Obama Affirms Climate Change Goals, New York Times vom 18. November 2008.

2) Obamas Problem: Klima ist für US-Bürger Nebensache, 07.12.2009, www.klimaktiv.de/article253_9266.html

3) Republikaner marschieren nach Kopenhagen gegen Obama, ZEIT Online vom 9. Dezember 2009.

4) Naomi Klein, For Obama, No Opportunity Too Big To Blow, http://www.commondreams.org/print/50882.

5) Interview mit Elinor Ostrom, SPIEGEL Online vom 17.12.2009, http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,667497,00.html

6) Für eine deutsche Übersetzung siehe: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Friedenspreise/obama.html

Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Physiker, lehrt am Klima-Campus und Institut für Geographie der Universität Hamburg. Er ist Mitglied des W&F Redaktionsteams.

Unsichtbare Wunden

Unsichtbare Wunden

Posttraumatische Belastungsstörungen als Folge von Krieg und Gewalt

von Fabian Virchow, Willi Butollo, Roger Braas und Karin Griese

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3/2009
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

»Sprechen über PTBS«

von Fabian Virchow

Sprechen über PTBS – so überschrieb das Monatsmagazin des Deutschen BundeswehrVerbandes im Juni einen Beitrag über „einsatzbedingte psychische Störungen bei Soldaten“ und konzedierte, dass dieses Problem in den letzten Monaten verstärkt öffentlich wahrgenommen und diskutiert würde.1 Dass unter den SoldatInnen Unzufriedenheit über die von der Bundeswehr angebotene medizinische Betreuung in Sachen »Posttraumatische Belastungsstörung« (PTBS bzw. engl. PTSD/Post-Traumatic Stress Disorder) herrscht, ging aus einem kurz darauf veröffentlichten Beitrag hervor: „So müssten sich eigentlich 40 Bundeswehr-Ärzte um das Problem kümmern, es seien jedoch nur 22 Stellen besetzt. Am Einsatzort sei es fast unmöglich, kompetente Ansprechpartner zu finden“.2 Aufgrund dieser Situation sei die Gefahr einer (zu) späten Diagnostizierung gegeben.

Die Bundeswehr sieht sich im Zuge der Umwandlung der Bundeswehr zu einer »Armee im Einsatz« auch mit einer wachsenden Zahl von Todesfällen oder kriegsbedingten Erkrankungen in den eigenen Reihen konfrontiert. Zu letzteren zählt die PTBS/PTSD „als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“.3 PTBS/PTSD umfasst verschiedene psychische bzw. psychosomatische Symptome, die chronisch werden können oder als Trauma relevant werden. PTBS/PTSD tritt nicht nur als Folge von Kriegshandlungen auf, sondern insbesondere in Verbindung mit tief in die Persönlichkeit des betroffenen Individuums eingreifenden Gewalterfahrungen, z.B. bei KZ-Häftlingen oder in Fällen sexualisierter Gewalt. Im Unterschied zur akuten Belastungsreaktion spricht man von PTBS/PTSD ab einer Dauer von einem Monat.

Die PTBS/PTSD-Symptome wurden bereits früh vom Freud-Schüler Abram Kardiner aufgeführt4; zu diesen gehört das wiederholte Erleben des Traumas mit Gefühlen extremer Angst, von Entsetzen und Hilflosigkeit. PTBS/PTSD wird erlebt als Gefühl des Betäubtseins und emotionale Abstumpfung bzw. Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit gegenüber der Umwelt. Häufig kommt es auch zu übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlafstörung sowie zu Depressionen, die bis zu Suizidgedanken reichen. In manchen Fällen chronifiziert sich die Störung und geht in andauernde Persönlichkeitsveränderungen über. Als Diagnose fand PTBS/PTSD erstmals 1980 Eingang in das international relevante, von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebene Diagnose-Handbuch DSM III (aktuelle Fassung: DSM IV), wo es unter 309.81 als Form der Angststörung aufgeführt wird.

In der Forschung sind Risikofaktoren identifiziert worden, die einzeln oder in Kombination das Auftreten von PTBS/PTSD wahrscheinlichkeitstheoretisch begünstigen; als prätraumatische Risikofaktoren liegen diese zeitlich vor dem traumatischen Ereignis (z.B. bereits existierende psychische Probleme, sozial Isolation, Aufwachsen in Armut, soziale Marginalisierung, Dissozialität eines Elternteils, autoritäres elterliches Verhalten).5 Die Risikofaktoren können jedoch auch in der traumatischen Erfahrung selbst begründet sein oder als posttraumatische Risikofaktoren auftreten.

Vom »Kriegszitterer« zu PTSB/PTSD

Auch wenn PTBS/PTSD erst im Jahr 1980 als klinischer Zustand offiziell anerkannt wurde, gab es für das Krankheitsbild bereits in den früh(er)en Kriegen des 20. Jahrhunderts die Bezeichnung »Kriegsneurose« (»shell shock«). Als »Kriegszitterer« wurden jene Soldaten des Ersten Weltkriegs bezeichnet, die von schwerem Schüttelfrost gebeutelt wurden. Während für die Erkrankung die spezifische Konstellation eines lang andauernden Stellungs- und Grabenkrieges mit massivem Granatbeschuss verantwortlich gemacht werden kann6, wurden die betroffenen Soldaten – erleichtert durch die Vielzahl der auftretenden Krankheitsbilder, die sich nicht auf Bewegungsstörungen beschränkten – häufig als »Drückeberger« denunziert. Entsprechend sollten die Soldaten mit Eiswasserergüssen, wochenlangen Isolationsfoltern oder Elektroschocks zur Räson gebracht (»behandelt«) werden. Die Methode der Faradisation mittels elektrischer Ströme trat dabei in den Vordergrund: die betroffenen Soldaten erhielten Elektroschocks, denen sich militärische Kommandos anschlossen bis sie die Flucht aus der Krankheit in die Gesundheit antraten und »freiwillig« an die Front zurückkehrten.7 Auch mit anderen Methoden wie Hypnose konnte die sogenannte »Frontfähigkeit« nur in wenigen Fällen wieder hergestellt werden. Daher lag das Interesse des Kriegsministeriums bald beim Bemühen, die Erkrankten wieder arbeitsfähig zu machen – etwa in den rückwärtigen Munitionsfabriken –, um die mit etwaigen Rentenansprüchen verbundenen ökonomischen Kosten möglichst gering zu halten. Hinsichtlich der sogenannten »Kriegsneurosen« in Deutschland während und nach dem Ersten Weltkrieg war sich die deutsche Kriegspsychiatrie mit der großen Mehrheit der bürgerlichen Intelligenz, des Offizierskorps und der Generalität darin einig, der vermuteten kontraselektorischen Auswahl des Krieges gegenzusteuern.

Mit den ersten militärischen Niederlagen der Nazi-Wehrmacht stellten sich erneut spezifische »Kriegsneurosen« ein; die Häufung von Übelkeit und Erbrechen führte zur Aufstellung sogenannter »Magenbataillone«. Quasi in Radikalisierung der bereits im Ersten Weltkrieg anzutreffenden starken Tendenz der Kriminalisierung kriegsneurotischer Patienten8 bemühten sich Militärpsychiatrie und eine rücksichtslose Kriegsgerichtsbarkeit darum, dass die Angst vor Bestrafung größer war als die Angst vor dem Krieg.9

Nach Schätzungen des dem US-Amt für Veteranen-Angelegenheiten zugeordneten » National Center for Post-Traumatic Stress Disorder« (http://www.ncptsd.va.gov/ncmain/index.jsp) litt jeder Zwanzigste der US-Soldaten des Zweiten Weltkrieges an PTBS/PTSD-Symptomen; noch im Jahr 2004 erhielten 25.000 Veteranen dieses Krieges Kompensationszahlungen wegen PTBS/PTSD-Erkrankungen. Aus einer Zusammenstellung verschiedener Studien durch den »San Francisco Chronicle« ergeben sich für den Vietnam-Krieg, die Golfkriege 1991 und 2003 sowie den Krieg in Afghanistan folgende Zahlen zum Auftreten von PTBS/PTSD bei US-amerikanischen SoldatInnen10:

bei 15,2% der eingesetzten männlichen und 8,1% der weiblichen Vietnam-SoldatInnen (479.000 bzw. 610) wurden PTBS/PTSD-Symptome festgestellt;

34% aller männlichen Vietnamkriegsteilnehmer waren nach ihrer Rückkehr mehr als einmal inhaftiert; 11,5% wurden wegen schwerer Verbrechen verurteilt;

im Jahr 2004 erhielten noch 161.000 Vietnam-Veteranen Kompensationen wegen Berufsunfähigkeit;

nach dem Golfkrieg 1991 zeigten 3% der Männer und 8% der Frauen unmittelbar nach der Rückkehr aus dem Einsatz PTBS/PTSD-Symptome; deren Zahl stieg auf 7% bzw. 16% in der Zeitspanne von 18 bis 24 Monaten nach Rückkehr;

von 45.880 ehemals in Afghanistan eingesetzten SoldatInnen zeigten 18% psychologische Auffälligkeiten, darunter 183 Personen mit PTBS/PTSD-Symptomen;

nach dem Irak-Krieg 2003 zeigten 20% der 168.528 VeteranInnen psychologische Fehlsteuerungen, darunter 1.641 mit PTBS/PTSD (Veterans Affairs); eine vorhergehende Untersuchung kam zum Ergebnis, dass 12.500 von knapp 245.000 VeteranInnen Beratungszentren zur Behandlung entsprechender Probleme aufgesucht hatten; aufgrund der stärkeren Beteiligung an Kampfhandlungen waren SoldatInnen der Marines und des Heeres viermal öfter von PTBS/PTSD betroffen als andere Truppenteile;

60% der Irak-SoldatInnen aus Kampfeinheiten, die ernsthafte Symptome wie schwere Depression und PTBS/PTSD zeigten, vermieden es, sich medizinischer Betreuung anzuvertrauen, weil sie befürchteten, sie würden von den Kommandeuren und ihren Kameraden dann anders behandelt.

Mit Blick auf die beiden Kriegseinsätze im Irak und in Afghanistan drückt der Mitarbeiter des »Boston Veterans Affairs Healthcare System« Brett T. Litz seine Besorgnis aus: da zahlreiche Studien gezeigt hätten, dass die Häufigkeit und die Intensität der Teilnahme an Kampfhandlungen linear korreliert mit dem Risiko chronischer PTBS/PTSD-Erkrankung und in beiden Ländern die seit langem stärksten Kämpfe mit US-Beteiligung stattfänden, gäbe es Grund zur Annahme, dass eine neue Generation von PTBS/PTSD-geschädigten VeteranInnen entstehe.11

Deutschland

Die Zahl der soldatischen PTBS/PTSD-Erkrankungen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen: der Wehrbeauftragte spricht – unter Hinweis auf eine zusätzliche hohe Dunkelziffer – von einer Verdreifachung der Fälle vom Jahr 2006 (83) bis zum Jahr 2008 (245), wobei die große Mehrzahl in Verbindung mit dem ISAF-Einsatz aufgetreten sei.12 Die Bundeswehr widmet dem Problem vermehrt Aufmerksamkeit13 und das Thema – einschließlich der auch wissenschaftlich belegten zerstörerischen Auswirkungen, die PTBS/PTSD auf das familiäre Umfeld von SoldatInnen haben kann14 – ist inzwischen Gegenstand populärkultureller Fernsehproduktionen wie etwa in dem Film »Nacht vor Augen«, der von Seiten der Bundeswehr für seine realistische Darstellung gelobt wurde. Einen Anlass dazu, die zerstörerische Wirkung des Krieges auch auf jene, die an ihm aktiv beteiligt sind, ganz grundsätzlich zu überdenken, sehen die politisch und militärisch Verantwortlichen offenbar nicht. Wird man von der Bundeswehr also keine grundsätzlich kritische Auseinandersetzung mit der durch Krieg erzeugten Brutalisierung erwarten können, so erstaunt doch, dass angesichts der vorliegenden Forschungsergebnisse zu den Ursachen und Kontextvariablen von PTBS/PTSD die Anforderungen an zukünftige BundeswehrsoldatInnen hinsichtlich ihrer Stressresistenz abgesenkt wurden.

Anmerkungen

1) Sprechen über PTBS, in: Die Bundeswehr 6/2009, S.65.

2) PTBS – Es muss noch einiges getan werden, in: Die Bundeswehr 7/2009, S.39.

3) Klassifikation »Posttraumatische Belastungsstörung« nach ICD10 F43.1; die ICD 10 ist die von der WHO erstellte internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme.

4) Vgl. Theo Meißel (2006): Freud, die Wiener Psychiatrie und die »Kriegszitterer« des Ersten Weltkrieges, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit Heft 1: 40-56.

5) Vgl. Gottfried Fischer & Peter Riedesser (2003): Lehrbuch der Psychotraumatologie, Stuttgart, S.148; Jennifer L. Price (2004): Findings from the National Vietnam Veterans‘ Readjustment Study – Factsheet. National Center for PTSD; Gina P. Owens et al. (2009): The Relationship Between Childhood Trauma, Combat Exposure, and Posttraumatic Stress Disorder in Male Veterans, in: Military Psychology 21(1): 114-125.

6) Peter Leese (2002): Shell Shock: Traumatic Neurosis and the British Soldiers of the First World War, Basingstoke.

7) Vgl. die Dissertation von Frank Heinz Lembach mit dem Titel »Die ‚Kriegsneurose‘ in deutschsprachigen Fachzeitschriften der Psychiatrie und Neurologie von 1889-1922« (Universität Heidelberg) sowie Paul Lerner (2003): Hysterical men: war, psychiatry, and the politics of trauma in Germany, 1890-1930, Ithaca, N.Y.

8) Peter Riedesser & Axel Verderber (1985): Aufrüstung der Seelen: Militärpsychiatrie und Militärpsychologie in Deutschland und Amerika, Freiburg i. Br.

9) Klaus Blaßneck (2000): Militärpsychiatrie im Nationalsozialismus. Kriegsneurotiker im Zweiten Weltkrieg, Baden-Baden; Roland Müller (2001): Wege zum Ruhm: Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Marburg. Köln.

10) Jack Epstein & Johnny Miller (2005): U.S. wars and post-traumatic stress disorder, in: San Francisco Chronicle vom 22.06.2005, URL: http://www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/c/a/2005/06/22/MNGJ7DCKR71.DTL&type=health

11) Brett T. Litz (2007): Research on the Impact of Military Trauma: Current Status and Future Directions, in: Military Psychology 19(3): 217-238.

12) Bericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages 2008, BT-Drucksache 16/220, S.46.

13) Vgl. auch die entsprechenden Beiträge von Klaus M. Barre und Karl-Heinz Biesold im Band von Klaus J. Puzicha et al. (2001): Psychologie für Einsatz und Notfall, Bonn.

14) Jeffrey I. Gold et al. (2007): PTSD Symptom Severity and Family Adjustment Among Female Vietnam Veterans, in: Military Psychology 19(2): 71-81.

Wissenschaftliche Grundlagen der Posttraumatischen Belastungsstörung

von Willi Butollo

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS oder PTSD für »Posttraumatic Stress Disorder«) ist eine extreme Reaktion auf eine ebenso extreme Belastung. Die Betroffenen entwickeln starke Ängste, vermeiden i.B. Situationen, die an das Schreckerlebnis erinnern. Die Diagnose der PTBS wurde 1980 in das Diagnosemanual der American Psychiatric Association, das DSM-III, aufgenommen (APA, 1980) und fand als diagnostische Kategorie 1992 Eingang in das europäische Pendant, das ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 1992). Während zuvor also keine explizite Übereinkunft in Forschung und Praxis hinsichtlich der Definition einer traumabedingten Störung bestand, ermöglichte dies nun die Vergabe einer entsprechenden Diagnose und stimulierte damit die Darstellung und Erforschung dieses Störungsbereiches ungemein.

