Konsequenzen eines ideologischen Zusammenbruchs

Konsequenzen eines ideologischen Zusammenbruchs

Sozialpsychologische Überlegungen

von Andreas Zick • Ulrich Wagner • Wolfgang Maser

Die Autoren nehmen im folgenden Stellung zur (sozial-)psychologischen Dynamik des Ideologieverlustes und der Wiederbelebung von »braunem Gedankengut« im Zusammenhang mit dem Ende der West-Ost-Konfrontation Stellung – vornehmlich mit Bezug auf die Länder Mittel- und Osteuropas. Zu dieser Thematik gibt es natürlich verschiedene Perspektiven, und eine sozialpsychologische Einschätzung kann nur eine unter vielen sein. Auch ist den Autoren bewußt, daß ihr Beitrag aus westlicher Perspektive erstellt wurde. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen eingeschränkten Sichtweisen, insbesondere aus einer östlichen Perspektive, ist erforderlich und erwünscht.

Die alten Systeme des Ostblocks waren nicht geliebt, und es ist zu vermuten, daß eine Identifikation mit den Systemen, vor allem in ihrer Endphase, bei den meisten Bürgerinnen und Bürgern der Staaten des ehemaligen Ostblocks kaum gegeben war. Das zeigen jedenfalls die Bilder: Erinnert sei an den Jubel der DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft, oder an die Szenen, die sich bei Öffnung der Mauer abspielten. Die Systeme hatten in vielen Staaten des Ostblocks zuvor scheinbar nur durch mehr oder weniger offenen physischen Druck ihre Existenz gesichert1; die Akten der Sicherheitsbehörden und der Versuch, die Bevölkerung zu gegenseitigen Spitzeln zu machen, zeugen davon. In der Endphase ihrer Existenz konnten die Ostblock-Staaten diese Kontrolle offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten, die Auflösung war damit programmiert.

Der Zusammenbruch des Ostblocks und seine Inszenierung wurden im Westen so vermittelt, als blieben in großer Zahl Menschen des Typus »Kaspar Hauser« zurück, Menschen ohne spezifische Sozialisationserfahrungen, die nun zu uns kämen, um sich darin unterweisen zu lassen, wie man sich die Errungenschaften westlicher Zivilisationen zunutze macht. Entsprechend äußerte sich der neue Bundespräsident aller Deutschen, Roman Herzog, noch 1994 in seiner ersten Rede am 23. Mai an die Ostdeutschen gerichtet: „Ich bin froh, daß Sie wieder bei uns sind.“ Bekehrungsmythen wurden aufgefrischt im Westen und im Osten, zumindest soweit die Debatte eine Kolonialisierung des europäisch-christlichen Teils des ehemaligen Ostblocks erfaßt. Herzog in derselbe Rede: „Und ich sage es an die Menschen in den neuen Bundesländern. Sie müssen begreifen (sic), daß Sie für uns (!) keine Last, sondern daß Sie für uns ein Gewinn sind.“ (unsere Hervorhebungen).

Selbst wenn den alten Systemen von ihren Bürgerinnen und Bürgern wenig Sympathie entgegengebracht wurde, so muß man dennoch davon ausgehen, daß die Lebensformen und -muster in den Staaten des ehemaligen Ostblocks Spuren in den Weltbildern hinterlassen haben, die durch den politischen Umbruch nicht einfach ausgelöscht sind.

Diese Spuren werden umso offensichtlicher, je deutlicher wird, daß sich die hohen Erwartungen und teilweise unrealistischen Hoffnungen im ökonomischen und ideellen Bereich für einen großen Teil der Bevölkerung vorläufig nicht werden einlösen lassen. Die Vorstellung, die Menschen des Ostens hätten nichts von ihrer Geschichte in ihre Biographie integriert, wird jetzt zunehmend von den meisten Beteiligten als Absurdität erkannt.

Eine gleichberechtigte Partizipation an den politischen Gestaltungsmöglichkeiten des neuen Gesamtsystems – wenn es denn ein solches wirklich gibt – wird zunehmend schwieriger: Zu viele Entscheidungsprozesse werden vom West-System abhängig, Entscheidungspositionen sind von Westlern besetzt; die Möglichkeit der Verhandlung über die Form eines gemeinsamen Systems erweist sich als eine kurzfristige Utopie der Übergangszeit. Das anvisierte Expertensystem, das zum Aufbau des Neuen installiert wird, ist nahezu ausschließlich westlich besetzt, personell wie ideologisch. Visionen weichen Krisenmanagements, die im wesentlichen nach ökonomischen Prinzipien vorgehen und folglich soziale Prozesse und Deformierungen nur soweit in Rechnung stellen, als deren Folgekosten unmittelbar abzusehen sind: So werden Ausschreitungen gegen Minderheiten in ihren ökonomischen Auswirkungen auf internationale Handelsbeziehungen verrechnet.

Die ursprünglichen Erwartungen sind vermutlich aber nicht nur gedämpft oder enttäuscht, sie sind in vielen Bereichen auch einer tiefen Hoffnungslosigkeit gewichen. Arbeitslosigkeit als Massenphänomen bespielsweise, in den sozialistischen Staaten früher weitgehend unbekannt und bei den Menschen nur als abstrakte Kategorie repräsentiert, wird nun plötzlich wesentlicher Bestandteil des eigenen Lebens und der persönlichen Zukunft, ihre ökonomischen und psychischen Konsequenzen gehören jetzt zur unmittelbaren Erfahrung, oder zumindest zur Bedrohung.

Umbruch und Identität

Die Zusammenbrüche im ehemaligen Ostblock haben ganz wesentlich auch Veränderungen tradierter sozialer Bindungen zur Folge. Dies gilt insbesondere für verschiedene Formen der Kollektivierung, der Gruppenzusammenschlüsse. Zugehörigkeiten zu makro- und mikrosozialen Gruppen sind identitäts- und selbstwertstiftend. Gruppen definieren die soziale Identität ihrer Mitglieder (Tajfel & Turner, 1986). Die makrosozialen Kollektive – die übergeordneten Systeme, der Ostblock, der Sozialismus – sind verschwunden. Auch sie waren vermutlich für die Selbstdefinition relevant, selbst wenn dies wenig bewußt war und geleugnet wird. Identitätsrelevant war der Zusammenschluß des Ostblocks vermutlich gerade deshalb, weil er sich wesentlich aus der Abgrenzung gegen den Westen definierte: Gruppen sind identitätsstiftend in ihrer Abgrenzung von anderen Gruppen; ein äußerer Feind verbindet2. Selbst wenn Bürgerinnen und Bürger des ehemaligen Ostblocks die scharfe, von der offiziellen Politik verabreichte Ost-West Dichotomie abgemildert und entdramatisiert haben mögen, ermöglichte eine solche Ost-West Dichotomie doch ein Bewußtsein von einer eigenen kollektiven Identität3, selbst dann, wenn man deren Attribute in bestimmten Bereichen, vornehmlich der Ökonomie, der politischen Partizipation und der Menschenrechtsfrage kritisierte.

Oberflächlich betrachtet scheinen vom Zusammenbruch des Ostblocks über die Auflösung der Ost-West Dichotomie hinaus nur solche Bindungssysteme betroffen zu sein, denen Verbindungen zum System nachgesagt wurden, Parteiinstitutionen und deren Einflußbereiche. Bei genauerer Analyse wird jedoch deutlich, daß von dem Wegfall der systemtragenden Organisationen auch andere Bindungssysteme berührt sind. In der ehemaligen DDR beispielsweise gab es verschiedene DDR-typische mikrosoziale Gruppierungen und Verbände, die bis zum Kleintierzüchterverein reichten, denen identitätsbildende Funktionen zugeschrieben werden müssen (Voigt & Meertens, 1992) und die die Bedürfnisse der Menschen nach Solidarität und Kontakt befriedigen konnten. Teilweise existierten solche Gruppierungen weitgehend unabhängig von den staatlichen Systemen, auch wenn diese ständig um die Kontrolle solcher mikrosozialen Einheiten bemüht waren, z.B. durch die Rekrutierung von Spitzeln. Mit der Auflösung der makropolitischen Konfrontation verschwanden auch viele dieser mikrosozialen Bindungssysteme.

Der beschriebene Prozeß der Auflösung traditioneller Bindungen wird verstärkt und beschleunigt durch Verarmung, Wanderung und das Umsichgreifen einer Ideologie der individuellen Aufwärtsorientierung. Auch diese Faktoren berühren unmittelbar die mikrosozialen Bereiche, d.h. den Austausch sozialer Beziehungen, ohne den Umweg über die makropolitischen Strukturen und deren Zusammenbruch (Beck, 1986). In einigen Lebensbereichen scheint es noch Ersatz zu geben. So z.B. in kirchlichen oder gewerkschaftlichen Organisationsformen, die an die Stelle ehemaliger Kollektive treten. Aber auch diese können nicht die Verluste für alle ausgleichen.

Welche Prognosen für die Zukunft ergeben sich, wenn die geschilderte Situation empirisch zutrifft? Zwei Entwicklungslinien zeichnen sich ab: Die Suche nach neuen Orientierungsmustern, vornehmlich auf der rechten Seite des politischen Spektrums, und die Rückbesinnung auf alte Strukturen und Werte. Zwischen diesen Entwicklungslinien gibt es eine Reihe von Ähnlichkeiten und Überlappungen, die wir hier jedoch nicht weiter verfolgen wollen (vgl. dazu z.B. Rokeach, 1960; Altemeyer, 1981).

Rechte Reaktionen

Im rechtsextremen politischen Spektrum und in der rechtsextremen politischen Szene bieten sich für viele Menschen, oftmals Jugendliche, neue Muster an, die eine hohe Orientierungs- und Identifikationsfunktion versprechen: Rechtsextreme Ideologien überzeugen vor allem durch die Einfachheit ihrer Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Entwicklungen, durch die Betonung von Ausgrenzung der Anderen (vgl. Adorno et al., 1950; Heitmeyer, 1987, 1989, 1990) bieten sie gleichzeitig die Chance zur Partizipation für diejenigen, die sich dem Kollektiv zurechnen können; rechtsextreme Ideologien üben soziale Kohäsionskräfte aus (vgl. dazu auch Schumann 1990; Siegler, 1992; Vollbrecht, 1992). Vor dem Hintergrund zunehmender Wanderungsbewegungen in der Welt wird sich Ausgrenzung vor allem gegen Einwanderer richten: Migranten »bedienen« die Ideologie der Einheit und die Propaganda der Bedrohung und Benachteiligung. Die Zurückweisung von Einwanderern schafft die Einheit derjenigen, die sich gegen diese Einwanderer glauben zur Wehr setzen zu müssen. Als besonders zynische Form der Ausgrenzung erweist sich eine Überzeugung, wonach gerade Zuwanderer die Ostdeutschen daran hindern, »richtige« Deutsche zu werden: Eine solche Ideologie suggeriert, daß die neuen Bürgerinnen und Bürger wenigstens im Bereich der Ausschließung sozialer Gruppen mitwirken dürfen.

Rechtsradikale Orientierungen stellen verlorene Kollektive scheinbar wieder zur Verfügung: Mit faktisch zunehmendem Ausschluß von der Partizipation wird auf nationale, ethnische und rassische Kollektive zurückgegriffen. Die Marginalisierten gewinnen wieder Mitgliedschaften, nationale und rassische Identitäten, und damit scheinbar psychische Sicherheit und Überlegenheit. Rechtsextreme Ideologien knüpfen an Deklassierungsgefühlen an, sie fallen damit vermutlich besonders bei den Verunsicherten und Benachteiligten des Ostens auf fruchtbaren Boden4. Da die Verarmung, die die Wanderungsbewegungen mit auslöst, nach Osten hin zunimmt, werden sich rechtsradikale Ausgrenzungen, Ablehnungen, Diskriminierungen und Aggressionen von den meisten geographischen Punkten aus weiter gegen »Ostler« richten.

Rückorientierungen

Die Rückorientierung und Besinnung auf tradierte, vormals möglicherweise abgelehnte Beziehungsstrukturen und Denkweisen, ihre zunehmend positivere Bewertung durch viele Bürgerinnen und Bürger des ehemaligen Ostblocks, zeigt sich in einer Reihe von Beispielen, wie der Unterstützung alter Seilschaften, politischen Reorganisationen oder auch nur im Wiederaufleben der Jugendweihe in den Neuen Ländern. Kollektive Rückbesinnung auf traditionelle Muster und Versuche zur Restauration alter Strukturen sind insbesondere dann wahrscheinlich, wenn Benachteiligung als kollektive Benachteiligung verstanden wird5 und wenn die Grenzen dieses von Benachteiligung betroffenen Kollektivs entlang der tradierten Staats- oder Ost-West-Grenzen gezogen werden. Ein solcher Prozeß scheint in vielen Bereichen des ehemaligen Ostblocks eingesetzt zu haben; er äußert sich auch in der in Deutschland geläufigen »Ossi-Wessi« Klassifikation.

Die Gefahr ist groß, daß Rekonstruktionen alter Systemgrenzen und Ideologien und die damit verbundene Ausgrenzung nach außen vom Westen aufgegriffen werden und in der expliziten Benennung und differenzierenden Behandlung dieser Randgruppen enden6. Wäre das die Konsequenz einer selbsteingeleiteten Abgrenzung, würde kollektive Diskriminierung damit auf Dauer zementiert. Die so verstärkten Deklassierungen ließen sich dann auch noch leichter als bisher mit nationalen, ethnischen oder rassischen Abgrenzungsstrategien verbinden und würden schließlich zu einer weiteren Hinwendung zu rechtsextremen Orientierungsmustern führen. Auf der anderen Seite könnten Rückbesinnungen und Rekonstruktionen aber auch ein solches Gewicht erlangen, daß sie politische Gestaltungskraft gewinnen und den Ausgang für Veränderungen darstellen7. Damit eröffnete sich vielleicht eine Möglichkeit, zumindest partiell eine demokratische Teilhabe aller Betroffenen an der politischen Gestaltung des propagierten gemeinsamen Ost-West-Systems zu gewährleisten.

Perspektiven: Partizipation und Universalität

Welche Zukunftsperspektiven ergeben sich aus dem beschriebenen Szenario? Wie sind zunehmende physische und psychische Benachteiligungen abzuwenden? Die Antwort ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren, von denen die meisten jenseits sozialpsychologischer Antworten liegen. Notwendige Voraussetzung für den Abbau von Benachteiligung ist natürlich der Ausgleich des ökonomischen Ost-West-Gefälles. Ökonomischer Ausgleich allein ist jedoch nicht hinreichend. Es ist nicht zu erwarten, daß lediglich die geographisch gleichmäßigere Verteilung der ökonomischen Ressourcen innerhalb des Gesamtsystems Anfälligkeiten für extremistische Ideologien austrocknet. Orientierungs- und Identitätsverluste werden durch ökonomische Verbesserungen der individuellen Lebenssituation allein kaum kompensiert; eine zunehmende ausschließliche Orientierung auf die Verbesserung der individuellen ökonomischen Lebenslage könnte sogar eine Zunahme von Orientierungsverlusten nach sich ziehen (Beck, 1986).

Eine Perspektive, wonach allein »der Markt« mit gespenstischer Eigendynamik die einzelnen Interessen zu einem Gesamtinteresse und zum »Glück aller« zusammenschmiedet (zu dieser Form des Sozialutilitarismus vgl. Rich, 1985; Nutzinger, 1986), ist nicht haltbar. Bei der Entwicklung einer gemeinsamen Perspektive ist auch solchen Gütern Rechnung zu tragen, die über die engere ökonomische Organisation des Lebens hinausgehen. Dies betrifft vor allem die Möglichkeit zur politischen Partizipation. Politische Partizipation zählt zu den ideellen Eckpfeilern politischer Kultur; sie umfaßt sowohl die Möglichkeit, sich als Bürger durch öffentliche Diskussionen an der Entscheidung gesellschaftlicher Bewegungsrichtungen zu beteiligen als auch die Mitwirkung von Verbänden, Gewerkschaften, Kirchen und vergleichbaren Gruppierungen unterhalb der makropolitischen Ebene.

Organisationen, Gruppen und Verbände sind Ausdruck einer pluralistischen Demokratie und Zeichen einer Akzeptanz von Multiperspektivität, auch wenn diese in den Staaten des ehemaligen Ostblocks z.T. in Mißkredit geraten sind.

Eine Rückorientierung auf wie immer definierte nationale Einheiten würde erhebliche kontraproduktive Anteile mit sich bringen, da eine solche Rückorientierung Affinitäten zu nationalistischen bis hin zu rechtsextremistischen Ideologien mit den darin enthaltenen Ausgrenzungsbestrebungen impliziert. Das bedeutet aber nicht, daß historisch gewachsene kulturelle Einheiten, Regionen, nicht wieder an Bedeutung gewinnen könnten und damit identitätsstiftend würden (Lilli, 1984). Notwendige Voraussetzung wäre aber, daß eine Besinnung auf Regionalität immer auch die gleichzeitige Orientierung auf das gemeinsame Ziel der Schaffung eines menschenwürdigen Lebens für alle beinhaltet8, innerhalb Europas und darüber hinaus.

Wer solche Formen politischer Diversität und Partizipation bejaht, kann den beteiligten Bürgern natürlich nicht vorschreiben, welche inhaltlichen Maßgaben sie in die zukünftige gemeinsame Geschichte einzubringen haben. Für die Bürger des Ostens gilt ebenso wie für die des Westens ausschließlich eine Minimalforderung: der Verzicht auf die gewaltsame Durchsetzung von Gruppeninteressen, die Akzeptanz des Pluralismus und der öffentlichen Diskussion. Die Antworten auf Fragen danach, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, welche politischen, sozialen und ökologischen Verhältnisse wir an die zukünftigen Gesellschaften weitergeben wollen usw., sind weitgehend offen. Man wird allerdings erwarten müssen, daß sich die Positionen nicht mehr wie bislang nach westlichen versus östlichen Einstellungen kategorisieren lassen. Wenn das gelänge, würden Schritte in Richtung auf eine Integration gegangen, eine Integration, die eben nicht unilaterale Assimilation meint, sondern eine Entwicklung in eine zivile Gesamtgesellschaft (Walzer, 1987, 1992a, 1992b), einer Gesellschaft mit offenen und konfliktorientierten Debatten über mögliche gemeinsame Ziele.

Der zu Zeiten der Existenz des Ostblocks staatlich geltend gemachte klassenorientierte und verengte Internationalismus könnte etwa in modifizierter Form zu einem wichtigen Impuls einer gemeinsamen politischen Kultur werden, enthielt er doch die auch in Teilen des Westens reklamierte Menschenrechtsperspektive einer universalen Verantwortung, die als notwendige Korrektur von Selbstinteresse fungieren sollte (vgl. Huber & Tödt, 1988). In Zeiten des Systemvergleichs stritt man darum, ob die individuellen oder die sozialen Menschenrechte den Kern ausmachten. Teilweise wurden diese in unterschiedlichen Menschenrechtspakten (Heidelmeyer, 1992) verabschiedet und dienten der Legitimation des jeweiligen Systems, das sich so die moralische Überlegenheit auf die Fahnen schrieb (Maaser, 1992). Der Zusammenbruch der politischen Blöcke bietet jetzt die Chance einer ideologischen Entlastung.

Literatur

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Altemeyer, B. (1981). Right-wing authoritarianism. Manitoba.

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Anmerkungen

1) French & Raven (1959) unterscheiden verschiedene Grundlagen für die Machtausübung (vgl. auch Raven, 1992). Ein wichtiges Merkmal von Machtausübung auf der Basis von Bedrohung und Bestrafung ist, daß die Kontrollierten zur Machterhaltung ständig zu überwachen sind. Im Gegensatz dazu ist Machtausübung auf der Basis von Identifikation mit dem Machtapparat von Überwachung relativ unabhängig. Die Beeinflußten folgten auch dann, wenn keine unmittelbare Kontrolle und die damit implizierten Sanktionsmechanismen gewährleistet sind. Zurück

2) Kollektive wie staatliche Systeme oder Blöcke können als Gruppen beschrieben werden (Turner et-al., 1987; Wagner & Zick, 1989). Potentielle Gruppenmitglieder identifizieren sich um so stärker mit ihrer Gruppe, je stärker sie diese durch äußere Feinde bedroht sehen (Wagner & Ward, 1993). Gleichzeitig grenzen sie sich zunehmend von fremden Gruppen, Staaten, Blöcken ab (Sherif & Sherif, 1969; Tajfel & Turner, 1986). Zurück

3) Dieselbe Argumentation gilt natürlich auch für die westlichen Staaten. Zurück

4) Die Verbreitung rechtsradikaler Überzeugungen ist natürlich nicht allein ein Problem des Ostens. Spielen bei ihrer Genese im Osten vermutlich reale ökonomische Verlusterfahrungen eine wichtige Rolle, stehen im Westen eher Befürchtungen von Wohlstandsverlusten im Vordergrund. Zurück

5) Die Theorie Relativer Deprivation unterscheidet zwischen individueller und kollektiver Relativer Deprivation (Runciman, 1966; Gurr, 1970; zur Übersicht vgl. auch Taylor & Moghaddam, 1987). Die individuelle Deprivation, d.h. die Empfindung individueller Benachteiligung, ist mit psychischen und psychosomatischen Schwierigkeiten verbunden. Die kollektive Deprivation, die Empfindung von Benachteiligung für Kollektive, zu denen ein Gefühl der Zugehörigkeit besteht, ist dagegen mit politischen Aktivitäten verbunden (z.B. Walker & Mann, 1987). Zurück

6) Der Labeling Approach (z.B. Stryker, 1981) beschreibt, wie als Abweichler Klassifizierte erst infolge einer solchen Klassifikation zu Abweichlern werden. Zurück

7) Moscovicis (1979) Theorie zum Minderheiteneinfluß liefert wichtige Hinweise für die Durchsetzung solcher Strategien. Zurück

8) Die Einführung gemeinsamer übergeordneter Ziele hat sich als erfolgreiche Strategie zur Reduktion von Intergruppenkonflikten erwiesen (Sherif & Sherif, 1969; Hewstone & Brown, 1986). Der britische Sozialpsychologe Rupert Brown hat darüber hinaus experimentell dokumentiert, daß die Verfolgung eines gemeinsamen übergeordneten Ziels durch zwei oder mehr Gruppen besonders dann zur Konfliktreduktion beiträgt, wenn die originären Beiträge der beteiligten Gruppen identifizierbar bleiben (vgl. z.B. Brown & Wade, 1987). Auf diese Weise wird eine Gefährdung der sozialen Identität, die über die Gruppenmitgliedschaft definiert sind, durch die Auflösung der Gruppengrenzen vermieden. Wir halten eine solche Strategie zwar im Grundsatz für sinnvoll, sie ist in der Realität aber problematisch: Zu lange hat ein Südafrikanisches Apartheidsystem die Ausgrenzung von Schwarzen genauso begründet. Zurück

Andreas Zick, Universität Gesamhochschule Wuppertal, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften; Ulrich Wagner, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Psychologie; Wolfgang Maser, Ruhr-Universität Bochum, Evangelisch-Theologische Fakultät

Friedenswissenschaft und Kalter Krieg

Friedenswissenschaft und Kalter Krieg

Politische Impulse und wissenschaftliche Erträge

von Corinna Hauswedell

Welche Fragen stellen und welche »Lehren« ziehen FriedensforscherInnen und in der Friedensthematik engagierte WissenschaftlerInnen anderer Disziplinen nach dem Wegfall eines ihrer zentralen Gegenstände, und wie reflektieren sie rückblickend ihre Ansätze und Methoden in der Bearbeitung desselben? Die Antworten werden keine Aussagen über die Friedensforschung erlauben, erhellen aber mindestens Trends und Kontroversen in einer – nach 25 Jahren erneut – um ihre Existenz wie um ihr kritisches Potential besorgten Wissenschaftsrichtung.

Die Diskussion über eine Neubewertung des Kalten Krieges und seiner einzelnen Dimensionen, ist im Gange. Manche Fragen, besonders die, welche Rolle die konfrontativen bzw. die kooperativen Aspekte für die insgesamt unerwartete Transformation der bipolaren Weltkonstellation von 1949-1989 gespielt haben, können erst nach Öffnung der Archive tiefergehend beantwortet werden. Für den vorliegenden Beitrag wurde 1992 eine Befragung unter vierzig FriedenswissenschaftlerInnen durchgeführt, die sich meist seit vielen Jahren mit Aspekten des Themas befaßt haben1.

Friedensforschung zwischen »oben« und »unten«

„… Friedensforschung … ist erst im Atomzeitalter entstanden. Erst als die Möglichkeiten der Vernichtung so ungeheure Dimensionen angenommen hatten, daß keine Verblendung mehr über die Irrationalität von Krieg hinwegtäuschen konnte, begannen kleine Gruppen von Wissenschaftlern…“ 2. Vielleicht liegt bereits im zeitlichen Abstand zu der Gründungsursache, die Georg Picht in seiner bekannten Taufansprache „Was heißt Friedensforschung“ 1971 nannte, ein Problem für die Friedensforschung, das sie bis heute begleitet: Der Widerspruch zwischen als notwendig erkannter Fundamentalkritik an Militär und Krieg einerseits und pragmatischer Einflußnahme auf eine weiterhin konfliktträchtige Wirklichkeit andererseits. Als am Ende der sechziger Jahre in Deutschland Friedensforschung institutionalisiert wurde, war der Ost-West-Konflikt zur globalen atomaren Bedrohung eskaliert. In den USA hatten zwei Jahrzehnte Kalter Krieg neben einer militärkritischen auch eine starke den Status quo begleitende arms-control-Forschung hervorgebracht, an die es Anschluß zu gewinnen galt. Daß die deutsche Friedensforschung als „Kopfgeburt“ begann, bei der die „Regierung als Mäzen“ (E.-O. Czempiel) auftrat, und der „Übervater Heinemann“ (U. Albrecht) das Geleit übernahm, schwächte nach Meinung mancher FriedensforscherInnen von Beginn an den moralischen Impuls einer neuen auch auf Alternativen in der Politik gerichteten Wissenschaftsrichtung3. Gleichwohl bedeuteten frühe Beiträge wie die von Dieter Senghaas zum System der Abschreckung oder von Ekkehart Krippendorff zum Verhältnis von Militär und Staat eine kritische, auch Utopiebildung einschließende Grundlegung der Friedensforschung. Mit der Diskussion um das „System organisierter Friedlosigkeit“ 4 wurde in der Disziplin der Internationalen Beziehungen die Infragestellung der Rüstungsdynamik eingeleitet (E. Jahn)5. Zahlreiche Untersuchungen zum militär-industriellen Komplex, die Neugründung der Kriegsursachenforschung6, aber auch Johan Galtungs Einführung der Kategorie der »strukturellen Gewalt«7 wiesen über den Ost-West-Konflikt hinaus, indem innergesellschaftliche Herrschaftsstrukturen und Dominanzverhältnisse, aber auch der Nord-Süd-Konflikt thematisiert wurden.

Im Verlauf der siebziger Jahre etablierten sich, gefördert von der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK), die beiden Forschungsschwerpunkte Ost-West-Konflikt und Nord-Süd-Konflikt. Manche FriedensforscherInnen sehen mehr innovative Impulse in der Nord-Süd-Konflikt-Forschung, vor allem bedingt durch Galtungs Thesen und die Dependenzia-Theorien der Dritte-Welt-Forschung (z.B. L. Brock). Im Ost-West-Konflikt-Schwerpunkt bildeten sich mit der Kritik der Rüstungsdynamik (vor allem in der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, HSFK) und der Konzeptionierung der Entspannungspolitik in Europa (vor allem im Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, IFSH) zwei Themenfelder heraus, in denen zwar mit den Denkmustern und Strategien des Kalten Krieges gebrochen, aber die Ost-West-Blockkonstellation nicht prinzipiell in Frage gestellt wurde (C. Rix). Konfliktregulierung, nicht Konfliktlösung (W. Link), wurde unbewußt oder gewollt eine Maxime friedenswissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Kalten Krieg. Der Anspruch vieler Friedensforscher, „Veränderungswissenschaft“ (E. Jahn) zu betreiben, wurde so sehr bald pragmatisch verkürzt. Zahlreiche produktive Einzelstudien zu den verschiedenen Aspekten der waffentechnischen Entwicklung, des Rüstungswettlaufs und seiner Begrenzung entstanden ebenso wie eine umfangreiche Begleitforschung zur Entwicklung einer Sicherheits- und Friedensstruktur in Europa8.

Schwerpunktbildung und Themenwahl waren in starkem Maße bedingt durch die international einzigartige staatliche Anbindung der deutschen Friedensforschung und ihre Prägung durch die sozialliberale Regierungspolitik9. Das doppelte Dilemma dieser besonderen Politiknähe, angreifbar zu sein sowohl von nichtstaatlichen, auf größere Unabhängigkeit drängenden Kritikern als auch aus den Reihen der konservativen Opposition, wurde zu einem Merkmal deutscher Ost-West-Konfliktforschung. Ein wirkungsgeschichtlich interessanter Blick in die Pressearchive der Friedensforschungsinstitute zeigt, daß den Medien der seit 1973 vorwiegend zwischen SPD und CDU geführte Streit um die Inhalte und Förderungspraxis der DGFK häufig eine umfangreichere Berichterstattung wert war als die Themen der Friedensforschung.10

Zu einfach erscheint es m.E. jedoch, die Friedensforschung entweder nur noch als „Legitimationsdisziplin“ wahrzunehmen oder ihren zunehmenden „Alibicharakter“ zu beklagen11 greift m.E. zu kurz. Einerseits konnten, wie noch zu zeigen sein wird, gerade wegen ihrer Politiknähe manche Forschungsbeiträge zumindest mittelbaren Einfluß nehmen auf den friedenserhaltenden Aspekt der Status-Quo-Politik. Die DGFK-geförderten Institutsprofile, das IFSH explizit politikberatend (nicht erst seit der Übernahme durch den SPD-Politiker Egon Bahr 1985) und auf europäische Sicherheitspolitik konzentriert, die HSFK stärker auf den akademischen Backround der Frankfurter Universität und »Schule« bauend und thematisch breiter angelegt, halfen, eine kleine kenntnisreiche Gruppe von SpezialistInnen und ein entsprechendes Know-How zu entwickeln. So resümieren heute selbst Kritiker in der Friedensforschungsgemeinde: „In den 70er Jahren hat die Friedensforschung dazu beigetragen, die auf geradezu skandalöse Weise parlamentarisch nicht hinterfragte Monopolexpertise der professionellen Militärs zu durchbrechen.“ (P. Lock). Beiträge zu einer friedenswissenschaftlichen Professionalisierung leisteten in einer gewissen Abgrenzung zu den Ost-West-Mainstream-Themen auch andere Einrichtungen; so die kirchlich getragene Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), die schon früh den vor allem politikwissenschaftlichen Ansatz der DGFK als zu eng kritisierte (F. Solms, C. Eisenbart). Auch in dem von Carl Friedrich von Weizsäcker geleiteten Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt entstanden zahlreiche Arbeiten, die über die aktuelle Politik hinauswiesen12. Von der Berghof-Stiftung gefördert wurden in den 70er Jahren bereits Untersuchungen zur grundlegenden Bewertung von Rüstung, Militär und Gesellschaft in Ost und West; zudem entstand hier (wie auch im Rahmen der HSFK) ein eigener Zweig „Friedenspädagogik und Konfliktbearbeitung“, der Friedenserziehung sowie die Vermittlung friedenswissenschaftlicher Ergebnisse für eine breitere Öffentlichkeit neu akzentuierte.

