Psychologische Friedensbarrieren im Nahost-Konflikt

Psychologische Friedensbarrieren im Nahost-Konflikt

Ansätze zu ihrer Überwindung

von Daniel Bar-Tal

Wer die Entwicklung im Nahost-Konflikt seit dem Tod von Arafat mit einiger Aufmerksamkeit verfolg hat, mag den vorliegenden Beitrag zunächst für eher von historischem Interesse halten. In der Tat hat der Autor ihn vor Beginn der jüngsten Phase dieses Konflikts verfasst. Er arbeitet allerdings eine zentrale Voraussetzung eines genuinen Friedensprozesses heraus: ein grundlegend reformiertes »psychologisches Repertoire«, eine an Koexistenz orientierte kollektive Mentalität. Da diese Voraussetzung noch kaum erfüllt sein dürfte, behält der Beitrag seine Aktualität für den Nahost-Konflikt. Darüber hinaus liefert Bar-Tals Analyse interessante Orientierungshypothesen für manche ähnliche Konfliktkonstellation.

Eine Analyse der Beziehungen zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern im Kontext der Al Aksa-Intifada offenbart ein schwieriges Paradox. Einerseits ist die Mehrheit in beiden Gesellschaften bereit zu weit reichenden Kompromissen zur friedlichen Lösung des Konflikts. Andererseits schreibt die Mehrheit in beiden Gesellschaften dem Gegner in stereotyper Weise extrem negative Züge zu und verharrt in umfassender Furcht und einem tiefem Misstrauen, das jeder Verhandlungslösung entgegensteht. Hinzu kommt, dass die Mehrheit in beiden Gesellschaften Gewalthandlungen gegen den Gegner unterstützt (vgl. Kull et al., 2002). Das besagt, dass psychologische Faktoren in der gegenwärtigen Phase des israelisch-palästinensischen Konflikts eine zentrale Rolle spielen. Aufgrund dieser psychologischen Barrieren, die von diversen politischen Kräften bewusst ausgenutzt werden, erscheint der Konflikt den Mitgliedern beider Gesellschaften in naher Zukunft schier unlösbar.

Im vorliegenden Beitrag skizziere ich zunächst den Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts. Unter Konzentration auf die israelisch-jüdische Gesellschaft analysiere ich sodann die psychologischen Barrieren für Verhandlungen mit dem Ziel einer friedlichen Lösung. Schließlich möchte ich einige psychologische Vorschläge unterbreiten, um aus der Sackgasse herauszukommen. Vorangeschickt sei noch, dass es starke Belege für die Annahme gibt, dass auf palästinensischer Seite ganz ähnliche Faktoren mit ähnlichen Auswirkungen eine Rolle spielen.

Hintergrund des Konflikts

Der israelisch-palästinensische Konflikt entstand vor etwa 100 Jahren aus dem Anspruch zweier nationaler Bewegungen – der palästinensischen Nationalisten und der jüdischen Zionisten – auf das gleiche Heimatland und führte wiederholt zu heftigen Auseinandersetzungen um den Anspruch auf Selbstbestimmung, Eigenstaatlichkeit und einen gerechten Interessenausgleich. Erst 1993 unterzeichneten Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) ein Abkommen, in dem die PLO Israels Existenzrecht anerkannte und Israel die PLO als Vertretung des palästinensischen Volkes für Friedensverhandlungen akzeptierte. Darüber hinaus wurde eine Prinzipienerklärung verabschiedet, die verschiedene Stadien eines Friedensprozesses spezifizierte. Eine fünfjährige Übergangsperiode sollte dem schrittweisen Abbau von Hass und Feindseligkeit und dem Aufbau von Vertrauen dienen und beide Nationen zu friedlicher Koexistenz befähigen. Am Ende sollte eine nachhaltige, auch die Kernprobleme einschließende Konfliktlösung stehen.

Nach sieben Jahren, im Juli 2000, trafen sich hochrangige Delegationen beider Parteien in Camp David, USA, um mit Unterstützung eines US-amerikanischen Teams unter Leitung von Präsident Bill Clinton den israelisch-palästinensischen Konflikt abschließend zu regeln. Man erzielte jedoch keine Einigung; das Gipfeltreffen scheiterte. Um die vor diesem Hintergrund entstandene Mentalität richtig zu verstehen, muss man über das äußere Geschehen hinaus die Information in Rechnung stellen, die der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit von den zuständigen Instanzen geboten wurde. Von der großen Mehrheit als zutreffend akzeptiert, bildete sie den Interpretationsrahmen und übte damit entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der fraglichen Mentalität aus. So legte im Falle des Gipfels von Camp David der israelische Premier Ehud Barak zunächst die Erwartung nahe, die Zeit für bedeutsame Entscheidungen im Verhandlungsprozess mit den Palästinensern sei gekommen. Das schloss die Bereitschaft zu historischen Kompromissen ein und bedeutete insofern einen Test auf echten Friedenswillen. Als die Verhandlungen scheiterten, lancierte Barak die gewichtige Information, er selbst habe durch großzügige und weit reichende Angebote in Camp David alles für das Gelingen getan, während Arafat diese Angebote weder akzeptiert noch Gegenangebote gemacht habe. Folglich lag die Verantwortung für das Scheitern eindeutig bei den Palästinensern. In der Folgezeit setzten nahezu alle politischen, sozialen und religiösen Führungspersönlichkeiten des Landes und die Massenmedien diese Version immer wieder in Umlauf. Das daraus resultierende Meinungsbild beinhaltete u.a., dass Arafat und die palästinensische Führung nicht an einer friedlichen Konfliktlösung interessiert sind (Pressman, 2003; Wolfsfeld, 2004).

Am 28. September 2000 brach in Reaktion auf den umstrittenen Besuch des damaligen Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg der gewaltsame Konflikt aus, mit Demonstrationen, Steine werfen und Schießereien der Palästinenser. Darauf reagierten israelische Sicherheitskräfte wiederum mit Gewalt. Innerhalb eines Monats wurden 130 Palästinenser und 12 Israelis getötet. Zu Beginn dieser Gewalttätigkeiten lancierte die israelische Regierung, die Al Aksa-Intifada sei von Arafat und der Palästinenserbehörde bestens vorbereitet gewesen. Obwohl viele Sicherheitskräfte die Entwicklung zunächst anders interpretiert hatten, setzte sich die regierungsamtliche Version sehr bald durch und wurde von den Massenmedien immer wieder verbreitet. Als die Gewalt andauerte, behaupteten Regierung und Militär und ein Großteil der Medien fortwährend, das Ziel der Palästinenser sei die Zerstörung Israels, Israel befinde sich also in einem Krieg um sein Überleben (Dor, 2004; Wolfsfeld, 2004).

Nachdem Ariel Sharon am 06.02.2001 mit überwältigender Mehrheit zum israelischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, steigerten die Palästinenser ihre Attacken vor allem durch landesweite Selbstmordattentäter auf öffentlichen Plätzen. Die israelischen Sicherheitskräfte verübten Gewalt gegen die Palästinenser-Behörde, ermordeten Terrorverdächtige, legten der Bevölkerung schwere Beeinträchtigungen auf und fielen immer wieder in Palästinensisches Territorium ein – bis hin zur fast vollständigen Wiederbesetzung der West-Bank im April und Mai 2002 (Reporters without borders, 2003). Bis zum 14. April 2004 (dem Jahrestag der Unabhängigkeit des Staates Israel) forderte die Gewalt 2.720 Todesopfer und 25.000 Verletzte auf palästinensischer Seite sowie 943 Todesopfer und 6.300 Verletzte auf israelischer Seite. Vermittlungsversuche seitens der USA und Europas blieben ergebnislos.

Bevor ich mich auf die psychologischen Reaktionen der jüdisch-israelischen Gesellschaft auf dieses bedrohliche Umfeld konzentriere, sind zwei Vorbemerkungen angebracht. Erstens: Der 1993 initiierte Friedensprozess wurde nicht einheitlich gesehen. Ein bedeutsames Segment der Gesellschaft widersetzte sich ihm ununterbrochen, war nicht zu Kompromissen bereit, brachte den Palästinensern kein Vertrauen entgegen und betrachtete die Situation weiterhin als konfliktgeladen und gefährlich. Dennoch kam es im Herbst 2000 zu einem bedeutsamen Meinungsumschwung (vgl. Arian, 2002, 2003). Zweitens: Das spezifische Repertoire, das die Beziehung zu den Palästinensern im Kontext der Al Aksa-Intifada kennzeichnet, basiert auf einem Konfliktethos und einem kollektiven Gedächtnis, die die jüdisch-israelische Gesellschaft seit Jahrzehnten des schwer zu bearbeitenden Konflikts beherrschen. Die einschlägigen Erzählungen sind bestimmt von kollektiven Vorstellungen von der Gerechtigkeit der eigenen Ziele, der Illegitimität der Sache der Araber und Palästinenser, dem positiven Wert des eigenen sozialen Selbst und von der eigenen Opferrolle. Diese kollektiven Vorstellungen werden von den meisten Mitgliedern der Gesellschaft geteilt, tauchen in öffentlichen Debatten und den Massenmedien auf, kommen in Erzeugnissen des Kulturbetriebs zum Ausdruck und geistern durch die Schulbücher. Während des Friedensprozesses der 1990er Jahr traten sie etwas zurück, kamen mit dem jüngsten Zyklus des gewaltbestimmten Konflikts aber wieder an die Oberfläche (Bar-Tal, 2000).

Psychologische Barrieren

Die Analyse der psychologischen Barrieren erschließt drei Hauptreaktionsweisen: Furcht, Delegitimierung der Palästinenser und Selbstwahrnehmung als Opfer.

Furcht

Eins der größten Hindernisse für eine Erneuerung des Friedensprozesses ist die weit verbreitete Furcht. Furcht bereitet auf die Bewältigung einer Stresssituation vor (Lazarus & Folkman, 1984). Furcht kann aber auch zur Erstarrung kollektiver Überzeugungssysteme führen. Furcht verhindert eine rationale und kreative Situationsanalyse, bedingt großes Misstrauen und eine Delegitimierung des Gegners, führt zu einer Zunahme von Ethnozentrismus und Intoleranz gegen Fremdgruppen (Feldman & Stenner, 1997; Marcus et al., 1995). Und schließlich ist kollektive Furchtorientierung eine der Hauptursachen von Gewaltanwendung im Sinne eines gewohnheitsmäßigen Verhaltens; neue Handlungsweisen, die den Zirkel der Gewalt durchbrechen könnten, werden nicht erprobt (Brubaker & Laitin, 1998).