»Entwicklungsgeschichte«

Natürlich war schon vor der offiziellen Einführung der Posttraumatischen Belastungsstörung als eigenständige diagnostische Kategorie bekannt, dass und wie sich katastrophale Ereignisse auf die Psyche auswirken können. Die moderne »Entwicklungsgeschichte« der PTBS beginnt im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Beschreibungen über nervöse Syndrome nach Zugunglücken und Erdbeben und bei Soldaten auf der einen Seite. Auf der anderen Seite sind hier die grundlegenden Arbeiten zur Hysterie zu nennen, z.B. durch Charcot (1887 – »choc nerveux«), Janet (1889) und natürlich auch durch Freud (1896/1977). Die phänomenologischen Parallelen zwischen diesen unterschiedlichen Patientengruppen, nämlich den meist weiblichen hysterischen Patienten, dann den auf Schadenersatz klagenden Unfallopfern und schließlich den so genannten »Kriegszitterern« waren nicht zu übersehen. Nicht zuletzt angesichts der mit der Zunahme solcher Diagnosen verbundenen gesellschaftlichen Kosten entbrannte bereits um die Jahrhundertwende eine rege Diskussion zur Verursachung der »traumatischen Neurose«. Den Begriff prägte der deutsche Neurologe Oppenheim, der die Symptomatik als organische Folge einer tiefgreifenden Erschütterung des zentralen Nervensystems betrachtete. Lag also eine organisch-neurologische Erschütterung zu Grunde, wie es die Konzepte des »railroad spine« im zivilen oder des »shell shock« im militärischen Bereich vertraten? Wieso traf das Syndrom aber nicht alle gleichermaßen und wieso zeigten manche Soldaten die Symptomatik, obwohl sie gar nicht in der Nähe einer Explosion gewesen waren? Gab es konstitutionelle Prädispositionen, lag eine Schwäche der Persönlichkeit vor oder waren manche der Betroffenen sogar Simulanten, die auf Freistellung vom Fronteinsatz, Schadenersatzzahlungen oder Rente hofften? In Deutschland entwickelte sich dazu eine denkwürdige Fachdiskussion, die sich in dem vielzitierten Diktum »Das Gesetz ist die Ursache der Unfallneurosen« zusammenfassen lässt. So schreibt der Psychiater Bonhoeffer (1926, S.180): „Es handelt sich gar nicht um einen Krankheitsvorgang im eigentlichen Sinn, sondern um eine in letzter Instanz psychologisch bedingte Reaktion, die eintritt bei bestimmten Wünschen und Begehrungen und die fortfällt bei deren Wegfall.“ Und sein Kollege His (1926, S.185) fordert im selben Fachblatt eine entsprechende Anpassung in der damaligen Reichsversicherungsordnung (RVO), um der traumatischen Neurosen Herr zu werden, die sich „gleich einer Infektion“ ausbreiten. Dies prägte nicht nur den Umgang mit den Unfall- und Kriegsversehrten dieser Zeit, sondern später auch den bundesdeutschen Umgang mit Opfern nationalsozialistischer Verfolgung (Fischer-Hübner & Fischer-Hübner, 1990).

Nach Weisæth (2002 – zit. nach Butollo & Hagel, 2003) spielte es in der weiteren Forschung zu Traumafolgen eine maßgebliche Rolle, welche spezifischen Erfahrungen die einzelnen Länder im Zweiten Weltkrieg machten. So konzentrierten sich US-amerikanische Veröffentlichungen auf die Folgen von Kampfeinsätzen und Kriegsgefangenschaft, während sich z.B. britische Untersuchungen auch mit den Folgen der Bombardierungen ziviler Städte beschäftigten. Die vergleichsweise geringe Zahl deutschsprachiger Veröffentlichungen zu den Folgen des Zweiten Weltkrieges in der Nachkriegszeit lässt Weisæth unkommentiert. In persönlichen Gesprächen (Anmerkung des Verfassers, 1996) wies er jedoch auf die bedauernswerte Unterversorgung deutscher Kriegsheimkehrer hin, die als »Kriegsverlierer« und »Aggressoren« sowohl im Nachkriegs-geschüttelten Inland wie auch aus dem Ausland nicht die Anerkennung ihrer Leiden erfuhren, die zu deren Linderung bitter nötig gewesen wären.

Die Aufnahme der Diagnose »Posttraumatic Stress Disorder« in das Manual der APA und deren Übernahme durch die WHO kann in mehrerer Hinsicht als politisch betrachtet werden: Die gesellschaftlichen Kosten staatlicher Gewalt (Krieg und Diktatur) und der Gewalt in den Familien und auf den Straßen konnten nicht länger in dem Maße tabuisiert werden, wie das bisher der Fall gewesen war und ebenso wenig die gesellschaftlichen Kosten des Fortschritts (ökologische und technische Katastrophen, z.B. Staudammbrüche oder Industrieunglücke). Zugleich wurde in einer Zeit, als sich vor allem die US-amerikanische Psychiatrie bemühte, psychische Störungen möglichst nur phänomenologisch zu beschreiben, um das unscharfe Konzept der neurotischen Verursachung zu verlassen, ein Störungsbild in das DSM aufgenommen, das explizit mit einem festgeschriebenen persönlichkeitsunabhängigen ätiologischen Moment konzipiert wurde, nämlich dem traumatischen Ereignis als Auslöser.

So spielte bei kaum einer anderen psychischen Störung das jeweilige gesellschaftliche Klima eine derart entscheidende Rolle für deren Interpretation, wie dies bei der PTBS der Fall ist, und auch die heutige Diskussion ist geprägt von den immer gleichen Fragen:

1. Werden die Symptome in der Hauptsache durch die vorausgehenden Stressoren verursacht? 2. Oder handelt es sich bei posttraumatischen Stresserkrankungen um den Ausdruck individueller Vulnerabilität, so dass der traumatische Stressor eher als auslösender Faktor für eine bereits angelegte Pathologie verstanden werden kann? Die Annahme, dass es die Empfindlichkeit der Opfer sei, die zu ihren stressbedingten Symptomen führte, kann erklären, wieso Individuen so unterschiedlich auf ähnliche traumatische Erfahrungen reagierten und viele symptomfrei bleiben.

3. Damit unmittelbar verbunden ist die Frage, wer im Falle des zugefügten Leides die Kosten für die daraus resultierende psychische Störung übernimmt. Gemäß dem Verursacherprinzip können Versicherungen, wie auch Privatpersonen in solchen Fällen belangt werden, wo ein Verursacher zu finden ist. Und Patienten finden sich in einer Situation wieder, in der sie die Herkunft ihres Leidens belegen müssen (siehe auch Butollo & Hagl, 2003; Hagl, 2008).

Kriterien und Befunde

Um die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS (bzw. PTSD) stellen zu können, muss zuerst einmal das »Ereigniskriterium« (Kriterium A) erfüllt sein, eine oder mehrere traumatische Erfahrungen, die direkt erlebt oder beobachtet wurden und zu intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen geführt haben. Weiters müssen die sogenannten Leitsymptome vorhanden sein: Mindestens ein Symptom des Wiedererlebens (Kriterium B), drei Symptome des Rückzugs- oder Vermeidungsverhaltens (Kriterium C) und zwei Symptome der Übererregung (Kriterium D). Außerdem muss das Störungsbild länger als einen Monat anhalten (Kriterium E) und in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Dysfunktionalität beinhalten (Kriterium F). Die Bedingungen, unter denen eine PTBS nach DSM-IV als Diagnose vergeben werden kann, sind also recht genau festgelegt. Im Gegensatz zum DSM-IV ist die Operationalisierung in der ICD-10 weniger restriktiv. Die Betonung der intrusiven Symptomatik als Kardinalssymptom, die im ICD-10 enthalten ist, hat zur Folge, dass eine Person, die kein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten zeigt oder keine deutlichen Anzeichen eines erhöhten Erregungsniveaus, gemäß ICD-10 trotzdem die Diagnose PTBS erhalten kann.

Die Prävalenz der PTBS hängt zunächst naturgemäß von der Häufigkeit potentiell traumatisierender Ereignisse ab. Diese ist je nach Ort, Zeit und Bevölkerungsgruppe unterschiedlich. In einem politisch instabilen Land mit hoher Straßenkriminalität, das an bewaffneten Konflikten mit anderen Nationen teilnimmt, ist das Risiko besonders hoch, ein traumatisches Erlebnis zu erfahren – und zwar vor allem für junge Männer. In einem stabilen, reichen Land ohne internationale Konflikte fällt das Risiko für alle grundsätzlich geringer aus, aber ist dennoch je nach Geschlecht, Alter und gesellschaftlicher Position unterschiedlich. Die wahre Prävalenz lässt sich nur schätzen, denn wer zählte je in einem Krieg wirklich alle Opfer und wie ließe sich die hohe Dunkelziffer sexualisierter und innerfamiliärer Gewalt jemals exakt bestimmen? Katastrophale Ereignisse wie der Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001, die Tsunami Ende des Jahres 2004 oder der Hurrikan Katrina im Jahr 2005 traumatisieren auf einen Schlag ganze Städte oder Regionen – als besonders schreckliche Beispiele für eine Traumatisierung des Typs I, also unerwartet und kurzfristig. Dort wo Not herrscht oder – wie in manchen Katastrophengebieten – weiterherrscht, wird aus der kurzfristigen Traumatisierung eine längerfristige und sich wiederholende im Sinne einer Typ-II-Traumatisierung. Ebenso anhaltend und damit in gewisser Weise für das Opfer vorhersehbar sind in der Regel viele Formen der zwischenmenschlichen Gewalt, im Krieg, bei Terror und Folter und in Form der Gewalt auf den Straßen und in den Familien.

In Europa ist die Lebenszeitprävalenz der PTBS einer neueren Studie zufolge (Alonso et al., 2004) überraschend gering, obwohl das methodische Vorgehen durchaus mit den bisher geschilderten Studien vergleichbar ist: Die Lebenszeitprävalenz für Männer betrug 0.9% (mit einer 12-Monatsprävalenz von 0.4%) und 2.9% bei den Frauen (mit einer 12-Monatsprävalenz von 1.3%). Dieses für alle Altersklassen repräsentative Ergebnis ist damit relativ gesehen niedriger als die Zahlen aus den rein deutschen Studien zum Thema.

Männer erleben in der Tendenz mehr traumatische Ereignisse als Frauen, aber das Erkrankungsrisiko ist für Frauen höher und ähnlich wie es für andere Angststörungen und für depressive Erkrankungen gilt, ist PTBS bei Frauen häufiger als bei Männern. Auch wenn die Zahlen in den einzelnen Studien je nach Land, Vorgehensweise und möglicherweise Studienziel differieren, kann man sagen, dass PTBS keine seltene psychische Störung ist, wenn auch nicht so häufig wie affektive Störungen.

Betrachtet man die Verläufe von PTBS differenziert, zeigt sich, dass Betroffene, die PTBS entwickeln mit einer höheren Ausgangssymptomatik starten, die zunächst sogar noch zunimmt, um im Laufe der Monate und Jahre abzunehmen. Personen, die keine PTBS entwickeln, zeigen dagegen nach der Traumatisierung durchaus auch posttraumatische Symptomatik, aber eben auch die gerade beschriebene kontinuierliche Abnahme derselben. Darüber hinaus gibt es durchaus Fälle, die zunächst kaum Symptomatik zeigen und im ersten halben Jahr keine PTBS entwickeln, jedoch später, also Fälle mit so genanntem verzögertem Beginn (»delayed onset«). Ein solches Krankheitsgeschehen wurde z.B. von Versicherungen angezweifelt, hat sich aber in einer Reihe von Studien bestätigt.

Grundsätzlich scheint PTBS häufig mit einer Reihe anderer Störungen einherzugehen, sämtliche epidemiologische Studien finden eine verhältnismäßig hohe Komorbidität, insbesondere affektive Störungen, Angststörung und Substanzmittelmissbrauch bzw. -abhängigkeit. Zum einen können traumatische Ereignisse nicht nur zu einer PTBS führen, sondern auch zu anderen psychischen Störungen, bzw. bilden langfristig eine unspezifische Vulnerabilität. Diese Erklärung ist naheliegend und lässt sich in zahlreichen Studien belegen. In einer Zusammenfassung von fünf Studien zu den Folgen ziviler Traumata zeigte sich unabhängig von der hohen Komorbidität mit PTBS die erhöhte Wahrscheinlichkeit folgender psychischer Störungen: Major Depression, Generalisierte Angststörung, Substanzmissbrauch und Phobie. Neben affektiven Störungen und Angststörungen sind hier natürlich auch solche Störungen zu nennen, von denen lange bekannt ist, dass sie eng mit traumatischen Erlebnissen in Verbindung stehen, die aber in den bisherigen großen epidemiologischen Studien nicht berücksichtigt wurden: Dissoziative Störungen, Somatoforme Störungen und Persönlichkeitsstörungen, vor allem die Borderline-Persönlichkeitsstörung (Übersicht bei Butollo & Hagl, 2003). Alle diese genannten Störungen können also als Folge posttraumatischer Entwicklung auftreten und stellen damit oft komorbide Störungen der PTBS da, treten aber auch ohne eigentliche posttraumatische Symptomatik auf. Möglicherweise zeigen sich dabei unterschiedliche posttraumatische Entwicklungspfade, die neben der basalen Vulnerabilisierung des stressverarbeitenden Systems auf individuellen Lernerfahrungen und Bewältigungsstrategien fußen. Eine bereits bestehende psychische Störung erhöht in jedem Fall das Risiko, nach einem traumatischen Ereignis eine PTBS zu entwickeln.

Therapeutische Ansätze

Eine einheitliche PTBS-Therapie gibt es nicht, obwohl im Mainstream der psychotraumatologischen Forschung weitgehend Konsens hinsichtlich der therapeutischen Methode der Wahl herrscht: In einem gemeinsamen Positionspapier der »International Consensus Group on Depression and Anxiety«, zu dem auch herausragende PTBS-Experten gehört wurden, wird die Bedeutung der kognitiv-behavioralen Therapien in der psychotherapeutischen Behandlung unterstrichen (Ballenger et al., 2000). Ebenso wird die pharmakologische Behandlung mit den so genannten SSRI (also Antidepressiva der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) empfohlen. Tatsächlich aber kommt in der klinischen Praxis eine ganze Reihe von Methoden aus den unterschiedlichsten Schulrichtungen zur Anwendung, die auf einem mehr oder weniger starken empirischen Fundament und auf klinischem Erfahrungswissen basieren. Dies hat zwei Gründe: Zum einen neigen psychotherapeutisch Tätige dazu, solche Interventionen zu verwenden, mit denen sie sich gemäß ihrer Ausbildung identifizieren können – und die sie beherrschen. So kommen manche Verfahren zur Anwendung, deren Wirksamkeit speziell für PTBS nicht unbedingt hinreichend belegt ist, die aber eine lange Tradition in der Behandlung psychischer Störungen vorweisen können. Dies gilt für die psychodynamischen und humanistischen Verfahren, ebenso wie für die Hypnotherapie. Zum anderem kann chronische posttraumatische Symptomatik recht hartnäckig sein und bietet gleichzeitig ein anrührendes Bild hohen Leidensdrucks, so dass sich psychotherapeutisch Tätige nach allen Seiten umsehen, um Hilfe für ihre Patienten und Patientinnen zu finden. Das führt zur Anwendung neuerer, noch kaum evaluierter Verfahren und einem manchmal etwas getrieben anmutenden Eklektizismus.

Solche Methodenvielfalt ist dann ein Vorteil, wenn sie gezielt eingesetzt wird, um den vielfältigen Erscheinungsbildern und Symptombereichen posttraumatischer Störungen gerecht zu werden, und wenn man dabei empirische Ergebnisse und bestehendes klinisches Wissen berücksichtigt. Letztlich gilt es, eine Passung zu erreichen, zwischen den ganz individuellen Behandlungsbedürfnissen eines Patienten und der Neigung sowie dem Behandlungsgeschick eines Therapeuten, und dies alles auf dem Boden eines funktionierenden Störungsmodells und Therapierationals.

Behandlungsmanuale, wie sie z.B. von Ehlers (1999), Resick und Schnicke (1993) oder Foa und Rothbaum (1998) für den kognitiv-behavioralen Bereich vorgestellt wurden, halten wir durchaus für hilfreich. Tatsächlich beruhen praktisch sämtliche Effektivitätsstudien auf solchen manualisierten Therapien mit eher geringer Sitzungszahl. In diesen Studien handelte es sich aber in der Regel auch um eine recht ausgelesene Population. Meist sind dies Personen, die sich auf einen Studienaufruf hin meldeten oder von Ambulanzen für solche Studien aus der Gesamt-Klientel ausgewählt wurden. Schwierige, chronifizierte Fälle mit hoher Komorbidität und extremer Symptomatik (z.B. Suizidalität oder Sucht) wurden in der Regel ausgeschlossen. Überspitzt formuliert handelt es sich in solchen Psychotherapiestudien oft um eine Idealtherapie für Idealfälle. Diese Forschung hat jedoch in jedem Fall ihre Berechtigung, denn so lassen sich die Ergebnisse für die einzelnen Therapiemethoden besser vergleichen und deren Effektivität überhaupt unter einigermaßen kontrollierten Bedingungen evaluieren. In der klinischen Praxis können manualisierte Kurzzeitinterventionen schnelle und effektive Therapieangebote für Patienten sein, die vor allem die klassische PTBS-Symptomatik zeigen und das noch nicht allzu chronifiziert und bei geringer anderweitiger Symptomatik. Für Patienten mit komplizierter Symptomlage sind sie nicht selten ein effizienter Baustein in einem breiteren und individuell zugeschnittenen Angebot.

