Konkurrierende Bedrohungsdebatten in Krisenzeiten

Konkurrierende Bedrohungsdebatten in Krisenzeiten

Eine sozialpsychologische Perspektive

von Tobias Rothmund

Hinter uns liegt ein Jahr, in dem der Krisenmodus zum Dauerzustand erklärt wurde. Krieg in der Ukraine, Energieknappheit, Digitalisierung, Pandemiefolgen und nicht zuletzt der galoppierende Klimawandel. Krisen und Transformationsprozesse gehen mit mehr oder weniger konkreten Bedrohungslagen einher. Diese werden in Nachrichtensendungen, Talkshows und sozialen Medien debattiert – singulär, wechselseitig überlagernd und vergleichend. Aber was genau macht das mit uns als Gesellschaft, wenn multiple Bedrohungen und deren Bedeutung dauerhaft zum Gegenstand öffentlicher Debatten werden? Wie reagieren Menschen allgemein auf wahrgenommene Bedrohungen und was bedeutet das für die aktuelle Krisenkommunikation?

Die sozialpsychologische Forschung zu Bedrohung und Bedrohungserleben hat mindestens drei Ursprungslinien: eine evolutionsbiologische, eine kognitionswissenschaftliche und eine gruppenpsychologische. Die evolutionsbiologische Forschungslinie basiert auf der Annahme, dass Sensitivität gegenüber bedrohlichen Umweltreizen biologisch verankert ist, da sie einen Anpassungsvorteil für das Überleben unserer Vorfahren bedeutet hat. Eine solche Sensitivität wird häufig auch als »Negativitätsbias« bezeichnet (Rozin und Royzman 2001), d.h. Menschen reagieren auf negative Informationen stärker als auf positive. Die allgemeine Existenz einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber negativen bzw. bedrohlichen sozialen Informationen ist jedoch umstritten. Bar-Haim und Kolleg*innen (2007) finden im Rahmen einer Meta-Analyse einen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Informationen nur bei Menschen mit ängstlicher Persönlichkeitsstruktur. Norris (2021) hingegen berichtet eine Vielzahl neuropsychologischer Studien, die auf einen allgemeinen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Umweltreize hindeuten.

Eine kognitionswissenschaftliche Ursprungslinie der psychologischen Bedrohungsforschung reicht zu den Arbeiten von Leon Festinger und Kolleg*innen in den 1950er Jahren zurück. Die sogenannten Konsistenztheorien gehen im Kern davon aus, dass Menschen einen Zustand der inneren Konflikt- und Widerspruchsfreiheit anstreben. Persönliche Überzeugungen, Wertvorstellungen, Wahrnehmungen oder auch Verhaltensweisen sollten also im Einklang miteinander stehen. Innere Widersprüche lösen im Sinne der Dissonanztheorie (Festinger 1957) negative Gefühle und Unsicherheit aus. Das Erleben dieser kognitiven Inkonsistenzen wird als bedrohlich wahrgenommen und motiviert Menschen in der Folge dazu, Anpassungen im Denken oder Handeln vorzunehmen, um ein Gefühl der Sicherheit, Kontrolle oder Bedeutung wiederzuerlangen.

Ein dritter Ursprung der psychologischen Forschung zum Bedrohungserleben kann in der Intergruppenforschung gesehen werden. Hier wird zwischen realistischer und symbolischer Bedrohung unterschieden (Stephan und Stephan 2000). Realistische Bedrohung wird im Kontext von Ressourcenkonflikten zwischen sozialen Gruppen oder Gesellschaften erlebt. In diesem Fall resultiert die Bedrohung einer Gruppe daraus, dass das Wohlergehen mehrerer Gruppen negativ interdependent ist: Was eine Gruppe hat, fehlt also einer anderen Gruppe. Solche Konflikte können sich auf materielle Ressourcen (bspw. fossile Energiequellen) oder auf immaterielle Ressourcen (bspw. Macht) beziehen. Symbolische Bedrohung zwischen sozialen Gruppen resultiert hingegen aus diskrepanten Wert- und Moralvorstellungen. Die Bedrohung hat somit keinen materiellen Charakter. Sie drückt eher eine Art normative Verunsicherung aus. Sowohl realistische Bedrohungen als auch symbolische Bedrohungen begünstigen negative Vorurteile (Riek et al. 2006), bis hin zu Hass und Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen (Martinez et al. 2022).

Ein psychologisches Modell des Bedrohungserlebens

Eine Gruppe von Wissenschaftler*innen um Eva Jonas (2014) hat die drei dargestellten Forschungslinien in ein allgemeines Modell des Bedrohungserlebens integriert. Bedrohungserleben wird dabei als Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen (a) existentiellen, epistemischen oder sozialen Bedürfnissen oder Zielen und (b) beobachteten oder antizipierten persönlichen oder sozialen Zuständen verstanden. Diese Diskrepanzwahrnehmung wird als unangenehm erlebt, bedroht die persönliche oder soziale Identität von Menschen und motiviert entsprechende Reaktionen. Die Autor*innen unterscheiden zwischen kurzfristigen Abwehrreaktionen und nachfolgenden Bewältigungsreaktionen.

  • Kurzfristige Abwehrreaktionen umfassen beispielsweise ein erhöhtes physiologisches Aktivierungsniveau und erhöhte Wachsamkeit bzw. Aufmerksamkeit. Dabei wird das BIS (»Behavioral Inhibition System«), eine Art biologisches Verteidigungsprogramm, aktiviert. Abwehrreaktionen können sich jedoch auch in Vermeidungsverhalten ausdrücken, indem es zu einer Abwendung von der als bedrohlich wahrgenommenen Situation oder Informationslage kommt.
  • Anschließende Bewältigungsreaktionen zielen darauf ab, das Bedrohungserleben nachhaltig zu reduzieren. Man kann zwischen konstruktiven und palliativen Formen der Bewältigung unterschieden. Konstruktive Bewältigungsreaktionen zielen auf die Verringerung des Bedrohungserlebens durch eine Veränderung der Diskrepanzwahrnehmung ab. Dies kann dadurch erfolgen, dass eine Veränderung der als unbefriedigend wahrgenommenen Zustände bewirkt wird. Hierfür kann beispielsweise politisches Engagement durch Protestverhalten oder die Mitwirkung an politischen Aktivitäten dienen. Alternativ kann auch die Anpassung bzw. Relativierung von Bedürfnislagen zu einer Reduktion des Bedrohungserlebens führen. Eine Ablösung von bestimmten Zielen wäre eine solche Reaktion. Palliative Bewältigungsformen zielen nicht direkt auf die konkrete Diskrepanzwahrnehmung ab, sondern eher darauf, das Bedrohungserleben durch alternative Formen der Selbstaufwertung zu kompensieren. Eine solche Selbstaufwertung kann beispielsweise durch die Identifikation mit einer Gruppe oder durch die Orientierung an transzendentalen Zielen erfolgen. Diese palliativen Bewältigungsformen zielen auf eine Reduktion des Bedrohungserlebens ab, ohne dabei konkret auf die zugrundeliegende Problemlage einzuwirken.

Krisenkommunikation unterliegt Dramatisierungsattraktion

Öffentliche Diskurse über multiple Krisen werden maßgeblich von Akteur*innen in Medien und Politik geprägt. Unsere Medienlandschaft kann dabei als »High-Choice«-Informationsumgebung beschrieben werden, in der eine Vielzahl an Informationsangeboten um die Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Rezipient*innen konkurrieren (van Aelst et al. 2017). Sowohl politische Akteure als auch Journalist*innen und Medienschaffende unterliegen unter diesen Rahmenbedingungen leicht einer Dramatisierungsattraktion, d.h. die Hervorhebung und Dramatisierung von Bedrohungsszenarien erscheint für die massenmediale Kommunikation attraktiv. Diese Dramatisierungsattraktion hat verschiedene Ursachen, die durch die Logik des politischen und des medialen Systems begünstigt werden.

Für Journalist*innen und Medienschaffende scheint die Emotionalisierung und Dramatisierung von Bedrohungslagen im Kontext einer medialen Aufmerksamkeits­ökonomie unumgänglich (Ciampaglia et al. 2015). Wie bereits dargestellt, ist Bedrohungserleben eng an die Aufmerksamkeitssteuerung von Menschen gekoppelt. Auch wenn die Existenz eines allgemeinen Wahrnehmungsbias zugunsten bedrohlicher Informationen empirisch umstritten bleibt, so erhöht das subjektive Bedrohungserleben von Rezipient*innen in vielen Fällen die Aufmerksamkeit gegenüber relevanten Informationen (zum Überblick siehe Jonas et al. 2014). Das Bedrohungserleben verstärkt also die Auswahl und Nutzung bedrohungsbezogener Medien- und Informationsinhalte, was sich in der Medienlogik (gerade heutiger Plattformkapitalisierungen) direkt monetarisieren lässt. Ein anschauliches Beispiel für den Link zwischen Bedrohungserleben und Mediennutzung stellt das Phänomen des »Doom-Scrolling« dar, eine exzessive Form der Mediennutzung als Reaktion auf akutes Bedrohungserleben. Solche Doom-Scrolling Praktiken sind beispielsweise aus der ersten Phase der Covid-19-Pandemie oder den ersten Wochen des russischen Kriegs gegen die Ukraine bekannt: Ausgehend von einem bedrohungsinduzierten Informationsbedürfnis legten viele Menschen ihre Smartphones zeitweise kaum mehr aus der Hand, obwohl die verfügbaren Informationen das Bedrohungserleben immer weiter verstärkten und sich somit eine Art Teufelskreis aus Bedrohungserleben und Informationsbedürfnis bildete.

Aber auch für Parteien und Politiker*­innen ist es in besonderem Maße attraktiv, Bedrohungslagen zu dramatisieren. So sind spezifische Bedrohungsszenarien bzw. deren Abwendung für Parteien identitätsstiftend (bspw. Umweltzerstörung für Bündnis90/Die Grünen, soziale Ungleichheit für Die Linke, »Überfremdung« für die AfD). Die Betonung der entsprechenden Bedrohungspotentiale stärkt nicht nur den Zusammenhalt der Parteibasis, sondern wird auch als Instrument der politischen Mobilisierung genutzt, um eigene Themen auf die mediale Agenda zu setzen.

Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungsattraktion in der Logik politischer und medialer Systeme ist es nicht verwunderlich, dass Bedrohungslagen häufig eine zentrale Rolle in der medialen Krisenkommunikation einnehmen. Im Kontext paralleler Krisen resultieren daraus leicht konkurrierende Bedrohungsdebatten, in denen politische Themen anhand des Bedrohungspotentials unterschiedlicher Entscheidungsoptionen vergleichend diskutiert werden. Ein Beispiel für eine solche Bedrohungsdebatte ist die öffentliche Diskussion über die Nutzung von »Fracking« zur Gewinnung von Erdgas in Deutschland, die vor dem Hintergrund multipler Bedrohungslagen (Energiemangel vs. Umweltzerstörung) geführt wird. Es geht also primär um die Frage, welche Bedrohung stärker wiegt und daher das politische Handeln eher leiten sollte. Aus sozialpsychologischer Perspektive sind solche Bedrohungsdebatten jedoch riskant.

Bedrohungsdebatten verschärfen gesellschaftliche Polarisierung

Eine Vielzahl psychologischer Studien hat den Einfluss des Bedrohungserlebens auf die Bewertung konflikthafter politischer Fragestellungen untersucht. Dabei konnten zwei sehr unterschiedliche Phänomene identifiziert werden. Bedrohungserleben kann je nach Kontext den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken oder auch die Polarisierung innerhalb einer Gesellschaft begünstigen.

Werden Bedrohungslagen gesamtgesellschaftlich einigermaßen konsensuell als solche bewertet, führt dies dazu, dass innergesellschaftliche Konflikte reduziert werden. Dieses Phänomen wird häufig auch als Schulterschluss-Effekt (»rallying-around-the-flag«) bezeichnet und zeigt sich nicht nur bei politischen Parteien (Chowanietz 2010), sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit (Feinstein 2016). Die Gesellschaft rückt also im Angesicht der externen Bedrohung zusammen. So berichten Menschen als Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Bedrohungslagen wie Terror oder Pandemie eine stärker nationale Identifikation (Kuenhanss et al. 2021) oder auch ein stärkeres Vertrauen in die jeweilige Regierung (Kritzinger et al. 2021).

Der umgekehrte Effekt findet sich jedoch dann, wenn Bedrohungslagen innerhalb einer Gesellschaft kontrovers bewertet werden. Nehmen wir die bereits angesprochene Debatte um Fracking. Ein Teil der Gesellschaft bewertet die Bedrohung durch Energiemangel und den damit verbundenen Wohlstandsverslust besonders hoch. Ein anderer Teil der Gesellschaft bewertet die Gefahr der Verschmutzung von Wasser und die damit verbundene Bedrohung durch Umweltzerstörung besonders hoch. Häufig lassen sich solche Bewertungsunterschiede auf Unterschiede in der Gewichtung von Ziel- und Wert­orientierungen zurückführen. Im Kontext konkurrierender politischer Bedrohungsdebatten werden diese Unterschiede und Konflikte herausgearbeitet und gegeneinander gestellt. In diesem Fall ist eine Art sekundäre symbolische Intergruppenbedrohung wahrscheinlich (siehe Hoffarth und Hodson 2016 am Beispiel Klimawandel): Gesellschaftliche Gruppen nehmen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Wert- und Moralvorstellungen wechselseitig als Bedrohung wahr. Eine solche symbolische Intergruppenbedrohung bereitet den Nährboden für eine Polarisierung der Gesellschaft (siehe auch Amira et al. 2021).

Bedrohungsdebatten begünsti­gen Vermeidungsreaktionen

Die psychologische Bedrohungsforschung lehrt uns, dass individuelle Bewältigungsstrategien im Umgang mit Bedrohung nicht notwendigerweise konstruktiv sind. Sie zielen primär darauf ab, das Bedrohungserleben zu verringern und somit das subjektive Wohlergehen und die wahrgenommene individuelle Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Eine bedrohungsfokussierte Krisenkommunikation riskiert daher individuelle und soziale Reaktionen, die stärker auf die Vermeidung oder Abmilderung des subjektiven Bedrohungserlebens abzielen als auf die konstruktive Lösung existierender gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen. Im Kontext der Covid-19-Pandemie konnte beispielsweise ein bewusstes Vermeiden bedrohlicher Nachrichteninhalte beobachtet werden. Dieses Phänomen dient erwiesenermaßen der Wiederherstellung des subjektiven Wohlbefindens (Yte-Arnbe und Moe 2021). Gerade im Kontext multipler Krisen ist zu erwarten, dass sich viele Menschen mit der Auswahl konstruktiver Bewältigungsstrategien überfordert fühlen. Je geringer aber die individuellen und kollektiven Selbstwirksamkeitserwartungen (d.h. die Erwartungen, Bedrohungslagen aktiv abwenden zu können), desto attraktiver werden palliative Formen der Bewältigung. Hierzu zählen beispielsweise die stärkere Einbettung in private soziale Strukturen, die Orientierung an religiösen oder spirituellen Überzeugungssystemen, aber auch die Entwicklung einer Sündenbocklogik gegenüber einer spezifischen Gruppe, welcher die Verantwortung für die Bedrohungslage zugeschrieben wird (bspw. im Sinne einer Verschwörungstheorie). Diese palliativen Bewältigungsstrategien dienen der persönlichen oder kollektiven Selbstaufwertung und können das Bedrohungserleben lindern, ohne dabei konkret auf die Bedrohungssituation einzuwirken.

Und nun? Vorschläge für eine konstruktive Wendung

Welche Schlussfolgerungen können aus dieser psychologischen Analyse der aktuellen Krisenkommunikation gezogen werden? Zunächst kann festgehalten werden, dass in medialen Debatten über gesellschaftspolitische Themen die kommunikative Fokussierung auf Bedrohungspotentiale für unterschiedliche Akteursgruppen attraktiv ist. Diese Dramatisierungsattraktion macht es schwierig, entsprechende Diskurse grundsätzlich zu versachlichen oder auf Veränderungen kommunikativer Strategien hinzuwirken. Gleichzeitig muss ebenfalls angenommen werden, dass eine allgemeine Tendenz zur Dramatisierung und Zuspitzung entsprechender Bedrohungsdebatten für die Gesellschaft negative Entwicklungen zur Folge hätte. Neben dem Risiko einer Polarisierung in unversöhnliche gesellschaftliche Extremgruppen ist auch ein erlebter Verlust an individueller und kollektiver Wirkmächtigkeit im Umgang mit Bedrohungslagen zu befürchten. In der Folge werden individuelle Vermeidungsreaktionen (bspw. »news-avoidance«) oder palliative Strategien des Umgangs mit dem Bedrohungserleben wahrscheinlicher und kollektive Anstrengungen einer konstruktiven Problembewältigung dadurch erschwert. Wir haben es also mit einem sozialen Dilemma zu tun, bei dem die Interessen individueller und organisationaler kommunikativer Akteure im Konflikt mit den Interessen der Gemeinschaft stehen.

Ich möchte zwei Ansatzpunkte für eine konstruktive Wendung dieses Dilemmas vorschlagen. Beide Vorschläge resultieren mehr oder weniger direkt aus der vorgenommenen sozialpsychologischen Analyse und zielen darauf ab, individuelle und kollektive Selbstwirksamkeitserwartungen im Umgang mit Bedrohungslagen zu stärken. Wie kann dies gelingen? Ein erster Ansatzpunkt besteht darin, Bedrohungslagen so zu verstehen und entsprechend zu kommunizieren, dass ein Schulterschluss-Effekt erzielt wird. Es geht also darum, dass Bedrohungslagen in einen positiven Zielzustand übersetzt werden, hinter dem sich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung versammeln kann. Dies setzt voraus, dass einzelne Bedrohungslagen nicht durch die Abgrenzung und Konkurrenz zu anderen Bedrohungslagen definiert werden, sondern diese konstruktiv integrieren. So integriert beispielsweise das Ziel langfristig sicherer Lebensbedingungen in Europa sowohl den Schutz vor Umweltkatastrophen als auch vor Krieg und Rezession. Ein echter Schulterschluss-Effekt kann dabei nicht per Dekret („Wir schaffen das!“) erwirkt werden, sondern setzt eine geteilte Zielperspektive voraus.

Ein zweite Möglichkeit der konstruktiven Wendung von Bedrohungsdebatten besteht darin, individuelle und kollektive Möglichkeiten einer effektiven und konstruktiven Bewältigung kommunikativ stärker in den Fokus zu rücken und dadurch Selbstwirksamkeitserwartungen zu stärken. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass wirksame Formen des Handelns identifiziert und kommuniziert werden. Komplexe gesellschaftliche Bedrohungslagen wie Krieg oder Klimawandel sind zwar durch individuelles Handeln schwer zu verändern. Einzelpersonen oder auch soziale Gruppen können durch ihr Handeln aber eine Symbol- und Modellwirkung erzielen. Diese Effekte werden aktuell noch nicht ausreichend gewürdigt und kommunikativ genutzt. Individuelle und kollektive Selbstwirksamkeitserwartungen können auch dadurch gestärkt werden, dass vergangene Erfolge in der Bewältigung von Problemlagen sichtbar gemacht werden. Solche Erfolgsgeschichten werden in gesellschaftlichen Bedrohungsdebatten häufig nicht angemessen abgebildet und tragen dadurch bislang wenig zur Stärkung von Selbstwirksamkeitserwartungen bei.

Literatur

Bar-Haim, Y.; et al. (2007): Threat-related attentional bias in anxious and nonanxious individuals: a meta-analytic study. Psychological Bulletin 133(1), S. 1-24.

Chowanietz, C. (2011): Rallying around the flag or railing against the government? Political parties’ reactions to terrorist acts. Party Politics 17(5), S. 673-698.

Ciampaglia, G. L.; Flammini, A.; Menczer, F. (2015): The production of information in the attention economy. Scientific Reports 5(1), S. 1-6.

Feinstein, Y. (2020): Applying sociological theories of emotions to the study of mass politics: The rally-round-the-flag phenomenon in the United States as a test case. The Sociological Quarterly 61(3), S. 422-447.

Festinger, L. (1957): A theory of cognitive dissonance. Evanston, IL: Row & Peterson.

Hoffarth, M. R.; Hodson, G. (2016): Green on the outside, red on the inside: Perceived environmentalist threat as a factor explaining political polarization of climate change. Journal of Environmental Psychology 45, S. 40-49.

Jonas, E. et al. (2014): Threat and defense: From anxiety to approach. Advances in experimental social psychology 49, S. 219-286.

Kritzinger, S. et al. (2021): ‘Rally round the flag’: the COVID-19 crisis and trust in the national government. West European Politics 44(5-6), S. 1205-1231.

Kuehnhanss, C. R.; Holm, J.; Mahieu, B. (2021): Rally’round which flag? Terrorism’s effect on (intra)national identity. Public Choice 188(1), S. 53-74.

Martínez, C. A.; van Prooijen, J. W.; Van Lange, P. A. (2022): A threat-based hate model: How symbolic and realistic threats underlie hate and aggression. Journal of Experimental Social Psychology 103, 104393.

Myrick, R. (2021): Do external threats unite or divide? Security crises, rivalries, and polarization in American foreign policy. International Organization 75(4), S. 921-958.

Norris, C. J. (2021): The negativity bias, revisited: Evidence from neuroscience measures and an individual differences approach. Social Neuroscience 16(1), S. 68-82.

Riek, B. M.; Mania, E. W.; Gaertner, S. L. (2006): Intergroup threat and outgroup attitudes: A meta-analytic review. Personality and Social Psychology Review 10(4), S. 336-353.

Rozin, P.; Royzman, E. B. (2001): Negativity bias, negativity dominance, and contagion. Personality and Social Psychology Review 5(4), S. 296-320.

Stephan, C. W.; Stephan, W. G. (2000): The measurement of racial and ethnic identity. International Journal of Intercultural Relations 24(5), S. 541-552.

Van Aelst, P., et al. (2017): Political communication in a high-choice media environment: a challenge for democracy? Annals of the International Communication Association 41(1), S. 3-27.

Ytre-Arne, B.; Moe, H. (2021): Doomscrolling, monitoring and avoiding: news use in COVID-19 pandemic Lockdown. Journalism Studies 22(13), S. 1739-1755.

Tobias Rothmund ist Professor für Kommunikations- und Medienpsychologie an der Friedrich-Schiller Universität Jena. Er forscht zu psychologischen Perspektiven auf politische Kommunikation im Kontext digitaler Medien.