Die erwähnte Gewalt seitens der Palästinenser, verstanden als Versuch, den jüdischen Staat zu zerstören, führte zu weit verbreiteter Furcht. Mit zunehmender Gewalt wuchs die Furcht der Israelis und beeinflusste alle Aspekte des Lebens (Klar et al., 2002). So gaben bspw. im Frühjahr 2002 92% der jüdischen Israelis die Befürchtung zu Protokoll, sie selbst oder ein Mitglied ihrer Familie könnten Opfer eines Terroranschlags werden, während diese Rate im Februar 2000 noch bei 79% lag und 1999 nur bei 58% (Arian, 2002).

Delegitimierung

Die Wahrnehmung von Gewalt und Bedrohung weckt ein Bedürfnis nach Erklärung und Rechtfertigung des eigenen Handelns und nach Differenzierung zwischen Eigengruppe und gegnerischer Gruppe. Delegitimierung erfüllt genau diese Funktionen. Sie beinhaltet die Zuordnung einer Gruppe zu extrem negativen sozialen Kategorien – z.B. Primitive, Mörder, Terroristen, Aggressoren usw. Diese Kategorien schließen die betreffende Gruppe aus dem Kreis menschlicher Gruppen, die im Rahmen angemessener Normen und Werte agieren, aus (Bar-Tal, 1989, 1990; Kelman, 1973).

Delegitimierung operiert mit einem rigiden und stabilen Kategoriensystem, das sich während eines Konflikts kaum ändert und ihn höchstwahrscheinlich überdauert. Das ergibt sich aus der Tendenz, die gegnerische Gewalt und den anhaltenden Konflikt auf interne Dispositionen der Fremdgruppe zurückzuführen (Pettigrew, 1979). Delegitimierung macht zudem die delegitimierte Gruppe zu einer homogenen Einheit, erlaubt weder eine Individualisierung noch eine Differenzierung von Untergruppen. Die einschlussweise Zuschreibung von Schädigungsabsichten gegenüber einem selbst führt automatisch zu negativen Emotionen und zur Bereitschaft, Gewalt gegen die delegitimierte Gruppe anzuwenden, um sie für ihre Gewaltanwendung zu bestrafen und von weiterer Aggression abzuschrecken.

Während der Al Aksa-Intifada setzte die Delegitimierung zunächst bei der Führung der Palästinenser an. Schon bald nach Ausbruch der Gewalttätigkeiten wurde Arafat als für einen Friedensprozess nicht geeigneter Partner hingestellt, kurz darauf als Terrorist, als persönlich verantwortlich für jede Terrorattacke jeder beliebigen palästinensischen Gruppe. Nach dem 11. September 2001 verglich man ihn mit Bin Laden und Saddam Hussein. Schließlich wurde er für »irrelevant« erklärt; der formelle Kontakt wurde abgebrochen. Die Palästinensische Autonomiebehörde wurde von der israelischen Regierung als »terroristische Einheit« (terrorist entity) betitelt. Die Öffentlichkeit vollzog das alles mit. So glaubten im Oktober 2000 71% der jüdischen Israelis, Arafat verhalte sich wie ein Terrorist (im Vergleich zu 41%, die das zwei Jahre vorher glaubten). Im Dezember 2001 waren 67% der Ansicht, die Palästinenserbehörde sei eine »terroristische Einheit« (Peace Index, Oktober 2000; Maariv, Dezember 7, 2001). Aus Bevölkerungsumfragen vor und nach Beginn der Intifada bzw. der Regierungspropaganda dazu geht eine entsprechende Zunahme der negativen Stereotypisierung der Palästinenser hervor (Arian, 2002; Peace Index, Nov. 2000, May 2001).

Selbstwahrnehmung als Opfer

Gruppenleben im Kontext von Bedrohung, Furcht und Gewalterfahrung ist wesentlich gekennzeichnet durch das weit verbreitete Gefühl, Opfer zu sein. Dieser Eindruck entsteht, weil die Eigengruppe die Gewalttätigkeit der anderen fokussiert und ihnen die Verantwortung dafür und für den anhaltenden Konflikt zuschreibt, eigene Gewalttätigkeit dagegen als Reaktion auf die erlittene Schädigung begreift. Diese Sichtweise ist besonders ausgeprägt, wenn die gegnerische Gewalt Zivilisten und insbesondere Kinder und Frauen trifft. Die Selbstwahrnehmung als Opfer resultiert auch aus dem kollektiven Selbstbild einer friedliebenden Gesellschaft und der skizzierten Delegitimierung des gegnerischen Kollektivs.

Kollektive Selbstwahrnehmung als Opfer erregt Ärger und Rachebedürfnis, wird somit oft Anlass zu Gewalttätigkeiten, die man als Reaktionen auf die Aggression der andern darstellt. Sie führt ferner zur Zentrierung auf sich selbst und das eigene Schicksal. Man realisiert dagegen nicht, dass auch eigenes Verhalten die gegnerische Gruppe bedrohen und eine Ursache für die Gewaltzyklen sein kann. Eingesponnen in schicksalhafte eigene Verluste, kann man sich auch kaum in Vertreter der Gegenseite einfühlen und sich von ihrem Leiden und ihren Bedürfnissen und Wünschen nicht berühren lassen (Mack, 1990).

Der Gefühl, Opfer zu sein, begann damit, dass man die Palästinenser als Urheber von Gewalt wahrnahm, obwohl doch Ehud Barak vermeintlich die denkbar großzügigsten Vorschläge zur Beendigung des Konflikts gemacht hatte. Im November 2000 warfen 80% der jüdischen Israelis den Palästinensern den Ausbruch der Gewalt vor (Peace Index, November 2000), und 2002 hielten 84% die Palästinenser für allein oder für überwiegend verantwortlich für die Verschlechterung der Beziehungen – während nur 5% die Israelis für alleinverantwortlich hielten (Arian, 2002). Ebenso glaubten im August 2002 92% der jüdischen Israelis, die Palästinenser würden ihre Verpflichtungen gemäß dem Osloer Abkommen nicht erfüllen; 66% waren dagegen überzeugt, Israel würde seinen nachkommen (Peace Index, Aug. 2002). Das Gefühl, Opfer zu sein, wurde durch die dauernden Terrorattacken nachhaltig bestärkt. Mit der Zeit wurde jeder Angriff gegen jüdische Israelis, auch gegen Soldaten, als Terror interpretiert. Dagegen war die große Mehrheit an dem beträchtlichen Leid der Palästinenser nicht interessiert und unterstützte gar die Militäraktionen, die natürlich zu zivilen Opfern führen mussten. So befürworten bspw. 62% die Tötung von Terrorverdächtigen durch das Militär, auch bei hoher Wahrscheinlichkeit einer Schädigung der Zivilbevölkerung (Peace Index, July 2002).

Die beschriebene psychische Ausstattung der in einen kaum zu bearbeitenden gewaltsamen Konflikt verwickelten Gesellschaft hat schwerwiegende Auswirkungen. Es sind im Wesentlichen die Wahl einer Führung, die auf rigorose Auseinandersetzung mit dem Gegner setzt, die weitgehende Unterstützung einer entsprechenden Konfrontationspolitik und schließlich eine Unversöhnlichkeit, aus der sich nahezu logisch ergibt, dass der Konflikt gewaltbestimmt bleibt und nicht friedlich gelöst werden kann.

Deeskalationsschritte

Nach der skizzierten Analyse tragen psychologische Faktoren wesentlich dazu bei, dass die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern in eine Sackgasse gerieten. Während die Grundzüge einer möglichen Lösung den Angehörigen beider Gesellschaften mehr oder weniger klar sind und diese Lösung auch von einer relevanten Mehrheit weitgehend mitgetragen wird, verhindert das beschriebene Syndrom eine Umsetzung und erlaubt es einer radikalen Führung und lösungsunwilligen Teilen der Gesellschaft, den Konfliktverlauf zu diktieren.

Die politische Psychologie kennt diverse spezifische Maßnahmen zur Behebung der Auswirkungen psychologischer Friedenshindernisse. Im Weiteren möchte ich jedoch in allgemeinen Begriffen den psychologischen Zustand beschreiben, den beide Gesellschaften unabhängig von formellen Verhandlungen zu erreichen versuchen sollten: den der friedlichen Koexistenz. Koexistenz stellt nach meiner Auffassung eine wesentliche gesellschaftliche Voraussetzung für einen genuinen Friedensprozess dar. Sie beinhaltet die grundlegende Anerkennung des Rechts der anderen Gruppe auf eine Existenz in Frieden mit allen Unterschieden und die Akzeptierung der anderen Gruppe als legitimen und gleichwertigen Partner, mit dem Streitfälle gewaltfrei geregelt werden müssen. Dieser Zustand ist erreicht, wenn die Mehrheit diese Ansicht teilt. Folgende Hauptkomponenten gehören zu diesem Zustand (vgl. Bar-Tal, 2004).