Bevor wir uns aber rückhaltlos an den Ergebnissen von Psychotherapiestudien orientieren und dabei möglicherweise hilfreiche Methoden verwerfen, weil sie nicht ausreichend evaluiert wurden, sollten wir daran denken, dass die Ergebnisse dieser Studien auf einem bestimmten Boden geerntet werden. Solche Studien stellen auf der einen Seite aber den Optimalfall in der Behandlung dar. Andererseits beinhaltet die Anwendung manualisierter Therapien mit meist geringer Sitzungszahl auch die Gefahr, die Kraft bestimmter Interventionen zu unterschätzen. Psychotherapie ist nicht zuletzt die Kunst, eine funktionierende Modifikationsmethode in flexibler Weise für einen ganz bestimmten Patienten anzupassen, so dass er sie erfolgreich anwenden kann. Und manche Patienten brauchen vielleicht einfach nur etwas länger und hätten von einer höheren Sitzungszahl profitiert. Grundsätzlich präsentieren Psychotherapiestudien den durchschnittlichen Erfolg aller Teilnehmer und berücksichtigen dabei nicht immer die Unterscheidung nach möglichen Subgruppen von Respondern und Non-Respondern. Für die Praxis gilt also: Die Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung sollen beachtet werden, beantworten aber (noch) nicht die Frage nach der spezifischen Indikation für eine bestimmte Patientin. Und die Verwendung einer »Methode der Wahl« erspart keinesfalls die möglichst objektive Evaluation im Einzelfall und die Supervision der eigenen Therapieleistung. Besonders wichtig ist dabei eine katamnestische Bearbeitung der Fälle, sei es in der eigenen Praxis oder im Rahmen von Therapiestudien: War ein Therapieerfolg von Dauer? Diesen Vorbehalten unterliegen auch die am meisten untersuchten Therapieverfahren, die im Weiteren kurz dargestellt seien.

Die kognitiv-behavioralen Verfahren gelten in ihrer Wirksamkeit bei der Behandlung der PTBS als empirisch am besten belegt. Dies entspricht dem erwähnten Positionspapier einer recht angesehenen Gruppe von Klinischen Psychologen und Psychiatern und den »Practice Guidelines« der ISTSS (Foa et al., 2000). Allerdings könnte man auch argumentieren, dass die kognitiv-behavioralen Verfahren einfach am längsten beforscht und am stärksten vertreten werden, z.B. durch so herausragende Forscherinnen wie Edna Foa. Die »Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung« der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (Flatten, Hofmann, Liebermann et al., 2001) liefert eine Zusammenfassung und Bewertung von sieben Übersichtsartikeln/Meta-Analysen zu den Ergebnissen der Therapieforschung im Bereich PTBS (Flatten, Wöller & Hofmann, 2001). Die Autoren kommen dabei zu dem Schluss, dass speziell zur konkreten Traumabearbeitung als einer der Phasen effektiver Traumatherapie, kognitiv-behaviorale Verfahren in ihrer Wirksamkeit belegt sind. In ihrer grundsätzlichen Überlegenheit als Verfahren in der Behandlung einer PTBS sind sie jedoch nicht bestätigt und die Autoren empfehlen ein multimodales Vorgehen, bei dem verschiedene Techniken kombiniert werden.

»Eye Movement Desensitization and Reprocessing« (EMDR) ist eine Methode, die man von den Inhalten her eigentlich den kognitiv-behavioralen Verfahren zuordnen könnte, die von ihren Vertretern aber als eigenständige Methode begriffen und vermarktet wird. Auch hier steht die Konfrontation mit der traumatischen Erinnerung und angstauslösenden Stimuli zusammen mit einer kognitiven Umbewertung im Vordergrund. EMDR ist eine vergleichbar junge Behandlungsmethode, die speziell zur Bearbeitung von traumatischen Erinnerungen entwickelt wurde (Shapiro, 1989). Von ihren Vertretern stark propagiert, erfuhr diese Methode schnell Akzeptanz bei praktisch tätigen Therapeuten, noch bevor ihre Wirksamkeit als ausreichend empirisch gesichert galt. Von anderer Seite wurde der Methode einiges an Skepsis entgegengebracht, nicht zuletzt deshalb, weil bis heute kein überzeugendes Erklärungsmodell speziell zur Wirkung der Augenbewegungen oder allgemein der alternierenden Stimuli existiert. So fehlt aus experimentellen Studien der Nachweis, dass die Augenbewegungen überhaupt einen zusätzlichen Effekt haben. Einige besonders kritische Autoren sehen in EMDR deshalb nichts anderes als eine eher schlecht durchgeführte Expositionsbehandlung und vermuten weitgehend unspezifische oder gar Placebo-Faktoren als Grundlage der Wirkung (u.a. Lohr et al., 1999). Inzwischen existiert eine Reihe von randomisierten und kontrollierten Studien, die die Wirksamkeit des Verfahrens in der Behandlung der posttraumatischen Symptomatik belegen. In ihrer Meta-Analyse kommen van Etten und Taylor (1998) zu dem Schluss, dass EMDR in seiner Wirksamkeit der Kognitiven Verhaltenstherapie in der Behandlung von PTBS ebenbürtig ist. Allerdings gibt es unseres Wissens bisher nur drei Veröffentlichungen, die beide Verfahren direkt vergleichen.

Hypnose wurde schon lange bevor das heutige PTBS-Konzept existierte, bereits um die Jahrhundertwende z.B. von Pierre Janet, zur Behandlung traumatischer Erinnerungen angewendet. Dementsprechend beschreibt eine lange Reihe von Fallstudien deren Effekt. Umso erstaunlicher ist es, dass es bis heute nur eine einzige kontrollierte Studie zur Wirksamkeit einer Hypnotherapie bei posttraumatischer Symptomatik gibt (Brom et al., 1989). Die Autoren verglichen bei insgesamt 112 Personen Hypnose, systematische Desensibilisierung und psychodynamische Therapie mit einer Wartelistenkontrollgruppe (im Durchschnitt 16 Sitzungen). Alle drei Behandlungsgruppen brachten signifikante und klinisch relevante Verbesserungen der Symptomatik.

Imaginative Techniken werden natürlich nicht nur im Rahmen der Hypnotherapie genutzt. Eine klassische und vielverwendete Vorstellungsübung, die z.B. auch von Shapiro (1995) ins EMDR-Protokoll übernommen wurde, ist die Erschaffung eines inneren sicheren Ortes (Beispiel bei Reddemann, 2001a, S.40). Ein derartiges Phantasiebild dient als eine Art inneres Rückzugsgebiet und ermöglicht der Patientin ein Gefühl der Ruhe und des Schutzes. In der Traumatherapie hat die Arbeit mit Vorstellungsbildern grundsätzlich einen großen Stellenwert, was nach Flatten, Wöller und Hofmann (2001) auch unmittelbar mit der Phänomenologie der posttraumatischen Symptomatik zusammenhängt: Traumatische Ereignisse bleiben oft in einer bildlichen bzw. sensorischen Modalität verhaftet, ohne ausreichend sprachlich verarbeitet zu werden. In ähnlicher Weise lässt sich so auch die Anwendung kunst- und körpertherapeutischer Techniken begründen. Nach Flatten et al. handelt es sich bei all diesen Techniken um adjuvante Verfahren, die eine Behandlung von PTBS ergänzen können, aber nicht als Einzelverfahren belegt sind. Die Autoren unterstreichen die besondere Bedeutung dieser Techniken für die Behandlung von Gewaltopfern, also von Personen, bei denen es zu einem traumatischen Überschreiten der Körpergrenzen kam, sei es durch physische oder sexuelle Gewalt. Grundsätzlich dürften nonverbale Methoden immer dort von Nutzen sein, wo die traumatische Erfahrung schwer verbal zugänglich ist, aus welchen Gründen auch immer (z.B. sehr frühe Traumatisierung, hohe Dissoziation). Gleichzeitig ermöglichen solche, den kreativen Ausdruck fördernde Methoden eine Stärkung des Selbstgefühls und Selbstbewusstseins. Eine systematische Evaluation solcher Therapiebausteine, die gerade im stationären Setting rege Anwendung finden, ist bisher nicht erfolgt und daher dringend erforderlich. Es fehlt der Beleg, dass sie tatsächlich den Zugang zu Ressourcen des Patienten erleichtern bzw. eine Weiterverarbeitung und Integration der traumatischen Erfahrungen ermöglichen.

Fischer (2000) entwickelte auf psychoanalytischer/tiefenpsychologischer Grundlage ein integratives Therapiemanual, die »Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie« (MPTT). Die MPTT setzt neben Kenntnissen in den in sie integrierten Verfahren eine psychoanalytische Ausbildung voraus und ist in ihrer Darstellung zumindest für Nicht-Analytiker etwas undurchsichtig. Trotz des hohen Stellenwertes, der Dokumentation und Erfolgskontrolle beigemessen wird, steht die Veröffentlichung einer kontrollierten Studie mit Darstellung der Forschungsmethodik noch aus.

Die »Traumazentrierte Psychotherapie« von Reddemann und Sachsse (1997; 2000) bzw. »Psychodynamisch imaginative Traumatherapie« (Reddemann, 2001a; 2001b) ist ein integrativer Ansatz, der vor allem aus der Erfahrung in der stationären Arbeit mit schwer traumatisierten Patientinnen entstand. Ausgehend von einem tiefenpsychologischen Verständnis wurden vor allem imaginative Verfahren integriert. Die Methode folgt dem klassischen Phasenansatz mit einer Stabilisierungsphase (auf die in der Arbeit mit komplexen posttraumatischen Störungen besonderer Wert gelegt wird), dann einer Phase der Traumasynthese und schließlich der Phase des Trauerns und der Neuorientierung. Das Vorgehen von Reddemann und Sachsse hat im deutschen Sprachraum großen Anklang gefunden, obwohl die empirischen Belege zur Wirksamkeit noch spärlich sind.

Das integrative Vorgehen von Reddemann steht in seiner ganzen Haltung (Transparenz, Ressourcen- und Wachstumsorientierung) deutlich einem humanistischen Psychotherapieverständnis nahe. Klassische humanistische Psychotherapieverfahren, wie die Gestalttherapie oder die Gesprächstherapie nach Rogers, scheinen explizit in der Behandlung traumabedingter Störungen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Tatsächlich ist es wohl eher so, dass zumindest die heute üblicherweise angewandte Kognitive Verhaltenstherapie sich sowohl die Rogers’schen Basisvariablen als auch eine Reihe gestalttherapeutischer Techniken einverleibt hat. Niedergelassene Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen in Deutschland haben nicht selten eine entsprechende Zusatzausbildung (Butollo et al., 1996). Explizit humanistisch in seiner Basis ist der von unserer Arbeitsgruppe vorgelegte Behandlungsansatz »Integrative Traumatherapie und Dialogische Exposition« (Butollo, 1997; Butollo et al., 1998; Butollo & Karl, 2009), in dem gestalttherapeutische und verhaltenstherapeutische Ansätze integriert wurden. Basis dieses Ansatzes ist die Überlegung, dass traumatische Erfahrungen in der Regel einem entstellten Interaktionsgeschehen zwischen Individuum und seiner sozialen bzw. physischen Umfeld entspringen und so die gewachsenen, sozial-interaktionellen Erfahrungen Traumatisierter erschüttern. Die Therapie ist demzufolge als sozial-interaktives Geschehen anzusetzen, in dem die Selbstprozesse der Betroffenen neu konfiguriert werden.

Literatur

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Prof. Dr. Willi Butollo ist Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der LMU München und Gründer des Münchner Instituts für Traumatherapie.

Posttraumatische Belastungsstörungen bei deutschen Soldaten nach Auslandseinsätzen

Flottenarzt Dr. Roger Braas im Interview

Für deutsche Soldaten, die nach Auslandseinsätzen PTBS aufweisen, gibt es in der Bundesrepublik zwei Behandlungszentren, eines davon am Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz. In der Abteilung »Psychotherapie und Psychologie« mit dem Schwerpunkt Psychotraumatologie werden im Jahr 700 bis 1.000 Patienten stationär aufgenommen, pro Monat gibt es 700 ambulante Patientenkontakte. Geleitet wird die Abteilung von Flottenarzt Dr. Roger Braas, seit 30 Jahren im Dienst der Bundeswehr.

W&F: Der Wehrbeauftragte des Bundestages hat in seinem Bericht eine Verdreifachung der Fälle von PTSB von 2006 bis 2008 festgestellt, können Sie das bestätigen?

Braas: Wir erleben eine steigende Tendenz, die man aber genauer betrachten muss. Wir diagnostizieren die Störung eher, weil wir genau wissen, wovon wir reden. Es kommen inzwischen auch Patienten zu uns, die schon länger unter Störungen leiden, erst jetzt aber wissen, was das eigentlich ist. Und wir haben bei den Einsätzen, insbesondere in Afghanistan, eine höhere Quote von Ereignissen. Die deutschen Soldaten werden heute öfter beschossen, und das führt dazu, dass die Fälle zunehmen. Wir wissen aus amerikanischen Untersuchungen, dass ab einer Stärke von vier bis fünf Feuergefechten zwanzig Prozent der Soldaten eine PTBS bekommen. Und wenn sie häufiger ein Feuergefecht haben, dann erfüllen Sie irgendwann die Kriterien, dann ist eben ein Fünftel der Soldaten auch betroffen.

W&F: Machen Sie immer noch die Erfahrung, dass es den Soldaten schwer fällt, sich seelische Schäden einzugestehen?

Braas: Es gibt immer eine Hemmschwelle, zum Psychiater zu gehen. Wir haben vor Ort einen eigenen Psychiater, in Masar-i-Sharif und im Kosovo, wir haben Truppenpsychologen vor Ort, aber es dauert schon eine Weile, bis die in Anspruch genommen werden. So stark wie früher ist die Angst, ein »Weichei« zu sein, jedoch nicht mehr. Wenn jemand heute weiß, ich habe eine psychische Verwundung davongetragen, dann geht man auch zum Spezialisten. Bei offenkundigen Ereignissen, z.B. einem Bombenattentat, werden wir in der betroffenen Einheit aktiv. Wir ziehen die Soldaten zusammen, und erklären: „Das und das habt ihr jetzt erlebt, das und das ist jetzt passiert, und das und das kann mit Euch noch passieren: ihr könnt Schlafstörungen bekommen, ihr könnt das albtraumhaft immer wieder erleben, also flash backs bekommen, ihr könnt unspezifische Symptome wie Angstzustände bekommen, und dann hat das vielleicht mit dem Einsatz zu tun. Und wenn solche Störungen auftreten, solltet ihr zum Spezialisten vor Ort gehen, oder euch nach der Rückführung an uns wenden.“

Wir haben an vielen Standorten psychosoziale Netzwerke eingerichtet, die den Soldaten und ihren Angehörigen Hilfestellung geben, wenn etwas im Miteinander auffällig wird. Manchmal ist es ja so, dass die betroffenen Soldaten selbst nicht merken, wie sehr sie sich verändern, aber sie kommen verändert von den Einsätzen zurück, und plötzlich stellt die Familie fest: „Papi ist so komisch, der ist so dünnhäutig und explodiert immer sofort.“

Dann nehmen die Angehörigen mit uns Kontakt auf. Hier in Koblenz-Lahnstein haben wir ein gut funktionierendes psychosoziales Netzwerk. Dazu gehören die Militärseelsorge, der Sozialdienst, der truppenärztliche Dienst und wir im Bundeswehrzentralkrankenhaus.

W&F: Können Sie einen typischen Fall eines Soldaten mit PTBS schildern?

Braas: Wir hatten einen Offizier, der verwickelt war in Aufstände im Kosovo. Dort kam es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Feuergefechten, mit Einsatz von Handgranaten. Der Soldat hat das vor Ort sehr hautnah miterlebt, aber den Einsatz noch zu Ende gebracht, ohne zu wissen, wie sehr ihn das beeinträchtigt hat. Erst nach der Rückkehr zu seiner Familie ist er durch seine Verhaltensänderung auffällig geworden. Zusätzlich bekam er somatoforme Störungen, die er nicht verstand, unspezifische Schmerzen. Keiner fand etwas, organisch war alles in Ordnung. Nur durch einen Zufall wurde er von einem Kollegen zu uns weitergeleitet. Nach der Diagnose haben wir ihn stationär aufgenommen, in vier Wochen stabilisiert, dann in der Tagesklinik und schließlich ambulant weiter betreut, so dass er seine Symptome los wurde, oder sie zumindest einordnen konnte. Das hat ein drei Viertel Jahr gedauert. Er macht jetzt allerdings eine Schreibtischtätigkeit.

W&F: Wie sieht die Behandlung der Soldaten mit PTBS konkret aus?

Braas: Wir verwenden erst mal viel Zeit auf eine genaue Diagnose, mit psychologischen Fragebögen und Anamnese. Dann müssen die Betroffenen informiert werden über das, was die Umstrukturierung im Gehirn bewirkt. Als zweiter Schritt ist es wichtig, eine Stabilität zu erreichen. Die betroffenen Soldaten merken selbst, sie explodieren bei Nichtigkeiten, und wissen nicht, woran das liegt. Dann bekommen sie Werkzeuge an die Hand, mit denen sie sich in solchen Situationen »runterfahren« können.