Bei aller Vielfalt der Ansätze und trotz der Leistung der Friedensforschung, „den Paradigmenwechsel vom Sieg im Ost-West-Konflikt zur friedlichen Konfliktbearbeitung“ (E.-O. Czempiel) mitvollzogen zu haben, war um 1980 der gesellschaftverändernde Anspruch der Frühzeit deutlich zurückgegangen. Utopieverlust, pragmatischer Forschungsalltag und institutionelle Segmentierung wurden zwar im Rahmen der Jahrestagungen der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) immer wieder kritisch reflektiert; aber es gelang beispielsweise nicht, jenseits der geförderten Institutsstrukturen in größerem Umfang an den Hochschulen in Forschung und Lehre Fuß zu fassen. Die wenigen Lehrstühle in Friedensforschung entstanden fast alle in der Politikwissenschaft im Bereich der Internationalen Beziehungen. Zwar mochten strukturelle Hemmnisse im Wissenschaftsbetrieb der Bundesrepublik interdisziplinäre Ansätze besonders benachteiligen – in den USA gab es eine andere Entwicklungstendenz13 –, aber auch die individuellen Möglichkeiten von WissenschaftlerInnen für eine Integration friedenswissenschaftlicher Themen im jeweiligen Fach wurden nicht immer genutzt.

Die 80er Jahre

Gegenüber den erkennbaren Anstößen in den 70er Jahren „spielte die Friedensforschung in 80er Jahren keine innovative Rolle, sie hechelte der Poltik hinterher“ (E. Jahn). Die frühen 80er Jahre waren durch eine Schwächung der institutionellen Friedensforschung bei gleichzeitiger politischer Zuspitzung der Ost-West-Konfrontation und einer immensen Belebung der öffentlichen friedenspolitischen Diskussion gekennzeichnet. Die damaligen Kontroversen über die Situationsbeurteilung (Abschied von der Entspannung, zweiter Kalter Krieg) widerspiegelten die (teilweise bis heute anhaltenden) Unsicherheiten der Friedensforschung über den Stellenwert von Konfrontation und Kooperation im Ost-West-Konflikt (C. Rix). Daß in der Opposition gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen erneut die Kritik der nuklearen Abschreckung Pate stand, und dies schließlich den sicherheitspolitischen Konsens in der Bundesrepublik so nachhaltig erschütterte, hielt die Friedensforschung gegenüber der vehement agierenden Friedensbewegung eher auf Distanz. Man wollte das Rad nicht noch einmal neu erfinden (B. Kubbig, G. Krell). Eine strikte Trennung zwischen akademischer Forschung und Bewegung hielt man auch der Wissenschaftlichkeit der Ergebnisse wegen für unerläßlich (E.-O. Czempiel). Friedenswissenschaftliche Arbeiten wurden zwar zu einer „wichtigen Ressource für die Medien“ (U. Albrecht) und prägten so den „elaborierten öffentlichen Diskurs der 80er Jahre“ mit (F. Solms); und punktuell stellten Friedensforscher ihr Spezialwissen auch in Aktionen der Friedensbewegung zur Verfügung. Explizit war »Handlungsorientierung« die Leitlinie des 1982 von Alfred Mechtersheimer gegründeten Forschungsinstitut für Friedenspolitik in Starnberg. Die Krise der vor allem »nach oben« orientierten Friedensforschung wurde dagegen in der Schließung der DGFK (1983) durch die neue konservative Bundesregierung manifest: eine politische Gründung wurde – unter veränderten politischen Vorzeichen – wieder aufgehoben (K.-H. Koppe).

Fast zur gleichen Zeit entstanden aus der Friedensbewegung heraus an akademischen Disziplinen orientierte Wissenschaftler-Initiativen, vorwiegend aus den nicht sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen: die Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW), die Naturwissenschaftler-Initiative Verantwortung für den Frieden, das Forum InformatikerInnen für gesellschaftliche Verantwortung (FIFF), die Initiativen der PsychologInnen, PädagogInnen und KuturwissenschaftlerInnen. Sie verstanden sich zwar meist (zumindest zunächst) nicht als Teil der Friedensforschung (E. Richter, H.-P. Dürr, A. Schaper, P. Starlinger), entwickelten aber neben ihrem unmittelbaren friedenspolitischen Engagement eine umfangreiche friedenswissenschaftliche Tätigkeit mit spezifischen Merkmalen. Dazu zählten die Einrichtung multidisziplinärer Ringvorlesungen an den Hochschulen, die Entwürfe von Seminarprogrammen für den Lehrbetrieb der jeweiligen Fächer, die Implementierung fachübergreifender Forschungsprojekte. Während zum Zeitpunkt der Gründung dieser Initiativen in der etablierten Friedensforschung die gleichen Berührungsvorbehalte wie gegenüber der Friedensbewegung vorherrschten, überwiegt in Rückblicken eine positive Würdigung dieser Initiativen (z.B. E. Bahr, D. Lutz). Anerkannt werden vor allem ihre aufklärerische Wirkung in der Öffentlichkeit, aber auch fachliche Innovationen u.a. in der Kriegsfolgenanalyse, Feindbildperzeption, Rüstungstechnikkritik und Konversion. Neben den aktuellen politischen Gründen und moralischen Motiven, die zahlreiche Wissenschaftler zu dieser neuen kritischen Befassung mit Rüstung und Krieg veranlaßten, waren es m.E zu Beginn der 80er Jahre Themenkomplexe wie die ökologischen und technologischen Implikationen (nicht nur) der Rüstungsdynamik, die einen disziplinären Zuwachs über das vorwiegend sozialwissenschaftliche Know-How der Friedensforschung hinaus auf den Plan riefen.

Die Ausarbeitung der Gemeinsamen Sicherheit, ein Auftrag aus der Politik an die Friedensforschung (E. Bahr), aber auch Arbeiten an einzelnen Sicherheitskonzepten wie der Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit (H.-P. Dürr) wiesen auf Alternativen zur Raketenstationierung hin, ohne freilich – insofern eine Parallele zu den 70er Jahren – die Auflösung der Blöcke zu antizipieren. Während dies Teile der Friedensbewegung nach 1983 forderten, sahen manche FriedensforscherInnen darin eine „Gefährdung des Status quo“ der relativen Sicherheit (C. Rix). Andere Anstöße aus der Friedensbewegung werden allerdings von vielen FriedenswissenschaftlerInnen, vor allem der jüngeren Generation, nicht bestritten: Die verstärkte Aufnahme sozialpsychologischer Fragen (H.-M. Birckenbach), Feindbildforschung, die zivillogische Kritik am Militär (W. Vogt), die Betonung der Analyse der gesellschaftlichen neben den zwischenstaatlichen Konflikten (C. Rix). Hierzu gehört auch die Begründung feministischer Forschungsansätze in der Friedensforschung (E. Senghaas-Knobloch, H.-M. Birckenbach)14. Eine Auffächerung der Fragestellungen, eine beginnende Kooperation zwischen institutioneller Friedensforschung und den WissenschaftlerInnen-Initiativen15 begleiteten einen Selbstverständigungsprozeß in der Friedensforschung am Ende der 80er Jahre16. Rückblickend stellen manche FriedensforscherInnen die Frage, ob nicht eine stärkere Zusammenarbeit mit den nichtstaatlichen Akteuren der sozialen und Bürgerbewegungen in West und Ost den FriedensforscherInnen eine größere Nähe zu den politischen Umbrüchen am Ende des Kalten Krieges ermöglicht hätte (u.a. E. Krippendorff, U. Albrecht).

Politische Denkansätze, Alternativkonzepte, Bewußtseinswandel

In keinem Punkt stimmten die GesprächspartnerInnen der Befragung so weitgehend überein wie in der Skepsis gegenüber dem generellen politischen Einfluß der Friedensforschung auf die Politik. Mittelbare Einflüsse, Beiträge zu einer politischen Klimaveränderung mit Rückwirkungen sowohl im Handeln der Entscheidungsträger als auch im öffentlichen Bewußtsein sind unumstritten. Aber selbst da, wo FriedensforscherInnen mit der erklärten Absicht der Einflußnahme den Weg der Politikberatung erfolgreich beschritten – im internationalen Rahmen ist hier z.B. die Gutachtertätigkeit von WissenschaftlerInnen des Stockholm International Peace Research Institutes (SIPRI) für Studien der UNO zu nennen (L. Brock, H. Wulf) –, sind der Wirkungsanalyse unter anderem aus Opportunitätsgründen der Verschwiegenheit Grenzen gesetzt.

Selbstkritisch wurde von manchen Friedensforschern ein zu geringes Engagement für die öffentliche Propagierung der eigenen Ergebnisse anläßlich konkreter politischer Ereignisse bilanziert; so stellte Karlheinz Koppe im Interview die Zurückhaltung der AFK in der Arbeit mit öffentlichen Erklärungen, Memoranden etc. den umfangreichen Kampagnen der Initiativen der NaturwissenschaftlerInnen und der IPPNW gegenüber17. Die politische Wirkung des seit 1987 einmal im Jahr gemeinsam von den drei Instituten HSFK, FEST, IFSH herausgegebenen Friedensgutachtens liegt weniger in seiner politikberatenden als vor allem in seiner Funktion als Medienressource.

Die folgenden Skizzen politischer Impulse der Friedensforschung im Kalten Krieg spiegeln die hier aufgeführten Probleme der Wirkungsanalyse. Die Beispiele sind zu einem Teil der institutionellen Friedensforschung, zu einem anderen den Wissenschaftler-Initiativen zuzurechnen.

Die Konzeption der »Gemeinsamen Sicherheit«

Das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit, das seinen ersten politischen Ausdruck im Palme-Bericht 1982 fand, ist vielleicht das in seiner Entstehungsgeschichte typischste Produkt einer »von oben« induzierten Friedensforschung. Egon Bahr, verwies auf den politischen Impuls von Olof Palme 1980, der ihn, Bahr, als Politiker und Noch-Nicht-Friedensforscher aufforderte, „über die Gesetze der Sicherheit im Atomzeitalter neu nachzudenken“. Das IFSH orientierte seinen Forschungsschwerpunkt in den 80er Jahren vorrangig an diesem Thema. Viele KollegInnen würdigen zwar den Beitrag zur »Klimaveränderung« und die „Umdefinition von Sicherheit auf Frieden“ (E. Jahn), die Kritik richtet sich aber zugleich auf das Befangenbleiben in der militärischen Dimension des Konflikts, bemängelte, daß die Gemeinsame Sicherheit keine über die Blockkonstellation hinausweisende friedenspolitische Strategie aufwies18. Das erste politische Produkt, die Arbeit der Palme-Kommission, bezeichnet Olof Palme im Vorwort nichtsdestoweniger als „einzigartig“, weil erstmals Vertreter aus Ost, West, Nord und Süd zu einer Gefahrenanalyse zusammenkamen.

Im deutsch-deutschen Dialog inspirierte das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit ab etwa 1986 die Einrichtung einer staatlich geförderten Friedensforschung in der DDR, die sich weitgehend auf dieses Thema konzentrierte19. Aber auch im politischen Bereich bei der Erarbeitung des Papiers von SPD und SED für eine gemeinsame Streitkultur von 1986/87 ist die gedankliche Patenschaft der Gemeinsamen Sicherheit – bis hin zur Namensgebung – unverkennbar. Daß der letzte Außenminister der DDR, Markus Meckel, 1990 den Friedensforscher Ulrich Albrecht zum Leiter seines Planungsstabes machte, sagt indirekt auch etwas über das Wirken dieser Konzeption.

Egon Bahr berichtete, eine Begegnung mit Michail Gorbatschow im Frühjahr 1986 habe ihn den Eindruck gewinnen lassen, daß wohl auf dem Wege über das Mitglied der Palme-Kommission Georgij Arbatov der Kreml-Chef näher mit der Gemeinsamen Sicherheit bekannt wurde und dies dann zu seiner eigenen Sache gemacht habe.

Das »Neue Denken«

Dem Einfluß der Friedenswissenschaft auf das »Neue Denken« in der Sowjetunion nachzugehen, erscheint besonders interessant, da hier die Weichen für die schließliche Beendigung der Ost-West-Konfrontation gestellt wurden. Sowohl aus den Reihen der etablierten Friedensforschung (u.a. E. Bahr, U. Albrecht) als auch seitens einzelner Wissenschaftler aus den Initiativen (H.-P. Dürr, E. Richter) wurden in den Interviews Anstöße und Ebenen der Begegnung identifiziert, die auch von sowjetischen Zeitzeugen in ähnlicher Weise interpretiert werden. Hans-Peter Dürr berichtete über seine Mitarbeit in einer sowjetischen Physikergruppe unter Leitung von Jewgenij Welichow, dem Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften in Moskau, in der seit 1985, auch gestützt durch amerikanische Wissenschaftler, das SDI-Konzept kritisiert und die Problematik Gorbatschow nahegebracht wurde. Ein wichtiger Impuls für die Verlängerung des atomaren Teststops durch Gorbatschow sei vom 6.Weltkongreß der IPPNW im Juni 1986 ausgegangen20. Valentin Falin sagte für die Zeit ab etwa 1982, „in der Sowjetunion waren die Steine weicher“, und meint den Einfluß von Friedensbewegung und Friedenswissenschaft21. Gorbatschow führt selbst als eine für diese Erfahrung wichtige Quelle das internationale Moskauer Forum mit dem Titel „Für eine Welt ohne Kernwaffen – Für das Überleben der Menschheit“ im Februar 1987 an: „..(dort)…hatte ich Gelegenheit, Stimmung, Gedanken und Ideen einer internationalen intellektuellen Elite kennenzulernen… Ich habe über die Ergebnisse des Kongresses mit meinen Kollegen vom Politbüro gesprochen, und wir haben beschlossen, einen wichtigen Kompromiß zu machen: Das Paket von Reykjavik aufzuschnüren und das Problem der Mittelstreckenraketen in Europa von anderen Problemen zu trennen“ 22. Welche Rolle diese in der internationalen Politik ungewöhnliche Bereitschaft Gorbatschows, Stimmen »von unten«, und zwar Antworten, nicht nur Fragen, wahrzunehmen (E. Richter), für die Beendigung der Konfrontation gespielt hat, wäre im einzelnen, auch nach Öffnung der Archive zu klären.

Alternative sicherheitspolitische Konzepte

Auf einer anderen Ebene liegen friedenswissenschaftliche Impulse für einzelne alternative politische Konzepte, vor allem im Bereich der Abrüstung bzw. Rüstungskontrolle, deren positive Bewertung eben wegen des damit verbundenen Pragmatismus auch umstritten ist.

Immer wieder genannt wurde in der Befragung die Internationale Pugwash-Bewegung, der es u.a. wegen der Beteiligung amerikanischer und sowjetischer Naturwissenschaftler gelang, im Klima des Kalten Krieges auf informellen Wegen Einfluß auf einige der Rüstungskontrollabkommen der 60er und 70er Jahre zu nehmen. Gedankliche Vorarbeiten zum Atomwaffensperrvertrag kamen z.B. schon in den späten 50er Jahren aus den Reihen von Pugwash (K.-H. Koppe). Die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, bei der es traditionell eine tendenzielle Kooperation der Regierungen der „Großen“ gab (C. Eisenbart), ist schon früh von friedenswissenschaftlichen ExpertInnen begleitet worden23. Und so sehr die Erörterung dieses Themas immer durch die Hegemoniepolitik der beiden Hauptkontrahenten im Ost-West-Konflikt geprägt war, wies sie durch die Nord-Süd-Dimension sowie die technologischen und die ökologischen Aspekte immer darüber hinaus (C. Eisenbart).

Ein Beispiel für das Zusammenwirken von Friedensforschern und friedensbewegten Naturwissenschaftlern ist die Arbeit an Konzepten der defensiven Verteidigung, die dann zu der politikfähigen Ausformung der sogenannten Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit (STRUNA) führte24. Dürr erinnerte an die Zusammenarbeit an diesem Thema mit Albrecht von Müller und Horst Afheldt am Weizsäcker-Institut in Starnberg im Rahmen einer Arbeitsgruppe der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) seit 1982Fn25. Früh und „mit großer Resonanz“ seien Ergebnisse an ausgewählte Politiker herangetragen worden; der Versuch, das Thema im Rahmen des ersten Naturwissenschaftler-Kongresses 1983 im Mainz zu plazieren, habe dort eine ähnliche Abwehr provoziert – „Keine Umwege über Umrüstung“ – wie bei manchen FriedensforscherInnen. Hans-Peter Dürr erläuterte sein Verständnis dieser Arbeit wie folgt: Die damalige Diskussion zwischen Wissenschaftlern und Militärs der westlichen und östlichen Seite über Streitkräftestärken habe überraschend weitreichend die gegenseitigen Bedrohungswahrnehmungen und ihre Hintergründe offengelegt. Vieles spräche dafür, wenn man der Rüstungsdynamik und möglichen Gegenstrategien auf die Spur kommen wolle, die beiden Ebenen, das »Erbsenzählen« einer schrittweisen Reduktion von Waffenpotentialen mit einer weitergehenden Bewußtseinsveränderung in Richtung vollständiger Abrüstung nicht für unvereinbar zu halten.

Einige Grundgedanken der STRUNA haben in Form der Vorsorge vor Überraschungsangriffen Eingang gefunden in das Mandat und die Verträge der Wiener VKSE-Verhandlungen. Dies gilt auch für Ergebnisse der seit Mitte der 80er Jahre an der Bochumer und Hamburger Universität vor allem von Physikern und Völkerrechtlern betriebenen interdisziplinären Verifikationsforschung26.

Mit Sicherheit gibt es mehr Beispiele dafür, daß Friedenswissenschaft besonders auch in Abrüstungsverhandlungen nicht wirksam wurde. Forderungen nach qualitativer Rüstungskontrolle oder darüberhinausgehende Entmilitarisierungskonzepte27 hatten auch am Ende des Kalten Krieges kaum eine Chance politischer Umsetzung. Daß man aber seit 1989 auch in der Politik auf ein friedenswissenschaftliches Potential neben den genannten Gebieten z.B. in der Konversionsforschung zurückgreifen kann, ist ein Ergebnis der jüngeren Kooperation gesellschaftswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Ansätze, die bewußt versuchen, konkrete Lösungsansätze mit längerfristigen Strategien zu verbinden28.

Wissenschaftliche Erträge – Exemplarisch

Die Grenzen zwischen politischen Impulsen und im engeren Sinne wissenschaftlichen Erträgen der Friedensforschung sind, wie angedeutet, fließend.

Auf die Impulse, die die Friedensforschung zum Ost-West-Konflikt für die Theoriebildung in den Internationalen Beziehungen gegeben hat kann hier nur pauschal verwiesen werden29.

Die folgenden Ausführungen sollen sich auf die theoretische Befassung mit dem Ost-West-Konflikt innerhalb der Friedensforschung beschränken, sowie eine knappe Übersicht neuerer multi- und interdiziplinärer friedenswissenschaftlicher Ansätze in den 80er Jahren geben.

Die Reflexionen über theoretische Modelle des Ost-West-Konflikts an dessen Ende haben zu einer Annäherung einiger früher deutlicher unterschiedener Positionen geführt30. Bereits in den 80er Jahren hat sich ein Nebeneinander verschiedener Erklärungsansätze zumindest bezüglich der „Schichten“ (E.-O. Czempiel) des Konfliktes als Sicherheits-, Hegemonial-, Macht- und Ideologiekonflikt angebahnt. Die AFK-Tagung von 1986 „Ost-West-Konflikt – Wissen wir wovon wir sprechen?“ hatte mit den beiden Hauptreferenten Imanuel Geiss und Renate Damus bewußt zwei WissenschaftlerInnen eingeladen, die nicht aus dem engeren Umfeld der Friedensforschung kamen. Die unkonventionellen Thesen, insbesondere die Widerlegung der „Legende von der Systemkonkurrenz“ durch den industriegesellschaftskritischen Ansatz von Renate Damus, brachten also eine gewisse Innovation31.

Eine Fortsetzung der Diskussion über das Autismus-Modell, das noch heute die meisten FriedensforscherInnen für den zentralen Theoriebeitrag halten, fand jedoch immer weniger statt.

So ist an die Friedensforschung selbst die Frage zu stellen: War nicht der Übergang zu einer vor allem die Konfliktregulierung, nicht die Konfliktüberwindung beinhaltende Theoriebildung schon in der Autismustheorie angelegt? „Die Interpretation des Abschreckungssystems als Produzent und Exponent autistischer Feindschaft bleibt im wesentlichen zunächst auf einer deskriptiven Ebene“ 32. Solche Formulierungen von Dieter Senghaas riefen eine Kritik hervor, die heute, wo es wieder um die Zukunft der Abschreckung geht, wieder Berechtigung hat: „Senghaas hinterfragt an keiner Stelle ernsthaft die gesellschaftlichen Bedingungen der Abschreckungspraxis“ 33, schrieb Erhard Forndran schon vor über zwanzig Jahren und plädierte dann allerdings für eine konsequent-pragmatische Abrüstungspolitik. Auch in der jüngeren Friedensforschungsgeneration wird heute vielfach die Meinung vertreten, die gesellschaftliche Analyse des Ost-West-Konflikts, einschließlich einer Herrschaftskritik auf beiden Seiten, sei völlig unterbelichtet gewesen (u.a. U. Wasmuht, P. Lock, aber auch E.-O. Czempiel). Mit den inneren Verhältnissen der Sowjetunion hat sich lange Zeit nur die Gruppe um Egbert Jahn befaßt. Die eigentlich in der Abschreckungskritik angelegten Fragen nach dem subjektiven Faktor, nach der Sozialpsychologie des Konflikts fanden nur vereinzelt Platz in der Forschung: „Da internationale Politik, insbesondere der Ost-West-Konflikt, eine sehr viel geringere Erfahrungshaltigkeit zuläßt als innergesellschaftliche Beziehungen, förderte gerade die spezifische politische Struktur des Ost-West-Konfliktes mit ihrer Dynamik des »Entweder-Oder« eine sozialpsychologische Konfliktbewältigungsstrategie, die als »Externalisierung« bezeichnet werden kann.“(E. Senghaas-Knobloch)34

Kontrovers in den Positionen und zugleich ein uneingelöstes Forschungsdesiderat35 ist nach wie vor die militärische Seite des Ost-West-Konflikts: Die Einschätzungen schwanken zwischen einer Bewertung als „Epiphänomen“ (W. Link), „abgeleitetem Konflikt“ (E.-O. Czempiel) und „Eigendynamik“ (D. Lutz u.a.).

Die NaturwissenschaftlerInnen, und auch InformatikerInnen, die sich seit Beginn der 80er Jahre mit ihrer Kenntnis der waffen- und informationstechnologischen Entwicklung in den friedenspolitischen und -wissenschaftlichen Diskurs einschalteten, haben diese Dimension eher erkannt. Sowohl in der kritischen Atomwaffenforschung (z.B. über die zivil-militärische Ambivalenz der Plutoniumgewinnung), als auch in der Lasertechnikentwicklung (z.B. das SDI-Programm) und bei den modernen elektronischen Waffen wurden Zusammenhänge zwischen den die Technologieentwicklung und die Rüstungsdynamik antreibenden anderen gesellschaftlichen Faktoren neu analysiert36. Eine weitere Rolle spielten naturwissenschaftliche Untersuchungen zu den Atomkriegsfolgen unter dem Stichwort „Nuklearer Winter“. Die gutbesuchten Kongresse der Medizinerorganisation IPPNW popularisierten dieses Thema und verwiesen auf die globalen Implikationen des modernen Krieges, z.B. die Zusammenhänge von Militär und Ökologie. Viele dieser gesellschafts- und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mündeten in einer gemeinsamen Analyse und These von der Verwundbarkeit der modernen Industriegesellschaft (W. Vogt, B. Stepanek) und der Inkompatibilität von Risikogesellschaft und Militär37. Es gab hierzu zwar wichtige inhaltliche Vorläufer wie die bereits erwähnte Weizsäcker-Studie von 1971 und Arbeiten zur Ökologischen Sicherheit am Ende der 70er Jahre38, aber erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre kam es zwischen den in der Ökologie- und Friedensbewegung arbeitenden WissenschaftlerInnen zu einer engeren Kooperation, wurde der „Frieden mit der Natur“ zunehmend als eine notwendige Erweiterung des gesellschaftlichen Friedensengaments verstanden.

Die Frage nach der ethischen Begründung für Wissenschaft sowie nach dem Verhältnis von Wissenschaft und politischer Moral hat durch die Friedensdiskussion in den 80er Jahren neue Impulse erhalten. Unterschiedliche Akzente und Positionen wurden diesbezüglich aus den Reihen der etablierten Friedensforschung und den Mitgliedern der Wissenschaftler-Initiativen vertreten; während in der Friedensforschung häufig die strikte Trennung von Moral (und friedenspolitischem Engagement) und Wissenschaft betont wurde (B. Moltmann), ging es den NaturwissenschaftlerInnen meist gerade um das Hereinholen ethischer Kriterien in die eigene Disziplin (Schaper).

In Ergänzung zu den Ergebnissen der Befragung erbringt eine Auswertung der friedenswissenschaftlichen Tätigkeit und Literatur in der zweiten Hälfte der 80er bei größerer (in mancher Hinsicht an die Frühzeit der Friedensforschung erinnernder) Auffächerung auch eine zunehmende Kooperationsbereitschaft in den Themen und Fragestellungen der etablierten Friedensforschung und der Wissenschaftler-Initiativen. In diesem Zeitraum ist allgemein eine Intensivierung friedenswissenschaftlicher Arbeit in den einzelnen Disziplinen zu registrieren – über die bereits genannten hinaus in der (Rüstungs-)Ökonomie, im Völkerrecht, in der Geschichtswissenschaft, der politischen Psychologie und Friedenspädagogik – sowie ein Hinzukommen anderer theoretischer Ansätze wie des Feminismus' sowie stärkere Bemühungen zu multi- und interdisziplinärer Zusammenarbeit39. Eine wesentliche Voraussetzung für die bis in die frühen 90er Jahre reichende Kontinuität der neueren, nicht etablierten friedenswissenschaftlichen Ansätze lag m.E. in den entwickelten Strukturen der Wissenschaftler-Initiativen: Regelmäßige Kongresse, eine Verankerung von Forschungsprojekten an einzelnen Hochschulen, und nicht zuletzt eine selbstständige Publizistik.

Es bleibt abzuwarten, ob und in welcher Weise der etablierten Friedensforschung, deren staatliche Förderung heute grundsätzlich zur Disposition steht, sowie den friedenswissenschaftlichen Impulsen aus den 80er Jahren, die durch die Friedensbewegung inspiriert waren, der »Paradigmenwechsel« in die 90er Jahre gelingen wird. Die Prägungen durch die Denkmuster und Rahmenbedingungen des Ost-West-Konfliktes sind nachhaltig; ihre (selbst)kritische Aufarbeitung stellt jedenfalls eine Voraussetzung für eine an den neuen Konfliktfeldern orientierte Friedenswissenschaft dar.

Der vorliegende Beitrag erscheint in erweiterterter Fassung in: Arnolt Sywottek (Hrg.): Der Kalte Krieg – Vorspiel zum Frieden?, Jahrbuch für Historische Friedensforschung, 2. Jg., Münster i.E.