  • Legitimierung erlaubt es, den Gegner als jemand zu betrachten, der im Rahmen der internationalen Normen agiert und mit dem man den Konflikt beilegen kann und positive Beziehungen aufnehmen möchte. Der anderen Gesellschaft werden die gleichen Rechte auf ein Leben in Frieden zuerkannt wie der eigenen und auch das Recht, Streitpunkte und Beschwerden vorzubringen, die dann gewaltfrei beigelegt werden müssen. Legitimierung beinhaltet weiter die Akzeptierung der gewählten Führung der gegnerischen Gruppe als rechtmäßigen Partner im Friedensprozess und liefert insofern die Grundlage für Vertrauen als wesentliche Voraussetzung von Konfliktlösung und den Aufbau friedlicher Beziehungen.
  • Gleichstellung (equalization) macht den Gegner zu einem ebenbürtigen Partner. Das erfordert eine Anerkennung des Prinzips der Statusgleichheit, das in Verhandlungen zur Geltung kommen muss und auch in den Gruppeninteraktionen jeder Art und Ebene. Es besagt zunächst, dass Führung und Bevölkerung Angehörige der anderen Gesellschaft vor allem ohne Überlegenheitsanspruch als Gleiche ansehen und behandeln. Ferner gehört dazu, keine besonderen sozio-strukturellen Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen zu stellen, da das auf Paternalisierung und Ungleichbehandlung hinauslaufen würde.
  • Differenzierung ermöglicht eine neue Wahrnehmung des Gegners, der bisher als homogene feindliche Einheit galt. Die Gegenseite wird als aus Gliederungen mit je eigenen Ansichten und Ideologien zusammengesetzt gesehen, die sich auch in ihren Meinungen zum Konflikt und zu dessen Lösung unterscheiden können. Zumindest ist zwischen Befürwortern und Gegnern des Friedensprozesses zu unterscheiden; entsprechend unterschiedliche Beziehungen können aufgebaut werden. Vor allem kann man Untergliederungen erkennen, die im Hinblick auf den Aufbau friedlicher Beziehungen ähnliche Werte und Überzeugungen vertreten wie man selbst.
  • Personalisierung ermöglicht darüber hinaus, die Gegner als Individuen wahrzunehmen, mit vertrauten Merkmalen, Ansichten, Bedürfnissen und Zielen. Das bedeutet eine Realisierung von Unterschieden innerhalb eines Individuums, zwischen Gruppenmitgliedern und zwischen sozialen Rollen. Jede Form der Individualisierung entschärft Generalisierungen und ermöglicht es, Ähnlichkeiten mit einem selbst und sogar Gemeinsamkeiten wahrzunehmen.
  • Abbau negativer und Aufbau positiver Affekte: Auf emotionaler Ebene müssen einerseits kollektive Furcht und kollektiver Hass abgebaut und andererseits kollektive Hoffnung, Vertrauen und wechselseitige Anerkennung aufgebaut werden. Kollektive Hoffnung entsteht, wenn ein konkretes positives Ziel erwartet wird. Sie schließt die kognitiven Komponenten der Vergegenwärtigung und Erwartung ein und das Wohlgefühl im Hinblick auf die erwarteten Ereignisse oder Ergebnisse (Kelman, 2004; Staats & Stassen, 1985). Die Entwicklung einer hoffnungsvollen kollektiven Orientierung beinhaltet die Bildung neuer Ziele wie ein Leben in friedlicher Koexistenz und Kooperation mit dem Feind von gestern. In Verbindung mit kollektiver Anerkennung des ehemaligen Gegners schließt das Vertrauen ein und die Absicht, positive Beziehungen zu entwickeln.

Die beschriebenen Aspekte von Koexistenz schaffen ein positives gesellschaftliches Klima, das es möglich macht, eine friedliche Konfliktlösung zu erreichen. Klar aber muss sein, dass damit der Dauerkonflikt selbst noch nicht behoben ist. Dazu sind Verhandlungen unabdingbar, die zu einer wechselseitig akzeptablen Übereinkunft führen. Andererseits müssen die psychologischen Barrieren auch für die Aufnahme von Verhandlungen beseitigt werden. Nicht zuletzt aber hat ein Friedensprozess zur Voraussetzung, dass jede Form von Gewalt eingestellt wird oder zumindest wesentlich zurückgeht. Ein Ende der Gewalt ist seinerseits aber auch eine fundamentale Voraussetzung für eine Veränderung der beschriebenen friedenshinderlichen Mentalität. Allerdings ist es offensichtlich leichter, staatlich getragene Gewalt zu stoppen als von nichtstaatlichen Organisationen und einzelnen getragene, wie sie meist von palästinensischer Seite ausgeht. Doch darf diese Art von Gewalt keine Vetomacht gegen die Fortsetzung des Friedensprozesses haben. Aggression und Feindseligkeit hören nicht schlagartig auf, sondern dauern Jahre an, nehmen aber ab, in Abhängigkeit von der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Es stellt eine besondere Herausforderung für Politiker und Medien dar, den Friedensprozess in Gang zu halten, auch wenn der Konflikt noch gewaltdurchsetzt ist.

Resümee und Ausblick

Koexistenz im erläuterten Sinn beinhaltet nicht primär Aktivitäten wie Waffenstillstand, Aufnahme von Verhandlungen und die Beilegung konkreter Streitfälle. Es geht vielmehr um eine Mentalitätsänderung auf gesellschaftlicher Ebene, eine Umgestaltung der psychischen Ausstattung eines Kollektivs. Von großer Bedeutung dafür sind gut geplante und ausgeführte Maßnahmen.

Die avisierte Veränderung hängt zum einen von den Absichten, der Entschlossenheit, der Mobilisierung und der Kraft der Friedensfreunde ab, von Führungspersonen, politischen Parteien, Nicht-Regierungsorganisationen und einzelnen. Nach Jahren des Misstrauens, des Hasses und der Feindseligkeit braucht man geschickt bekannt gemachte Versöhnungshandlungen, auch verbaler und symbolischer Art, offizieller wie inoffizieller Natur, von beiden Seiten, so dass eine Atmosphäre eines positiven Wechselbezugs entsteht und eventuell ein neues Klima des Friedens. Die engagierten Individuen, Gruppen und Organisationen müssen auch Skeptiker und Gegner in ihren eigenen Reihen bzw. in ihrer eigenen Gesellschaft von der Wichtigkeit gewaltfreier Konfliktlösung überzeugen.

Um ein Klima der Koexistenz zu etablieren, müssen sodann gesellschaftliche Institutionen dazu veranlasst werden, die neue Botschaft zu verbreiten. Gemeint sind im Besonderen die Massenmedien und das Erziehungswesen. Die Massenmedien können ein sehr wirkmächtiges Instrument sein, um einen Friedensprozess voranzubringen. Die andere wichtige Institution zur Restrukturierung der psychologischen Zurüstung einer Gesellschaft ist das Erziehungswesen. Das läuft i.d.R. auf den Einbezug des Schulwesens für Zwecke der Friedenserziehung hinaus. Friedenserziehung sucht das Weltbild der Schüler und Schülerinnen – ihre Werte, Überzeugungen, Einstellungen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen – in einer Weise zu formen, die dem Friedensprozess entspricht und sie darauf vorbereitet, in einer Phase des Friedens zu leben.

Literatur

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Dr. Daniel Bar-Tal ist Professor für Psychologie an der School of Education, Tel-Aviv University, und Direktor des Walter Lebach Research Institute for Jewish-Arab Coexistence through Education. Er arbeitet seit den frühen 1980er Jahren zu Fragen der Politischen Psychologie, i.B. der Konflikt- und Friedenspsychologie. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag des Autors im Rahmen der 17. Tagung des Forums Friedenspsychologie vom 18.-22. Juni 2004 in Marburg. Eine ungekürzte Version erscheint im April in »conflict & communication online, Vol. 4, No. 1« (www.cco.regener-online.de). Übersetzung und Bearbeitung: Albert Fuchs.

Der Krieg und die Kultur

Der Krieg und die Kultur

Eine evolutionspsychologische Perspektive

von Marianne Müller-Brettel

Im vorliegenden Beitrag fragt die Autorin nach der funktionalen Verankerung der Institution Krieg in der Geschichte der Menschheit. Unter dieser Perspektive schreibt sie dieser Institution eine gewisse positive Bedeutung zu. Durch die eigene Entwicklungsdynamik aber hat das Militär- und Kriegswesen zwischenzeitlich seine positive Funktion verloren bzw. wurde diese in das Gegenteil verkehrt, so dass Überleben und weitere Entwicklung der Menschheit die Abschaffung der Institution Krieg erfordern. Wir stellen diese »dialektische« Betrachtung zur Diskussion.

In den Jahren der Epochenwende schien der Krieg als Mittel der Politik in Europa überwunden:

  • Die Mittelsteckenraketen wurden abgebaut.
  • Die Berliner Mauer fiel ohne einen einzigen Schuss.
  • Aus den Reihen der Nationalen Volksarmee wurde ein Konversionsplan vorgelegt, wie alle Einrichtungen der DDR-Armee innerhalb von zehn Jahren in zivile Bereiche hätten überführt werden können.
  • Der Warschauer Pakt löste sich auf und die Rote Armee wurde aus Deutschland abgezogen.
  • Rüstungsfirmen erarbeiteten gemeinsam mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern Pläne, um anstelle von Panzern und Minen zivile Güter zu produzieren.
  • Die Partei der Grünen diskutierte einen Austritt der Bundesrepublik aus der NATO.
  • Die OSZE bot eine praktikable Grundlage zur Lösung von Konflikten zwischen europäischen Staaten.

Warum trotz alledem Krieg?

Trotz dieser Erfolge alternativer Konfliktlösungen gilt heute, ein gutes Jahrzehnt später, die Bereitschaft, Soldaten rund um den Globus einzusetzen, als Voraussetzung für eine verantwortungsvolle deutsche Außenpolitik. Waren die Hoffnungen der Friedensbewegung naiv? Bedeutet die biologische Ausstattung des Menschen, seine Fähigkeit zur Aggression, dass er von Natur aus zum Krieg disponiert ist und höchstens durch entsprechende Bildung oder eine internationale, bewaffnete Organisation davon abgehalten werden kann, wie Freud 1933 in seiner Antwort an Einstein darlegte? Ist es die kapitalistische Dynamik der Konkurrenz und des tendenziellen Falls der Profitrate, die immer wieder zu Kriegen um neue Märkte, billige Rohstoffe und die Ausschaltung von Konkurrenten führt, wie Marx analysierte? Ist der von Huntington prophezeite »clash of civilizations« die Ursache von immer neuen Kriegen oder ist der Krieg der Vater aller Dinge, wie Heraklit zitiert wird?1

Jede dieser Theorien erklärt einen Aspekt von Krieg. Für den Menschen wie für jedes höhere Lebewesen ist die Aggressivität eine wichtige Eigenschaft fürs Überleben. Dass kapitalistische Gesellschaften um Rohstoffe und Absatzmärkte Kriege führen, haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt und dass bei gewaltsamen Auseinandersetzungen kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen, wird niemand bestreiten wollen. Inwiefern aber ist der Krieg der Vater aller Dinge?

Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege stehen in Europa bei der Diskussion der Bedeutung von Kriegen ihre negativen Auswirkungen wie Gewaltanwendung und Zerstörung im Vordergrund, und wir können die Kriegsbegeisterung deutscher Intellektueller von 1914 kaum noch nachvollziehen. Trotz der Grausamkeit heutiger Kriege reicht jedoch ihre Verurteilung nicht aus, um sie zu verhindern. Mit moralischen Argumenten sind viele Kriege geführt, aber keine verhütet oder beendet worden. Im Laufe der Geschichte haben sich vielfältige Formen von Kriegen herausgebildet wie zum Beispiel Eroberungsfeldzüge, Zweikämpfe, Kabinettskriege, Völkerschlachten und Bürgerkriege, entsprechend vielfältig sind auch ihre Ursachen und die Antworten auf die Frage, warum die meisten Gesellschaften seit der Jungsteinzeit (Neolithikum) regelmäßig Kriege führen. Über die politischen, ökonomischen, ethnischen und psychologischen Ursachen ist viel geforscht und geschrieben worden. Was aber ist mit der Bedeutung von Kriegen nicht für die Zerstörung von Kulturen, sondern, wie Heraklit meint, für deren Aufbau und Erhalt?

Evolutionspsychologische Perspektive

Diesem Aspekt soll im Folgenden nachgegangen werden. Hierfür ist es notwendig zwischen der von Menschen geschaffenen Welt, der Welt der Artefakte, und der unabhängig von ihm und seiner Tätigkeit existierenden Welt, der natürlichen Welt, zu unterscheiden. Artefakte sind vom Menschen geschaffene Dinge wie Werkzeuge, Gebäude oder Kunstgegenstände, die von ihm entwickelten gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, sowie die in der jeweiligen menschlichen Gemeinschaft kommunizierten Ideen, Theorien und Glaubensbekenntnisse. Man könnte sagen, die Summe aller Artefakte einer Sippe, Ethnie oder Nation ist ihre Kultur. Im Unterschied zu Dingen, die unabhängig von der menschlichen Tätigkeit entstehen und vergehen, wachsen und absterben, gedeihen und verderben, müssen Artefakte vom Menschen nicht nur erschaffen, sondern auch rekonstruiert und unterhalten werden. Gebäude zerfallen, Werkzeuge werden unbrauchbar und eine Stradivari verliert ihren wunderbaren Klang, wenn sie nicht regelmäßig gespielt wird. Theorien, soziale Institutionen und Ideen verschwinden, werden sie nicht in der Kommunikation rekonstruiert und in Büchern und Denkmälern dokumentiert. Religionen verlieren ihre Macht, wenn niemand mehr an sie glaubt und keiner mehr ihre Rituale pflegt.

Artefakte haben für den Menschen eine existentielle Bedeutung. Die Millionen Menschen, die im nördlichen Europa leben, würden ohne die Zivilisation verhungern und erfrieren. Die Entstehung der – nach derzeitigem Wissensstand – ersten Agrargesellschaften und Hochkulturen in der Jungsteinzeit ermöglichte der menschlichen Gattung ein Überleben auch unter ungünstigen Bedingungen. Damit setzte eine qualitativ neue Entwicklung ein: Einige Gruppen der menschlichen Gattung begannen den Verlust ihrer Nahrungsquellen nicht durch das Suchen neuer Lebensräume (Wanderung), sondern durch die Veränderung der vorhandenen (Ackerbau) zu kompensieren. Dank seiner spezifischen emotional-kognitiven Fähigkeiten kann der homo sapiens nicht nur seine Ideen in Artefakten materialisieren und seine Vorstellungen, Bedürfnisse, Absichten und Tätigkeiten reflektieren, sondern er kann auch einmal erworbenes Wissen in einer spezifischen Art tradieren, so dass nicht jede Generation das Rad neu erfinden muss. Er besitzt nicht nur die Fähigkeit Verhaltensweisen nachzuahmen und den Gebrauch von Werkzeugen zu erlernen, sondern erkennt auch die in den Artefakten angelegten Intentionen, also die Zwecke, zu denen sie von seinen Vorfahren erschaffen worden sind: „Werkzeuge weisen auf die Probleme hin, die sie lösen sollen, und sprachliche Symbole verweisen auf die kommunikativen Situationen, die sie repräsentieren sollen.“2 Dadurch ist der Mensch in der Lage, einmal erworbenes Wissen nicht nur in direktem Kontakt zwischen Eltern und Kindern an die nächste Generation weiterzugeben, sondern er kann das Wissen in Form der in Artefakten vergegenständlichten Intentionen, also unabhängig von der direkten Kommunikation, tradieren, was die Akkumulation von Wissen über viele Generationen hinweg, die Weiterentwicklung von Werkzeugen, Ideen oder Organisationen entsprechend ihren Bedeutungen für die jeweilige Gemeinschaft und letztlich den Aufbau von Zivilisationen ermöglicht. Nach Tomasello ist es diese besondere Art der kulturellen Weitergabe (Wagenhebereffekt), die den Menschen vom Tier unterscheidet und die Kumulation von Gütern, Fertigkeiten und Wissen ermöglicht.3 Dank dieser Fähigkeit können Menschen Kulturen aufbauen, die sie bis zu einem gewissen Grad von der Unbill der Natur unabhängig machen. Diese Kulturen ersetzen dem Menschen die wenigen für ihn auf der Erde vorhandenen ökologischen Nischen, die natürlichen Lebensräume also, in denen er Nahrung und Schutz vor Witterung findet, vor Feinden sicher ist und sich fortpflanzen kann. Diese Unabhängigkeit befähigte die menschliche Gattung, sich über die ganze Erde auszubreiten und in allen Klimazonen anzusiedeln.

Die Kulturentwicklung sicherte auf der einen Seite Überleben und Wachstum der Gattung Mensch, zwang aber auf der anderen Seite dazu, die je eigene Kultur zu unterhalten und zu erneuern. Während die Natur sich auch ohne das Eingreifen des Menschen verändert und reproduziert, werden zur Aufrechterhaltung von Kulturen ständig neue materielle, physische und psychische Ressourcen benötigt, da Artefakte die Eigenschaft haben, ohne das Eingreifen des Menschen, zu zerfallen. Es ist diese Eigenschaft der vom Menschen geschaffenen Dinge, die von ihm viel Arbeit erfordert.4 Im Unterschied zu anderen Gattungen, die in natürlichen ökologischen Nischen leben, muss der homo sapiens stets große Anstrengungen unternehmen, um die Kultur, also seine ökologische Nische, zu erhalten.

Interpretieren wir die Aussage „Krieg ist der Vater aller Dinge“ dahingehend, dass mit den Dingen die Artefakte gemeint sind, können wir weiter folgern, dass die Bedeutung von Kriegen darin liegt, die für die Instandhaltung und Erneuerung der Artefakte notwendigen materiellen und menschlichen Ressourcen zu beschaffen. Kriege dienen demnach nicht nur, wie die Aggression von Tieren, der Verteidigung des Reviers und der Jungen, sondern sind auch ein Mittel, die Rekonstruktion der jeweiligen Kultur zu sichern und neue Kulturen aufzubauen. Es gibt kaum eine Hochkultur, bei deren Aufbau Kriege nicht eine große Rolle gespielt hätten. Auch bei der Bildung moderner Nationalstaaten hatten Kriege eine wichtige Funktion. Bis heute sind Armeen in den meisten Ländern ein wichtiger Bestandteil der nationalen Identität.

Funktionswidrigkeit der Institution Krieg

Aber Kriege dienen nicht nur der Rekonstruktion, sondern auch der Zerstörung von Kulturen. Kaum eine Hochkultur existierte länger als tausend Jahre. Und es scheint einen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit, mit der Reiche entstehen, und der Geschwindigkeit, mit der sie zerfallen, zu geben. Man könnte auch sagen, je weniger Kriege für die Bildung von Reichen notwendig waren, je langsamer sie entstanden sind, je größer der Anteil der gegenseitigen Assimilation im Vergleich zur militärischen Eroberung und gewaltsamen Unterdrückung war, desto stabiler sind sie gewesen. Das Dilemma, dass auf der einen Seite eine Kultur während einiger Generationen mit Hilfe von Kriegen wachsen kann, langfristig aber jede auf Krieg angewiesene Kultur sich selbst gefährdet, spiegelt sich in der Ambivalenz der Bevölkerung gegenüber Militär und Krieg wider. In den eigenen Armeen kristallisiert sich die Hoffnung einer Bevölkerung auf Sicherheit ebenso wie ihre Furcht vor einem Krieg.

Die Zwiespältigkeit von Kriegen erleben wir zur Zeit auch in unseren hochindustrialisierten Gesellschaften. Auf der einen Seite beschleunigte die kapitalistische Entwicklungsdynamik die Akkumulation von Gütern und Wissen. Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik, quasi unsere ökologische Nische, kann ihrem Anspruch, den Unternehmen Profite und den Beschäftigten Wohlstand und soziale Sicherheit zu garantieren, nur durch ein ständiges Wirtschaftswachstum gerecht werden. Wirtschaftswachstum aber erfordert einen hohen Bedarf an billigen Rohstoffen, weltweite Sicherung von Absatzmärkten, Ausschaltung von Konkurrenz sowie Rüstungsproduktion und Waffenexport. Alles Faktoren, die das Kriegsrisiko erhöhen, denn die Geschichte lehrt uns, dass keine expansive Kultur langfristig auf das Mittel Krieg verzichten konnte.

Müssen wir mit diesem Dilemma leben, weil Krieg der Vater von allem ist? Ist ohne Krieg unsere Zivilisation nicht aufrecht zu erhalten? Ist Krieg gar eine biologische Notwendigkeit? Betrachtet man das Kriegführen unter diesem Blickwinkel, ist es müßig darüber zu streiten, ob Kriege auf die Biologie des Menschen zurückzuführen sind oder gesellschaftliche Ursachen haben. Denn die Kultur ist zwar ein Produkt gesellschaftlicher Tätigkeit, hat aber als ökologische Nische gleichzeitig eine zentrale biologische Funktion, nämlich das Überleben der menschlichen Gattung zu sichern. Dies bedeutet aber nicht, dass Kriege eine zwingende biologische Notwendigkeit sind. Denn zum einen ist Krieg nicht und war nie das einzige Mittel, die für die Rekonstruktion einer Kultur notwendigen Ressourcen zu beschaffen. Zum anderen zeigt uns der Vergleich mit der Tierwelt, dass Kriege spezifisch menschlich sind.