Täter*innen

Täter*innen

Ein Begriff und seine Komplexität

Wer als Täter*innen zu verstehen ist, was diese ausmacht und weshalb »wir« von Täter­*innen sprechen ist nicht leicht zu beantworten – oder zumindest umstritten. Welche Rolle spielen individuelle Persönlichkeitszüge, Motivationen oder Ideologien, welche Rolle haben gesellschaftlich legitimierte und strukturelle Gewalt als Kontext? W&F hat Autor*innen aus der Forschung zu kollektiver (Massen-)Gewalt gebeten, ihre je eigenen Positionen darzulegen – mit zwei ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Christian Gerlach bezieht als Historiker Position, während sich Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred Louis, Emma Thomas und Catherine Amiot als Psychologinnen zu diesen Fragen äußern.

Gegen den Täterbegriff

von Christian Gerlach

Meine Perspektive ist die eines Historikers, der sich lange mit der Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert beschäftigt hat. Mit deutscher Geschichte, aber auch mit aussereuropäischer.

Was die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus angeht, hat die Forschung zu »Tätern« in den 1990er Jahren Fortschritte gemacht.1 Zwei US-amerikanische Forscher, Christopher Browning und Daniel Goldhagen, untersuchten damals dieselbe Einheit der deutschen Ordnungspolizei, die 1942 viele Massen­erschiessungen an Jüdinnen und Juden in Polen durchführte, das Reserve-Polizeibataillon 101. Beide kamen zu dem Schluss, es habe sich bei den Tätern um gesellschaftlichen Durchschnitt gehandelt: Männer verschiedenen beruflichen Hintergrunds, Alters und Bildungsstands (meist keine Berufspolizisten); in der Regel ohne psychische Krankheit oder entsprechende Neigung; keine ideologische Elite, nicht besonders ausgewählt oder geschult und mehrheitlich keine NSDAP-Mitglieder. Ihre weiteren Folgerungen unterschieden sich freilich sehr: Für Browning waren dies „ganz normale Männer“, die, ohne besonderen Hass gegen Juden, unter bestimmten politischen Umständen aus verschiedenen Gründen – vor allem Gruppendruck – zu effizienten Mördern wurden. Goldhagen dagegen bezeichnete sie als „ganz normale Deutsche“, die sehr wohl einen Konsens zur Eliminierung der Juden teilten, der angeblich seit Jahrhunderten unter Deutschen bestand. Und es gab viele solche Polizeibataillone.2

Auch die heiss diskutierte sogenannte Wehrmachtausstellung Mitte der 1990er Jahre vermittelte einem breiten Publikum, dass sich deutsche Offiziere und Soldaten an Verbrechen in der Sowjetunion und in Südosteuropa massenhaft und mit Nachdruck beteiligt hatten. Die meisten von ihnen waren gleichfalls keine Nazis, und sie bildeten einen Querschnitt der deutschen Gesellschaft.3 Ein von Gerhard Paul 2002 herausgegebener Sammelband mit Fachaufsätzen brachte es dann auf den Punkt: Die »Täter« liessen sich nach Gesellschaftsschicht, Werdegang, Bildungsstand, Alter, Region, religiöser und politischer Überzeugung nicht eindeutig einem Milieu zuordnen.4 Nichts immunisierte Menschen dagegen, an Massengewalt teilzunehmen, teilweise sogar aus eigener Initiative. Um es kurz zu machen: Das Bild für andere Fälle von Massengewalt ist nicht grundsätzlich anders, von Ruanda bis Argentinien, von der Sowjetunion über Indonesien bis zum Spätosmanischen Reich oder kolonialer Gewalt.

Das mag überzeugend klingen, aber am Beispiel der Forschungen zu NS-Deutschland lassen sich auch Schwächen und innere Widersprüche zeigen. Browning, Goldhagen und die Autorinnen und Autoren des Paul-Sammelbands behandelten vor allem sogenannte tatnahe Täter: Personen in ausführenden Organen, einer mörderischen Exekutive, vor allem Schützen und Lagerpersonal. Deren Handlungsautonomie überbetonend, entpolitisierten die Forschenden das Handeln jener Personen; sie verwiesen zwar auf direkte Befehlsgeber in SS, Polizei und Militär sowie Hitler, sagten aber nichts oder fast nichts über Politiker, Fachleute und Verwaltungsfunktionäre, die die »Taten« vielfach erdacht, gefordert oder darüber entschieden hatten, und lösten die »Taten« damit aus ihren historisch-gesellschaftlichen Kontexten heraus.

Die Funktion des Täterbegriffs

Viele Forschende stützten sich bei ihrem Vorgehen auf Akten von Justizverfahren gegen NS-Täter, von denen die meisten übrigens straffrei ausgingen. Dies ist der Kern des Problems: Der Täterbegriff stammt aus einem juristischen Kontext, und das, obwohl sich die Justiz als völlig ungeeignet erwiesen hat, Massenmord zu ahnden. Die BRD ist hier ein besonders abschreckendes Beispiel, aber in keinem einzigen Land, von dem Massengewalt ausging, ist die juristische Aufarbeitung je erfolgreich gewesen. Massenmord ist das Verbrechen, das ungestraft bleibt, jedenfalls für die meisten Beteiligten. Das ist kein Zufall, denn grosse Teile der Gesellschaft waren ja an der Gewalt beteiligt oder haben sie unterstützt (wie z. B. die meisten westdeutschen Richter, Staatsanwälte und Polizisten der unmittelbaren Nachkriegszeit frühere NS-Mitglieder waren).

So bleiben auch bestimmte Formen von Gewalt und Gewalt gegen bestimmte Opfergruppen juristisch praktisch gänzlich unverfolgt (im westdeutschen Fall die Vernichtung von drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten bei der Partisanenbekämpfung, die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen oder die Hungerpolitik), von Wissenschaftler*innen wenig beachtet und in der gesellschaftlichen Diskussion auch. Prozesse gegen Täter von Massengewalt dienen weniger der individuellen Aburteilung als politischen und gesellschaftlichen Zwecken. Sie sollen die Gesellschaft stabilisieren und bieten Deutungen des Geschehenen an, die für die Mehrheit und die führenden Schichten akzeptabel sind, wobei Schuld auf einige Radikalinskis, Exzesstäter und vermeintliche Sadisten ausgelagert wird. So entstehen tröstliche Geschichten von Gut und Böse. Und »wir« sind natürlich »gut«.

Grosse Teile der vergleichenden Genozidforschung erzählen ähnliche Geschichten von Gut und Böse, wobei sie radikale Schurkenregime für Massenmorde verantwortlich machen, die bestimmte Ideen (statt Interessen) verfolgen und von oben nach unten umsetzen, wozu ihnen radikale Organisationen und propagandistische Manipulation dienen. Ihre Gegenrezepte lauten Regimewechsel und etwas Umerziehung.Während Prozesse und Justizakten einiges interessantes biographisches Material zu »Tätern« bieten mögen, geben sie zu einem Punkt ganz besonders wenig her: zur Motivation für die Tat. Aus Schutz vor juristischen Folgen bekennen ganz wenige Beschuldigte Rassenhass, Raubgier, Machtdünkel oder sexuelle Lust, was strafverschärfend wäre. Stattdessen tendieren sie dazu, andere (am besten Tote) zu beschuldigen, sich auf Befehle von höherer Stelle zu berufen und eine räumliche Distanz zur Tat zu behaupten, jedenfalls aber eine innere Distanz. Es gibt keine sinnvollen Methoden zur Benutzung solcher Aussagen. Weder Browning überzeugt, der ihnen meist Glauben schenkte, noch Goldhagen, der sie alle abtat und pauschal Rassenhass als Motiv annahm.

Extrem gewalttätige Gesellschaften

Nach meinen Forschungsergebnissen ist die Entstehung von massenhafter Gewalt aus Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Konflikten zwischen ihnen zu erklären. Gewalt ist also multikausal, die Motive, sich zu beteiligen, sind verschieden, und die Gewalt richtet sich oft gleichzeitig gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen. In Gesellschaften des 20. Jahrhunderts beruht die Gewalt auf Arbeitsteilung, wodurch es Aktivitäten gibt, die vor den Augen der Justiz kaum als kriminell gelten können und doch den Tod von Verfolgten massgeblich mitverursachen (z. B. die Organisation von Eisenbahnverkehr im Fall von Deportationen oder das Verlangen von Wucherpreisen gegenüber hungernden oder durstigen Verfolgten). Die zahlreichen an der Verfolgung Beteiligten sind nicht nur den herrschenden Verhältnissen unterworfen, sondern schaffen sie selbst mit. Dass bestimmte gesellschaftliche Strukturen vorhanden sind, schliesst absichtsvolles, überlegtes und autonomes Handeln nicht aus, auch von »ungebildeten« Personen aus Unterschichten nicht. Massengewalt ist ein interaktiver Prozess, an dem übrigens auch Gruppen aktiv beteiligt sind, die zu Opfern werden.5

Der Begriff »Täter« hemmt aus meiner Sicht ein komplexes Verständnis von Massengewalt. Hinter dem Begriff steht ein Denken, das »Täter« als ausserhalb der Gesellschaft stehend sieht und in unzutreffender Weise individualisiert. Als analytische Kategorie ist der Täterbegriff daher ungeeignet.

Was ist mit Alltagsgewalt?

Aber sind diese Überlegungen auch für den Alltag relevant, für »normale« Zeiten? In der kapitalistischen, bürgerlich geprägten Gesellschaft funktioniert das Rechtswesen ähnlich wie oben beschrieben. Es greift Einzelpersonen heraus und entkleidet ihr Handeln tendenziell seinen Zusammenhängen. Es verfolgt Devianz, also die Abweichung von insgesamt für normal und gut erklärten Zuständen. Angesichts der bürgerlichen Externalisierung von »Tätern« und »Täterinnen« ist es nur konsequent, dass sie weggesperrt werden und dass ihre »Resozialisierung« später oft nicht gelingen mag. Andererseits ist beispielsweise die deutsche Justiz so gut wie unfähig, systemische Gewalt zu ahnden, also zum Beispiel im Autoverkehr oder durch Polizeibrutalität oder durch Verhältnisse, die Unternehmen ihren Beschäftigten auferlegen, oder bei der angeblichen Bekämpfung der extremen politischen Rechten. Für Gewalt zwischen den Geschlechtern oder unter Beteiligung der meisten ethnischen Minderheiten gilt Ähnliches mit Einschränkungen. Darin drücken sich bestimmte Machtverhältnisse aus. Aber auch bestimmte, den herrschenden Verhältnissen angepasste Denkweisen. Wenn also hinter »linker« Gewalt regelmässig sogenannte terroristische Vereinigungen gesehen werden, »rechte« Gewalt dagegen fast immer das Werk sogenannter »Einzeltäter« sein soll, und wenn das Leben von Radfahrerinnen und Radfahrern, Fussgängerinnen und Fussgängern recht billig ist, stehen dahinter nicht nur Probleme des Rechtswesens, sondern in der Gesellschaft vorherrschende Zustände und Anschauungen, auch wenn viele sie nicht billigen.

Damit ist auch gesagt, dass die Zeiten vielleicht nicht so normal und die Verhältnisse nicht so unproblematisch sind. Vieles daran, dass Menschen durch den Täterbegriff als im Grunde ausserhalb der Gesellschaft stehend erklärt werden, mag kein spezifisch deutsches Problem sein. Allerdings hat nicht jedes Land der Welt Truppen in elf fremden Staaten auf drei Kontinenten stehen; nicht in jedem Land der Welt sind Atomwaffen stationiert (mit dem Anspruch auf »nukleare Teilhabe«); nicht jedes Land hat eine ähnlich machtvolle, protektionistisch-aggressive Aussenwirtschaftspolitik in einer Welt des Massenhungers; und kein anderes Land ist ohne Tempolimit. All dies hat mit deutscher Gewalt zu tun, freilich einer ohne »Täter«.

Statt sich zu fragen, wen »wir« als »Täter« oder »Täterinnen« bezeichnen, und damit an jener ausgrenzenden Fiktion mitzuarbeiten, sollten Angehörige der Intelligenzschichten lieber versuchen, die »Tat« als Teil gesamtgesellschaftlicher Prozesse zu begreifen. Die Behauptung, es gebe überhaupt ein umfassendes »Wir«, das man sich als »gut« vorstellt, ist an sich schon ein grosses Problem.

Anmerkungen

1) In diesem Aufsatz wird meist die männliche Sprachform verwendet, nicht als generisches Maskulinum, sondern weil ich meist nur Männer behandele und die komplexe Diskussion um Täterinnen (die zahlenmässig ein Randphänomen waren) aus Platzgründen beiseitelasse.

2) Browning, Ch. (1993): Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Goldhagen, D. (1997): Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler

3) Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1996): Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg: Hamburger Edition

4) Paul, G. (Hrsg.) (2002): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein.

5) Gerlach, Ch. (2011): Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. München: DVA.

Christian Gerlach arbeitet an der Universität Bern.

Kontext und Intention

Die Psychologie des »Schädigens«

von Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred R. Louis, Emma F. Thomas und Catherine E. Amiot

Viele Verletzungen und Schädigungen werden kollektiv begangen, wie im Konflikt zwischen Israel und Palästina oder während des Genozids in Kambodscha. Obwohl diese Beispiele für Gewalt und Verletzungen aus feindlichen und/oder ungleichen Beziehungen zwischen Gruppen erwachsen, hat sich ein Großteil der Forschung darauf verlegt, das Handeln der Täter*innen aus individuellen Pathologien oder moralischen Schwächen zu erklären. Der Fokus auf das Individuum ignoriert jedoch die erleichternde Rolle, die Gruppenprozesse in Fällen kollektiver Gewalt spielen (Louis et al. 2015).

Wer ist eine Täter*in und weshalb?

Unter Zuhilfenahme von Erkenntnissen der Sozialpsychologie erkunden wir die Wahrnehmungen von und Motivationen für Praktiken des »kollektiven Schädigens« der Täter*innen. Speziell fokussieren wir darauf, wie Gruppenprozesse: a) beeinflussen, wen wir als Täter*innen wahrnehmen; b) die Motivationen der Täter*innen unterstützen, Schaden zufügen zu wollen; und c) die Intentionalität hinter den Taten der Täter*innen beeinflussen.

Was als »Schädigung« oder »Gewalt« zählt (und, in Erweiterung, wer diese Gewalt verbrochen hat) ist eine subjektive Einschätzung und umkämpft. In manchen Fällen können sich die meisten Menschen einigen, dass eine Verletzung vorliegt (z. B. bei sexuellem Missbrauch von Kindern), aber es gibt auch Fälle die umstritten sind. Praktiken, die in manchen Kontexten zu bestimmten Zeiten in der Geschichte als grausam bewertet werden (z. B. Sklaverei) sind in anderen Kontexten und Zeiten gebilligtes und weiterverbreitetes Verhalten. Diese Definitionen der Gewaltanwendung sind beeinflusst von den historischen und kulturellen Gruppen, zu denen wir gehören.

Der »Social Identity Theory« (SIT, Tajfel und Turner 1986) zufolge ist das Selbstkonzept eines Individuums in Teilen von der/den sozialen Gruppe(n) abgeleitet, zu denen es gehört. Diese Gruppen können auf sozialen Kategorien (z. B. Gender) oder auf geteilten Ansichten und Meinungen darüber, wie die Dinge sein sollten beruhen (beispielsweise die Unterstützer*innen von Frauenrechten). Indem wir uns mit diesen sozialen Gruppen identifizieren, entwickeln wir »soziale Identitäten«: Wir betrachten Gruppenwerte, -normen und -ziele als bedeutsam für unser Selbst und verhalten uns in Übereinstimmung mit diesen Erwartungen. Zudem werden wir motiviert, die Interessen unserer Gruppe zu repräsentieren und ihr Ansehen und ihre Möglichkeite zu schützen oder zu verbessern.

Indem wir dies mit kollektiver Gewalt in Bezug setzen, können wir festhalten, dass uns unsere sozialen Identitäten dazu führen können, das gewalttätige Handeln unserer Gruppe und unsere Rolle als »Täter*innen« umzudefinieren basierend auf den Werten und Normen der Gruppe. So mögen sich Mitglieder von Siedlergesellschaften nicht als Dieb*innen verstehen, obwohl sie auf gestohlenem Land leben. Progressive, die für das weibliche Recht auf körperliche Selbstbestimmung eintreten, verstehen sich nicht als Unterstützer*innen von mörderischer Gewalt und »lebensschützende Konservative« verstehen sich selbst nicht als sexistisch und oppressiv. Zudem kann die Motivation, die eigene Gruppe in einem guten Licht erscheinen zu lassen, dazu führen, die Existenz oder die Auswirkungen von intergruppaler Gewalt herunterzuspielen, um das Ansehen oder Bild der eigenen Gruppe nicht zu beflecken. Daher kann schon der reine Glaube an die Existenz oder die Schwere der Verletzung – ob durch Rassismus oder den Klimawandel – stark variieren, abhängig von den Gruppenzugehörigkeiten.

Was motiviert Täter*innen zu ihren Taten?

Die »Social Identity Theory« kann uns auch bei der Erklärung helfen, wann und warum Menschen diese Verletzungen verüben. Ganz speziell die Motivation, unsere Gruppeninteressen zu schützen und zu bedienen sowie die Werte dieser Gruppe umzusetzen, können die Bereitschaft erhöhen, kollektive Gewalt zu unterstützen und an ihr teilzunehmen. Tatsächlich sind viele Fälle radikaler und gewalttätiger Handlungen durch diese »pro-Ingroup« Motive verstärkt (Thomas et al. 2014), was die Schlussfolgerung nahelegt, dass die Verletzung gegen die relevante Outgroup dem Schutz oder der Verbesserung des Status oder dem Wohlbefinden der Ingroup dient. Dazu kommt, dass Gruppenmitglieder umso mehr bereit sind, Schaden zuzufügen, je stärker sie sich mit ihrer Gruppe identifizieren (d.h. sie fühlen eine stärkere Art der Verbindung und Verpflichtung gegenüber dieser Ingroup, Tajfel und Turner 1986). Das rührt daher, dass diese stark identifikatorisch Gebundenen eher geneigt sind, bedeutsame Normen der Ingroup auszuführen – die verletzenden und schädigenden mit eingeschlossen – und diese auf ihr eigenes Selbstgefühl (»sense of self«) und ihr Verhalten anzuwenden (Amiot et al. 2020).

Allerdings liefert uns die SIT keine Erklärung für die diversen Motivationen hinter den Handlungen von Täter*innen. Das heißt, dass manche Gruppenmitglieder autonom Gewalt verüben, weil diese Handlungen ihre persönlichen Werte und Ziele spiegeln (d.h. diese Handlungen sind »internalisiert«), während andere wiederum Gewalt verüben, da sie eine Form von externem Druck oder Zwang verspüren. Das Modell zur »Internalisierung sozial normierten Verletzens« (MINSOH, Amiot et al 2020) wendet daher ein motivationales Kontinuum auf kollektives Schädigen an (Deci und Ryan 2000), bei dem die Motivation der Menschen für ein bestimmtes Verhalten von »selbstbestimmt« (self-determined; d.h. ausgewählt mit einem höheren Grad an Handlungsmacht und da sie Bestandteil der eigenen Identität sind) bis zu »nicht-selbstbestimmt« reicht (non-self-determined, d.h. gewählt aus einer geringeren Handlungsmacht und nicht aufgrund von Kernwerten des Selbstkonzeptes einer Person). MINSOH schlägt vor, dass die Motivation einer Täter*in sich entlang dieses Spek­trums organisiert und dass Gruppenprozesse es ermöglichen, dass die verletzenden Normen und Handlungen internalisiert werden und frei über Zeit hinweg verübt werden können.

Aus dem Modell folgt, dass Täter*innen sich an Gewalt aus einer Reihe von Gründen beteiligen:

  • Mit Blick auf Motive der Selbstbestimmtheit agieren Täter*innen gewaltvoll, um die Ziele der Gruppe zu erreichen oder um diese vor externen Bedrohungen zu schützen (»identifizierte Regulation«), oder weil Gewalt eine Funktion als Identitätsausdruck hat, bei der die Ingroup glaubt, dass diese normativen Handlungen mit den Kernüberzeugungen der Gruppe übereinstimmen (»integrierte Regulation«).
  • In manchen Fällen wird Gewalt und Verletzung zugefügt, weil es als an sich vergnüglich betrachtet wird, gänzlich getrennt von irgendeinem zweckdienlichen Mehrwert (»intrinsische Motivation«, z. B. Jagd von Tieren).
  • Manchmal jedoch wird Schaden auch aus nicht-selbstbestimmten Gründen verübt, beispielsweise um die Wahrnehmung der Wertigkeit der Gruppe sicherzustellen oder um ein Gefühl von Hochachtung zu erlangen (»introjezierte Regulation«) oder auch, weil es von anderen Gruppenmitgliedern erwartet wird (»externe Regulation«).
  • In manchen Fällen beteiligen sich die Gruppenmitglieder an Gewalt ohne Intention, selbst wenn sie nicht davon überzeugt sind, dass derartige Handlungen das erwünschte Ergebnis zur Folge haben werden; in diesem Fall könnten Gruppenmitglieder direkt ihre Beteiligung an diesem Verhalten infrage stellen (»Amotivation«).

»Opfer der Umstände« oder intentional handelnde Akteure?

Dass wir die Motivationen erhellen, die Gewalttaten stützen, kann auch dabei helfen zu erkunden, inwieweit Täter*innen die Verletzung beabsichtigen oder ob ihre Handlungen von Umständen befeuert werden, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. MINSOH legt nahe, dass Intentionalität und Kontext miteinander verwoben und nicht zwei getrennte Dimensionen sind. Beispielsweise handeln Gruppenmitglieder, die Schaden aus selbstbestimmten Motiven zufügen und dieses Verhalten aus freier Entscheidung unterstützen, beabsichtigt und willentlich. Jedoch können solche Handlungen aus einem intergruppalen Kontext erwachsen in dem verneint wird, dass es sich um Verletzungen handelt, diese herabgespielt oder als notwendig dargestellt werden, um die Interessen der Gruppe zu schützen (z. B. in einem Wettstreit um wertvolle Ressourcen) oder um ihre Werte zu verteidigen. Daher handeln diese Gruppenmitglieder zwar mit voller Absicht, aber fügen nicht unbedingt absichtsvoll Schaden zu, als Antwort auf einen dynamischen intergruppalen Kontext, der ihre Aufmerksamkeit auf die Vorteile für die Ingroup lenkt oder die gewaltvollen Handlungen sogar als positiv für die Betroffenen darstellt (wie z. B. im Kolonialismus).