Das klingt banal, nimmt aber einen großen Raum in der Therapie ein. Die bekommen manchmal nur ein kleines Gummi ans Handgelenk, mit dem sie sich schnippen können, und daran merken sie, ich komme wieder ins Hier und Jetzt. Oder sie lernen, durch Rückwärtszählen, wieder im Jetzt anzukommen. Oder sie lernen, Dinge im Raum zu benennen, die sie aus der Aufgeregtheit wieder herausholen.

Das klingt wirklich banal. Es ist aber ein schwieriger pädagogischer Prozess, ihnen das beizubringen. Die Patienten sind ungeheuer glücklich, wenn sie das dann können, wenn sie merken: jetzt war was mit mir, aber ich kriege mich wieder ein.

W&F: Setzen Sie in der Trauma-Therapie auch anerkannte Techniken ein wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), bei denen der Therapeut seine Hand unmittelbar vor den Augen des Patienten schnell hin und her bewegt, so dass die Erinnerungsbilder beim Patienten schneller entstehen?

Braas: Ja, wobei man sagen muss, wenn wir EMDR einsetzen, dann sind wir schon ganz weit. Denn das beinhaltet ja eine Konfrontation mit dem erlittenen Trauma, und das ist das Schlimmste. Wenn Sie das schaffen können in der Therapie, dass die Patienten sich tatsächlich an das Ereignis erinnern können, an Gerüche, an Laute, an Erleben, dann haben Sie schon fast gewonnen, dann ist fast die Therapie zu Ende.

W&F: Wie lange dauert die Behandlung?

Braas: Das ist unterschiedlich, bis zu einem drei Viertel Jahr, oft in einem Wechsel von Tagesklinik, stationärem und ambulantem Aufenthalt.

W&F: Nach dem Stabilisieren und dem Behandeln kommt das Reintegrieren, wie gut gelingt das?

Braas: Das kommt darauf an. Es gibt Soldaten, die haben mehrere Traumatisierungen erlitten, da schauen wir nach Alternativen. Es gibt ja Jobs bei den Streitkräften, die weniger exponiert sind. Und es gibt auch durchaus Fälle, da kann man wieder einen Auslandseinsatz in Betracht ziehen.

Das Trauma selbst ist nie weg. Es ist immer eine Narbe, die bleibt. Narben können verheilen und funktionieren, tun aber auch immer mal wieder weh.

W&F: Laut einer Statistik gehen 30 Prozent der Soldaten nach erfolgreich behandelter PTBS wieder zurück in den Kriseneinsatz…

Braas: Diese Zahl kann ich nicht bestätigen. Das ist auch schwierig zu ermitteln. Der Großteil der Soldaten, die wir betreuen, das sind freiwillig länger Dienende, und die scheiden nach einer gewissen Zeit wieder aus, weil ihre Dienstzeit vorüber ist. Die Berufs- und Zeitsoldaten gehen wieder in den Einsatz. Aber 30 Prozent scheint mir hoch gegriffen.

W&F: Der Wehrbeauftragte des Bundestages hat beklagt, dass wir von einer umfassenden Rundumbetreuung der Einsatzkräfte nach Schocksituationen weit entfernt sind, wie beurteilen Sie das?

Braas: Ich glaube, dass wir gut aufgestellt sind. Wir haben eine gute Expertise im Umgang mit dem Störungsbild. Wir sind dicht dran, wir haben Kontakt vor Ort, wir wissen, wenn Soldaten repatriiert werden aus psychischen Gründen und nehmen die auch in Empfang. Natürlich kann man das nicht umfassend für alle Betroffenen sagen. Das geht schon deshalb nicht, weil manchmal in den Wirren der Ereignisse vor Ort die Beteiligten nicht alle erfasst werden. Das sind so Viele: die Patrouille, die angesprengt wird, die Hilfskräfte, die sie rausholen, die Sicherungskräfte sind beteiligt, es sind Sanitäter im Einsatz… Eigentlich müssten sie jeden Einzelnen screenen, ob er was hat. Das ist nicht leistbar. Rein theoretisch muss jeder Soldat nach seiner Rückkehr einen Fragebogen ausfüllen. Aber da rutschen uns viele Betroffene durch. Auch weil die Symptome einer PTBS erst oft bis zu einem halben Jahr nach dem Ereignis auftreten.

Ein Mitglied des Technischen Dienstes der sog. Friedenstruppen für Kosovo meldete sich auf Drängen einer Nachbarin in der Trauma-Ambulanz. Er hatte vor sechs Monaten mit seinem Jeep eine unachtsame Passantin angefahren, die eine schwere Kopfverletzung erlitt. Die Angehörigen der Frau waren sehr aufgebracht und der Soldat entging der Lynchjustiz nur dank dem Eingreifen seiner Kameraden. Er war unmittelbar nach dem Ereignis gefasst und konnte detailliert Auskunft über den Unfallhergang geben. Allerdings erlebte er an den Tagen nach diesem Geschehen eine ihm bisher unbekannte eigenartige Unruhe. Er wurde zwei Wochen krank geschrieben und fuhr danach, als er sich noch nicht fit fühlte, drei Wochen in den Urlaub, wo es ihm besser ging. Anschließend wurde ein »Arbeitsversuch« gestartet, der anfangs gut verlief. Allerdings vermied er nach Möglichkeit Einsätze außerhalb der Werkstätte. Ließ es sich nicht vermeiden, steigerte sich seine Nervosität und Fahrigkeit, so dass einer dieser Einsätze aus diesem Grund abgebrochen werden musste.

Danach wurde er zu einer als vorübergehend geplanten Einsatztätigkeit in eine Werkstätte außerhalb des Konfliktgebietes versetzt. Sein Zustand besserte sich jedoch nicht, im Gegenteil. Er schreckte nachts nach Albträumen auf, musste immer wieder an den Hergang des Unfalles und den bedrohlichen Aufruhr danach denken. Er haderte mit seinem Schicksal und empfand die Versetzung als persönliche Niederlage: Darüber war er tief deprimiert, Medikamente waren ineffektiv und er begann in der Folge vermehrt Alkohol zu trinken, um sich zu beruhigen und um einschlafen zu können. Er vermied den Kontakt mit den Kollegen von früher, zog sich von sozialen Aktivitäten zurück und quittierte bald darauf den Dienst.

Wieder zuhause, erlebte er eine Panikattacke, als er unmittelbar dabei war, als vor seinem Haus eine unbekannte Frau zusammenbrach und noch vor dem Eintreffen der Rettung verstarb. Danach hatte sich sein Zustand so verschlechtert, dass er dem Drängen der Nachbarin folgte und therapeutische Hilfe suchte.

W&F: Einige Mediziner beklagen, PTBS sei durch viele Medienberichte eine Art Modediagnose geworden. Wird das Phänomen überbewertet?

Braas: Von Modediagnose kann nicht die Rede sein, dafür ist das Thema zu ernst. Die Einsätze der US-Amerikaner im Irak-Krieg haben gezeigt, dass zwanzig Prozent der Kampftruppen betroffen sind, also jeder fünfte Soldat erleidet eine PTBS. Wir Deutschen haben zwar überwiegend noch Peace-Keeping-Missions, nur vereinzelt Kampfeinsätze. Wenn es jetzt aber immer mehr »robustere Einsätze« gibt, wird die Zahl zunehmen. Und dann müssen wir uns noch besser darauf vorbereiten – mit Bettenausstattung, Facharztausstattung, etc. Deshalb finde ich den mahnenden Zeigefinger des Wehrbeauftragten sehr berechtigt.

W&F: Warum wirken gewalttätige Ereignisse wie Kriegsgeschehen so viel traumatisierender als Naturkatastrophen?

Braas: Naturkatastrophen sind schicksalhaft. Man kann niemandem unterstellen, dass er das gewollt hat. Ein Tsunami passiert, weil die Erde so ist, wie sie ist. Bei dem Erleben durch Menschen gemachter Gewalt ist ja das Gewollte dahinter: Ich will Dich verletzten, ich will Dich existenziell bedrohen, vielleicht sogar Deine Existenz auslöschen. Es gibt ein Gegenüber, eine menschliche Kreatur, die das beabsichtigt. Und ich glaube, auch wenn der Mensch schon solange auf diesem Planeten wandelt, hat es immer eine ganz besondere Dimension, wenn er von der eigenen Spezies bedroht wird.

Das Interview führte Dr. Daniela Engelhardt

Afghanistan: Menschenrechtsverletzungen an Frauen und ihre Folgen

von Karin Griese

Drei Jahrzehnte Krieg haben ihre Spuren in der afghanischen Zivilgesellschaft hinterlassen. Es gibt kaum eine Familie in Afghanistan, die nicht über den Tod von Angehörigen hinaus zahlreiche kriegsbedingte traumatische Ereignisse verarbeiten muss. Immer noch gibt es keinen tatsächlichen Frieden in dem Land, in dem im August 2009 Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Unsicherheit und Gewalt sind an der Tagesordnung. Die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan hat sich seit dem gewaltsamen Sturz des Talibanregimes – durch den so genannten Krieg gegen den Terror – nach anfänglichen Verbesserungen wieder verschlechtert und ist heute kaum besser als vor der internationalen Militärintervention. Mit den Kriegen und unregulierten Nachkriegswirren ist die Gewalt gegen Frauen und Mädchen eskaliert: Sie waren und sind Kriegsvergewaltigungen, Menschenhandel und einem Anstieg von oft lebensbedrohlicher häuslicher Gewalt ausgesetzt (Ertürk 2006). Hinzu kommt ökonomische Not gepaart mit der alltäglichen strukturellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die unter anderem auf frauenfeindlichen patriarchalen Traditionen und einem Mangel an Rechtsstaatlichkeit basiert. Seit 2003 engagiert sich die Frauen- und Menschenrechtsorganisation »medica mondiale« für von Gewalt und Traumatisierung betroffene Frauen und Mädchen in Afghanistan mit verschiedenen Projekten.

Versucht man sich im Internet einen Überblick über aktuelle Artikel zum Thema Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS oder engl. PTSD) und Afghanistan zu verschaffen, fällt auf: Wenn derzeit über PTSD berichtet wird, geht es fast ausschließlich um zurück gekehrte Soldaten (u.a. Deutscher Bundestag 2009). Fügen wir im Internet den Begriff Frauen hinzu, erscheinen Artikel über die hohe Rate der weiblichen Kriegsveteraninnen mit kriegsbedingten Traumatisierungen, u.a. auch durch sexualisierte Gewalt (Dotinga 2008). Die Verzweiflung afghanischer Frauen und Mädchen angesichts Jahrzehnte langer Kriege und massiver Gewalt in Gesellschaft und Familie besitzt keinen hohen Nachrichtenwert mehr. Es sei denn, es geht um Nachrichten mit Sensationswert wie z.B. die Verabschiedung eines frauenfeindlichen schiitischen Familiengesetzes im Vorfeld der Wahlen durch den afghanischen Präsidenten Karzai oder um anschauliche Berichte zu den Selbstverbrennungen von afghanischen Frauen. Oder aber Politiker jeglicher Couleur nutzen die miserablen Lebensbedingungen der afghanischen Frauen als Argument in der öffentlichen Debatte, wenn es um die Rechtfertigung einer weiteren militärischen Aufrüstung geht.

Kriegsgewalt und Traumatisierung

Traumatische Ereignisse sind gekennzeichnet von der Angst um das eigene Leben oder die eigene körperliche Unversehrtheit oder aber das Miterleben des Todes oder der schweren Verletzung anderer, gepaart mit extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht. Es sind kein Kampf und keine Flucht möglich, die Situation ist ausweglos.

Durch den extremen Stress, der das Leben und die Identität des Menschen bedroht, sprengt ein Trauma die normalen Prozesse, wie Erfahrungen verarbeitet werden können. Die Folge: Funktionsstörungen, Panikattacken, Depressionen, chronische Schmerzen oder eine PTSD) können das Leben der Betroffenen über Jahre hinweg massiv beeinträchtigen (Griese 2009).

Die Diagnose der PTSD muss für die Erfassung der psychischen Folgen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Kriegs- oder Nachkriegszeiten unzureichend bleiben. Sie zielt auf die Folgen einzelner traumatischer Ereignisse ab und erfasst nicht den längerfristigen komplexen Prozess, in dem sich das Trauma im sozialen Bezugsrahmen entwickelt (Joachim 2006). In Kriegs- und Nachkriegssituationen sind Frauen und Mädchen jedoch einer Vielzahl von traumatischen Ereignissen über einen längeren Zeitraum ausgesetzt, so dass von einer hohen Langzeitbelastung ausgegangen werden muss. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass viele Frauen in Kriegs- und Nachkriegsregionen unter einer komplexen PTSD (Herman 1994) oder einer sequentiellen Traumatisierung (Keilson 1979) mit entsprechend weitreichenderen Folgen sowie anderen stressbedingten psychosozialen Problemen leiden.

Häufig treten in Verbindung mit der PTSD auch andere psychische Folgen auf, sogenannte Komorbiditäten wie z.B. Depressionen, Panikattacken oder Zwangsstörungen, selbstverletzendes Verhalten, psychosomatische Erkrankungen. Wichtig sind darüber hinaus spezifische Unterschiede in der Symptomentwicklung, die unter anderem mit der jeweiligen (sozialen) Bewertung der Ereignisse und unterschiedlich vorhandenen Bewältigungsstrategien zusammen hängen (Joachim 2006, Zemp 2006).

Gewalt und Gewaltfolgen in Afghanistan

Betrachten wir die Gegenwart von Frauen und Mädchen in Afghanistan, scheint es fast fragwürdig, sich angesichts der verheerenden tagtäglichen Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen in Afghanistan der Problematik mittels einer klinischen Diagnostik zu nähern. Groß ist die Gefahr, die Frauen – wie traditionell üblich – als Opfer zu pathologisieren, damit das »Problem« bei ihnen zu sehen und die Ursachen und damit die Täter aus dem Blick zu verlieren.

So schreibt Azimi 2004: „The most devastating and crippling psychological difficulties most women and children of Afghanistan face today are the horrors of Posttraumatic Stress Disorder (PTSD).“ Der Autor bezieht sich dabei vor allem auf die Traumatisierung durch die Kriegsereignisse und die spezifischen Leiden der Frauen unter den Taliban. Die im Vergleich zu den Männern außergewöhnlich hohe Rate an PTSD-Symptomen unter Frauen führt er darauf zurück, dass Frauen in der Regel sensibler und verletzlicher seien als Männer. Mit keinem Wort wird die immer noch andauernde, oft lebensbedrohliche alltägliche Gewalt gegen Frauen erwähnt.

Gleichzeitig weist die mittels der klinischen Diagnostik auf die Perspektive der psychischen Folgen fokussierte Betrachtung der gegenwärtigen Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan in alarmierender Weise auf ihre Notlage und den deutlichen Unterstützungsbedarf hin und ist deshalb ausgesprochen wichtig.

Wesentliche Voraussetzung zur Verarbeitung traumatischer Erfahrungen wie z.B. Kriegserlebnisse sind materielle und physische Sicherheit, soziale Anbindung und Unterstützung. In Afghanistan setzt sich aber für die Frauen und Mädchen die Gewalt im Alltag fort. 57% der afghanischen Frauen heiraten vor dem Mindestalter von 16 Jahren, 70 – 80% aller Frauen werden zur Heirat gezwungen (UNIFEM 2008a). Kindes- und Zwangsheirat sind die Ursache für verschiedenste Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen (UNIFEM 2008b). Vergewaltigungen, sexuelle Übergriffe und andere Formen der Gewalt im familiären Rahmen sind zum einen ein Tabu, entsprechen zum anderen einer akzeptierten gesellschaftlichen Norm (Ertürk 2006). Hinzu kommen Freiheitsentzug, in bestimmten Regionen verschiedene Formen der traditionsbedingten Gewalt wie z.B. »badal« oder »bad« (Übergabe eines Mädchens an eine andere Familie, um z.B. Blutrache zu beenden). Mangelernährung, frühe und zahlreiche Schwangerschaften und unzureichende medizinische Versorgung tragen dazu bei, dass Afghanistan das einzige Land der Welt ist, in dem die Lebenserwartung der Frauen mit 44 Jahren in 2008 noch niedriger ist als die der Männer (UNIFEM 2008). Vielen erscheint ihre Lage so aussichtslos, dass sie sich selbst das Leben nehmen. So ist z.B. die Selbstverbrennung unter Frauen und Mädchen unter anderem im Raum Herat sehr verbreitet (medica mondiale 2006-2007).

Es gibt nur eine verschwindend geringe Anzahl von ausgebildeten Psychiatern oder PsychotherapeutInnen, nur wenige Anlaufstellen stehen Menschen mit psychischen oder psychosozialen Problemen zur Verfügung, die wenigsten Frauen haben überhaupt aufgrund ihrer geringen Mobilität die Möglichkeit, entsprechende Beratungsstellen aufzusuchen.