Nicht der Krieg, sondern die Kultur ist für das Überleben der Gattung Mensch eine biologische Notwendigkeit. Ohne Artefakte könnten wir uns weder ernähren noch fortpflanzen. Die Etablierung des Krieges dagegen, durch welche historischen Zufälle und Einflüsse auch immer, als ein Mittel der Kulturrekonstruktion und Kulturentwicklung ist eine historische Tatsache, aber kein Naturgesetz. Heraklit beschreibt einen wichtigen Aspekt von Kriegen, der sich konkret auf die Geschichte unserer Zivilisation bezieht. Dies bedeutet aber nicht, dass die Aussage „Krieg ist der Vater von allem“ ein allgemeines Entwicklungsgesetz ist. Neben den expansiven Kulturen hat es immer Kulturen gegeben, die sich ohne Kriege rekonstruieren konnten und viele Kriege, wenn nicht die meisten, sind nicht um das Überleben einer Ethnie oder Nation geführt worden, sondern um das Überleben einer bestimmten Elite und die Rettung ihrer Privilegien.

Krieg ist also nicht nur keine biologische, sondern auch keine kulturelle Notwendigkeit. Biologisch notwendig ist nur der Erhalt der Zivilisation als ökologische Nische für Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Zunehmend wächst aber die Gefahr, dass Kriege nicht der Rekonstruktion, sondern der Vernichtung unserer zivilisatorischen Errungenschaften dienen. Krieg erfordert die Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte. Für demokratische Abstimmungen, kritische Debatten, Menschenrechte und allgemeinen Wohlstand ist in Kriegszeiten kein Platz. Auch für die kapitalistische Wirtschaft bringt ein Krieg nicht nur Gewinn. Zwar kann die Rüstungsindustrie ihre Profite erhöhen, die übrigen Wirtschaftsbereiche aber müssen, jedenfalls kurzfristig, Einbußen in Kauf nehmen, denn Handel braucht Frieden. Nicht zuletzt besteht bei einem Krieg im 21. Jahrhundert immer die Gefahr, dass die militärisch stärkere zwar die militärisch schwächere Gesellschaft unterwerfen kann, Sieger und Besiegte aber gleichermaßen zu Schaden kommen.

Wir stehen heute vor der Aufgabe, eine Kultur des Friedens zu schaffen, eine Kultur, die auf das Mittel Krieg verzichten kann. Das bedeutet, eine Kultur, die für ihre Rekonstruktion nur so viele Ressourcen benötigt, wie sie aus eigener Kraft und ohne Ausbeutung oder Ausplünderung anderer Kulturen hervorbringen kann. Dies ist, nach mehreren tausend Jahren expansiver Entwicklung, in der das Mittel Krieg ein konstitutiver Faktor war, keine leichte Aufgabe. Inwieweit sie gelingen wird, hängt von jedem einzelnen ab.

Anmerkungen

1) Die Stelle bei Heraklit heißt: „Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ (29 fr. 53, zit. nach W. Capelle (1953): Die Vorsokratiker. Fragmente und Quellenbericht (S. 135). Stuttgart: Kröner). Meine Ausführungen beziehen sich nicht auf das Ursprungszitat, sondern auf die verkürzte Form, in der dieses Zitat in der Friedensdiskussion meist verwendet wird.

2) Tomasello, M. (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (S. 16). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

3) ebd.

4) vgl. 1 Mose, 3.17-19: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweisse deines Ansgesichts sollst du dein Brot essen …“

Dr. Marianne Müller-Brettel ist Psychologin und hat sich als wiss. Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin vor allem mit der Geschichte der Friedenspsychologie auseinandergesetzt

Zwischen Aufbruch und Destruktivität

Zwischen Aufbruch und Destruktivität

Politisierte Ethnien in der modernen Staatenwelt

von Edith Marfurt-Gerber

Die Relevanz des Themas »Politisierte Ethnien in der modernen Staatenwelt« liegt auf der Hand, wenn man sich auch nur ein Faktum, das die Autorin des vorliegenden Beitrags referiert, vor Augen hält: Dass fast zwei Drittel der 127 größeren Staaten der Welt mindestens eine politisierte Minderheit beheimaten und gar in 40% aller Staaten mehr als 5 größere ethnische Gruppen leben, von denen mindestens eine der Benachteiligung und Repression ausgesetzt ist. Da in derartigen Konfliktkonstellationen, wie die Autorin zeigt, immer sowohl eine Inhalts- oder Sachebene als auch die Beziehungsebene eine zentrale Rolle spielt, stellt sich die Frage, warum nur die Konfliktregelungsansätze intervenierender Akteure immer noch nicht eine entsprechende Komplementarität der Strategien erkennen lassen.
Die weltpolitischen Ereignisse von 1989 überholten die kühnsten Erwartungen der Weltgesellschaft. In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion tauchte die Vorstellung auf, dass man den Krieg als integralen Bestandteil der menschlichen Gesellschaft abschaffen könne wie einst die Sklaverei. Visionen im Sinn vom Immanuel Kants »Ewigem Frieden« oder von Norbert Elias’ »Zivilisatorischem Prozess« erfuhren eine Renaissance. Eine Transformation der Staatenordnung sollte zur Durchsetzung einer friedlichen Welt führen. Eine Metamorphose zum ökologischen Staat schien sich anzubahnen, in dem eine Ethik der Selbstbegrenzung auch für andere Politikfelder nutzbar werden würde. An die Stelle des verordnenden Staates sollte der Verhandlungsstaat treten.

Wir beobachten jedoch eine historische Ungleichzeitigkeit, ja Gegenläufigkeit von Entwicklungsprozessen in der Weltgesellschaft, für die uns noch die richtigen Begriffe fehlen. Eine bittere Lektion wurde der Weltöffentlichkeit nach dem Ost-West-Konflikt bereits erteilt: Demokratisierung und Liberalisierung, so erstrebenswert sie prinzipiell sind, gehen mit komplexen und langwierigen Wandlungsprozessen einher, die einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern größte Anstrengungen abverlangen. Mancherorts haben diese Forderungen blutige Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen, die sich ethno-politisch definieren, ausgelöst.

Parteien in ethno-politischen Konflikten der Gegenwart

In wissenschaftlichen Beiträgen zur Bestimmung von Ethnien lassen sich, pauschal besehen, eine objektivistische und eine subjektivistische Betrachtungsweise unterscheiden. Im ersten Fall werden Kriterien wie gemeinsame Sprache, Abstammung oder Kultur zu Bestimmungsmerkmalen erhoben; im zweiten Fall steht der Glaube an die gemeinsame Gruppenzugehörigkeit als solcher im Vordergrund. Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen ethnischen Gruppen nicht per se Konflikt oder gar gewaltförmige Konfliktaustragung bedeutet; erst die Politisierung ethnischer Merkmale bzw. ethnischer Zugehörigkeit begründet deren Schlüsselrolle in Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerungsgruppen. In der Folge wird deshalb von ethno-politischen Konflikten gesprochen.

Gurr und Harff (1994) unterscheiden vier Typen von politisch aktiven ethnischen Minderheiten in der modernen Staatenwelt: »Ethnonationalistische Minderheiten« verfügen bereits über eine Geschichte politischer Autonomie und bilden regionale Siedlungsschwerpunkte. So genannte »Eingeborenen-Völker« leben als Nachkommen der ursprünglichen Einwohner einer meist peripheren Region auf der Basis einer Subsistenzökonomie und einer wesentlich anderen Kultur als die der Staat bildenden Gruppen. Diese beiden Minderheiten reklamieren entweder Trennung oder Autonomie. Unter »communal contenders«werden Gruppierungen subsumiert, die eine ausgeprägte soziokulturelle Identität in einer heterogenen Gesellschaft herausgebildet haben und um Einfluss im Hinblick auf die staatliche Macht konkurrieren; sie können dabei eine privilegierte oder eine benachteiligte Stellung einnehmen. Schließlich gibt es die so genannten »Ethno-Klassen«, die als (soziokulturelle) Minderheit mit einem in der Regel niedrigen sozialen Status und mit ethnischen Merkmalen behaftet sind, die sie als Immigranten oder deren Nachkommen ausweisen. Die beiden letztgenannten Minderheiten fordern entweder mehr politische Teilhabe innerhalb des Staates, in dem sie leben, oder überhaupt erst einmal grundsätzlich Partizipationsmöglichkeiten. Religiös aktive Minderheiten weisen keine eigenständige Konfliktlage auf, sondern gehören grundsätzlich zu einer der vier genannten Kategorien.

Empirische Untersuchungen zur ethno-politischen Konfliktlage zeigen, dass allein in den Jahren 1993/94 70 ethnopolitische Konflikte auftraten. Fast zwei Drittel der 127 größeren Staaten der Welt beheimaten mindestens eine politisierte Minderheit; in etwa 40 % aller Staaten leben sogar mehr als 5 größere ethnische Gruppen, von denen mindestens eine der Benachteiligung und Repression ausgesetzt ist. Eine internationale Studie von Gurr – zusammen mit Harff, Marshall und Scarritt – hat für die Zeit von 1945-1989 insgesamt 233 ethnische Gruppen in 93 Ländern ermittelt, die während dieser Periode für eine gewisse Zeit Opfer von Diskriminierungen waren oder/und sich zur politischen Selbstbehauptung organisierten. Die Benachteiligung spielte sich in politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Form ab. Zu solchen Minderheiten gehörten 1990 insgesamt 915 Millionen Menschen, was 17,3 % der Weltbevölkerung entspricht.

Mehr als 200 der 233 Volksgruppen haben in der Zeit von 1945 bis 1989 versucht, gegenüber ihrer Regierung oder anderen Gruppierungen ihre kollektiven Interessen zu vertreten. Am häufigsten war dies in Afrika der Fall, gefolgt von Asien, den Nachfolgestaaten der früheren UdSSR und dem Nahen Osten. Die westlichen Staaten und Südamerika waren am wenigsten von diesem Phänomen betroffen.