Im starken Kontrast dazu reagieren Gruppenmitglieder, die aus nicht-selbstbestimmten Gründen Schaden zufügen, auf externen Druck, wie Zwang von anderen Gruppenmitglieder, oder dem Verlangen nach Belohnung. Daher kann argumentiert werden, da sich ihr Verhalten in einer geringeren Autonomie ausdrückt, dass diese Menschen nicht absichtsvoll Verletzungen zufügen, sondern die Absicht haben, diesen externen Druck von sich abzuleiten.

MINSOH legt ebenso nahe, dass man­che Gruppenmitglieder Gewalt ohne Absicht ausüben, gedankenlos. Insofern verhalten sie sich »unabsichtlich«, da ihre Motivation eher »unpersönlich« und uninvolviert als erzwungen ist. Stellen wir uns vor, Mitglieder einer Militäreinheit töten Zivilist*innen aus der verfeindeten Gruppe. Dann handeln einige Soldat*innen auf Basis der angenommenen patriotischen Vorteile, andere weil sie die Angst vor Bestrafung bei Verweigerung befürchten und wiederum andere sind erschöpft und denken überhaupt nicht nach über ihre Handlungen. Die moralische Bewertung, dass dieser Akt böse ist, setzt keineswegs voraus, dass alle Täter*innen einer kollektiven Gewalttat das selbe Motiv dafür haben.

Nicht zuletzt legt das Modell von MINSOH nahe, dass die Mitgliedschaft in unterschiedlichen Gruppen, die voneinander abweichende Positionen dazu vertreten, was es heißt, ein »guter, moralischer Mensch« zu sein, normative Hilfestellung sein kann, um kollektiver Gewalt in jedwedem Kontext vorzubeugen.

Umgekehrt erhöhen Erfahrungen von Vernachlässigung und Marginalisierug die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen dysfunktionale Bezugsgruppen suchen, die eben ein solches kollektives Schädigen propagieren (Amiot et al 2020). Rückkopplungsschlaufen in diesen Gruppen können dann das Durchführen von Gewalttaten bestärken, da jegliche Gewalttat Akteur*innen von pro-sozialen Gruppen entfremdet, nicht-selbstbestimmte Motive bekräftigt und moralische Verletzung und Trauma hervorruft (Louis et al 2015).

Um es erneut deutlich zu machen: Eine solche kontextuelle Analyse entlastet oder entschuldigt die Handlungen der Täter*innen nicht, aber sie hilft uns dabei, diejenigen sozialen und gruppenbezogenenen Faktoren zu identifizieren, die gefährliche Laufbahnen begünstigen und die daher geeignet sind für rechtzeitige Interventionen.

Literatur

Amiot, C. E.; Lizzio‐Wilson, M.; Thomas, E.F.; Louis, W.R. (2020): Bringing together humanistic and intergroup perspectives to build a model of internalisation of normative social harmdoing. European Journal of Social Psychology 50(3), S. 485-504.

Deci, E.L.; Ryan, R.M. (2000): The „what“ and „why“ of goal pursuits. Human needs and the self-determination of behavior. Psychological Inquiry 11(4), S. 227-268.

Louis, W.R.; Amiot, C.E.; Thomas, E.F. (2015): Collective harmdoing. Developing the perspective of the perpetrator. Peace and Conflict: Journal of Peace Psychology 21(3), S. 306-312.

Tajfel, H.; Turner, J. C. (1986): The social identity theory of intergroup behavior. In: Worchel, S.; Austin, W.G. (Hrsg.): Psychology of Intergroup Relations. Chicago: Nelson-Hall, S. 7-24.

Thomas, E.F.; McGarty, C.; Louis, W. (2014): Social interaction and psychological pathways to political engagement and extremism. European Journal of Social Psychology 44(1), S. 15-22.

Morgana Lizzio-Wilson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Flinders University. Sie forscht zur Rolle von Identität, Emotionen und Bedrohungen in kollektiver Handlung von progressiven und regressiven sozialen Bewegungen.
Winnifred R. Louis ist Professorin an der Universität von Queensland. Sie forscht zum Einfluss von Identität und Normen auf soziale Entscheidungsfindungen.
Emma F. Thomas ist Professorin an der Flinders University. Ihre Forschung erkundet, wie Menschen zusammenfinden, um gemeinsam soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu bekämpfen.
Catherine E. Amiot ist Professorin an der Université du Québec in Montreal. In ihrer Forschung adressiert sie die Selbstbestimmtheit der Annahme und Internalisierung von Normen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Konfliktkompetent in fünf Minuten?!

Konfliktkompetent in fünf Minuten?!

Zur Vermittlung konfliktpsychologischer Erkenntnisse durch Videos

von Mathias Jaudas, Heidi Ittner und Jürgen Maes

Der Großteil der deutschen Bevölkerung nutzt das Internet, 78 % sind
in sozialen Medien aktiv und 47 % der Deutschen nehmen digitale Lernangebote in Anspruch. Kann moderne Friedensarbeit demnach nicht auch online stattfinden, um die Menschen dort abzuholen, wo sie sich einen Großteil ihrer Zeit selbstbestimmt aufhalten? Der Beitrag beleuchtet die Potenziale und Herausforderungen einer online- und videobasierten Kompetenzvermittlung. Aus psychologischer Perspektive gehen wir der Frage nach, ob Videoformate in der Lage sind, Konfliktkompetenzen zum konstruktiven Umgang mit sozialen Konflikten zu verbessern.

Seit den 1970er Jahren ist sich die psychologische Konfliktforschung einig: Konflikte sind Chancen, wenn wir ihnen kompetent begegnen. Insbesondere die psychologische Mediationsforschung, die Kommunikations- aber auch die Gerechtigkeitspsychologie liefern handlungspraktisches Anwendungspotenzial, das für kooperative und gewaltfreie Konfliktlösungen im Alltag genutzt werden kann. Doch bislang verbleibt der größte Teil wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Umgang mit sozialen Konflikten dort, wo er entstand: in den Köpfen und Fachpublikationen der Expert*innen. Dabei vertrat der Psychologe George A. Miller schon 1969 die Ansicht, dass die Psychologie als Wissenschaft ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden sollte, indem sie psychologisches Wissen an die Öffentlichkeit weitergibt und damit zur Lösung individueller, aber auch gesellschaftlicher Herausforderungen beiträgt und Wohlergehen fördert (vgl. Miller 1969). Heutzutage wird diese gesellschafts- und bildungspolitisch initiierte Zielstellung durch die »Third Mission«-Bewegung wieder aufgegriffen und zunehmend prominent platziert.

Schritt Eins: Conflict Food – ein medialer Vermittlungsansatz entsteht

Unter dem Arbeitstitel »Conflict Food« entwickeln wir seit 2018 einen medialen Ansatz zur Vermittlung konfliktpsychologischer Erkenntnisse an die Bevölkerung – mit dem Ziel, die individuelle und gesellschaftliche Konfliktkompetenz zu verbessern. Dazu haben wir für Conflict Food einen online-basierten Multi-Level-Multi-Channel-Ansatz entwickelt, der verschiedenen Vermittlungskanälen (z. B. Twitter, YouTube, Websites) verschiedene Medienformate (z. B. Posts, Videos, Fact Sheets) zuweist, die jeweils ein spezifisches Verhältnis von Unterhaltung und Lernen aufweisen und somit mehr oder weniger implizites Lernen ermöglichen (siehe Abbildung 1 auf Seite 36).1 Grundannahme hier: Zunächst generieren wir durch attraktive Unterhaltungsformate Aufmerksamkeit, während wir den Transferanspruch geringhalten, um die Menschen dort abzuholen, wo sie sich in ihrer Freizeit aufhalten (Level 1). Haben wir Reichweite und damit Aufmerksamkeit gewonnen, können andere Formate, die zunehmend dem expliziten Lernen dienen, angeboten werden (Level 2-5) (vgl. Jaudas 2020).

Konzepte und erste Evaluation des Ansatzes

Bei der Auswahl konfliktpsychologischer Inhalte für die Conflict Food-Materialien kommt in unserem Ansatz dem gerechtigkeitspsychologisch fundierten Mediationskonzept von Leo Montada und Elisabeth Kals eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Montada und Kals 2013). Dieses liefert ein Modell sozialer Konflikte, das subjektiv erlebte Norm- oder Anspruchsverletzungen in den Mittelpunkt stellt und darauf basierend Bearbeitungsmöglichkeiten ableitet. Weiter geben kognitive Emotionsmodelle Hinweise darauf, wovon wir in konkreten Konfliktsituationen überzeugt sind, damit wir etwa Empörung, Neid oder Feindseligkeit empfinden. Aus all dem lassen sich Rückschlüsse auf die sogenannte Tiefenstruktur der Konflikte ziehen, d. h. die eigentlichen Beweggründe für die vertretenen Positionen. Eine Annäherung der Konfliktparteien wird durch verschiedene Relativierungstechniken möglich, die etwa konfliktverhärtende assertorische Urteilstendenzen (z. B. „Ich habe Recht, sonst niemand.“) durch ein Denken in Alternativen, dem hypothetischen Urteilen (z. B. „Inwieweit sieht es der andere anders als ich?“), aufweichen.

Auf dieser Basis verstehen wir Konfliktkompetenz also als Fähigkeit, sich in Konfliktsituationen auf alternative Ansichten und Erklärungsmöglichkeiten einlassen zu können, sich der Tiefenstruktur von Konflikten bewusst zu sein und darauf aufbauend eine für alle Konfliktparteien vorteilhafte Lösung entwickeln zu können (vgl. Jaudas und Maes 2021).

Um verlässlich Auskunft zu geben, ob die medialen Formate von Conflict Food konfliktspezifische Kompetenzen verbessern können, haben wir ein eigenes Messinstrument entwickelt: das Inventar mediationsspezifischer Konfliktkompetenz (IMKK). Basierend auf einem Kompetenzbegriff von Erpenbeck (2010) unterscheidet das IMKK die drei Kompetenzfacetten Wissen, Fähigkeit und Erfahrung. Zudem erlaubt die aktuelle Version eine Differenzierung in je vier verschiedene Teilkompetenzen, die sich aus dem oben geschilderten Mediationskonzept von Montada und Kals ableiten: (1) Verständnis sozialer Konflikte, (2) Oberflächen- vs. Tiefenstruktur, (3) Relativierungstechniken sowie (4) Konflikttranszendierung und Win-Win-Lösung (vgl. Jaudas 2020).

Die bisherigen Evaluationen fokussierten die Wirksamkeit eines für Conflict Food entwickelten Erklärvideoformats. In den ca. fünfminütigen Videos erläutert ein Sprecher aus der Expert*innenperspektive die vier aus dem Mediationskonzept abgeleiteten Teilkompetenzen. Die Vermittlung nutzt eine einfache Sprache, veranschaulichende Beispiele und eine reduzierte Visualisierung.

Eine experimentelle Kontrollgruppenstudie mit einer annähernd bevölkerungsrepräsentativen Quotenstichprobe (N = 499) belegt, dass die Nutzung der Videoformate die Konfliktkompetenz signifikant verbessert. Die Gruppe der Nutzer*innen, die die Videos gesehen hatte, zeigt im IMKK höheres konfliktspezifisches Wissen (dCohen = 1.202), verbesserte Anwendungsfähigkeit (dCohen = .82) und berichtet konfliktkompetenteres Verhalten (dCohen = .32). Eine Folgeerhebung bestätigte sechs Monate nach dem Anschauen der Videos signifikante Langzeiteffekte in allen Kompetenzfacetten. Die Evaluation der Erklärvideos spricht somit grundsätzlich dafür, dass durch ihren Einsatz Konfliktkompetenzen verbessert werden können. Nun galt es, attraktivere Videoformate zu entwickeln und auch für niedrigere Ebenen des Multi-Level-Multi-Channel-Ansatzes zu testen.

Schritt zwei: Können auch virale Videoformate Konfliktkompetenzen verbessern?

Das Ziel der sich anschließenden Studie3 bestand darin, ein Videokonzept zu entwickeln, das sich besser für eine virale Verbreitung auf Social-Media-Plattformen eignen und Reaktanzen4 seitens der Nutzer*innen vermeiden sollte, wie sie teilweise bei den Erklärvideoformaten beobachtet werden konnten. Das neue Format ordnet sich im Multi-Level-Multi-Channel-Ansatz (vgl. Abbildung 1) damit auf einer niedrigeren Stufe ein: Der Unterhaltungsanteil steigt im Vergleich zum Lernanteil und der Transfer des Konfliktwissens erfolgt stärker implizit.

Von anderen Laien lernen: Peer-to-Peer Videos

Aus der Forschung zur Sozialkognitiven Lerntheorie wissen wir, dass die Wahrscheinlichkeit für ein erfolgreiches Modelllernen steigt, wenn das Modell dem Lernenden ähnlich ist (z. B. Davidson und Smith 1982). Auf dieser Grundlage entstand die Idee, einen symmetrischen Transferansatz zu wählen, bei dem – im Gegensatz zum bisherigen Format – die Darstellung der Inhalte nicht aus Expert*innenperspektive, sondern aus Sicht von Laien erfolgen sollte. Das Format berücksichtigt damit potenzielle Widerstände seitens der Nutzer*innen aufgrund einer als eher normativ erlebten Vermittlung durch »belehrende Expert*innen«. Damit ist zugleich eine Stärkung des Edutainment-Ansatzes verbunden, denn das Beobachten erhält durch die Eigenheiten der darstellenden Laien unterhaltsame Komponenten und bedient als weiteres Nutzungsmotiv das Interesse, andere Menschen in ihren Besonderheiten kennenzulernen, vergleichen und bewerten zu können.

Dazu bekommen Laien eine kurze Einführung in das Thema durch Expert*innen und versuchen später, diese Inhalte knapp, verständlich und in eigenen Worten selbst in einer Videosequenz zu vermitteln. Das ist auch als Reaction­video möglich, bei dem eine Person live auf filmische Konfliktepisoden in einer Videosequenz reagiert, diese also in eigenen Worten kommentiert. Durch die Auswahl eines diversen Personenpools für diese Videos werden diese abwechslungsreicher und bieten eine größere Vielfalt an Identifikationsmöglichkeiten für Nutzer*innen.

Um herauszufinden, wie gut ein solches Videoformat im Vergleich zu den bereits evaluierten Erklärvideoformaten in der Lage ist, Konfliktkompetenzen zu verbessern, haben wir ein circa fünfminütiges Reactionvideo produziert, das die Differenzierung zwischen der Oberflächen- und Tiefenstruktur von Konflikten thematisiert. Zur Erfassung eines möglichen Kompetenzzuwachses beantworteten die Proband*innen im Anschluss die Fragen der Wissens- und der Fähigkeitsfacette des IMKK. Zusätzlich wurden die Proband*innen gebeten, das Videoformat anhand der Kriterien Alltagsnutzen, Unterhaltsamkeit, neue Informationen und genereller Präferenz (Liking) zu bewerten.

Ergebnisse der vergleichenden Evaluationen

Nachdem die Proband*innen das Reactionvideo gesehen haben, zeigen sie mit Blick auf die Wissensfacette signifikant höhere Werte als zuvor (dCohen = .45). Im Vergleich dazu lieferte allerdings das inhaltlich korrespondierende Erklärvideo der Expert*innen eine höhere Effektstärke (dCohen = .77). Auch im Hinblick auf eine mögliche Veränderung der Fähigkeitsfacette steigen die Werte nach dem Anschauen des Reactionvideos signifikant (dCohen = .29), wenngleich die Effektstärke des Erklärvideos auch in dieser Kompetenzfacette größer ist (­dCohen = .52). Bezüglich der Wirksamkeitsevaluation lässt sich demnach feststellen, dass auch das Reactionvideoformat in der Lage ist, die hier überprüften wissens- und fähigkeitsbasierten Kompetenzfacetten signifikant zu verbessern. Dass die Effektstärken im Vergleich zum Erklärvideoformat geringer ausfallen, entspricht den Erwartungen, denn der Anteil expliziter Wissensvermittlung ist im Reactionformat auch deutlich geringer als im Erklärvideoformat.

Entgegen den Erwartungen jedoch wurde das Reactionvideo im Zuge der Produktevaluation überwiegend schlechter bewertet als das Erklärvideoformat: Das Erklärvideo liefert subjektiv einen höheren Alltagsnutzen (dCohen = .41), vermittelt mehr neue Informationen (dCohen = .59) und zeigt insgesamt höhere Präferenzwerte (dCohen = .33). Mit Blick auf die wahrgenommene Unterhaltsamkeit beider Videoformate konnten – ebenfalls entgegen den Erwartungen – keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden (dCohen = .10,
p = .376). Leider kann zu den Gründen dieser Ergebnisse aufgrund der begrenzten Datenlage zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden. Eine Erklärung könnte darin bestehen, dass die allgemeine Produktionsqualität der Erklärvideos höher ist als die des Reac­tionvideos und daraus eine pauschalisierte Präferenz für das Erklärvideoformat entstanden ist. Auch Stichprobeneffekte sind nicht auszuschließen, da es sich hier nicht um einen direkten Vergleich beider Videoformate gehandelt hat, sondern die Proband*innen jeweils nur ein Format bewertet haben und sich die beiden Stichproben in Hinblick einiger soziodemografischer Variablen signifikant unterscheiden.

Ein kritischer Blick auf die Wirksamkeit

Wenngleich die Ergebnisse der bisherigen Wirksamkeitsanalysen konsistente Verbesserungen in den getesteten Kompetenzfacetten zeigen, sind diese Ergebnisse zum aktuellen Zeitpunkt mit Vorsicht zu interpretieren, insbesondere aufgrund der bisher eingeschränkten Datengrundlage. Das IMKK liefert valide Ergebnisse in Hinblick auf die Kompetenzfacetten Wissen und Fähigkeit. Doch eine Steigerung von konfliktspezifischem Wissen und Fähigkeiten sagt noch nichts darüber aus, ob sich auch das faktische Verhalten im Umgang mit sozialen Konflikten ändert. Im Einklang mit der psychologischen Konfliktstilforschung nutzt das IMKK in der Erfahrungsfacette ausschließlich Selbstauskunftsitems (z. B. „In Streitigkeiten und Konflikten frage ich mich, ob die andere Konfliktpartei für ihr Fehlverhalten verantwortlich ist.“). Aus aktuellen Studien wissen wir jedoch, dass Menschen bei der Beschreibung des eigenen Konfliktverhaltens einer starken kognitiven Verzerrung unterliegen, mit der sie ihr eigenes Verhalten nahe an dem für sie gültigen normativen Ideal orientieren. Mit anderen Worten tendieren wir dazu, unser eigenes Konfliktverhalten so zu beschreiben, wie wir glauben, dass man sich im Idealfall verhalten sollte. Positiv interpretiert bedeutet dies, dass die Videos dabei unterstützen, dass die Nutzer*innen ihr normatives Ideal verschieben. Es bleibt auf der bestehenden Datenlage aber ungewiss, ob die Videos auch dabei helfen, den alltäglichen Umgang mit Konflikten zu verändern.

Ergänzend dazu muss berücksichtigt werden, dass die Videoformate bislang noch nicht im realen Umfeld verschiedener Social-Media-Plattformen konsumiert wurden. Dieser Umstand ist für die Wirksamkeitsevaluation nicht zentral. Für die Frage, ob es letztlich gelingen kann, über derartige videobasierte Angebote Konfliktkompetenzen zu verbessern, ist er jedoch essenziell. Hier wird deutlich, dass die Vermittlung konfliktpsychologischer Erkenntnisse weitere Hürden nehmen muss: Es reicht nicht, wenn Transferangebote existieren. Sie müssen attraktiv sein und die Bedürfnisse und Präferenzen von Nutzer*innen berücksichtigen. Kurz gesagt: Nützlichkeit setzt Nutzung voraus.

Chancen videobasierter Transferkonzepte

Doch aus unserer Sicht lohnt es sich, an der Überwindung der genannten Hürden zu arbeiten.

In zukünftigen Studien wird die Wirksamkeitsevaluation um verhaltensnahe Daten zu ergänzen sein, um herauszufinden, ob Verhaltensänderungen im Alltag erzielt werden können. Das kommt nicht nur einer valideren Evaluation zugute, sondern hilft uns auch in der anwendungsorientierten Konfliktforschung. Die zentralen Forschungsfragen lauten: Unter welchen Voraussetzungen werden konfliktspezifisches Wissen und Fähigkeiten in entsprechendes Handeln überführt? Welche Personen- und Umweltmerkmale verhindern bei vorhandenem Wissen die alltägliche Ausführung konfliktkompetenter Verhaltensweisen? Wie können diese verändert werden?

Auch die Herausforderung, die Videoformate außerhalb experimenteller Evaluationsstudien auf Social-Media-Plattformen zu verbreiten, kann und sollte angenommen werden. Der Schlüssel liegt hier in einer gelebten Selbstbescheidung: Wissenschaftler*innen sollten sich eingestehen, dass es Expert*innen insbesondere aus der Kreativwirtschaft braucht (z. B. Videoproduktion, Online-Marketing), um ein attraktives Produkt herzustellen, um Reichweite und damit Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die idealistische Überzeugung, sich für eine gesellschaftlich relevante und nützliche Sache zu engagieren, setzt übliche Marktgesetze allein nicht außer Kraft. Gerade der Wettbewerb um Aufmerksamkeit in hochdynamischen Systemen wie YouTube und anderen sozialen Netzwerken ist ohne professionelle Expertise und die dafür notwendigen Ressourcen nur schwer zu gewinnen.

Mit dem Forschungs- und Transferprojekt »KOKO. Konflikt und Kommunikation«5 gehen wir diese und weitere Herausforderungen an. Ein interdisziplinär aufgestelltes Forscher*innenteam aus Psychologie, Journalistik und Politikwissenschaft hofft so, zur Verbesserung gesellschaftlicher Konfliktkompetenz beitragen zu können – auch wenn es mehr als fünf Minuten in Anspruch nehmen sollte.

Anmerkungen

1) Grundlage des Ansatzes sind Impulse aus der Sozialkognitiven Lerntheorie, dem Lernen durch Beobachtung (Bandura 1976) und dem Edutainment-Ansatz.