Ebenso wichtig ist es, die Folgen der fast drei Jahrzehnte andauernden Kriege für Frauen nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch im sozialen Kontext zu betrachten. So sind die Ursachen der massiven häuslichen Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Afghanistan zum einen in frauenfeindlicher Tradition, Politik und einer entsprechend ausgelegten Religiosität zu sehen. Neben den individuellen, psychischen Folgen haben die kriegsbedingten Traumafolgen auch eine zerstörerische Wirkung auf die soziale Gemeinschaft insgesamt. So wird durch die massive zwischenmenschliche Gewalt und Brutalität in Kriegszeiten das Vertrauen in andere Menschen tief erschüttert. Wie in anderen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften auch, ist in Afghanistan zu beobachten, dass die zwischenmenschliche Gewalt im Vergleich zu Friedenszeiten extrem hoch ist. Auch das kann u.a. mit unverarbeiteten Traumata zusammen hängen. Ohnmacht und damit verbundene Wut und Aggression setzen sich in der oftmals schwierigen ökonomischen Situation fort – und entladen sich häufig gegenüber jungen Frauen und Kindern, die gesellschaftlich die schwächste Position haben.

Gewalt und Traumatisierung

Seit 2004 bietet »medica mondiale Afghanistan« in Kabul psychosoziale Beratungsgruppen für Frauen an. Die Teilnehmerinnen sind Überlebende mit kriegsbedingten Traumatisierungen, darunter viele Witwen, sowie Frauen, die häusliche Gewalt durch Ehemänner oder Schwiegerfamilien erfahren mussten

Die qualitative Auswertung der Angaben von 109 Teilnehmerinnen, die über ein halbes Jahr lang ein Mal wöchentlich an den Beratungsgruppen von »medica mondiale Afghanistan« teilnahmen, zeigt, dass die Mehrheit der Teilnehmerinnen in den Beratungsgruppen Erleichterung von psychischen oder körperlichen Problemen/Symptomen suchte.

So nannten 28,6% der Befragten als Grund, eine Beratungsgruppe aufzusuchen, eine generalisierte oder spezifische Schmerzsymptomatik, Zittern, ein Gefühl von Lähmung oder auch Betäubung und Kurzatmigkeit. 24,1% aller Befragten gaben Frustration, Depression, Nervosität, extreme Besorgnis, Angstgefühle, Aggression, Selbstverletzung oder die Angst verrückt zu werden als Grund zur Teilnahme an der Gruppe an. Generell zeigte sich eine auffällig hohe Anzahl depressiver Symptome sowie auch psychosomatisch bedingte Schmerzsymptome1 (siehe auch Zemp 2006).

Für Afghanistan beschreiben wissenschaftliche Studien mit unterschiedlichen thematischen und regionalen Schwerpunkten hohe Raten an PTSD bei Frauen, variierend zwischen 30 bis 48 Prozent der jeweiligen Stichproben (Seino et. al 2008, Scholte et. al 2004). In der ersten landesweiten repräsentativen Erhebung zu psychischer Gesundheit in Afghanistan 2002 zeigten 48,33% der befragten Frauen eine PTSD Symptomatik gegenüber 32,14% der Männer. Bei einer Stichprobe von Menschen dieser Studie, die als »disabled«, also aus verschiedenen Gründen als für die Alltagsbewältigung beeinträchtigt eingestuft wurden, lag die Rate bei 55% bei den Frauen und bei 26% bei den Männern (Lopes Cardozo 2004).

Verschiedene Artikel und Studien weisen aber darauf hin, dass in Afghanistan neben PTSD-Symptomen auch andere Folgen traumatischer Ereignisse wie Depressionen sehr häufig auftreten (u.a. Miller et. al 2008, Miller et. al 2009, Lopes Cardozo 2004, Zemp 2006). Die Rate an PTSD liegt dabei niedriger als die von Depression und Angststörungen.

So beschreibt auch Missmahl (2006), basierend auf der praktischen Arbeit in einem Beratungszentrum in Kabul, dass sich bei den Klientinnen und Klienten nur selten ein voll ausgebildetes Bild einer Posttraumatischen Belastungsstörung zeige (allerdings ohne zwischen Angaben zu Männern und Frauen zu unterscheiden). Dagegen litten viele Menschen an einer oder mehreren Langzeitfolgen unbehandelter traumatischer Erfahrungen, neben verschiedenen Symptomen, die dem Symptombild der PTSD zugeordnet werden können, erwähnt sie Somatisierung, körperliche Erkrankung, chronische Schmerzen.

Zusammenfassend legen die oben aufgeführten Ergebnisse nahe, dass im Fall von Gewalterfahrungen von Frauen in Afghanistan PTSD-Symptome nur einen Ausschnitt der möglichen psychischen Folgen darstellen (Joachim 2008).

Gesellschaftlicher Umgang mit Gewalt und Traumatisierung

2004 wurde die »Mental Health Task Force« ins Leben gerufen, eine Arbeitsgruppe, die angliedert ist an das afghanische »Ministry of Public Health« (Ditmann 2004). Seit Beginn 2007 nehmen afghanische Mitarbeiterinnen von »medica mondiale Afghanistan« regelmäßig an dieser Arbeitsgruppe teil, die sich zusammensetzt aus Regierungsmitarbeitern aus den Bereichen Gesundheit und Erziehung sowie aus VertreterInnen ausgewählter afghanischer und internationaler Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen sowie der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Relevanz psychischer Störungen, einschließlich Traumafolgestörungen, sowie der Bedarf an breiter Unterstützung für die Betroffenen jenseits von psychiatrischer Versorgung wird auch von der afghanischen Regierung mittlerweile als hoch eingeschätzt. Das zeigt sich u.a. daran, dass die »Mental Health Task Force« in 2008-2009 intensiv an der Integration einer ausgearbeiteten Komponente zu psychosozialer Begleitung als Teilbereich zum Thema Psychische Gesundheit im offiziellen »Basic Package of Health Services« (BPHS) (Ministry of Public Health 2005, Acera et. al 2009) der afghanischen Regierung gearbeitet hat. Diese schließt Trainingsmanuale für Gesundheitsfachkräfte ein und soll über die staatlichen Gesundheitsdienste in ganz Afghanistan umgesetzt werden. Die Gruppe hat erreicht, dass das Thema »Psychische Gesundheit« jetzt nicht mehr mit niedriger, sondern mit hoher Priorität im BPHS enthalten ist.

Wie schwierig es ist, Gewalt gegen Frauen und ihre Folgen im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit als Thema einzubringen, zeigten allerdings die zähen Verhandlungen in der »Mental Health Task Force« dazu, wie dieses Thema in den Ausbildungscurricula und Trainingsmanualen für Gesundheitsfachkräfte angemessen berücksichtigt werden kann. Immer noch wird deutlich lieber von »innerfamiliärer Gewalt« gesprochen anstatt Gewalt gegen Frauen explizit zu benennen und das Thema sexualisierte Gewalt ist nach wie vor tabuisiert. Letztendlich ist es gelungen, dass zumindest das Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen basierend auf einem Minimalkonsens als Querschnittsthema in die Manuale aufgenommen wurde.

In wie fern traumatische Erlebnisse auch tatsächlich zu einer chronifizierten Stress-Symptomatik wie PTSD oder anderen Stressfolgeerkrankungen führen, hängt maßgeblich davon ab, wie diese – gesellschaftlich und individuell – bewertet werden. Das macht z.B. in Afghanistan die Verarbeitung von extrem erniedrigenden und stigmatisierenden Gewalttaten wie Vergewaltigungen oder aber auch der sozial akzeptierten häuslichen Gewalt sehr problematisch.

Die afghanischen Mitarbeiterinnen von »medica mondiale« bieten seit 2005 Trainings zum Thema »Psychosoziale Beratung« an, die den Umgang mit Traumatisierung und Gewalt gegen Frauen einschließen – die Nachfrage ist groß. Dabei ist aber auch zu beobachten, dass die eigene Identifizierung als »Traumaopfer« auch einen Prozess der Hilflosigkeit auslösen kann: „Wir in Afghanistan sind alle traumatisiert? Was sollen wir schon tun?“.2

In der Arbeit von »medica mondiale« in Afghanistan ist es daher wichtig, immer den Blick auf die eigenen und sozialen Ressourcen zu öffnen, kleine Veränderungen und Fortschritte wahrzunehmen und auf die Stärke der Überlebenden zu fokussieren. So ist es essentiell, immer wieder auch ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass auch schwierige Lebenssituationen zu meistern sind. Schließlich ist es vielen Frauen und Mädchen in Afghanistan gelungen, trotz Jahrzehnte andauernden Kriegen, Konflikten und Unterdrückung und vielen körperlichen und psychischen Problemen immer noch ihre Alltagsanforderungen zu bewältigen und niemals vollständig die Hoffnung zu verlieren. Das ist ein Aspekt der psychischen Gesundheit, der nur selten in Studien untersucht wird (Miller nach Dittmann 2004).

Praktische Unterstützung vor Ort

Ruft man sich in Erinnerung, dass die Kriegserklärung an Afghanistan unter anderem mit den massiven Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen unter den Taliban begründet wurde, ist die Anzahl an zivilgesellschaftlichen und internationalen Projekten in Afghanistan, die sich gezielt für Frauen einsetzen, verschwindend gering. Zudem setzen sich gerade einheimische Frauen, die sich für Frauenrechte engagieren – sei es in internationalen und lokalen Nichtregierungsorganisationen – massiven Anfeindungen, lebensgefährlichen Bedrohungen und auch Attentaten aus.

So ist »medica mondiale Afghanistan« eines der wenigen Projekte, das konkrete Unterstützungsangebote für von Gewalt und Traumatisierung betroffene Frauen und Mädchen anbietet.

Dabei ist das Thema »Trauma« auch ein Türöffner z.B. für Trainingsangebote für Gesundheitsfachkräfte in Krankenhäusern. Es bietet den Mitarbeiterinnen – und auch den Teilnehmerinnen – einen gewissen Schutz davor, sofort als Frauenrechtlicherinnen abgestempelt zu werden und damit ungleich mehr gefährdet zu sein.

Seit 2003 engagiert sich »medica mondiale« für Frauen und Mädchen in Afghanistan mit verschiedenen Projekten: Die Mitarbeiterinnen vor Ort bieten Frauen direkte psychosoziale und rechtliche Unterstützung an. Mit politischer Arbeit setzt sich »medica mondiale« zudem offensiv für die Durchsetzung der Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan ein. Die Projektarbeit konzentriert sich auf die Städte Kabul, Herat, Mazar-i-Sharif (bis 2008 auch Kandahar) sowie auf einige angrenzende Provinzen. So bietet »medica mondiale« Rechtshilfe für Frauen an, die in den Frauengefängnissen in Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif inhaftiert sind. Die Mehrzahl dieser Frauen sind wegen so genannter moralischer Verbrechen im Gefängnis – zum Beispiel weil sie aus Angst vor einer Zwangsverheiratung von zu Hause geflohen sind oder nach einer Vergewaltigung der Unzucht bezichtigt werden. »medica mondiale Afghanistan« stellt den Frauen Anwältinnen zur Seite, die dafür sorgen, dass sie einen fairen Prozess erhalten und nicht für Jahre im Gefängnis verschwinden.

In sechs Stadtteilen Kabuls hat »medica mondiale Afghanistan« Beratungsräume eingerichtet, die Frauen eine psychosoziale Unterstützung in ihrer Nähe und einen Treffpunkt an einem geschützten Ort bieten. In mehreren Schutzhäusern, in Krankenhäusern in Herat und Kabul sowie in den Frauengefängnissen in Kabul und Herat bieten afghanischen Psychologinnen von »medica mondiale« ebenfalls Einzel- und Gruppenberatungen an. Die Nachfrage ist groß, da es in Afghanistan kaum qualifizierte Anlaufstellen für von Gewalt betroffene oder traumatsisierte Frauen gibt. Deshalb trainiert »medica mondiale Afghanistan« auch fortlaufend afghanische Fachkräfte wie Rechtsanwältinnen, Gesundheitsfachkräfte und Sozialarbeiterinnen im kompetenten Umgang mit von Gewalt betroffenen Afghaninnen.

Der Schwerpunkt liegt derzeit auf der intensiven Weiterbildung und Sensibilisierung medizinischen Fachpersonals von Krankenhäusern in Kabul und Herat. Viele Ereignisse der Gegenwart – wie etwa eine medizinische Untersuchung bei Frauen, die vergewaltigt wurden – bewirken eine Reaktualisierung der traumatischen Erfahrung. Sie rufen die schmerzhaften Erinnerungen so lebendig hervor, dass die Frauen das Gefühl haben, alles noch einmal zu erleben. Leider treffen Überlebende von (Kriegs-)Gewalt in Afghanistan in der Regel eher auf Menschen, die ihrer Problematik unvorbereitet gegenüberstehen – in Kliniken, vor Gerichten, Ministerien und auch bei Hilfsorganisationen. Dabei hängen die Verarbeitungsmöglichkeiten der körperlichen und seelischen Verletzungen elementar von den Hilfsangeboten und dem umsichtigen Handeln der Fachkräfte ab. Durch die Berücksichtigung einfacher, in Trainings vermittelter Grundprinzipien können z.B. Retraumatisierungen eingegrenzt oder vermieden werden.

Darüber bieten die Seminare die Möglichkeit zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und sensibilisieren für angemessene Unterstützung und Hilfsmaßnahmen.

Ausblick

Die psychischen Folgen von Traumatisierungen müssen immer im Kontext mit den massiven Menschenrechtsverletzungen gesehen werden, in dem sie entstanden sind. Sehr viele Frauen, mit denen »medica mondiale« in Afghanistan zu tun hat, haben Schreckliches erlebt und leiden täglich unter der zermürbenden Gewalt der Unterdrückung. Trotzdem gibt es Heldinnen des Alltags wie z.B. Malalai Joya, Mitglied des Parlaments, die sich trotz massiver Widerstände beharrlich aufgelehnt hat. Oder diejenigen, die gegen die Verabschiedung des international und in Afghanistan massiv kritisierten schiitischen Familiengesetzes auf den Straßen Kabuls protestiert haben. Oder die afghanischen MitarbeiterInnen von »medica mondiale« vor Ort, die sich trotz der Gefahren und Anfeindungen immer wieder engagiert einsetzen für die Umsetzung von Frauenrechten und für ihre Klientinnen. Oder die betagte Oberärztin des Universitätskrankenhauses in Kabul, die die Arbeit von »medica mondiale« schon seit 2004 unterstützt und es geschafft hat, ihr Leben lang sich auch unverheiratet Respekt zu verschaffen.

Auswertungen zeigen, dass die Angebote von »medica mondiale Afghanistan«, in denen Frauen sich in psychosozialen Beratungsgruppen regelmäßig in geschütztem Rahmen unter Begleitung einer afghanischen Psychologin treffen, mit verhältnismäßig wenig Aufwand eine schon fast überraschend positive Wirkung haben. Über 90% der Frauen beschreiben, dass sich durch die Teilnahme in der Gruppe ihre gesundheitliche oder soziale Situation deutlich verbessert hat. Ein ganz wesentlicher Faktor ist dabei die Aufhebung ihrer Isolation und die Begleitung beim Aufbau von Unterstützungssystemen, die über die Familie hinausgehen. Zum anderen bewirken der angeleitete Erfahrungsaustausch, die Aufklärung über den Zusammenhang von körperlichen und psychischen Problemen und die Übungen zu Stressreduktion und Problemlösungsstrategien eine deutliche Entlastung und Stärkung der Teilnehmerinnen, die sich unter anderem in einem Rückgang von körperlichen und psychischen Beschwerden, Stress- und auch Traumasymptomen widerspiegelt.

Viele Frauen treffen sich auch nach Beendigung der Gruppenarbeit weiter und nutzen u.a. gemeinsam Alphabetisierungskurse von »medica mondiale Afghanistan«. Was fehlt sind andere, auf einkommensschaffende Maßnahmen für Frauen spezialisierte Organisationen, die auch wenig gebildeten und vor allem wenig mobilen Frauen aus den Distrikten die Chance geben, größere ökonomische Sicherheit und damit auch größere Handlungsspielräume zu bekommen und damit mehr Schutz vor ausbeuterischen Abhängigkeits- und Gewaltverhältnissen. Darüber hinaus sind psychosoziale Angebote zur Traumabearbeitung und Sensibilisierung zu geschlechtsspezifischer Gewalt für Jungen und Männer als vorbeugende Maßnahme gegen häusliche Gewalt, familiäre Konflikte und bewaffnete Gewalt dringend erforderlich.

Gegenwärtig werden aus dem Bundeshaushalt pro Jahr mehr als 530 Millionen Euro für den Militäreinsatz ausgegeben. Für den zivilen Aufbau steht weniger als ein Viertel dieser Summe zur Verfügung. Das Budget für die Förderung von Frauenrechten und Unterstützung von Frauen unter anderem im Gesundheits- und Bildungswesen lag 2007 nur bei 1,7 Millionen Euro.

Die aggressive militärische Strategie der Anti-Terrorbekämpfung hat den Frauen bislang nur eines gebracht: eine sich dramatisch verschlechternde Sicherheitssituation, die immer mehr Frauen und Mädchen in ihre Häuser zurück zwingt – und sie dabei zu Zielscheiben fundamentalistischer Mächte macht. »medica mondiale« fordert einen nachhaltigen Strategiewechsel beim Wiederaufbau Afghanistans. Frieden, Entwicklung und Wiederaufbau können nur gelingen, wenn die militärische Gewaltspirale beendet und das Primat der militärischen Konfliktlösung durch einen deutlich verstärkten zivilen Wiederaufbau abgelöst wird, an dem Frauen maßgeblich beteiligt werden.

Dabei schaffen psychische Stabilisierung und Stärkung durch Traumaarbeit, psychosoziale Arbeit oder Selbsthilfegruppen für viele Frauen überhaupt erst die Möglichkeit, sich aktiv an der friedensfördernden Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte und am gesellschaftlichen Wiederaufbau zu beteiligen. Die inhaltliche Verknüpfung von Friedensaufbau und der Prävention von neuer Gewalt gegen Frauen und bewaffneter Gewalt muss bei internationalen und nationalen Konzepten endlich berücksichtigt werden.

Anmerkungen

1) Eine detaillierte klinische Diagnostik der PTDS wird von »medica mondiale« in Afghanistan aus verschiedenen Gründen nicht durchgeführt.

2) Aussage der Teilnehmerin zu Beginn eines Trainings von Gesundheitsfachkräften in Kabul 2006 durch »medica mondiale«.

Literatur

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Zemp, Maria (2006): Afghanische Frauen leben mit ihren Schmerzen; in: Lachesis, Zeitschrift Nr. 34.

Karin Griese arbeitet als Referentin für Traumaarbeit bei der Frauen- und Menschenrechtsorganisation »medica mondiale« mit Sitz in Köln. »medica mondiale« unterstützt vergewaltigte und von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen in Kriegs- und Konfliktgebieten wie in Afghanistan, Kosovo und Liberia mit eigenen Frauenberatungszentren, in anderen Regionen, wie der Demokratischen Republik Kongo, in Kooperation mit Frauenorganisationen vor Ort. Die Geschäftsführerin Monika Hauser erhielt 2008 für ihre Arbeit und die ihrer Organisation den Alternativen Nobelpreis.

»Enduring Freedom«

»Enduring Freedom«

Der programmierte Misserfolg

von Michael Pohly

Überwog nach der Auflösung des »Warschauer Paktes« die Hoffnung auf eine weitgehende und umfassende Entspannungspolitik, so scheint seit dem 11. September 2001 die Welt für die Geostrategen wieder in Ordnung zu sein. Der »Kampf gegen den Terror« weitete sich aus zum »Kampf von Gut gegen Böse«, und die dominierende Supermacht USA entwickelte eigene Vorstellungen von Hegemonie. Das Neue an der Doktrin, die gegen den internationalen Terrorismus gerichtet sein soll, ist, dass der Zeitrahmen, die Ziele und der Aktionsradius offen sind. Neben den völkerrechtlich umstrittenen Fragen dieses Konzeptes, welches aus der Mottenkiste des imperialistischen Zeitalters zu entstammen scheint, finden Methoden Anwendung, die eine Abkehr vom Rechtssystems – sowohl in den USA, als auch in Europa – bedeuten. Da die Attentäter des 11. Septembers keine Christen waren, sondern der islamischen Glaubensgemeinschaft angehörten, geriet eine ganze Weltreligion und Religionsgemeinschaft in Verruf. Nach dem verloren gegangenen Feindbild des internationalen Kommunismus, wurde der Islam zum willkommenen Ersatz. Dies obwohl gerade islamistische Hilfstruppen nach 1945 den US-Amerikanern im Kampfe gegen den Kommunismus willkommene Partner waren und oft genug als 5. Kolonne hilfreiche Dienste leisteten. An Afghanistan, einem Musterbeispiel für »zerfallene Staaten«, können die Entwicklung und die Konsequenzen dieser Form der Terrorbekämpfung punktuell nachgezeichnet werden. Vergegenwärtigt man sich den Verlauf des »ersten Feldzuges gegen den Terror« (enduring freedom), so ist die Bilanz nach 18-monatigem Wiederaufbau und Staatsbildungsprozess aber ernüchternd.
Die Worte des US-Präsidenten Bush, nach den schockierenden Bildern der brennenden und einstürzenden Twin-Tower, „wir befinden uns im Krieg“, wurden schnell in die Tat umgesetzt. Die ersten Vermutungen über die Urheber führten in den Nahen und Mittleren Osten, auf Osama bin Ladin und seine Basis al-qa’ida. Als aus den Vermutungen Gewissheit wurde, beschlossen die USA und die NATO den Verteidigungsfall. Es fand sich eine breite »Allianz gegen den Terror«, die im Krieg gegen Afghanistan das geeignete Mittel der Terrorismusbekämpfung sah.

Das Petersberger Abkommen

Nach dem Rückzug der Taliban und dem Einmarsch der von den USA unterstützten »Nordallianz« in Kabul begannen Ende November 2001 die Verhandlungen über die Zukunft Afghanistans. Durch das Abkommen vom Petersberg (Bonn) im Dezember 2001 wurden auf Vermittlung der Vereinten Nationen die politischen Eckdaten der nächsten zwei Jahre vorgegeben, die die vorläufige Regelungen bis zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen betreffen. Die Präambel des Abkommens sah vor, dass das Land „seine politische Zukunft im Einklang mit den Grundsätzen des Islam, der Demokratie, des Pluralismus und der sozialen Gerechtigkeit in Freiheit“ bestimmen solle. Eine Interimsregierung wurde zusammengestellt, die nach sechs Monaten Wahlen eine »emergency loya jirga« abhalten sollte, die u.a. den Übergangspräsidenten (transitional) für die nächsten 18 Monate wählen sowie eine verfassungsgebende Versammlung vorbereiten sollte. Nach dieser Periode sollen allgemeine und freie Wahlen durchgeführt und über eine Verfassung abgestimmt werden.

Die Interimsregierung wurde aus den verschiedenen Kriegsparteien unter Hinzuziehung der so genannten Zypern- und Rom-Gruppen um den Ex-König Zahir Schah eingesetzt. Dominiert wurde sie durch die »Nordallianz« und hier speziell durch die shura-ye nezar (auch Panjshiris genannt). Den paschtunischen Gruppen, die die Bevölkerungsmehrheit stellen, wurde der »Präsidentensitz« versprochen. Als sich die Delegation des Ex-Königs für den Sprecher und Vertrauten des Königs – Sirat, einen Usbeken, als Präsidentschaftskandidaten entschied, widersprach dem die amerikanische Delegation massiv. Mit dem Argument des ethnischen Proporzes wurde Karzai von den USA durchgesetzt, der zusammen mit seinem Bruder in der Vergangenheit für UNOCAL, einem amerikanischen Erdölkonzern, gearbeitet hatte. Die US-Delegation riskierte mit diesem Vorgehen fast das Scheitern der Konferenz. Die UN-Gesandten, mit Lakhdar Brahimi an der Spitze, intervenierten nicht.

Die Wahlen zur »emergency loya jirga«

Die Vereinten Nationen bündelten die verschiedenen Aktivitäten der VN-Missionen sowohl im politischen als auch im humanitären Bereich. Lakhdar Brahimi wurde zum Leiter der neu gegründeten Dachorganisation »United Nations Assistance Mission in Afghanistan« (UNAMA) ernannt. Die Vereinten Nationen implementierten u.a. die so genannte 21er Kommission, die festlegte, dass in einer zweiphasigen indirekten Wahl pro 25.000 Einwohner in acht Wahlbezirken mit je neun Zentren ein Delegierter benannt oder gewählt werden sollte. Bei der Durchführung der Wahlen erwies sich allerdings die Sicherheitslage lediglich in Kabul einigermaßen stabil. In den Provinzen herrschten teilweise Koalitionen, die nicht mit der Interimsregierung zusammenarbeiteten oder diese sogar offen sabotierten. Die Aktivitäten der Königstreuen, der national/-demokratischen Afghanen, wurden meistens schlichtweg verboten. Aktivisten mussten in verschiedenen Provinzen mit Verfolgung durch Provinzbehörden, lokale oder überregionale Warlords rechnen und ihr Engagement teilweise mit Anschlägen auf ihr Leben bezahlen. Es kam hinzu, dass – obwohl alle an der Übergangsregierung beteiligten Parteien die oben genannte Vereinbarung unterzeichnet hatten – sich nicht eine an die Vorgaben hielt. Im Gegenteil: Parteien wie z.B. shura-ye nezar (Fahim, Qanuni, Abdallah), jam`iat-e islami (Rabbani), hezb-e wahdat (Akbari und Khalili), die nahzat (Wali Masud) und auch jonbesh (Dostum) hatten in den von ihnen dominierten Distrikten die Weisung herausgegeben, dass keiner sich zum Kandidaten aufstellen lassen durfte, der nicht die Erlaubnis der entsprechenden Partei besaß. Insgesamt wurden 30 politisch motivierte Morde gezählt. Noch kurz vor der »loya jirga« rollte eine Verhaftungswelle über das Land.

Verzweifelte Versuche einiger UN-Vertreter und von internationalen Beobachtern die Wahlen gerechter zu gestalten, wurden von den zentralen und lokalen Autoritäten, aber auch vom Vorsitzenden und anderen Mitgliedern der »loya jirga«-Kommission und der UN-Spitze massiv unterlaufen. Die diversen Anrainerstaaten taten ihr übriges, um die Situation zu komplizieren. So kam aus dem Iran und Pakistan eine massive Propaganda gegen die ISAF und den gesamten »loya jirga«-Prozess. Usbekistan und die Türkei versuchten in den nördlichen Regionen, die Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Das Regelwerk sah vor, dass kein Offizieller der Regierung als Kandidat an den Wahlen teilnehmen durfte, wenn er nicht vier Wochen vor Beginn des gesamten Wahlverfahrens von seinem öffentlichen Amt zurückgetreten war. Trotzdem versuchten viele Gouverneure oder Warlords wie z.B. Dostum, Sayyaf, Tadj Mohammad (Kabul) sich durch direkte Wahlen legitimieren zu lassen. Die Kommission hätte in diesen Fällen den Ausschluss der Kandidaten beschließen und diese sogar bestrafen und inhaftieren müssen. Aber stattdessen beschlossen Brahimi, Karzai, Ashraf Ghani und der Sondergesandte der USA Khalilzad, dass alle Gouverneure Afghanistans und auch die wichtigen Milizenchefs ungewählt an der »emergency loya jirga« teilnehmen konnten. In den letzen zwei Tagen wurde so die Anzahl der Delegierten um 251 erhöht. Die Gouverneure und Milizenchefs sollten dafür Sorge tragen, die Mehrheit für Karzai zu garantierten.

Die »emergency loya jirga«

Die »emergency loya jirga«, die als eines der Instrumente des Petersberger Vertrages, Pluralität und Sicherheit nach Afghanistan bringen sollte, muss in dieser Hinsicht als gescheitert gelten. Von Außen betrachtet gilt die Versammlung, an der 1.651 Kandidaten aus 33 Provinzen, darunter über 200 Frauen teilnahmen, als großer Erfolg. Doch als Erfolg wird das Ereignis schon deshalb gewertet, weil es zu keinen größeren Konflikten kam. Als Fazit bleibt aber festzuhalten, dass es zu massiven Beeinflussungen kam, um Kandidaten der Interims-Administration oder auch Kandidaten der lokalen Kommandeure oder Gouverneure durchzusetzen. Die ehemaligen jihadi-Führer waren in die Defensive geraten.

Am Vorabend der Eröffnungsfeier der »emergency loya jirga« sprach sich die Mehrzahl der Delegierten für eine Präsidentschaft des Ex-Königs Zahir Shah aus, der zuvor bestätigt hatte, für jede Aufgabe zur Verfügung zu stehen, die das Volk an ihn herantragen würde. Versuche der Übergangsregierung und der UN, die Abgeordneten zu überzeugen Karzai zu wählen, schlugen fehl. Die Übergangsregierung, die UN und die USA vertagten angesichts dieser Situation die Eröffnung der »emergency loya jirga« um 24 Stunden, um den Druck auf den Ex-König erhöhen zu können. Nach einem dreistündigen Gespräch mit dem König verkündete der Sondergesandte der USA, Khalilzad, dass der König nicht länger für den Posten als Präsident zur Verfügung stehe und die Kandidatur von Karzai unterstütze. Bereits vor der Bekanntgabe des Verzichts des Ex-Königs wurden einige Gouverneure auf dem loya jirga Gelände aktiv und versuchten u.a. mit offenen Drohungen, die Delegierten per Unterschrift auf Karzai zu verpflichten. Die Druck zeigte Erfolg: Karzai wurde mit 1295 Stimmen gewählt, seine Gegenkandidaten, darunter eine Frau, waren chancenlos.

Während der Tagung wurde immer wieder gegen das Bonner Abkommen verstoßen. Die Abgeordneten wurden in ihrer Rede- und Wahlfreiheit massiv beeinträchtigt. Selbst als der Sekretär des Vorsitzenden der loya jirga geschlagen wurde, sahen sich weder Karzai noch die UN-Vertreter veranlasst einzuschreiten. Auch andere Vorgaben vom Petersberg, wie z.B. die Wahl eines Parlaments und der Einsatz einer Verfassungskommission, gingen in dem Chaos der »emergency loya jirga« unter.

Zur Sicherheitslage

Insgesamt herrscht heute in Afghanistan ein ausgeprägtes Klima der Angst vor der allgegenwärtigen Bespitzelungen durch den afghanischen Geheimdienst und die Islamisten. Die Denunziation ist weit verbreitet und verschafft vor allem den Mitgliedern der Nordallianz Vorteile.

Staatliche Organe wie Polizei und Militär, die z.T. mit internationaler Hilfe aufgebaut werden, sind durchweg korrupt und parteiisch. In den Ministerien herrscht Klientelismus und Vetternwirtschaft. Auch die mit deutscher Hilfe aufgebaute Polizei ist wesentlich dem Besitzstandsdenken von Ex-Innenminister Qanuni verhaftet. Alle wichtigen Stellen im Polizei- und Militärdienst wurden von Parteigängern Qanunis und Fahims (Verteidigungsminister) besetzt, auch wenn den Eingesetzten z.T. jegliche Qualifikation für die neuen Aufgaben fehlten.

Raub, Erpressung, Schmuggel und Drogenanbau sind die Haupteinnahmequellen der Warlords, deren marginale Strukturen nun mit westlicher Hilfe modernisiert werden. Der Wert der Opiumernte 2003 wird auf 1,2-1,4 Milliarden US$ geschätzt. Er übersteigt mit Erträgen von ca. 4.200t die Rekordernten zu Zeiten der Taliban, die bei 3.500t lagen.

Wichtigste Finanzierungsquelle bleibt aber nach wie vor der Warenschmuggel, er beläuft sich nach vorsichtigen Schätzungen auf 2 bis 3 Milliarden US $. Nicht zu vergessen sind auch die Einnahmen aus den Edelsteinminen, die unter Kontrolle der Panj-Shir-Fraktion stehen.

Ohne eine Entmachtung der Warlords, d.h. in erster Linie ihre Entwaffnung, kann keine Stabilität in das Land einkehren. Die Warlords haben neben ihren informellen Strukturen auch die marginalen des im Aufbau befindlichen Staates zur Verfügung. Vom Projekt Aufbau einer Zivilgesellschaft, welches am Petersberg beschworen wurde, ist Afghanistan heute weit entfernt. In dem Machtkartell, das heute gestützt durch die Politik der USA lokal und in Kabul die Fäden zieht, sitzen mehrheitlich die gleichen Personen, die für den lang anhaltenden Bürgerkrieg Verantwortung tragen, in dessen Folge die Taliban an die Macht kamen. Statt die Chance auf eine Veränderung zu nutzen und zivile Kräfte zu stärken, haben die USA und in ihrem Schlepptau die UN, die Wiederbelebung der jihadi-Führer mit Erfolg betrieben. Von der so oft beschworenen anderen Politik der Europäer ist nichts zu spüren. Das betrifft vor allem die nicht vorhandene Bereitschaft, der ISAF ein größeres Aktionsfeld zu geben, sie mit einem robusten Mandat auszustatten und auch zur Entwaffnung der Warlords einzusetzen.

Das wäre im Interesse der afghanischen Bevölkerung, während die Regierung die ISAF nutzen möchte, um ihren Machtbereich und den der an der Regierung beteiligten Warlords auszudehnen. Entwaffnungen fanden nicht statt oder waren lediglich Umverteilungen von kleineren Kommandanten hin zu einflussreicheren. Um von den Missständen abzulenken, werden von der Regierung Bedrohungsszenarien ausgemalt, arbeitet die Propaganda mit verfälschten Darstellungen über »reale Gefahren«, werden Dissidenten und Andersdenkende pauschal als al-qa’ida Mitglieder denunziert. Damit sind sie de facto rechtlos.

Die US-Streitkräfte in Afghanistan

Beim Versuch die verschiedenen Stützpunkte von al-qa’ida und den Taliban in Afghanistan auszumerzen, bedienten sich die US-Truppen lokaler Warlords, die bereit waren mit ihnen zusammenzuarbeiten. Dass damit gleichzeitig die ohnehin schwache Autorität der Kabuler Zentralregierung zusätzlich untergraben wurde, störte zumindest die Militärs nicht. Das Grenzgebiet wurde durch die US-Spezialtruppen – an deren Operationen auch die deutschen SKS-Einheiten beteiligt sind – nicht sicherer. Im Gegenteil, der »Mogadischu Effekt« ist bereits eingetreten. Die siegreiche US-Armee ist gegen den »unsichtbaren Gegner« in der Defensive. Die Raketeneinschläge während des Besuches des deutschen Verteidigungsministers Struck am 10.02.03 in Kabul, sind deutliche Zeichen einer sich verschärfenden Sicherheitslage, und auch die Erschießung von fünf afghanischen Geheimdienstmitarbeitern vor der US-amerikanischen Botschaft im Mai 2003 zeigt die zunehmende Nervosität auf allen Seiten. Bereits seit dem Frühjahr 2003 haben sich die inzwischen verbündeten Gruppen der reorganisierten Taliban, al qa’ida und hezb-e islami auf die gezielte Ermordung ausländischer NGO-Vertreter verlagert. Mitarbeiter von Minenräumkommandos bleiben davon genauso wenig verschont wie die Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes. Das Bombenattentat auf den mit deutschen Soldaten besetzten Bus am 07.06.03 in Kabul war vorläufig der traurige Höhepunkt einer zunehmenden Gewaltspirale.

Zu einer schwerwiegenden Bürde für die Streitkräfte von »enduring freedom« wurden außerdem militärische Operationen, die zunehmend zu Opfern unter der Zivilbevölkerung führen. In der Wahrnehmung der meisten Afghanen werden die fremden Streitkräfte auch damit assoziiert, dass sie die alten »Verbrecher«, die von den Taliban vertrieben wurden, wieder an die Macht brachten. Sie haben nicht vergessen, dass diese Kommandeure, mit denen die US-Truppen versuchen al-qa’ida in Afghanistan zu bekämpfen, die Ursache waren für die Entstehung der Taliban.

Die Situation in Afghanistan ist heute ähnlich instabil wie in den Jahren zwischen 1992 und 1996, auch wenn jetzt ausländische Truppen und Financiers im Lande sind. Verlassen die ISAF und die Truppen von »enduring freedom« das Land, so wird jeder Ansatz von Stabilität zusammenbrechen. Der Versuch der US-Militärs eine Balance zwischen der Zentralmacht in Kabul und ihren Interessen in den Provinzen zu bewerkstelligen, muss angesichts der aktuellen Verhältnisse bislang als gescheitert bezeichnet werden. Der versprochene Abzug aller Milizen aus Kabul sowie deren Überstellung unter „das Kommando und die Kontrolle der Interimsverwaltung“ blieb eine leere Floskel, die von der UN kritiklos hingenommen wurde. Kritisch muss in diesem Zusammenhang auch die Rolle der USA beim Aufbau der afghanische Armee gesehen werden, die damit starteten, ohne geklärt zu haben, für welchen Zweck diese eigentlich eingesetzt werden soll.

Schlussbetrachtungen

Die jetzige afghanische Interimsregierung unter Präsident Karsai steht vor einem kaum lösbaren Legitimitätsproblem. Die Warlords sind zurückgekehrt, die für die Machtergreifung der Taliban verantwortlich waren. Die einmalige historische Chance für einen andauernden Frieden und für Stabilität sind fürs erste zunichte gemacht worden. Seit der »emergency loya jirga« sind sie bestrebt ihre Positionen auszubauen. Zwischen den »großen« Warlords wie Shir Agha (Kandahar), Ismael Khan (Herat), Dostam (Mazar-e Sharif) und Atta (Mazar-e Sharif) gibt es ein stillschweigendes Arrangement, dass momentan nicht am »status quo« gerüttelt werden darf. Sie fürchten einen Dominoeffekt, der letztendlich alle um ihre Pfründe bringen könnte. Die Warlords unterscheiden sich bis auf Dostam in ihrer radikal-islamistischen Gesinnung nicht im Geringsten von denen der Taliban. Sie alle unterhalten stehende Milizen, ein klarer Verstoß gegen das Petersberger Abkommen, und sie benutzen das Steueraufkommen des transnationalen Handels für ihre eigenen Bedürfnisse. Die Gefahr einer Eskalation, die immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen kann wie vor 1996, nimmt dramatisch zu (z.B. in Paktia, Ziriko, Gorean, Konar, Balkh). Das Konzept von »enduring freedom«, das eine nur militärische Option vorsah, muss als gescheitert angesehen werden. Es ist den USA und ihren Verbündeten nicht gelungen, ranghohe Mitglieder von al-qa’ida, geschweige denn der Taliban festzusetzen. Auch das Kriegsziel Osama bin Laden und Mullah Omar dingfest zu machen, ist gescheitert. Al-qa’ida ist dabei, zusammen mit anderen islamistischen Gruppen in Afghanistan wieder zu einem Faktor zu werden. Damit verbunden steigen die Sicherheitsrisiken für einen Neuanfang eines »state-building-process«. Zudem tobt ein Machtkampf zwischen der »westlichen« Partei um Karzai und der jihadi-Fraktion von Fahim, dem Verteidigungsminister. Alle wesentlichen Maßnahmen zur Schaffung von Sicherheit, in Richtung einer pluralistischen Gesellschaft, wurden bislang unterlaufen. Weder wurde ein Parteiengesetz noch ein Pressegesetz erlassen, was die ungehinderte Ausübung demokratischer Rechte ermöglicht. Auch die anstehende Diskussion um eine zukünftige Verfassung findet hinter verschlossenen Türen statt, weit davon entfernt dieses wichtige Thema zu einem nationalen zu machen.

Eine der wichtigsten Ursachen für dieses Scheitern liegt im Wieder-Einsatz der alten korrupten politischen Eliten, die die Staatsämter in erster Linie als persönliche Beute betrachten, in der ungebrochenen Macht der modernen Warlords, die die »Kanäle der Schattenglobalisierung«, die auf unterschiedliche Art mit der Weltwirtschaft verflochten sind, zur schamlosen eigenen Bereicherung nutzen.

Es ist eine Frage der Zeit bis die militärischen Drohungen der USA und der ISAF an Glaubwürdigkeit verlieren. Damit steht und fällt aber der gesamte Prozess. Solange Afghanistan nur als »Symbol« in den westlichen Hauptstädten verstanden wird und man sich mit symbolischen Handlungen am »state-building-process« begnügt, wird es in Afghanistan keine Stabilität und keinen Aufbau einer Zivilgesellschaft geben. Die Petersberger Beschlüsse sollten eine Richtschnur sein. Dass sie nicht durchgesetzt wurden liegt auch an der Mutlosigkeit und Ignoranz der westlichen Politiker und der UN.

Dr. phil. Dr. med. Michael Pohly ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Iranistik der FU-Berlin. Er befasst sich seit 1978 mit Afghanistan, von Januar bis August 2002 Aufbau des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul, zuvor UN-Wahlbeobachter bei den Wahlen der »emergency loya jirga«. Er war während der Taliban-Herrschaft in Afghanistan in mehrere Projekte implementiert, darunter die Reorganisation der demokratischen Gruppen, Personen und Parteien, in Zusammenarbeit mit den VN. Publikationen u.a.: »Krieg und Widerstand in Afghanistan – Ursachen, Verlauf und Folgen seit 1978« (Berlin 1991), zusammen mit Khalid Duran: »Osama bin Laden und der internationale Terrorismus« (München 2001) und »Nach den Taliban: Afghanistan zwischen internationalen Machtinteressen und demokratischer Erneuerung« (München, 2002)

»Enduring Freedom« oder »Gerechter Friede«?

»Enduring Freedom« oder »Gerechter Friede«?

Lästige Betrachtungen zum Krieg gegen den Terror

von Jürgen Rose

Ein Jahr ist es nun her, seit am 11. September 2001 die Terroranschläge von New York und Washington, von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt als »Mammutverbrechen« apostrophiert, die Welt erschüttert haben. Danach, so war allerorten zu vernehmen, sei »alles anders« geworden, wäre die Welt nicht mehr dieselbe wie zuvor. In der Tat war die Dimension der terroristischen Attacke bis dato präzedenzlos. Mit Fug und Recht war das Entsetzen also groß. Erstaunt hatte man allerdings nicht wirklich sein können, hatte sich doch eine derartige Entwicklung schon seit Jahren abgezeichnet. Indessen herrschte hinsichtlich der Ursachen- und Entstehungszusammenhänge des internationalen Terrorismus eine nahezu unbegrenzte Ignoranz, die auch weiterhin – siehe das skandalöse Ergebnis des UN-Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg im Herbst diesen Jahres – den Anschein ihrer Unausrottbarkeit erweckt.
Mittlerweile hat der unter dem Rubrum »Operation Enduring Freedom« begonnene sogenannte Anti-Terror-Krieg, bei dem es sich in Wahrheit vornehmlich um einen Globalisierungskrieg im Interesse des Clubs der Reichen gegen die Armen dieser Welt handelt, gravierende Verwerfungen im internationalen System nach sich gezogen. In den USA lässt die derzeitige Administration eine neue »National Security Strategy« erarbeiten, die unverhohlen »Striking First«-Optionen, d. h. eine Präventivkriegsstrategie zum legitimen Instrument der US-Außenpolitik erklärt, wie der amerikanische Präsident George W. Bush in einer Rede an der Militärakademie von West Point zur sogenannten Bush-Doktrin ausführte.1 Ausdrücklich eingeschlossen in diese Planungen ist auch der präventive Einsatz von Nuklearwaffen. Im Weißen Haus und im Pentagon wird argumentiert, dass beispielsweise unterirdische Bunker, in denen biologisches, chemisches oder nukleares Waffenmaterial lagert, nur durch einen Nuklearschlag geknackt werden könnten. Außerdem könne nur die extreme Hitze einer nuklearen Detonation Sporen, Kampfstoffe oder radioaktives Material nachhaltig vernichten.2 „Solange Atomwaffen existieren, müssen wir ernsthaft mit einem Atomkrieg rechnen“3, kommentiert die indische Schriftstellerin Arundhati Roy und hat auf erschreckende Weise Recht, wird doch im Rahmen des sogenannten Anti-Terror-Krieges der Einsatz von Nuklearwaffen denkbarer denn je.

Schneller als erwartet könnten derartige Befürchtungen Realität werden, sollte der gegenwärtig geplante und in Vorbereitung befindliche Angriffskrieg gegen den Irak tatsächlich stattfinden. Dann nämlich steht zu befürchten, dass der irakische Diktator Saddam Hussein, diesmal buchstäblich um seine physische Existenz kämpfend, einerseits die Truppen der Angreifer, andererseits aber auch Israel tatsächlich mit chemischen oder biologischen Waffen angreifen wird. Die schon während des ersten Krieges gegen den Irak 1991 unmissverständlichen Drohungen sowohl der USA und Großbritanniens als auch Israels, in einem solchen Falle mit nuklearen Gegenschlägen zu reagieren, dürften dann mit infernalischen Konsequenzen in die Tat umgesetzt werden. Der Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten George Bush Senior, Brent Scowcroft, hat diesbezüglich eindringlich gewarnt: „Israel would have to expect to be the first casualty, as in 1991, when Saddam sought to bring Israel into the conflict. This time, using weapons of mass destruction, he might succeed, provoking Israel to respond, perhaps with nuclear weapons, unleashing an armageddon in the Middle east.“4

Im Kielwasser der US-amerikanischen Strategieentwicklung wird durchaus auch in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch unternommen, eine Konzeption »Präventiver Konventioneller Verteidigung« als neue sicherheitspolitische Maxime und legitimes Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu etablieren.5 Offenbar von militärtechnokratischem Machbarkeitswahn besessen, plädieren Politiker diesseits und jenseits des Atlantiks für eine verkappte Aggressionsstrategie im globalen Maßstab und frönen dabei zugleich, wie derzeit weite Teile der sogenannten »Strategic Community«, einem exzessiven Sicherheitswahn – der Fiktion nämlich, durch militärische Hochrüstung nach dem Vorbild USA ließe sich hundertprozentige Sicherheit gewinnen.

Zieht man indessen eine überschlägige Bilanz des globalen Krieges gegen den Terror, so fällt diese eher ernüchternd aus:

  • Aus dem angeblichen Anti-Terror-Krieg in Afghanistan wurde sehr schnell ein klassischer, ordinärer Krieg gegen ein Land, sein Regime und seine Bevölkerung.
  • Die Zahl der – üblicherweise mit dem Euphemismus »Kollateralschaden« belegten – Todesopfer, welche der angeblich »chirurgisch« geführte Luftkrieg unter der afghanischen Zivilbevölkerung forderte, bewegt sich zwischen mindestens 1.000 bis zu 5.000.6 Unberücksichtigt sind dabei diejenigen, die mittelbar durch die Auswirkungen des Krieges – nämlich auf der Flucht und durch Hunger – ums Leben kamen; deren Zahl beträgt nach einschlägigen Berechnungen mindestens 3.000. Insgesamt übersteigt demnach die Anzahl der unschuldigen zivilen Todesopfer des sogenannten Anti-Terror-Krieges gegen Afghanistan die Zahl der durch die Terroranschläge in den USA Getöteten (ca. 2.800) erheblich. Der Bischof der Evangelischen Kirche in Sachsen, Axel Noack, moniert aus diesem Grunde eindringlich die „verbrauchende Terrorismusbekämpfung“, die es billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu Opfern zu machen.7 Mit Nachdruck erhebt sich somit die Frage, wie es um die Moral einer Interventionspolitik mit militärischen Mitteln bestellt ist, die es in Kauf nimmt, Unschuldige zu töten, um andere Unschuldige zu retten, erlittene Verluste zu rächen oder präventiv potenzielle zukünftige Opfer zu schützen.
  • Seine ursprünglich deklarierten Ziele hat der Anti-Terror-Krieg verfehlt: Weder Osama bin Laden noch Mullah Omar wurden bisher gefasst, die Al Quaida ist immer noch nicht endgültig besiegt, die Kämpfe in Afghanistan dauern an; man muss abwarten, ob eine Stabilisierung der Region in Zukunft gelingen wird. Die Anschläge von Kabul und Kandahar am 5. September 2002 demonstrierten erneut die Brisanz der Problematik.
  • Der internationale Terrorismus ist nach wie vor virulent, wie die Terrorattacken von Djerba oder Karachi zeigen; die US-Behörden geben zu Protokoll, dass sie weiterhin mit schwerwiegenden Terroranschlägen rechnen, und sie wurden in ihrer Diagnose erst neulich, am 10. Juni bestätigt, als in Chicago ein mutmaßlicher Terrorist festgenommen werden konnte, der angeblich einen Anschlag mit einer sogenannten »schmutzigen« Atombombe geplant hatte.

Was die Terrorbekämpfung mit militärischen Mitteln betrifft, müsste folgender Sachverhalt zu denken geben: Seit den 70er Jahren geht Israel mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, unter Anwendung brutaler Gewalt und unter systematischer Missachtung jeglichen Völker- und Menschenrechts – also mit maximaler Intensität – gegen den palästinensischen Terror vor. Dabei übertrifft die Zahl der Toten und Verletzten, die der israelische Gegenterror unter der palästinensischen Bevölkerung verursacht, diejenige des palästinensischen Terrors unter der israelischen Bevölkerung um ein Mehrfaches.8 Trotz dieser hemmungslosen Anwendung militärischer Gewalt zur Terrorbekämpfung ist zugleich aber von allen Staaten der Welt gerade Israel der Staat, der von Terroranschlägen am intensivsten betroffen ist. Schlagender lässt sich wohl kaum illustrieren, dass militärische Gewalt keine Lösung politischer Konfliktlagen zu bewirken vermag.

Geht man von der Prämisse aus, dass aus Elend Verzweiflung resultiert und Verzweiflung wiederum Hass und Gewalt hervorbringt – weil nämlich, „wenn die eigene Subsistenzfähigkeit einmal zerstört ist, […] den Frauen [nur] noch die Prostitution [bleibt], und den Knaben und jungen arbeitslosen Männern, dass sie sich eine Kalaschnikow besorgen“9, dann müssten eigentlich am dringlichsten Strategien der Elendsbekämpfung gefragt sein. Militärische Terrorbekämpfungsstrategien erscheinen daher vor allem unter längerfristiger Perspektive als eher nachrangig, weil sie auf das Symptom anstatt die Ursache des Terrors abheben. Nichtsdestoweniger werden unbeirrt in militärische Gewalt- rsp. Gegengewaltpotenziale ungeheure Summen investiert: So gibt die größte Militärmacht der Welt, die USA, in diesem Jahr mehr als 900 Mio. US-$ »täglich« für Rüstung aus10. Schon ab 2003 werden es täglich mehr als 1.000 Mio. US-$ pro Tag sein und nach derzeitiger Planung soll bis 2007 diese Summe auf über 1.200 Mio. US-$ täglich anwachsen.

Demgegenüber betragen die Entwicklungshilfeausgaben der USA magere 9,95 Mrd. US-$ »im Jahr« 200211 oder anders ausgedrückt: Die Ausgaben für militärische Terrorbekämpfung übersteigen die Aufwendungen zur Elendsbekämpfung um etwa das Sechsunddreißigfache.

Für die Europäische Union sehen die entsprechenden Zahlen in ihrer absoluten Höhe weit weniger drastisch aus, weisen aber ähnlich Relationen auf. So beträgt nach mehreren Erhöhungen der bundesdeutsche Verteidigungsetat (Epl. 14) mit rund 24,4 Mrd. Euro etwa das Sechseinhalbfache des Entwicklungshilfehaushalts (Epl. 23), der gerade einmal 3,7 Mrd. Euro erreicht und damit zugleich weit unter dem international vereinbarten 0,7-Prozent-Ziel verharrt.

Im Hinblick auf diesen geschilderten Sachverhalt drängt sich dem unvoreingenommenen Betrachter der Eindruck auf, dass sich die Wohlstandschauvinisten dieser Welt lieber bis unter die Zähne bewaffnen, um ihren gewohnten »Way of Life« abzusichern, und dabei die Armen und Ärmsten auf dem Globus mit einem sogenannten Anti-Terror-Krieg überziehen, anstatt die zur Verfügung stehenden, ja nicht unbeträchtlichen Mittel vermehrt in die Bekämpfung der Ursachen für den Terror und damit in die Gewaltvorbeugung zu investieren.

Warum aber, so lautet die Frage, existiert diese bemerkenswert unausgewogene Ausgabenpolitik? Um sich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, muss man sich zunächst einer weiteren Frage zuwenden, die bereits in der Antike formuliert wurde und die da lautet: Cui bono? – also: Wem nutzt eine solche Politik, wer profitiert von ihr? Oder modern, auf »neurömisch« ausgedrückt: »Where does the money go?« Nehmen wir den bereits erwähnten Rüstungshaushalt der USA als Beispiel, so ist zu konstatieren, dass ca. 35% des Budgets für Investitionen in militärische Beschaffungen, Forschung und Entwicklung gehen12. Dies entspricht in den Jahren 2002-2007 einer Summe zwischen jeweils 117 und 160 Mrd. US-$, die in den vom amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower so bezeichneten »militärisch-industriellen Komplex« fließen. Hierzu ein Beispiel aus jüngster Zeit13: Ende Oktober letzten Jahres vergab das Pentagon den größten Rüstungsauftrag in der Geschichte an den kalifornischen Konzern Lockheed Martin. Der Auftrag bezieht sich auf den Bau eines neuen Kampfflugzeugs, den Joint Strike Fighter (JSF). Er soll dem Unternehmen etwa 200 Milliarden US-$ einbringen. Darüber hinaus wird dieser Rüstungsauftrag mehr als 8.000 Menschen einen Job bei Lockheed Martin sichern. Zudem profitiert die ganze Region um Dallas Fort Worth an dem Rüstungsauftrag – von der Baubranche über Einkaufszentren bis zu Zulieferbetrieben. Die Milliarden bedeuten Kaufkraft und Prosperität. An dem Projekt werden aber auch Zehntausende von Amerikanern in 27 Bundesstaaten bei den Zulieferanten arbeiten. Die Frankfurter Rundschau titelte am 29.10.01 dazu: „In Nordtexas knallen die Sektkorken“.

Die Verhältnisse sind indes weitaus komplexer, als es das geschilderte Beispiel nahelegt: Zu berücksichtigen ist nämlich, dass Rüstungsausgaben über Steuern finanziert werden, eigentlich eine banale Feststellung. Weniger banal ist allerdings der Umstand, dass sich unter den Vorzeichen der Globalisierung die Verteilung der Steuerlast sehr ungleich entwickelt hat. Während die großen Konzerne und die Spitzenverdiener der Upper Class über schier unlimitierte Möglichkeiten zur Steuervermeidung verfügen, wird der Löwenanteil der staatlichen Steuereinnahmen von Mittelstand und Lower Class aufgebracht. Bezogen auf die Frage, warum auf militärische Terrorbekämpfungsstrategien ein solch großes Schwergewicht gelegt wird, ist unter dem Aspekt des »Cui bono« festzustellen, dass die Lower und Middle Classes den Anti-Terror-Krieg hauptsächlich finanzieren, während hauptsächlich die gigantischen Rüstungskonglomerate und deren Eigner aus der Schicht der Vermögenden von ihm profitieren. Anzumerken bleibt, dass Krieg schon immer ein lohnendes Geschäft war.

Noch ein weiterer Sachverhalt ist in dem zu hinterfragenden Kontext von Bedeutung, nämlich wer eigentlich diesen Anti-Terror-Krieg führt, d. h. wer persönlich in die globalen Kriegseinsätze geschickt wird. Empirisch betrachtet rekrutiert sich das Personal der Streitkräfte in den westlichen Industrienationen vor allem aus dem eher kleinbürgerlich zu nennenden Milieu. Soziologisch gesehen handelt es sich beim Militärberuf um einen ganz typischen Aufsteigerberuf, während zugleich die sozialen und ökonomischen Eliten der Gesellschaft gegenüber der Organisation Militär vornehme Zurückhaltung üben. Bezieht man diese Tatsache wiederum auf den Anti-Terror-Krieg, so lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Abkömmlinge der Middle und Lower Class für die Upper Class in einen Krieg ziehen, aus dem letztere sich selbst und ihre Nachkommen lieber fernhält.

Ein letzter Umstand scheint in diesem Kontext noch von Bedeutung, nämlich wie unter volkswirtschaftlicher Perspektive der Strom des für Militär, Rüstung und Krieg aufgewandten Geldes fließt. Für die Rüstungsindustrien des Westens gilt, dass diese nach wie vor primär national strukturiert sind: Auf der einen Seite stehen die gigantischen Rüstungskonzerne in den USA, auf der anderen Seite in etwas kleinerem Maßstab die der Europäischen Union. Entscheidend ist nun, dass die Rüstungsausgaben im Wesentlichen innerhalb der nationalen Ökonomien verbleiben, d.h. es sind die Rüstungsgiganten und ihre Eigner, die von einer derartigen Mittelallokation profitieren – Strategien militärischer Terrorbekämpfung lohnen sich für sie gerade auch unter volkswirtschaftlichen Aspekten.

Anders sieht es unter einer solchen Betrachtungsweise dagegen mit den erwähnten Elendsbekämpfungsstrategien aus: Die Schaffung sicherer Ernährungsgrundlagen, die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser, Bildungsoffensiven, Hilfe zur Geburtenkontrolle, Unterstützung von »Good Governance«, das ganze weite Spektrum von Entwicklungshilfe bedeutet den Abfluss der hierfür bereitgestellten Mittel in die betroffenen Länder und Regionen selbst – zumindest, wenn Entwicklungshilfe nicht als verkappte Exportförderung begriffen wird. Volkswirtschaftlich gesehen eignen sich derartige Ausgaben nicht zur kurzfristigen Profitmaximierung, sondern werfen allenfalls langfristig einen Gewinn ab, dann nämlich, wenn entwickelte Volkswirtschaften entstehen, mit denen wiederum lukrative Wirtschaftsbeziehungen etabliert werden können.

Um die gerade angestellten Überlegungen zusammenzufassen: Die Frage nach dem »Cui bono« ist geeignet, Irritationen auszulösen und die so naheliegende, mit Verve verfolgte Strategie der Terrorbekämpfung mit militärischen Mitteln gewissen Zweifeln auszusetzen. Als Bürgerinnen und Bürger dieser Republik sollten wir uns die Frage stellen, ob wir die aufgezeigten politischen Strategien und Zusammenhänge als die Prämissen akzeptieren wollen, unter denen wir unsere Zustimmung dafür geben, die Bundeswehr in die Globalisierungskriege der Zukunft zu entsenden. Denn, nicht wahr, in einer Demokratie sind es ja die Bürgerinnen und Bürger, die letztlich darüber entscheiden, ob ihre Streitkräfte in den Krieg ziehen, in welche Kriege sie ziehen und wie sie zur Erfüllung derartiger Aufträge ausgestattet und strukturiert werden, kurz: welches Profil sie aufweisen sollen. Die intensiv geführte Debatte um eine Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an einem allfälligen Krieg gegen den Irak und dessen Diktator Saddam Hussein kann da als illustratives Beispiel dienen: Der Umstand nämlich, dass sich die Bundesregierung nicht zuletzt deshalb, weil weit über 90 Prozent der BundesbürgerInnen einen Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen den Irak ablehnen, gegenüber der amerikanischen Hegemonialmacht unmissverständlich weigert, deutsche Streitkräfte für eine strategische Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens nach den geopolitischen Interessen der USA zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass – gerade in Wahlkampfzeiten – die Verfassungsbestimmung des Art. 20, GG – „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – durchaus Relevanz besitzt.

In diesem Zusammenhang hat vor kurzem ein slowenischer Philosoph, Slavoj Zizek, eine kleine Parabel verfasst14. Sie lautet folgendermaßen: „In einem alten DDR-Witz wird einem Mann Arbeit in Sibirien zugewiesen. Da er weiß, dass alle Post zensiert werden wird, sagt er seinen Freunden: »Lasst uns einen Code verabreden: Wenn ich euch einen Brief mit gewöhnlicher blauer Tinte schreibe, ist sein Inhalt wahr. Ist er mit roter Tinte geschrieben, ist er falsch.« Nach einem Monat erhalten seine Freunde den ersten mit blauer Tinte geschriebenen Brief: »Hier ist alles ganz wunderbar. Die Geschäfte sind voller Waren, Lebensmittel gibt es reichlich, die Wohnungen sind groß und ordentlich geheizt, die Kinos zeigen Filme aus dem Westen, und es gibt viele hübsche Mädchen, die auf eine Affäre aus sind – das einzige, was man nicht bekommen kann, ist rote Tinte«…“

Zizek knüpft an diesen Witz die Frage an: „Ist das nicht genau das Grundmuster, nach dem Ideologie funktioniert? Nicht nur unter »totalitärer« Zensur, sondern vielleicht auch unter den verfeinerten Verhältnissen liberaler Zensur? Wir »fühlen uns frei«, weil uns die Sprache fehlt, unsere Unfreiheit auszudrücken. Die fehlende rote Tinte bedeutet heute, dass alle wesentlichen Begriffe, die wir gebrauchen, um den gegenwärtigen Konflikt zu charakterisieren – »Krieg gegen den Terror«, »Menschenrechte« und so weiter –, falsche Begriffe sind, die unsere Wahrnehmung der Situation mystifizieren, anstatt den Gedanken zuzulassen: Unsere »Freiheiten« selbst verdecken unsere tiefere Unfreiheit und erhalten sie. Das gleiche gilt für die uns angetragene Wahl zwischen »Demokratie oder Fundamentalismus«.“ Angesichts der Anmerkungen dieses slowenischen Zeitgenossen drängt sich die Frage auf, in welcher Farbe eigentlich die Redetexte unserer Politiker geschrieben sind.

Wo aber bleibt, um mit Erich Kästner zu sprechen, am Ende nun das Positive? Eine schwierige Frage, die, so ist zu befürchten, sich einer kurzen und schneidigen Antwort entzieht. Ein Fingerzeig indes lässt sich erkennen: Die deutschen Bischöfe nämlich haben einen ganz einfachen, präzisen, unmissverständlichen Satz geprägt, und dieser Satz lautet: „Gerechtigkeit schafft Frieden.“ Sie führen dazu aus: „Das Leitbild des gerechten Friedens beruht auf einer letzten Endes ganz einfachen Einsicht: Eine Welt, in der den meisten Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, ist nicht zukunftsfähig. Sie steckt auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt. Verhältnisse fortdauernder schwerer Ungerechtigkeit sind in sich gewaltgeladen und gewaltträchtig. Daraus folgt positiv: »Gerechtigkeit schafft Frieden«.“15

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu Bush, George W.: Remarks by the President at 2002 Graduation Exercise of the United States Military Academy West Point, New York, June 1, 2002, 9:13 A.M. EDT (im Internet unter www.whitehouse.gov/news/releases/2002/06/20020601-3.html).

2) Vgl. Göller, Josef Thomas: Neue Bush-Doktrin: Präventivschlag statt Abschreckung, in: Das Parlament, Nr. 24, 14. Juni 2002, S. 12.

3) Roy, Arundhati: Das radioaktive Kaninchen, in: Die Zeit, Nr. 25, 13. Juni 2002, S. 33.

4) Brent Scowcroft zit. n. Left, Sarah: Iraq: hawks and doves, August 29, 2002 (im Internet unter www.guardian.co.uk/Iraq/Story/0,2763,781489,00.html); vgl. auch Borger, Julian/Norton-Taylor, Richard: US adviser warns of Armageddon, in: The Guardian, August 16, 2002 (im Internet unter www.guardian.co.uk/international/story/0,3604,775519,00.html).

5) Vgl. hierzu insbesondere Opel, Manfred: Die Zukunft der Streitkräfte, in: Soldat und Technik, Nr. 4/2002, S. 7 – 14 (im Internet unter www.soldat-und-technik.de). Zur Kritik dieses Ansatzes siehe Rose, Jürgen: Präventive Verteidigung. Manfred Opels Plädoyer für eine angriffsfähige Bundeswehr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8, August 2002, S. 936 – 942.

6) Vgl. hierzu Conetta, Carl: Strange Victory: A Critical Appraisal of Operation Enduring Freedom and the Afghanistan War, (im Internet unter www.comw.org/pda/0201strangevic.pdf) Bittner, Jochen/Ladurner, Ulrich: Töten, töten, töten. Nicht nur das Blutbad von Qala-i-Dschanghi wirft Fragen nach der Kriegsführung in Afghanistan auf. Die USA ignorieren das humanitäre Völkerrecht, in: Die Zeit, Nr. 50, 6. Dezember 2001, S. 4; Sgrena, Giuliana/Ladurner, Ulrich: Was man in Masar alles findet. Während des Afghanistan-Feldzugs gab es in Masar-i-Sharif ein Massaker. Zeugen sagen, US-Soldaten hätten daran mitgewirkt. Eine Spurensuche, in: Die Zeit, Nr. 27, 27. Juni 2002, S. 3.

7) Noack, Axel: Vom Realopazifismus und dem Bündel an enttäuschten Erwartungen, in: 4/3, Fachzeitschrift zu Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienst und Zivildienst, Nr. 1/2002, S. 43.

8) In der zweiten Intifada starben etwa 600 Israels und ungefähr 2.000 Palästinenser; vgl. hierzu Nass, Matthias: Krieg gegen Saddam? Nicht ohne bessere Gründe, in: Die Zeit, Nr. 33, 8. August 2002, S. 1.

9) Mies, Maria: Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten. (im Internet unter www.come.to/netzwerk-gegen-neoliberalismus).

10) Esterhazy, Yvonne/Wetzel, Hubert: Bush fordert größte Steigerung der Militärausgaben seit 21 Jahren, in: Financial Times Deutschland, 5. Februar 2002.

11) Vgl. OECD: Table IV-1. Net Official Development Assistance Flows from DAC Members in 1999 and 2000 (im Internet unter www.oecd.org/pdf/M00001000/M00001388.pdf).

12) Vgl. Eder, P./Hofbauer, B. G.: Verteidigungsbudget 2002 und Budgetvoranschlag 2002, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, Nr. 3/2002, S. 371f sowie Esterhazy, Yvonne/Wetzel, Hubert: s. Anm. 10.

13) Mies, Maria: Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten, s.o.

14) Zizek, Slavoj: Offener Briefe an den Präsidenten der USA, in: Die Zeit, Nr. 21, 16. Mai 2002, S. 43.

15) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Die deutschen Bischöfe. Gerechter Friede (Hirtenschreiben, Erklärungen Nr. 66), Bonn, 27. September 2000, S. 35f.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.