Die diskriminierten Gruppierungen nahmen an ausgedehnter politischer Rebellion, lokalen Aufständen, Guerillaaktivitäten und interethnischen Kriegen teil. In den meisten Fällen begann die Artikulation politischer Anliegen friedlich, artete allerdings bei einem Teil (bei mindestens 80 Bevölkerungsgruppen) in Guerillakämpfe und Bürgerkriege aus. Zahl und Intensität der gewaltfrei und gewalttätig ausgetragenen Konflikte zwischen Minderheiten und Regierungen haben nach 1950 weltweit kontinuierlich zugenommen. Der gewaltlose Protest hat sich gegenüber der ersten Hälfte der 50er Jahre verdoppelt; gewaltsamer Protest und Rebellionen erreichten innerhalb von vier Jahrzehnten sogar ihr Vierfaches.

Nahezu 80 % der politisierten ethnischen Minderheiten lebten 1990 mit den Folgen historisch bedingter oder aktueller ökonomischer Diskriminierung oder speziell politischer Diskriminierung. Die meisten Minderheiten sind arm und verglichen mit ihrem Bevölkerungsanteil politisch untervertreten; nur wenige sind privilegiert.

Einen zentralen Faktor der Konfliktdynamik bildet die Mobilisierung und Organisation ethnischer Gruppierungen durch eine selbsternannte politische Führungselite, die in der Lage ist, Forderungen zu artikulieren und Unzufriedenheit in kollektives Handeln zu kanalisieren. Zu einem frühen Zeitpunkt der Entwicklung »nationaler Bewegungen« ist es noch nicht ausgeschlossen, dass relativ kooperativ eingestellte Führer imstande sind, Interessen zu bündeln, Forderungen zu stellen und friedliche Lösungen auszuhandeln. Oft sind interethnische Beziehungen durch das Fehlen formeller oder informeller Plattformen oder gemeinsam getragener Institutionen gekennzeichnet. Die Entwicklung eines politischen Dialoges ist erschwert oder wird abgebrochen, weil die geeigneten Kommunikationskanäle fehlen. Eine oder beide Seiten sind nicht bereit zu Verhandlungen oder es werden radikale und nicht verhandelbare Forderungen gestellt. So zeichnet sich eine Eskalationsdynamik ab, die nur schwer wieder unter Kontrolle zu bringen ist. Politische Partizipation oder Repräsentation von Minderheiten werden von den politischen Machthabern verweigert; ihre Führer werden isoliert oder verhaftet, ihre Organisationen für illegal oder verfassungswidrig erklärt. Repression und Gewalt gegen Minderheiten sind die Konsequenzen.

Politisierte Ethnien und Identitätsbildung

Ethnische Gruppen formieren sich gemäß den Erkenntnissen von Ropers (1995) in einem langen historischen Prozess als »Schicksalsgemeinschaften«. Es handelt sich um einen Prozess der Interaktion von subjektiven und objektiven Faktoren, von individuellen Bedürfnissen nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Partizipation in abgrenzbaren Gruppen und kultureller und sozio-ökonomischer Inklusion und Exklusion, von selbstbestimmter politischer Mobilisierung und Instrumentalisierung durch mächtige politische Akteure; dies alles im Spannungsfeld von traumatischen und heroischen Prägungen des Gemeinschaftsgefühls.

Mit Ropers (1995) lassen sich sechs Komponenten auflisten, die zum kollektiven Selbstverständnis bei ethno-politischen Konflikten beitragen:

  • gemeinsamer Name, u.U. aber erst als Resultat des Formierungsprozesses (z.B. bosnische Muslime),
  • Mythos der gemeinsamen Abstammung,
  • gemeinsame Geschichte bzw. Geschichtsschreibung unter dem Gesichtspunkt Gemeinschaft bildender Wirkungen von historischen Erfahrungen,
  • gemeinsame Kultur und Sprache,
  • Bezug zu einem bestimmten, u.U. aus historischen Gründen lediglich reklamierten Territorium und schließlich
  • Gemeinschaftsbewusstsein als entscheidender Schritt zur Konstituierung ethnischer Identität.

Ethnisch bestimmte Schicksalsgemeinschaften sind besonders geprägt durch Erfahrungen von Benachteiligung, Repression, »ethnischer Säuberung« und schließlich Genozid. Diese Erfahrungen wirken – in der Regel als »chosen traumas«, seltener als »chosen glories« – im Bewusstsein der Betroffenen über die unmittelbar betroffene Generation hinaus. Ob die einer bestimmten Gruppe zugehörigen Individuen es wollen oder nicht, sie unterliegen einem beträchtlichen Druck, sich als Bestandteil einer Konfliktpartei zu verstehen und dementsprechend zu handeln; andernfalls trifft sie der Vorwurf des Verrats an ihrer eigenen Bezugsgruppe. Die Kohäsion ethnischer Schicksalsgemeinschaften wird darüber hinaus stark beeinflusst von Faktoren, die nicht in direktem Zusammenhang mit Gruppenzugehörigkeit stehen, z.B. der sozio-ökonomischen Schichtzugehörigkeit. Ferner spielen die machtpolitischen Interessen politischer Eliten und deren u.U. manipulatives Verhalten eine wichtige Rolle.

Ethno-politische Konflikte weisen auch eine instrumentelle Dimension auf, sofern konkrete Ziele avisiert werden: politische Teilhabe, Wohlfahrtssteigerung und kulturelle Selbstdarstellung (vgl. Senghaas, 1994). Das Erleben einer Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität in diesen Hinsichten ist oft auch der Beginn des Prozesses der Identitätsbildung, in dessen Verlauf dann die eigene »nationale Geschichte« entdeckt bzw. unter Rückgriff auf mystifizierende und glorifizierende Selbstzeugnisse konstruiert wird. Dementsprechend steht die Auseinandersetzung mit der so genannten historischen Wahrheit im Brennpunkt der Aufmerksamkeit in Bürgerkriegen und Nachkriegsgesellschaften. Die verbreitete Annahme, wonach die Klärung der Frage, wer historisch im Recht bzw. im Unrecht ist, eine Einigung mit sich bringt und damit friedensstiftend wirkt, ist de facto irreführend.

Aus der praktischen Vermittlungstätigkeit ist bekannt, dass bereits die Frage nach der Definition des Problems die Beziehung zwischen den Kontrahenten in Bürgerkriegen zusätzlich verschlechtern kann. Identitätskonflikte sind nicht verhandelbar. Senghaas (1994) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass im Zentrum der Politik für die betreffende Bevölkerungsgruppe die Identitätsproblematik und damit die Verfassungsfrage steht. Man muss der Tatsache Rechnung tragen, dass um die konstitutiven Bedingungen politischer Herrschaft gestritten wird – so wie sie sich in ethno-politischen Konfliktlagen Ausdruck verschaffen: um Volksgruppenzugehörigkeit, Sprache, Kultur und Religion. Vor allem Kultur- und Sprachenpolitik werden zu Kristallisationspunkten der Politisierung. Damit verbundene Emotionen sind eher mobilisierbar, so dass sich der Selbstbehauptungswille in diesem Bereich meist früher artikuliert als im Hinblick auf die wirtschaftliche Interessenlage. Die Gestaltung der Wirtschaft zum eigenen Nutzen wird aber im Politisierungsprozess zu einem zentralen Streitpunkt, weil ein kollektiver sozialer Aufstieg einer Minderheit ohne erweiterte Teilhabe an der wirtschaftlichen Wohlfahrt unvorstellbar ist.

Identitätssicherung und faire Interessenwahrnehmung sind im Prinzip die zentralen und legitimen Anliegen der Gegenspieler in ethno-politischen Konflikten und Bürgerkriegen. In derartigen Konstellationen brechen aber die Kommunikation und der Glaube an Problemlösemöglichkeiten leicht zusammen. Im Gegensatz zu zwischenstaatlichen Konflikten sind interethnische Konflikte zudem nicht durch eine umschriebene Abfolge von Eskalationsschritten und klar abgestufte Gewaltschwellen gekennzeichnet, die Zwischenhalte und Eskalations- und Verhandlungszyklen erlauben. Der ethnische Konflikt präsentiert sich unbegrenzt, ohne Spielregeln, nicht kontrollierbar.

Neben der Auseinandersetzung um die so genannte historische Wahrheit spielt die Problematik der Anerkennung anderer ethnischer Gruppen eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang ist auf die immer wieder zu beobachtende Doppelmoral vieler ethno-politischer Bewegungen mit an sich berechtigten Anliegen hinzuweisen. Die am eigenen Leib erfahrene Diskriminierung und Gefährdung von Identität motivieren nur in Ausnahmefällen zu einem pfleglicheren Umgang mit anderen Volksgruppen. In der Regel führen sie im Gegenteil zur bewussten oder unbewussten Diskriminierung anderer Volksgruppen. Das wird dann oft genug mit der Behauptung gerechtfertigt, die betreffenden (anderen) Minderheiten seien nichts anderes als ferngesteuerte Brückenköpfe einer ungeliebten Zentrale.

Politische Konfliktvermittlung und psychologische Mediation

In einer Epoche weltweiter Interdependenzen ist die Notwendigkeit größer als je zuvor, in der Staatenwelt bessere Modelle der Sicherheit und zusätzliche praktische Verfahren zur Konfliktregelung zu entwickeln, die kriegerische Auseinandersetzungen begrenzen und womöglich verhindern können. Bei der Bewertung von Strategien der zivilen Konfliktbearbeitung müssen deren Wirkungen, d.h. ihre kurz- und längerfristige Nützlichkeit, nicht nur aus der Optik von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren, sondern auch aus der Optik der Individuen berücksichtigt werden. Außerdem gilt es, mögliche ungünstige Folgen dieser Interventionsformen zu ermitteln, wiederum mit Blick auf die Individuen, aber auch auf die einzelnen Volksgruppen und die Gesamtgesellschaften. In bürgerkriegsähnlichen Lagen muss man allerdings davon ausgehen, dass die elementarsten Spielregeln der Kommunikation außer Kraft sind. Hass, Angst und Feindseligkeit dominieren. Politische Verhandlungen sind unter Umständen nicht durchführbar oder in ihrer Wirksamkeit begrenzt. Was also tun?