2) Effektstärkemaß Cohen’s d: Hier beschreibt es die Größe bzw. die Bedeutsamkeit von vorliegenden Unterschieden zwischen der Experimental- und der Kontrollgruppe und damit die Bedeutsamkeit des Kompetenzzuwachses. Nach Cohen (1988) gilt dCohen ˜ .20 als kleiner Effekt, dCohen ˜ .50 als mittlerer Effekt und dCohen > .80 als großer Effekt.

3) »Entwicklung und Evaluation eines Reactionvideos im Peer-to-Peer-Transfer«. Diese Studie wurde durch den Small Grant 2020 des Forums Friedenspsychologie e.V. gefördert.

4) Reaktanz meint die Ablehnung vorgegebener Verhaltensweisen, weil diese den Handlungsspielraum der Adressaten einschränken. Menschen verhalten sich reaktant, um Freiheit wiederzuerlangen und nicht, weil sie inhaltlich anderer Meinung sind.

5) »KOKO. Konflikt und Kommunikation« wird durch das dtec.bw®-Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr von 2021-2024 gefördert.

Literatur

Bandura, A. (1976): Lernen am Modell. Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart: Klett.

Cohen, J. (1988): Statistical power analysis for the behavioral sciences (2nd ed.). Hillsdale, N.J.: L. Erlbaum Associates.

Davidson, E. S.; Smith, W. P. (1982): Imitation, social comparison, and self-reward. In: Child Development 53(4), S. 928-932.

Erpenbeck, J. (2010): Kompetenzen – eine begriffliche Klärung. In: Heyse, V.; Erpenbeck, J.; Ortmann, S. (Hrsg.): Grundstrukturen menschlicher Kompetenzen. Münster: Waxmann, S. 13-20.

Jaudas, M. (2020). Psychologie Weitergeben. Entwicklung und Evaluation eines online-basierten Programms zur Vermittlung mediationsspezifischer Konfliktkompetenz. Dissertation an der Universität der Bundeswehr München. Neubiberg: Universität der Bundeswehr München Fakultät für Humanwissenschaften.

Jaudas, M.; Maes J. (2021): Der soziale Konflikt. Durch psychologische Begriffsarbeit zu einer verbesserten Konfliktbearbeitung. In: Konfliktdynamik 10(1), S. 21-28.

Miller, G. A. (1969): Psychology as a means of promoting human welfare. In: American Psychologist 24(12), S. 1063-1075.

Montada, L.; Kals, E. (2013): Mediation: psychologische Grundlagen und Perspektiven (3. Aufl.). Weinheim: Beltz.

Dr. Mathias Jaudas, Psychologe, leitet das Forschungsprojekt »KOKO. Konflikt und Kommunikation«. Hier beschäftigt er sich mit Eskalationsdynamiken sozialer Konflikte und entwickelt ein mediales Transferkonzept zur Weitergabe konfliktpsychologischer Erkenntnisse an die Bevölkerung.
Dr. Heidi Ittner, Psychologin, ist Mitarbeiterin im Projekt »KOKO«. Ihre Forschungs- und Praxisschwerpunkte liegen im Konfliktmanagement, v.a. der Mediation, und der Gerechtigkeitspsychologie. Daneben ist sie freiberuflich in der Körperarbeit und im Coaching tätig.
Prof. Dr. Jürgen Maes, Psychologe, ist Professor für Sozial- und Konfliktpsychologie an der Universität der Bundeswehr München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Gerechtigkeitspsychologie und der angewandten Sozialpsychologie. Seit 2021 leitet er gemeinsam mit Mathias Jaudas das Forschungsprojekt »KOKO«.

Frieden lernen

Frieden lernen

Eine Einführung in die Psychologie des Verhandelns

von Marie-Lena Frech

Im Folgenden stellt Marie-Lena Frech einige Grundlagen der psychologischen Verhandlungsführung dar und unterstreicht die Bedeutung dieser Kulturtechnik für das Erlernen und Bewahren von Frieden.

Verhandlungen helfen uns dabei, soziale Konflikte zu lösen. So verhandeln Partner*innen in einer Beziehung beispielsweise über die Aufteilung der Aufgaben im Haushalt, Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen über das Gehalt, Gewerkschaften und Arbeitgeber über Arbeitskonditionen und Nationen über die Aufteilung begrenzter Ressourcen. Die Fähigkeit, Konflikte friedlich zu lösen und eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten, ist demnach eine Grundvoraussetzung für das menschliche Zusammenleben.

Grundsätzlich lassen sich Verhandlungen beschreiben als Diskussionen zwischen zwei oder mehreren Parteien mit dem Ziel, konkurrierende Interessen zu beseitigen, um zu einer Übereinkunft zu kommen und somit soziale Konflikte zu vermeiden (Pruitt und Carnevale 1993, S. 2). Verhandlungsparteien können hierbei Einzelpersonen sein oder auch Gruppen, Organisationen oder Nationen. Durch den Eintritt in die Verhandlung erhoffen sich die Parteien, dass die Konflikte im Sinne ihrer Interessen bezüglich einzelner Verhandlungsgegenstände gelöst werden können. Verhandlungen können dabei einen oder mehrere Verhandlungsgegenstände umfassen.

So verhandelten beispielsweise die Konfliktparteien im Rahmen des Dayton-Friedensvertrags über die Aufteilung Bosniens und Herzegowinas in eine serbische und eine kroatisch-muslimische Teilrepublik. Bei dieser Aufteilung stand die Begrenztheit des Territoriums und das damit verbundene Verteilungsproblem im Vordergrund. Jede Partei strebte danach, so viel Territorium wie möglich für sich zu beanspruchen. Die Fachliteratur spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Nullsummenspiel, da zusätzlicher Wert für die eine Partei nur durch Kosten der anderen Partei entstehen kann (vgl. Thompson 1990, S. 101).

Häufig sind Verhandlungen jedoch komplexer und beinhalten mehrere Verhandlungsgegenstände gleichzeitig. So wurde im Dayton-Abkommen neben der territorialen Aufteilung etwa auch über den Namen und weitere verfassungsrechtliche Grundlagen des Staates Bosnien und Herzegowina verhandelt. Auch wenn Verhandlungen mit zunehmender Anzahl an Verhandlungsgegenständen komplexer werden, nehmen dadurch gleichzeitig die Möglichkeiten zu, für alle Parteien zufriedenstellende Einigungen herbeizuführen. Durch die Kooperation der Verhandlungsparteien bei der Bearbeitung der Gegenstände kann sich der gemeinsame Nutzen erhöhen und sogenannte »Win-Win«-Lösungen erzielt werden. Die Fachliteratur nennt dies »integrative Verhandlungen« (Kelman 2006, S. 22). Verglichen mit der Aufteilung eines Kuchens, geht es bei integrativen Verhandlungen darum, den Kuchen zu vergrößern und anschließend möglichst gerecht zu verteilen, so dass alle Parteien mehr davon bekommen und zufrieden auseinander gehen.

Den Kuchen vergrößern

Oftmals starten wir in Verhandlungen mit der Annahme, dass die andere Konfliktpartei hinsichtlich der einzelnen Verhandlungsgegenstände die gleichen Präferenzen hat wie wir. Dabei ist es jedoch häufig so, dass die Verhandlungsparteien die einzelnen Verhandlungsgegenstände unterschiedlich stark präferieren (vgl. Thompson 1990, S. 101). Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften beispielsweise über Löhne, Wochenstunden und Betriebsrenten verhandeln, könnte der Fall eintreten, in dem die Gewerkschaften höhere Löhne kürzeren Arbeitszeiten vorziehen, während den Arbeitgebern die Erhöhung der Wochenstunden wichtiger ist als die Ersparnis bei den Löhnen.

Wenn mehrere Verhandlungsgegenstände verhandelt werden und für diese je unterschiedliche Präferenzen bestehen, können Tauschgewinne erzielt werden (vgl. Froman und Cohen 1970, S. 181). Für unser Beispiel bedeutet dies, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften auf eine Arbeitszeiterhöhung und eine Anhebung der Löhne einigen. Durch gegenseitige Zugeständnisse werden die Präferenzen beider Parteien berücksichtigt. So machen die Arbeitgeber Zugeständnisse bei den Löhnen, die für sie niedrigere Priorität haben, aber für die Gewerkschaften von zentraler Bedeutung sind. Im Gegenzug wird erwartet, dass die Gewerkschaften den Arbeitgebern bei den Arbeitszeiten entgegenkommen, die für die Gewerkschaften eher zweitrangig sind, jedoch hohe Priorität für die Arbeitgeber haben.

Im Kern beruht dieser Ansatz auf dem psychologischen Prinzip der sogenannten Reziprozität – dem Gesetz der Gegenseitigkeit. Wenn uns unser Gegenüber etwas Gutes tut, sind wir bemüht, unser Haben-Konto auszugleichen und eine Gegenleistung zu erbringen (vgl. Brett, Shapiro und Lytle 1988, S. 411). Prinzipiell gilt: je mehr Verhandlungsgegenstände auf dem Tisch liegen, desto eher bestehen Austauschmöglichkeiten.

Damit die vorhandenen Potentiale genutzt werden können, ist es dann aber wichtig, die einzelnen Verhandlungsgegenstände zusammen als Paket und nicht getrennt voneinander zu betrachten (vgl. Weingart, Bennett und Brett 1993, S. 505). Würden Arbeitgeber und Gewerkschaften sich beispielsweise erst bei den Arbeitszeiten einigen und danach über die Löhne verhandeln, würden sie womöglich die Gelegenheit für einen Tauschgewinn versäumen.

Werden neben den individuellen Präferenzen auch noch die zugrundeliegenden Interessen der Parteien berücksichtigt, haben die Beteiligten üblicherweise einen höheren Nutzen als bei einer 50-50 Kompromisslösung (vgl. Bazerman, Mannix und Thompson 1988, S. 205). Zur Veranschaulichung ein bekanntes Beispiel aus der Verhandlungsforschung (vgl. Follet 1940, S. 36): Zwei Schwestern streiten sich um eine Orange. Nach langem Hin und Her einigen sie sich schließlich darauf, die Orange in der Mitte zu halbieren. Während die eine Schwester das Fruchtfleisch ihrer Hälfte verwendet, um einen Saft zu pressen, nimmt die andere Schwester die Schale ihrer Hälfte, um einen Kuchen zu backen. Während also der Kompromiss – die Orange zu teilen – auf den ersten Blick eine gute und faire Einigung darstellt, hätten die Schwestern jeweils einen größeren Gewinn erzielt, hätten sie erkannt, dass ihre Interessen nicht entgegengesetzt, sondern miteinander kompatibel waren. So hätte die eine das ganze Fruchtfleisch und die andere die ganze Schale haben können. Das Beispiel verdeutlicht, wie durch interessenorientiertes Verhandeln ein Nutzen für beide Verhandlungsparteien erzielt werden kann.

Die Frage nach dem „Warum“

Damit Interessenunterschiede genutzt werden können, ist es notwendig diese erst einmal zu erkennen. Der Informationsaustausch zwischen den Parteien ist hierbei eine wesentliche Voraussetzung (vgl. Thompson 1990, S. 111). Hätten die Schwestern sich beispielsweise gegenseitig die Frage gestellt:
„Warum brauchst du die Orange?“, hätten sie relativ schnell feststellen können, dass es bessere Lösungen gibt, als die Orange in der Mitte zu teilen. Im Fokus der Verhandlung sollte daher nicht das Feilschen um Positionen, sondern das Verhandeln über Interessen stehen. Während Positionen einfache Aussagen darüber sind, was eine Person will („Ich will die Orange haben“) beziehen sich die Interessen auf die zugrundeliegenden Gründe hinter der Position („Ich möchte Orangensaft trinken“ und „Ich würde gerne einen Kuchen backen“). Interessen sind also die Treiber, die Aufschluss darüber geben, warum eine Person eine bestimmte Position einnimmt (vgl. Fisher und Ury 1981, S. 42). Durch eine Position kann ein Interesse befriedigt werden, aber eine Position ist nicht zwangsläufig der einzige oder beste Weg, dies zu tun. Kurz gesagt: Positionen sind verhandelbar, Interessen nicht.

Zu oft fokussieren sich Verhandlungsparteien rein auf Positionen, was zur Folge haben kann, dass die zugrundeliegenden Interessen unbefriedigt oder sogar unerkannt bleiben. So wird das integrative Potential einer Verhandlung häufig gar nicht erst erkannt. Ein gegenseitiges Verständnis dafür, was sich die Gegenseite von der Verhandlung erhofft, ist daher essenziell, um Win-Win Lösungen zu erzielen.

Der beste Weg, die Bedürfnisse der Gegenpartei zu identifizieren, ist, viele offene Fragen zu stellen, die nach dem „Warum?“ fragen (z. B. „Warum ist das für Sie wichtig?“). Fragen wie
„Was haben Sie sich vorgestellt?“ sind im Vergleich dazu eher wenig nützlich, da sie nach den Positionen fragen und nicht nach den dahinterliegenden Interessen. Das Beispiel der Schwestern, die sich um eine Orange streiten, stellt auf ziemlich vereinfachte Weise dar, dass es sich lohnt, nach den Interessen einer Verhandlungspartei zu fragen. Doch auch historische Beispiele zeigen, dass interessenbasiertes Verhandeln der Schlüssel zu einer Einigung sein kann. Während der Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel im Jahr 1979 war zunächst keine der Parteien bereit, die Sinai-Halbinsel, die zwischenzeitlich von Israel besetzt war, aufzugeben. Die Frage nach dem „Warum?“ machte den Verhandlungsparteien deutlich, dass Ägypten die Souveränität über sein eigenes Staatsgebiet wichtig war, während Israel Sorge hatte, dass bei einer erneuten Konfliktsituation ägyptische Panzer nach Israel vordringen könnten. Die Lösung bestand darin, die Sinai-Halbinsel an Ägypten zurückzugeben und die Zone zu entmilitarisieren. Auf diese Weise fanden beide Verhandlungsparteien nach Jahren des Konflikts kompatible Interessen (Souveränität, Sicherheit) hinter gegensätzlichen Positionen (vgl. Fisher und Ury 1981, S. 43).

Kommunikation und Vertrauen als Grundbausteine

Ein reger Informationsaustausch ist wichtig für die Erarbeitung gemeinsamer Ziele, funktioniert jedoch nur, wenn die richtigen Informationen geteilt werden. Nur wenn alle Verhandlungsparteien ihre wahren Ziele und Interessen offen kommunizieren, lassen sich unterschiedliche Interessen und Präferenzen nutzen. Der Grundstein für die Zusammenarbeit zwischen Verhandlungsparteien lautet daher: Vertrauen. Ohne einen vertrauensvollen Umgang werden Parteien kaum ihre wahren Interessen offenlegen – aus Angst, dass die Gegenseite dieses Wissen missbrauchen könnte (vgl. De Dreu, Giebels und Van de Vliert 1998, S. 406). Vertrauenswürdigkeit wird dabei über transparenten Informationsaustausch hergestellt. Konfliktparteien, die transparent sind, werden meist damit belohnt, dass es ihnen ihre Verhandlungspartner gleichtun. Menschen neigen dazu, auf die Handlungen anderer mit ähnlichen Handlungen zu reagieren: Wenn andere mit uns kooperieren und mit Respekt behandeln, reagieren wir in gleicher Weise (vgl. Malhotra und Bazerman 2007, S. 90). Konfliktparteien müssen allerdings nicht gleich zu Beginn alle Interessen und Ziele offenbaren. Viel eher geht es um einen gemeinsamen Prozess, in dem beide Parteien Schritt für Schritt gegenseitig Informationen miteinander teilen.

Zuhören und verstehen

Aktives Zuhören, bei dem sich der Zuhörende dem Sprechenden mit einer offenen und empathischen Grundhaltung zuwendet, trägt ebenfalls zum Aufbau von Vertrauen bei. Zuhören ermöglicht es uns, zwischen den Zeilen zu lesen und vermittelt dem Sprechenden Kooperationsbereitschaft. Neben dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung stellt der Perspektivwechsel eine weitere Verhandlungsstrategie dar, um mehr über die Präferenzen und Interessen einer Verhandlungspartei zu erfahren. Verhandlungsparteien, die eine hohe Fähigkeit aufweisen, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, verstehen dessen zugrundeliegenden Interessen besser und können dies nutzen, um höheren Nutzen für alle Parteien zu erzielen (vgl. Trötschel et al. 2011, S. 774). Bei vielen Verhandlungen handelt es sich nicht um einmalige Austauschbeziehungen, sondern um Zusammenkünfte über einen längeren Zeitraum. Ein Verhandlungsklima, das auf Vertrauen und offener Kommunikation beruht, ist besonders wichtig für die langfristige, soziale Beziehung der Verhandlungsparteien. Auch wenn es vielleicht in manchen Situationen kurzfristig vielversprechender erscheinen mag, nicht zu kooperieren und einen schnellen Gewinn einzufahren, wird langfristig genau das Gegenteil erreicht und die Beziehung zum Verhandlungsgegenüber gefährdet.

Die Aufteilung des Kuchens

Erfolgreiches Verhandeln besteht jedoch nicht nur darin, sprichwörtlich gemeinsam einen möglichst großen Kuchen zu backen, sondern sich hinterher auch ein möglichst großes Stück davon zu sichern. Verhandlungen sind demnach immer ein Zusammenspiel von Kooperation und Wettbewerb. Neben der Wertschöpfung gehört auch die Wertverteilung dazu. Der Gedanke des integrativen Verhandelns besteht darin, dass die Parteien in diesem Stadium der Verhandlung bereits eine kooperative Arbeitsbeziehung aufgebaut haben, die ihnen das Verteilen des Kuchens erleichtert. Eine »Win-Win«-Lösung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass beide Parteien einen Nutzen erzielen und niemand als Verlierer*in aus der Verhandlung hervorgeht. Die Größe des Gewinns jeder Partei variiert jedoch, abhängig davon, wie der Kuchen aufgeteilt wird, nachdem er vergrößert wurde. Je mehr Optionen bzw. Stücke allerdings auf dem Tisch liegen, desto einfacher werden sich die Parteien einigen.

Frieden verhandeln?

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass viele soziale Konflikte durch Verhandlungen gelöst werden können. Sofern die Verhandlung integratives Potential besitzt, kann durch einen kooperativen Verhandlungsstil, bei dem die Parteien gemeinsam an der Realisierung ihrer Ziele arbeiten, der Wert für alle Parteien erhöht werden. Ein gegenseitiges Verständnis für die Bedürfnisse, Interessen und Präferenzen des jeweils Anderen ist dabei entscheidend, um den Verhandlungsspielraum zu erweitern und Tauschgewinne zu erzielen. Eine offene Kommunikation, die auf gegenseitigem Vertrauen und Transparenz beruht, fördert außerdem den Informationsaustauch und den Aufbau von langfristigen Beziehungen. Der Leitsatz für integrative Verhandlungen lautet demnach: Teamarbeit statt Wettbewerb.

Literatur

Bazerman, M. H.; Mannix, E. A.; Thompson, L. L. (1988): Groups as mixed-motive negotiations. In: Lawler, E.J., Markovsky, B. (Hrsg.): Advances in Group Processes Vol. 5. Greenwich: JAI Press, S. 195-216.

Brett, J. M.; Shapiro, D. L.; Lytle, A. L. (1998): Breaking the bonds of reciprocity in negotiations. In: Academy of Management Journal 41(4), S. 410-424.

De Dreu, C. K.; Giebels, E.; Van de Vliert, E. (1998): Social motives and trust in integrative negotiation: The disruptive effects of punitive capability. In: Journal of Applied Psychology 83(3), S. 408-422.

Fisher, R.; Ury, W. (1981): Getting to yes: Negotiating agreement without giving in. New York, NY: Penguin Books.

Follet, M. P. (1940): Constructive conflict. In: Metcalf, H.C.; Urwick, L. (Hrsg:): Dynamic administration: The collected papers of Mary Parker Follet. New York: Harper and Row, S. 30-49.

Froman Jr, L. A.; Cohen, M. D. (1970): Compromise and logroll: Comparing the efficiency of two bargaining processes. In: Behavioral Science15(2), S. 180-183.

Kelman, H. C. (2006): Interests, relationships, identities: Three central issues for individuals and groups in negotiating their social environment. In: Annu. Rev. Psychol. 57, S. 1-26.

Malhotra, D.; Bazerman, M. (2007): Negotiation genius: How to overcome obstacles and achieve brilliant results at the bargaining table and beyond. Bantam.

Pruitt, D. G.; Carnevale, P. J. (1993): Negotiation in social conflict. Pacific Grove: Thomson Brooks/Cole Publishing Co.

Thompson, L. (1990): Negotiation behavior and outcomes: Empirical evidence and theoretical issues. In: Psychological Bulletin 108(3), S. 515-532.

Trötschel, R. et al. (2011): Perspective taking as a means to overcome motivational barriers in negotiations: When putting oneself into the opponent’s shoes helps to walk toward agreements. In: Journal of Personality and Social Psychology 101, S. 771-790.

Weingart, L. R.; Bennett, R. J.; Brett, J. M. (1993): The impact of consideration of issues and motivational orientation on group negotiation process and outcome. In: Journal of Applied Psychology 78(3), S. 504-517.

Marie-Lena Frech ist wiss. Mitarbeiterin am Forschungszentrum für Digitale Transformation an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie forscht zu menschlichem Erleben und Verhalten in Urteils- und Entscheidungssituationen.

Gert-Sommer-Preis 2018

Gert-Sommer-Preis 2018

Die Arbeiten der Preisträger*innen

von Timothy Williams, Ulrike Auge und Sofia Krüger

Auf der Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie (siehe Bericht auf S. 58) wurde auch 2018 wieder der Gert-Sommer-Preis für die beste friedenspsychologische Qualifikationsarbeit des vergangenen Jahres verliehen. Der Preis ging an die Dissertation über ein Modell zur »Komplexität des Bösen« von Timothy Williams, in dessen Preisvortrag die komplexen Dimensionen und Verschränkungen in Genoziden an den Beispielen Ruanda und Kambodscha aufgezeigt wurden. Aufgrund der überdurchschnittlichen Qualität der Einreichungen gab es in diesem Jahr auch zwei »Honorable Mention«-Vorträge. Der Beitrag von Ulrike Auge befasste sich mit den Strategien, mit denen Jugendliche in Afghanistan trotz ihrer außerordentlich belastenden Lebenssituation die Adolszenz innerhalb der eigenen Identita¨tsbildung sowie der gesellschaftlich vorgegebenen (Handlungs-) Ra¨ume verhandeln und dabei einen Beitrag zu einer friedlichen Gesellschaft leisten. Sofia Krüger untersuchte, wie die Kirchen im Nordirland-Konflikt mit der Betonung eines Friedensethos eine aktive Politik des »Counterframing« betrieben.
Auf Bitten von W&F verfassten die drei Geehrten kurze Text zu ihren jeweiligen Arbeiten, die wir nachfolgend abdrucken.