Anmerkungen

1) Die in Klammern aufgeführten Namen geben die InterviewpartnerInnen wieder. Zurück

2) Georg Picht, Was heißt Friedensforschung? München 1971, S.13. Zurück

3) Vergl. auch Arnold Sywottek, Die Bundesrepublikanische Ost- und Deutschlandpolitik der sechziger Jahre, in: Peter Lock (Hg.), Frieden als Gegenstand von Wissenschaft, Frankfurt/M. 1982, S.88. Zurück

4) Dieter Senghaas, Abschreckung und Frieden, Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Frankfurt/M. 1969. Zurück

5) Übereinstimmend wird von allen Interviewpartnern Senghaas' Kritik an der atomaren Abschreckung als zentraler Theoriebeitrag der Friedensforschung zum Ost-West-Konflikt gewertet. Zurück

6) Vergl. u.a. Ulrich Albrecht, Theoreme vom Militär-Industriellen-Komplex – eine kritische Bestandsaufnahme, in: Wilfried von Bredow/Gerd Kade (Hg.), Abrüstung. Politische Voraussetzungen, sozio-ökonomische Folgen. Aufgaben der Wissenschaftler, Köln 1978; ders., Rüstungskonversionsforschung, Baden-Baden 1979; Carola Bielfeldt, Rüstungsausgaben und Staatsinterventionismus. Das Beispiel Bundesrepublik Deutschland 1950-1971, Frankfurt/M. 1977; Klaus Jürgen Gantzel, System und Akteur. Beiträge zur vergleichenden Kriegsursachenforschung, Düsseldorf 1972. Zurück

7) Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975. Zurück

8) Programmatisch hierfür besonders die von der DGFK angestoßene Studie: Gerda Zellentin (Hg.), Annäherung, Abgrenzung und friedlicher Wandel in Europa, Boppard/Rh. 1976. Zurück

9) Vergl. auch Ingo Arend, Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK), Genesis-Programmatik-Scheitern. Mag.Arbeit, Bonn 1986. Einige Aktualisierungen bei: Ders., Die politische Geschichte der Friedensforschung in der Bundesrepublik. Eine kommentierte Dokumentation, in: Leviathan 2/1990, S.280-292. Zurück

10) Vergl. Arend, Pol. Geschichte (Anm.9), S.287. Zurück

11) Wolf Graf von Baudissin, Probleme der Friedens- und Konfliktforschung. in: Lock (Hg.) (Anm.3), S.6.. Zurück

12) Exemplarisch sei hier genannt die vielbeachtete Studie Carl Friedrich von Weizsäcker (Hg.), Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971. Er selbst habe für seine Arbeit „das Wort Friedensforschung nie aktiv benützt“, schrieb er im Zusammenhang mit der Befragung. Zurück

13) Vergl. u.a. Ulrich Albrecht, Friedensforschung an technischen Hochschulen in Amerika, Arbeitspapier aus dem Berliner Projektverbund der Berghof-Stiftung, Berlin 1987 Zurück

14) Vergl. Tordis Batscheider, Friedensforschung und Geschlechterverhältnis – Zur Begründung feministischer Fragestellungen in der kritischen Friedensforschung, Marburg 1993. Zurück

15) Diese Kooperation erstreckte sich auf gemeinsame Vorlesungsreihen, Kongreßbeteiligung und zunehmend auch Forschungsprojekte. Vergl. dazu Corinna Hauswedell, Friedensforschung und Friedenswissenschaft an den Hochschulen, Neue Entwicklungstendenzen und Perspektiven, in: Ulrike Wasmuht (Hg.), Friedensforschung – Eine Handlungsorientierung zwischen Politik und Wissenschaft, Darmstadt 1991. Zurück

16) Vergl. u.a. W.Graf/I.Horn/Th.H.Macho (Hg.), Zum Wissenschaftsbegriff der Friedensforschung, Ergebnisse einer Umfrage, Wien 1989; Karlheinz Koppe/Dieter Senghaas (Hg.), Friedensforschung in Deutschland, Lagebeurteilung und Perspektiven für die 90er Jahre, Bonn 1990. Zurück

17) Das erste gemeinsame Memorandum aus dem Kreise von 30 SozialwissenschaftlerInnen und NaturwissenschaftlerInnen, das die Darstellung neuer friedenswissenschaftlicher Fragestellungen mit forschungspolitischen Konsequenzen verbindet, erschien bei Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (Hg.), Friedenssicherung in 90er Jahren – Neue Herausforderungen für die Wissenschaft, Bonn 1992. Zurück

18) Vergl. z.B. Gerda Zellentin, Gemeinsame Sicherheit – Widersprüche zwischen Idee und Rahmenbedingungen, Ziel und Mitteln, in: Christiane Rix (Hg.), Ost-West-Konflikt – Wissen wir, wovon wir sprechen?, Baden-Baden 1987, S.236-260. Zurück

19) Erste Anstöße vergl. Max Schmidt/Wolfgang Schwarz, Frieden und Sicherheit im nuklearkosmischen Zeitalter. in: IPW-Berichte 9/86, S.1-12. Der Wissenschaftliche Rat für Friedensforschung der DDR bildete in engerer Kooperation mit dem Institut für Wissenschaft und Politik (IPW), Berlin (Ost), den institutionellen Rahmen der DDR-Friedensforschung. Eine Bilanzierung aus der Sicht von 1990 nehmen vor Klaus Benjowski/Max Schmidt, DDR-Friedensforschung im Wandel, in: Wasmuht (Hg.) (Anm.15), S.211-222. Zurück

20) Vergl. Hans-Peter Dürr, Das Netz des Physikers, München 1988, S.466 ff. Zurück

21) Im einzelnen erwähnte Falin aus Politik und Wissenschaft gemischte Einflüsse: Pugwash, den Bergedorfer Gesprächskreis, die Gremien der Sozialistischen Internationale, Einzelpersonen wie Bahr, Brandt, McNamara. Zurück

22) Michail Gorbatschow, Perestroika, Die zweite russische Revolution, München 1987, S.196. Zurück

23) Vergl. hierzu die Geschichte des entsprechenden Projektes bei der FEST sowie den Non-Proliferationsschwerpunkt bei IANUS (Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Sicherheitspolitik) an der TH Darmstadt. Zurück

24) Einen auch öffentlich kontroversen politischen Niederschlag fand dies in der Veröffentlichung des SPD-Politkers Andreas von Bülow, Das Bülow-Papier, Strategie vertrauenschaffender Sicherheit-Strukturen in Europa – Wege zur Sicherheitspartnerschaft, Frankfurt 1985. Zurück

25) Es schloß sich die Gründung einer „Pugwash Study Group on Conventional Forces in Europe“ an, die eine Internationalisierung der Debatte beförderte. Zurück

26) Vergl. div. Publikationen aus dem Projekt der Ruhr-Universität Bochum „Integrierte Forschung und Lehre zu Fragen der Friedenssicherung, Abrüstung und Rüstungskontrolle“, u.a. Jürgen Altmann/Bernhard Gonsior, Nahsensoren für die kooperative Verifikation der Abrüstung konventioneller Waffen, in: Sicherheit und Frieden 2/1989, S.77-82; sowie aus der Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit in der Universität Hamburg, u.a. Christian Drewniok, Der Einsatz von Satelliten zur Erdbeobachtung, CENSIS-REPORT-3-91, Hamburg 1991. Zurück

27) Z.B. umfassendere Konversionskonzepte wie bei Ulrich Albrecht, Zur Konversion der Rüstungsdymnamik, Projektskizze Berghof-Stiftung Berlin 1990. Zurück

28) Siehe Christiane Lammers/Kathleen Battke/Corinna Hauswedell (Hg.), Handbuch Friedenswissenschaft. ExpertInnen, Institutionen, Hochschulangebote, Literatur, Bonn/Marburg 1993. Zurück

29) Vergl. die Überblicksdarstellung von Dieter Ruloff, Theorien der Ost-West-Beziehungen, in: Volker Rittberger (Hg.), Theorien der internationalen Beziehungen, Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Opladen 1990; vergl. auch den Bericht von der Fachtagung der Sektion Internationale Politik der DVPW, 13.-15.3.1991: Christoph Hüttig, Das Ende des Ost-West-Konflikts als Problem der Theorie internationaler Beziehungen, in: PVS, 32.Jg., H.4/1991, S.663-667. Die Theorieentwicklung kritisch beurteilt in einer Übersicht bis zur Mitte der 80er Jahre Ernst-Otto Czempiel, Der Stand der Wissenschaften von den Internationalen Beziehungen und der Friedensforschung in der BRD, in: PVS-Sonderheft 17/1986, S.250-263. Zurück

30) Werner Link, Der Ost-West-Konflikt, 2.Aufl. Stuttgart 1988; Dieter Senghaas, Friedensprojekt Europa, Frankfurt/M. 1992, S.83ff.; Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, München 1991. Zurück

31) Renate Damus, Die Legende von der Systemkonkurrenz, in: Rix (Hg.), Ost-West-Konflikt (Anm.18), S.75-98. Zurück

32) Senghaas, Abschreckung und Frieden (Anm. 4), S.193. Zurück

33) Erhard Forndran, Abrüstung und Friedensforschung. Kritik an E.Krippendorff, D.Senghaas, T.Ebert, Düsseldorf 1971, S.48. Zurück

34) Eva Senghaas-Knobloch, Zur Bedeutung des subjektiven Faktors in der europäischen Umbruchsituation, in: Francisca Vidal (Hg.), Wider die Regel, Erörterungen anl. des 50.Geburtstages von Wolfgang Burisch, Mössingen-Talheim 1991, S.36. Zurück

35) Schon 1987 kam Gert Krell in einer Bilanzierung der wissenschaftlichen Diskussion über Rüstungsdynamik an der HSFK zu der Aussage: „Was fehlt ist ein neues Gesamtbild zur Theorie der Rüstungsdynamik, das einmal die Geschichte des Rüstungswettlaufs im Ost-West-Konflikt differenziert politologisch aufarbeitet und zum zweiten Forschungen über andere Rüstungswettläufe einschließlich der Zeit vor 1945 integriert.“ In: Gert Krell, Friedensforschung in Hessen, Zur Geschichte und Entwicklung der HSFK, Frankfurt/M. 1987, S.32. Zurück

36) Vergl. die Forschungsergebnisse der IANUS-Gruppe an der TH Darmstadt; eine Übersicht in: Zwei Jahre IANUS, Struktur, Ergebnisse und Perspektiven, IANUS-Arbeitsbericht, Darmstadt 1990; sowie vor allem folgende Publikationen aus dem FIFF: Joachim Bickenbach/Reinhard Keil-Slawik/Michael Löwe/Rudolf Wilhelm (Hg.), Militarisierte Informatik, Marburg 1985; Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann (Hg.), Ein sauberer Tod, Informatik und Krieg, Marburg 1991. Zurück

37) Im Juni 1990 fand zu diesem Thema unter Federführung der Hamburger Gruppe der Naturwissenschaftler-Initiative ein Kongreß statt, dessen Ergebnisse dokumentiert sind bei Gerd Knies/Bernhard Gonnermann/Erich Schmidt-Eenbohm, Betriebsbedingung Frieden, Herausforderungen der Hochtechnologie-Zivilisation für eine nachmilitärische Ära, Berlin 1990.; vergl. auch den erstmalig von ost- und westdeutschen FriedenswissenschaftlerInnen gemeinsam veröffentlichten Reader: Bernhard Gonnermann/Alfred Mechtersheimer (Hg.), Verwundbarer Frieden, Zwang zu gemeinsamer Sicherheit für die Industriegesellschaften Europas, Berlin 1990; zum Theorem der Inkompatibilität vergl. auch Wolfgang Vogt (Hg.), Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der Legitimitätskrise, Baden-Baden 1987, S.21-57. Zurück

38) Vergl. u.a. Friedensforschung und Ökologie. Kolloquium des Konzils der Friedensforscher, Bonn 13.11.1980, DGFK-Hefte Nr.14, Bonn 1981. Zurück

39) Aus der Fülle von Forschungergebnissen und Publikationen sollen hier exemplarisch genannt werden: Klaus Schomacker/Peter Wilke/Herbert Wulf, Alternative Produktion statt Rüstung, Gewerkschaftliche Initiativen für sinnvolle Arbeit und sozial nützliche Produkte, Köln 1987; Lutz Köllner/Burckhardt J.Huck (Hg.), Abrüstung und Konversion, Politische Voraussetzungen und wirtschaftlichen Folgen in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1990; Dieter S.Lutz (Hg.), Völkerrecht und Friedensordnung, Diskussionsbeiträge, Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik Heft 59, Hamburg 1991; Jörg Calließ (Hg.), Gewalt in der Geschichte, Düsseldorf 1983; Reiner Steinweg (Red.) Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung, Friedensanalysen 23, Frankfurt/M. 1990; Reiner Steinweg/Christian Wellmann (Red.), Die vergessene Dimension internationaler Konflikte: Subjektivität, (Friedensanalysen 24), Frankfurt/M. 1990; Christoph Schulte (Hg.), Friedensinitiative Philosophie: Um Kopf und Krieg, Widersprüche, Darmstadt/Neuwied 1987; Hans-Jürgen Häßler/Heiko Kauffmann (Hg.), Kultur gegen Krieg, Hrg. von der Initiative Kulturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung in Ost- und West, Köln 1986; Hanne-Margret Birckenbach, Friedensforschung und ihre feministischen Ansätze: Möglichkeiten der Integration, AFB-Texte, Bonn 1990. Zurück

Corinna Hauswedell ist Historikerin und Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden, Bonn.

Fremdenhaß in Deutschland

Fremdenhaß in Deutschland

Einige Anmerkungen aus sozialpsychologischer Perspektive

von Forschungsgruppe: Konflikte zwischen Gruppen

Die Anzahl feindseliger und gewalttätiger Straftaten gegen Ausländer hat in der letzten Zeit erheblich zugenommen. Das Spektrum der Straftaten erstreckt sich von Beleidigungen über anonyme und offene Drohungen bis hin zu massiven tätlichen Angriffen. Täter sind meist Jugendliche, die Opfer gegenwärtig überwiegend Asylbewerber. Der festzustellende Zuwachs von Asylbewerbern wird in einem Atemzug mit den gegenwärtigen ökonomischen Schwierigkeiten infolge der Wiedervereinigung diskutiert. Zugleich wird auf die Höhe des Ausländeranteils an der Bevölkerung verwiesen. Beide Überlegungen zusammen führen bei vielen zu der Ansicht, daß das »Boot voll« sei und weitere Asylbewerber nicht mehr aufgenommen werden sollten.

Außerdem erscheint dieser Personenkreis besonders geeignet, zum stellvertretenden Opfer einer generellen Abneigung und Feindseligkeit gegenüber Ausländern zu werden. Dieser Gruppe werden in besonderem Maße alle die Merkmale zugeschrieben, auf die zur Rechtfertigung der Ablehnung von Ausländern immer schon verwiesen wurde. Dabei werden die kulturelle Andersartigkeit sowie der Vorwurf mangelnder Eingliederungsbereitschaft und Rücksichtnahme auf deutsche Lebensgewohnheiten betont. Es herrscht weitgehende Unkenntnis über die um Asyl nachsuchenden Personen und deren Schicksal. Zugleich haben die Asylbewerber im Gegensatz zu anderen Ausländergruppen kaum Gelegenheit, die positiven Seiten ihrer Kultur zu vermitteln. Daher besteht die Gefahr, daß ihre offensichtliche Andersartigkeit nicht nur als Minderwertigkeit sondern auch als unkontrollierbare Bedrohung erlebt wird.

Die Ereignisse von Hoyerswerda im neuen Bundesland Sachsen werden gern als Markstein der neuen Ausländerfeindlichkeit herausgestellt. Hoyerswerda sollte jedoch nicht dazu verleiten, Ausländerfeindlichkeit als Spezifikum der neuen Bundesländer anzusehen. Neuere Umfragen zeigen, daß ein hoher Prozentsatz auch der Westdeutschen zumindest Verständnis für das Handeln rechtsextremer Gruppen hat. Ausländerfeindlichkeit ist weder typisch ostdeutsch noch ein neuartiges Phänomen in der neuen BRD; auffällig sind jedoch die zunehmende Bereitschaft zu offener Feindseligkeit und die Intensität der Ausschreitungen.

Gängige Erklärungsmuster für Ausländerfeindlichkeit

Die vielfach in den Medien angebotenen Erklärungen für die Gewalttätigkeiten junger Deutscher gegenüber Asylbewerbern betonen entweder individuelle Besonderheiten oder aber die sozioökonomischen Lebensbedingungen der Täter. Im ersten Fall werden die Täter als verwirrte, seelisch schwer gestörte Personen dargestellt, die aus zerrütteten familiären Verhältnissen stammen. Im zweiten Fall wird vornehmlich auf die Jugendarbeitslosigkeit, die Wohnungsmisere und auf politische Orientierungsverluste verwiesen.

Beide Erklärungen können jedoch nicht zufriedenstellen. Weder sind alle arbeitslosen Jugendlichen ausländerfeindlich eingestellt, noch lassen sich soziale Phänomene auf individuelle Verwirrungen, Pathologien oder sonstige psychische Defizite reduzieren. Eine befriedigende Erklärung kann weder auf den sozialen noch auf den individuellen Aspekt verzichten, sondern muß beide Aspekte sinnvoll miteinander verknüpfen.

Wie Geschichte und Gegenwart zeigen, kommt es vornehmlich in Phasen sozialer Unsicherheit zum Ausbruch offener Feindseligkeiten. Diese sind in der Gesellschaft latent im Sinne sozialer Vorurteile bereits vorher angelegt. Sie zeigen sich unter stabilen Verhältnissen nur gelegentlich in vereinzelten Fällen von Gewalttätigkeit. Die jüngsten Erfahrungen lehren uns aber auch, daß offensichtlich nur ganz bestimmte Personenkreise, vor nehmlich Jugendliche aus unteren sozialen Schichten, eine gesteigerte Bereitschaft zu aktiv gewalttätigem Handeln gegenüber Ausländern zeigen. Nicht zufällig sind es meist genau Angehörige dieser Schichten, die von sozialen Unsicherheiten ganz besonders betroffen sind. Somit sind es nicht notwendigerweise kranke Personen, die Gewalt gegen Ausländer verüben.

Fremdenhaß kann auch bei psychisch durchaus gesunden Menschen auftreten.

Ein sozialpsychologisches Erklärungsmodell

Welche Faktoren sind es nun, die gegenwärtig einzelne oder Gruppen von Personen dazu bewegen, offene Feindseligkeiten und Aggressionen gegenüber Ausländern zu zeigen?

Die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten einzelner Personen oder Gruppen hängt vor allem von subjektiven Wahrnehmungen, Bewertungen und Entscheidungen ab, die vor dem Hintergrund gegebener sozialer Überzeugungen (z.B. Vorurteile), objektiver Lebensbedingungen (z.B. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot) und persönlicher Merkmale (z.B. Aggressivität, Impulsivität) erfolgen. Diese drei Faktoren existieren zunächst unabhängig von Anfeindungen und Aggression; sie beeinflussen jedoch allesamt die subjektiven Einschätzungen, die jeder Gewaltanwendung vorausgehen. Dieses Erklärungsmodell geht somit weder davon aus, daß die Hintergrundfaktoren zwingend zu Ausländerfeindlichkeit führen, noch davon, daß sämtliche Einflußgrößen gegeben sein müssen, um aggressives Verhalten auszulösen.

Persönlichkeitsmerkmale einzelner Täter sollen hier nicht weiter erörtert werden. Auf die beiden anderen Hintergrundfaktoren sei kurz eingegangen.

Hintergrundfaktor Vorurteile

Vorurteile stellen Auffassungen über Personengruppen dar, die in jeder Gesellschaft als geteilte Wissensbestände existieren und ihren Mitgliedern argumentativ zur Verfügung stehen. Vorurteile sind Werkzeuge, die das Denken und Handeln der einzelnen anleiten. Sie erleichtern die Wahrnehmung und die Orientierung in der sozialen Umwelt. Auf sie kann auch rechtfertigend Bezug genommen werden. Vor allem aber vermitteln Vorurteile ein meist negativ gefärbtes Bild von einer Gruppe. Sie signalisieren einen gerichteten Handlungsbedarf, der insbesondere in Phasen der Destabilisierung und in Konfliktsituationen akut wird. Vorurteile gegenüber Ausländern sind also nicht Ausdruck krankhaften oder defekten Denkens und sind nicht an tatsächliche Erfahrungen mit dieser Personengruppe gebunden. Sie bestehen vielmehr weitgehend unabhängig von den individuellen Erfahrungen des konkreten einzelnen, seien sie nun positiv oder negativ. In Vorurteilen sind tradierte, negativ gefärbte Vorstellungen und Normen zum Umgang mit Fremden verdichtet, die nun auch auf konkrete Personen in der Gegenwart angewendet werden können. Für die einzelne Person implizieren Vorurteile ein selektives Wissen über eine Personengruppe, eine gefühlsmäßige Ablehnung dieser Gruppe und die Bereitschaft zu solchen Handlungen, die diese Ablehnung gegenüber der gesamten Gruppe oder einzelnen Mitglieder zum Ausdruck bringen.

Hintergrundfaktor sozioökonomische Lage

Vorurteile sind nicht zwingend an einen besonderen sozioökonomischen Status von Personen oder Gruppen gebunden. Die jüngste Vergangenheit zeigt jedoch, daß offene Feindseligkeit und Gewalt vielfach von solchen Personen verübt wird, die sich in ungünstigen sozialen Verhältnissen befinden. Ihre finanzielle Lage ist häufig schlecht, ihr Bildungsniveau meist gering, ihre berufliche Perspektive wenig entwickelt und ihr gesellschaftlicher Status niedrig. Von daher sind ihre Chancen im Streit mit anderen Gruppen um die Teilhabe an den knappen Ressourcen unserer Gesellschaft schlecht. Daraus resultiert Unzufriedenheit und die generelle Bereitschaft, gegen gültige Normen und Wertvorstellungen zu verstoßen.

<>Subjektive Wahrnehmungen, Bewertungen und Entscheidungen<>

Vorurteile und sozioökonomische Lage legen zwar die Bereitschaft zu und die Richtung von Feindseligkeit nahe, führen aber nicht automatisch zu offen aggressivem Verhalten. Feindseliges und gewalttätiges Handeln beruht letztlich vielmehr auf subjektiven Wahr nehmungen, Bewertungen und Entscheidungen, die allerdings wiederum durch Vorurteile und objektive Lebensbedingungen beeinflußt werden. Ziel feindseliger Handlungen sind vornehmlich Gruppen mit vergleichbar schlechtem oder schlechterem Status, die als Konkurrenten wahrgenommen werden.

Die subjektiven Einschätzungen basieren auf dem Bedürfnis von Personen, sich selbst, ihre Situation, ihr Umfeld und ihre Perspektiven in Relation zu anderen Personen positiv zu erleben und von anderen Gruppen der Gesellschaft darin bestätigt zu werden. Positives Erleben bedeutet damit gleichzeitig die Feststellung von Überlegenheit im Vergleich zu anderen Personen und Personengruppen. Diese Überlegenheit bezieht sich auf Wertvorstellungen der in den Vergleich einbezogenen Gruppen oder Kulturen (z.B. Sauberkeit, Strebsamkeit) und deren Leistungen. Die Vergleichspartner werden nicht beliebig gewählt: Vergleiche werden gewöhnlich so vorgenommen, daß sie dem einzelnen und seiner Umgebung Überlegenheit garantieren.

Aus diesen Überlegungen folgt dreierlei:

1. Statusniedrige Personen haben wenig Gelegenheit, für sich positive Vergleiche herbeizuführen, die im breiteren sozialen Kontext ebenfalls Anerkennung finden.

2. Sie wählen daher Angehörige sozial schwächerer Gruppen wie etwa die Asylbewerber als Medium, um ihre Überlegenheit zu dokumentieren.

3. Statusniedrige Personen finden bei anderen sozialen Gruppen kaum Unterstützung für ihre Ziele und Wertvorstellungen. Indem sie sich auf eine übergeordnete Kategorie wie »Deutsch« zurückziehen, glauben sie an den positiv bewerteten Merkmalen der Gesellschaft teilhaben zu können. Je niedriger der Status der Person oder der Personengruppe, desto größer wird der Zwang, sich auf solche übergeordneten Kategorien zurückzuziehen und Mitglieder anderer, noch schwächerer Gruppen zu diskriminieren.

Im Falle der Asylbewerber sind verschiedene Bedingungen gegeben, die deren Abwer tung, Anfeindung oder gar gewalttätige Vertreibung insbesondere durch Angehörige sozial schwacher Gruppen fördern:

1. Die Anwesenheit der Asylanten wird als illegitim wahrgenommen. Den Asylanten wird unterstellt, daß sie mit Absicht das Asylrecht verletzen und sich ungerechtfertigter Weise den Zugang zu Sozialleistungen verschaffen. Damit belasten die Asylanten den Staatshaushalt, was sich vermeintlich zu Ungunsten der statusniedrigen Mitkonkurrenten auswirkt.

2. Die Höhe der Sozialleistungen für die Asylanten wird als ungerecht wahrgenommen, weil sie von keinerlei Vorleistung seitens der Asylanten abhängig gemacht wird. Im Gegensatz dazu haben die ausländerfeindlichen Deutschen entweder bereits Vorleistungen erbracht oder aber sie glauben, allein aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit mehr Anspruch auf staatliche Zuwendungen zu haben.

3. Die den Asylanten zufließenden Sozialleistungen werden als Indiz für die Aufbesserung von deren sozialen Status verstanden. Dies wird als bedrohlich erlebt und führt zu Bemühungen, die Überlegenheit der eigenen Gruppe im Verhältnis zur Asylantengruppe hervorzuheben.

Diese Einschätzungen werden nicht willkürlich vorgenommen, sondern greifen zum Teil Argumentationen auf, die für unsere Gesellschaft und deren rechtsstaatliche Positionen durchaus verbindlich sind oder aber durch bereitgestellte soziale Vorurteile begünstigt werden.

Die Entscheidung

zu konkreten Gewaltakten

Wie kommt es nun zum offenen aggressiven Verhalten? Die Wahrnehmung von Ungesetzmäßigkeit, Ungleichbehandlung und Statusbedrohung lösen beim Einzelnen affektive Reaktionen aus, die einerseits die Bereitschaft zu feindseligen Handlungen erhöhen und andererseits die moralischen Hemmschwellen gegenüber gewalttätigen Akten herabsetzen. Diese Absenkung der Hemmschwelle wird noch durch eine Depersonalisierung der einzelnen Opfer begünstigt, d.h. sie werden nicht als konkrete Personen sondern gleichsam als gesichtslose Elemente einer abgewerteten sozialen Gruppe wahrgenommen und behandelt. Folglich trifft die Gewalt entgegen vorherrschenden Normen auch Kinder, Frauen und Alte. »Erfolgreiche Vorbilder« wie Hoyerswerda oder Hünxe sowie der Applaus einzelner Bürger vor Ort oder an Stammtischen fördern diese Enthemmung ebenso wie der den Feindseligkeiten häufig vorausgehende Alkohol konsum. Vielleicht häufig ungewollte Unterstützung liefern auch Kommentare von Journalisten und Politikern, die ihre Empörung über feindselige Ausschreitungen unmittelbar mit dem Hinweis auf die Dringlichkeit einer neuen Ausländer und Asylpolitik verknüpfen. Damit signalisieren sie den Tätern, daß sie mit ihnen im Ziel übereinstimmen und ledig lich die Wahl der Mittel verurteilen.

Die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten, wie es sich z.B. im Werfen von Brandsätzen äußert, hängt zudem stark von individuellen Kosten-Nutzen-Abwägungen ab. Diese betreffen

1. die Wichtigkeit des angestrebten Ziels

2. die Einschätzung der Wirksamkeit der konkreten Aktion im Hinblick auf das angestrebte Ziel, sei es die massive Terrorisierung der Opfer, sei es die Betroffenen dahin zu treiben, ihr Asylgesuch fallenzulassen oder sei es lediglich die Profilierung vor der eige nen Gruppe als mutig oder kampfstark.

3. die zu erwartenden Konsequenzen bezüglich Verantwortlichkeit und Sanktionen, die z.B. dann vernachlässigt werden können, wenn die Aufklärungsquote nur gering ist oder das Werfen von Brandsätzen lediglich als leichte Sachbeschädigung gewertet würde.

Daneben ist der erlebte soziale Druck seitens der Mitglieder der eigenen Bezugsgruppe für die Entscheidung zur Handlung bedeutsam.

Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe verpflichtet den einzelnen auf bestimmte Ziele und Normen. Hinsichtlich der in die aktuellen Gewalttätigkeiten einbezogenen Tätergruppen ist zu vermuten, daß dort öffentliche Verunglimpfungen und der Einsatz von Gewalt gegen Ausländer nicht nur akzeptiert sondern sogar positiv sanktioniert werden.

Beide Faktoren, die Kosten-Nutzen-Abwägungen und der soziale Druck, werden durch situative Bedingungen unmittelbar beeinflußt. Hierbei spielt insbesondere die Anwesenheit weiterer Gruppenmitglieder eine bedeutsame Rolle: Das Risiko des einzelnen, zur Verantwortung herangezogen zu werden, verringert sich, gruppen spezifische Hinweise auf die Angemessenheit des feindseligen Verhaltens sind ständig präsent und die soziale Anerkennung seitens der Gruppe erfolgt unmittelbar.

Konsequenzen

Welche Maßnahmen können aufgrund dieser Analyse ergriffen werden, um Ausländerfeindlichkeit und Gewalttätigkeit abzubauen? Die erforderlichen Maßnahmen lassen sich erneut den drei genannten Bedingungen – soziale Vorurteile, objektive Deprivationen, subjektive Einschätzungen – zuordnen:

1. Es wäre verkürzt, das gegenwärtige Phänomen der Gewaltkriminalität gegen Ausländer als Taten gesellschaftlicher Randgruppen zu begreifen. Vielmehr muß erkannt werden, daß die feindseligen Handlungen auf einem breiten Fundament weitgehend geteilter Vorurteile basieren. Die Täter können davon ausgehen, daß ihnen für ihr Verhalten in gewissem Maße Anerkennung zuteil wird. Diese soziale Unterstützung muß ihnen entschieden entzogen werden. Dies erfordert insbesondere positive Stellungnahmen zu Ausländern durch die Autoritäten unserer Gesellschaft in Politik und öffentlichem Leben. Es reicht nicht aus, die Gewalttäter oder die Gesellschaft insgesamt moralisch zu verurteilen (z.B. „Schande über Deutschland“). Eine eindeutige Verurteilung ist zwar äußerst wichtig, noch wichtiger ist jedoch die Hervorhebung der positiv bereichernden Merkmale der hier lebenden Ausländer sowie die Demonstration aufrichtigen Interesses an ihren Problemen und kulturellen Besonderheiten. Die Aufnahme von individuellen, freundschaftlichen Kontakten zu Ausländern oder gar Patenschaften können wechselseitiges Verständnis und Toleranz positiv beeinflussen. Die gängige Praxis vieler Gemeinden, Ausländer zu ghettoisieren, steht diesen Bemühungen eindeutig entgegen.

Neben einer positiveren Bewertung der Kategorie »Ausländer« muß es zu einer Akzentverschiebung im gängigen Stereotyp der Deutschen über sich selbst kommen. „Ich bin ein Deutscher“ muß stärker als bisher mit den demokratischen Werten wie Weltoffenheit, Liberalität, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Großzügigkeit verknüpft werden statt immer noch die klassischen Attribute wie fleißig, ordentlich, treu und sauber hervorzurufen. Die jüngsten Vorkommnisse zeigen deutlich, daß genau diese klassischen und schon häufig mißbrauchten Charakterisierungen des »Deutschen« noch immer als Vorwand dazu dienen, Diskriminierungen und Anfeindungen gegenüber anderen Gruppen zu rechtfertigen.

2. Die sozialen Lebensverhältnisse der Angehörigen niedriger Schichten, dies gilt insbesondere für Jugendliche, müssen dringend verbessert werden. Die Toleranz dieser Gruppen gegenüber Ausländern mag in dem Maße anwachsen, in dem sie in die Gesellschaft eingegliedert werden und soziale Anerkennung erfahren. Hierin sollte das vordringliche Anliegen von Politik liegen. Wenn die Aufmerksamkeit unserer Medien und Politiker gegenwärtig zentral auf die Asylantenfrage gerichtet ist, statt das Problem der Jugendarbeitslosigkeit zu thematisieren, so spiegelt diese verzerrende Umlenkung der Aufmerksamkeit auf einer höheren Ebene exakt das vorurteilsbehaftete Vorgehen der ausländerfeindlichen Gruppen wider: Probleme innerhalb der Gesellschaft werden auf dem Rücken fremder Gruppen ausgetragen.

3. Es gilt, den einzelnen an der Ausführung von Gewalt zu hemmen. Dies kann nur gelingen, wenn seine Einschätzungen über die Wirksamkeit seiner Handlung hinsichtlich des von ihm angestrebten Ziels und über die Wahrscheinlichkeit negativer Konsequenzen seiner Tat für ihn selbst und seine Gruppe beeinflußt werden. Es muß jedem Täter klar sein, daß Feindseligkeit und Gewalttätigkeit in keinem Fall dazu beitragen werden, Ausländer aus Städten und Gemeinden zu vertreiben. Zugleich muß darauf geachtet werden, daß die Aufklärung ausländerfeindlicher Straftaten energisch betrieben wird und gefaßte Täter angemessen bestraft werden. Bürgerwehren und Selbstschutzorganisationen, die letztlich als Zeichen staatlicher Ohnmacht zu begreifen sind, dürfen keinesfalls hingenommen oder gar legalisiert werden. Die zuständigen staatlichen Stellen dürfen nicht länger den Verdacht aufkommen lassen, Straftaten gegen Ausländer würden nur halbherzig verfolgt und geahndet.

„Forschungsgruppe: Konflikte zwischen Gruppen“ am Psychologischen Institut IV der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und an der Arbeitseinheit Sozialpsychologie der Ruhr-c/o Prof. Dr. A. Mummendey

Frieden in Europa – Krise im Baltikum – Krieg am Golf

Frieden in Europa – Krise im Baltikum – Krieg am Golf

Fragestellungen aus sozialpsychologischer Sicht

von Hanne-Margret Birckenbach

Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, ging der Satz um die Welt: „Das ist Wahnsinn“. Der gleiche Satz hat heute, im Februar 1991, eine ganz andere Bedeutung. Aus dem von den Regierungen vertretenen Programm »Frieden in Europa« ist beinahe über Nacht die Realität von Bürgerkrieg und Krieg in, mit und durch Europa geworden. Das Wort »Frieden«, das den Gegenstand unserer Disziplin konstituiert, bleibt vielen zur Zeit im Hals stecken. Sie verstehen sich nicht mehr als Teil einer Friedens-, sondern als Teil einer AntiKriegsbewegung. Wie läßt sich am konkreten Fall und aus der Sicht der Politischen Psychologie, in der es um das Wechselverhältnis zwischen der sog. objektiven, äußeren politischen Lage und den subjektiven, inneren Stimmungslagen geht, die von E. Krippendorff aufgeworfene Frage beantworten: Warum hat sich die »Logik der Unvernunft« durchsetzen können?

Systematische Forschungsergebnisse zu dieser konkreten Fragestellung gibt es noch nicht. Aber bezugnehmend auf grundlegende Arbeiten aus der Politischen Psychologie des Friedens läßt sich die Hypothese aufstellen: Die »Logik der Unvernunft« konnte sich wider den erklärten Friedenswillen der meisten beteiligten Regierungen durchsetzen, weil die Zivilisierung des Ost-West-Konfliktes nicht gelungen und stattdessen ein wechselseitig eskalierendes Zusammenspiel von Ängsten entstanden ist, die aus ganz verschiedenen Quellen gespeist werden. Diese Angstdynamik hat vernünftiges Handeln blockiert.

Theoretische Bezugspunkte meiner Hypothese sind Arbeiten aus der Friedensforschung, die in den vergangenen AFK-Kolloquien diskutiert und in den von der AFK herausgegebenen bzw. in Zusammenarbeit mit ihr enstandenen Schriften gut dokumentiert sind. Es handelt sich um Arbeiten über das Wesen des Ost-West-Konfliktes1, die Zivilisierung Internationaler Beziehungen2 und die Entwicklung von Angstdynamik3.

Statt Zivilisierung Verlust des Ost-West-Schemas

Die Kriegsereignisse am Golf und der Unfrieden in Europa sind Glieder in einer Kette von Ereignissen, deren Interpretation im einzelnen strittig ist, die sich aber alle auf die Veränderungen des Ost-West-Konflikts beziehen lassen. Diesen hatten wir als Ideologiekonflikt (um global konkurrierende Ordnungs- und Wertvorstellungen mit Alleinvertretungstendenz), als Machtkonflikt (um Ausbeutungsobjekte, vorteilhafte Austauschbeziehungen und politische Einflußbereiche) und als Herrschaftskonflikt (zur innen- und bündnispolitischen Legitimation von Abhängigkeit) mit regional und global sinnstiftender Metafunktion analysiert.4 Aus diesen Funktionen ergab sich die Ambivalenz des Konflikts. Einerseits behinderte er gemeinsame Problemlösungen und beinhaltete die Gefahr des Krieges. Andererseits diente er der Befriedung Europas und der Einbindung Deutschlands.

Was immer aus dem Ost-West-Konflikt geworden ist – als sinnstiftendes Beziehungsmuster hat er aufgehört zu existieren. Mancher sehnt sich nun zu ihm zurück. Denn mit dem Ende der Möglichkeiten, das politische Geschehen im Rahmen des Ost-West-Schemas zu interpretieren und die persönliche wie kollektive Identität mit Hilfe der Haltung zum realen Sozialismus zu definieren, ist ein nahezu universell angewandtes Orientierungsraster verloren gegangen, ohne daß es durch ein anderes ersetzt worden wäre. Dieser Verlust tangiert nicht nur die große Politik sondern auch den gesellschaftlichen Alltag.5

Der Sturz des Ost-West-Schemas war überfällig und die Friedensforschung hat dazu beigetragen, daß seine Legitimationswürdigkeit und Akzeptanz begründet in Zweifel gezogen werden konnte. Nicht oder nur wenig erfolgreich waren wir jedoch – trotz intensiver Arbeiten zum Thema der sicherheits- und friedenspolitischen Alternativen – was die Gestaltung der Zukunft angeht. Das Ost-West-Schema ist nicht gestürzt, weil beide Seiten oder jedenfalls eine auf einer neuen Stufe friedenspolitischer Einsicht angekommen wäre, sondern weil die eine Seite nicht mehr in der Lage war, sich am Spiel zu beteiligen. Die für den Ost-West-Konflikt wesentlichen Konfliktinhalte – Ideologie, Macht und Herrschaft – sind jedenfalls nicht in der von den FriedensforscherInnen vorgestellten Weise zivilisiert worden. Dies hätte ein Ausscheiden physischer Gewaltandrohung aus dem Repertoire internationaler Politik und neue Institutionen, in denen Konflikte verhandel- und aushandelbar gemacht worden wären, verlangt. Ebenso wäre die Ausbildung von subjektiven und objektiven Kompetenzen notwendig gewesen, um Interessen ausgleichen und Verständigung verwirklichen zu können.

Statt einer Zivilisierung hat eine Verrohung6 der internationalen Politik stattgefunden. Nach meinem Eindruck begann diese Tendenz zur Entzivilisierung nicht erst mit der Eskalationspolitik nach der irakischen Annexion Kuwaits, sondern parallel zur Friedenseuphorie mit der Interpretation der Zusammenbrüche im Osten in den Kategorien von Sieg und Niederlage.

Zur Dynamik ratlos gewordener Angst

Weil Macht-, Herrschafts- und Ideologieansprüche nicht zivilisiert wurden und die Veränderungen im Ost-West-Konflikt nur sehr schwer in die persönliche und kollektive Identität der beteiligten Gruppen und Nationen integriert werden konnte, hat sich nicht nur in Ost-, sondern auch in West-Europa sowie global eine innergesellschaftliche und internationale Angstdynamik entwickelt. Sie hat – an den jeweiligen Orten in verschiedener Weise – Ohnmachtshaltungen gegenüber der Kriegslogik gefördert, einen Druck zur Gewalt erzeugt sowie die Bereitschaft zum Krieg entstehen lassen. Denn der Krieg hat ein doppeltes Gesicht. Er ist einerseits angsterregend, andererseits selber auch ein Mittel, um den »Gefühlsstau« zu entladen, Ängste zu kanalisieren oder zu beschwichtigen und damit beherrschbar zu machen.

Um erklären zu können, wie eine solche politisch wirksame Angstdynamik entsteht, unterscheiden wir idealtypisch, was in der Realität in der Regel vermischt ist, nämlich die lebenswichtige und rational überprüfbare »Realangst« und die lebensbedrohliche Angst, die Klaus Horn »ratlose« Angst genannt hat. Sie liegt vor, wenn es Menschen nicht mehr gelingt, ihre Angstgefühle und ihre Strategien der Gefahrenbewältigung in Übereinstimmung zu bringen. Klaus Horn hat gesagt, es sei eine Angst, die „vor Schreck verdrängt, wovor sie sich fürchten müßte.7 Sie kann vor den wirklichen Gefahrenquellen nicht schützen, sucht Ersatzobjekte und bewirkt unüberlegte Reaktionen, bei denen Aggressivität nicht mehr kontrolliert werden kann. Eine für die Entwicklung friedensfähiger Subjektivität unabdingbar im Sozialisationsprozeß von jedem Individuum mehr oder weniger erfolgreich erworbene Kompetenz wird auf diese Weise außer Kraft gesetzt.8

Zu dieser ratlosen Angst kommt es in politischen Konstellationen, in denen es Individuen, Gruppen oder nationalen Kollektiven nicht (mehr) gelingt, das wachsende Spannungsverhältnis zwischen politisch-sozialer Außenwelt und den eigenen Wünschen auszuhalten und in eine zeitgemäße Identität zu integrieren. Dieses Problem haben wir – so Klaus Horn – besonders dann, wenn in gesellschaftlichen Krisen Menschen so tun müssen, als gäbe es nichts, was sie beunruhigen könne, wenn niemand so recht weiß, wie mit dem entstandenen Problemdruck umzugehen sei, man verlegen die Augen verschließt und wenn man der steigenden Anspannung mit konservativer Starrheit begegnet. Realangst wird dann durch angststeigernde Ohnmachtsgefühle überlagert. Sie drängen dazu, Pseudoerklärungen, Feindbilder und andere Phantasmen zu akzeptieren und endlich in einer Erlösungsreaktion irgendwie befreiend zu handeln.9 Diese Dynamik gilt als die massenpsychologische Quelle des deutschen Faschismus.

Vor der Mobilisierung solcher Angst – sei es in Gestalt regierungsamtlicher Beschwörung der Gefahr aus dem Osten, sei es in Form alarmistischer Gefahrenanalyse aus friedenspolitisch motivierten Gruppen, derzufolge ein Krieg in Europa unmittelbar bevorstehe – haben FriedensforscherInnen immer wieder gewarnt. Gerade weil es zu einem unbeabsichtigten Zusammenspiel von BefürworterInnen und GegnerInnen der Aufrüstung im Umgang mit der Angst kommen kann, haben FriedensforscherInnen während und im Gefolge der Stationierung von Mittelstreckenraketen Friedensgruppen darin beraten, ihre Diskussionszusammenhänge intellektuell und emotional so zu gestalten, daß sie die Chance eröffnen, sich der eigenen Ängste anzunehmen, ohne ihnen zu erliegen, also Ängste und Strategien zur Gefahrenbewältigung auf ihre Stimmigkeit hin zu überprüfen.10

Vor diesem Hintergrund friedensforscherischen Wissens wäre es m.E. lohnend, die jüngste Entwicklung genauer zu prüfen. Ich kann meine Beobachtungen, die nahelegen, daß es dabei (auch) um eine solche Angstdynamik geht, hier nur in groben Stichworten darlegen und in den von Klaus Horn geprägten Kategorien beschreiben, wie es zum emotionalen Spannungsaufbau und zu seiner politisch kriegerischen Verarbeitung gekommen sein könnte. Dies ersetzt allerdings nicht eine detaillierte Untersuchung. Diese müßte zum einen die behaupteten psychosozialen Verknüpfungen von Innen- und Außenpolitik für jedes Land getrennt aufarbeiten, um die internationale Angstdynamik empirisch erfassen zu können. Zum anderen müßte eine solche Untersuchung auch den politischen Gegenbewegungen gerecht werden. Warum sie sich nicht durchsetzen konnten und welche Chancen bestehen, daß sie langfristig doch noch wirken, ist für uns besonders interessant. Dennoch gehe ich auf diese Frage nicht weiter ein, denn die Einschätzung solcher Gegenbewegungen verlangt (vor allem wegen der oben erwähnten Möglichkeit eines emotionalen Zusammenspiels der Protestierenden mit denen, gegen die sie protestieren) eine sehr komplexe Analyse, die ich hier noch nicht zu leisten vermag. Das Defizit ist damit offen benannt.

Spannungsaufbau 1989/90

Sehr viele Menschen haben die deutsche, europäische und weltpolitische Entwicklung in den beiden letzten Jahren in unterschiedlicher Weise und je nach gesellschaftlichem Kontext als eine Krisensituation empfunden, in der sie keine ausreichenden Möglichkeiten fanden, ihre Ängste zur Sprache zu bringen und zu klären. Die Umbrüche in der Sowjetunion, in Osteuropa und Deutschland wurden von vielen Betroffenen als eine materielle und psychische Bedrohung erlebt. Bezugnehmend auf die Nationalitätenkonflikte in Osteuropa hat Eva Senghaas-Knobloch darauf hingewiesen, daß in ihnen Identitätskonflikte sichtbar werden, die erst in Interessenkonflikte umgewandelt werden müssen, bevor sie demokratisch gelöst werden können.11

Identitätskonflikte lassen sich aber nicht nur in Osteuropa, sondern, in je eigener Weise, auch in Westeuropa und anderen Regionen beobachten. Nachrichten aus der Sowjetunion und ihren Republiken über die politische Instabilität, Spekulationen über einen bevorstehenden Sturz des Hoffnungträgers Gorbatschow und Befürchtungen über eine Machtübernahme durch das sowjetische Militär bestärkten auch im Westen täglich das Gefühl, die Entwicklung in der Sowjetunion und damit auch die internationalen Beziehungen – wenn nicht das politische Geschehen generell – seien längst der politischen Kontrolle entglitten. Im In- und Ausland entstanden quer zu allen politischen Strömungen und parallel zu Fortschrittsphantasien und Friedensplänen, Zweifel an den Fähigkeiten, die politischen Veränderungen gestaltend zu beeinflussen.

Zwar hat das Stichwort »Demokratisierung«, mit dem die Reformen in Osteuropa zunächst bezeichnet wurden, anfangs zumindest für die politischen Eliten und die Intelligenz in Ost und West eine sinnstiftende Rolle erfüllt. Aber um diesen gemeinsamen Begriff ist es längst merkwürdig ruhig geworden. Parallel zur Ausbildung eines Parteienspektrums kam es – gefördert durch den Verfall sozialer und ökonomischer Grundlagen einer demokratischen Entwicklung – in Osteuropa auch zu antidemokratischen Entwicklungen. Der gewachsene Antisemitismus ist dafür ein sicheres Zeichen. Wenn die Relationen unvergleichlich sind, so muß jedoch auch darauf hingewiesen werden, daß die Mitte der 80er Jahre so nachdrücklich vertretenen Demokratisierungsansprüche auch in westlichen Gesellschaften verklungen sind. Das Verschwinden der Grünen aus dem Deutschen Bundestag wurde selbst von AnhängerInnen der dort verbliebenen Parteien als Verlust für die Demokratie empfunden und das schlechte Abschneiden der Bürgerbewegungen in der ehemaliegen DDR bei den vier Wahlentscheidungen 1990 machte sichtbar, wie die Substanz demokratischer Willensbildung unter dem Druck von Mehrheitsentscheidungen leiden kann.

Debatten um das Ob und Wie der deutschen Einheit fanden zwar in der Intelligenz statt, konnten aber als kritische Impulse nicht politisch wirksam werden. Sie wurden in Einheitsbeschwörungen erstickt, obwohl die Teilung jahrzehntelang als Sicherheitsfaktor erster Ordnung (gegenüber dem Systemgegner ebenso wie gegenüber Deutschland) gegolten hatte.

Nicht nur in Deutschland entstand Unruhe über „die Deutschen“, sondern auch im Ausland. Bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war ja gerade überraschend, wie wenig die vorhandenen Vorbehalte gegenüber der Entwicklung sich artikulieren und durchsetzen konnten. Das wurde sehr schnell als Resultat vernünftiger Argumentation verklärt. Übersehen wurde dabei, daß ein rationales Abwägen – wie es einige FriedensforscherInnen eher nachträglich als vorbereitend versucht haben – eben nicht vorausgegangen war. Den »zu spät vorgetragenen Argumenten« fehlte es dann an Glaubwürdigkeit; sie erschienen häufig nicht mehr als das Ergebnis von Analyse, sondern von Anpassung. Das in den europäischen Nachbarstaaten verbreitete Unbehagen über den Aufstieg Deutschlands war bei den Verhandlungen nicht in einem deutschland- und europapolitischen Plan integriert, sondern weitestgehend vom Verhandlungsthema abgespalten und der Öffentlichkeit zur freien Assoziation überlassen worden. So hätte es nahegelegen, frühzeitig danach zu fragen, was sich aus den Vorbehalten gegenüber den Deutschen an politischen Rechtfertigungsstrategien entwickeln könnte. Abgesehen von der Reflexion der deutsch-polnischen Ressentiments unterblieben solche Fragen – auch seitens der FriedensforscherInnen. Mich wundert es heute nicht, daß der Vergleich Saddam Husseins mit Hitler zu einem politikleitenden Interpretations- und Rechtfertigungsmuster während des Golfkrieges wurde. Dieser Vergleich brachte das kritische Deutschland zum Schweigen und setzte die deutsche Regierung unter Zahlungsdruck; es verhalf der kriegführenden Allianz zum Glanz der Erinnerung an historische Größe und diente den arabischen Kritikern der Allianz dazu, ihre antiisraelischen Einstellungen zu immunisieren, indem sie die Deutschen immer wieder dafür entschuldigten, daß sie eine Anklage gegen Israel nicht unterstützen mochten.

Auch wenn das erforderliche Wissen über die konkreten Verbindungen von gesellschaftlich empfundenen Ängsten mit der Politik der Regierungen bislang nur bruchstückhaft vorliegt, gibt es doch schon jetzt zahlreiche Hinweise, die zu dem allgemeinen Befund hinführen: Nahezu überall hatte sich im »Vorkrieg« ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und des Betrogenseins verbreitet. In Großbritannien z.B. verband sich die Unruhe über die deutsch-europäische Entwicklung mit Enttäuschung und Wut über massenhaft erfahrenen sozialen Abstieg infolge der ökonomischen Krise. Für die USA hat der Psychohistoriker Lloyd de Mause den Zustand der »Kriegs-Trance« als eine rituelle Opferreaktion erklärt. Mit ihr versucht eine puritanisch geprägte Nation sich von Schuldgefühlen zu reinigen, die periodisch aus der Furcht vor einem Übermaß an Wunschbefriedigung (vor »Fortschritt, Prosperität, Sex und Feminismus«) entstehen.12 Feministische Friedensforscherinnen haben auf die Kriegsbereitschaft als Gegenbewegung zur Krise patriarchaler Geschlechterverhältnisse aufmerksam gemacht.13

Auch in der Dritten Welt bzw. in der Dritte-Welt-Diskussion machten sich Befürchtungen breit, die Ost-West-Veränderungen könnten zur Verschlechterung der schlechten Situation bei Entwicklungshilfe, Kapitaltransfers, Handel, Ordnungspolitik und Friedenspolitik beitragen.14 In der arabischen Region, so wurde schon im Frühjahr 1990 sichtbar, drängte nicht nur Saddam Hussein zu irrationalen Ersatzhandlungen, sondern ein in weiten Kreisen empfundenes Gefühl einer »arabischen Ohnmacht«, das sich angesichts des Wegfalls der Sowjetunion als Gegengewicht zur amerikanischen Nah-Ost-Politik, angesichts der Unfähigigkeit der Region, sich in und über die Zukunft von Israelis und Palästinensern zu verständigen, und angesichts der Verarmung in Jordanien und Ägypten ausgebreitet hatte.15

In dieser spannungsgeladenen Atmosphäre hatte die Besetzung Kuwaits am 2. August 1990 und das Ultimatum des UN-Sicherheitsrates an den Irak vom 29. November 1990 mit seiner Fristsetzung, bis 15. Januar 1991 Kuwait zu räumen, eine psychosoziale Bedeutung jenseits des militärischen und politischen Anlasses. Diese Ereignisse trugen dazu bei, die »ratlose Angst« in einen zunehmenden Druck auf die Verantwortlichen zu überführen, Macht auszuüben, Entscheidungen zu treffen, die es erlauben würden, das jeweils »Böse« mit Gewalt zu bekämpfen. Wie immer diese Mechanismen der wechselseitigen Übersetzung von Stimmungslagen und politischen Entscheidungen im Detail beschrieben werden können: die in ihren fatalen Wirkungen vielfach und gerade in der Auseinandersetzung mit dem Abschreckungsdenken analysierte Politik der Selbstbindung, die es so schwierig macht, sich aus der Spirale von Selbstverpflichtungen gerade dann zu lösen, wenn befriedigende Ergebnisse nicht mehr zu erwarten sind, gewann die Oberhand. Antizipatorisches Denken und Realitätsprüfung waren auf der außenpolitischen Ebene mehr und mehr beeinträchtigt. Der Ausbruch eines Krieges wurde einkalkuliert, gerechtfertigt und toleriert. Man machte Glauben, ein militärischer Schlag würde genügen, um die zu einem einzigen Problemfall (Saddam hält Kuwait besetzt) zusammengezogene Problemfülle zu lösen, und übersah die Warnung, daß der Schlag weitere provozieren werde. Die politische Sprache entdifferenzierte sich, Männerjargon griff bei den Hauptkontrahenten in einer Weise um sich, die erneut belegte, daß in Zeiten militärischer Konfrontation die politischen Kulturen der Kontrahenten sich ähnlich werden.

Gebannt schaute die deutsche Fernsehnation zu, wie die Chancen auf Frieden systematisch verbaut wurden – bis es dann »geschafft« war und die (meist unbewußten) Wünsche nach spannungslösender Aktion in Erfüllung gingen. Dann erst löste sich die allgemeine Lähmung und die Geister schieden sich an der Frage, ob – wie der französische Außenminister am 15. Januar formulierte – der Pazifismus nun weichen muß und mit ihm der von allen europäischen Regierungen noch 1990 versprochene Wille zur Abschaffung des Krieges – oder ob es gelingt, den Pazifismus zumindest in der politischen Kultur Europas fest zu verankern. Protestierenden SchülerInnen auf der Straße versuchten ihre sprachlosen LehrerInnen zu mobilisieren und verstanden nicht, in welche Zerreißprobe die politische Opposition in der BRD geraten war.

Die Macht der FriedensforscherInnen

Es gibt Kräfte, die weiterhin auf die gerade in der Arbeiterbewegung verankerte Strategie »Krieg dem Kriege« drängen. Sie haben Angst. In ihrer stimmungsmäßigen Unruhe gleichen sie denjenigen, die auf die friedliche Abschaffung des Krieges setzen. Kollektive Angstverarbeitung kann aber nur eine von den Kriterien Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit und Integration geleitete Richtung nehmen, sofern es umfassend gelingt, die entstandenen Ohnmachtsgefühle zurückzudrängen und Perspektiven zu entwickeln, die aufzeigen, wie Ideologie, Macht und Herrschaftskonflikte zivilisiert werden können.

Der Erfolg von Friedensbewegung und Friedenspolitik wird davon abhängen, ob es gelingt, die nicht unmittelbar vom Golf-Krieg verursachten, aber nun an ihn fixierten »ratlosen Ängste« im In- und Ausland explizit in die Friedensdiskussion einzubeziehen. Sonst verstellen sie weiterhin den Blick auf politische Lösungen; sonst kann die aktuelle Erregung nicht in politischen Dialog überführt werden; sonst wird Herrschaftskultur nicht durch Verständigungskultur abgelöst; sonst können SympathisantInnen und auch OpponentInnen nicht zu MitstreiterInnen werden.

Im Thema dieses Kolloquiums „Zur aktuellen Funktion von Friedensforschung“ wird gefragt: „Ist Wissen Macht?“ Ich möchte auf der Basis der hier vorgetragenen Skizze zu den sozialpsychologischen Grundlagen der »Logik der Unvernunft« mit fünf Vorschlägen auf die etwas veränderte Frage antworten: Was kann Friedensforschung mit den ihr eigenen Mitteln tun, um die Angstdynamik einzufangen?

  1. Wir sollten unser eigenes, in umfangreichen Analysen erarbeitetes Wissen ernster nehmen und deutlicher machen, daß die Transformation von Macht, Herrschaft und Ideologien in friedenspolitischer Absicht auch hierzulande viel stärker eine sozialpsychologische Frage ist, als Politik und Wissenschaftspolitik zugeben.
  2. Es gibt kritische Friedensforschung auch jenseits der »Kritischen Theorie«. Aber es gibt sie nicht ohne das methodische Prinzip der Reflexivität im Hinblick auf die Gefühlslagen der forschenden WissenschaftlerInnen. Wenn wir uns darüber nicht Rechenschaft ablegen, jubeln wir sie beinahe zwangsläufig anderen unter, weil wir alle, so sachlich wir uns auch gebärden, persönlich in diese sozialpsychologischen Aspekte der politischen Veränderungen verstrickt sind. Die durch den Golf-Krieg sichtbar gewordene Verunsicherung der Intelligenz über ihr Verhältnis zur kriegerischen Gewalt und die nun provozierten Kontroversen finden sich auch in der Friedensforschung, die Gegenbewegung zur Irrationalität in der Politik zu sein, beansprucht. Unser Umgang mit dieser Kontroverse wird anzeigen, welche transformierende Kraft der Friedensforschung innewohnt oder ob sie nur Teil des herrschenden Spieles ist.
  3. Laßt uns mit den Versuchen aufhören, Ängste und Emotionen wegzureden. Es kann nicht gelingen, auch nicht, indem man sie diffamiert oder sich von ihnen abgrenzt, wie das in objektivistisch orientierten Analysen immer wieder geschieht. Machen wir es statt dessen zu einem Kriterium wissenschaftlicher Redlichkeit, wenn zugegeben wird, daß auch unsere Analysen von Sicherheitsbedürfnissen und Ängsten durchzogen sind, sei es die Angst ausgegrenzt oder mit dem falschen Lager identifiziert zu werden oder sei es das Gefühl, gegenüber dem Ausmaß von Gewalt doch machtlos zu bleiben.
  4. Auch scheint es mir dringlich, die Arbeitsteilungen in der Friedensforschung neu zu durchdenken und die Neigung zur disziplinären Separation in Sozialpsychologie, Politologie, Ökonomie usw. zugunsten von projektbezogenen Arbeitsbündnissen zu überwinden. Zumindest gelegentlich könnten wir versuchen, die jeweils andere Perspektive einzubeziehen und eine Kollegin oder einen Kollegen bitten, einen z.B. auf ökonomische oder außenpolitische Fragen abstellenden Text auf die unter der Hand in ihn eingegangenen sozialpsychologischen Auffassungen zu prüfen. Häufig entsprechen sie nicht mehr dem Forschungsstand.
  5. Für diejenigen unter uns, die im pädagogischen Bereich arbeiten – und irgendwie tun wir das mit unseren Vorträgen, Rundfunkinterviews alle mehr oder weniger – will ich abschließend ergänzen, daß es mir dringend notwendig erscheint, nicht nur Antikriegsbewegung zu sein und nicht nur auf die Kriegsangst, sondern auch auf deren Verbindungen mit anderen klärungsbedürftigen Ängsten, speziell auf die in Ohnmachtsgefühlen interpretierten Erfahrungen der Machtlosigkeit immer wieder explizit einzugehen. Sonst wird der neue Impuls, der von der aktuellen Antikriegsbewegung ausgeht, versiegen und eine politisch verzweifelte, handlungsunfähige Generation hinterlassen.

Alle fünf Schlußfolgerungen können wir mit unserem Wissen unmittelbar in unserer Praxis umsetzen. Es steht in unser Macht dies zu machen.

Der Artikel ist eine Kurzfassung des Beitrages zum Kolloquium 1991 der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) zum Thema: Ist Wissen Macht? Zur aktuellen Funktion von Friedensforschung

Anmerkungen

1) Vgl. Christiane Rix (Hrsg.), Ost-West-Konflikt Wissen wir, wovon wir sprechen? Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 1987. Zurü

2) vgl. Bernhard Moltmann / Eva Senghaas-Knobloch (Hrsg.), Konflikte in der Weltgesellschaft und Friedensstrategien, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens und Konfliktforschung Band XVI, Baden-Baden 1989; Bernhard Moltmann (Hrsg.), Perspektiven der Friedensforschung, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 1888; Reiner Steinweg, Christian Wellmann (Red.) Die vergessene Dimension internationaler Konflikte: Subjektivität, Friedensanalysen Band 24, Frankfurt 1990. Zurü

3) vgl. Klaus Horn, Gewalt <196> Aggression <196> Krieg, Studien zu einer psychoanalytisch orientierten Sozialpsychologie des Friedens, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung Band XIII, Baden-Baden 1988. Zurü

4) Vgl. Gert Krell, in: Christiane Rix, a.a.O. (s. Anm. 1). Zurü

5) Vgl. Birgit Volmerg, Ute Volmerg, Thomas Leithäuser, Kriegsängste und Sicherheitsbedürfnis. Zur Sozialpsychologie des Ost-West-Konflikts im Alltag, Frankfurt 1983. Zurü

6) Zu diesem Begriff in den internationalen Beziehungen vgl. Eva Senghaas-Knobloch, Subjektivität in der internationalen Politik. Über das Zusammenspiel persönlicher und institutioneller Faktoren der Konfliktverarbeitung, in: Reiner Steinweg/Christian Wellmann (s. Anm. 2), S.33-37. Zurü

7) Klaus Horn, Kriegsangst als politischer Ratgeber. Die Friedensbewegung <196> Sammelbecken erschreckter Betroffenheit oder Teil einer Kulturrevolution? in: Ders. (s. Anm. 3), S.271. Zurü

8) vgl. Hanne-Margret Birckenbach, Weder Fluch noch Segen, Thesen zur Ambivalenz des Zivilisationsprozesses, in: Bernhard Moltmann/Eva Senghaas-Knobloch (s. Anm.2), S.271277. Zurü

9) Vgl. hierzu auch Erich Fromm, Zum Gefühl der Ohnmacht (1937), Gesamtausgabe Band 1, Analytische Sozialpsychologie, München 1989, S. 189-206. Zurü

10) Vgl. z.B. Klaus Horn und Eva Senghaas-Knobloch im Auftrag des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Friedensbewegung <196> Persönliches und Politisches, Frankfurt 1983; Klaus Horn, Volker Rittberger (Hrsg.), Mit Kriegsgefahren leben, Bedrohtsein, Bedrohungsgefühle und Friedenspolitisches Engagement, Opladen 1987, Hanne-Margret Birckenbach, Forschungsaufgaben für eine politische Psychologie Gemeinsamer Sicherheit, in: Egon Bahr/Dieter S. Lutz (Hrsg.) Gemeinsame Sicherheit, Dimensionen und Disziplinen, Baden-Baden 1987, S.235-264 Zurü

11) Eva Senghaas-Knobloch, Zur Bedeutung des subjektiven Faktors in der europäischen Umbruchssituation, in: Dieter Senghaas, Karlheinz Koppe (Hrsg.), Friedensforschung in Deutschland, Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn, 1990, S. 45-51. Zurü

12) LLoyd de Mause, Grundlagen der Psychohistorie, Frankfurt 1989. Zur aktuellen Situation vgl. das in der taz vom 17.1.91 veröffentliche Interview <192>Der Krieg als rituelles Opfer. Der New Yorker Psychohistoriker Lloyd de Mause zur Psychologie des bevorstehenden Golfkrieges.<169> Zurü

13) Astrid Albrecht-Heide, Männliche Friedensunfähigkeit, Kriege als Gegenbewegung zu »Verweichlichung« und »Dekadenz«, in: taz, 23.1.91. Zurü

14) Vgl. Lothar Brock, Die Auflösung des Ost-West-Konflikts und die Zukunft der Nord-Süd-Beziehungen: Befürchtungen und Chancen, in: Jahrbuch Frieden 1991, München 1990, S. 87-97. Zurü

15) Vgl. Arbold Hottinger: Machtverschiebungen in der arabischen Welt. Konfrontations- oder Friedenspolitik gegenüber Israel?, in: Europa-Archiv Heft 13/14 v. 25.7.1990, S.421-427. Zurü

Dr. Hanne-Margret Birckenbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

„Ein zusammengebrochenes Volk aufrichten“ oder: wie in der Weimarer Republik die Wehrfähigkeit wiederhergestellt wurde

„Ein zusammengebrochenes Volk aufrichten“ oder: wie in der Weimarer Republik die Wehrfähigkeit wiederhergestellt wurde

von Bernd Ulrich

Bereits während des Ersten Weltkrieges wurde die Perspektive des Soldaten an der Front, wie sie sich in ausgesuchten Feldpostbriefen, Tagebüchern oder Betrachtungen über den Krieg dokumentierte, exzessiv genutzt. In den Zeitungen, den militärisch gelenkten Periodika für die Schützengräben und in unzähligen Verlagspublikationen bediente man sich des „Blickes von unten“, um Front und Heimat zum „Durchhalten“ zu motivieren. Unmittelbar nach dem Krieg stellte sich das Problem neu, auf welche Weise die Nutzung und Inanspruchnahme des subjektiven, individuellen „Blicks von unten“ zu bewerkstelligen war. Und zwar vor dem Hintergrund des zentralen Ereignisses: der Niederlage. Es galt nun, sich der so authentischen wie suggestiven Wirkung individueller, subjektiver Kriegserlebnisse für die „nationale Erziehungsarbeit“ der Zukunft zu vergewissern. Wie konnte der verlorene Krieg der Nachwelt überliefert werden, ohne die Wehrfähigkeit zu gefährden? Das war die entscheidende Frage vor allem für die Führung der geschlagenen kaiserlichen Armee.

Anklage der Feldgrauen

Eine schnelle Antwort tat not. Denn neben den mehr oder weniger rechtfertigenden, sofort nach Kriegsende veröffentlichten Memoiren hoher Stabsoffiziere und Generäle und den ebenfalls aus der Froschperspektive urteilenden Schilderungen junger, im Kriege zu Leutnants beförderter Frontoffiziere wie Schauwecker oder Jünger, erschienen in den Tagen der Revolution und darüber hinaus, oft schon während des Krieges entstandene Texte, die den Zeitgenossen wie „die klassische Chronik der Niederträchtigkeit, der Schweinerei, der Ausbeutung, der Korruption und des Verbrechens“ erschienen.1 Es waren Denkschriften darunter, wie die seit 1916 vorliegende, freilich während des Krieges ignorierte und unterdrückte des Rechtsgelehrten Hermann Kantorowicz über den Offiziershaß im deutschen Heer (1919), oder das, offensichtlich Ludendorff auch zugestellte Memorandum Otto Lehmann-Russbüldts, in dem es darum geht, „wie der deutsche Soldat denkt und fühlt“ (1919). Karl Vetter, Redakteur der »Berliner Volks-Zeitung« und ehemaliger Frontsoldat, wurde dagegen erst durch das große Interesse der Leser einer im März 1919 begonnenen Artikelserie über seine „Eindrücke aus den entscheidenden Tagen der Westfrontkämpfe“ zur Herausgabe einer Flugschrift angeregt, die unter dem Titel „Ludendorff ist schuld!“ der „Anklage der Feldgrauen“ Stimme und Gewicht verlieh.2 Nahezu jeder militärisch-soziale Bereich des vergangenen Krieges wurde kritisch, aus der Sicht der Beteiligten beleuchtet. Der im Krieg als einfacher Soldat gediente Stadtschulrat Wilhelm Appens berichtete über „Dunkle Punkte aus dem Etappenleben“ (1920); Martin Beradt, vor dem Krieg ein erfolgreicher Autor des Fischer-Verlages, brachte 1919 seine, im Krieg von der Zensur unterdrückten „Aufzeichnungen eines Schanzsoldaten“ heraus, die auf seinen Erfahrungen als Bausoldat an der Westfront beruhen; der ehemalige Leutnant Otto Dietz schildert die»militärischen Ursachen« des Desasters und sprach Stabsoffizieren, die nie oder selten an der Front waren, jegliche Legitimation ab, darüber zu berichten (1919); ein anonym bleibender Sanitäts-Feldwebel veröffentlichte Auszüge aus seinen Tagebüchern, die tiefe Einblicke in die unmenschliche „Geschichte eines Feldlazaretts“ erlaubten.3

All diesen Schriften gemeinsam war die anklagende Diktion, die – wie es in einem Feldpostbrief hieß – „Herabsetzung der Soldaten unter das Vieh“ ihr Thema. Vor dem Hintergrund der Dolchstoßlüge galt es, die Verantwortung des deutschen Militarismus für die innere Zersetzung in Heer und Marine aufzuzeigen. Die Autoren – unterschiedlichster Herkunft und politischer Zugehörigkeit – berichteten aus eigener Anschauung oder unter Rückgriff auf ihnen zugegangenes Material wie Feldpostbriefe oder Tagebücher. Ihre Flugschriften, Broschüren, Denkschriften und Romane illustrierten aufs Deutlichste, daß die Sicht auf die historische Realität durch den Weltkrieg zwar keine qualitativ neue, quantitativ in dieser Breite aber doch entscheidende Erweiterung erfahren hatte: die Stimmen der Augenzeugen vor Ort konnten nicht mehr überhört werden. Ihr Blick von unten entfaltete nun, nach den Jahren seiner Instrumentalisierung im kriegsverlängernden Sinn, seine aufklärende, demaskierende Kraft, die während des Krieges in anonymen Eingaben und Klagen verpufften oder in Milliarden von Feldpostbriefen, sofern sie ihre Empfänger unzensiert erreichten, mehr oder weniger private Ernüchterung hervorrief. Es war dies, nach einem Wort des liberalen, bayerischen Offiziers Franz Carl Endres, die „kurze Spanne Zeit der Erkenntnis von 1918 – 1922“.4

Gefährdung der Wehrfähigkeit?

Angesichts solcher Entwicklungen gewann die Frage natürlich an Brisanz, wie das Bild des Weltkrieges der Nachkriegsgeneration überliefert werden konnte, ohne die Wehrfähigkeit zu gefährden. In dieser Situation war es auf der personellen Ebene unter anderem George Soldan, der dafür der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein schien. Soldan, Hauptmann, später Major im Generalstab und schließlich Archivdirektor, verfaßte 1919 und 1925 zwei Texte, in denen es (mehr oder weniger direkt) immer auch um die Bedeutung und Nutzung der Sicht von unten ging. Seine Schriften und sein Wirken innerhalb des Reichsarchivs verstand er als Beitrag zur Schaffung eines „national geschlossenen Volkes“ und dessen „voller Wehrfähigkeit“; vorbereitet werden sollte jener „Tag, an welchem die Geschichte den Weltkrieg als lebenserweckenden deutschen Sieg kündet!“ 5

Das »Reichsarchiv«

Im Zuge der Versailler Vertragsbestimmungen mußte auch der deutsche Generalstab mit all seinen Abteilungen aufgelöst werden. Das geschah nicht. Unter Umgehung der Bestimmungen erweiterte die Oberste Heeresleitung unmittelbar nach Kriegsende sogar noch die kriegsgeschichtliche Abteilung des Generalstabes, um sie im Februar 1919 in einem Dienstbereich Oberquartiermeister Kriegsgeschichte zu konzentrieren. Dieser Dienstbereich wurde am 1. Oktober 1919 in »Reichsarchiv« umbenannt. Es sollte sich in der Folgezeit, obwohl administrativ dem Innenministerium unterstellt, „dem Wesen und dem Auftrag nach“ als „eine direkte Nachfolgeeinrichtung des Dienstbereiches Oberquartiermeister Kriegsgeschichte des Generalstabes“ betätigen.6

Das hatte immense Auswirkungen auf den Charakter der amtlichen Geschichtsschreibung über den Weltkrieg. Die Darstellungen konnten – institutionell abgesichert, denn das Reichsarchiv verfügte über alle wesentlichen Aktenbestände, und personell unter Rückgriff auf das alte (Berufs-)Offizierskorps – völlig in den Dienst der angestrebten Remilitarisierung gestellt werden.

Um die ganze Zielgerichtetheit dieses Vorgangs zu ermessen, muß man sich vergegenwärtigen, daß mit Beginn des Jahres 1919 und nach den Novembertagen 1918, neuerliche revolutionäre Erhebungen das Land und die Menschen in Atem hielten. Die dabei erhobenen Forderungen richteten sich unter anderem gegen eine Änderung der Militärpolitik, wurden von Regierungsseite jedoch insgesamt als Versuch gewertet, nach dem Vorbild der russischen Revolution »bolschewistische Umsturzpolitik« zu betreiben. Während die mit ihrer Hilfe aufgebauten Freikorps und Truppen der Reichswehr Proteste unterdrückten und lokale, räterepublikanische Versuche blutig zerschlugen, wurden zugleich auf der personellen und institutionellen Ebene die Weichen für die historische Überlieferung des Weltkrieges gestellt.

Die Denkschrift Soldans

Im Mai 1919 lag dem Oberquartiermeister Kriegsgeschichte eine „für die Zukunft der Kriegsgeschichtlichen Abteilung besonders zu beachtende Ausarbeitung des Hauptmann Soldan“ vor. Es handelte sich um Soldans Denkschrift zur „Deutschen Geschichtsschreibung des Weltkrieges als nationale Aufgabe“.7 Aus heutiger Sicht entrollt sich hier ein detaillierter, Fragen der Produktion ebenso wie der beabsichtigten Rezeption minutiös behandelnder Plan zur Durchsetzung geschichtspolitischer Ziele. Soldan faßte die Aufgaben wie folgt zusammen:

„Ein zusammengebrochenes Volk aufrichten, ihm den Glauben an sich selber wiedergeben, aus gemeinsam ertragenem Glück und Unglück deutschnationales Empfinden erwachsen lassen, das die dunkelste Gegenwart durchstrahlt, den Weg zum neuen Aufstieg weist; den großen erzieherischen Wert der Geschichte ausnützen, um ein unpolitisch denkendes und empfindendes Volk zur Reife zu führen“.8

Diese generellen Zielvorgaben waren „bewußt in die Geschichtsschreibung hineinzulegen“ und sollten sich zugleich „unbewußt … dem Leser eingraben“. Zwar sei das deutsche Volk „in seinem augenblicklichen Zustand (…) keiner ernsthaften Beeinflussung zugänglich“, doch in naher Zukunft schon werde der Blick wieder „liebevoll und stolz … an dem Eisernen Kreuze haften und gerne werden die Gedanken bei dem Schönen und Erhebenden weilen, das der Krieg reichlich neben den schneller dem Gedächtnis entschwindenden Schattenseiten geboten hat. (…) Gleichzeitig wird dann allgemein das Verlangen kommen, zu lesen, das Gedächtnis aufzufrischen und zu ergänzen.“ 9

Genau in dieser, mit Hellsichtigkeit prognostizierten, veränderten Rezeptionssituation kommt bei Soldan die Nutzung der Perspektive von unten ins Spiel. Die strenge Unterscheidung zwischen dem »gebildeten Teil des Volkes«, den es nach »rein wissenschaftlichen Darstellungen« verlange und den »unteren Bildungsschichten« legte es nach Soldan nahe, für letztere „die zu schaffende Arbeit populär zu gestalten.“ 10

Unter inhaltlicher Ausblendung der „langen Kampfpausen, in denen nur der Stellungskampf ein ermüdendes Bild bietet“, Konzentration auf den »erhebenden« Bewegungskrieg und die großen Materialschlachten, sollten die volkstümlichen Schilderungen allerdings mit der ganzen Seriosität einer amtlich-offiziellen Stelle an den Leser gebracht werden, da sonst ein Nachlassen des »erzieherischen Wertes« zu befürchten wäre.11

Das Referat »Volkstümliche Schriften«

Die Überlegungen Soldans entpuppten sich als wichtiger Beitrag für die Gründung eines Referates »Volkstümliche Schriften», das 1920 innerhalb des Reichsarchivs geschaffen wurde. Soldan, mittlerweile zum Major a.D. avanciert, übernahm als Archivdirektor die Leitung. Die Herausgabe einer »Schlachten des Weltkrieges« betitelten Reihe und die kontrollierende Betreuung der „Erinnerungsblätter deutscher Regimenter“ waren in den folgenden Jahren die wichtigsten Aufgaben.

Der Perspektive von unten kam in jedem Band der Reihe »Schlachten des Weltkrieges« – als Ergänzung der rein militär-taktischen Abhandlungen – eine wichtige Bedeutung zu. Extensiv genutzt wurde die »ungeheure Erlebniswucht der Mitkämpfer« vor allem in den von Werner Beumelburg verfaßten Darstellungen. „Derartige naturalistische Schilderungen“, so Soldan in einer Vorbemerkung, „sind unentbehrlich, um das Verständnis für das Wesen der modernen Schlacht zu fördern und vor allem auch kommenden Geschlechtern einen Begriff davon zu geben, welche gewaltigen Anforderungen der Krieg unserer Zeit an den Menschen stellt.“ 12

In den Jahren der Konsolidierung der Weimarer Republik, in denen das Interesse an Darstellungen des Krieges gering zu sein schien, waren es in erster Linie die »Schlachten des Weltkrieges« und die bis 1928 auf 250 Bände angewachsene Reihe der Regimentsgeschichten, die weiter rezipiert wurden. Allein die Bände der »Schlachten des Weltkrieges» kamen pro Heft auf Absatzzahlen von 40.000 bis 50.000 Exemplare.

Eine ideale Ergänzung fanden diese Publikationen in den ab Mitte der 20er Jahre edierten Fotobänden und den Weltkriegsfilmen. Auch hier war Soldan maßgeblich beteiligt. Mehr noch als die ausgesuchten, schriftlichen Zeugnisse der »Mitkämpfer«, suggerierten Fotografien und ihre Bildunterschriften „den wirklichen, den lebendigen Krieg“, kurz: „Tatsachen“.13 Vermitteln sollte dies auch der 1927/28 in zwei Teilen aufgeführte Dokumentarfilm „Der Weltkrieg“. Um die Authentizität der „Originalaufnahmen“ zu verstärken, wurden – meist ununterscheidbar von den während des Krieges gemachten Aufnahmen – ganze Szenen mit Soldaten der Reichswehr und auf deren Manövergelände nachgestellt.14

»Kämpfer« und »Führer«

1925 präzisierte Soldan – im Rahmen seiner Vorstellungen über den „Menschen und die Schlacht der Zukunft“ – die Modalitäten für die Schilderung aufgrund eigenen Erlebens und die damit beabsichtigten Wirkungen. Die durch den Blick des »Mitkämpfers« gefilterten, realistisch beschriebenen Kämpfe des »Menschen mit dem Material« gaben dem Leser eine Anschauung von der Nichtigkeit des Einzelnen. Der Ausweg aus diesem Dilemma – denn vor dieser düsteren Perspektive durfte die Schilderung nicht kapitulieren – bestand darin, sich im Kampfkollektiv einem »Führer« freiwillig unterzuordnen; einem »Führer«, der unter der Wucht des Materialkrieges nicht zusammengebrochen war. Die Darstellung der Sinnlosigkeit, des eigenen Versagens, der Ängste und des tagtäglichen Terrors – die weder in den von Soldan betreuten populären Reihen fehlten noch in den frühen und späten Texten der soldatischen Nationalisten – ergab das authentisch wirkende Kolorit, vor dessem grellen Hintergrund sich der neue Typus des »Kämpfers« umso wirkungsvoller abhob. So wenig der Blick dabei auf die enormen sozialen Mißstände in der Armee gerichtet wurde – die in den unmittelbar nach Kriegsende erschienenen Publikationen noch einen breiten Raum einnahmen bzw. die eigentliche Motivation für die Aufzeichnung eigener Erlebnisse bildeten – so sehr wandte er sich nun dem »seelischen Erleben« der am Materialkrieg gewachsenen »Führernaturen« zu.

„Nicht physische Verluste“, so Soldan, „brechen den Widerstand des Feindes. Seelische Imponderabilien entscheiden über Sieg oder Niederlage.“ Die in diesen Sinne adäquate seelische Verfassung zeigte nur eine kleine „Elite der Kämpfer“, in deren Reihen sich der „Frontkämpfergeist“ entwickelte.15 Sie waren der „Kern jeder Truppe“, rissen die anderen mit oder führten den Kampf allein. In ihrem Selbstverständnis richteten sie sich sowohl gegen das »Massenheer«, das gegen Ende des Krieges »versagt« habe, als auch gegen das der Tradition verpflichtete kaiserliche Militär und dessen Führungsstruktur. Beispielhaft führte Soldan hier eine Kritik des Fachblattes »Wehr und Wissen« an, in der Jünger „fehlende Manneszucht“ vorgeworfen wurde, weil er – wie in den „Stahlgewittern“ geschildert – als Leutnant im Graben einen Befehl von oben verweigert und nach eigener Einschätzung der Lage gehandelt hatte.16

Erziehung zur kriegerischen Persönlichkeit

Die Perspektive von unten gewann an Gewicht, da mit ihrer Hilfe die im Krieg angeblich vollzogene Wandlung vom „demokratischen Massenheer“ zum „aristokratischen Qualitätsheer“ anschaulich illustriert werden konnte. Eine Entsprechung fanden solche Formulierungen in den Schriften der zu dieser Zeit (1925) primär mit kurzen, theoretischen Abrissen zum Kriegserlebnis beschäftigten soldatischen Nationalisten. „Erziehung zur kriegerischen Persönlichkeit – das war der Sinn der Materialschlacht“, hieß es 1924 bei Franz Schauwecker. Und ein Jahr später sprach Ernst Jünger von der „neuen Aristokratie (…), die der Krieg geschaffen hat, eine Auslese der Kühnsten, deren Geist kein Material der Welt zerbrechen konnte (…).“ 17

Der durch den Weltkrieg forcierte Perspektivenwandel und seine Nutzung in populären Reihen wurde in den weitergehenden Reflexionen Soldans gekoppelt an die Propagierung eines neuen Soldatentypus, für den der »Stahlhelm« das Symbol und die Formel »Mann ohne Nerven« das eingängige Schlagwort war. „Es ist gerade so“, stellte Franz Carl Endres 1927 resigniert fest, „als wenn man die Zeiten der Pest verherrlichen würde, weil sich in ihnen eine Reihe von Menschen heldenhaft betragen haben.“ 18

Anmerkungen

1) A. Zickler in seinem Vorwort zu: Anonym. Anklage der Gepeinigten! Geschichte eines Feldlazarettes. Aus den Tagebüchern eines Sanitäts-Feldwebels (1914-1918). Berlin 1919, 6; s.a. A. Zickler. Im Tollhause. Berlin o.J. (1921).  Zurück

2) H. Kantorowicz. Der Offiziershaß im deutschen Heer. Freiburg i.Br. 1919; O. Lehmann-Rußbüldt. Warum erfolgte der Zusammenbruch an der Westfront? Berlin 1919; K. Vetter. Ludendorff ist schuld! Die Anklage der Feldgrauen. Berlin o.J. (1919).  Zurück

3) W. Appens. Charleville. Dunkle Punkte aus dem Etappenleben. Dortmund o.J. (1920); M. Beradt. Erdarbeiter. Aufzeichnungen eines Schanzsoldaten Berlin 1919; O. Dietz. Der Todesgang der deutschen Armee. Militärische Ursachen. Berlin 1919; Anonym. Anklage der Gepeinigten!   Zurück

4) F.C. Endres. Die Tragödie Deutschlands. Im Banne des Machtgedankens bis zum Zusammenbruch des Reiches. Von einem Deutschen. Stuttgart 1924, S. 369. Zurück

5) G. Soldan. Der Mensch und die Schlacht der Zukunft. Oldenburg i.O. 1925, 107/108. Zurück

6) R. Brühl. Militärgeschichte und Kriegspolitik. Zur Militärgeschichtsschreibung des preußisch-deutschen Generalstabes 1916-1945, Berlin (DDR) 1973, S. 247, 233ff. Zurück

7) Zentrales Staatsarchiv Potsdam/DDR: Reichsarchiv Nr 41, Bl.44-48, Bl.44 (Brief Jochim/Kriegsgeschichtliche Abteilung 4 an Oberquartiermeister Kriegsgeschichte v. 22.5.1919) und Reichsarchiv, Nr. 41, Bl.49-89 (G. Soldan, Die deutsche Geschichtsschreibung des Weltkrieges – Eine nationale Aufgabe/1919). Zurück

8) G. Soldan. Geschichtsschreibung, Bl.64. Zurück

9) Ebd., Bl.64/65. Zurück

10) Ebd., Bl.65/69. Zurück

11) Ebd., Bl.71. Zurück

12) Schlachten des Weltkrieges – Bd. 10, bearb. v. W. Beumelburg. Ypern 1914. Oldenburg i.O./Berlin 1928 (2. Aufl.), Vorbemerkung der Schriftleitung (Soldan). Zurück

13) G. Soldan, Geleitwort zu: Der Weltkrieg im Bild – Originalaufnahmen des Kriegs-Bild- und Filmamtes aus der modernen Materialschlacht, Berlin/Oldenburg 1926. Zurück

14) G. Montgomery, »Realistic« War Films in Weimar Germany: entertainment as education, in: Historical Journal of Film, Radio, and Television, Vol.9, No.2/1989, p.115-133; H. Barkhausen. Filmpropaganda für Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hildesheim u.a. 1982, 185ff. Zurück

15) G. Soldan, Der Mensch und die Schlacht der Zukunft, S. 64, S. 82. Zurück

16) G. Soldan, Der Mensch, S. 83. Zurück

17) F. Schauwecker. „Vom Sinn der Materialschlacht“. Stahlhelm-Jahrbuch 1925, Magdeburg 1924, S. 96-99, 99; E. Jünger. „Vom absolut Kühnen“. Standarte Jg. 1, 20 (1926), S. 460 – 463, S. 462.  Zurück

18) F. C. Endres, Tragödie, S. 289. Zurück

Bernd Ulrich ist Historiker und promoviert in Berlin

Führungsproblem »militärisch dysfunktionale Soldaten«.

Führungsproblem »militärisch dysfunktionale Soldaten«.

Zur Entwicklung eines Arbeitsgebiets der Militärpsychologie

von Paul Brieler

Eine der ungeheuerlichen Taten deutscher Psychologen im Faschismus betrifft die Begutachtungen und Behandlungsvorschläge bei militärisch dysfunktionalen Soldaten. Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 mußten alle tauglichen jungen Männer Wehrdienst leisten. Bald offenbarten sich jedoch Schwierigkeiten mit vielen »Sonderlingen« (auch Sonderfälle oder Sorgenkinder genannt) unter den Rekruten. Darunter wurden Selbstmordkandidaten, geistig Benachteiligte, Wehrdienstgegner, Unzufriedene, Schwererziehbare, Simulanten u.v.a. subsumiert, „solche Soldaten, die im Dienst oder in der Gemeinschaft ohne klar erkennbaren Grund auffällig versagen oder stören“(Straus 1942, 47), und bei denen die sonst funktionalen militärischen Zucht- und Strafmittel nicht zum gewünschten Erfolg führten.

Ratlose Einheitsführer suchten Unterstützung auch bei Psychologen, die als Wehrmachtsbeamte in der Personalauslese tätig waren. Da viele der Wehrmachtspsychologen über eine Vorbildung als Lehrer verfügten und sie darüberhinaus glaubten, ihre Menschenkenntnis erfordernde, eignungsdiagnostische Tätigkeit gestatte ihnen auch die Stellung einer fundierten Diagnose bei schwierigen Charakteren, halfen sie mit Hinweisen für eine erfolgversprechende Behandlung. Ein weiterer Grund für ihr Engagement ist in ihrer noch nicht gefestigten Position innerhalb der militärischen Organisation zu sehen. In Konkurrenz zu etablierten Zuständigkeiten der Offiziere und Wehrmediziner bemühten sich Psychologen, deren jeweilige Kompetenzen anzuerkennen und ihren spezifisch psychologisch-pädagogischen Beitrag als sinnvolle Erweiterung zu den bestehenden Handlungsmöglichkeiten zu bestimmen, um in einem neuen Aufgabenfeld Fuß zu fassen. So kam es in vielen Fällen zu einer »fruchtbaren« Zusammenarbeit zwischen Militärs, Psychiatern und Psychologen. Maßstab der Begutachtungspraxis war ein dichotomes Bild vom menschlichen Versagen, das militärischen Vorstellungen entstammte: entweder konnten die Sorgenkinder nicht (»Geisteskranke, Schwachsinnige«), oder sie wollten nicht (»Psychopathen«). Die Aufgabe bestand nun darin, genau dieses herauszufinden. Dazu setzten Psychologen aus ihrem diagnostischen Repertoire jeweils die als angemessen angenommenen Untersuchungsverfahren ein: Prüfung der Intelligenz, Exploration, Erforschung des Lebenslaufs und des Ausdrucks (Mimik, Gestik, Schrift, Stimme). Bei potentiellen Wehrunwilligen wurden zudem verstärkt Methoden angewandt, die diesen bewußtes Simulieren erschweren sollten. Aus fachlicher Perspektive ist zu kritisieren, daß die Wehrpsychologen mit Methoden diagnostizierten, deren Gültigkeit für klinisch-psychologische Untersuchungen nicht überprüft worden war. Die psychologischen Beurteilungskategorien waren zudem vom Ideal des freudig dienenden Soldaten abgeleitet, was u.a. in der wertenden Begrifflichkeit der Gutachten deutlich wird (moralisch minderwertig, neigt zur Kritik, faul, verbummelt, arbeitsscheu, schlaff). Die soldatische Gemeinschaft wurde als »natürliche Lebensordnung« (Beck 1942, 49) gefaßt: wer sich nicht einfügte, konnte als »unnatürlich« und gestört denunziert werden. Da die Anforderungen an die psychologischen Ausleseaufgaben mit Kriegsbeginn rapide anwuchsen, fanden Untersuchungen häufig im Schnellverfahren statt, was der schwierigen Problematik häufig nicht gerecht wurde.

Zurichtung statt Behandlung

Aufgrund ihrer »objektiven« Untersuchungsergebnisse entwickelten die Wehrpsychologen Behandlungsvorschläge. Diejenigen, die nicht konnten, waren nach ärztlichem Attest wegen Dienstunfähigkeit zu entlassen oder wurden in eine andere Verwendung, die geringere Anforderungen stellte, versetzt, um noch deren Arbeitskraft zu nutzen. Für diejenigen Soldaten, denen Können eigentlich möglich gewesen wäre, die aber anscheinend nicht wollten, wurden Erziehungsvorschläge abgegeben. Nach Scheitern solcher Bemühungen wurden die Soldaten in Sonderabteilungen überstellt. Diese Einheiten waren geschaffen worden, um „Soldaten, deren Verbleiben in der Truppe wegen ihrer gesamten Haltung, Einstellung und Gesinnung eine Gefahr für die Manneszucht bedeutete“(HDv 1938, 11), „zu einem gesetzmäßigen und geordneten Leben“ zurückzuführen und in ihrer „Einstellung zu Staat und Volk richtungsgebend“ zu beeinflussen (ebd., 27). Mit Kriegsbeginn wurden Sonderabteilungen für Ersatzheer und Feldheer aufgestellt, in denen die Bedingungen des täglichen Dienstbetriebs weiter verschärft wurden. Es handelte sich also nicht um eine psychologisch bzw. psychotherapeutisch fundierte Behandlung, sondern um eine ideologische und militärische Zurichtung. Der einzig mir bekannte Bericht aus einer Sonderabteilung vermittelt ein entsprechend düsteres Bild der dort herrschenden Zustände: Prügel, Arrest, militärischer Drill (Schleifen) und politische Schulung. In den Feldsonderabteilungen sollte zusätzlich schwere und gefährliche körperliche Arbeit in unmittelbarer Frontnähe jeden Anreiz, „sich durch schlechtes Verhalten den Gefahren des Krieges zu entziehen, auch bei den Elementen, die ohne jedes soldatische Ehrgefühl sind“ (AHM 1940, 6), ausschließen. Veränderte sich die Haltung der Sorgenkinder während einer dreimonatigen Umerziehung in den Sonderabteilungen nicht, wurden sie der Polizei übergeben (was Überstellung in ein KZ hieß), da sie „sich böswillig allen Erziehungsmaßnahmen“ (HDv 1938, 17) widersetzt hätten. Als Kriterium erfolgreicher Umerziehung galt nur die echte, die innere Wandlung. Ein Soldat, der zwar einwandfrei funktionierte, aber seine »innere negativistische Einstellung« weiterhin behielt, erfüllte den Tatbestand der Wehrunwürdigkeit und wurde in ein KZ gesteckt. Wehrpsychologen sahen den Einsatz solcher Soldaten, zusammengefaßt „zu Arbeitsformationen in Konzentrationslagern“, als sinnvoll an, weil diese ansonsten „eine Gefahr für die Moral und die Schlagkraft der Truppe“ (Prüfstelle 1939, 25) seien –. Wehrpsychologen waren so zumindest mittelbar im Nazi-Programm der Vernichtung lebensunwerten Lebens in KZs beteiligt. Die benutzte Terminologie (ausmerzen, Sonderbehandlung) in Veröffentlichungen zu Sorgenkindern legt nahe, daß sie die Folgen ihrer Tätigkeit (un-)bewußt antizipiert hatten; die KZ-Überweisung wurde auch als Gütekriterium zur Überprüfung der diagnostischen Entscheidung herangezogen. Die genaue Zahl der psychologisch begutachteten Sonderfälle ist nicht bekannt, ebensowenig die Zahl der mit psychologischer Beteiligung in KZs eingelieferten Soldaten. Die fast vollständige Auflösung der Wehrmachtspsychologie Mitte 1942 beendete die Sorgenkinder-Begutachtungspraxis vorläufig, wodurch die Psychologie als Profession einer weiteren Teilnahme an dem zunehmenden und immer brutaler werdenden Terror gegen »unwillige« Soldaten enthoben wurde.

Welche Wirkung hatte die geschilderte Praxis für die weitere Entwicklung der Psychologie im Militär? Zunächst beschränkten sich diese auf Zukunftsvisionen. In den Arbeiten von Beck (1942) und Gackstatter (1942), die in einer der letzten Nummern der Wehrpsychologischen Mitteilungen nach Auflösung der Wehrmachtspsychologie publiziert worden sind, richtete sich in der Zusammenschau der Erfahrungen bereits ein Blick auf die wehrpsychologische Praxis der Zukunft. Für Beck sprach aus seinen Erfahrungen gerade mit „dürftig Ausgestatteten, Umwelt-Vernachlässigten, Militärisch-überforderten und Schwachsinnigen“ das Erfordernis einer psychologischen Erweiterung der Musterung, um potentielle Versager im militärischen Dienst frühzeitig auszulesen bzw. zweckmäßig einordnen zu können. „Es hatte sich hier also für die Heerespsychologie eine Aufgabe von großem wissenschaftlichen und praktischen Wert entwickelt, die in der einen oder anderen Form sich auch wieder durchsetzen wird.“ (1942, 48) Auch Gackstatter (1942, 27) betonte die Nützlichkeit, „schwer zu behandelnde Fälle bei der Musterung zu kennzeichnen“, was er anschaulich an zwei Fallbeispielen aus psychologischen Kurzuntersuchungen demonstrierte. Eine »psychische Behandlung« der Sorgenkinder dagegen sei im Truppendienst nicht möglich; diese würden zudem ärztlichen Untersuchungen mit Mißtrauen begegnen. Da den »genug belasteten« Truppen- und Sanitätsoffizieren auch ein individuelles Eingehen auf den einzelnen Menschen nicht zumutbar sei, harre diese Aufgabe einer Lösung.

Die Psychologen nach dem Zusammenbruch

Doch noch war es nicht so weit, die Schrecken des Krieges wirkten noch zu nachhaltig. Die Psychologen waren nach dem als »Zusammenbruch« erlebten Kriegsende damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren: sie kümmerten sich um die akademische wie berufliche Restauration ihrer Profession, ohne sich mit deren faschistischer bzw. militaristischer Vergangenheit auseinanderzusetzen (Maikowski et al. 1976). Daher verwundert auch nicht, daß die ehemaligen Kameraden versuchten, ihr altes berufliches Feld „im Rahmen der kommenden deutschen Wehrmacht“, wie der Vorsitzende des BDP an das Amt Blank schrieb (zit. n. Mattes 1980), zu sichern, sobald die Perspektive einer neuerlichen Aufrüstung öffentlich deutlich wurde. In Aufsätzen jener Zeit findet sich als wiederkehrendes Argumentationsmuster für eine Beteiligung der Psychologie die Bewährung der deutschen Wehrmachtspsychologie, die methodische Güte und die ausländische Anerkennung (Simoneit 1954; Geratewohl 1956; 1957). Nach einigen Querelen kam es 1956 zur Einrichtung des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr, in dessen Rahmen Psychologen unter Einsatz der bewährten Methoden zuerst damit begannen, wieder Offiziersbewerber auszulesen (erst in den letzten Jahren werden die aus der Wehrmachtspsychologie überlebten diagnostischen Verfahren und Beurteilungskriterien zur Prognose der Offizierseignung einer grundlegenderen Kritik unterzogen (Wottawa 1983; WPsM 1986)). Der mittlerweile für das US-Militär tätige ehemalige Fliegerpsychologe Geratewohl kritisierte 1957 die verpaßte Chance, „eine Wehrmacht nach wissenschaftlichen Prinzipien aufzubauen“, obwohl „der Psychologie eine verantwortliche Rolle bei der Wiederbewaffnung zufallen mußte“ (34). Bei zukünftigen Entwicklungen sei sie allerdings zu beteiligen. Als eine der anzupackenden Aufgaben skizzierte er die Untersuchung und Klassifizierung von Begabungen und Fähigkeiten der zukünftigen Soldaten mittels einer Testbatterie. Es bestehe „die Notwendigkeit, die Grenzen der seelischen und geistigen Leistungsfähigkeit zu bestimmen, die Eigenart und die Begabung des Einzelnen zu erforschen und Funktionsspektren der Personen aufzustellen, die die unglaublich komplexen Waffensysteme unter den modernen Kampfbedingungen führen und bedienen sollen“ (ebd., 30). In seiner Argumentation beruft er sich auf Entwicklungen bzw. Erfahrungen der US-Militärpsychologie, die für die deutschen Streitkräfte fruchtbar seien, nicht auf die Erfahrungen der Wehrmachtspsychologie – mit dem neuen Vorbild USA war eher Staat zu machen. 1965 war es dann soweit: seither wird mit Hilfe einer Eignungs- und Verwendungsprüfung (EVP) der Wehrersatz der Bundeswehr gemäß geistiger und seelischer Eignung auf entsprechende militärische Funktionen verteilt. In 35 Kreiswehrersatzämtern testen Psychologen und ihr Hilfspersonal Tag für Tag ca. 50 Wehrpflichtige. Damit wurde eine Forderung aus den Erfahrungen mit Sorgenkinder-Begutachtungen der Wehrpsychologen erfüllt, ohne daß explizit auf diese Erfahrungen zurückgegriffen worden ist. Implizit finden sich diese jedoch in der frühen Konzeption der EVP wieder. Die EVP umfaßt nicht nur die Erhebung von Daten zu Intelligenz- und Bildungsniveau, technischem Verständnis und Kenntnissen sowie Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit, sondern auch zur Gesamtpersönlichkeit. Umfassendere Persönlichkeitsuntersuchungen würden nur in Einzelfällen vorgenommen, schreibt Flik (1965, 38), „da die Wehrpflichtigen Soldat sein müssen, auch wenn sie keine besonders guten soldatischen Voraussetzungen mitbringen“. Aus dem Persönlichkeitsfragebogen aber ließe sich „bis zu einem gewissen Grad auf innere Einstellung und eine entsprechende Haltung schließen, wie sie dem aktiven, einsatzbereiten und zum kämpferischen Handeln entschlossenen Menschen zu eigen ist. Auch das Maß der Gemeinschaftsbezogenheit ist einigermaßen zu erkennen.“ (ebd., 39) Gleiches galt für das Erkennen von Wehrunwilligen: Prüflinge mit schlechten bzw. auffälligen EVP-Ergebnissen wurden vom Psychologen persönlich interviewt, um herauszubekommen, ob es sich um Simulation, in der Hoffnung, dem Wehrdienst zu entgehen, oder um mangelnde geistige Fähigkeit handelte. Flik vertraute hier auf die Kompetenzen des ausdruckskundlich geschulten Psychologen, solche Absichten anhand der Schrift, Mimik, Pantomimik, Sprechweise sowie biographischer Daten zu entlarven. In dieser eignungsdiagnostischen Konzeption sind die wehrmachtspsychologischen Forderungen aufgrund der Erfahrungen mit Sorgenkindern verwirklicht. Von der Idealvorstellung einer psychologisch zusammengestellten Truppe zwar weit entfernt bieten die EVP Untersuchungsergebnisse doch immerhin die Chance, den rechten Mann an den rechten Platz zu stellen. Solange die militärischen Personalanforderungen und die Bedingungen in der Truppe dies zulassen, kann eine geringere Belastung des militärischen Dienstbetriebs durch den Faktor Mensch erwartet werden. In aktuellen Berichten zur EVP werden die Möglichkeiten zur Früherkennung dysfunktionaler Soldaten nicht mehr aufgeführt, es handelt sich danach um einen reinen Eignungstest. Die Wehrpsychologen führen darüberhinaus als positive Folge einer eignungsgerechten Verwendung der Wehrpflichtigen an, daß dadurch eine negative Motivation zum Wehrdienst in eine positive umgewandelt werden könne. Noch 1967 hatte der Wehrmediziner Schmitt gefordert, daß, obwohl die Beurteilung der geistigen Tauglichkeit zu den wehrmedizinischen Aufgaben gehöre, für Reihenuntersuchungen (EVP) geeignete Methoden zu entwickeln seien, „um Sorgenkinder für die Bundeswehr von vornherein auszuschliessen bzw. zu erkennen“ (340). Als militärische Sorgenkinder führt er auf:

  • nicht erziehbare junge Soldaten, d. h. angeborene Abnormitäten der menschlichen Wesensart;
  • schwer erziehbare junge Soldaten, d. h. erlebnisbedingte Störungen des seelischen Gleichgewichts;
  • schwierige junge Soldaten: hier unterscheidet er die aktiv wirkenden Störer und die passiv gerichteten Versager. Die Ursachen seien vielfältig: haltungsbedingt, krisenbedingt, leistungsbedingt oder entwicklungsbedingt. Auf jeden Fall seien die hier subsumierten Typen willensschwach – die dichotome Vorstellung nicht können vs. nicht wollen findet sich hier wieder. Das militärisch geprägte Wissen um die menschliche Psyche unterscheidet sich augenscheinlich nicht von den Vorstellungen der Vergangenheit. Der Autor plädiert jedoch für Maßnahmen der Früherkennung, gegen eine militärische Erziehung in Sondereinheiten. „Mit schwierigen Soldaten kann und muß eine intakte Einheit fertig werden“ (ebd).

Therapie abweichenden Verhaltens

Trotz der Zuversicht in die »Heilkräfte« der militärischen Gemeinschaft hatten die Wehrmachtspsychologischen Aktivitäten auch in anderer Hinsicht den Weg in die Zukunft gewiesen: seit Beginn der siebziger Jahre erhält unter den Aufgaben der Bundeswehrpsychologie die Prävention und Therapie »abweichenden Verhaltens« in den Fachgebieten Sozialpsychologie und Klinische Psychologie, bedingt durch die wachsenden Probleme der Bundeswehrführung mit »abweichendem Verhalten« der Soldaten (Fahnenflucht/eigenmächtige Abwesenheit/Selbstmord/Alkohol- und Drogenmißbrauch/Kriegsdienstverweigerung), eine immer bedeutendere Rolle; u.a. wurden in diversen Forschungsprojekten soziobiographische Merkmale herausgefiltert, die eine abweichende Karriere im Wehrdienst zu begünstigen scheinen. In der EVP kann anhand solcher Merkmale bereits das Störungspotential in den Wehrpflichtigenjahrgängen erkannt werden. Die Einheitsführer jedenfalls werden über die psychologischen Untersuchungsergebnisse bereits in der Personalakte informiert, so daß sie sich auf ihre »Pappenheimer« einstellen können. In diesem Rahmen übrigens erinnert sich der Psychologische Dienst der Bundeswehr auch der wehrmachtspsychologischen Praxis der Sorgenkinder-Untersuchungen (Fritscher 1981). Inwieweit die Annahme eines zumindest indirekten Einflusses der Lehren, die aus der wehrmachtspsychologischen Praxis gewonnen wurden, für eine psychologisch unterstützte Verbesserung der militärischen Rekrutierungs- und Ausbildungspraxis in der Bundeswehr zutrifft, bedarf noch genauerer Prüfung. Wir werden dieser Frage in einer der nächsten Ausgaben nachgehen.

Literatur

Ahm, »Charakterlich minderwertige Soldaten des Feldheeres – Feldsonderabteilungen Allg. Heeresmittlg. (7) 1940, Blatt 1, 6/7 Beck, W., Grundsätzliches zur Methodik der »Sorgenkinder« – Untersuchungen. Wehrpsychologische Mitteilungen (4) 1942, H. 10, 45-56.
Brieler, P., Sorgenkinder in der Wehrmachtspsychologie! Psychologie & Gesellschaftskritik (12) 1988, H. 3, 51-75.
Deutsche Wehrmachtspsychologie 1914 – 1945. München: Verlag für Wehrwissenschaften 1985.
Flik, G., Wehrpsychologische Eignungsprüfungen, im besonderen Eignungs- und Verwendungsprüfung bei der Musterung. Bundeswehrverwaltung (9) 1965, 1-3 und 37-41.
Fritscher, W., Psychische Folgen von Kriegseinwirkung bei Soldaten im 1. und 2. Weltkrieg (Auswahlbibliographie) . Arbeitsbericht aus dem Psychologischen Dienst der Bundeswehr Nr. K-3-81.
Gackstatter, E., Selbstmord und Selbstmordversuch. Wehrpsychologische Mitteilungen (4) 1942, H. 10, 25-44.
Geratewohl, S.J., Gedanken zu einer militärischen Führerauslese. Wehrkunde (5) 1956, 148-152.
Geratewohl, S.J., Stellung und Rolle der Psychologie in einer Wehrkunde. Wehrkunde (6) 1957, 29-34.
Geuter, U., Institutionelle und professionelle Schranken der Nachkriegsauseinandersetzungen über die Psychologie im Nationalsozialismus. Psychologie & Gesellschaftskritik (4) 1980, H. 1/2, S. 5-39
Geuter, U., Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984.
Geuter, U., Daten zur Geschichte der deutschen Psychologie. Bd. 1. Göttingen/Toronto/Zürich: Hogrefe 1986.
H.Dv. 39, Die Sonderabteilung der Wehrmacht, Berlin 1938.
Maikowski, R./Mattes, P./Rott, G., Psychologie und ihre Praxis. Geschichte und Funktion in derBRD. Frankfurt/M.: Fischer 1976.
Mattes, P., Profession bei Fuß – Wehrmachtspsychologie nach 1945. Psychologie & Gesellschaftskritik (4) 1980, H. 1/2, S. 40-46.
Mierke, K. Psychologische Diagnostik, in: Ach, N. (Hg.), Lehrbuch der Psychologie, 3. Bd.: Praktische Psychologie, Bamberg 1944.
Prüfstelle III Ost, Berlin, Sonderfälle, Begutachtungen im Einzelfall, Sonderabteilungen, Wehrpsychologische Mitteilungen (1) 1939, H. 6, S. 23-26.
Rauch, M., Wehrpsychologie, in: Zoll, R. et al. (Hg.), Bundeswehr und Gesellschaft. Ein Wörterbuch. Opladen 1977, S. 332-336.
Schmitt, L., Schwierige Soldaten. Wehrmedizinische Beleuchtungen. Truppenpraxis 1967, S. 338-340.
Simoneit, M., Einige Tatsachen zur ehemaligen deutschen Wehrpsychologie, die für Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe tätig war. Wehrwissenschaftliche Rundschau (4) 1954, S.138- 141.
Strauß, H., Eine Verfügung des Stellv.Gen.Kdo…, »schwer zu behandelnde Soldaten« »Sorgenkinder« betreffend. Wehrpsychologische Mitteilungen (4) 1942, H. 3, S. 47-49.
Truppenpsychologie. Psychologische Führungshilfen für die Truppenpraxis. München: Verlag für Wehrwissenschaften 1986.
Wottawa, H., Neuere Methoden der Analyse und Bewertung der diagnostischen Urteilsfindung und deren Anwendung auf Ausleseverfahren der Bundeswehr. Wehrpsychologische Untersuchungen (18) 1983, H. 3.

Paul Brieler ist Psychologe und lebt in Berlin.

Zur Psychologisierung der Frage von Krieg und Frieden

Zur Psychologisierung der Frage von Krieg und Frieden

von Winfried Mohr

Wenn die Bewahrung des menschlichen Lebens die Leitvorstellung zivilisierten Zusammenlebens ist, dann erscheint es unvernünftig, irrational, Krieg zu führen, ja selbst schon, Krieg vorzubereiten, Krieg als Möglichkeit mit einzukalkulieren. Offensichtlich werden aber Kriege geführt und vorbereitet und als Möglichkeit einkalkuliert.

Insofern Menschen nicht nur an solchen Bestrebungen beteiligt sind, vielmehr als ihre Urheber angesehen werden müssen, ist es richtig und angemessen, die Beweggründe zu untersuchen, die Menschen dazu bringen, und entsprechende Fragen an die Psychologie, die dafür zuständige Wissenschaft, zu richten. Über die Diagnose ursächlicher Bedingungen hinaus könnte die Psychologie ja auch gegebenenfalls imstande sein, Therapievorschläge für die Beseitigung des offensichtlich irrationalen Verhaltens im und zum Krieg zu liefern.

In der kurzen Geschichte der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft kam es mehrfach zu solchen Anfragen an die Psychologie, obwohl trotz genügender Anlässe von Kriegen das Problem ihrer Vermeidung hinter dem Problem ihrer Effektivierung zurückbleibt, was die Intensität sowohl von öffentlicher Nachfrage als auch wissenschaftlicher Bearbeitung anbelangt (Ein weiteres Indiz für die Irrationalität der Strebungen zum Krieg, wenn selbst die Wissenschaft als die Institution rationaler Strebungen schlechthin nicht frei davon ist?). Sehr bekannt geworden ist der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Siegmund Freud aus dem Jahr 1932, in dem der Physiker Einstein die Grenzen rationaler Erklärung der Frage "Warum Krieg?" auslotet und sich vom Fachmann für das Irrationale im menschlichen Verhalten, dem Psychoanalytiker Freud, eine Erklärung für den unerklärten Rest erbittet.

Es ist nicht bekannt, ob Einstein mit Freuds Antwort zufrieden war. Sie ist in der Tendenz eher entmutigend, insofern Freud einen dem Menschen innewohnenden Trieb zum Tode als eine wesentliche Ursache nennt. Es ist auch nicht bekannt, ob Einstein Freuds Überlegungen mitbedacht hatte, als er der amerikanischen Regierung im Krieg mit dem faschistischen Deutschland den Bau der Atombombe empfahl, weil oder obwohl er die Wirkung abschätzen konnte. Die Auseinandersetzung Einsteins mit der psychologischen Seite der Kriegsursachen und sein Beitrag zum Bau der Atombombe stehen in eigentümlichen Kontrast zueinander. Man könnte geneigt sein, Einsteins widersprüchliches Verhalten mit dem Wirken des Freudschen Todestriebes in Verbindung zu bringen. Aber eine andere Erklärung ist sicherlich mindestens genauso gut.

Ein schlüssige Erklärung für die Ursachen von Krieg zu liefern sah auch Freud sich nicht in der Lage, und er entschuldigt sich bei Einstein: „Ich … bitte Sie um Verzeihung, wenn meine Ausführungen Sie enttäuscht haben“(47). Die Psychologie hat es bis heute nicht geschafft, diesem Zustand abzuhelfen. Die Beschäftigung mit dem Thema Krieg und Frieden spielte eine vergleichsweise geringe Rolle. Umfassendere Arbeiten wie etwa Fromms „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ und Jerome D. Franks „Muß Krieg sein?“ sind Ausnahmen und haben innerhalb der psychologischen Fachdiskussion nur wenig Beachtung gefunden.

Einen Aufschwung erlebt die Beschäftigung von Psychologen mit dem Thema Krieg und Frieden seit dem Wiedererstarken der Friedensbewegung in den beginnenden Achtziger Jahren. Sie hat inzwischen zu einer größeren Zahl von Veröffentlichungen geführt. Diese Entwicklung ist begrüßenswert. Dennoch weist sie Begleiterscheinungen auf, die aus der Sicht der Psychologen zu kritischen Bemerkungen Anlaß gibt. Die Rede ist von Tendenzen zur „Psychologisierung“ der Frage von Krieg und Frieden, die in etlichen Arbeiten zu erkennen ist, leider insbesondere solchen, die größere Verbreitung in populären Büchern oder Zeitschriften fanden.

Ein Psychologismus ist nach dem „Lexikon der Psychologie“ von Drever/Fröhlich „die sachlich nicht gerechtfertigte Heranziehung psychologischer Gesichtspunkte“. Im „Wörterbuch der Psychologie“ von Clauß et.al. heißt es dazu: „Form des Reduktionismus, in der die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft und der Geschichte auf das Wirken psychologischer Gesetzmäßigkeiten kausal zurückgeführt werden.“

Die Vermeidung von Psychologismen setzt voraus zu klären, was an Krieg und Frieden überhaupt ein psychologisches Problem ist, eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist (vgl. Jaeger 1982; Markard 1982). In der Tat bestehen hier auch unterschiedliche Auffassungen und manches, was im folgenden als Psychologisierung charakterisiert wird, würde vermutlich von den Autoren ganz anders gesehen werden.

Psychologismen von Krieg und Frieden – die kritische Analyse einiger Beispiele

Die Fragen im Zusammenhang von Krieg und Frieden, auf die von der Psychologie Antworten erwartet werden, sind zusammengefaßt etwa folgende – sie wurden bereits angesprochen:

– Warum führen Menschen Kriege und verletzen und töten dabei andere Menschen, obwohl dies im Widerspruch zu den sonst üblichen Formen des Zusammenlebens steht?

– Wie kommt es, daß Menschen sich zum Kriegführen hergeben, obwohl sie dabei ihre eigene Existenz gefährden?

-Wie kommt es, daß Menschen Kriege vorbereiten und dabei die Mittel der Kriegführung bis zur Gefahr der globalen Vernichtung menschlichen und organischen Lebens schlechthin perfektionieren?

Antworten auf diese Fragen, die in jüngster Zeit an verschiedenen Stellen publiziert wurden, sollen auf Psychologismen hin untersucht werden. Die Kritik stützt sich in einigen Punkten auf einen Aufsatz von Ute Holzkamp-Osterkamp (1985).

In zwei Beiträgen für „Psychologie heute“ vertritt Sam Keen die Auffassung, daß die Menschen nichts gegen die Aufrüstung unternehmen, weil sie in Wahrheit für den Krieg sind, und sie sind für den Krieg infolge ihrer „geheimnisvollen Faszination für Krieg und Töten“ (Keen 1984, 47) und/oder weil er ihnen psychische Entlastung schafft. Krieg bietet den Menschen die Gelegenheit, ihre Ängste, Aggressionen, Begierden auszuagieren, indem sie diese auf einen äußeren Feind projizieren. Die Beziehung des Menschen zur Gemeinschaft wird durch die Projektion der eigenen Triebregungen auf einen Feind entlastet und dadurch verstärkt. Nach Keen bewahren „wir“ so „unsere Vorstellung von uns als zivilisierten Menschen, und (die Feinde) tragen die Bürde unserer unterdrückten Machtgelüste, unserer Lust an der Grausamkeit“ (Keen 1984, 45). Dieser Zustand ist aber instabil, denn: „Immer wieder jedoch reißen wir uns die Maske der Zivilisation vom Gesicht und stürzen uns in eine pervertierte Form dionysischer Orgie – Krieg. Er liefert uns die Katharsis für das Barbarische in uns, aber kein Bewußtsein für unsere eigenen dunklen bösen Kräfte“ (Keen 1984, 45).

Krieg ist demnach das Ergebnis innergesellschaftlicher Dynamik, die sich gegen einen eingebildeten außergesellschaftlichen Feind wendet, dessen Bild wiederum für die gesellschaftliche Integration notwendig ist. Äußere Bedrohungen sind im wesentlichen eingebildet, oder wie es Keen formuliert: „Wir haben keine Feinde, wir erfinden sie“ (Keen 1984,38).

Das Bild, einen Feind zu haben, ist eine Projektion, eine irrationale Wahnvorstellung. Feindbilder sind Ausfluß unserer Ängste und Aggressionen. „Es ist nicht die Außenwelt, die uns lähmt und schwächt, sondern unsere Angst, die wir auf die Außenwelt projizieren“, postuliert es in gleichem Sinne Howard Stein (1983). Je bedrohlicher das Feindbild ist, umso schwieriger ist seine Beseitigung, denn: „Die übertriebene Beschäftigung mit externen – externalisierten Drohungen und Gefahren verzögert nur die schmerzhafte, heilsame Einsicht, daß die Wurzel unserer Bedrohung in uns selbst liegt, daß wir Angst vor unseren eigenen Phantasien über uns selbst haben“ (Stein 1983, 151).

Wo liegt nun die Wurzel dieser Ängste und Aggressionen, die so bedrohlich scheinen, daß wir sie nicht bewältigen können, sie vielmehr nach außen projizieren, um sie von Zeit zu Zeit in Form eines eingebildeten Feindes zu bekämpfen und dabei den eigenen Tod und den vieler anderer Menschen in Kauf zu nehmen?

Aggressionen sind archaischer Natur und die Oberreste der Vergangenheit unserer Gattung. Ängste sind Relikt unserer Kindheit und sozialer Herkunft, insofern sie von den sozialen Gegebenheiten der kindlichen Entwicklungen bestimmt sind. Eine besondere Rolle spielen dabei die Familie und die Eltern. Vor allem eine rigide Erziehung hat entscheidenden Einfluß auf den Angsthaushalt des Menschen, wie an anderer Stelle des genannten Sonderbandes von „Psychologie heute“ die Militärhistorikerin Sue Mansfield behauptet: „Wenn wir den fremden Willen der Eltern verinnerlichen und damit unseren eigenen Willen aufgeben, dann bleibt eine Menge Ärger in uns zurück, den wir nicht ausdrücken dürfen. Das Kind gesteht die Niederlage nicht ein, die es erlitten hat, als die Eltern es durch Strafen zwangen, sich mit ihnen zu identifizieren. Es hält sich stattdessen selbst für schuldig, weil es etwas anderes wollte als die Eltern. Doch gleichzeitig erlebt es auch, daß dem elterlichen Ärger und Strafen die Versöhnung folgt“ (Mansfield 1983, 138).

Der Zusammenhang mit dem Krieg ergibt sich, „wenn wir dieses innenpsychische Drama auf die Außenwelt übertragen“, und das ist dann „die Formel dafür, daß Massen die Autorität der Herrscher und die Geißel des Krieges so bereitwillig akzeptieren“ (ebd.). Und weiter: „Die Autorität steht für die verinnerlichte Elternfigur. Der Ausgang des Krieges ist das Urteil über unsere Schuld oder Unschuld, und der Krieg als solcher wird zur Strafe und zugleich zum Mittel der Versöhnung, das unsere Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bekräftigt. Letzten Endes stützt sich die Zivilisation also auf eine in das eigene Ich übernommene (introjizierte) Persönlichkeitsstruktur, die sich aus Gehorsam und Schuldgefühlen zusammensetzt“ (Mansfield 1983, 138).

„Schuldgefühle und Habsucht kommen immer dann auf, wenn sich in einer Gesellschaft hierachische Sozialstrukturen herauszubilden beginnen und sich ein tiefgreifender Wandel in den Methoden der Kindererziehung anbahnt“ (Mansfield 1983, 138). Die Entwicklung der Zivilisation verschärft diesen Prozeß: „Die industrielle Zivilisation zwingt uns, rigide Zeitpläne einzuhalten, unsere Gefühle zu unterdrücken und unser Leben in verschiedene Einzelbereiche aufzuteilen (…). Das Leben in den Städten führt zu einer Herabsetzung der Frustrationstoleranz, einem starken Gefühl der Leere und vielfach auch zu einem Gefühl der Ohnmacht und Unsicherheit. Und dieses Gefühl der Bedrohung projizieren wir – Russen wie Amerikaner – auf den Feind. Sie sind darauf aus, uns die Freiheit zu rauben! Deshalb droht jede Seite mit dem vernichtenden atomaren Donnerschlag“ (Mansfield 1983, 143).

Demnach sind Ursachen des Krieges letztlich die gesellschaftlichen Bedingungen und die dadurch deformierten psychischen Strukturen. Daraus resultieren neurotische Formen der Angstbewältigung, die zur Konstruktion eines Feindes führen, der stellvertretend für unsere eigenen Ängste und Schuldgefühle angegriffen wird in einem Massenkrieg, den „wir als eine institutionalisierte Form von Sadomasochismus betrachten“ können (Mansfield 1983,136) und als „äußeres Ritual (…), mit dem verinnerlichte Schuld und internalisierter Ärger verarbeitet werden“ (Mansfield 1983,138).

Zwar entsteht Krieg aus neurotischen Formen der Angstbewältigung, die dem Individuum durch die gesellschaftlichen Bedingungen aufgezwungen werden, also aus individuellen psychischen Prozessen. Doch gleichzeitig ist Krieg eine „soziale Institution", die durch „individuelle Motive“ wie Geldverdienen, Abenteuerlust, Flucht vor Langeweile nicht hinreichend erklärt werden könne. Die kriegsverursachende Paranoia ist keine individuelle, sondern eine kollektive, selbst wenn sie aus den individuellen Lebensbedingungen erwächst und daraus ihre Energie bezieht. Paranoia ist auch nicht unbedingt der einzige Grund für Krieg. „Selbstverständlich gibt es politische,

konomische und territoriale Gründe für den Ausbruch eines Krieges (…) auch wer paranoid ist, hat manchmal wirklich Feinde“ (Keen 1984, 38). Das psychologische Problem im Zusammenhang mit Krieg und Frieden wird darin gesehen, die paranoischen von den begründeten Bedrohungen zu unterscheiden und durchschaubar zu machen:

Zunächst wollen wir verstehen, warum und wie wir uns gepanzert haben, und dann rüsten wir schrittweise unsere Abwehr ab, indem wir reale von eingebildeten Drohungen unterscheiden lernen“, mit dem Ziel, daß „unsere erworbene Paranoia (…) durch kritisches Urteil und Vertrauen ersetzt“ wird (Keen 1983, 155).

Offensichtlich sind für die Psychologie nur irrationale Motivationen von Bedeutung, reale Gründe für Krieg, existierende Bedrohungen sind psychologisch uninteressant. Auch H.E. Richter (1982) ist anscheinend dieser Auffassung: „Wäre diese Verhaltensweise (der eskalierenden wechselseitigen Bedrohung; W.M.) nur Ausfluß eines Denkfehlers, so hätte man diesen und damit die Strategie zweifellos längst korrigiert.(…) die Wurzel des Fehlverhaltens liegt jenseits der Ebene des logischen Argumentierens“ (Richter 1982a 25). Er schließt die Frage an: „Warum scheuen wir uns so sehr, Politik zu psychologisieren?“ Richter verwendet „psychologisieren“ nicht in der Wörterbuchbedeutung, vielmehr im Sinne von Anwendung der Psychologie auf politische Fragen. Bemerkenswert an dieser Aufforderung zur Anwendung der Psychologie in der Politik ist aber, daß sie sich lediglich auf die irrationalen Aspekte psychischen Geschehens beschränkt, so, als ob die vielfältigen realen Motive und die Prozesse menschlichen Denkens und Handelns, die jenseits aller Irrationalität keineswegs „logisch“ sein müssen, nicht dazu gehören würden.

Inwieweit sind diese Anwendungen von Psychologie auf die Frage von Krieg und Frieden „Psychologisierungen“ im Sinne der Wörterbuchbedeutung?

Vorwegschicken möchte ich die Bemerkung, daß sich der Vorwurf der „Psychologisierung“ nicht auf die psychoanalytische Orientierung der zitierten Autoren bezieht, selbst wenn ich kein Anhänger der Psychoanalyse bin und die Ansicht vertrete, daß die psychoanalytische Begrifflichkeit aufgrund ihrer häufig unscharfen Verwendung Psychologisierungen eher begünstigt als andere Richtungen. Eine m.E. nichtpsychologisierende Analyse menschlichen Verhaltens in psychoanalytischer Terminologie hat Nicklas in den letzten Vorträgen über die individuelle Aneignung von Feindbildern und Sicherheitskonzepten gegeben. Vielfach findet man z.B. auch Biologismen der Frage von Krieg und Frieden, in denen gesellschaftliche Systeme analog zu biologischen Systemen gesehen werden. Ein Beispiel ist etwa Nicolais „Biologie des Krieges“ aus den Zwanzigerjahren. Auch etliche Beiträge von Ethologen sind m.E. als solche zu bewerten (z.B. Lorenz 1963; Eibl-Eibesfeld 1975; vergl. die Diskussion bei Komm 1984).

1. Es ist ein Psychologismus im Sinne einer Überstrapazierung psychologischer Konzepte, wenn Krieg auf psychodynamische Größen zurückgeführt wird, ohne zu klären, zu welchem Anteil Krieg durch solche Faktoren verursacht wird. Zwar postulieren die zitierten Autoren außerpsychologische Ursachen von Krieg, doch wird letztlich als entscheidende Triebkraft die individuelle Angstabspaltung und gesellschaftliche (und individuelle?) Projektion auf den Feind angesehen. Wie wichtig ist dieser Prozeß im Vergleich etwa zu „politischen, ökonomischen und territorialen Gründen“, wie Keen (1984,38) sie annimmt? Nur wenn ihm maßgebliche Bedeutung zugeschrieben wird, macht es Sinn, Therapie mit dem Ziel der Aufdeckung und Verarbeitung der irrationalen Strebungen als Abhilfe für beständige Aufrüstung anzubieten, ein Vorschlag, der bei allen Autoren ankommt. Auch bei H. E. Richter (1982a, 1982b, 1985) ist die Vorstellung der „Therapie der Friedlosigkeit“ in Anlehnung an C. F. von Weizsäckers Schlagwort von der „Friedlosigkeit als psychische Krankheit“ ein immer wiederkehrendes Moment. Aber wer ist der Therapeut und wer das zu therapierende Subjekt, der Klient?

Der Staat, die Gesellschaft ist das paranoide Subjekt, aber wer soll ihn therapieren? Die Paranoia entsteht aus der Abspaltung „unserer“ individuellen Ängste und Aggressionen, an deren Verarbeitung wir gehindert werden. Dafür sind u.a. strukturelle Bedingungen unserer Gesellschaft (Familienstruktur, Arbeitsorganisation usw.) verantwortlich, aber auch wir selbst: „Es gibt keinen anderen Weg zum Frieden, der uns nicht abverlangt, den Teufel als den unseren zu reklamieren und Machtbeschränkungen zu akzeptieren“ (Keen 1984, 51). „Wir“ sind das Subjekt der Therapie, „Wir“ sollen bei „uns“ anfangen, wobei es „keine Garantie dafür (gibt), daß dieser Schritt zu „psychischen Abrüstung“, zur Verletzbarkeit und Offenheit uns ein sichereres und einfacheres Leben geben wird“ (Keen 1983,155).

Es spricht nichts dagegen, die eigene Lebenssituation – sei es therapeutisch – zu beleuchten, unbewußte individuelle Strebungen, Ängste und Aggressionen offenzulegen, um sie zu bewältigen – im Gegenteil.

Angesichts des ungeklärten Anteils von irrationalen psychischen Faktoren am Zustandekommen von Krieg und Aufrüstung stellt sich allerdings die Frage, ob dies ein bedeutender Beitrag zur Verhinderung von Krieg sein kann. Die Handlungsperspektive für den Einzelnen bleibt vage, selbstbezogen, überwiegend unpolitisch und fördert den Rückzug ins Private. Die Beschäftigung mit den „individuellen Motiven“ des Geldverdienens usw., mit anderen „Gründen für den Ausbruch eines Krieges“ (Keen 1984, 38) hat mit der Verhinderung von Krieg anscheinend nichts zu tun.

2. Es ist ein Psychologismus, wenn individualpsychologische Konzepte auf überindividuelle Strukturen wie Gesellschaften, Staaten übertragen werden, ohne daß geklärt wird, wie die individuelle psychische Dynamik sich in eine soziale Dynamik umsetzt. Die Vermittlung zwischen individueller, sozialer und zwischenstaatlicher Ebene, das Verhältnis der Individuen zur Politik von Staaten, bleibt offen, bestenfalls vage. Die Verbindung zwischen den verschiedenen Betrachtungsebenen wird überwiegend durch die Verwendung des Begriffs "Wir" hergestellt, wobei dieser abwechselnd und ohne genaue Bestimmung im Sinne von „jeder einzelne von uns“, „wir alle zusammen“, „unsere Gesellschaft“, „unserer Staat“, „wir Menschengeschlecht“ gebraucht wird. Dahinter steht die hier nicht bestrittene Annahme, daß in allen diesen Betrachtungsebenen „ein Stück von jedem von uns“ steckt, insofern sie die Gesamtheit der individuellen Verhaltensweisen und der sie bestimmenden psychischen Bedingungen beinhalten. Aber wie diese Gesamtheit sich aus den individuellen Verhaltensweisen ergibt, welche Bedingungen der sozialen Wirklichkeit hierbei wirksam sind, wie der „subjektive Faktor“ mit der Politik zusammenhängt, bleibt unbestimmt.

Nicht einmal bei einer Fußballmannschaft, bei der im allgemeinen innerhalb einer Mannschaft Einigkeit besteht über Ziele, Regeln und Strategie, vielleicht auch in der Beurteilung des Gegners, kann das Gesamtverhalten hinlänglich aus den individuellen Bedingungen prognostiziert werden.

Das Zusammenwirken individueller Bedingungen in einer Gesellschaft mit widersprüchlichen Zielsetzungen und Motiven, unterschiedlichen Voraussetzungen zur Durchsetzung von Interessen usw. ist ungleich komplexer. Daß hierbei gegensätzliche Interessen zu paradoxen Resultaten führen können, zu Kompromissen, die niemanden zufriedenstellen, zu Zuständen, die „unvernünftig“, irrational erscheinen, kann nicht verwundern. Unter diesen Voraussetzungen erscheint es voreilig, „unvernünftige, irrationale gesellschaftliche Strebungen auf zugrundeliegende irrationale Motive zurückzuführen. Paranoid erscheinende gesellschaftliche Entwicklungen müssen daher keineswegs von einer gesellschaftlichen Paranoia verursacht sein. Dies genau wird aber in den zitierten Positionen angenommen, die die gesellschaftliche Paranoia in diesen Paranoia fördernden gesellschaftlichen Bedingungen und sich daraus ergebenden individuellen psychischen Deformationen begründet sehen.

Es wird ausgeschlossen, daß reale Bedingungen und psychische Prozesse wie etwa Denkprozesse, die keineswegs „rational“ sein müssen, und nicht nur irrationale Motive verantwortliche Ursachen sein könnten, die psychologisch untersuchenswert wären. Die zweifellos richtige Feststellung (etwa von H. E. Richter 1982a), daß Politik keineswegs nur rational ist, sondern vielmehr auch von irrationalen Momenten bestimmt sein kann, wird letztlich daraufhin zugespitzt, daß nur die irrationalen Strebungen die wichtigen Aspekte von Politik seien.

Nur diese werden einer psychologischen Analyse unterzogen. Dabei ist keineswegs geklärt, ob sie die entscheidenden psychologischen Probleme bzw. ob sie überhaupt dem Irrationalen entstammende Probleme sind.

3. Es ist ein Psychologismus, wenn bestehende Unterschiede und Widersprüche in Anschauungen und Interessen zwischen Staaten, innerhalb von Gesellschaften, zwischen Menschen auf psychologische Konzepte reduziert werden. „Wir haben keine Feinde, wir erfinden sie“, behauptet Keen (1984, 38), obwohl er gleichzeitig feststellt: „(…) auch wer paranoid ist, hat manchmal wirkliche Feinde“ (ebd.). In der Tat kommt es darauf an, die Bedrohungslage nüchtern zu bewerten und paranoide Tendenzen aufzudecken, d.h. eingebildete von wirklichen Feinden zu unterscheiden. Die Schwierigkeit besteht aber schon darin, daß es innerhalb einer Gesellschaft widersprüchliche Interessenlagen gibt, so daß eine Verständigung über reale und irreale Bedrohungen manchmal schier unmöglich erscheint. Die Angst vor dem Sozialismus ist bei einer Reihe von Menschen sicherlich berechtigt, sie hätten unter solchen Bedingungen einiges zu verlieren. Der Sozialismus ist in diesem Sinne ein realer Feind, selbst wenn die Bedrohung durch den realen Sozialismus nicht bestehen mag. Der Interessengegensatz die damit verbundenen Auseinandersetzungen bleiben und werden selbstverständlich als beständige Bedrohung wahrgenommen. Diese erlebte Bedrohung ist kaum durch Aufdeckung paranoider Tendenzen zu beseitigen, sondern höchstens durch politische Maßnahmen der Vertrauensbildung und kontrollierten Abrüstung zu mindern.

Es darf auch nicht vergessen werden, daß der von außen wahrgenommenen Bedrohung durch den Sozialismus etwa auch eine innergesellschaftlich wahrgenommene Bedrohung durch sozialistische Bestrebungen entspricht. Reale Interessengegensätze innerhalb der Gesellschaft sind vorhanden und in der Tat für manche Gruppen und Schichten bedrohlich, selbst wenn etwa die Frage Kapitalismus oder Sozialismus oder irgendeine andere grundlegende Umwälzung in der Bundesrepublik heute nicht akut ist. Es gibt in unserer Gesellschaft Menschen, die an der Rüstung Geld verdienen und die ein Interesse am Feindbild „Kommunismus“ haben. Und es gibt viele Menschen, die kein Geld an der Rüstung verdienen und die vom „Kommunismus“ vermutlich wenig zu befürchten hätten – viel dagegen vom Krieg.

Diese widersprüchlichen Interessenlagen sind mit den psychodynamischen Konzepten kaum zu erklären, wenn sie überhaupt als existent zur Kenntnis genommen werden. Nach Keen (1983, 153) beherrscht Gruppen und Nationen gleichermaßen folgendes Gesetz von Loyalität und Gruppenmitgliedschaft: „Jede Gruppe erzeugt ein bestimmtes Maß an Paranoia, um das soziale Band zu festigen. richtig-falsch, wir-sie, Freunde-Feinde, ingroup-outgroup, diese Trennungsmechanismen kommen automatisch ins Spiel. (…) In aufgeklärten Zeiten nennen wir sie (die Außenseiter; W. M.) atheistische Kommunisten oder kapitalistische Schweine. (…) Gruppenparanoia basiert immer auf einer etablierten Theologie, die beweist, daß „die“ versuchen, „uns“ zu zerstören“.

Widersprüche sind demnach Einbildung, Paranoia, ihre Betonung bezweckt die Festigung des sozialen Zusammenhalts. Mögliche Einwände gegen diese Auffassung werden im Sinne der Konzeption als Ausdruck einer „elaborierten Theologie“ angesehen, die der Offenlegung „unserer“ gemeinsamen Paranoia entgegenwirken soll.

Bemerkenswert ist bei allen zitierten Autoren, daß reale Interessenunterschiede kaum thematisiert werden, selbst wenn ein Gegensatz zwischen Politikern und Bevölkerung gesehen wird. Keen (1983, 154) prangert die „Verteidigungsministerien“ und den „militärisch-industriellen Komplex“ an. H. E. Richter (1982a) sieht in „den Politikern“ eine besondere Gruppe von Menschen mit einer spezifischen, besonders entemotionalisierten psychischen Struktur, die sich aufgrund ihrer Isoliertheit von der Bevölkerung entwickelt und dazu geführt hat, daß elementare, im emotionalen Bereich begründete Beurteilungsmaßstäbe abhanden gekommen sind. Sie zeichnen sich durch andere Angstbewältigungsmechanismen aus.

Es ist in hohem Maße fraglich, ob die Gesellschaftsmodelle, die diesen Konzeptionen zugrundeliegen, die Wirklichkeit auch nur annähernd wiedergeben. Auch die behaupteten unterschiedlichen psychischen Strukturen bei „Bevölkerung“ und „Politikern“ sind bloße Postulate und noch nachzuweisen. Besonders auffällig ist an den Positionen, daß die konkreten Lebensbedingungen der Menschen nirgendwo auftauchen, daß die psychischen Prozesse losgelöst von den „objektiven und subjektiven Handlungsnotwendigkeiten und -behinderungen“ (Holzkamp-Osterkamp 1985, 13) gesehen werden. Wenn ein Politiker in finanziell gut dotierter Position und ein Facharbeiter in einem Rüstungsbetrieb übereinstimmende Auffassungen in der Rüstungsfrage haben, dann soll dies im wesentlichen Ergebnis einer psychischen Dynamik sein, die bei beiden vergleichbar sein soll? Wenn man die zitierten Positionen konsequent zu Ende denkt, muß man zu dieser wenig einleuchtenden Schlußfolgerung kommen.

Die Ursache von Psychologismen

Zum Schluß möchte ich noch einige Bemerkungen zur Frage machen, wie es vermutlich zu Psychologisierungen kommt. Ich habe bereits betont, daß ich ihren Urhebern keine bösen Absichten unterstelle – im Gegenteil. Es sind meines Erachtens Versuche, aus der Sicht von Psychologen einen Beitrag zur Ursachenklärung von Krieg und Frieden zu leisten und darüberhinaus zur Verhinderung von Krieg und Herstellung von Frieden aktiv beizutragen. Insofern sind sie vergleichbar den Bemühungen eines Mathematikers, die Rüstungsdynamik mathematisch zu formalisieren und Vorschläge für die Veränderung von Parametern zu entwickeln, die den Vorstellungen gemäß zu friedlichen Bedingungen führen sollen.

Eine Erklärung für Psychologismen wie für andere Ismen aus der Sicht eines kognitiven Psychologen könnte so aussehen: Menschen neigen dazu, Analogien und Metaphern aus ihnen bekannten Bereichen zu verwenden, um Unerklärtes zu strukturieren und einer Erklärung näherzubringen. Beispiele sind etwa die „Dampfkessel“-Metapher für aggressive Energien oder Regelkreis-Metaphern für zielgerichtetes Handeln. Voraussetzung dafür ist eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Metapher und dem zu erklärenden Phänomen. In der Tat erscheint das Wettrüsten irrational, unvernünftig, obwohl seine Apologeten rationale Begründungen dafür liefern. Diese Situation ist einer Paranoia, einem menschlichen Wahn ähnlich. Es liegt nahe, insbesondere für einen therapeutisch tätigen Psychologen, beide Situationen zueinander in Beziehung zu setzen. Als eine erste Annäherung an eine theoretisch haltbare Erklärung ist die Verwendung von Metaphern und Analogien plausibel und vertretbar. Problematisch ist es, wenn dieser erste Schritt zu einer Theorie für eine solche erklärt wird und dadurch die theoretische Weiterentwicklung blockiert wird.

Der Anspruch, möglichst unmittelbar mit bereits bekannten Methoden friedenspolitisch wirksam zu werden, begünstigt die Psychologismen. Geradezu zwingend folgt daher aus der Analogie der Aufrüstung als psychischer Krankheit die Analogie des Abrüstungsprozesses als Therapie.

Psychologismen finden wir auch in anderen Bereichen der Psychologie, doch sind diese nicht so bekannt. So wird der Aufrüstungsprozeß spieltheoretisch bzw. entscheidungstheoretisch analysiert oder der Ost-West-Konflikt wird unter dem Gesichtspunkt gestörter Kommunikation der Supermächte gesehen. Auch hier werden Analogien verwendet, die in der Regel einige Aspekte des Problems plausibel zu strukturieren helfen. Insgesamt beschreiben sie die Situation unzureichend, wie alle Analogien und Metaphern. Hier ist die Psychologie gefordert, ihren möglichen Beitrag zu entwickeln. Vor allzu einfachen und schnellen Antworten sei aber gewarnt (vgl. auch Hoffman 1986 für die US-amerikanische psychologische Friedensforschung).

Literatur

Claus, G. et. al. (Hg.) (1976), Wörterbuch der Psychologie, Köln: Pahl-Rugenstein.
Drover, J., Fröhlich, W. (1970), Wörterbuch zur Psychologie, 3. Auflage, München: dtv.
Eibl-Eibesfeldt, I. (1975), Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung, München/Zürich.
Einstein, A., Freud, S. (1972 [1932]), Warum Krieg? Zürich: Diogenes.
Frank, J. D. (1968), Muß Krieg sein? Darmstadt: Verlag Darmstädter Blätter.
Fromm, E. (1977), Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek: Rowohlt.
Hoffman, S. (1986), On the political psychology of peace and war: A critique and an agenda. Political Psychology 7(1), 1-21.
Holzkamp-Osterkamp, U. (1985), Psychologisierung der Friedensfrage und „Supermacht-Theorie“, Argument-Sonderband 126, Berlin, Argument-.Verlag.
Jäger, S. (1982), Kann es einen Beitrag der Psychologie zur Friedensforschung geben? In: K. Benne, C. Krämer & Y. Seyrer (Hg.), Beiträge der Psychologie zum Friedenskampf. Ist der Mensch zum Frieden fähig? FU Berlin.
Keen, S. (1983), Apocalypse soon! Psychologie heute Sonderband: Die Seele und die Politik, 152-155.
Keen, S. (1984), Feind-Bilder. Psychologie heute, Sonderheft: Warum nicht Frieden? 36-51.
Komm, M. (1984). Ist der Mensch zum Frieden fähig? Ethologen zur Problematik von Krieg und Frieden. In W. Eichhorn I, H. Schulze (Hg.), Philosophie im Friedenskampf. Frankfurt a.M.: Verlag Marxistische Blätter, 92-107
Lorenz, K. (1963), Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien.
Lorenz, K. (1973), Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, München.
Mansfield, S. (1983), Warum Krieg? Ein Gespräch mit Sue Mansfield. Psychologie heute, Sonderband: Die Seele und die Politik, 132-143.
Markard, M. (1982), Welchen Beitrag kann die Psychologie zur Friedenssicherung leisten? In: K. Benne, C. Krämer, Y Seyrer (Hg.). Beiträge der Psychologie zum Friedenskampf. Ist der Mensch zum Frieden fähig? FU Berlin.
Nicolai, G. E (1982) (erstmals 1919), Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines Naturforschers. Den Deutschen zur Besinnung. (3. Auflage), Darmstadt: Verlag Darmstädter Blätter.
Richter, H. E. (1982a), Zur Psychologie des Friedens, Reinbek: Rowohlt.
Richter, H. E. (1982b), Psychoanalytische Aspekte der Friedensfähigkeit. In: Psychosozial 15: Einmischung in Politik. Psychologisches zu Krieg und Frieden. Reinbek: Rowohlt, 19-8.
Richter, H.E. (1985), Psychotherapie und Militarismus. Mediatus Nr. 3/1985, 5.7 (Auch veröffentlicht unter dem Titel: Friedensarbeit als Resultat eines psychosozialen Lernprozesses – Subjektive Reflexionen eines Psychoanalytikers. In: 2. Kölner Ringvorlesung zu Fragen von Frieden und Krieg, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1985.)
Stein, H. E (1983), USA: Krieg aus Selbstmitleid? Psychologie heute, Sonderband: Die Seele und die Politik, 144-151.

Dr. Winfried Mohr, Psychologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Hochschule Darmstadt

Friedliche Psychologie? (II)

Friedliche Psychologie? (II)

von Paul Brieler

Dieser Beitrag ergänzt bzw. aktualisiert die Aufstellung über die zivil-militärische Zusammenarbeit im Bereich psychologischer Forschung 3. Vorher noch einige weiterführende Betrachtungen zur Liaison ziviler und militärischer Psychologie, beginnend mit der Frage, wie diese aneinander geraten.

Ein Tätigkeitsbereich der Bundeswehrpsychologen umfaßt die systematische Prüfung der neuesten Ergebnisse und Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung und Praxis auf ihre militärische Verwertbarkeit hin. Dies wird z.B. durch eine bevorzugte Bedienung durch die Datenbank der Zentralstelle für Psychologische Information und Dokumentation an der Universität Trier erleichtert. Eine weitere Möglichkeit bieten Fortbildungsveranstaltungen. Im Inland werden die Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGfP)und des Berufsverbands Deutscher Psychologen (BDP) regelmäßig mit einer größeren Teilnehmerzahl aus dem psychologischen Dienst der Bundeswehr (PsychDstBw) beschickt. Eine begrenzte Teilnehmerzahl besucht zudem regelmäßig die

„- Tagungen experimentell arbeitender Psychologen

– Kongresse für Arbeitswissenschaft

– Kongresse für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

– BDP-Workshops „Politische Psychologie“

– Lindauer Therapiewochen

– Kongreß Verhaltenstherapie.“ 2, S. 93

Zusätzlich werden Teilnehmer zu weiteren themenspezifischen Tagungen im Inland und zu internationalen Kongressen ins Ausland entsandt (ebda.).

Als Teilnehmer am 30. Kongreß der DGfP 1976 z.B. sind mindestens 17 Bundeswehrpsychologen aufgeführt 1. Der Nutzen der Kongreßbeiträge für die praktische wehrpsychologische Tätigkeit wurde je nach Berichterstatter durchaus kritisch gesehen. Jedoch fielen Forschungsberichte zur computergestützten Psychodiagnostik positiv ins Auge: „Über den Fortgang … wird sich AG Flugpsychologie ständig informieren. Wenn das Verfahren „steht“, wäre evtl. über einen an das dortige Institut zu vergebenden Forschungsauftrag zu verhandeln, der die Entwicklung eines maßgeschneiderten psychologisch-psychiatrischen WFVU-Verfahrens zum Inhalt haben müßte“ schreibt der Chef-Flugpsychologe der Bundeswehr, D. Gerbert.

Erfolgreich gestalteten sich die aus der XIV. Konferenz der Western European Association for Aviation Psychology (WeMP) im Jahre 1981 hervorgegangenen Fachkontakte zu Prof. Guttmann, Universität Wien, die u.a. zum Abschluß eines Forschungsauftrags führten (s.u. / 2, S. 91).

Wehrpsychologische Forschungsprojekte werden nicht öffentlich ausgeschrieben, sondern ausgewählten, bekannten Forschern gezielt angeboten. Der PsychDstBw funktioniert dann als koordinierende Stelle 5. Eine andere Variante: bereits bewährte Forschungsnehmer kommen mit Forschungsvorhaben auf die PsychDstBw zurück. So wurde 1984 „durch Prof. Dr. L. Montada beauftragt, eine Untersuchung über die Zusammenhänge zwischen Feindseligkeit und Sicherheit vermittelnden Faktoren in der Bundeswehr zu unterstützen“ 2, S.45.

Welche Anforderungen werden an die Forschungspartner an den Universitäten gestellt? Sie müssen fachlich fit, d.h. in der scientific community anerkannt sein, und sollten von „politisch befriedeten“ Instituten kommen. Bestimmte Institutionen sind nach Aussagen von M. Rauch, dem Leiter des PsychDstBw, von vornherein wegen erwarteter Kontroversen innerhalb der Institute von Forschungsaufträgen ausgeschlossen 5.

Der Wehrpsychologe Steege räsoniert über „eine Gruppe Sozialwissenschaftler“ in der Bundeswehr, sie betrieben eine „permanente Konfrontation“ mit den Streitkräften „mit demagogisch anmutenden Mitteln und unter Benutzung von Feindbildern“ 6. „Vielmehr sollten die sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben in der Bundeswehr unter der Zielvorstellung stehen, die überhaupt mögliche bzw. sinnvolle Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft zu fördern“6. Kritische, die bestehenden Verhältnisse in der Bundeswehr hinterfragende Forschung, ist demnach unerwünscht. Bei „den Psychologen, die in der Bundeswehr sind, muß ein Zusammenhang bestehen, daß der Auftrag, unter dem die Streitkräfte tätig sind, identisch ist mit der persönlichen Auffassung, die man selbst hat bezogen auf den Einsatz oder den Bedarf von Streitkräften“ formulierte es M. Rauch in einem Radiointerview 4. Ähnliche Kriterien dürften auch für die Auswahl universitärer bzw. privatwirtschaftlicher Forschungsnehmer leitend sein. So erstaunt die Berücksichtigung ehemaliger Kollegen aus dem PsychDstBw, die die Gewähr einer rechten Gesinnung bieten, bei der Vergabe von Forschungsaufträgen nicht.

Es fällt auf, daß sich ein kleiner, relativ stabiler Kreis von universitären Forschungsnehmern gebildet hat, auf den der PsychDstBw zählen kann. Diese rekrutieren sich aus mehr als 60 % der Psychologischen Institute der BRD, die mindestens ein Mal an militärpsychologischer Forschung beteiligt waren 5. Weiterhin fällt die Entwicklung von wehrpsychologischen „Forschungsnestern“ an diversen psychologischen Instituten auf (Universität Bielefeld, etc.), wobei sich der Eindruck einer Bildung wehrpsychologischer Seilschaften aufdrängt.

Wie wird der Kontakt zu den externen Forschungsnehmern aufrechterhalten? Einmal durch die Einbindung in wehrpsychologische Informations- und Kommunikationsstrukturen: laut Verteiler der Arbeitsberichte der PsychDstBw werden diese auch an Personen außerhalb der Bundeswehr abgegeben, v.a. an diejenigen Kollegen an den Hochschulen, die bereits für die Bundeswehrpsychologie gearbeitet haben. Dann werden die Kontakte auf diversen Kongressen und Tagungen (s.o.) gepflegt und wird zur Teilnahme an militärpsychologischen Fachkongressen geladen. Auf der 26ten Jahrestagung der Military Testing Association 1984 in München z.B., die das erste Mal außerhalb des nordamerikanischen Kontinents abgehalten wurde, trat gleich eine ganze Batterie universitärer Forschungsnehmer auf, die wissenschaftliche Reputation der Bundeswehrpsychologie mit inhaltlichen Beiträgen abzusichern.

Dies alles deutet auf einen Einstellungswandel gegenüber der angewandten Psychologie im Militär hin. In einem Interview antwortete M. Rauch auf die Frage „Wurden die Bundeswehrpsychologen in der akademischen Welt isoliert?“: „Der Begriff isoliert würde bedeuten, daß wir uns ausgegrenzt erleben. Und da würde ich sagen: Das gilt also mit Sicherheit für die sechziger Jahre, auch für die siebziger Jahre teilweise. Das hat sich inzwischen zu einer gewissen Sachlichkeit hin entwickelt.“ 4 Das militärfeindliche Klima an den Hochschulen hat sich geändert, und den Bundeswehrpsychologen scheint es gelungen zu sein, sich eine stabile Repräsentanz von Kooperationspartnern in der universitären Forschung der letzten 20 Jahre zu sichern.

Mit Mohr 5, S. 27 ff. bleibt zu resümieren: es ist deutlich, daß „zuverlässige“ Militärforscher an den Universitäten angesprochen werden, um „sichere“ Experten für bestimmte wehrpsychologisch interessante Forschungsgebiete zu gewinnen. Dies fördert zwar eine Cliquenbildung, sichert aber die Auswahl ideologisch gefestigter Forscher, und verhindert unbequeme Diskussionen in der Fachöffentlichkeit um die Inhalte und die Auswirkungen militärisch induzierter psychologischer Forschung.

Anmerkungen

1 Berichte aus dem PsychDstBw über den 30. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vom 19.-23. September 1976 in Regensburg. Arbeitsbericht des PsychDstBw Nr A-2-77.Zurück

2 BMVg – P 114, Zusammenfassender Überblick über die Aktivitäten des PschDstBw in den Jahren 1983 1985. Wehrpsychologische Mitteilungen (20) 1986, H.1.Zurück

3 Brieler, R, Friedliche Psychologie. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden (3) 1985, H. 4, 26/27 Zurück

4 Geuter, U., Psychologie beim Militär. Radiosendung SDR, Südfunk 2 am 11.7.1987 Zurück

5 Mohr, W., Militarization of Psychology? On present relation between Psychology and the Military in West-Germany. Paper submitted to the Conference an ,,Science, Technology, and the Military“, Cambridge/Mass., January 8-10, 1987 Zurück

6 Steege, EW., Die Bundeswehr und ihre Sozialwissenschafller – Wehrpsychologische Reflektionen über Wissenschaft und Ideologie. Arbeitsbericht des PsychDstBw Nr. SO-1-83. Zurück

Paul Brieler ist Psychologe in Berlin (West)

Psychologie und Militär: Kampfkraftsteigerung durch freiwillige Unterwerfung

Psychologie und Militär: Kampfkraftsteigerung durch freiwillige Unterwerfung

von Paul Brieler

Das Schlachtfeld der Zukunft wird, folgt man dem Air-Land-Battle-Konzept der US-Army, von enormer Zerstörungskraft gekennzeichnet sein, die zu großer Verwirrung und einem hohen Angstpotential unter allen Beteiligten führen wird.

„Conventional weapons have become far more lethal than before, and the possibility of Chemical and tactical nuclear warfare is very real (…) Soldiers will have to fight continuously with little or no rest because of night fighting capabilities. Rear areas, which have normally been relatively secure, are likely to be effectively attacked, and battle lines will be very unclear with both sides operating behind each other´s lines with substantial forces.“ (Hunt and Blair 1984, 620)

Oder wie General Gorman sehr prägnant – „in an athletic analog, a way of describing warfare which is always more comfortable for Americans than most“ (1981, 21) – die Erwartungen an den Landkrieg nach 1990 ausdrückt:

  • „Conflict more analogous to soccer than football
  • Continuous action vs. „downs“
  • Offense and defense vs. specialists
  • Fluid conditions vs. fixed plays
  • Major concentration of troops and equipment may not be practical
  • Tactical nualear weapons and wide-area munitions (…)
  • New trade-offs among mobility, agility and firegower“

(ebda, 39)

Eine solch „amorphe Kriegsführung“ erzeuge eine Vielzahl neuer Anforderungen sowohl an die kulturelle Entwicklung als auch an Wissenschaft und Technik. Bereits heute gäbe es Probleme, weil die Soldaten nicht mehr adäquat mit den fortgeschrittenen technischen Möglichkeiten fertig würden.

Wie sich Militärpsychologen den veränderten Anforderungen an eine schlagkräftige Armee der Zukunft stellen, soll an einem Schwerpunkt Angewandter Militärpsychologie, der Psychologie in der militärischen Ausbildung und Bildung verdeutlicht werden.

Verbesserung militärischer Führung durch Truppenpsychologie

Den augenblicklichen Kenntnisstand vermittelt das Handbuch „Truppenpsychologie“, mit dem der Versuch unternommen wird, „Psychologische Erfahrungen und Erkenntnisse für die militärische Führungspraxis aufzubereiten“ (1986, VII), insbesondere für den Einsatz im Bereich der Ausbildung militärischer Führer.

Unter „zeitgemäßer und truppennaher“ Menschenführung wird die „Strukturierung und Anpassung der militärischen Gruppe an die Sachzwänge des Auftrags, ohne daß unter den belastenden Bedingungen im Einsatz der Gruppenzusammenhalt verloren geht“ (ebda, 10) verstanden. Im Rahmen des „Führungsvollzugs“ sind die untergebenen Soldaten in ihrer Leistungsbereitschaft zu motivieren, in der Reduzierung von Belastungen und der Bewältigung von Krisen zu unterstützen sowie nach Einsätzen zu versorgen. Besonders betont wird die Bedeutung des militärischen Führers auf allen Führungsebenen „als der Schlüssel zum Erfolg auf dem Gefechtsfeld“ (ebda, 112). Ihm sollen psychologisch fundierte Erkenntnisse und Methoden für die Meisterung seiner alltäglichen Aufgaben an die Hand gegeben werden.

In einer der exemplarisch angeführten sogenannten „Führungshilfen“ für das Führungsproblem „Belastungsminderung“ wird der Vorbereitung auf Wettkämpfe psychologisch zu Leibe gerückt. Ein Bataillonskommandeur sorgte sich um den Leistungsabfall seiner Soldaten von 30 % im Gegensatz zu den Trainingsergebnissen im Panzerwettschießen. Seine Frage an den Wehrpsychologen: „Wie kann der Leistungsabfall im Wettkampf verringert werden?“

Nachdem der Psychologe die Angst und Aufregung verursachenden Faktoren analysiert hatte, wurden die Ausbilder in die „Progressive Relaxation“ eingewiesen, um mit den Soldaten täglich Entspannungsübungen durchzuführen. Gleichzeitig wurde durch ein Desensibilisierungsprogramm die Beseitigung der angstauslösenden Faktoren angestrebt. Über das fachliche Training hinaus wurde die Wettkampfsituation in all ihren Facetten beleuchtet, und Alternativen zum üblichen Freizeitverhalten wurden gefördert. Der Erfolg stellte sich ein: das Bataillon hat den Gesamtsieg errungen, die Leistungen haben lediglich um 4,6 % abgenommen.

Diese Führungshilfe verdeutlicht prototypisch den „Erfolg“ einer psychologisch unterstützten Wettkampfvorbereitung und scheint geeignet, breiter in der militärischen Ausbildung eingesetzt zu werden, um die Kampfbereitschaft der Truppe zu erhöhen die Abschußquote gegnerischer Panzer läßt sich auf diesem Wege (signifikant) steigern.

In einer anderen, für das Führungsproblem „Leistungsmotivierung“ ausgearbeiteten „Führungshilfe“ wird „Das persönliche Gespräch: Motivation durch Kommunikation“ als ein adäquates Führungsmittel eingeführt, das „den Untergebenen als eigenständiges Wesen begreift, befähigt zum wirkungsvollen soldatischen Handeln aus innerer Überzeugung“. Die Stärke dieses Führungsmittels bestehe darin, daß „es dem Untergebenen eine eigene Entscheidung ermöglicht und ihm die Verantwortung für sein Handeln beläßt“ (ebda, 207). Nun, wie sich dieser Anspruch mit der Hierarchie und den realen Machtverhältnissen in der militärischen Organisation verträgt, wird in der Führungshilfe offenbar. Nach einer anschaulichen Einführung in verbale und nonverbale Techniken werden im Kapitel „Gesprächsablauf“ auch die Vor- und Nachteile von Beeinflussungsmöglichkeiten vom Vorschlag bis zum Beispiel erörtert.

„Die Möglichkeiten der psychologischen Beeinflussung sind außerordentlich vielseitig und je geschickter der Vorgesetzte vorgeht, um so geringer wird die Notwendigkeitsein, auf der Stufenleiter des indirekten oder direkten Zwangs nach oben zu klettern. Dem nicht-direkten Gesprächsführungsstil, der geschickte, vom Gesprächspartner unbemerkte Suggestionen enthält, ist im Zweifelsfall der Vorzug zu geben.“ (ebda, 200)

Der Erfolg solcher psychotechnokratischen Trainingsprogramme drückt sich in der militärischen Leistung, Moral, Disziplin und Kameradschaft als Indikatoren für eine erfolgreiche Menschenführung und damit für die Kampfkraft der Truppe aus (ebda, 11 ff.). Das Verständnis bundesdeutscher Wehrpsychologen von Moral und Disziplin, abgeleitet aus US-Army-Vorschriften, illustriert das Sieb, durch das der emanzipatorische Gehalt der im Militär eingesetzten psychologischen Theorien fällt.

„Die Moral ist die geistige Einstellung, die ein Soldat oder eine Einheit gegenüber dem Leben in der Armee und allem, was damit zusammenhängt, einnimmt. Eine gute Moral zeigt sich in dem positiven Streben der Soldaten, noch über das Erwartete hinauszugehen und Eifer und Begeisterung gegenüber den Wünschen des Führers zu entwickeln.“ (ebda, 11)

Weiterhin erwachse die „psychische Bereitschaft zum Kampf“ aus dem Vertrauen der Soldaten in die militärische Führung und aus dem Stolz auf das Vaterland. Ein solches demokratisch legitimierten militärisches Verständnis von Moral hebt allein auf die Kampfbereitschaft und -fähigkeit der Soldaten ab und blendet dem Humanismus verpflichtete moralisch-ethische Wertvorstellungen wie die Achtung vor dem menschlichen Leben systematisch aus.

Ebenso befremdlich stimmen die Ausführungen zur Disziplin, die eher an vergangene Zeiten des militärischen Kadavergehorsams erinnern.

„Disziplin ist die Haltung des einzelnen und der Gruppe, die sicherstellt, daß Befehle sofort befolgt und bei Nichtvorhandensein eines Befehls die erforderlichen Maßnahmen getroffen werden. Wird das in einer Einheit erreicht, dann herrscht eine Haltung vor, die die Soldaten zu Handlungen veranlaßt, die von ihnen erwartet werden und die sie, wenn man es ebenfalls von ihnen erwartet, aus starker innerer Überzeugung tun. Eine gute Disziplin ist konstant und funktioniert, ganz gleich, ob äußerer Druck oder Aufsicht vorhanden ist oder nicht.“ (ebda, 12)

Wenn dies durch „sanfte“ Führungstechniken reibungsloser erreicht werden kann als durch das rigide Prinzip „Befehl und Gehorsam“, hat Psychologie im Militär ihre Bestimmung erfüllt.

„Psychische Fitness“ als Forschungsaufgabe der NATO

Die wehrpsychologischen „Führungshilfen“ orientieren sich noch nicht explizit an den Bedürfnissen des zukünftigen Schlachtfelds, wiewohl die grundsätzliche Richtung zu stimmen scheint.

Darüber informiert Aschenbrenner (1984) in seinem Bericht zum Forschungsstand der NATO Research Study Group 10 „Psychological Fitness“. Die Forschungsgruppe stützt ihre weiteren Überlegungen auf die Grundannahme, Psychische Fitness sei „a psychobiological condition which is embedded in longerlasting psychological and biological charakteristics. It leads to attitudes, intentions, and the activation of taskrelevant behaviour under difficult circumstances (e.g. physical aggression, extreme temperatures, psychologically hostile environment, sleep Deprivation, lack of nutrition) in Order to accomplish (military tasks) in a way being appropriate to skills within the frame of attitude and training.“ (ebda, 7) Ziel ist, den Faktor „Psychologische Fitness“ von Individuen und Gruppen in der militärischen Auftragserfüllung zu erhöhen was im alltäglichen militärischen Dienst nur wenige, spezifische Verwendungen betrifft, in Extremsituationen wie einem Krieg jedoch von grundlegender Bedeutung sein wird. Einige Empfehlungen der Forschungsgruppe:

  • Die Auswahl von Personal mit relativ hoher Psychischer Fitness wird zu einer Steigerung der Kampfbereitschaft beitragen; dies muß sich auf militärische Bereiche, die hohe Kampfbereitschaft erfordern, beschränken.
  • In diesen Bereichen wird eine Verbesserung der Psychischen Fitness angestrebt. Wenn möglich, müssen Ausbildungsvorhaben die Soldaten realitätsnah simulierten Gefechtsbedingungen aussetzen.
  • Das für die Entwicklung von Auswahl- und Ausbildungsstrategien notwendige Wissen soll durch wissenschaftliche Analysen von ausgewählten, durch hohen Streß und hohe Arbeitsbelastung gekennzeichnete militärische Tätigkeiten gewonnen werden.
  • Die Entwicklung eines einheitlichen, sprachfreien NATO-Tests zur Psychischen Fitness soll forciert werden.
  • Alles vorliegende Wissen von wirklichen Kampfsituationen soll so weit wie möglich in die Forschung einbezogen werden. Zudem wird festgestellt, daß das heutige Wissen über die Beziehungen zwischen der Ausbildungsleistung im Frieden und der tatsächlichen Kampfbereitschaft unzureichend ist.

Im weiteren wird u.a. auf interessante Forschungsergebnisse zur Messung Psychischer Fitness hingewiesen, die aus Forschungsaufträgen, die von der Bundeswehr finanziert wurden, resultieren (Prof. Guttmann, Fröhlich, MBB). Hier wird deutlich, wie unversitäre psychologische Forschung direkt an militärischen Programmen zur Kampfwertsteigerung mitwirkt.

Außerdem greifen die Bemühungen um den hoch belastbaren und hoch motivierten Soldaten auf die Erfahrungen und Daten der israelischen Militärpsychologen – „accumulated over a period of about 30 years, with four or five wars in between“ (Gal 1983, zit. n. Aschenbrenner 1984, 13) – zurück, so daß auch aus diesen Kriegen noch nützliches Kapital geschlagen wird.

Psychische Belastungen auf dem nuklearen Schlachtfeld

In den Kriegsszenarien wird mit dem Einsatz nuklearer Gefechtsfeldwaffen gerechnet. Der militärischen Logik gemäß, allen Eventualitäten gegenüber gewappnet zu sein, müssen sich die Militärpsychologen auch mit den Folgen des Einsatzes nuklearer Waffen für die Psychische Fitness auseinandersetzen.

Einen Abriß über die zu erwartenden Auswirkungen des taktischen Nuklearkriegs auf die soldatische Psyche, der im Rahmen des „Defence Nuklear Agency´s Intermediate Dose Program“ erstellt wurde, gibt Sessions (1984). Die psychische Komponente der Reaktionen von Kampftruppen im taktischen Nuklearkrieg beunruhigt militärische Planer und Führer, die für die Vorbereitung der Streitkräfte auf diese Möglichkeit verantwortlich sind. Bisher gibt es nur geringe Informationen über die Auswirkungen eines nuklearen Angriffs auf die emotionale Stabilität, die Moral und die Motivation der Soldaten, ihren militärischen Auftrag auszuführen. Die Ergebnisse:

  • Die Opfer aufgrund psychischen Zusammenbruchs werden in einem mit Nuklearwaffen geführten Konflikt höher sein als in jedem bisherigen, mit konventionellen Waffen geführten Krieg.
  • Es sind weniger neuro-psychiatrische Ausfälle als vielmehr psychische Störungen, die zur Schwächung der Kampfkraft führen.
  • Die sofortige Wirkung eines nuklearen Angriffs wird ein intensiver, traumatischer, emotionaler Reiz sein, der Soldaten untauglich zur Ausführung militärischer Routinedienste macht.
  • Für die Überlebenden wird ein Status emotionaler Störungen erwartet, gekennzeichnet durch ein erschüttertes, abgestumpftes Gefühl, mit Verhaltensmöglichkeiten, die kaum über das unmittelbare Überleben und die Flucht vor der Gefahrenquelle hinausgehen.
  • Nur in wenigen Fällen wird es zu einem heldenhaften, zielorientierten, selbstlosen Verhalten kommen.

„The variables affecting the susceptibility to and severity of emotional disruptions include training and preparedness, combat experience, leadership, unit cohesion, perceived degree of banger, degree of Chaos and destruction in the immediate environment, and degree of isolation. Variables affecting and preparedness, leadership in the immediate posttrauma period, cohesiveness and group support, and immediacy, expectancy, and proximity of psychiatric first aid treatment.“ (ebda, 103)

Abschließend wird auf die Relevanz einer realistischen, aufklärenden Vorbereitung von Soldaten hingewiesen, damit diese das traumatische Erlebnis des Nuklearkriegs in militärisch zufriedenstellender Weise bewältigen können – denn der Krieg muß weitergehen.

Ein anderes im Zusammenhang des DANN-Forschungsprogramms durchgeführtes Projekt beschäftigt sich mit den Wirkungen von Ganzkörperverstrahlungen auf die Leistungsfähigkeit militärischen Personals (Young and Auton 1984). Die Autoren berichten über die Entwicklung eines Fragebogens, der Aussagen über die Auswirkungen von „sehr risikoreichen Umgebungen“ auf die militärische Leistungsfähigkeit möglich mache. Sie gehen davon aus, daß 50 bis 75 % der Soldaten, die von einem taktischen Nuklearwaffenangriff betroffen seien, eine Strahlendosis von 150 bis 3000 rad erhalten – 150 rad bedeutet, mit hoher Wahrscheinlichkeit strahlenkrank zu werden, und 650 rad werden als „Latent Lethal Dose“ bezeichnet. Diese Forschungsanstrengungen sind wichtig für die militärischen Planungen, um das Verhalten des Faktors Mensch auch in extremen Situationen berechnen und dementsprechend einsetzen zu können, sind jedoch vor dem Hintergrund der Vernichtungsdimensionen eines Atomkriegs nur als pervers zu bezeichnen.

Hunt and Blair (1984, 624) weisen zum Abschluß ihres Plädoyers für eine umfassende Berücksichtigung derjenigen Faktoren, die militärische Führung auf dem Schlachtfeld der Zukunft beeinflussen werden, darauf hin: „Segal (…) reminds us that the future battlefield scenario outlined here may he only one mission in which the future army is likely to engage. The peacekeeping role appears to be an increasingly common one (e.g., Lebanon and the Sinai) (…) These differing missions also reminds us that, not only does there need to be a concern with organization and leadership on the hi-tech battlefield, but the Army must also function effectively in peacetime and quasi-peacetime as well.“

Die weitere „friedenssichernde Rolle“ der Bundeswehr ist eher in einer innenpolitischen Ordnungsfunktion zu sehen. Die Schule für Psychologische Verteidigung z.B. schult Soldaten, Mandatsträger und zivile Beamte in entsprechenden Positionen in über 40 Lehrgängen jährlich (1977) in „Konfliktbewältigung durch Kommunikation“. Die Teilnahme verspricht den Erwerb nützlicher Kenntnisse für die Befriedigung der Zivilbevölkerung sowohl in Katastrophenfällen (wie Bürgerprotesten oder technischen Katastrophen) als auch in einem Krieg in Mitteleuropa und ist somit von militärischer Relevanz.

Festzuhalten bleibt: Angewandte Militärpsychologie bemüht sich um den einzelnen Soldaten um des militärischen Auftrags willen und leistet einen gewichtigen Beitrag zur Anpassung der Individuen an veränderte militärische Anforderungen. Durch breiten Einsatz verfeinerter psychologischer Techniken in der Ausbildung und zur Beeinflussung von Menschen werden die militärischen Anstrengungen zur Optimierung der Kampfbereitschaft unterstützt.

Literatur

Aschenbrenner, H., „Research on Psychological Fitness – Results and Future Activities of a NATO research Study Group“. Arbeitsbericht des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr, Nr. EA-2-84, 1984.
BMVg – P 114 (Hg), Der Psychologische Dienst der Bundeswehr, Überblick über Aufgaben und Organisation, Bonn 1985.
Brieler, P., „Der gläserne Soldat“. Psychologie heute (13) 1986, H. 12, 56-61.
Gorman, P. F., „A Rumination on Wars Ahead. Remarks to the Military Testing Association“. Proc. 23rd Ann, Conf. of the Military Testing Association, Vol. l. US Army Research Institute for the Behavioral and Social Sciences. Arlington, VA. 1981, 17-69.
Hunt, J. G. and Blair, J. D., „Leadership on the Future Battlefield: System-Wide Perspectives“. Proc. 9th Symposium Psychology in the Department of Defence. Colorado Springs, CO. 1984, 620-624.
Mohr, W., „Militarisation of Psychology? On present relations between Psychology and the Military in West-Germany“. Paper submitted to the Conf. on „Science, Technology and the Military“, Cambridge, Mass., January 8-10, 1987.
Mohr, W., „Unser Seelenleben im Kriege“. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden (3) 1985, H. 2, 6-8.
Riedesser, P., Verderber, A., Aufrüstung der Seelen. Militärpsychologie und Militärpsychiatrie in Deutschland und Amerika. Freiburg: Dreisam-Verlag 1985.
Sessions, G. R., „A Summary of the Psychological Effects of Tactical Nuklear Warfare“. Proc. of the 9th Symposium Psychology in the Department of Defence. Colorado Springs, CO. 1984, 100-104.
Truppenpsychologie. Psychologische Führungshilfen für die Truppenpraxis. Mit Beitr. v. W. Fritscher, H. Schuh, A. Kaiser, P. Ehmann, L. Heidenreich, J. Leifert, H. Klüver u. K. Thanscheidt. München: Verlag für Wehrwissenschaften 1986.
Young, R. W. and Auton, D. L., „The Defence Nuciear Agency Intermediate Dose Programm: An Overview (Effects of Total-Body Irradiation on the Performance of Personnel in Army Combat Crews)“. Proc. of the 9th Symposium Psychology in the Department of Defence. Colorado Springs, CO. 1984, 85-89.

Paul Brieler ist  Psychologe, Berlin (West).

Vernachlässigtes Thema „Militär“.

Vernachlässigtes Thema „Militär“.

Zur Situation in den Gesellschaftswissenschaften und der Psychologie

von Ralf Zoll

Die hochaktuelle Problematik einer Militarisierung der Hochschulen als Teilaspekt einer Militarisierung der Gesellschaft läßt sich in einem kurzen Beitrag nur anreißen. Ich verzichte deshalb auf eine Erläuterung des Begriffs Militarisierung; zum anderen kann ich auch nicht auf die Schwierigkeiten eingehen, die mit dem Begriff Gesellschaftswissenschaften verbunden sind. Meine Ausführungen und Materialien beziehen sich weitgehend auf die Soziologie, gleichsam als Kontrapunkt verweise ich auf die Entwicklungen in der Psychologie.

Gibt es eine Militarisierung der Soziologie?

Nach einem allgemeinen Verständnis dieser Frage müßte meine Grundthese lauten: Es gibt keine Militarisierung soziologischer Forschung und Lehre! Ich stelle zur Diskussion, ob es nach den Materialien, die ich präsentieren werde, nicht gerechtfertigt ist, es als Zeichen einer Militarisierung anzusehen, daß es dem Militär gelang, sich der öffentlichen Kontrolle durch sozialwissenschaftliche Forschung zu entziehen.

Orientiert am Sachgebiet und an den Titeln wurden alle laufenden und abgeschlossenen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ausgezählt und eingeordnet, welche in den Forschungsdokumentationen des Informationszentrums Sozialwissenschaften für die Jahre 1974-1977 enthalten waren. Die Dokumentation gilt als einigermaßen umfassend, zumindest was die Forschungen von wissenschaftlicher Bedeutung angeht. Um die Ausgangsfrage genauer beantworten zu können, haben wir die Forschungsvorhaben nicht nur nach Themenbereichen, sondern auch noch danach unterschieden, ob die Studien von einer zivilen oder von einer bundeswehreigenen Forschungsinstitution durchgeführt wurden.

Zentrales Ergebnis ist erst einmal, daß von 1974-77 110 Studien mit etwa einschlägiger Themenstellung ermittelt werden konnten; die 110 Studien machen allerdings nur ca. 3 % aller registrierten Untersuchungen aus. Die inhaltliche Struktur der 110 Studien ergibt sich aus der folgenden Tabelle.

In den Jahren 1974-1977 laufende und abgeschlossene Forschungen zum
Thema Militär
Institutionen und Forschungseinrichtungen
Bundeswehr Zivile Insgesamt
Themenbereiche absolut in % (n=57) absolut in % (n=53) absolut in % (n=110)
Verteidigung im Rahmen internationaler und nationaler Sicherheitspolitik 5 8,8 37 69,8 42 38,2
Verfassungsmäßige Bezüge der Verteidigung (normativer Aspekt) 2 3,8 2 1,8
Politische Praxis der Wehrerfassung 6 10,5 2 3,8 8 7,3
Gesellschaftliche und ökonomische Bezüge der Verteidigung 13 22,8 6 11,3 19 17,3
Bundeswehrinterne Aspekte (Bundeswehr als Organisation) 33 57,9 6 11,3 39 35,4
Insgesamt 57 100 53 100 110 100
  • Nahezu 75 % aller Projekte betreffen Fragen der Verteidigung im Rahmen internationaler und nationaler Sicherheitspolitik oder bundeswehrinterne Aspekte, wobei beide Bereiche fast gleiche Anteile aufweisen (42 gegenüber 39 Projekten); die gesellschaftlichen Bezüge der Verteidigung sind nur in gut 17 % der Studien zentrales Thema;
  • mehr als die Hälfte der Untersuchungen (51,8 %) wurden von bundeswehreigenen Forschungseinrichtungen durchgeführt (bes. Hochschulen der Bundeswehr, Wehrpsychologische Gruppe und Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr);
  • die zivilen Forschungsinstitutionen befassen sich weit überwiegend, nämlich zu fast 70 % mit Problemen der Verteidigung im Rahmen nationaler und internationaler Sicherheitspolitik. Als Ursache für diese Konzentration des Interesses könnte die größere Zugänglichkeit von erforderlichen Materialien in diesem Bereich gegenüber solchen zu eher bundeswehrinternen Problemen angeführt werden. Dennoch dürfte hier kaum die allein ausschlaggebende Ursache liegen, da die Datenlage für ökonomische Fragestellungen weitaus günstiger aussieht und dennoch auch nur gut 11 % der Projekte in diese Kategorie fallen.
  • Erwartungsgemäß analysieren bundeswehreigene Forschungseinrichtungen schwerpunktmäßig bundeswehrinterne Fragen. Die Dominanz dieses Bereichs ist mit knapp 58 % dabei nicht ganz so groß wie die sicherheitspolitischen Aspekte bei den zivilen Institutionen. Immerhin wurden vergleichsweise über doppelt soviel Studien durch die Bundeswehr zum Thema „gesellschaftliche Bezüge der Verteidigung“ durchgeführt. Ausgehend von der Zahl und Verteilung der laufenden und abgeschlossenen Studien für die Jahre 1974-1977 läßt sich kaum davon sprechen, daß sich die Sozialwissenschaften zureichend mit dem „Militär“ befassen. Eine Aktualisierung der Zahlen ergibt ein ähnlich negatives Bild für die Jahre 1983-1984. Das gleiche trifft die Zeitschriften zu.

Gründe für die Vernachlässigung des Militärs durch die Sozialwissenschaften

Es gibt vielfältige Gründe, die erklären helfen, warum die Sozialwissenschaften sich wenig mit dem Gegenstand Militär beschäftigt haben.

Seit den Gründungsvätern der Soziologie, seit Saint-Simon und Comte, haben sozialwissenschaftliche Denker das Militär häufig als Relikt aus feudalen Gesellschaften, als fortschrittsfeindliche, konservative politische Kraft bezeichnet. Dieser analytischen und weltanschaulichen Antihaltung entspricht auf Seiten des Militärs eine tiefgreifende Bildungsfeindlichkeit. Das militärische Personal wurde noch bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts in Deutschland (BRD) eher nach Schichtenzugehörigkeit (etwa Adel) und „richtiger Gesinnung“ (erwünschte Kreise) rekrutiert, denn nach Kriterien etwa der vorhandenen bildungsmäßigen Qualifikationen.

Auf Seiten der Universitäten ist weiter zu vermerken, daß das deutsche Bildungsverständnis die Beschäftigung von Wissenschaften und Problemen des Alltags, gar mit solcher politischen Relevanz nicht gerade gefördert hat. Demgemäß entwickelt sich die empirische, vor allem die angewandte Forschung nur sehr langsam und im Vergleich zu anderen Ländern, etwa den USA, auch noch sehr verspätet.

Aber auch als sich empirische Sozialforschung in der BRD etabliert hatte, verhinderte die oft vorgenommene fälschliche Identifikation eines Forschers mit seinem Forschungsgebiet eine Abmilderung oder Umkehr des historischen Trends. Schließlich sind ebenso die bekannten Geheimhaltungsphobien zu nennen, welche die Zugänglichkeit des Untersuchungsgegenstandes über das für bürokratische Organisationen übliche Maß hinaus einschränkten.

Die Tatsache, daß sozialwissenschaftliche Forschung zum Gegenstand „Militär“ intensiver durch das Militär oder in seinem Auftrag betrieben wurde als von unabhängigen zivilen Forschungseinrichtungen, bedarf einer näheren Erläuterung.

Faktische Beziehungen zwischen Militär/Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und den Sozialwissenschaften: Bundeswehreigene Forschungskapazitäten

In den siebziger Jahren schätzte ein Insider die Höhe der Mittel, die für sozialwissenschaftliche Forschung von der Bundeswehr bis dato ausgegeben worden waren, auf über 100 Mio. DM. Je nach Berechnungsgrundlage kann man bis heute von dem doppelten Betrag ausgehen, wobei interne wie Vergabekosten zusammengezogen sind.

Forschungskapazitäten der Bundeswehr finden sich in einem weiteren Sinne vor allem

  • im Militärgeschichtlichen Forschungsamt,
  • am Zentrum Innere Führung (Forschungs- u. Lehrstab),
  • an der Führungsakademie (Forschungs- u. Lehrstab),
  • an den Hochschulen der Bundeswehr,
  • an der Schule für Psychologische Verteidigung,
  • in einer Abteilung der IABG (Industrie-Anlagen-Betriebsgesellschaft) im MBB-Komplex in München,
  • im Dezernat Wehrpsychologie im Streitkräfteamt und
  • im Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI).

Das Potential für empirische sozialwissenschaftliche Forschung in einem engeren Sinne ist demgegenüber weit geringer. Letztlich verbleiben nach diesem Kriterium nur noch die Hochschulen und das Sozialwissenschaftliche Institut (SOWI). Beide Einrichtungen bilden auch die einzigen Kapazitäten, wo keine unmittelbare Abhängigkeit der Forscher von militärischer Bürokratie (Vorgesetztenstatus) besteht bzw. bestand – „bestand“ deshalb, weil ein Direktorenwechsel im SOWI 1983 dazu benutzt wurde, die ursprünglich vorhandenen Freiheitsrechte, damals durchaus mit denen universitärer Institute vergleichbar, drastisch einzuschränken. Obwohl ein Produkt der „Wende“, muß festgehalten werden, daß das wenige kritische Potential in der Bundeswehr selbst auch zu Zeiten der sozialliberalen Koalition einen schweren Stand besaß und ständig um seine Möglichkeiten kämpfen mußte.

Das Forschungsmanagement der Bundeswehr

Von einem Management der Bundeswehr im Forschungsbereich zu sprechen, erfordert sofort zwei Korrekturen. Einmal gibt es bis heute noch keine wirklich funktionierende Koordination der Forschungsaktivitäten oder gar der Auswertung von Resultaten der Forschung. Von einem gewissen Standpunkt aus mag man das vielleicht sogar begrüßen. Faktum ist, daß trotz verschiedener Versuche (Verbund Innere Führung, computermäßige Erfassung laufender Projekte etc.) die organisatorische Vielfalt, manche sprechen von einem Wirrwarr von Zuständigkeiten und gegenseitiger Paralysierung, kaum einen Überblick oder gar Transparenz gewährleistet. Besondere Bedeutung für die Vergabe und Auswertung von Forschung haben der Führungsstab der Streitkräfte (FüS), der Informations- und Pressestab (IP-Stab) und die Personalabteilung.

Zum anderen ist der Begriff Management zu relativieren. Ein (Gesamt-)Management erforderte entsprechende Zielvorgaben, Ergebniskontrollen sowie eventuelle Ziel- und Verfahrensrevisionen. Ein im Bundesministerium der Verteidigung vorhandener Planungsstab kann (oder will) diese Aufgaben nicht erfüllen und die Politische Führung setzt hierfür keine Margen. Die zumindest quantitative Fülle von empirischen Daten findet demgemäß nur eine im geschilderten Sinne zufällige Verwertung ohne öffentliche Rezeption oder gar Kontrolle. Öffentlichkeit stellt sich in wenigen Fällen her und zwar dort, wo Forschungsergebnisse, vor allem aufgrund situationsspezifischer Einflüsse, eine scheinbare oder tatsächliche politische Brisanz besitzen. Die Fähigkeit der Bundeswehr und der politischen Führung empirische Erkenntnisse jenseits der üblichen Legitimationsversuche kritisch zu nutzen und sei es nur in einem vordergründig funktionalen Sinne, ist sehr gering ausgeprägt.

So gilt faktisch, daß die Forschungsaufträge nach Innen wie Außen primär funktionalen einschließlich legitimatorischen Interessen von Abteilungen, Stabsabteilungen, Referaten etc. dienen. Die fehlende Öffentlichkeit für den größeren Teil der Untersuchungen verhinderte u.a. sowohl eine Breit- wie eine Tiefenwirkung für die Entwicklung einer militärsozialwissenschaftlichen Forschungskompetenz; der oft niedrige wissenschaftliche Standard der Forschungen entsprach paradoxerweise auch noch dem Interesse der Auftraggeber.

Zur Vergabe von Forschungsmitteln durch die Bundeswehr an zivile Einrichtungen

Die Vergabe von Forschungsaufträgen an zivile Einrichtungen betrifft weit überwiegend kommerzielle Markt-, Meinungs- oder Sozialforschungsinstitute. Hier ist allerdings nicht allein an die bekannten Institute wie Emnid, Allensbach, Intratest, Infas etc. mit den üblichen Umfragen etwa zur Akzeptanz der Bundeswehr zu denken. Schon in den sechziger Jahren flossen große Beträge in Untersuchungen deskriptiver Art mit den angedeuteten Standards, die von Instituten mit geringem Bekanntheitsgrad durchgeführt wurden. Teilweise finanzierten diese sich fast ausschließlich mit langfristigen Bundeswehraufträgen wie etwa das Institut für Systemforschung in Bonn, das ca. 10 Jahre jährliche Beträge (langfristig garantiert) bis zu 400.000 oder 500.000 DM erhielt.

Wo das Ministerium vom Finanzvolumen her größere Aufträge direkt an universitäre oder universitätsähnliche Institutionen vergab, geschah dies wohl mit halbem Herzen, wenn nicht sogar Zusagen zurückgezogen wurden wie im Fall der Evangelischen Studiengemeinschaft, wo Georg Picht den wohl einzigen bedeutsamen Versuch in dieser Zeit unternommen hatte, sich der Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen Analyse des zivil-militärischen Verhältnisses zu stellen. Die mit den Mitteln des Verteidigungsressorts eingerichtete „Wehrsoziologische Forschungsgruppe“ an der Universität Köln arbeitete ebenfalls zehn Jahre, wobei vor allem mikrosoziologische Aspekte der Militärorganisation betrachtet wurden. Nach Auskunft eines sachkundigen Ministerialbeamten hatte man damals (wie heute) kein wirkliches Interesse an theoretisch fundierter oder theoretisch orientierter Forschung zum Gegenstand Militär. Man wollte sich eher des „good wills“ eines bedeutenden Teil der damaligen deutschen Soziologie versichern. Daraus Schlüsse auf das Verhalten der „Geförderten“ zu ziehen, wäre zumindest voreilig. Nach der Einrichtung des sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr wurden keine größeren Beträge mehr an universitäre Sozialforschungsinstitute vergeben. Bemühungen, die ansonsten noch beträchtlichen Aufträge über die in anderen Ministerien üblichen Ausschreibungsverfahren zu plazieren, scheiterten alle kläglich.

Psychologie als Kontrapunkt

Gerade als die Soziologie sich in Deutschland zu etablieren versuchte, wurde sie durch die Machtübernahme der Nazis an jedweder Entfaltung gehindert. Zwei Drittel derjenigen, welche das Fach in der Lehre vertraten, wurden bis 1936 entlassen oder mußten emigrieren.

Die Entwicklung der Psychologie verlief dagegen völlig anders. Sie hatte offensichtlich keine großen Schwierigkeiten, sich in bedeutsamen Teilen in das neue System zu integrieren. Eine wesentliche Rolle spielte sie als Wehrmachtspsychologie und war von größerer Relevanz. Die Etablierung der Psychologie in der Bundesrepublik knüpfte oft personell wie in manchen inhaltlichen Ansätzen beinahe bruchlos an die Wehrmachtspsychologie an. Dies gilt insbesondere fr die Wehrpsychologie in der Bundeswehr. Noch 1972 konnten dort im offiziellen Schrifttum des Bundesministeriums der Verteidigung Max Simoneit, 1931-1942 wissenschaftlicher Leiter des Psychologischen Laboratoriums beim Reichswehr- bzw. Reichskriegsministerium, für seine außergewöhnlichen Leistungen „Kränze“ geflochten werden. Aus der Ecke der Wehrpsychologie kamen auch anfangs der 80er Jahre Angriffe gegen die soziologischen Forschungen in der Bundeswehr, die strukturell kaum weit entfernt sind von dem, was die Wehrmachtspsychologie negativ auszeichnete.

Bei der angedeuteten Kontinuität in der Entwicklung der Psychologie allgemein verwundert es auch nicht, daß das Bundesministerium der Verteidigung über die Wehrpsychologie wenig Bedenken besaß, Forschungsaufträge an universitäre Einrichtungen der Psychologie zu vergeben und diese auch offensichtlich auch bereit waren, solche Aufträge zu übernehmen. Wenigstens für zwölf verschiedene bundesrepublikanische Universitäten können solche Kooperationen belegt werden. In aller Regel sind die erteilten Aufträge nicht ohne praktische Bedeutung und Brisanz. Vom Inhalt her geht es häufig um die Entwicklung von Meßinstrumenten, mit deren Hilfe personelle Selektionen für die verschiedenen Personalbereiche der Bundeswehr vorgenommen werden. Vom meßtechnischen scheinen die Auftragsarbeiten aber wohl erheblich besser zu sein als die Entwicklungen der Wehrpsychologie selbst, der eine subjektive, erstarrte und nur scheinbar unpolitische Prüfungspraxis etwa bei den Freiwilligenannahmestellen vorgeworfen wird.

Schlußbemerkung

Die auch durch die notwendige Kürze pointierten Erläuterungen sollen darauf aufmerksam machen, daß eine dringend notwendige kritische Beschäftigung der Sozialwissenschaften mit dem Militär bislang weitgehend unterblieben ist. Dieses Faktum läßt sich erklären; die Erklärung entlastet aber nicht von der Verantwortung, welche die Sozialwissenschaften über die Wahl ihrer Untersuchungsgegenstände und die Art der Analyse gesellschaftspolitisch besitzen. Diese Verantwortung besteht auch dann, wenn sich das Militär und die politisch Verantwortlichen gegen solche Analysen sperren.

Der eingangs geringfügig gekürzte Beitrag ist erschienen in: G. v. Bally (Hg.): Militarisierung der Hochschule? Münster 1986, S. 62-72.

Ralf Zoll ist Hochschullehrer für Soziologie an der Philipps-Universität Marburg.