In allen akuten kollektiven Auseinandersetzungen spielen, wie zu zeigen versucht wurde, eine Sachebene und die Beziehungsebene eine wichtige Rolle. Es handelt sich im Normalfall um ein kompliziertes Wechselspiel zwischen der Identitäts- und der Interessenthematik. Demgemäß differenziert Bloomfield (1995) zwischen zwei strategischen Ansätzen der Konfliktbearbeitung, einem politischen und einem psychologischen. Zu den in internationalen Konflikten am meisten angewandten Methoden gehört der sogenannte »conflict-settlement-Ansatz«, der sich mit Streitigkeiten um objektivierbare Interessen befasst, z.B. um knappe Ressourcen oder um nichtvereinbare politische Ziele. Eine grundsätzlich andere Strategie ist mit dem »conflict-resolution-Ansatz« verbunden; hier ist der Zugang zur Konfliktlage an menschlichen Grundbedürfnissen orientiert.

Der pragmatische conflict-settlement-Zugang zielt auf Verhandlung und greifbare Resultate, die in Abkommen festgeschrieben werden. Die traditionelle Diplomatie ist gewohnt, auf der Ebene von kurzfristigen nationalen Interessen, die kompromissfähig sind, zu verhandeln. Die involvierte Drittpartei agiert direktiv und orientiert sich an einem »geheimen Fahrplan« (hidden agenda). Sie spielt den advocatus diaboli und ist legitimiert, Einfluss und Zwang auszuüben und nötigenfalls den Streitparteien eine Verhandlungslösung aufzuoktroyieren. Die Durchsetzungsmacht für die Ausführung des Abkommens liegt bei der Drittpartei. Wenn die Konfliktparteien machtmäßig vergleichbar sind, wird Zwang nicht dazu führen, dass die eine Partei auf Kosten der anderen gewinnt. Die Gefühle der Konfliktparteien und ihre Beziehung werden nur angesprochen, sofern sie im Verhandlungsprozess stören. Die Drittpartei muss bei den Konfliktparteien ein Image der Machtüberlegenheit aufbauen und kann sich über die gegenseitigen Perzeptionen der Konfliktparteien hinwegsetzen.

Psychologisch orientierte Kritiker werfen diesem Ansatz vor, dass er zu oberflächlich funktioniert oder nur ein containment der Problematik, nicht aber eine fundierte und nachhaltige Lösung bewirkt (vgl. Lederach, 1995).

Der an Grundbedürfnissen wie Sicherheit, Freiheit, Partizipation, Verteilungsgerechtigkeit und Identität orientierte conflict-resolution-Ansatz ist bestrebt, ganzheitlich vorzugehen. Man argumentiert, dass immer die Notwendigkeit besteht, jene Grundbedürfnisse zu berücksichtigen, unabhängig davon, ob man sich mit interpersonellen, lokalen, ethnischen oder internationalen Problemen befasst. Unter »Mediation« versteht man in diesem Zusammenhang die Vermittlung durch unparteiische Dritte, die von allen Konfliktparteien akzeptiert werden und diesen helfen können, aus eigener Kraft eine einvernehmliche und für alle befriedigende Lösung zu finden. Die Drittpartei verfügt über keine maßgebende Entscheidungsgewalt. Man stützt sich nicht auf physische Gewalt oder auf die Autorität von Gesetzen. Mediation unterscheidet sich von den verbindlicheren Formen der Drittparteien-Intervention wie Schieds- und Schlichtungsverfahren dadurch, dass die Initiative bei den Konfliktparteien liegt – sie können allenfalls mit dem Angebot einer außenstehenden Partei konfrontiert werden – und die Entscheidungsgewalt letztendlich bei ihnen verbleibt. Die Mediatoren bewerten die Aussagen der Streitparteien nicht; sie nehmen die Standpunkte, Interessen und Gefühle aller Konfliktparteien ernst. Mediatoren können im Übrigen verschiedene Funktionen auf sich vereinigen. Zu nennen sind die des Katalysators von psycho-sozialen Prozessen, des Erwachsenenbildners, des Überbringers von schlechten Nachrichten, des Dolmetschers – zur Entschlüsselung wechselseitiger politisch-taktischer Botschaften der Gegner – und des Sündenbocks.

Dieser zweite Ansatz ist weit entfernt von diplomatischer Verhandlung und Kompromisssuche; er zielt auf einen offenen Informationsaustausch unter den bisherigen Gegnern und eine von Kooperationsgeist getragene Beziehung. Verfechter dieses Ansatzes wie z.B. Burton (1993) argumentieren, dass politische Systeme bisher selten über andere als militärisch abgestützte Machtmittel verfügt haben, um grundsätzliche Veränderungen zu bewirken. Die Geschichte zeigt uns aber, dass innen- und außenpolitische Konfliktlagen auftreten, die sich nicht durch autoritative Lösungen oder auf Zwang gestützte Interventionen beilegen lassen. So hat die größte Militärmacht in der Geschichte der Menschheit, die USA, in den 60er Jahren den kleinen postkolonialen und seine Autonomie suchenden Staat Vietnam nicht in den Griff bekommen.

In politischen Konfliktlagen, bei denen staatliche Autoritäten fehlen, ist der Handlungsspielraum von Mediatoren nach Ansicht von Bercovitch (1992) immens. In zugespitzten Konfliktlagen neigen zerstrittene Parteien dazu, sich auf Positionen zu kaprizieren, die nicht zwangsläufig ihren wirklichen Interessen entsprechen. Umso wichtiger wird es, im Rahmen der Mediation Vereinbarungen anzustreben, die von der Idee des Nullsummenspiels wegkommen; gesucht sind Lösungen, die allen Kontrahenten Vorteile bringen. Es wird die Aufgabe einer zukünftigen Mediationsforschung sein, dieses Verfahren noch eindeutiger gegenüber der klassischen diplomatischen Vermittlungsstrategie abzugrenzen und weiterzuentwickeln.

Im Idealfall können traditionelle Konfliktvermittlung und Mediation das Ende von Gewaltakten ermöglichen, die Streitparteien (Staaten, Ethnien) vor einer innen- und außenpolitischen Bloßstellung bewahren, ihnen zu einer besseren gegenseitigen Beziehung verhelfen und mit der Schaffung von realisierbaren Friedensabkommen in den Augen der Staatengemeinschaft auch gute Präzedenzfälle für die Regelung spezifischer Arten von Streitigkeiten abgeben. Konfliktvermittlung und Mediation garantieren aber nicht per se eine faire, stabile und friedliche Streitbeilegung. Das Potenzial der präventiven Diplomatie ist bisher von den Staaten noch viel zu wenig ausgeschöpft worden.

Literatur

Bercovitch, J. (1992): The structure and diversity of mediation in international relations. In J. Bercovitch & J.Z. Rubin (Eds.), Mediation in international relations. Multiple approaches to conflict management. New York: St. Martin’s Press.

Bloomfield, D. (1995): Towards complementarity in conflict management: Resolution and settlement in Northern Ireland. Journal of Peace Research, 32, 151-164.

Burton, J. W. (1993) : Conflict resolution as a political philosophy. In D.J.D. Sandole & H. van der Merve (Eds.), Conflict resolution theory and practice. Integration and application (pp. 55-64), Manchester, NY: Manchester University Press.

Gurr, T. R. & Harff, B. (1994). Ethnic conflicts in world politics. Boulder, Colorado: Westview Press.

Lederach, J. P. (1995). Preparing for peace. Conflict transformation across cultures. Syracuse: University Press.

Ropers, N. (1997). Prävention und Friedenskonsolidierung als Aufgabe für gesellschaftliche Akteure. In D. Senghaas (Hrsg.), Frieden machen (S. 219-242). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Senghaas, D. (1994). Wohin driftet die Welt? Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Dr.phil. Edith Marfurt-Gerber ist Lehrbeauftragte an der Universität St.Gallen.

Vermittelnd eingreifen

Vermittelnd eingreifen

Zur Rolle der Mediation in großen Konflikten

von Gert Sommer

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können dazu beitragen, die Wahrscheinlichkeit gewaltfreier Konfliktaustragungen zu erhöhen oder die Wahrscheinlichkeit gewaltträchtiger Konfliktaustragungen zu mindern. In der Agenda für den Frieden (1992) des früheren UNO-Generalsekretärs Boutros-Ghali sind Verhandlungslösungen und dazu erforderliche Strategien unter dem Begriff »peace-making« zusammengefasst. In diesem Zusammenhang spielen die psychologischen Erkenntnisse eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Psychologie hat sich u.a. mit Mediation befasst, denn das »vermittelnde Eingreifen« nimmt einen immer größeren Stellenwert ein. Eine zivile Lösung vieler Großkonflikte ist ohne Mediation nicht denkbar. Gert Sommer untersucht die Möglichkeiten und Grundmuster der Mediation.

Mediation ist die Intervention einer dritten Partei in einem Konflikt mit dem Ziel, diesen durch Verhandlungen zu bearbeiten bzw. zu lösen. Durch das Einbeziehen einer dritten Partei kann – im Sinne einer strukturellen Veränderung bzw. eines systemischen Effektes – die Interaktion zwischen den Konfliktparteien positiv beeinflusst werden (vgl. Überblicke bei Bercovitch & Rubin, 1992, Kressel & Pruitt, 1989).

MediatorInnen können offizielle RepräsentantInnen von Staaten, regionalen oder internationalen Organisationen sein oder aber Privatpersonen (z.B. Geschäftsleute) oder WissenschaftlerInnen ohne offizielles Mandat (z.B. Rubin, 1992). Der Vorteil offizieller RepräsentantInnen kann darin bestehen, dass sie die politische, ökonomische und militärische Macht ihrer Institution effektiv einsetzen; der Vorteil von inoffiziellen Personen liegt häufig in der informellen Arbeit, wenn die üblichen politischen Kommunikationskanäle zwischen den Konfliktparteien bereits blockiert sind (Carnevale, 1985).

MediatorInnen benötigen spezifische Kompetenzen, um erfolgreich intervenieren zu können. Dazu gehört, dass sie über den Konflikt und die beteiligten Parteien gut informiert sind (inhaltliche Kompetenzen) und dass sie hervorragende Fertigkeiten in Konfliktanalyse, Konfliktaustragung und zwischenmenschlicher Kommunikation besitzen (prozessuale Kompetenzen; Rubin, 1992).