Die Komplexität des Bösen

von Timothy Williams

Warum beteiligen sich Menschen an Völkermord? Um diese scheinbar simple Frage zu beantworten, habe ich für meine Dissertation das Modell zur »Komplexität des Bösen« entworfen. Das Modell bedient sich der Soziologie, Politikwissenschaft, Sozialpsychologie, Kriminologie und Anthropologie und ihrer jeweiligen theoretischen, experimentellen und empirischen Einsichten aus verschiedenen Fällen (für die einflussreichste Forschung bisher siehe Browning 2001; Fujii 2009; Hinton 2005; Straus 2006). Hieraus ergibt sich eine konzeptuelle Grundlage, um die Beteiligung individueller Täter*innen und ihre Handlungen im Völkermord zu verstehen. Mein Erkenntnisinteresse liegt nicht bei den Führern, die sich die mörderischen Ideologien ausdenken oder die Policies befehlen, sondern beim Fußvolk, also bei den einfachen Menschen, die diese Pläne in die Realität umsetzen.

Die »Komplexität des Bösen« knüpft explizit an Hannah Arendts ikonische Idee der »Banalität des Bösen« an, dass Handlungen keiner bösen Motivation bedürfen, sondern auch in Gedankenlosigkeit geschehen können. Mein Modell legt den Fokus auf die Vielfältigkeit der verschiedenen Motivationen, zugleich aber auch darauf, dass diese über verschiedene Fälle hinweg vergleichbar sind. Es unterscheidet systematisch zwischen verschiedenen Motivationen, erleichternden Faktoren und Kontextbedingungen und fördert damit ein kausal komplexeres Verständnis von Beweggründen für eine Beteiligung. Das Modell argumentiert aber auch, dass die einzelnen Faktoren eben nicht außergewöhnlich sind und weniger über die Abgründe menschlichen Verhaltens verraten, als dass sie banal, simpel und alltäglich und damit vergleichbar mit den Motivationen für alle möglichen Handlungen im Leben sind.

Motivationen sind der eigentliche Grund an sich, warum sich jemand beteiligt; ohne einen Grund, hätte es die Beteiligung nicht gegeben. Empirisch sind in den meisten Fällen zwei Kategorien von Motivationen zentral, wobei eine volle Auflistung den Rahmen dieses Textes sprengen würde: Gruppendynamiken in der Täter*innen-Gruppe und opportunistische Motivationen. Gruppendynamiken können auf Zwang oder psychologischem Druck durch Vorgesetzte oder Kamerad*innen beruhen, aber auch auf eigenen Bedürfnissen, mit der Gruppe mitzuhalten, eine neue Rolle richtig auszufüllen oder Status innerhalb der Gruppe zu bekommen. Bei opportunistischen Motivationen verspricht sich das Individuum durch die Beteiligung bestimmte Vorteile, wie einen schnelleren Karrierefortschritt, finanzielle Bereicherung durch Beutezüge, Zugang zu begehrten Ressourcen oder auch die Möglichkeit, persönliche Fehden unter dem Deckmantel des Völkermords zu lösen.

Neben Motivationen gibt es auch erleichternde Faktoren, die zwar nicht die eigentliche Motivation sind, sich zu beteiligen, aber das psychologisch einfacher machen oder anderweitig begünstigen. Hier spielen eine große Vielzahl von Faktoren eine Rolle: Gruppendynamiken, die Verantwortung auf andere verschieben lassen, moralische Distanzierungen durch Dehumanisierung, Desensibilisierung über die Zeit und viele mehr. Die Täter*innen sind zwar nur selten tatsächlich ideologisch motiviert, allerdings spielen Ideologien eine sehr wichtige Rolle dabei, einen Rahmen zu schaffen, in dem die genozidalen Handlungen der Täter*innen überhaupt denkbar werden und legitim ausgeübt werden können.

Das abstrakte Modell kann auf verschiedenste Fälle angewendet werden und macht Täterschaft in Ruanda genauso erklärbar wie im Holocaust, in Armenien oder in Kambodscha, obwohl der Kontext dieser Handlungen jeweils ganz unterschiedlich ist. Diese Forschung ist von großer Relevanz, primär um ein Verständnis von Gewaltdynamiken im Völkermord zu erlangen, aber im zweiten Schritt auch, um bessere und passendere Präventionsprogramme aufzulegen. Die Erkenntnisse des Modells legen nahe, dass Projekte, die interethnische Kooperation und Verständnis oder ideologische Facetten betonen, auch ihre Gültigkeit haben, aber eher am breiteren Rahmen ansetzen, der den Handlungen Sinnhaftigkeit verleiht. Programme, die wirklich da ansetzen, wo es auf der Individual­ebene zu einer Motivationsänderung kommen würde, müssten sich stärker mit den Gruppendynamiken innerhalb der Täter*innen-Gruppe sowie mit den Anreizstrukturen zur Beteiligung befassen, damit sich Menschen weniger auf die Gruppendynamiken oder auf die materiellen oder sonstigen Vorteile einlassen müssen oder wollen.

Literatur

Browning, C. (2001): Ordinary Men. New York, NY: Harper Collins.

Fujii, L.A. (2009): Killing Neighbours – Networks of Violence in Rwanda. Ithaca, NY: Cornell University Press.

Hinton, A.L. (2005): Why Did They Kill? Berke­ley, CA: University of California Press.

Straus, S. (2006): The Order of Genocide. Ithaca, NY: Cornell University Press.

Dr. Timothy Williams ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg, wo er 2017 zum Thema der Motivationen zur Beteiligung an Völkermord promovierte. Seine Dissertation wurde im Juni 2018 mit dem Gert-­Sommer-Preis sowie dem Promotionspreis der Philipps-Universität Marburg ausgezeichnet.

Die Ausdeutung adoleszenter Möglichkeitsräume in Afghanistan

von Ulrike Auge

In diesem Artikel werden kurz zentrale Inhalte der Abschlussarbeit »Adoleszenz in Afghanistan – Die Ausdeutung adoleszenter Möglichkeitsräume in Afghanistan« vorgestellt. Die Arbeit entstand im Zuge des qualitativen Forschungsprojekts »Wie der Krieg im Kopf den Blick auf Frieden trübt«. Das Projekt hatte zum Ziel, anhand narrativer Interviews die Folgen traumatischer Erfahrungen und alltäglicher Gewalt für Identität, Gesellschaftsbilder und Agency (Handlungsmöglichkeiten im Angesicht der prekären Lebensumstände) von Jugendlichen in Afghanistan empirisch zu untersuchen. Für diesen Zweck wurden 48 Interviews mit jungen Menschen in Afghanistan geführt.

Das Projekt verfolgte eine explizit friedenspsychologische Fragestellung: Wie wird die eigene Zukunft imaginiert? Wie verstehen sie ihre Rolle als Akteure im Friedensprozess, und wo sehen sie Potenzial zum Mitgestalten? An welchen Stellen bleiben ihnen Handlungsmöglichkeiten verwehrt? Diese Fragen untersuchten das Friedenspotenzial, das in den Jugendlichen als gesellschaftliche Akteure liegt.

Aus den Erzählungen der Jugendlichen erwuchs eine Suchbewegung, die sich an den Inhalten des konkreten Materials orientierte und die in der Abschlussarbeit nachgezeichnet werden sollte. Ziel war es, herauszufinden, wie afghanische Jugendliche im Kontext ziviler und militärischer Konflikte und einer sich stetig wandelnden, fragmentierten und konfliktreichen Gesellschaft mit teilweise erodierenden Strukturen den Übergangscharakter der Adoleszenz verhandeln – innerhalb des eigenen Identitätsbildungsprozesses sowie innerhalb der soziokulturellen und gesellschaftlich vorgegebenen (Handlungs-) Räume.

Im ersten Teil der Arbeit sollte zunächst eine theoretische Rahmung gefunden werden, in der Jugend und Adoleszenz in Afghanistan verstanden werden kann. Ziel war eine differenzierte und kultursensible Betrachtungsweise von jugendlichen Lebenswelten in Ländern des Globalen Südens. Als Fazit wurden kritisch-reflexive, intersektionale sowie Sozialisations- und Handlungstheorien als anschlussfähige Perspektiven herausgearbeitet. Diesen Ansätzen folgend sind, kurz zusammengefasst, die individuellen Handlungsmöglichkeiten und -rahmen der Jugendlichen von der kulturellen Handlungspraxis geprägt, die sich an spezifischen Normen und Wertsystemen orientieren. Gleichzeitig sind Jugendliche soziale Akteure, deren Handlungsräume zwar je nach struktureller Verortung limitiert sind, die diese aber dennoch aktiv mitgestalten und teilweise ausweiten können. Demzufolge werden Jugendliche als Träger und Rezipienten sozialen Wandels verstanden.

Die Erkenntnisse aus der theoretische Auseinandersetzung wurden an das empirische Material zurückgespiegelt und ergaben neue Lesarten der Interviews. Durch offenes Kodieren der Interviews wurden sich wiederholende Narrative herauskristallisiert, die angesichts der prekären Lebensumstände als hilfreich, identifikationsstiftend und/oder stabilisierend gedeutet werden können. Die zentralen Motive in den Interviews thematisierten die Imagination einer friedlichen Zukunft, die Hoffnung auf Bildung und den Wunsch von gesellschaftlichem Aufstieg. Zudem wurde ein generationenbezogenes kollektives Narrativ der Moral deutlich. Hier manifestierte sich vor allem der Wunsch, »ein guter Mensch zu sein« sowie einen Beitrag zur Gesellschaft und einem friedvollen Zusammenleben zu leisten. Diese Erzählstränge wurden unter dem Begriff »Narrative der Hoffnung« zusammengefasst.

Was die Jugendlichen formulierten war, so die These, ein »Idealselbst« (ein Begriff aus der Entwicklungspsychologie). Dieses beschreibt eine Projektion des eigenen Selbst in die Zukunft, die bei den Interviewten eng an den Begriff »Diener der Gesellschaft« geknüpft war. Ein Idealselbst zu entwerfen, impliziert die Fähigkeit, eine identitäre Kohärenz zwischen Gegenwart und Zukunft zu imaginieren. Angesichts gewaltbezogener Erfahrungen könnte man vermuten, dass diese Fähigkeit durch Traumata blockiert wäre. Dies ließ sich den Erzählungen der Jugendlichen aber nicht entnehmen. Zudem kann die Vorstellung einer friedlichen und sicheren Zukunft nicht nur Hoffnungsträger/Ressource und identitätsstiftendes Moment sein, sondern auch der erste Schritt zur Realisierung friedlich motivierten Handelns. So wurden beispielsweise Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der ethnischen Zugehörigkeit sowie Korruption bei den Interviewten oft kritisiert. Deutlich wurde zudem, dass sich die Jugendlichen in einem Spannungsfeld bewegen: zwischen der Bewahrung traditioneller Werte und Biografieverläufe und dem gesellschaftlichen Auftrag, das Land in eine neue Zukunft zu führen, die sich an westlichen Werten und Entwicklungsmodellen orientiert. Für sie gilt es, in der eigenen Lebenswelt und im Identitätsfindungsprozess die Spannung auszuhandeln und auszuhalten, die zwischen diesen Welten besteht. Hervorzuheben ist, dass die Jugendlichen dabei stets eingebunden sind in die intergenerativen Strukturen, die sie zugunsten ihrer Identitätsentwürfe zu beugen versuchen. Dem folgend reinterpretieren die Interviewten soziokulturelle Bedeutungs- und Symbolsysteme, um inmitten der Ambivalenz eine Kohärenz ihrer Lebensrealität zu schaffen.

Diese Arbeit bietet eine Sicht auf Jugendliche als aktive Akteure im Friedensprozess, die Strategien und Deutungsmuster schaffen, die ihnen die (graduelle) Umgestaltung ihrer prekären Lebensumstände ermöglicht. Dabei sollte nicht eine resilienz- und ressourcenorientierte Perspektive gestärkt werden, die sich an der neoliberalen Selbsteffizienz orientiert, sondern es sollte herausgearbeitet werden, inwieweit diese Narrative ein in einem Sinnsystem eingebettetes Leben ermöglichen, das Anschlussfähigkeit für die imaginierte Zukunft besitzt, und inwieweit sich daran ein Handeln und Denken ausrichtet, das in seinem Kern die Entstehung einer friedlicheren Gesellschaft ermöglichen will.

Ulrike Auge ist M.A. Sozial und Kulturanthropologie und B.A. Psychologie und studiert zurzeit im Masterstudiengang Psychologie. Sie legte ihren Master in Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin und ihre Bachelor in Psychologie an der International Psychoanalytic University in Berlin ab. Ihre Bachelorarbeit » Adoleszenz in Afghanistan – Die Ausdeutung adoleszenter Möglichkeitsräume in Afghanistan« wurde im Juni 2018 mit einem »Honorable Mention« des Gert-Sommer-Preises ausgezeichnet.

Wenn sich Konflikt- und Friedenssprache treffen

von Sofia Krüger

1998 beendete das Karfreitagsabkommen den Nordirlandkonflikt, welcher primär mit Auseinandersetzungen zwischen Protestant*innen und Katholik*innen assoziiert wird. Trotz der religiösen Konnotation des Konflikts, der zentralen gesellschaftlichen Bedeutung von Religion und der weitverbreiteten Kritik, die Kirchen seien passive Friedensakteurinnen gewesen, fehlt in der bisherigen Forschungslandschaft eine analytische Auseinandersetzung mit dem Verhalten der nordirischen Kirchen in Konflikt- und Friedenszeiten (Brewer et al. 2011). Diese Forschungslücke schließend, ging meine Masterarbeit der Frage nach, ob die drei größten protestantischen Kirchen – die Church of Ireland, die Methodistische Kirche und die Presbyterianische Kirche – mutig genug waren, den Delegitimierungsbestrebungen des Friedensprozesses durch die radikal-konservative Democratic Unionist Party (DUP) entgegenzutreten.

Zur Beantwortung meiner Fragestellung stützte ich mein methodisches Vorgehen auf Arbeiten der Bewegungsforschung und der politischen Psychologie. Gemäß Ersterer formulieren Anführer*innen sozialer Bewegungen ihre Anliegen rhetorisch strategisch, um diese durchzusetzen und Mitstreiter*innen zu mobilisieren („framing“, Benford/Snow 2000). Ergänzend dazu verweist Daniel Bar-Tal (2013) darauf, dass sich in lang andauernden Konflikten ein „Konfliktethos“ entwickelt, ein Bewältigungsmechanismus für erfahrenes Leid, welches sich auch in Sprache ausdrückt. Gerade die Darstellung der Ziele der eigenen Gruppe als nicht verhandelbar, die Überzeugung eigener moralischer Überlegenheit und die Delegitimierung des »Anderen« tragen zur Resistenz des Konfliktethos bei. Um einen Friedensprozess anzustoßen, muss das Konflikt- durch ein Friedensethos ersetzt werden. Dieses bietet u.a. neue Interpretationen der Konfliktziele, der Beziehungen zur Feindesgruppe und der Ausgestaltung von Frieden an (Bar-Tal 2013). Hierauf aufbauend entwickelte ich Indikatoren für beide Ethos, wobei das Friedensethos für mich den Counterframe – das Gegenargument – zum Konfliktethos darstellte. Anschließend kodierte ich mit einer Textanalysesoftware Aussagen der DUP und der protestantischen Kirchen zum Friedensprozess für den Zeitraum von Januar bis Mai 1998 in über 100 Zeitungsartikeln dreier nordirischer Zeitungen.

Meine Ergebnisse zeigen, dass die protestantischen Kirchen einen friedensethischen Counterframe vorantrieben, gezielt auf die Misstrauensrhetorik der DUP reagierten und diese kritisierten. Die Kirchen legitimierten den Friedensprozess und das Karfreitagsabkommen als Weg in eine friedliche Zukunft, gestanden eigene Fehler ein, plädierten für die Inklusion von Sinn Féin – dem politischen Erzfeind der DUP – in die Friedensverhandlungen und hoben Gemeinsamkeiten mit der katholischen/republikanischen Gemeinschaft hervor. Schließlich betonten alle Kirchenoberhäupter, dass das Friedensabkommen allein nicht zur Überwindung alter Feindschaften beitragen werde, indem sie die Notwendigkeit der Bereitschaft hervorhoben, schmerzhafte Kompromisse zu akzeptieren. So minimierten die Kirchen überhöhte Erwartungshaltungen bezüglich des Karfreitagsabkommens und verdeutlichten, dass jede*r in der Verantwortung war, sich für ein friedvolles Miteinander einzusetzen und beanspruchte Opferrollen zu überdenken. Für die Kirchen war diese eindeutige Positionierung keinesfalls trivial, da sie sich öffentlich stark gegen jahrhundertealte Segregationstendenzen wandten und Einheit statt Unterschiede betonten – ein Verhalten, das manchen sicherlich befremdlich sowie bedrohlich erschien. Somit setzten sich die protestantischen Kirchen für ein weites Verständnis von Frieden ein, das dessen Prozesshaftigkeit und den »Anderen« als legitimen Bestandteil der nordirischen Gesellschaft anerkannte.

Meine Arbeit schließt Forschungslücken und eröffnet neue Forschungsfelder. Sie zeigt, dass die Passivitätsannahme der Kirchen hinterfragt werden muss. Gleichermaßen wirft sie jedoch die Frage auf, ab wann ein friedensethischer Counterframe stark genug ist, um nachhaltig Verhaltensänderungen zu erzielen – eine Frage, die insbesondere durch den Brexit an Bedeutung gewonnen hat.

Literatur:

Bar-Tal, D. (2013): Intractable Conflicts – Socio-Psychological Foundations and Dynamics. Cambridge University Press: New York.

Benford, R.D.; Snow, D.A. (2000): Framing Processes and Social Movements – An Overview and Assessment. Annual Review of Sociology, No. 26, S. 611-639.

Brewer, J.D.; Higgins, G.I.; Teeney, F. (2011): Religion, Civil Society, and Peace in Northern Ireland. Oxford University Press: Oxford, New York.

Sofia Krüger ist Angestellte der Kinder- und Jugendförderung Ostfildern, eine Einrichtung des Kreisjugendring Esslingen e.V. Sie legte ihren Master in Friedensforschung und Internationaler Politik an der Eberhard Karls Universität Tübingen zum Thema »Countering the Northern Irish ‘Ethos of Conflict’ with an ‘Ethos of ­Peace’? The Protestant Churches in Northern ­Ireland and their Counterframing Activity during the Peace Process between January and May 1998« ab. Im Juni 2018 wurde ihre Arbeit mit einem »Honorable Mention« des Gert-Sommer-Preises ausgezeichnet.

Frieden Macht Freiheit

Frieden Macht Freiheit

31. Tagung des Forum Friedenspsychologie, 8.-10. Juni 2018, Heidelberg

von Ursula Christmann und Julia Schnepf

Frieden ist der Gegenpol zu Gewalt, sei es personale oder strukturelle Gewalt. In der Friedenspsychologie geht es daher direkt oder indirekt immer um die Überwindung von Gewalt. Bei der 31. Tagung des Forums Friedenspsychologie an der Universität Heidelberg stand vor allem die Macht des Wortes in Relation zur friedensgefährdenden oder -zerstörenden Gewalt im Mittelpunkt. Sprache und Kommunikation können den Weg zur Gewalt bahnen, können aber auch ein Königsweg zur Verhinderung oder sogar Überwindung von gewalthaltigen Konflikten zwischen Personen, Gruppen, Ethnien etc. sein. Gerade bei lang andauernden zwischenmenschlichen Konflikten mit hohem Gewaltpotenzial ist die konstruktive Macht des Wortes daher in der Lage, Freiheit wiederherzustellen: die Freiheit der Opfer wie der Täter*innen.

Diesem Problem war nicht zuletzt die Keynote-Vorlesung gewidmet, in der Dr. Nurit Shnabel (Universität Tel Aviv) das Bedürfnisbasierte Modell als Schlüssel für Versöhnungsprozesse vorstellte. Das Modell geht davon aus, dass Menschen grundsätzlich bestrebt sind, eine positive Identität aufrechtzuerhalten, und dass Konflikte die Identität von Opfern und Täter*innen bedrohen. Opfer fühlen sich durch den Konflikt in ihrer »Agency« (z.B. Macht, Kontrolle, Einflussnahme, Handlungsfähigkeit) bedroht, während Täter eine Beeinträchtigung des moralischen Selbstbildes erfahren, und sei es nur durch die moralische Ablehnung (eines Großteils) der Umgebung und den möglichen sozialen Ausschluss. Versöhnung ist dadurch möglich, dass die konträr-komplementären Bedürfnisse der Wiederherstellung von Agency (Opfer) bzw. moralischer Akzeptanz (Täter*innen) erfüllt werden, und zwar in gegenseitiger Kommunikation und Anerkennung. Gerade bei lang andauernden, auch kriegerischen, Konflikten wird die Situation allerdings meist dadurch verkompliziert, dass Opfer auch zu Täter*innen werden und umgekehrt. (Mehr zum Bedürfnisbasierten Modell siehe Shnabel, N. (2017): Wie versöhnen wir uns? W&F 3-2017, S. 34-38.) Welche Möglichkeiten – und Grenzen – für Versöhnungsprozesse durch diese Verschränkung des Täter*in-Opfer-Status auch im Rahmen des Bedürfnisbasierten Modells zu erwarten sind, war Gegenstand nicht nur des letzten Vorlesungsteils, sondern auch der engagierten Diskussion mit den Tagungs-Teilnehmer*innen.

Dem Rahmenthema der Tagung entsprechend wurden in der ersten Sektion, »Die schiefe Ebene«, zunächst die Gefahren thematisiert, die von destruktiver Kommunikation und Weltverarbeitung für den Frieden ausgehen (können). Eine prominente Rolle spielt in Deutschland dabei das auf den Holocaust bezogene »Schluss-Strich-Argument«, das nicht nur im Kontext von offenem Antisemitismus geäußert wird, sondern mit einer vorgeblich israelfreundlichen Kritik an muslimischen Migranten*innen verschleiert auch im neuen Rechtspopulismus zum Ausdruck kommt. Gegen muslimische und andere Geflüchtete richtet sich auch die (im Vergleich zur deutschen Mehrheitsbevölkerung) geringere Zuschreibung von komplexen Emotionen und Kognitionen, die als »Infrahumanisierung« bezeichnet wird und einen nicht bewussten ersten Schritt zur Ausgrenzung und Ablehnung von Geflüchteten darstellt. Die potenziellen Einflussfaktoren für Infrahumanisierung zwischen bahnendem Nationalismus und hemmendem Kontakt sind jedoch so komplex, dass eine Aufklärung durch weitere Forschung noch aussteht. Allerdings gibt es auch innerhalb der jeweiligen nationalen Mehrheitsgesellschaften ein Auseinanderdriften von Gesellschaftsschichten, das zum Erstarken von (rechts-) populistischen Entwicklungen geführt hat. Dieses Auseinanderdriften korreliert mit dem Anwachsen der Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahrzehnten, wodurch sich im positiven Fall die traditionellen Parteien zur Erhaltung ihres Wählerpotenzials gedrängt fühlen könn(t)en, diese Schere wieder mehr zu schließen. In diesem Fall würde der Rechtspopulismus letztlich eine Art »Demokratiehäutung« bewirken, also eine Erneuerung der demokratischen Institutionen und Inhalte, um die Gefahren von Rechts abzuwehren.

In der zweiten Sektion, »Overcoming conflicts?«, ging es zunächst um die Möglichkeiten, die Spannung zwischen negativen und positiven Dynamiken in Richtung Letztere aufzulösen. Dabei stand das Vertrauen in die Polizei (in den USA) bei Mitgliedern der (weißen) Mehrheitsgesellschaft vs. (farbigen) Minoritäten im Fokus. Durch Studien auf der Basis des Intergruppen-Vertrauen-Modells konnte nicht nur der erwartbare Ver-/Misstrauensunterschied zwischen diesen Gesellschaftsschichten nachgewiesen werden, sondern auch, dass sich das Misstrauen durch einen Mangel an Empathie und Vergleichbarkeit aufseiten der Polizei verstärkt – was Konsequenzen für Polizei-Trainings haben sollte, indem zum Beispiel nicht nur ein Fokus auf Gerechtigkeit gesetzt wird. Wie schwer sich konstruktiv-altruistische Haltungen jedoch entwickeln lassen, zeigen Untersuchungen zum Management in der Organisationspsychologie. Hier erhalten diejenigen, die Informationen nicht nur für den eigenen Gewinn, sondern auch für den des Teams einholen, deutlich schlechtere Bewertungen, was egoistisches Verhalten mehr als altruistisches belohnt. Um solchen Dynamiken entgegenzuwirken, gibt es bereits eine Fülle von kreativitätssteigernden Gruppentechniken. Dazu gehören Ansätze wie das »Ideen-Mining« oder »Democratic Tableware«, deren Effektivität allerdings noch durch systematische Interventionsstudien gesichert werden muss. Man darf sich also die Überwindung von Konflikten nicht zu einfach vorstellen. Trotzdem existiert in der Zusammenschau der bisherigen Konflikt- und Friedensforschung durchaus ein substantieller Pool von Ansätzen zur Überwindung sogar von unlösbar scheinenden Konflikten: von der Reduzierung der Feindschaft über die Zusammenarbeit in abgegrenzten Bereichen bis zur Anerkennung von Ungerechtigkeiten, und sei es nur auf symbolische Weise.

In der dritten Sektion, »Politisches Engagement und Kompetenz«, lag das Schwergewicht auf den (möglichst) konstruktiven Prozessen und (Rahmen-) Bedingungen für die Sicherung von Frieden und Freiheit. In einer groß angelegten Studie an thüringischen Schulen konnte aufgezeigt werden, dass es unter den Jugendlichen eine große Gruppierung gibt, die sich intrinsisch motiviert für politisches Engagement interessiert und gegenüber Ausländer*innen eine positive Einstellung aufweist; insbesondere zeigte sich, dass dafür demokratiepraktizierender Unterricht eine entscheidende Rahmenbedingung darstellt. Paralleles gilt auch für Ausländer*innen bzw. Migranten*innen selbst: Sie versuchen sowohl in der Phase der Flucht aus dem Herkunftsland als auch während der Integration ins Aufnahmeland ihre Akteurschaft in vielfältiger Weise aufrecht zu erhalten. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext setzt das allerdings auch kon­struktive Erklärungsmodelle aufseiten der aufnehmenden Gesellschaft voraus. Dafür sind mediale Darstellungen, sowohl bildlicher als auch textueller Art, mit entscheidend, da sie einen Einfluss darauf haben, ob sich anteilnehmende Emotionen mit angemessener Verbalisierung entwickeln oder nicht. Selbst wenn dies zunächst nicht gelingt und Diskriminierung vorliegt, kann die Psychologie Trainingsprogramme zur Überwindung von Diskriminierung anbieten, zum Beispiel das Kompetenztraining zur Bewältigung von Diskriminierung (­KOBEDI) der Universität Marburg, das nicht nur die Diskriminierung von Geflüchteten, sondern auch sexuelle, religiöse und andere Arten von Diskriminierung einschließt.

In der letzten Sektion der Tagung, »Die Macht des Wortes«, stand schließlich die argumentative Kraft der Kommunikation im Mittelpunkt. Zunächst wurde mit dem Konzept der »Argumentationsintegrität« eine Sensibilität für gerechte und kooperative Kommunikation – auch in der politischen Diskussion – vorgestellt, durch die unintegre, unfaire Argumente auf den*die Sprecher*in selbst zurückfallen (sollten). Die häufigsten unfairen rhetorischen Strategien (46 an der Zahl) lassen sich elf Standards des un/integren Argumentierens zuordnen, die an Videobeispielen aus dem Wahlkampf der AfD verdeutlicht wurden. Gerade der Erfolg dieser Partei wirft die Frage auf, ob es unter Umständen ganze Bevölkerungsteile gibt, die Unintegrität nicht ablehnen, sondern sich daran ergötzen, und wie man einer solchen Gefährdung von Frieden und Freiheit entgegentreten kann. Die Antwort gab der letzte Vortrag über eine »erwägungsorientierte Bildung« von Kindesbeinen an. Das betrifft eine Didaktik schon im 3. Schuljahr, durch die argumentative Kompetenz und insbesondere der konstruktive Umgang mit anderen Meinungen (qua Meinungen anderer) erlernt und eingeübt werden. Am Ende dieses Weges sollte eine aufgeklärte Toleranz stehen, in der die Macht des Wortes gleichermaßen Frieden und Freiheit ermöglicht.

In der Mitte der Tagung wurde, wie bei den Jahrestagungen des Forum Friedenspsychologie üblich, der Gert-Sommer-Preis für die beste friedenspsychologische Qualifikationsarbeit des vergangenen Jahres verliehen. Der Preis ging an die Dissertation über ein Modell zur »Komplexität des Bösen« von Timothy Williams, in dessen Preisvortrag die komplexen Dimensionen und Verschränkungen in Genoziden an den Beispielen Ruanda und Kambodscha aufgezeigt wurden. Aufgrund der überdurchschnittlichen Qualität der Einreichungen gab es in diesem Jahr auch zwei »Honorable Mention«-Vorträge. Der Beitrag von Ulrike Auge befasste sich mit den Strategien, mit denen Jugendliche in Afghanistan trotz ihrer außerordentlich belastenden Lebenssituation die Adolszenz innerhalb der eigenen Identitätsbildung sowie der gesellschaftlich vorgegebenen (Handlungs-) Räume verhandeln und dabei einen Beitrag zu einer friedlichen Gesellschaft leisten. Sofia Krüger untersuchte, wie die Kirchen im Nordirland-Konflikt mit der Betonung eines Friedensethos eine aktive Politik des »Counterframing« betrieben. (Siehe Kurztexte zu den drei Arbeiten auf Seite 52)

Die Tagung wurde von ca. 50 Teilnehmer*innen der verschiedensten mit Konflikt- und Friedenforschung befassten Institutionen besucht. Die Organisation konnte so gestaltet werden, dass alle Teilnehmer*innen jeden Vortrag hören konnten, wodurch eine familiäre und intensive Atmosphäre des engagieren Austauschs entstand. Der Tagungsort, das Psychologische Institut im Friedrichsbau von 1865 inmitten der Heidelberger Altstadt, mag das Seine dazu beigetragen haben. In diesem Klima fanden auch die Mitgliederversammlung des Forums (Freitagabend, 8.6.) und die Vorstandssitzung (Sonntagmorgen, 10.6.) statt. Die Tagung wurde organisiert von Prof. Dr. Ursula Christmann und Julia Schnepf (B.A.) mit Unterstützung des »Field of Focus 4 Self-Regulation and Regulation« der Heidelberger Exzellenzinitiative, der Gesellschaft der Freunde der Universität Heidelberg und der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie. Allen Unterstützenden sei an dieser Stelle herzlich gedankt!

Ursula Christmann und Julia Schnepf

Lokale und globale soziale Ungleichheit

Lokale und globale soziale Ungleichheit

30. Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie,
16.-18. Juni 2017, Chemnitz

von Daniel Corlett und Frank Asbrock

Mit dem Schwerpunktthema »No Justice, no Peace? Friedenspsychologische Perspektiven auf soziale Ungleichheit« fand die 30. Jahrestagung des Forums Friedenspsychologie e.V. an der TU Chemnitz statt.

Ca. 70 Teilnehmer*innen aus Wissenschaft und Praxis diskutierten friedenspsychologische Perspektiven auf soziale Ungleichheit und ihre Auswirkungen auf ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben. In ihrer Eingangsrede benannte die Migrationsbeauftragte der Stadt Chemnitz, Frau Etelka Kobuß, die vielschichtigen Herausforderungen, mit denen sich die kommunale Integrationsarbeit gegenwärtig konfrontiert sieht, verwies auf das noch nicht ausgeschöpfte Entwicklungspotential, aber auch auf erfolgreiche Projekte und Entwicklungen in Chemnitz sowie die mit Migration verbundenen Chancen für die Stadt.

Auf der Tagung wurde sowohl internationale Forschung als auch die lokale Arbeit von Friedensprojekten vorgestellt und diskutiert. Beispielsweise präsentierte Gergely Kispál seine Arbeiten zu Intergruppenkontakten zwischen ungarischer Minorität und serbischer Majorität in Vojvodina, Serbien, und Jane Viola Felber und Franz Knoppe stellten das Theatertreffen »Unentdeckte Nachbarn« zur Aufarbeitung der NSU-Verbrechen in Südwestsachsen vor, das bereits mit dem Chemnitzer Friedenpreis 2017 ausgezeichnet wurde. Die knapp 30 wissenschaftlichen Beiträge teilten sich in Vortragspanels in deutscher und englischer Sprache sowie eine Postersession auf. Neben sozialer Ungleichheit wurde dort ein breites friedenspsychologisches Themenspektrum behandelt, das Beiträge aus Psychologie, Erziehungswissenschaften, Politikwissenschaften und angrenzenden Disziplinen umfasste. Ein Teil der Tagungsbeiträge wird in Zusammenarbeit mit der Sektion Politische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) in einem Sonderheft der Zeitschrift »Politische Psychologie/Journal of Political Psychology« veröffentlicht.

Einer der Höhepunkte der Tagung war die Keynote von Prof. Felicia Pratto (University of Connecticut, USA) am Freitag. In ihrem Vortrag »The felt injustice of international inequality – Where is the threat to peace?« diskutierte sie die Relevanz sozialer Ungleichheit zwischen Nationen für die Gefährdung von Frieden. Basierend auf ihrer Power Basis Theory stellte sie dar, wie die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse von globalen Machtdynamiken, Ungleichheiten und Möglichkeiten zur Selbstentfaltung beeinflusst wird und wie globale Ungleichheit so zur Erhaltung sozialer Machtverhältnisse beiträgt.

Am Samstag wurde der Gerd-Sommer-Preis des Forum Friedenspsychologie für die beste Abschlussarbeit verliehen. Die diesjährige Preisträgerin Anne-Louise Göhring (Fraunhofer ISI) wurde für ihre herausragende Masterarbeit zum Thema »Die Macht der Metapher – Der Metapher-Framing-Effekt in der politischen Meinungsbildung« ausgezeichnet. Nach der Preisverleihung stellte Frau Göhring ihre Arbeit dem interessierten Publikum in einem Vortrag vor.

Auch das Rahmenprogramm hatte einen Bezug zum Tagungsthema. Am Samstagabend bestand nach dem letzten Vortragspanel die Möglichkeit, Problemstrukturen und Lösungsansätze für soziale Spannungen in Chemnitz in einem themenbezogenen Stadtrundgang im Stadtviertel Sonnenberg kennenzulernen, wovon ein großer Teil der Teilnehmenden Gebrauch machte.

Weiterhin fanden am Samstagvormittag die offene Mitgliederversammlung und am Sonntagvormittag die Vorstandssitzung des Forum Friedenspsychologie statt. Auf der Mitgliederversammlung wurde ein neuer Vorstand für die nächsten zwei Jahre gewählt. Wiedergewählt wurden Prof. Dr. Christopher Cohrs (Marburg) als Vorsitzender, Dipl.-Psych. Karl-Günther Theobald (Köngernheim) als Kassierer und Dipl.-Psych. Monika Lauer Perez (Düsseldorf) als weiteres Vorstandsmitglied. Neu in den Vorstand gewählt wurden Nadine Knab, M.Sc. (Landau) als stellvertretende Vorsitzende und Dr. Klaus Harnack (Münster) als weiteres Vorstandsmitglied. Sie folgen damit Dr. Jost Stellmacher (Marburg) und Dr. Miriam Schroer-Hippel (Grünheide) nach, denen herzlich für ihr kontinuierliches Engagement für das Forum Friedenspsychologie gedankt wurde.

Die Tagung wurde organisiert von Juniorprof. Dr. Frank Asbrock, M.Sc. Alexandra Cook, M.A. Daniel Corlett und M.A. Claas Pollmanns sowie den studentischen Hilfskräften Vera Kaiser, Kathrin Althaus, Caya Hälker und Anika Münch. Die Organisator*innen bedanken sich für die freundliche Unterstützung durch die Technische Universität Chemnitz, die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF), die Gesellschaft der Freunde der Technischen Universität Chemnitz e.V., die Sektion Politische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP), die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (dgvt), den Sächsischen Flüchtlingsrat e.V., den Nomos Verlag und den Pabst Verlag.

Daniel Corlett und Frank Asbrock

Wie versöhnen wir uns?

Wie versöhnen wir uns?

Das Bedürfnisbasierte Modell

von Nurit Shnabel und Johannes Ullrich

Täter und Opfer erleben unterschiedliche Bedrohungen ihrer Identitäten. Der Schlüssel zur Versöhnung liegt in der Beseitigung dieser Bedrohungen. Die Autor*innen diskutieren sozialpsychologische Forschung, die zeigt, dass die Wiederherstellung positiver Identitäten die Versöhnung zwischen Individuen oder Gruppen günstig beeinflusst.

Ob sich ein Ehepaar bei der Scheidung über die Vermögensaufteilung streitet oder Nationen wegen Gebietsstreitigkeiten einen Konflikt ausfechten: In einem Konflikt geht es fast nie ausschließlich um materielle Ressourcen, sondern häufig um symbolische, wie Ehre, Akzeptanz und Gerechtigkeit. Um wieder harmonische Beziehungen herzustellen, bedarf es daher nicht nur gemeinsamer Vereinbarungen über die Aufteilung der konkreten strittigen Ressource (z.B. eines Plans für die Güteraufteilung oder eines Friedensvertrags), sondern es müssen auch emotionale Hürden überwunden werden, die den Weg zur Versöhnung blockieren. Wie hoch diese Hürden sein können, wissen alle, die schon einmal erlebt haben, wie schwer es ist, sich nach einem Konflikt zu entschuldigen oder dem anderen zu vergeben. Wer es geschafft hat, diese Hürde zu überwinden, hat dabei vermutlich erfahren, dass sich nach einer Entschuldigung bzw. Vergebung beide Parteien besser fühlen, obwohl das Geschehene nicht rückgängig zu machen ist (Tavuchis 1991).

Die Kraft von Entschuldigung und Vergebung in interpersonalen Beziehungen ist seit Langem bekannt. Zunehmend wird dieser sozialpsychologische Mechanismus aber auch in der öffentlichen Sphäre genutzt. Ein bekanntes Beispiel ist die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die nach der Apartheid in Südafrika eingesetzt wurde. Hier waren Opfer aktiv an der Anklage beteiligt, und den Tätern wurde Amnestie gewährt, wenn sie die Verbrechen gestanden, die sie im Kontext der Apartheid verübt hatten. Die Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela (2008), selbst Mitglied der Wahrheits- und Versöhnungskommission, meint, dieser Prozess „hat nach den Massengräueln die Sprache von Entschuldigung, Vergebung und Versöhnung in den öffentlichen Fokus gerückt“ (S. 59). Das hier vorgestellte »Bedürfnisbasierte Modell der Versöhnung« (Nadler and Shnabel 2015; Shnabel and Nadler 2015) wurde entwickelt, um die Dynamiken zwischen Opfern und Tätern im Prozess von Entschuldigung und Vergebung zu erklären.

Grundannahmen und empirische Prüfung

Das Bedürfnisbasierte Modell geht von zwei Annahmen aus, die in grundlegenden sozialpsychologischen Theorien verankert sind: Erstens sind Menschen motiviert, sich selbst positiv zu beurteilen, d.h. eine positive Identität zu bewahren oder wieder aufzubauen. Zweitens gibt es zwei fundamentale Inhaltsklassen sozialer Urteile: »Agency« und »Communion«. »Agency« steht für Merkmale wie stark, kompetent und einflussreich, während »Communion« Merkmale wie moralisch, warmherzig und vertrauenswürdig umfasst. Eine positive Identität umfasst Zuschreibungen aus beiden Inhaltsklassen.

Das Bedürfnisbasierte Modell baut auf diesen Annahmen auf und postuliert, dass Konflikte die Identität von Opfern und Tätern asymmetrisch bedrohen: Opfer erleben einen Verlust ihrer Fähigkeit, den Lauf der Dinge zu beeinflussen, und sehen folglich ihre agentische Identität bedroht. Täter hingegen leiden unter der Bedrohung ihrer kommunalen Identität. Ob sie sich schuldig fühlen oder nicht: Das Wissen, dass psychologisch relevante Bezugspersonen ihr Verhalten als unmoralisch ansehen, bedroht das moralische Selbstbild der Täter, und sie befürchten sozialen Ausschluss als Sanktion für die Verletzung moralischer Standards. Diese Bedrohungserfahrung resultiert in unterschiedlichen Motivationszuständen. Opfer verspüren das Bedürfnis, ihre agentische Identität wiederherzustellen, während Täter ihre kommunale Identität wiederherstellen und (erneut) die Akzeptanz der Gemeinschaft erlangen wollen, aus der sie sich potentiell ausgeschlossen fühlen. Bleiben diese Bedürfnisse unerfüllt, behindern sie Versöhnung. So verhalten sich Opfer manchmal rachsüchtig, um sich selbst zu behaupten, und Täter lösen sich moralisch los (z.B. indem sie die Schwere des Vergehens verharmlosen), um ihre Schuld herunterzuspielen. Durch einen Austausch, in dem Opfer und Täter die Bedürfnisse des jeweils anderen nach Ermächtigung bzw. Akzeptanz erfüllen, können sie sich der Versöhnung öffnen.

Der Prozess von Entschuldigung und Vergebung ist ein elementarer sozialer Mechanismus, über den ein solcher Austausch stattfindet. Mit ihrer Entschuldigung geben die Täter zu, dass sie moralisch in der Schuld der Opfer stehen, wodurch die Kontrolle wieder in der Hand der Opfer liegt; durch die Annahme der Entschuldigung und die Empathie der Opfer für die Sichtweise der Täter wird deren Gefühl der moralischen Minderwertigkeit abgeschwächt und ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bestätigt. Der Prozess von Entschuldigung und Vergebung ist zwar das nächstliegende Beispiel für einen Austausch, der zur Bedürfniserfüllung führt, es gibt aber auch andere Methoden. So können Täter beispielsweise ihre Opfer ermächtigen, indem sie Respekt für deren Leistung und Fähigkeiten äußern oder im Falle von Opfergruppen an ihren Nationalstolz und das nationale Erbe appellieren. Opfer wiederum können die Akzeptanz der Täter zum Ausdruck bringen, indem sie sich zur Freundschaft oder zur wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit bereit erklären.

Ein erfolgreicher Austausch von Ermächtigung und Akzeptanz kann Versöhnung auf zweierlei Weise befördern. Zum einen kann er die positiven Identitäten der Konfliktparteien wiederherstellen, indem er die symbolische Rollenaufteilung in »machtloses Opfer« und »unmoralischer Täter« auslöscht. Des Weiteren können Opfer Akzeptanzbotschaften aussenden und so signalisieren, dass sie sich nicht am Täter rächen oder ihn meiden werden, und Täter können mit Ermächtigungsbotschaften einfach klarstellen, dass sie ihre Vergehen nicht wiederholen werden (weil sie jetzt den Wert des Opfers erkennen). Durch den Austausch solcher Botschaften kann das gegenseitige Vertrauen zwischen Opfern und Tätern wiederhergestellt werden. Dies und die Wiederherstellung positiver Identitäten erleichtern die Versöhnung. Abbildung 1 fasst diesen Prozess zusammen.

Die Hypothesen des Modells wurden in etlichen experimentellen Studien überprüft, und zwar sowohl für Konflikte auf der interpersonellen als auch auf der Intergruppen-Ebene. So wurden in einer Studie (Shnabel, Nadler, Ullrich, Dovidio, Carmi 2009) jüdischen Israelis und (nicht-jüdischen) Deutschen zwei Reden präsentiert, die angeblich von Vertreter*innen der jeweils anderen Gruppe am Holocaust-Denkmal in Berlin gehalten worden waren. Die wichtigste Botschaft der Reden war entweder Akzeptanz (z.B. „wir sollten die [Juden/Deutschen] akzeptieren und uns daran erinnern, dass wir alle Menschen sind“) oder Ermächtigung (z.B. „die [Deutschen/Juden] haben das Recht, stark und stolz zu sein“). Wie zu erwarten war, zeigten sich Juden eher nach Ermächtigungsbotschaften zur Versöhnung mit Deutschen bereit, bei Deutschen war dies eher nach Akzeptanzbotschaften der Fall. Eine entsprechende Dynamik wurde auch bei Opfern und Tätern in interpersonalen Konflikten beobachtet (Shnabel und Nadler 2008).

Ausweitung des Modells auf »duale« Kontexte

Der ursprüngliche Ansatz des Modells ging davon aus, dass »Opfer« und »Täter« sich gegenseitig ausschließende Rollen sind. In vielen Konflikten sind aber beide Parteien gleichzeitig Opfer und Täter. In einem Experiment, das diese »Dualität« untersuchte, arbeiteten die Teilnehmenden in Zweierteams und mussten wertvolle Ressourcen verteilen (z.B. Geldpreise). Anschließend erhielten sie eine manipulierte Rückmeldung: In der Kontrollgruppe erfuhren die Teilnehmenden, dass sowohl ihre eigene als auch die Verteilung ihrer Teampartner*in fair gewesen sei, in der Opferrolle, dass ihr*e Partner*in unfair verteilt habe, in der Täterrolle, dass sie selbst unfair verteilt hätten, und in der dualen Rolle, das sowohl sie selbst als auch ihre Teampartner*in unfair verteilt hätten. Bezüglich psychologischer Bedürfnisse zeigten Teilnehmende in einer Doppelrolle ein gesteigertes Bedürfnis sowohl nach Agency (vergleichbar mit Opfern) wie nach Communion (vergleichbar mit Tätern). In ihrem Verhalten allerdings zeigten sie (vergleichbar mit Opfern) ein gesteigertes Bedürfnis nach Agency, was sich in Rachegefühlen äußerte; anders als bei Tätern äußerte sich das gesteigerte Bedürfnis nach Communion aber nicht in Pro-Sozialität (Großzügigkeit gegenüber dem/der Partner*in). Ähnliche Ergebnisse, die auf den Vorrang von Agency gegenüber Communion in solchen dualen Kontexten hindeuten, wurden im Zusammenhang mit dem Israel-Palästina-Konflikt und den Bürgerkriegen in Liberia beobachtet. Diese Ergebnisse stimmen mit der Beobachtung des Sozialpsychologen Roy Baumeister (1997) überein, dass die Opferrolle tiefer in der Psyche verankert wird als die Täterrolle.

Tatsächlich entwickeln »duale« Konfliktparteien häufig ein ausgeprägtes Opferbewusstsein, nicht aber ein Täterbewusstsein, und wetteifern geradezu um den Opferstatus. Wir gehen davon aus, dass Konfliktparteien in eine »kompetitive Opferrolle« verfallen, weil die Anerkennung des eigenen Opferstatus gleichzeitig beide Bedürfnisse befriedigt, die in der Doppelrolle gesteigert vorhanden sind: das Bedürfnis nach einem positiven moralischen Bild (weil der Opferstatus mit Unschuld assoziiert wird) und das Bedürfnis, selbst Akteur zu sein (weil Anerkennung des eigenen Opferstatus das Recht auf unterschiedliche Formen von Ermächtigung mit sich bringt, z.B. Reparationen und Unterstützung durch Dritte). Interessanterweise zeigen Studien, die mit israelischen Palästinenser*innen und israelischen Juden/Jüdinnen durchgeführt wurden, dass die Thematisierung des dringenden Bedürfnisses der Gruppenmitglieder nach ­Anerkennung ihres Opferstatus – z.B. durch Förderung einer inklusiven Opferwahrnehmung, d.h. durch Betonung, dass beide Gruppen schwer unter dem Konflikt litten (Vollhardt 2015) – das Wetteifern um den Opferstatus verringern und die gegenseitige Vergebung befördern kann.

Ausweitung des Modells auf Situationen mit struktureller Ungleichheit

Ein Intergruppenkonflikt manifestiert sich nicht nur in direkter Gewalt (z.B. Krieg), sondern auch in »struktureller Gewalt« (Galtung 1969), d.h. in ungleichen sozialen Verhältnissen, die manche Gruppen privilegieren und andere benachteiligen. Diese Ungleichheit führt zu unterschiedlichen Gruppenstereotypen: Benachteiligte Gruppen werden oft als warmherzig, aber inkompetent wahrgenommen, privilegierte Gruppen als kompetent, aber kalt und unmoralisch. Entsprechend der Logik des Bedürfnisbasierten Modells ist anzunehmen, dass die Bedürfnisse der Mitglieder privilegierter und benachteiligter Gruppen denen von Tätern und Opfern entsprechen, wenn die Ungleichheit zwischen den Gruppen als ungerechtfertigt wahrgenommen wird (z.B. weil sie unfaire Diskriminierung widerspiegelt).

Dies wurde in Studien bestätigt (Siem, von Oettingen, Mummendey, Nadler 2013). In einem Experiment wurden die Teilnehmenden – Studierende der klinischen Psychologie – nach dem Zufallsprinzip in Gruppen aufgeteilt, in denen sie sich entweder mit Berufsgruppen von höherem (Psychiatrie) oder niedrigerem Status (Sozialarbeit) vergleichen sollten. Dann wurden die Statusunterschiede zwischen Psycholog*innen und Psychiater*innen bzw. Sozialarbeiter*innen mit den unterschiedlichen Ausbildungsanforderungen gerechtfertigt bzw. als ungerechtfertigt ausgewiesen, da die klinischen Psycholog*innen und die Sozialarbeiter*innen eine ähnliche Arbeit verrichteten. Wie zu erwarten gab es in dem »gerechtfertigt«-Szenario hinsichtlich der Bedürfnisse nach Communion und Agency keine Unterschiede zwischen den Psychologiestudierenden, die sich mit Psychiater*innen verglichen, und denen, die sich mit Sozialarbeiter*innen verglichen. Anders lag der Fall, wenn die Statusunterschiede als nicht gerechtfertigt dargestellt wurden: Nun hatten Psycholog*innen ein höheres Bedürfnis nach Communion, wenn sie sich mit Sozialarbeiter*innen verglichen, als wenn sie sich mit Psychiater*innen verglichen, während es bei dem Bedürfnis nach Agency genau umgekehrt war.

Folgestudien (Shnabel, Ullrich, Nadler, Dovidio und Aydin 2013) zeigten, dass Botschaften der jeweils anderen Gruppe, die die Communion der privilegierten Gruppe und die Agency der benachteiligten Gruppe betonten, nicht nur für positivere Einstellungen gegenüber den anderen sorgten, sondern auch die Bereitschaft erhöhten, gemeinsam für soziale Gerechtigkeit aktiv zu werden (mit Demonstrationen, Petitionen, usw.). In ihrer Dissertation beschäftigt sich aktuell Tabea Hässler mit der Hypothese, dass durch Intergruppenkontakte die Unterstützung für sozialen Wandel hin zu mehr Gleichheit steigt, wenn sich Mitglieder benachteiligter Gruppen (z.B. LGBTIQ*) durch privilegierte Gruppen (z.B. Cis-/Heterosexuelle)1 ermächtigt und sich die Mitglieder privilegierter Gruppen durch die benachteiligten Gruppen moralisch angenommen fühlen.

Diese Sichtweise betont die kritische Rolle von Prozessen, die eine positive Identität wiederherstellen, beim Streben nach struktureller Gleichheit. Die traditionelle Sichtweise besagt, dass privilegierte Gruppen nicht die Treiber von sozialem Wandel sein können, da sie vor allem bestrebt sind, ihre Privilegien zu bewahren. Das Bedürfnisbasierte Modell legt aber nahe, dass Mitglieder privilegierter Gruppen durchaus Solidarität mit der benachteiligten Gruppe zeigen können, wenn ihr (eigentlich bedrohtes) moralisches Selbstbild bestätigt wird. Bei benachteiligten Gruppen hingegen zeigen Forschungsergebnisse zu kollektivem Handeln, dass ihre Mitglieder den Status quo oft nicht aktiv in Frage stellen, weil sie einen Mangel an kollektiver Wirksamkeit verspüren. Aus dem Bedürfnisbasierten Modell ergibt sich aber, dass die Wiederherstellung der Agency diese passive Akzeptanz von Ungleichheit verhindern kann. Praktische Interventionen zur Förderung positiver Intergruppenbeziehungen, die sich oft auf Communion konzentrieren (z.B. im Sinne der Kontakthypothese Freundschaften zwischen den Gruppen anregen), sollten also auch die Machtbeziehungen adressieren und die stereotype Wahrnehmung benachteiligter Gruppen als inkompetent direkt hinterfragen.

Wiederherstellung der Identität außerhalb des Opfer-Täter-Geflechts

Mit dem Bedürfnisbasierten Modell konnte zwar festgestellt werden, welche Botschaften Konfliktparteien austauschen können, um Versöhnung herbeizuführen. In der Praxis vermeiden Opfer und Täter aber oft versöhnliche Botschaften, weil sie befürchten, dass diese positive Geste nicht erwidert wird. Daher haben wir in letzter Zeit untersucht, welches Potential die Wiederherstellung der Identität außerhalb des Opfer-Täter-Geflechts für die Versöhnung hat. Eine Quelle dafür sind Dritte. Zugegebenermaßen hat die Ermächtigung und die Übermittlung von Botschaften über Dritte bei interpersonalen Vergehen nicht sehr gut funktioniert. In einem Intergruppenkontext hingegen, in dem Versöhnungsbotschaften typischerweise über Gruppenvertreter und nicht direkt zwischen den einzelnen Opfern und Tätern übermittelt werden, konnte Ermächtigung und Akzeptanz durch Dritte, die mit der Opfergruppe eine gemeinsame Identität aufwiesen, Versöhnung wirksam befördern. Ein Beispiel: Botschaften jordanischer Vertreter erhöhten die Bereitschaft israelischer Juden, sich mit Palästinensern zu versöhnen.

Die Wiederherstellung der Identität außerhalb des Opfer-Täter-Geflechts kann auch durch selbst-affirmative Prozesse erreicht werden. In einer Studie zeigte sich, dass Mitglieder einer Tätergruppe (australische Nicht-Aborigines), die erfuhren, dass sich ihre Gruppe bei der Opfergruppe (australische Aborigines) entschuldigt hatte und dass Mitglieder der Opfergruppe die Entschuldigung angenommen hatten, sich moralisch wiederhergestellt fühlten (unabhängig davon, wie die Antwort der Opfergruppe ausgefallen war). Diese (Selbst-) Wiederherstellung der Communion wiederum erhöhte die Bereitschaft von Mitgliedern der Tätergruppe, die Opfergruppe zu entschädigen und sich mit ihr zu versöhnen.

Aus weiteren Studien zu »dualen« Konflikten ergab sich, dass Interventionen zugunsten einer Anerkennung der Agency erfolgreich die Aggressivität senkten und das pro-soziale Verhalten gegenüber der anderen Konfliktpartei verbesserten. So zeigten Teilnehmende aus der Schweiz eine pro-sozialere Tendenz gegenüber der EU, mit der sich die Schweiz nach der Annahme der Volksinitiative von 2014 zur Einwanderungsbeschränkung im Konflikt befand, nachdem sie eine kurze Übungsaufgabe absolvierten, in der sie über die Schweiz als starkes und erfolgreiches Land schrieben. Ähnliche Muster wurden bei interpersonalen Konflikten beobachtet. Teilnehmende, die über eine Situation schrieben, in der sie kompetent und selbstbestimmt waren, verhielten sich gegenüber der anderen Konfliktpartei (z.B. Arbeitskolleg*innen) versöhnlicher. Dies traf vor allem auf Beziehungen zu, die sich durch eine geringe Verbindlichkeit auszeichneten und in denen die Konfliktparteien vor allem um ihre eigenen Bedürfnisse kreisten – in diesem Fall um das Bedürfnis nach Agency.

Folgerungen

Die wissenschaftliche Erforschung des Versöhnungsprozesses ist ein relativ junger Forschungszweig, und weitere Forschungsprojekte können wertvolle Ergebnisse liefern. Wir hoffen, dass die Forschung zum Bedürfnisbasierten Modell letztlich nicht nur dazu beiträgt, das theoretische Verständnis von Versöhnung zu verbessern, sondern auch in der Ausarbeitung praktischer Interventionen für verschiedene Kontexte resultiert – seien es internationale Friedenstribunale, Ansätze zur opferorientierten Justiz (z.B. Täter-Opfer-Ausgleich) im Strafrechtssystem, Schulen, Organisationen oder Gemeinden.

Anmerkung

1) LGBTIQ* = lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, intersexuell und questioning (Personen, die ihre eigene sexuelle Identität hinterfragen); Cis-Heterosexuals = heterosexuelle Menschen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.

Literatur

Galtung, J. (1969): Violence, peace, and peace research. Journal of Peace Research, Vol. 6, No. 3, S. 167-191.

Gobodo-Madikizela, P. (2008). Transforming trauma in the aftermath of gross human rights abuses – Making public spaces intimate through the South African truth and reconciliation commission. In Nadler, A.; Malloy, T.; Fisher, J.D. (eds.): Social Pychology of Intergroup Reconciliation. New York, NY: Oxford University Press, S. 57-76.

Nadler, A. and Shnabel, N. (2015): Intergroup reconciliation – Instrumental and socio-emotional processes and the need based model. European Review of Social Psychology, Vol. 26, No. 1, S. 93-125.

Shnabel, N. and Nadler, A. (2008): A Needs-Based Model of Reconciliation – Satisfying the differential emotional needs of victim and perpetrator as a key to promoting reconciliation. Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 94, No. 1, S. 116-132.

Shnabel, N. and Nadler, A. (2015): The Role of Agency and Morality in Reconciliation Processes – The Perspective of the Needs-Based Model. Current Directions in Psychological Science, Vol 24, No. 6, S. 477-483.

Shnabel, N.; Ullrich, J.; Nadler, A.; Dovidio, J.F.; Aydin, A.L. (2013). Warm or competent? Improving intergroup relations by addressing threatened identities of advantaged and disadvantaged groups. European Journal of Social Psychology, Vol 43, No. 2, S. 482-492.

Shnabel, N.; Nadler, A.; Ullrich, J.; Dovidio, J.F.; Carmi, D. (2009): Promoting reconciliation through the satisfaction of the emotional needs of victimized and perpetrating group members – The Needs-Based Model of Reconciliation. Personality and Social Psychology Bulletin, Vol 35, No. 8, S. 1021-1030.

Siem, B.; von Oettingen, M.; Mummendey, A.; Nadler, A. (2013). When status differences are illegitimate, groups’ needs diverge – Testing the Needs-Based Model of reconciliation in contexts of status inequality. European Journal of Social Psychology, Vol. 43, No. 2, 137–148.

Tavuchis, N. (1991): Mea culpa – A sociology of apology and reconciliation. Palo Alto, CA: Stanford University Press.

Vollhardt, J.R. (2015): Inclusive victim consciousness in advocacy, social movements, and intergroup relations – Promises and pitfalls. Social Issues and Policy Review, Vol 9, No. 1, S. 89-120.

Nurit Shnabel ist Senior Lecturer für Sozialpsychologie an der Universität Tel-Aviv.
Johannes Ullrich ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Zürich.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Die Fluchtkrise


Die Fluchtkrise

Sozialpsychologische Analysen und Implikationen

von Ulrich Wagner und Patrick F. Kotzur

Mit dem Anwachsen der Geflüchtetenzahlen im Sommer 2015 ging eine Welle der Hilfsbereitschaft durch Deutschland. Gleichzeitig gab es durchgängig auch ablehnende Stimmen, die sich gegen Geflüchtete und für Begrenzungen aussprachen. Dieser Beitrag diskutiert einige sozialpsychologische Mechanismen im Zusammenhang mit der Debatte um Flucht und Geflüchtete sowie politische und gesellschaftliche Implikationen, die sich daraus ergeben.

Die Welt in Kategorien einzuteilen, ist eine wichtige und grundlegende Fähigkeit, die hilft, den Alltag zu gestalten: Wie selbstverständlich ordnen wir Reize unserer Umwelt ein und reagieren entsprechend. Wir stellen z.B. fest: Ein Gegenstand nähert sich, kategorisieren ihn als Auto und bleiben stehen.

Kategorisierung

Kategorisierung ist aber auch eine wesentliche Grundlage von Stereotypisierung, Vorurteilen und Diskriminierung. Kategorisierung, so hilfreich und notwendig sie ist, führt auch zu Fehlschlüssen, z.B. übermäßiger Homogenisierung: Menschen innerhalb einer Kategorie werden als zueinander sehr viel ähnlicher wahrgenommen, als sie tatsächlich sind. »Flüchtlingen« werden gemeinsame Eigenschaften, Stereotype, zugeschrieben, die sie als Einzelpersonen nicht zwangsläufig besitzen. Stereotype über Personengruppen gehen oft auf (negative) Erfahrungen mit Einzelmitgliedern zurück, die wir auf die gesamte Gruppe generalisieren. Manchmal reicht es dafür schon, vom negativem Verhalten eines Gruppenmitglieds gehört oder in der Presse gelesen zu haben.

Stereotype über Gruppen knüpfen häufig an existierende gesellschaftlich geteilte Vorstellungen über Gruppen an, wie das Bild des angeblich bedrohlichen schwarzen Mannes – ein Stereotyp, das vermutlich zur Rechtfertigung der europäischen Eroberung Afrikas entwickelt wurde (Fredrickson 2002). Die (lancierte) Geschichte einer Straftat eines einzelnen afrikanischen Geflüchteten fällt damit auf fruchtbaren Boden; sie deckt sich mit dem, was man sowieso schon zu wissen glaubte, möglicherweise fernab der Realität (vgl. Gehrsitz and Ungerer 2017).

Fazit

Vorsicht bei der Betonung von Gruppenmitgliedschaften, vor allem, wenn es sich um negative Verhaltensweisen Einzelner handelt. Ist es zum Beispiel für Rezipient*innen einer politischen Botschaft oder eines Presseberichts wirklich wichtig zu wissen, ob es sich bei einem Strafverdächtigen um eine Person mit Migrationshintergrund handelt? Ist der Migrationshintergrund für die Einordnung der Tat von Bedeutung (z.B. durch Marginalisierung motivierte Taten) oder nicht (z.B. auf andere Motive rückführbare Straftaten, wie Affekt)? Wenn nicht, sollte darauf verzichtet werden, um negative Folgen unnötiger Generalisierungen zu vermeiden. Der Pressekodex des Presserates forderte bis vor Kurzem sehr richtig, dass die Zugehörigkeit von Verdächtigen und Straftäter*innen zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt werden soll, wenn ein begründbarer Sachbezug zur Tat besteht.

Gruppenmitgliedschaften und Eigengruppenaufwertung

Von besonderer Bedeutung sind Kategorisierungen, bei denen wir selbst einer der Kategorien zugehören. Wir neigen dazu, »unsere« Gruppe auf- und »fremde« Gruppen abzuwerten. Dieses Phänomen der Eigengruppenbevorzugung geht nach der Theorie der sozialen Identität (Tajfel 1978) auf zwei Prozesse zurück: Erstens sind Gruppenmitgliedschaften identitätsstiftend. Zweitens streben wir nach einer positiven Identität. Die Abwertung anderer dient der Aufwertung der eigenen Gruppe und somit uns selbst. Eine Voraussetzung für Eigengruppenbevorzugung ist, dass wir uns mit einer zugeschriebenen Gruppenmitgliedschaft identifizieren (Wagner und Butenschön 2014; Wagner et al. 2012). Eine zweite Voraussetzung ist, dass diese Gruppenzugehörigkeit in einer Situation von Bedeutung, d.h. salient, ist: Ein Gespräch mag ruhig verlaufen, bis die Gesprächspartner*innen feststellen, dass sie unterschiedlichen Nationalitäten angehören. Die saliente Nationalität wird somit urteils- und verhaltenswirksam.

Fazit

Bestimmte Gruppenmitgliedschaften hervorzuheben sollte vermieden werden, da die Gefahr besteht, dass Menschen, die diese Mitgliedschaft nicht teilen, abgewertet werden. Nationalismus birgt genau diese Gefahr.

Ressourcenkonflikte

Kategorisierung wird besonders dann erlebens- und verhaltensrelevant, wenn Gruppenmitglieder glauben, mit anderen Gruppen in Konflikte um materielle oder kulturelle Ressourcen eingebunden zu sein (Sherif and Sherif 1969), z.B. um Wohlstand, Wohnraum, Arbeitsplätze oder auch um »Leitkultur«. Dabei ist die subjektive Wahrnehmung eines Konflikts hinreichend.

Fazit

Auseinandersetzungen um vermeintliche Konflikte um Ressourcen zwischen einheimischer Bevölkerung und Geflüchteten sind zu vermeiden. Sachverhalte sollten richtiggestellt und alternative, sachlich korrekte Narrative gemeinsamen Nutzens angeboten werden, wie z.B. Möglichkeiten des Erhalts gefährdeter Infrastruktur im ländlichen Raum oder der gemeinsamen Entwicklung einer weltoffenen Gesellschaft.

Konditionierung von Emotionen

Beziehungen zwischen Gruppen verschlechtern sich besonders dann, wenn Fremdgruppen mit negativen Emotionen, z.B. Angst, verknüpft werden (Stephan and Renfro 2002). Angst kann durch Einzelereignisse konditioniert werden. Dabei ist es ausreichend, von angstauslösenden Ereignissen nur indirekt zu erfahren, beispielsweise durch Medien (Paterson et al., in prep). Außerdem kann Angst, z.B. vor einem Attentäter, auf andere Menschen generalisieren, die dem Attentäter ähnlich erscheinen, im Fall des Berliner Weihnachtsmarktanschlags 2016 auf andere Geflüchtete. Angst mündet in Vermeidungs- und Rückzugsverhalten und wird damit sowohl für die Ängstlichen als auch für die Gemiedenen problematisch. Angst kann in Hass umschlagen. Dies scheint insbesondere dann der Fall zu sein, wenn sich mehrere Menschen gegenseitig von ihrer Ablehnung gegen Fremde und deren vermeintlichem Fehlverhalten überzeugen. Hass führt zur Attacke und zu Gewalt gegen das Hassobjekt, also gegebenenfalls gegen Menschen, die Geflüchteten ähneln (Wagner and Christ 2007).

Fazit

Angst- und Vermeidungsspiralen können negative Folgen für alle Beteiligten mit sich bringen und Stereotypisierung, Vorurteile und Diskriminierung verstärken. Was hilft? Eine Möglichkeit besteht darin, über die Gründe der eigenen Angst zu reflektieren und sich deren mangelnder Rationalität bewusst zu werden.

Politische Instrumentalisierung

Wir können mit Unsicherheit nur schwer umgehen (Festinger 1954). Deshalb suchen wir nach Antworten, auch auf die Frage, wie mit Veränderungen im Zusammenhang mit der so genannten Flüchtlingskrise umgegangen werden soll. Demagog*innen verstehen es, durch das Streuen von Gerüchten und durch die Übertreibung von Gefährdungslagen die Aufmerksamkeit Verunsicherter auf sich und ihre Argumente zu lenken – um sich dabei gleichzeitig als Lösung für die selbst heraufbeschworene Bedrohung anzubieten.

Zum einen führt das Heraufbeschwören von Bedrohung zu konservativeren Einstellungen und zur vehementeren Ablehnung von Unbekanntem (Burke et al. 2013). Zum anderen wollen wir unsere einmal gefassten Überzeugungen bestätigen (Festinger1954). Wenn wir verunsichert sind, suchen wir daher nicht nach Informationen, die diese Befürchtungen eindämmen könnten, sondern nach solchen, die unsere Erklärungen für die gefühlte Bedrohung bestätigen. Soziale Netzwerke unterstützen die Abkapselung und die Ausgrenzung von Andersdenkenden (Del Vicario et al. 2016), was sich auch in der »Lügenpresse«-Debatte artikuliert.

Fazit

Der Verbreitung falscher Informationen über Fremdgruppen muss entschieden entgegengetreten werden. Politisch Verantwortliche müssen Lösungsstrategien nachvollziehbar begründen und breit kommunizieren.

Gegenmaßnahmen: Sanktionierung, Information und Kontakt

Strafrechtlich relevante Ausgrenzung von Fremdgruppen, wie Hasskriminalität, muss sanktioniert werden. Sanktionierung stößt allerdings an ihre Grenzen, wenn die Ablehnung die Schwelle der Strafbarkeit nicht überschreitet.

Zwei Strategien sind besonders effizient, um gegen Stereotypisierung, Vorurteile und Diskriminierung vorzugehen: Informationskampagnen und Kontaktprogramme. Informationskampagnen sind vor allem dann effektiv, wenn sie empathisch auf die benachteiligte Situation der Ausgegrenzten hinweisen (Lemmer and Wagner, in prep). Kontakt zwischen Mitgliedern von Gruppen, die einander ablehnen, führt ebenfalls effektiv zur Reduktion von Vorurteilen (Pettigrew and Tropp 2006; Lemmer and Wagner 2015), wenn er nicht unter äußerst ungünstigen Bedingungen stattfindet. Kontakt führt zum Abbau negativer Emotionen, vermittelt Kenntnisse über die andere Gruppe und ermöglicht, Empathie zu entwickeln und damit Kategoriengrenzen zu entschärfen.. Kontakterfahrungen erlauben auch einen neuen und aufgeklärteren Blick auf die eigene Gruppe (Pettigrew and Tropp 2008). Es gibt eine Reihe von Kontaktinterventionen, die gezielt Kontakte zwischen Geflüchteten und Einheimischen initiieren, um auf diesem Wege Vorurteile zu reduzieren (Lanphen 2011).

Gerade diejenigen, die fremde Gruppen besonders ablehnen, vermeiden anderslautende Informationen und Kontakte (Kauff et al. 2013). Hilfreich ist daher, wenn die stark Ablehnenden feststellen, dass in ihrem Umfeld durchaus Kontakte mit der jeweils anderen Gruppe gepflegt werden und Offenheit der Gesellschaft zur sozialen Norm gehört (Brune et al. 2016).

Fazit

Gesetzesübertretungen bedürfen der Verfolgung und Sanktionierung. Kampagnen gegen Falschinformationen helfen, der Ausbildung von Übergeneralisierungen entgegenzuwirken. Informationskampagnen gegen abgeschlossene Echoräume im Internet erfordern allerdings einen langen Atem. Kontakte mit Mitgliedern fremder Gruppen helfen ebenfalls, Vorurteile abzubauen. Das setzt Kontaktmöglichkeiten voraus. Notwendig sind z.B. kleine Unterbringungseinheiten für Geflüchtete in den Gemeinden, die Kontakt mit dem Umfeld erlauben. Ghettos sind aus der Perspektive der Kontakttheorie schädlich.

Integration

Integration ist eine Form des Zusammenlebens, die es Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen ermöglicht, gemeinsame Kulturstandards zu entwickeln. Wenn sich lediglich eine Gruppe einer anderen anpassen soll, spricht man von Assimilation (Berry 1997). Die gegenwärtige politische Diskussion dreht sich häufig um die Assimilation von Geflüchteten an die Mehrheitsgesellschaft in Sprache, Bildung und Ausbildung. Die Forderung nach der Einhaltung des Grundgesetzes und der Menschenrechte ist ebenfalls eine Forderung nach Assimilation – nach unserer Auffassung berechtigt. Darüber hinaus gibt es aber einen breiten Spielraum der Gestaltung einer Einwanderungsgesellschaft, die gemeinsam ausgehandelt werden sollte, wie beispielweise Antworten auf Fragen nach der Gestaltung von Religionsunterricht oder von Feiertagen.

Fazit

Die Förderung interkultureller Kompetenz auf allen Seiten ist das hervorragende Bildungsziel. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche und politische Diskussion darüber, in welchen Lebensbereichen die Assimilation an einheimische Vorstellungen eine legitime Forderung ist und wo gemeinsam integrative Ziele neu entwickelt werden können.

Radikalisierung

Nährboden für Radikalisierung und Terrorismus sind Gefühle ungerechtfertigter Ausgrenzung, kombiniert mit der politischen oder religiösen Legitimation, gegen diese Ausgrenzung mit Gewalt vorgehen zu dürfen (Moghaddam 2004). Integrationsangebote, welche der Ausgrenzung entgegenarbeiten und die Schaffung einer gemeinsamen sozialen Identität bestärken, gehören daher zu den besten Maßnahmen primärer Prävention von Radikalismus und Terrorismus.

Fazit

Benachteiligung und Diskriminierung müssen reduziert werden, die – gerechtfertigt oder nicht – als Rechtfertigung für Radikalisierung herhalten. Unsicherheiten, wie lange Phasen eines unsicheren Aufenthaltsstatus, sind zu vermeiden. Vorübergehende Aufenthaltsrechte, z.B. zur eigenen Weiterqualifikation, wären auch bei zweifelhaftem Asylstatus eine Maßnahme zur Erhöhung der inneren Sicherheit.

Literatur

Berry, J. (1997): Immigration, acculturation and adaptation. Applied Psychology – An International Review, 46, S. 5-34.

Brune, A.; Asbrock, F.; Sibley, C.G. (2016): Meet your neighbours – Authoritarians engage in intergroup contact when they have the opportunity. Journal of Community & Applied Social Psychology, 26(6), S. 567-580.

Burke, B.L.; Kosloff, S.; Landau, M.J. (2013): Death goes to the polls – A meta-analysis of mortality salience effects on political attitudes. Political Psychology, 34(2), S. 183-200.

Del Vicario, M.; Bessi, A.; Zollo, F.; Petroni, F.; Scala, A.; Caldarelli, G.; Quattrociocchi, W. (2016): The spreading of misinformation online. Proceedings of the National Academy of Sciences, 113(3), S. 554-559.

Festinger, L. (1954): A theory of social comparison processes. Human Relations, 7, S. 117-140.

Fredrickson, G.M. (2002): Racism – A short history. Princeton, NJ: Princeton University Press.

Gehrsitz, M. and Ungerer, M. (2017): Jobs, crime, and votes – A short-run evaluation of the refugee crisis in Germany. Bonn: IZA – Institute of Labor Economics; IZA Discussion Paper No. 19414.

Kauff, M.; Asbrock, F.; Thörner, S.; Wagner, U. (2013): Side effects of multiculturalism – The interaction effect of multicultural ideology and authoritarianism on prejudice and diversity beliefs. Personality and Social Psychology Bulletin. 39, S. 305-320.

Lanphen, J. (2011): Kooperatives Lernen und Integrationsförderung – Eine theoriegeleitete Intervention in ethnisch heterogenen Schulklassen. Münster: Waxmann.

Lemmer, G. and Wagner, U. (2015): Can we reduce prejudice outside the lab? A meta-analysis of direct and indirect contact interventions. European Journal of Social Psychology, 45, S. 152-168.

Lemmer, G. and Wagner, U. (in prep): The benefits of walking in the shoes of an outgroup – A meta-analysis of information interventions to reduce ethnic prejudice.

Moghaddam, F. (2004): Cultural preconditions for potential terrorist groups – Terrorism and societal change. In: Moghaddam, F. and Marsella, A. (eds.): Understanding terrorism. Washington DC: American Psychological Association, S. 103-117.

Paterson, J.; Brown, R.; Walters, M.; Carrasco, D. (in prep): Feeling others’ pain – Indirect effects of hate crime in two victimized communities.

Pettigrew, T. and Tropp, L. (2006): A meta-analytic test of intergroup contact theory. Journal of Personality and Social Psychology, 90, S. 751-783.

Pettigrew, T. and Tropp, L. (2008): How does intergroup contact reduce prejudice? Meta-analytic tests of three mediators. European Journal of Social Psychology, 38, S. 922-934.

Sherif, M. and Sherif, C.W. (1969): Social psychology. New York: Harper & Row.

Stephan, W.G. and Renfro, C.L. (2002): The role of threat in intergroup relations. In: Mackie, D.M. and Smith, E.R. (eds.): From prejudice to intergroup relations. New York: Psychology Press, S. 191-207.

Tajfel, H. (1978): Differentiation between social groups. London: Academic Press.

Wagner, U.; Becker, J.; Christ, O.; Pettigrew, T.; Schmidt, P. (2012): A longitudinal test of the relation between German nationalism, patriotism and outgroup derogation. European Sociological Review, 28, S. 319-332.

Wagner, U. und Butenschön, C. (2014): Zur Entwicklung des Gegenübers – Sozialpsychologische Ursachen von Intergruppenkonflikten. W&F 1-2014, S. 6-9.

Wagner, U. and Christ, O. (2007): Intergroup aggression and emotions: A framework and first data. In: Gollwitzer, M. and Steffen, G. (eds.): Emotions and aggressive behavior. Göttingen: Hogrefe & Huber, S. 133-148.

Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie und am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg.
Patrick F. Kotzur ist Doktorand in der Arbeitseinheit Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg.

Sozialpsychologie und Flucht


Sozialpsychologie und Flucht

von Helen Landmann, Anette Rohmann und Stefan Stürmer

Migration durch Flucht birgt Konfliktpotential. Als 2015 die Anzahl der Menschen, die nach Deutschland fliehen, plötzlich anstieg, verfünffachte sich die Anzahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte zeitweise (Bundeskriminalamt 2016). Sozialpsychologische Forschung kann einen Beitrag leisten, um solche Konflikte zu vermeiden und ein friedliches Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zu fördern. Die Autor*innen beleuchten daher, welche Implikationen aus sozialpsychologischer Forschung abgeleitet werden können. Grundlage dafür bietet der Sammelband »Die Flüchtlingsdebatte in Deutschland – Sozialpsychologische Perspektiven« (2017), herausgegeben von Anette Rohmann und Stefan Stürmer.

In der aktuellen sozialpsychologischen Forschung im Bereich Flucht sind insbesondere drei Themenbereiche auszumachen, die Hinweise auf die Gestaltung eines friedlichen Zusammenlebens geben können: Kontakt, Partizipation und interkulturelle Kompetenz. Interventionen, die auf Basis dieser drei Prinzipien entwickelt wurden, lassen sich sehr gut mit psychologischer Forschung begründen und scheinen auch in der Praxis wirkungsvoll zu sein.

Kontakt: respektvolle persönliche Begegnungen

Das erste dieser drei Prinzipien ist Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung. Menschen in Deutschland, die Kontakt zu Geflüchteten hatten, haben tendenziell eine positivere Einstellung gegenüber Geflüchteten als andere (Becker, Ksenofontov, Benz, Borgert 2017; Wagner 2017). Dieser Zusammenhang zwischen Kontakt und Einstellung lässt sich vor allem dadurch erklären, dass Kontakt Ängste reduziert und gleichzeitig Empathie und Wissen über die andere Gruppe erhöht (Landmann, Aydin, van Dick, Klocke 2017). Dies verdeutlicht, wie wichtig die Integration in Bildung und Arbeit, aber auch einfach Unterhaltungen, beispielsweise im Rahmen ehrenamtlicher Tätigkeiten, sind. Neben dem praktischen Nutzen solcher Bemühungen bieten sie wichtige Kontaktmöglichkeiten, die die Einstellung von Menschen mit und ohne Fluchterfahrung wesentlich beeinflussen können.

Kontakt beeinflusst die gegenseitigen Einstellungen besonders positiv, wenn er auf Augenhöhe stattfindet, wenn an einem gemeinsamen Ziel gearbeitet wird und wenn der Kontakt von der Gesellschaft erwünscht ist (Wagner 2017). Diese Bedingungen in der Organisation von gemeinsamer (ehrenamtlicher) Arbeit umzusetzen, scheint daher empfehlenswert. Konkurrenzsituationen und Statusunterschiede sollten möglichst vermieden werden. Projekte, die die Arbeit an einem gemeinsamen Ziel beinhalten, sollten gefördert werden.

Allerdings kann Kontakt auch dann positiv wirken, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Wichtig ist nur, dass der Kontakt von den Beteiligten nicht als negativ erlebt wird (Landmann et al. 2017). Ein positives Erleben von Kontakt wird wiederum wesentlich wahrscheinlicher, wenn sich die Beteiligten mit Respekt begegnen (Naegler und Kessler 2017). Respekt bedeutet, eine Person als gleichberechtigt anzuerkennen, sie ernst zu nehmen und ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Demzufolge kann schon durch bloßes Zuhören zwischen Ehrenamtlichen und Geflüchteten Respekt vermittelt und positiver Kontakt hergestellt werden (Naegler und Kessler 2017).

Neben diesen direkten Interaktionen findet Kontakt auch indirekt statt, zum Beispiel durch Medienberichte. Der Darstellung von Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung in den Medien kommt dabei eine zentrale Funktion zu. Sie kann sich förderlich oder hinderlich auf solidarisches Verhalten als Grundlage gelungener Integration auswirken (Imhoff und Lamberty 2017).

Zusammengenommen heißt das, Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung ist elementar für ein friedliches Zusammenleben. Dabei müssen lediglich die Grundregeln gegenseitigen Respekts eingehalten werden.

Wichtig ist allerdings auch, von Geflüchteten nicht »zu viel« Kontakt einzufordern. Die Erfahrung von Flucht, unsicherem Aufenthaltsstatus und schwierigen Unterbringungsbedingungen ist enorm aufreibend. In dieser stressigen Zeit erleben Geflüchtete Kontakt zu ihrer eigenen Gruppe – zu Menschen, die sie kennen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder die einfach ihre Sprache sprechen – als wichtige Unterstützung (Ager und Strang 2008). Kontakt zur Aufnahmegesellschaft sollte nicht zu Lasten dieser unterstützenden Kontakte gehen. Glücklicherweise schließen sich Kontakte mit der eigenen Gruppe – so genannte »soziale Bindungen« (social bonds) – und Kontakte zur Aufnahmegesellschaft – »soziale Brücken« (social bridges) – nicht aus (Ager und Strang 2008). Als ideal kann daher gelten, wenn eine Aufnahmegesellschaft den Geflüchteten beides ermöglicht: positiven Kontakt zu Menschen mit und ohne Fluchterfahrung.

Partizipation: Teilhabe in Form von Arbeit, Bildung und Mitbestimmung

Ein weiteres zentrales, auf sozialpsychologischer Forschung aufbauendes Prinzip, ist das der Partizipation (Rohmann und Stürmer 2017). Neben gesellschaftlicher Teilhabe durch Arbeit ist damit auch die Mitbestimmung bei Entscheidungsprozessen gemeint. Beispielsweise können Geflüchtete die Abläufe in Flüchtlingsunterkünften selbst mitbestimmen oder Integrationsprojekte mitgestalten. Diese Partizipationsprozesse finden aber selten statt, was das Risiko birgt, dass Integrationsprojekte nicht auf die Bedürfnisse abgestimmt und dadurch nicht nachhaltig sind (BAMF 2014). Partizipation ist eine organisatorische Herausforderung, kann aber enorm hilfreich sein. Partizipationsprozesse ermöglichen es, das Wissen der Betroffenen einzubinden, sie können die Identifikation mit dem Projekt fördern und wirken insgesamt stärkend auf die betroffene Gruppe (Doná 2007).

Auch im Rahmen ehrenamtlicher Arbeit kann die Teilhabe und Autonomie Geflüchteter gefördert werden. Man spricht hier von autonomieorientierter Hilfe, die im Gegensatz zu abhängigkeitsorientierter Hilfe darauf ausgerichtet ist, die Selbständigkeit Geflüchteter zu fördern (Becker et al. 2017). Das Bereitstellen materieller Güter wie Kleiderspenden stellt beispielsweise abhängigkeitsorientierte Hilfe dar. Hilfe zur Selbsthilfe hingegen, wie Unterstützung beim Lernen der Sprache oder bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, ist autonomieorientierte Hilfe. Wo möglich, sollte diese Hilfsform gewählt werden, da sie die Selbständigkeit fördert und von den Hilfeempfängern als angenehmer erlebt wird (Siem 2017).

Aufseiten der Aufnahmegesellschaft ist Mitbestimmung ebenfalls wichtig (Larsen, Arant, Grossert, Boehnke 2017). Nicht wenige Menschen in Deutschland nehmen die aktuelle Flüchtlingspolitik als einen Verlust an Kontrolle wahr. Dem kann die Möglichkeit zur Mitbestimmung, beispielsweise bei der Suche nach geeigneten Plätzen für Flüchtlingsunterkünfte oder durch die Mitgestaltung von Integrationsprozessen, entgegenwirken.

Interkulturelle Kompetenz: Trainings und Supervision

Ein drittes Prinzip, das sich aus unterschiedlichen Forschungssträngen ableiten lässt, ist interkulturelle Kompetenz – die Fähigkeit, mit kulturellen Unterschieden umzugehen. Konflikte und Spannungen können durch Missverständnisse aufgrund kulturellen Unwissens entstehen (Aydin, Kleber, Oelkrug, Leuschner, Wutti 2017). Interkulturelle Trainings können helfen, solche Missverständnisse zu vermeiden und damit einen respektvollen Umgang und positiven Kontakt zu ermöglichen (Mazziotta, Piper und Rohmann 2016).

In interkulturellen Trainings wird häufig auch Wissen über Stereotype vermittelt und darüber, wie schwer man diese Vorstellungen (»der typische Syrer« oder »der typische Flüchtling«) abschalten kann. Dieses Wissen kann beispielsweise Lehrer*innen helfen, die eigenen Stereotype zu reflektieren und Unsicherheiten im Umgang mit Schüler*innen und deren Familienangehörigen zu vermeiden (Martiny und Froehlich 2017).

Stereotype stellen außerdem die Grundlage für Diskriminierung, für negatives Verhalten gegenüber einer Person aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit dar (Wagner 2017). Diskriminiert zu werden wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden aus. Dies kann die Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigen und zu Feindseligkeit führen (Maaitah, Harth, Kessler 2017). Diskriminierung zu vermeiden ist daher ein wichtiger Ansatz, um den Kreislauf gegenseitiger Feindseligkeit zu unterbrechen.

Zusätzlich zur Förderung der interkulturellen Kompetenz wäre eine Begleitung von Menschen, die direkt mit Geflüchteten zusammenarbeiten, sinnvoll. Für viele Ehren-, aber auch Hauptamtliche stellt die Arbeit mit Geflüchteten noch immer eine vergleichsweise neue Situation dar, auf die sie kaum vorbereitet werden konnten (Aydin et al. 2017). Regelmäßige Supervision ist an diesen Stellen dringend nötig.

Die drei Prinzipien – Kontakt, Partizipation und interkulturelle Kompetenz – bieten Ansatzpunkte, die in der praktischen Arbeit und für die Konzeption von Interventionen zur Konfliktvermeidung genutzt werden können. Hierbei sollte eine systematische Evaluation der umgesetzten Maßnahmen erfolgen. Ein Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis kann dieses evidenzbasierte Vorgehen fördern.

Literatur

Ager, A., und Strang, A. (2008): Understanding integration – A conceptual framework. Journal of Refugee Studies, 21(2), S. 166-191.

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge/BAMF (Hrsg.) (2014): Möglichkeiten und Grenzen der Nachhaltigkeit von Integrationsprojekten. Nürnberg.

Bundeskriminalamt (2016): Kriminalität im Kontext von Zuwanderung – Bundeslagebild 2015. Wiesbaden.

Doná, G. (2007): The microphysics of participation in refugee research. Journal of Refugee Studies, 20(2), S. 210-229.

Landmann, H.; Aydin, A.L.; Van Dick, R.; Klocke, U. (2017): Die Kontakthypothese – Wie Kontakt Vorurteile gegenüber Geflüchteten reduzieren und Integration fördern kann. The Inquisitive Mind, de.in-mind.org, i.E.

Mazziotta, A.; Piper, V.; Rohmann, A. (2016): Interkulturelle Trainings – Ein wissenschaftlich fundierter und praxisrelevanter Überblick. Heidelberg: Springer.

Alle weiteren Referenzen sind Teil des folgenden Sammelbandes:

Rohmann, A. und Stürmer, S. (2017). Die Flüchtlingsdebatte in Deutschland – Sozialpsychologische Perspektiven. Beiträge zur Angewandten Psychologie, Band 2. Frankfurt: Peter Lang.

Helen Landmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Community Psychology der FernUniversität in Hagen. Sie forscht zur Rolle von Emotionen für das soziale Zusammenleben. Neben grundlegenden Mechanismen von moralischem Ärger und Gefühlen des Bewegtseins interessiert sie sich besonders für Interventionsansätze in den Bereichen Umweltschutz, Flucht und Integration.
Prof. Dr. Anette Rohmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Community Psychology an der FernUniversität in Hagen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Akkulturation, der Förderung interkultureller Kompetenzen, des Abbaus von Vorurteilen und der Gestaltung eines erfolgreichen Austauschs zwischen Theorie und Praxis.
Prof. Dr. Stefan Stürmer ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpsychologie an der FernUniversität in Hagen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Intergruppenforschung.