Konfliktparteien sind dann zur Austragung ihres Konfliktes mit Hilfe von Mediation motiviert, wenn sie damit positivere Konsequenzen erreichen und/oder negativere Konsequenzen vermeiden können als mit alternativen Vorgehensmöglichkeiten oder wenn diese Alternativen mit unakzeptablen Kosten verbunden sind (Susskind & Babbitt, 1992).

Mediation mag für eine Regierung z.B. dann wenig attraktiv erscheinen, wenn einseitige – z.B. ökonomische oder militärische – Aktionen eine schnellere und höhere subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit haben. Voraussetzung zur Akzeptanz von Mediation ist zudem, dass die Person der Mediatorin/des Mediators Vertrauen und Respekt der Parteien genießt. Mediation kann dadurch erschwert werden, dass die MediatorInnen selbst nicht neutral sind, sondern ausgeprägte eigene Interessen haben (Carnevale, 1985; Bercovitch,1992), z.B. die Sicherung von Einflusssphären (dies war ein wesentliches Motiv von Kissingers Reisediplomatie im Mittleren Osten; vgl. Wessells, 1993).

Zu den Aktivitäten von MediatorInnen gehören u. a.:

  • für formelle Verhandlungen die Grundlagen schaffen,
  • Treffen organisieren und strukturieren,
  • produktive Kommunikation unterstützen,
  • den Konfliktparteien bei der Definition der zentralen Probleme sowie beim Erarbeiten der zugrundeliegenden und der gemeinsamen Interessen helfen,
  • Ansätze zur Problemlösung unterstützen.

Eine wesentliche Aufgabe der Mediation ist die Eingrenzung des Konflikts, also das Verhindern einer Konflikteskalation, insbesondere hin zum Krieg. Dies geschieht u.a. durch Einflussnahme auf die Kommunikation und die Einstellungen der Konfliktparteien oder auch dadurch, da die zugrundeliegenden – zunächst unvereinbar erscheinenden – Interessen so umformuliert oder uminterpretiert werden, dass sie als gemeinsame Interessen der Konfliktparteien erscheinen. Solche gemeinsamen Interessen können etwa sein: intensiver Handel; Verhindern eines Krieges; Sichern einer intakten Umwelt. Damit ist konstruktives Denken im Sinne von Gewinn-Gewinn-Strategien verbunden, d.h. beide Konfliktparteien gewinnen mit einem für beide vorteilhaften Kompromiss.

Eine wichtige Mediationsstrategie besteht darin, die Gesamtproblematik so zu fragmentieren, dass möglichst mit einem kleineren Problem begonnen werden kann, bei dem eine Einigung wahrscheinlich ist. Kleine anfängliche Erfolge können dann für die weiteren Verhandlungen von großer Bedeutung sein (Carnevale & Pruitt, 1992). Bei einer ähnlichen Strategie werden die unterschiedlichen Bedeutsamkeiten einzelner Konfliktpunkte für die Konfliktparteien herausgearbeitet: Jede Partei kann dann bei den Themen nachgeben, die für sie selbst relativ wenig, für die andere Partei jedoch hoch bedeutsam sind (zu weiteren Mediationsstrategien vgl. Zartmann & Tuval, 1985).

In schwierigen Situationen können die Parteien räumlich getrennt werden, so dass die Mediatorin/der Mediator die wesentliche Kommunikationsinstanz ist. Dies kann besonders bedeutsam sein bei ausgeprägten Feindbildern, also bei hochemotionalen Konflikten, wenn z.B. jede Partei in Äußerungen der anderen Seite nur Versuche der einseitigen Gewinnmaximierung sieht (Nullsummen-Denken). Eine Möglichkeit, dies zu überwinden, besteht darin, dass die Mediatorin/der Mediator Verhandlungsvorschläge macht, die sie/er als die eigenen ausgibt und mit denen die Konfliktparteien sich dann sachlich auseinandersetzen können; beim Akzeptieren eines solchen Vorschlages können die Parteien zugleich ihr »Gesicht wahren«.

Konfliktparteien haben – insbesondere zu Verhandlungsbeginn – häufig den starken Wunsch, jeden Anschein von Schwäche zu vermeiden. Anfängliche Zugeständnisse werden daher vermieden, da sie von der Gegenseite ausgenutzt werden könnten. Zur Motivierung einer produktiven Konfliktaustragung können MediatorInnen ggf. Druckmittel einsetzen, indem sie u.a. mit Sanktionen oder dem Abbruch der Verhandlungen drohen oder aber substanzielle Anreize politischer, ökonomischer oder militärischer Art bieten.

Internationale Mediation ist wegen der meist hoch komplexen Problemkonstellation sinnvollerweise, wenn nicht notwendigerweise ein multidisziplinäres Vorgehen. Dabei ist die Bedeutung von Psychologie offensichtlich, z.B. bei der Analyse der wesentlichen Strukturen und Prozesse von Mediation und bei Vorbereitung, Training und Beratung von MediatorInnen, z.B. durch Unterweisung in effektiver Kommunikation und Problemlösekompetenz (Wessells, 1993).

Bercovitch, Anagnoson & Wille (1991) haben die Relevanz von Mediation bei 79 bewaffneten zwischenstaatlichen Konflikten (Kriterium: Mindestens 100 Tote) von 1945-1989 empirisch analysiert. Bei 44 dieser Konflikte wurde Mediation eingesetzt, bei vielen sogar wiederholt in verschiedenen Konfliktphasen. Das Gesamtergebnis ist ernüchternd. Insgesamt 62 mal wurde Mediation von den Autoren als Erfolg eingeschätzt, 134 mal als Misserfolg und 61 mal wurde sie angeboten, aber nicht akzeptiert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Kriterium »Erfolg« weit definiert wurde: Dazu zählen nicht nur Beendigung des Konfliktes, sondern auch Beginn von Verhandlungen sowie auch schon das Beenden bzw. Unterbrechen der bewaffneten Auseinandersetzung. Bercovitch et al. (1991) leiten aus ihrer Analyse Bedingungen ab, unter denen Mediation mit erhöhter Wahrscheinlichkeit erfolgreich ist. Dazu gehören u.a.

  • geringer Machtunterschied zwischen den Konfliktparteien;
  • geringe Intensität des Konfliktes;
  • Grenzen und Territorium als Konfliktgegenstand (gegenüber ideologischen und Unabhängigkeits-Konflikten, bei denen Mediation erheblich weniger erfolgreich war);
  • Regierungschefs mit hohem Rang und Prestige als MediatorInnen, die zudem Druckmittel einsetzen können;
  • aktive Strategien der MediatorInnen, mit denen u.a. direkt die Kosten und Nutzen für die Parteien beeinflusst werden; Entwickeln eigener Vorschläge, zu deren Annahme die Parteien gedrängt werden.

Mediation ist eine wichtige Form gewaltfreier Konfliktaustragung. Es ist daher eine bedeutsame Aufgabe, die Bedingungen weiter zu erforschen, die ihre Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen.

Mediation und andere gewaltfreie Lösungsstrategien haben vor allem dann eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit, wenn die Konfliktparteien grundsätzlich an einer nicht-militärischen Konfliktaustragung interessiert sind. Das ist häufig nicht der Fall, wenn sich die RepräsentantInnen bzw. Eliten einer Konfliktpartei größeren Gewinn an Macht, Einfluss und materiellen Ressourcen erhoffen, wenn sie den Konflikt gewaltsam austragen und wenn sie dabei von mächtigen Verbündeten ideell und materiell unterstützt werden. Zudem muss beachtet werden, dass viele Konflikte nicht mehr mit militärischen, sondern mit ökonomischen Mitteln ausgetragen werden (z.B. Embargo, Übernahme von Wirtschaftszweigen) – die Folgen für die Zivilbevölkerung aber können ähnlich zerstörerisch sein.

Literatur

Bercovitch, J. (1992): The structure and diversity of mediation in international relations. In J. Bercovitch & J.Z. Rubin, (Eds.) (pp.1-29): Mediation in international relations. Multiple approaches to conflict management (1992). New York, St. Martin's Press.

Bercovitch, J., Anagnoson, J. T. & Wille, D. L. (1991): Some conceptual issues and empirical trends in the study of successful mediation in international relations. Journal of Peace Research, 28, 7-17.

Bercovitch, J. & Rubin, J. Z. (Eds.) (1992): Mediation in international relations. Multiple approaches to conflict management (1992). New York, St. Martin's Press.

Besmer, C. (1993): Mediation – Vermittlung in Konflikten. Karlsruhe, Pazifix.

Carnevale, P. J. (1985) : Mediation of international conflict. In S. Oskamp (Ed.): International conflict and national public policy issues. Applied Social Psychology Annual (Vol. 6, pp 87-106). Beverly Hills, Sage.

Carnevale, P. J. & Pruitt, D. G. (1992) : Negotiation and Mediation. Annual Review of Psychology, 43, 531-582.

Kressel, K. & Pruitt, D. G. (Eds.) (1989): Mediation research. San Francisco, Jossey-Bass.

Rubin, J. Z. (1992): Conclusion: International mediation in context. In J. Bercovitch & J. Z. Rubin (Eds.): Mediation in international relations. Multiple approaches to conflict management (pp 249-272). New York, St. Martin's Press.

Susskind, L. & Babbitt, E. (1992): Overcoming the obstacles to effective mediation of international disputes. In J. Bercovitch & J. Z. Rubin (Eds.): Mediation in international relations (pp. 30-51). New York: St. Martin's Press.

Wessells, M. G. (1993): Psychologische Dimensionen internationaler Mediation. In W. Kempf, W. Frindte, G. Sommer & M. Spreiter (Hrsg.): Gewaltfreie Konfliktlösungen (S. 71-90). Heidelberg, Asanger.

Zartmann, I. W. & Tuval, S. (1985): International mediation. Conflict resolution and power politics. Journal of Social Issues, 41, 27-46.

Der vorliegende Text basiert auf dem Beitrag von Gert Sommer »Internationale Gewalt: Friedens- und Konfliktforschung«, in H. W. Bierhoff und U. Wagner (1998): Aggression und Gewalt. Stuttgart, Kohlhammer.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Klinische Psychologie an der Universität Marburg und Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie