Wolf im Schafspelz


Wolf im Schafspelz

Welche Hilfe ist im Asylkontext hilfreich?

von Nadine Knab

„Wenn jeder dem anderen helfen wollte, wäre allen geholfen.“ Dieses Zitat der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach trifft keineswegs immer zu, besonders dann nicht, wenn die Hilfestellung zwischen unterschiedlichen Gruppen erfolgt, denn dann können bestimmte Formen von Hilfe zur Aufrechterhaltung von Machthierarchien führen. Der Artikel betrachtet die Rolle von Hierarchen bei der Interaktion zwischen Hilfegebenden und Hilfenehmenden im Asylkontext aus sozialpsychologischer Sicht.

Man erinnert sich noch leicht an die Bilder, die im Sommer 2015 veröffentlicht wurden: Menschen aus Deutschland heißen Geflüchtete mit Schokolade, Teddys und Blumen »Willkommen«; unzählige Menschen spenden Kleidung und helfen bei der Essensausgabe. Es scheint, diese Menschen sind motiviert, den Geflüchteten schnell zu helfen. Oder helfen sich diese Menschen letztlich nur selbst?

Hilfe und Hierarchie

Helfen wird von der Gesellschaft als positiv und sozial erwünscht angesehen. Wie kann es dann dazu kommen, dass Personen bestimmte Hilfsangebote ablehnen? Personen, die im Flucht- und Asylkontext arbeiten, werden häufig damit konfrontiert, dass ihre Tipps und Ratschläge von den Geflüchteten nicht angenommen werden. Es herrscht dann oft Unverständnis. Manchmal wird die Vermutung geäußert, die Geflüchteten seien einfach undankbar. Worin könnte dieses Verhalten begründet sein – in der Persönlichkeit der (aller) Ablehner*innen? Oder gibt es situationelle Umstände, die dazu beitragen?

Hilfsinteraktionen ist inhärent, dass die Gebenden Ressourcen zur Verfügung haben, die den Empfangenden zugute kommen können. Das heißt, zwischen einzelnen Personen besteht ein Machtungleichgewicht. Dieses Machtungleichgewicht kann z.B. in Form von physischer Überlegenheit (wenn eine erwachsene Person einem Kind hilft, etwas zu tragen), finanziellen Möglichkeiten (wenn Personen die Möglichkeiten haben, anderen Personen Geld zu spenden oder zu leihen) und im Flucht- bzw. Asylkontext auftreten, z.B. durch die eingeschränkten Sprachkenntnisse einer Person.

Hilfsinteraktionen kommen aber nicht nur zwischen einzelnen Personen, sondern auch zwischen Gruppen vor. Je nach Art der Interaktion kann dabei die Gruppenzugehörigkeit der Interagierenden sehr präsent sein. Sozialpsycholog*innen untersuchen seit ein paar Jahren Ursachen für und Reaktionen auf Hilfsangebote im Intergruppenkontext, insbesondere in Situationen, in denen eine privilegierte Gruppe Hilfe anbietet.

Unterschiedliche Formen von Hilfe

Neben dem Machtungleichgewicht, das in Hilfssituationen vorhanden ist, spielt zudem eine Rolle, ob Hilfe den Weg zur sozialen Gerechtigkeit ebnet, d.h. welche Art der Hilfe angeboten wird. Wie bereits angedeutet können bestimmte Formen von Hilfsverhalten dazu führen, bestehende Machtverhältnisse beizubehalten (Nadler 2002), und damit paradoxerweise langfristig zur Verschlechterung der Lage einzelner Personen oder Gruppen führen, denen Hilfe angeboten wird.

Es werden dabei zwei Arten von Hilfsangeboten unterschieden: abhängigkeitsorientierte Hilfe und autonomieorientierte Hilfe (vgl. Jackson und Esses 2000). Bei Ersterem wird die Lösung für ein Problem bereitgestellt, sodass die Abhängigkeit bei erneutem Auftreten des Problems wieder zutage tritt. Autonomieorientierte Hilfe hingegen versucht eher, die Werkzeuge an die Hand zu geben, um zukünftig selbst Probleme lösen zu können. Möchte man daher nur, dass die Geflüchteten mit genügend Kleidung und Nahrung versorgt sind, nicht aber auch mit Zugang zum Arbeitsmarkt, Sprachkursen, der Möglichkeit zur Teilhabe an kulturellen und politischen Ereignissen oder Entscheidungen, könnte es naheliegen, dass das Verhalten von einer Art Paternalismus geprägt ist. Unter Paternalismus versteht man eine nach außen positive Einstellung gegenüber Gruppen mit geringerem Status, die durch Dominanz und damit eine diskriminierende Haltung geprägt ist (vgl. Jackman 1994), was sich durch das Anbieten abhängigkeitsorientierter Hilfe zeigen kann. Ein Beispiel könnte im Asylkontext sein, wenn Geflüchteten statt Bargeld Gutscheine oder Sachleistungen zugesprochen werden, wie es im Sommer 2015 von einigen Politiker*innen gefordert wurde. Durch Gutscheine und Sachleistungen wird den Betroffenen jedoch das eigenständige Bestimmen über die Verwendung der finanziellen Mittel abgesprochen.

Die Form der Hilfe bestimmt daher oftmals, ob diese Hilfe angenommen wird oder nicht. Dieser Mechanismus kann mit Hilfe der Sozialen Identitätstheorie (Tajfel und Turner 1986) erklärt werden. Demnach sind wir bestrebt, eine positive Sicht auf uns und unsere Gruppe zu haben. Um zu einem Urteil zu gelangen, vergleichen wir uns dabei mit anderen Gruppen auf bestimmten Vergleichsdimensionen (z.B. Fähigkeiten, finanzielle Möglichkeiten, Status in der Gesellschaft). Personen einer Gruppe mit geringerem Status sind demnach mit zwei konkurrierenden Gedanken konfrontiert: zum einen mit der Motivation, ihre eigene Gruppe als positiv wahrzunehmen, zum anderen mit der Tatsache, dass die Bewertung ihrer Gruppe bei einem Vergleich mit der statushöheren Gruppe eher negativ ausfällt. Dabei kann allein schon die Hilfssituation an sich den Hilfesuchenden das Stigma von Abhängigkeit und Minderwertigkeit vermitteln (z.B. Nadler und Fisher 1986).

Personen, die dieses Machtungleichgewicht zwischen den Gruppen anerkennen, werden Hilfsangebote unabhängig von ihrer Art annehmen. Wenn der geringere Status internalisiert wurde, kann dies sogar soweit gehen, dass die statushöhere Gruppe positiver als die eigene bewertet wird (Sachdev und Bourhis 1987; Jost und Hunyady 2005). Wenn Personen dieses Machtungleichgewicht aber als nicht legitim ansehen, kann eine Möglichkeit darin bestehen, Hilfsangebote abzulehnen, um sich gegen dieses Machtungleichgewicht zu stellen. Somit kann die Ablehnung von Hilfe auch eine Art der Selbstermächtigung und eine Möglichkeit der Wiedererlangung einer positiven Gruppenbewertung darstellen.

Abhängigkeitsorientierte Hilfe: des Vorurteils kleine Schwester

Helfen ist daher nicht immer nur ein Zeichen von gutem Willen. Doch wann ist das Angebot abhängigkeits- oder autonomieorientierter Hilfe wahrscheinlicher?

Das Angebot abhängigkeitsorientierter Hilfe und offen geäußerte Vorurteile haben eine (von vielen verschiedenen) gemeinsame kausale Variable: die Wahrnehmung von Bedrohung. So konnten zum Beispiel Nadler et al. (2009) in zwei Studien zeigen, dass paradoxerweise der Gruppe mehr Hilfe angeboten wird, die als Bedrohung für die eigene Gruppe eingestuft wird. Diese Hilfe war allerdings nicht sensibel gegenüber dem Problem und damit der tatsächlichen Bedürftigkeit des/der Hilfesuchenden. Die Autor*innen erklären dies damit, dass die Gruppe, die sich bedroht fühlte, mit dem Hilfsangebot eine positive Wahrnehmung der eigenen Gruppe beibehält und gleichzeitig die Selbstermächtigung der anderen Gruppe verhindert.

Ähnliche Ergebnisse gibt es von Jackson und Esses (2000). Die Forscher*innen konnten nachweisen, dass Personen weniger bereit sind, Geflüchteten zur Selbstermächtigung oder autonomieorientierten Lebensweise zu verhelfen, wenn sie sich z.B. ökonomisch bedroht fühlen. In dieser Studie wurde den Teilnehmenden gesagt, dass es Immigrant*innen mit Erfolg geschafft hätten, Fuß auf dem kanadischen Arbeitsmarkt zu fassen. Die Teilnehmenden nahmen daher die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen auf dem kanadischen Markt für Personen, die bereits in Kanada wohnen, als geringer wahr als Teilnehmende der Studie, die die Information über die erfolgreiche Arbeitsmarktintegration nicht erhalten hatten.

An einer weiteren Studie (Nadler et al., 2009) nahmen Schüler*innen einer prestigeträchtigen High School aus Israel teil. Ihnen wurde gesagt, dass sie und Schüler*innen einer anderen Schule Analogie-Aufgaben lösen sollten. Einem Teil der Schüler*innen wurde gesagt, dass die andere, weniger prestigeträchtige Schule in den letzten fünf Jahren in ihren Leistungen stets konstant geblieben war; einem anderen Teil wurde gesagt, dass die anderen Schüler*innen sich in den letzten fünf Jahren stetig verbessert hatten. Danach wurden die Analogie-Aufgaben gestellt. Den Schüler*innen der prestige-trächtigen Schule wurde dann gesagt, dass ein Schüler/eine Schülerin in der anderen Schule Schwierigkeiten bei der Lösung einiger Aufgaben habe. Sie hatten die Möglichkeit, dem anderen Schüler/der anderen Schülerin abhängigkeitsorientierte Hilfe (die gesamte Lösung einfach mitteilen), autonomieorientierte Hilfe (einen Hinweis zur Lösung geben) oder gar keine Hilfe anzubieten. Wenn zuvor die getrennte Gruppenzugehörigkeit bewusst gemacht worden war, boten die Teilnehmenden mehr abhängigkeitsorientiere Hilfe an.

Neben dem Befund, dass ein Gefühl der Bedrohung zum Angebot abhängigkeitsorientierter Hilfe führt, gibt es auch Indizien, dass nicht einmal eine Bedrohung empfunden werden muss, sondern der wahrgenommene Status des Hilfesuchenden schon bestimmt, welche Art von Hilfe angeboten wird. Wird dem/der Hilfesuchenden ein geringer Status zugesprochen, dann werden aufgrund von Attributionsprozessen (z.B. Weiner 2006) geringere Fähigkeiten als Ursache für das Hilfsgesuch vorausgesetzt und abhängigkeitsorientierte Hilfe angeboten (Nadler und Chernyak-Hai 2014). Das Hilfsgesuch von Personen aus einer statushohen Gruppe hingegen wird eher auf situationelle, veränderbare und externe Ursachen zurückgeführt, sodass diesen autonomieorientierte Hilfe angeboten wird.

Personen im ehrenamtlichen Kontext sollten sich daher regelmäßig die Frage stellen, welche Hilfe den Geflüchteten tatsächlich langfristig helfen kann, sich als selbstständiges, zugehöriges Individuum in den neuen Gegebenheiten zurechtzufinden.

Um Machthierarchien aufrechtzuerhalten, sind also nicht immer offen geäußerte Vorurteile notwendig – sozial erwünschtes Verhalten in Form von (abhängigkeitsorientierter) Hilfe zu zeigen, kann zum selben Ergebnis führen. Wenn Geflüchtete nur als Opfer gesehen werden, ohne eigene (politische) Gestaltungsmöglichkeiten, fungiert Hilfe als Methode zur Aufrechterhaltung des Machtungleichgewichts. Im Bereich der Entwicklungshilfe wird diese Form von positiv erscheinender Machtausübung schon seit langer Zeit diskutiert (z.B. Bauer 1993) – vor der eigenen Haustüre, bei der ähnliche Interaktionsmuster auftreten, noch zu wenig.

Literatur

Bauer, P. (1993): Development Aid – End It or Mend It. International Center for Economic Growth, Occasional Papers Nr. 43. Oakland, California: Ics Press.

Jackman, M. (1994): The Velvet Glove – Paternalism and Conflict in Gender, Class, and Race Relations. Berkeley: University of California Press.

Jackson, L.M. and Esses, V.M. (2000): Effects of Perceived Economic Competition on People’s Willingness to Help Empower Immigrants. Group Processes & Intergroup Relations, 3(4), S. 419-435.

Jost, J.T. and Hunyady, O. (2005): Antecedents and Consequences of System-Justifying Ideologies. Current Directions in Psychological Science, 14(5), S. 260-265.

Nadler, A. (2002): Inter-Group Helping Relations as Power Relations – Maintaining or Challenging Social Dominance Between Groups Through Helping. Journal of Social Issues, 58, S. 487-502.

Nadler, A. and Chernyak-Hai, L. (2014): Helping Them Stay Where They Are – Status Effects on Dependency/Autonomy-Oriented Helping. Journal of Personality and Social Psychology, 1, S. 58-72.

Nadler, A. and Fisher, J.D. (1986): The Role of Threat to Self-Esteem and Perceived Control in Recipient Reactions to Help – Theory Development and Empirical Validation. In L. Berkowitz (ed.): Advances in Experimental Social Psychology (Vol. 19). New York: Academic Press, S. 81-122.

Nadler, A.; Harpaz-Gorodeisky, G.; Ben-David, Y. (2009): Defensive Helping – Threat to Group Identity, Ingroup Identification, Status Stability, and Common Ingroup Identity as Determinants of Intergroup Helping. Journal of Personality and Social Psychology, 5, S. 823-834.

Sachdev, I. and Bourhis, R.Y. (1985): Social Categorization and Power Differentials in Group Relations. European Journal of Social Psychology, 15(4), S. 415-434.

Tajfel, H. and Turner, J.C. (1986): The Social Identity Theory of Intergroup Behavior. Psychology of Intergroup Relations, 5, S. 7-24.

Weiner, B. (2006): Social Motivation, Justice, and the Moral Emotions? An Attributional Approach. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates.

Nadine Knab, Mitglied der W&F-Redaktion, ist Doktorandin im Themenbereich Friedenspsychologie an der Universität Koblenz-Landau im Fachbereich Psychologie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen bei den Themen Interventionen bei Intergruppenkonflikten, soziale Gerechtigkeit und verschiedene Formen kollektiven Handelns.

Zu böse für Frieden durch Frieden?

Zu böse für Frieden durch Frieden?

Über widerstreitende Menschenbilder

von Albert Fuchs

Wenn es beim Thema »Krieg und Frieden« ums Grundsätzliche geht, wird der Glaube an (militärische) Gewalt als letztes Mittel, Frieden zu schaffen oder zu erhalten, vielfach damit begründet, der Mensch als solcher sei zu böse für Frieden durch Frieden. Es wird also ein »pessimistisches« Menschenbild zur Stützung dieses Glaubens bemüht. Was heißt das genauer, und welche Bedeutung haben Menschenbilder für Vorstellungen von Frieden und Friedenschaffen?

Das Adjektiv »böse« im Titel dieses Beitrags verweist auf eine moralische Qualität, ist demnach strikt zu unterscheiden von »schlecht« im naturhaften Sinn – wie etwa eine Krankheit schlecht ist für das Befinden oder die Lebenserwartung eines Menschen oder wie eine Wetterlage schlecht ist für ein Freizeitvorhaben. »Gut« und »böse« im ethischen Sinn qualifizieren originär menschliches Handeln, und zwar den (zielbewussten) Umgang mit naturhaft Gutem und naturhaft Schlechtem, insbesondere im Hinblick auf Mitmenschen. Auf etwas Wesenhaftes »jenseits« der Fähigkeit, gut oder böse zu handeln, kann Böses nicht zurückverfolgt werden. Erst im abgeleiteten Sinn kann von Menschen gesagt werden, sie seien gut oder böse – dann nämlich, wenn sie grundsätzlich und bei nahezu allen Gelegenheiten entsprechend handeln.

Bei alltagssprachlich formulierten Menschenbildern werden derartige Differenzierungen eher vernachlässigt. Denn Menschenbilder sind in der Regel ab­strakte philosophische oder theologische Vorstellungen davon, was den Menschen und die menschliche Gesellschaft im Wesentlichen ausmacht. Obgleich ihnen eine allgemeine und zeitlose Gültigkeit unterstellt wird, sind sie kulturrelativ und zeitgebunden, werden im Laufe der Entwicklung immer wieder neu entworfen und bearbeitet. Zumindest im gleichen Maße wie den Versuch einer Bestim­mung der menschlichen Natur beinhalten sie idealisierende Umschreibungen dessen, was in einer Trägergesellschaft als menschliches Ideal gilt oder gelten soll. Aufgrund dieses normativen Aspekts erhalten Menschenbilder politische Relevanz. Eine solche Relevanz ergibt sich aber auch aus ihrem Legitimierungspotenzial für bestehende gesellschaftliche und politische Verhältnisse.

Überlegungen dieser Art legen nahe, dass der oft scheinbar nur in unterschiedlichen militär- und sicherheitspolitischen Präferenzen bestehende Gegensatz zwischen Pazifismus und Militarismus tief verankert sein dürfte in gegensätzlichen Menschenbildern. Nur um diesen Krieg und Frieden betreffenden Aspekt von Menschenbildern geht es hier. In welchem Sinn aber soll von Pazifismus und Militarismus die Rede sein?

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist das Kunstwort »Pazifismus« als zusammenfassende Bezeichnung für alle Friedenskonzepte, Teilziele und friedenspolitischen Ansätze der Friedensbewegungen und -organisationen in Gebrauch. Pazifismus als Doktrin ist demzufolge kein einheitliches Gebilde; in der rund 200-jährigen Geschichte der pazifistischen Bewegungen hat sich eine Positionsfamilie entwickelt, in der das Pazifismuskonzept uneinheitlich verwendet bzw. kontrovers bestimmt wird. Die Hauptfacetten – »kein Krieg«, »nicht Töten« und »ohne (physische oder psychische) Gewalt« (vgl. Holmes 2014; Moseley o.J.) – werden in unterschiedlichen Bewegungen und Organisationen unterschiedlich gewichtet. Als Begriffskern und kleinsten gemeinsamen Nenner kann man die grundsätzliche, insbesondere politisch-moralische Ablehnung von Krieg und militärischer Gewalt als Mittel zur Austragung politischer Konflikte ansehen, zumal dieser Aspekt von den anderen Facetten impliziert wird (sie aber nicht eindeutig impliziert). Die positive, auch handlungsbezogene Seite der pazifistischen Perspektive mag in einer Formel wie „Frieden durch Frieden und nur durch Frieden“ prägnant zum Ausdruck kommen.

Als bellizistisches Gegenstück gilt eine Position, wie sie mit dem altrömischen Motto „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor“ auf den Punkt gebracht ist. Einen Gegensatz im strengen Sinn aber stellt die militaristische Gewaltfriedens­idee dar, nach dem Leitsatz „Wenn du Frieden willst, führe Krieg“. Nun folgt auf Kriegsvorbereitung im bellizistischen Sinn zwar nicht notwendigerweise Krieg. Kriegführung erfordert jedoch entsprechende Vorbereitungen. Die aber haben auf der Mentalitätsebene Kriegführungsbereitschaft zur Voraussetzung und bedingen auf der materiellen und sozialen Ebene einen Verbrauch von Ressourcen, der u.U. nicht weniger destruktiv ist als manifeste kriegerische Gewalt. Hinzu kommt, dass der Militarismusbegriff in der einschlägigen (sozialwissenschaftlichen) Literatur als etablierter Gegenbegriff zum Begriff des Pazifismus gilt. Hier soll daher im Weiteren nur von einem Gegensatz Militarismus-Pazifismus die Rede sein.

Bei Auseinandersetzungen um Militär und Krieg sind Verweise auf das gegnerische und das eigene Menschenbild vielfach Instrument der Auseinandersetzung in Form von spiegelbildlich gegensätzlich konnotierten Verweisungen: Das je eigene Bild wird positiv gekennzeichnet, das der Gegenseite negativ. Aus objektivierend-sozialwissenschaftlicher Perspektive ist das Problemfeld kaum bearbeitet. Im Bereich der sozialpsychologischen Einstellungsforschung beispielsweise ist erst in jüngerer Zeit der eine oder andere Beitrag zu finden, in dem Vorstellungen von der Natur des Menschen als Komponente des Einstellungskomplexes Militarismus-Pazifismus ernst genommen werden und in einschlägige Untersuchungsinstrumente eingehen (z.B. Cohrs and Nelson 2012).

Der Einstellungsforschungsansatz aber ist insofern ergänzungsbedürftig, als er individualpsychologisch orientiert ist. Das heißt, es geht im Wesentlichen um die Bestimmung der Position einzelner Personen auf dem hypothetischen Militarismus-Pazifismus-Kontinuum. Eine Menge von Personen gleicher oder ähnlicher Position auf diesem Kontinuum bildet aber nur dann eine genuine soziale Einheit, wenn nahezu alle vom Bestehen dieser Gemeinsamkeit ausgehen, es sich also um mehr oder weniger bewusst geteilte Vorstellungen handelt. Damit ist die seit den 1970er Jahren entwickelte sozialpsychologische Theorie »sozialer Repräsentationen« (z.B. Moscovici 1981) angesprochen. Dieser Ansatz macht den sozialen und kulturellen Hintergrund von Wissen, Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen zum Gegenstand empirischer Forschung; er wäre insofern wie kaum ein anderer geeignet, diesen Hintergrund militaristischer und pazifistischer Einstellungen auszuleuchten. Entsprechende Arbeiten liegen bisher (nach Kenntnis des Autors) nicht vor. Hilfsweise soll hier das Menschenbild zweier Leitfiguren unseres Perspektiven-Gegensatzes skizziert und kurz unter dem Gesichtspunkt der Friedensrelevanz kommentiert werden.

Thomas Hobbes und der »negative Frieden«

Als exemplarisch für die »sicherheitslogische« militaristische Perspektive kann das Bild vom Menschen (und der Gesellschaft) gelten, das Thomas Hobbes (1588-1679) in seinem staatsphilosophischen Hauptwerk »Leviathan« (1651/1984) zeichnet. Hobbes versteht den Menschen nicht als »ursprünglich gesellig«, sondern als nach Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung strebendes Einzelwesen in einer Situation fundamentaler Konkurrenz mit anderen Einzelnen um begrenzte Güter. Soziale Beziehungen kommen vor allem in der Gestalt von Macht zur Geltung, verstanden als Potenzial zu letztlich gewaltförmiger Sicherung und Steigerung eigener Bedürfnisbefriedigung. Macht erfordert Machterhalt und bedingt damit ein verbreitetes Streben nach Machterweiterung. Das wiederum führt zur Verschärfung des Grundkonflikts.

Nicht zuletzt dank der ständigen Exponiertheit des Lebens eines jeden sind die konkurrierenden Individuen grundsätzlich gleich und leben in der gleichen Hoffnung, ihre Ziele zu erreichen. Wenn aber ein bestimmtes Wertobjekt von mehreren Menschen gleichzeitig begehrt wird, jedoch unmöglich gleichzeitig zu besitzen und zu genießen ist, kommt es unweigerlich zum Kampf. Von Natur aus hat jeder das Recht auf alles, was er zur seiner Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung braucht. Doch dieses »Naturrecht« eignet sich nicht als Regulativ; vielmehr führt das »Recht aller auf alles« zum »Krieg aller gegen alle« – bei beständiger Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes.

Ein Ausweg aus diesem miserablen »Naturzustand« erschließt sich, wenn Todesfurcht und Begehren die menschliche Vernunft in ihren Dienst nehmen. Dann kann durch einen Vertrag zwischen den Individuen, der die gesamte je eigene Macht und Stärke und alle »natürlichen Rechte« auf einen Menschen oder auf eine Versammlung von Menschen überträgt, eine politische Friedensordnung gestiftet werden. Durch vollständige Unterwerfung unter diesen Souverän entsteht eine alle Glieder der Gemeinschaft zwingende Gewalt, die die Sicherheit ihrer Mitglieder und deren Freiheit, ihre Ziele zu verfolgen, zu gewährleisten vermag. Der so kreierte Gewaltmonopolist Staat (Leviathan) ist ein von den Individuen verfertigtes Artefakt. Nachdem sie ihn aber geschaffen haben, können die Einzelnen ihm gegenüber keine Rechte mehr geltend machen. Mit dem Wegfall des intendierten Schutzes entfällt allerdings die dieses Schutzes wegen eingegangene Gehorsamsverpflichtung.

In Fragen von Recht und Moral gilt Hobbes weithin als früher Rechtspositivist. Erst mit dem »Gesellschaftsvertrag« wird ihm zufolge die Rede von Recht und Unrecht, Gut und Böse sinnvoll. Andererseits meint er, aus dem Selbsterhaltungsbedürfnis ergäbe sich ein grundlegendes und allgemeines »Gesetz der Natur« (lex naturalis): Dem Menschen ist es verboten, etwas zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn lebenserhaltender Mittel berauben kann, und zu unterlassen, wodurch es am besten zu erhalten ist. Demgemäß haben sich alle um Frieden zu bemühen, solange Hoffnung auf Frieden besteht, dürfen sich aber sämtliche Mittel und Vorteile des Krieges verschaffen, falls Frieden nicht erreichbar ist. Des Weiteren sollen die Einzelnen freiwillig, falls andere ebenfalls dazu bereit sind, auf ihr Recht auf alles verzichten, soweit sie das um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig halten. Doch selbst ein so allgemeines moralisches Prinzip wie die hier anklingende »Goldene Regel«, andere zu behandeln, wie man selbst behandelt werden will, hält Hobbes für ungeeignet, auch nur minimale Sicherheit zu gewährleisten. Erst die Furcht vor einer mit Zwangsgewalt ausgestatteten Macht, welche die Nicht-Beachtung solcher »natürlichen Gesetze« unter Strafe stellt, macht diese wirkmächtig.

Die nach Hobbes durch Konstruktion des Leviathans gestiftete Friedensordnung beruht auf der Todesfurcht und dem Begehren des Individuums. Der fundamentale Wert ist Sicherheit im Sinne des Schutzes vor einem gewaltsamen Tod. Damit läuft diese Friedenskonzeption lehrbuchhaft auf einen »negativen Frieden« im Sinne Galtungs (1975) hinaus. Die zwischenstaatlichen Beziehungen hat Hobbes allerdings nur am Rande im Blick; er scheint den Naturzustand diesbezüglich für unüberwindbar zu halten. Manche Vertreterinnen und Vertreter der »realistischen« (außen-) politischen und politikwissenschaftlichen Schule sehen gleichwohl in einer Übertragung seines Modells auf die »anarchische« internationale Bühne eine bzw. die einzige Möglichkeit zwischenstaatlicher Friedenssicherung. Die Bedeutung der hobbesschen Perspektive für die herrschende militärgestützte »Sicherheitslogik« ist kaum zu bestreiten (vgl. Jaberg 2014).

Das Kernproblem stellt das »Sicherheitsdilemma« dar. Es besteht im Wesentlichen darin, dass Versuche eines Staates, mit militärischen Mitteln für seine Sicherheit vor Übergriffen eines anderen Staates zu sorgen, leicht zu dessen zunehmenden Unsicherheit und zu entsprechenden Gegenreaktionen führen können, unabhängig von den tatsächlichen ursprünglichen Absichten. Das Ergebnis ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Spirale zunehmender beidseitiger Unsicherheit (vgl. Wikipedia 2016). Verstärkt wird diese »Self-fulfilling prophecy«-Dynamik (Merton 1968) durch den Mechanismus der Akteur-Beobachter-»Perspektivendivergenz« (Jones und Nisbett 1971): Eigene Handlungen und Maßnahmen werden grundsätzlich als defensiv und gerechtfertigt wahrgenommen und auf äußere Umstände (insbesondere auf das gegnerische Handeln) zurückgeführt, die zu beobachtenden gegnerischen aber als (potenziell) bedrohlich und nicht rechtfertigungsfähig interpretiert und der Bösartigkeit des Gegners zugeschrieben.

Mohandas K. Gandhi und »positiver Frieden«

Als grundlegendes und umfassendes Gegenmodell zur hobbesschen Konstruktion kann man Mohandas K. Gandhis (1869-1948) Satjagraha-Praxis und -Philosophie verstehen (Gandhi 1983; 1996). Die Wortschöpfung »Satjagraha« (Festhalten an der Wahrheit) zur Kennzeichnung des gesamten Ansatzes verweist auf dieses ganz andere Bild vom Menschen und der Gesellschaft. Gandhi glaubte aus religiöser Überzeugung an die Einheit allen Lebens und damit an die grundsätzliche Vereinbarkeit aller wesentlichen menschlichen Interessen und Bestrebungen. Konflikte und Auseinandersetzungen sind in dieser Perspektive oberflächliche Störungen einer tiefgründigen Harmonie. Erkenntnis und Realisierung dieser Harmonie hält Gandhi für jeden Menschen in dem Maße für möglich, wie er oder sie seinem/ihrem Bedürfnis nach Wahrheit im umfassenden Sinn folgt.

Dabei ist Gandhis Denken und Handeln recht skeptisch und geradezu experimentalistisch getönt. Da alle Sachverhalte viele Seiten haben, ist jede spezifische Annäherung an die Wahrheit grundsätzlich fragmentarisch und irrtumsanfällig und daher vorläufig. Gerade in politisch-praktischen (und religiösen) Belangen muss es daher pluralistisch und kooperativ zugehen. Die eigenen Einsichten müssen Gefährten einleuchten und vor allem auch (politische) Gegenspieler überzeugen. Konfliktbearbeitung im Besonderen ist nach Gandhi, wenn sie gelingen soll, als zutiefst dialogischer Prozess des zwangsfreien Erstreitens einer einvernehmlichen Lösung zu verstehen, als Freisetzung einer allen Parteien gerecht werdenden »höheren Wahrheit«.

Gandhi deutet diesen Prozess als Ausübung von »Ahimsa« (wörtlich »Nicht-Verletzen«), als (aktive) Gewaltfreiheit – ein Verständnis von Einfluss und Macht, das der hobbesschen Reduktion auf Gewalt diametral entgegensteht. Dabei kann die eigene Obrigkeit der Gegner sein und demzufolge das Erstreiten einer höheren Wahrheit auch zivilen Ungehorsam einschließen. Niemals aber und gegenüber niemandem ist Wahrheit mit Gewalt zu erreichen oder durchzusetzen; denn wer Gewalt anwendet, sieht sich im Besitz der Wahrheit und verwickelt sich in einen unheilbaren Widerspruch von Ziel und Mittel – in dessen Folge die Mittel das Ziel korrumpieren.

Bei der Suche nach Wahrheit im politischen Bereich spielt die moralische Seite eine zentrale Rolle, mit dem persönlichen Gewissen als Letztinstanz. Unter Umständen entsteht das Dilemma, entweder die eigene Wahrheit unter gegnerischem Druck zu verraten oder die des Gegners zu diskreditieren. Eine Lösung sucht Gandhi in konsequenter Ahimsa. Das aber erfordert, dass der »Satjagrahi«, der gewaltfreie Aktivist, bereit ist zu »Tapasja« (wörtlich »Selbst-Leiden«), d.h. dazu, sich auch persönlichem Leiden auszusetzen oder gar den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, um das Gewissen des Gegners zu erreichen.

Um einem groben Missverständnis der Konzeption Gandhis als individualethischem Hochleistungsprogramm vorzubeugen, seien die auf das Gemeinschaftsleben bezogenen Leitideen »Sarvodaja« (Wohlfahrt für alle), »Swaraj« ((kollektive) Freiheit und Selbstbestimmung) und »Swadeshi« (kommunale ökonomische Selbstorganisation) wenigstens erwähnt. Als funktionales Äquivalent der Agenturen der staatlichen Zwangsgewalt entwarf er mit seinem Schüler Vinoba Bhave die »Shanti Sena«, Friedensbrigaden, die durch gewaltfreie Konfliktbearbeitung gemäß den Satjagraha-Prinzipien Ordnungsfunktionen wahrnehmen soll(t)en, wie sie herkömmlicherweise Polizei und Militär zugedacht sind.

Gandhis Satjagraha-Praxis und -Philosophie kann als positive Friedenskonzeption im Sinne der galtungschen Typologie gelten. Bereits persönliche Ahimsa wollte Gandhi, anders als im Jainismus, seiner Referenzreligion, nicht vorwiegend negativ als Gewaltverzicht verstanden und ausgeübt wissen, sondern als positive Kraft tätiger Liebe. Insbesondere die auf das Gemeinschaftsleben bezogenen Konzepte Wohlfahrt für alle, (kollektive) Freiheit und Selbstbestimmung und (kommunale) ökonomische Selbstorganisation sind Zielkomponenten einer konstruktiven Programmatik. Allerdings gehört die Abwehr der betreffenden Unwerte, vor allem der Schutz vor direkter Gewalt und Unterdrückung, dazu. Damit entspricht Gandhis Konzeption weitgehend der Leitidee des »gerechten Friedens« im zeitgenössischen friedensethischen Diskurs der christlichen Kirchen (in Deutschland). Im Gegensatz zur herrschenden großkirchlichen Auffassung soll der Widerstand aber selbst bei existentieller Bedrohung durch militärische Großgewalt grundsätzlich gewaltfrei sein.

Auf den ersten Blick scheint diese Position klar und eindeutig zu sein. Gandhi unterscheidet allerdings vier Entwicklungsstufen auf dem Weg zur Gewaltfreiheit: von feiger Unterwerfung über gewaltsamen Widerstand und passiven Widerstand zu aktiver Gewaltfreiheit. Und trotz seiner vielfach bekundeten Überzeugung, Gewaltfreiheit sei der Gewalt unendlich überlegen, glaubte Gandhi, dass er einer Person, die sich angesichts massiven Unrechts vor der Wahl zwischen Feigheit und Gewalt sieht, zu gewaltsamem Widerstand raten würde. Wiederholt stellte er auch eigene Hilfsdienste (als Sanitäter) beim britischen Militär in das Licht solcher Überlegungen.

Die augenscheinliche Widersprüchlichkeit löst sich weitgehend auf, wenn man derartige Einlassungen als Ausdruck der Beförderung des Gewissens zur politisch-moralischen Letztinstanz versteht und als Ausdruck des Postulats, dass die persönliche Motivation ausschlaggebend ist für die moralische Qualität des Handelns (vgl. Pontara 1967). Etwas weiter gedacht aber muss eine solche Subjektivierung den gesamten Ansatz in Sackgassen führen. Wenn etwa manifeste Gewalt (»Himsa«) dank des »guten Willens« der Handelnden als Gewaltfreiheit (Ahimsa) gelten kann, sodass beispielsweise mit solcher Ahimsa Verletzte und Getötete keine Gewaltopfer mehr sein sollen, steht nicht nur die Entsprechung von Mittel und Ziel in Frage, sondern Gewaltfreiheit gerät zum Selbstwiderspruch. Eine andere Sachgasse tut sich auf, wenn selbst-erklärte »politische Pazifisten« mit »extremen Ausnahmesituationen« reihenweise rechnen, die das Gewaltfreiheitsprinzip suspendieren, aber nicht recht anzugeben wissen, welche Situationsmerkmale solche Ausnahmesituationen ausmachen sollen, und dann bestenfalls auf kriteriologische Fragmente der Bellum-iustum-Theorie zurückgreifen, vor allem auf das Kriterium des »letzten Mittels«.

Für agnostisch Gestimmte oder Atheisten mag Gandhis religiöse Verwurzelung ein weltanschauliches Hindernis darstellen, sich auf seine Ideen und »Experimente mit der Wahrheit« ernsthaft einzulassen und sie unvoreingenommen zu prüfen. Sein Gottesverständnis ist allerdings ausgesprochen ökumenisch in einem denkbar weiten, jedenfalls Religionen mit nicht personalistischem Gottesverständnis einschließenden Sinn. Andererseits wurden im vergangenen Jahrhundert größere gewaltfreie Bewegungen vor allem von ausgeprägt religiösen Menschen inspiriert. Was einen eventuellen »Mehrwert der Religion« ausmachen könnte, ist insofern eine respektable wissenschaftliche und politisch-kulturelle Herausforderung. Schließlich ist zu unterscheiden zwischen Gewaltfreiheit als konkreter Taktik, als genereller Strategie und als Lebensform. Nur als Lebensform ist Gewaltfreiheit ein Wert in sich und als solcher am ehesten religiös konnotiert.

Rückblick und Ausblick

Auch Hobbes und Gandhi, deren Menschenbilder hier ersatzweise als typisch für Militarismus und Pazifismus nachgezeichnet wurden, sind nicht erkennbar um sprachliche Differenzierung in dem eingangs erläuterten Sinn bemüht. Eine quasi-moralische Qualifizierung des Menschen kommt aber – wenngleich eher indirekt – auch bei ihnen zum Ausdruck. Hobbes operiert jedenfalls hintergründig mit wesenhafter Schlechtheit (Egozentrik = Bösartigkeit?) des Menschen. Zwar werden Recht und Moral erst durch den Gesellschaftsvertrag konstituiert, zugleich bleibt ihre Durchsetzung auf die mit eben diesem Vertrag begründete Zwangsgewalt des Leviathan angewiesen. Dagegen setzt Gandhi auf eine ebenfalls wesenhafte Gutheit des Menschen, allerdings nicht auf faktische, sondern auf potenzielle, auf eine Gutheit, die über die (moralische) Selbstentwicklung des Einzelnen in und mit der Gesellschaft verlaufen muss.

Das hobbessche Menschenbild ist selbst für einen lediglich negativen (Abschreckungs-) Frieden eher kontraproduktiv: Menschliche Natur und internationale Anarchie garantieren, dass die Sicherheitsprekarität unüberwindbar ist. Doch es bleibt auch nicht beim Ewigselben; vor allem die von Hobbes kaum in Rechnung gestellte (waffen-) technologische Entwicklung treibt eine allgemeine und verschärfte Verunsicherheitlichung voran.

Die Friedensrelevanz von Gewaltfreiheit als Taktik wie als Strategie der Konfliktbearbeitung – ob mit oder ohne Bezug auf Gandhi – ist aus der objektivierenden wissenschaftlichen Sicht selbst nicht politisch involvierter Forscherinnen und Forscher spätestens seit den Arbeiten beispielsweise von Semelin (1995) und Chenoweth und Stephan (2011) empirisch gut belegt. Eine vergleichbare Relevanz kann man andererseits Gandhis Perspektive einer tiefgreifenden Gesellschaftsreform (bisher) kaum attestieren. Das mag u.a. damit zu tun haben, dass sein Beispiel umso weniger verpflichtend wurde, je mehr es sich abhob von den Denk- und Handlungsmöglichkeiten der Mehrheit seiner Gefolgschaft. Zu bedenken ist aber auch, dass Ideale definitionsgemäß nur approximativ zu erreichen sind, Gandhis Ideale ihre Zukunft also noch vor sich haben könnten.

Die von Jaberg (2014) erörterten Möglichkeiten aber, die Tücken des hobbesschen Ansatzes zu mildern – insbesondere selbstreflexive Wende, Perspektivenübernahme und Erfindung und Implementierung einer inklusiven Sicherheitskonzeption –, können und sollten aus pazifistisch-»friedenslogischer« Sicht als Schritt in Richtung der eigenen Idealvorstellungen verstanden und anerkannt werden.

Literatur

Chenoweth, D.; Stephan, M.J. (2011): Why civil resistance works. New York: Columbia University Press.

Cohrs, C. J.; Nelson, L.L. (2011): Militaristic attitude. In: D.J. Christie (ed.): The Encyclopedia of Peace Psychology. Malden, MA: Wiley-Blackwell.

Galtung, J. (1975): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: Galtung, J.: Strukturelle Gewalt. Reinbek: Rowohlt, S. 7-36.

Gandhi, M. (1983): Mein Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Gandhi, M. (1996): Für Pazifisten. Münster: LIT.

Hobbes, T. (1651/1984): Leviathan. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Holmes, R.L. (2013): Violence and nonviolence. In: Cicovacki, P. (ed.): The ethics of nonvio­lence. New York etc.: Bloomsbury, S. 149-167.

Jaberg, S. (2014): Sicherheitslogik – Eine historisch-genetische Analyse und mögliche Konsequenzen. In: Friedenslogik statt Sicherheitslogik. W&F-Dossier 75, S. 8-11.

Jones, E.E.; Nisbett, R.E. (1971): The actor and the observer – Divergent perceptions of the causes of behavior. In: Jones, E.E. et al. (eds.): Attribution – Perceiving the causes of behav­ior. Morristown, NJ: General Learning Press, S. 79-94.

Merton. R.K. (1967): Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen. In: Topitsch, E. (Hrsg.): Die Logik der Sozialwissenschaften. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch, S. 144-160.

Moscovici, S. (1981): On social representations. In: Forgas, J.P. (ed.): Social cognition. New York: Academic Press, S. 181-209.

Moseley, A. (o.J.): Pacifism. Internet Encyclopedia of Philosophy; iep.edu

Pontara, G. (1965): The rejection of violence in Gandhian ethics of conflict resolution. Journal of Peace Research, 2, S. 197-215.

Semelin, J. (1995): Ohne Waffen gegen Hitler. Frankfurt a.M.: Dipa.

Wikipedia (2016): Security dilemma. Stand 29.10.2016.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Hochschullehrer für Kognitions- und Sozialpsychologie i.R., Mitglied des Beirats von W&F und bei Pax Christi u.a. engagiert.

Soziale und politische Herausforderungen


Soziale und politische Herausforderungen

29. Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie,
8.-10. Juli 2016, Landau in der Pfalz

von Jana Meyer und Nadine Knab

»Social and Political Challenges: Research, Action, & Policy« – dies war das Motto, unter dem die 29. Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie am Campus Landau der Universität Koblenz-Landau stattfand. Die dreitägige Tagung wurde von der Arbeitseinheit für Sozial- und Wirtschaftspsychologie sowie von der Friedensakademie Rheinland-Pfalz, Akademie für Krisenprävention und Zivile Konfliktbearbeitung, organisiert.

Radikalisierung, Verlust von Vertrauen in Politik und soziale Vielfalt sind nur einige Themen, die Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen im Umgang mit friedenspsychologischen Prozessen vor neue Herausforderungen stellen. Rund 70 Teilnehmer*innen kamen zur Vorstellung aktueller Forschung und interdisziplinärer Vernetzung in Landau zusammen. Die Zusammensetzung der Tagungsgemeinschaft reichte von Studierenden über Wissenschaftler*innen bis hin zu Praktiker*innen aus Politik, Zivilgesellschaft und Medien, wobei einige Teilnehmende aus Chile, England, Russland und den USA angereist waren.

Zu Beginn der Tagung gestaltete Jens Hellmann einen »Science Slam«-Workshop. Science Slam stellt eine neue Art der Forschungspräsentation dar, in dem es nicht um bloße Ergebnisdarstellung für ein Fachpublikum geht, sondern um die kreative und interessante Kurzdarstellung der eigenen Studie vor Laienpublikum, ähnlich einem Poetry Slam. Folglich hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, neue Kompetenzen im Bereich Wissenschaftskommunikation zu erlangen. Sie zeigten sich begeistert, Forschung auf eine völlig andere Art und Weise publikumswirksam präsentieren zu können.

Hauptbestandteil der Tagung waren die insgesamt 30 wissenschaftlichen Panelbeiträge, welche eine große thematische Bandbreite aufwiesen. Es wurden theoretische Modelle und Annahmen vorgestellt, wie bspw. der Vorschlag von Prof. em. Dr. Gert Sommer und Dr. Jost Stellmacher, den Begriff des »Menschenrechtsmissbrauch« in die UN-Menschenrechtscharta aufzunehmen.

Des Weiteren wurden in einem Symposium Untersuchungen zu Protestverhalten vorgestellt, u.a. vor dem Hintergrund des Bahnhofprojektes »Stuttgart 21«. In eine ähnliche Richtung gingen die beiden Symposien zu politischem Vertrauen bzw. Misstrauen. Im ersten Symposium standen Persönlichkeitsmerkmale im Vordergrund. Hier wurde erläutert, welche Merkmale Politiker*innen auszeichnen, denen vertraut wird, aber auch, welche Merkmale Protestbürger*innen besitzen und welche Auswirkungen dies auf ihre politische Partizipation hat. Im zweiten Symposium wurde u.a. der Frage nachgegangen, inwiefern soziale Vielfalt in politischen Gruppen die Wahrnehmung von Vertrauen beeinflusst. Die Studie zeigte, warum soziale Vielfalt von Politiker*innen für bestimmte Personen bedrohlich wirkt und deshalb zu einem Vertrauensverlust führen kann. In weiteren Vorträgen wurde auch die Rolle einer globalen Identität diskutiert (d.h. der Identifikation mit der gesamten Menschheit). Studien legen nahe, dass Personen mit einer höheren globalen Identität eher positiv gegenüber der Umwelt eingestellt sind und sich solidarisch mit Geflüchteten zeigen. Die Entwicklung erfolgreicher Strategien zur Förderung einer globalen Identität bleibt weiterhin eine Aufgabe für die Wissenschaft.

Ebenfalls diskutiert wurden Möglichkeiten zur Implementierung von Friedenspädagogik. Hier stellte unter anderem Inga Seifert vom Zivilen Friedensdienst (ZFD) die Versöhnungsschulen in Peru vor. In Versöhnungsschulen bearbeiten Teilnehmende ihre eigenen Gewalterfahrungen und lernen soziale Auswirkungen von Gewalt und die gesellschaftliche Dimension von Vergebung kennen. Dabei werden Täter-Opfer-Identitäten hinterfragt, Opferrollen verlassen und Handlungsalternativen für Täter*innen aufgezeigt. Die Besonderheit dieser Methode ist, dass sowohl Opfer als auch Täter*innen gemeinsam eine Gruppe bilden.

Der Frage, welche Verantwortung Wissenschaft und Politik bei der Entstehung, Kommunikation und Nutzung von Forschung haben, wurde am Freitagabend auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion nachgegangen. Eingeladen waren Dr. Simon Meisch vom Internationalen Zentrum für Ethik und Wissenschaften, Bernhard Docke, ehemaliger Anwalt des Guantánamo-Inhaftierten Murat Kurnaz und Mitglied im Menschenrechtsausschuss der Bundesanwaltskammer, Dr. Sascha Werthes, Geschäftsführer der Friedensakademie Rheinland-Pfalz, sowie der Politikwissenschaftler Prof. em. Dr. Ulrich Sarcinelli, ehemaliger Vizepräsident der Universität Landau und Vorsitzender der Friedensakademie Rheinland-Pfalz e.V. Die Veranstaltung moderierte SWR-Redakteurin Doris Maull. In der Diskussion ging es vor allem um Schwierigkeiten und Hürden in der Kooperation zwischen Wissenschaft, Medien, und Politik. So sei es beispielsweise enorm schwierig, friedenswissenschaftliche Erkenntnisse in den Medien zu platzieren. Einen weiteren Schwerpunkt der Diskussion bildete der Aspekt der Wissenschaftsethik und die kritische Betrachtung von Kooperationen zwischen Politik und Forschung. Hierbei brachte Bernhard Docke mit seinem Wissen zu den Verstrickungen der American Psychological Association bei der Entwicklung und Durchführung von Foltermethoden in Guantánamo wertvolle Einschätzungen ein.

Abgerundet wurde das Tagungsprogramm durch die Verleihung des Gert-Sommer-Preises und den danach folgenden Keynote-Talk von Arie Kruglanski. Der Gert-Sommer-Preis des Forum Friedenspsychologie für die beste Abschlussarbeit wurde dieses Jahr an Katharina Neumann übergeben. Neumanns herausragende Masterarbeit beschäftigt sich mit der medialen Darstellung der rechten Szene und rückwirkenden Prozessen auf diese (siehe Artikel S. 44).

Im Anschluss an die Preisverleihung hielt der Radikalisierungsexperte Arie Kruglanski einen Keynote-Talk mit dem Titel »The Psychology of Radicalization and De-radicalisation«. Kruglanski ist Professor der University of Maryland und für seine Grundlagenforschung sowie seine Expertise im Bereich gewaltsame Radikalisierung bekannt.

Radikalisierung zeichne sich, so Kruglanski, erstens durch graduelle Abstufung (einstellungsbezogene Unterstützung von Gewalt bis hin zur selbst ausgeführten Gewalt) und zweitens durch die subjektive Beurteilung der Gruppe, welche Gewalt als Norm für wichtig erachtet, aus. Sein (De-) Radikalisierungsmodell baut auf drei Komponenten: Motivation, Ideologie und soziales Netzwerk. Auf Basis der empirischen Untersuchungen wurde ein Deradikalisierungsprogramm erarbeitet, das auf Sri Lanka in einem Gefängnis durchgeführt wurde. Teilnehmende waren Mitglieder der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE). Der wichtigste Faktor ist die Vermittlung der eigenen Bedeutung in der Gesellschaft, die nicht an Gewalt gebunden ist, sowie eine Wiedereingliederung in diese. Kruglanski ließ ein nachdenkliches Publikum zurück, welches sich auf Basis der vorgestellten Studien auch fragen musste, welche Rolle die Gesellschaft spielt, wenn sich junge Menschen radikalisieren. Wo unser Alltag häufig von Abwertung und Ausgrenzung anderer geprägt ist, steht letztendlich jede*r in der Verantwortung, sich anderen gegenüber wertschätzend und anerkennend zu verhalten.

Den Abschluss der Tagung bildeten die offene Mitgliederversammlung und die Vorstandsversammlung des Forum Friedenspsychologie am Sonntagnachmittag.

Organisiert wurde die 29. Jahrestagung von Prof. Dr. Melanie C. Steffens, Dipl.-Psych. Franziska Ehrke, Dipl.-Soz. Julia Dupont und M.Sc. Nadine Knab. Die Organisatorinnen bedanken sich für die Unterstützung durch Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Amnesty International Hochschulgruppe, Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (dgvt), Fachgruppe Sozialpsychologie (FGSP), Freundeskreis der Universität Koblenz-Landau in Lan­dau/Pfalz e.V., Friedensakademie Rheinland-Pfalz sowie Forschungsschwerpunkt »Kommunikation, Medien und Politik« (KoMePol) der Universität Koblenz-Lan­dau.

Jana Meyer und Nadine Knab

Stadt und Frieden

Stadt und Frieden

Eine architektonisch-umweltpsychologische Betrachtung

von Nicole Conrad und Klaus Harnack

Die Stadt: Anregung, Abwechslung, Arbeitsplätze, Anonymität in der Masse, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Eine Stadt, der gebaute Raum, ist das Spiegelbild der Gesellschaft, die sie gebaut und weitergebaut hat. Die Stadt ist ein interdependentes und dynamisches Konstrukt, dessen Wirkung ihre Strukturen und Werte rückkoppelnd verstärkt. Städte sind folglich materiell-räumlich fixierte Werte und gehören zu den grundlegenden Einheiten der menschlichen Zivilisation. Der Beitrag versucht, die Wirkungsweisen einiger neuralgischer Punkte, die die Strukturen und Werte der Stadt definieren, aufzuzeigen und mögliche Chancen und Entwicklungspotentiale für den Zivilisationsraum Stadt darzustellen.

Jede Stadt hat ihre eigene Logik, und häufig werden durch die Stadt Werte festgeschrieben, die nie beabsichtigt waren und weder zeitgemäß noch zukunftsweisend und nachhaltig sind. Betrachten wir beispielsweise die autogerechte Stadt mit ihren großen Um- und Neuplanungen in den 1960er Jahren: Hier wird der öffentliche Raum von motorisiertem Individualverkehr und dem geparkten Automobil dominiert. Ein öffentliches Leben findet dort nur begrenzt statt, und nicht selten leiden diese Städte inzwischen unter den Folgen von Umweltbelastung und sozialen Problemen, die aus den über ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Planungsentscheidungen resultieren. Die Bedürfnisbefriedigung der StadtbewohnerInnen, vor allem der sozial Benachteiligten, bezüglich Wohnen, Wohnumfeld und Stadtraum wird durch diese Lebensbedingungen oft stark eingeschränkt.

Ähnliche Fehlentwicklungen finden wir in Städten, in denen der öffentliche Raum fast exklusiv dem Konsum dient: Kein Sitzplatz ohne Verzehr, kein Vergnügen ohne Bezahlung, keine Flächen, die der Bevölkerung »einfach so« zur Verfügung gestellt werden, wie etwa Spielplätze, kleine Parks oder Sportflächen. Hier werden bestimmte Bevölkerungsschichten nicht mit Zäunen, sondern durch ihre fehlende Kaufkraft ausgegrenzt. Ähnlich verhält es sich mit Städten, deren Quartiere nach Einkommen oder ethnischer Zugehörigkeit der BewohnerInnen aufgeteilt sind. Segregation, Gentrifizierung, Gated Communities oder Slums sind Zeichen einer zu Stein gewordenen sozialen Ungleichheit.

Um das Potenzial von Städten als materiell-räumliche Vermittler von Werten ausschöpfen zu können, müssen Ziele definiert werden, die die Befriedigung der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse fördern. Ein Positivbeispiel für die Abwendung der Autofixiertheit ist Kopenhagen: Hier wurde der innerstädtische öffentliche Raum Stück für Stück vom Verkehr befreit und der Bevölkerung wieder zur Verfügung gestellt. Eine solche stadtplanerischen Umorientierung ermöglicht auch die (Wieder-) Zurverfügungstellung von Lebensräumen für Pflanzen und Tiere, um die Biodiversität in der Stadt zu erhöhen und das Stadtklima zu verbessern. In diesem Zuge wird zunehmend auch die Bereitstellung von Flächen zur innerstädtischen Lebensmittelproduktion und Energiegewinnung thematisiert.

Bedürfnisse

Was also soll, muss und kann eine Stadt leisten? Welche Werte soll sie vermitteln? Wie sieht das menschliche Habitat Stadt aus, das seine BewohnerInnen möglichst konfliktfrei auf engem Raum miteinander leben lässt? Einen auf den ersten Blick skurrilen Denkanstoß lieferte der Zoologe Hinrich Sambraus mit folgender Äußerung: „Wenn alle Bedürfnisse befriedigt sind, läuft das Zusammenleben der Schweine äußerst harmonisch ab. So wie beim Menschen auch.“ (Greiner 2015)

Folgen wir diesem Bild der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse in Anlehnung an die vom US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow (1943) beschriebene Bedürfnishierarchie, sind folgende Faktoren zu berücksichtigen:

  • Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und sauberem Wasser muss gewährleistet sein.
  • Es wird Wohnraum benötigt, der Privatheit, Rückzug, ruhigen Schlaf, Wärme, Sauberkeit, Schutz und Sicherheit bietet.
  • Die BewohnerInnen benötigen Arbeitsplätze und die Möglichkeit, dorthin zu gelangen.
  • Der Lebensraum muss Orientierung, Vertrautheit und Beständigkeit vermitteln und die Möglichkeit zu Kontakt, Teilnahme, Identifikation und Integration bieten.
  • Außerdem sollte der Lebensraum das Bedürfnis nach Anregung und Ästhetik befriedigen sowie Bildung und ein kulturelles Leben ermöglichen.

Mit der Frage, wie Städte diese Bedürfnisse befriedigen könnten und welche Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Aspekten bestehen, befassen sich u.a. Umwelt- und Architekturpsychologen. Ausgehend vom amerikanischen Mitbegründer der modernen Umweltpsychologie, Roger Barker, der den Begriff des »Behavior Setting« prägte, werden nachfolgend einige Zusammenhänge aufgezeigt.

Mechanismen

Ein Behavior Setting beschreibt, wie das Verhalten von Menschen über das Setting beeinflusst wird (Barker 1968). Das Setting stellt die Summe aller Einflussfaktoren dar: der Raum mit seinen Gestaltungselementen, die anwesenden Personen und deren Verhalten. Barker stellte fest, dass das Verhalten einer bestimmten Person sich vom Verhalten der anderen Personen im selben Setting weniger stark unterscheidet als von seinem eigenen Verhalten in einem anderen Setting. Betrachten man das Setting »Kirche« im Vergleich zum Setting »Bierzelt«, wird schnell klar, was Barker meinte: Die Umgebung kommuniziert über ihre Gestaltungsmerkmale einen Verhaltenskodex.

Ähnlich beschreibt die Anfang der 1980er Jahre entwickelte Broken-windows-Theorie den Einfluss der unmittelbaren Umwelt auf das menschliche Verhalten (Kelling and Wilson 1982). Die Theorie lässt sich vereinfacht am Beispiel weggeworfener Bonbonpapiere illustrieren: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person ein Bonbonpapier einfach auf den Boden anstatt in den Papierkorb wirft, wird beeinflusst durch den Verschmutzungsgrad der unmittelbaren Umwelt. Liegen bereits Bonbonpapiere auf dem Boden, so sinkt die Hemmschwelle, ein weiteres fallen zu lassen. Im Kern verfolgt die Theorie also die Logik, dass es räumlich-strukturelle Kondensationskerne für friedensantagonistisches Verhaltens gibt. Weiteren gibt es Hinweise, dass Unordnung als Stressor wirkt sowie als Zeichen fehlender sozialer Kontrolle und damit als Sicherheitsdefizit wahrgenommen wird. Der holländische Umweltpsychologe Kees Keizer (2008) konnte mit seinem Team empirisch zeigen, dass Unordnung oder Graffiti weitere normverletzende Handlungen und damit letzten Endes auch Kriminalität begünstigt.

Ein weiteres Element, das besonders in unterprivilegierten Stadtteilen ein Problem darstellt und in der neueren Stadtplanung Berücksichtigung findet, ist die so genannte räumliche Ungerechtigkeit (spatial injustice). Sie ist gekennzeichnet durch eine räumliche Unausgewogenheit zwischen Stressoren und erquickenden Stadtelementen. So finden sich in unterprivilegierten Stadtteilen Kindergärten oder Schulen oftmals in der Nähe großer Durchgangsstraßen oder sogar in Einflugschneisen von Flughäfen. Dadurch wird die Benachteiligung der BewohnerInnen zusätzlich verstärkt.

Für die friedliche Stadt ist die Befriedigung elementarer Sozialbedürfnisse ein zentrales Element. In einer Studienreihe, die die Entwicklung von Sozialkontakten im gebauten Raum zum Inhalt hatte, untersuchte der Sozialpsychologe Matthew Easterbrook zusammen mit seinen Kollegen das Verhalten von Studierenden in Abhängigkeit von ihrer Wohnsituation. Es konnte gezeigt werden, dass die Wohnsituation einen Einfluss auf die Entstehung von Freundschaften hatte. Anhand der Anzahl zufälliger Begegnungen der BewohnerInnen untereinander konnte die Entstehung und Anzahl von Freundschaften vorhergesagt werden. Entscheidend war hierbei die Art der Wohnungsausstattung, z.B. Einzel- oder Gemeinschaftsbad oder Gemeinschaftsküche vs. individuelle Küchenzeile (Easterbrook and Vigonoles 2015). Eine weitere Studie (Ebbesen et al 1976), die sich mit der Lage der Wohnung (nahe bei oder entfernt von einer stark frequentierten Treppe) und den sozialen Beziehungen der BewohnerInnen beschäftigte, kam zu ähnlichen Ergebnissen: Je größer die Anzahl zufälliger Kontakte, umso größer die Zahl positiver sozialer Beziehungen.

Was tun?

Über Planungsvorgaben kann die Stadtverwaltung versuchen, eine ausgewogene Durchmischung herzustellen und in allen Stadtteilen Wohnraum für unterschiedliche Einkommensschichten zur Verfügung zu stellen. Im Interesse der Allgemeinheit wäre dies wünschenswert, um Segregationsprozessen entgegen zu wirken und die Spirale von Gewalt und Kriminalität in benachteiligten Gebieten zu unterbrechen. Solche Vorgaben sind derzeit aber nur schwer umzusetzen, denn häufig bestimmt der freie Markt über den Wohnraum. Als Alternative kann die Stadtverwaltung die Lebensqualität in den benachteiligten Gebieten durch Einrichtung von Parks, Spiel- und Sportstätten, mit Immissionsschutzmaßnahmen und der Pflege und Aufwertung des Straßenraums gezielt erhöhen. Dabei muss besonders darauf geachtet werden, dass über eine solche Aufwertung nicht ein Verdrängungsprozess der ursprünglichen Bewohner, also eine Gentrifizierung, in Gang gesetzt wird.

Im Stadtzentrum ist es wichtig, dass den BewohnerInnen frei nutzbare Flächen mit Stadtmobiliar zur Verfügung stehen und einer Kommerzialisierung dieser Flächen durch Stände, Cafés und vor allem Werbeflächen entgegen gewirkt wird. Im Zentrum sollte FußgängerInnen und RadfahrerInnen Vorrang gegeben werden. Der motorisierte Individualverkehr stellt gerade für Kinder und ältere Menschen ein enormes Sicherheitsrisiko dar und schränkt die Nutzung öffentlicher Flächen stark ein.

Die Stichworte Anregung, Kunst, Kultur, Bildung, Entwicklungsperspektiven, Anerkennung und Selbstwert beschreiben einen weiteren Bereich, über den die Ungleichheit mit Hilfe von Stadtplanungsmaßnahmen abgeschwächt und damit die Entstehung von Aggression eingedämmt werden kann. Hier sind konkrete Maßnahmen, wie der erleichterte Zugang zu Bildungseinrichtungen, Museen, Kunst und kulturellen Veranstaltungen, zu nennen. Ein erster Schritt: In vielen Städten wird ein freier Eintritt für Kinder, junge Erwachsene und Geringverdiener bereits gewährt. Die konsequentere Variante ist das Vorgehen Londons: Zahlreiche Museen und Galerien von Weltrang, wie die National Gallery oder Tate Modern, stehen allen BesucherInnen frei zur Verfügung.

Wichtig für die Prävention von sozialen Ungleichheiten und die daraus resultierenden Konflikte ist der Bereich der Ernährung. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, ob gesunde Lebensmittel leicht zu bekommen sind oder ob sich das Angebot in der Nachbarschaft auf den Discounter und die Fastfood-Kette beschränkt. In einer Studie des Gesundheitspsychologen Paul Rozin zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang von Übergewicht und den damit verbundenen Folgeerkrankungen zur räumlichen Nähe von Fastfood-Restaurants im Stadtquartier (Rozin et al. 2011). Angebote für eine gesunde Lebensweise im Stadtraum, wie die Nähe zu Parks, Urban-gardening-Initiativen oder Bewegungsangeboten für Kinder und Jugendliche, sind gleichfalls relevante Faktoren. Auch bezüglich der medizinischen Versorgung und des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen unterscheiden sich die Quartiere in einer Stadt oft deutlich.

Was zukünftig tun?

Die Stadt und der gebaute Raum beeinflussen also auf vielfältige Art und Weise das Verhalten und Empfinden der Menschen. Zugleich manifestiert die Stadt, wie wir als Gesellschaft zusammen leben möchten: In welchem Maß nehmen wir soziale Ungleichheit als gegeben hin, wie sehr legen wir Wert auf die Befriedigung der Bedürfnisse aller BewohnerInnen?

Städte, die zukunftsfähig sein wollen, müssen zukunftsweisende Ziele definieren und sich einem Wandel unterziehen, der nicht nur räumlicher, sondern auch gesellschaftlicher Natur ist. Trotz der Komplexität dieser Aufgabe kann jeder einzelne über kleine Interventionen im gebauten Raum einen Teil dazu beitragen, die Stadt zu einem besseren Lebensraum für alle BewohnerInnen zu machen und damit Konflikte zu vermeiden. Kleine Maßnahmen, wie die Gestaltung des Straßenraums mit Bepflanzungen oder dem Aufstellen einer Bank, die Einrichtung eines Stadtteilgartens oder Spielplatzes, das Anregen eines Quartierstreffpunkts, das Erkämpfen eines Radwegenetzes etc., können dabei durchaus wirkungsvoll sein.

Zahleiche Städte weltweit haben bereits begonnen, im Sinne einer umweltpsychologischen Stadtplanung das friedliche Zusammenleben zu fördern. Positivbeispiele sind die »laneways and arcades« in Melbourne/Australien, der anstehende Bau einer Stadtseilbahn in Bogotá, die fantasievolle farbliche Gestaltung von Favelas oder heruntergekommenen Stadtteilen (vgl. Haas&Hahn 2014), Urban-gardening-Projekte und der Aufbau von Stadtteilcafés.

Städte sind nur schwer planbar und sehr komplex. Dennoch muss geplant werden, denn die Struktur und die Werte einer Stadt beeinflussen Konflikte und Friedensprozesse regional und global. Entscheidende Faktoren dabei sind die Beziehung zum direkten Umland (Verkehr, Industrien), der Umgang mit Ressourcen und Naturraum (Wasser, Abfall, Energieverbrauch, Biodiversität im Stadtraum, öffentliche Verkehrssysteme, Klimagerechtigkeit), der Verbrauch und die Produktionsweisen (Nachhaltigkeit, Förderung regionaler Produkte, innerstädtische regenerative Energiegewinnung und Lebensmittelproduktion) und die Raumforderung (massive Urbanisierung vs. Stärkung von Unterzentren).

Um diese Wechselwirkungen besser modellieren zu können, muss die Stadt weiter untersucht und verstanden werden; Bedürfnisse müssen erkannt und Handlungsempfehlungen beschrieben werden. Hier bedarf es verstärkter inter- und multidisziplinärer Stadtforschung und einer Plattform, auf der Informationen zu »Best Practices« veröffentlicht und für die Praxis zugänglich gemacht werden.

Literatur

Roger Garlock Barker (1968): Ecological psychology – Concepts and methods for studying the environment of human behavior. Standford/California: Stanford University Press.

Kerstin Greiner (2015): Zurück zur Natur. Süddeutsche Zeitung Magazin, 24. September 2015.

Abraham A. Maslow (1943). A theory of human motivation. Psychological Review, 50(4), S.370-396.

Matthew J. Easterbrook and Vivian L. Vignoles (2015): When friendship formation goes down the toilet – Design features of shared accommodation influence interpersonal bonds and well-being. British Journal of Social Psychology, 54(1), S.125-139.

Ebbe B. Ebbesen, Glenn L. Kjos and Vladimir J. Konecni (1976): Spatial ecology – Its effects on the choice of friends and enemies. Journal of Experimental Social Psychology, 12(6), S.505-518.

Haas&Hahn (2014): How painting can transform communities. Transcript eines Vortrags der Künstler Jeroen Koolhaas and DreUrhahn vom 24. Oktober 2014; ted.com/talks.

Kees Keizer, Siegwart Lindenberg and Linda Steg (2008): The spreading of disorder. Science 322(5908), S.1681-1685.

George L. Kelling and James Q.F. Wilson (1982): Broken Windows -The police and neighborhood safety. The Atlantic, March 1982.

Paul Rozin, Sydney Scott, Megan Dingley, Joanna K. Urbanek, Hong Jiang and Mark Kaltenbach (2011): Nudge to nobesity I – Minor changes in accessibility decrease food intake. Judgment and Decision Making, 6(4), S.323.

Weitere Hinweise und Anregungen u.a. auf internationalcitiesofpeace.org und c40.org.

Dipl.-Ing.Nicole Conrad ist freie Architektin, Stadtplanerin und Lehrbeauftragte für Architektur an der Hochschule Konstanz Technik, Wirtschaft und Gestaltung. Außerdem ist sie ausgebildete Sozialpsychologin.
Dr. Klaus Harnack arbeitet und lehrt am Psychologischen Institut der Westfälischen Universität Münster zum Thema Mediation und Verhandlung.

Krisen sind auch keine Lösung

Krisen sind auch keine Lösung

von Klaus Harnack

Wohin man auch schaut, es herrscht die Krise: Finanzkrise, Immobilienkrise, Schuldenkrise, Griechenlandkrise, Krimkrise. Es ergeben sich dabei regelrechte Krisenketten, wie man am Beispiel der Syrienkrise, Flüchtlingskrise, Asylkrise und Integrationskrise sehen kann. Aber warum halten wir am Konzept der Krise so stark fest, und warum stellt die langfristige Friedensforschung die bessere Alternative dar? Eine Übersicht warum die Krise nicht die Lösung sein kann:

Die klassische altgriechische »Krisis« bezeichnet eine Entscheidungssituation, charakterisiert durch einen anstehenden Wendepunkt. Sie ist gekennzeichnet durch eine Art Gablung der Geschehnisse, die auf dem einen Pfad zur Wiederherstellung der Ordnung und auf dem anderen Pfad in die Katastrophe führt. Die klassische »Krisis« fordert folglich eine Entscheidung über den richtigen und den falschen Pfad. Diese dichotome Realitätsbeschreibung war für die Philosophie der Antike in ihrer Klarheit folgerichtig, entbehrt aber für die gegenwärtige Welt jeglicher Legitimation. Bleibt man bei der Analogie eines sich scheidenden Weges, kommen die gegenwärtigen Krisen wohl eher dem Frankfurter Kreuz als der Weggablung eines Wanderpfades gleich. Die augenblicklichen Krisen fordern eine lange Kette von Entscheidungen, ein interdependentes Abwägen, eine ständige Justierung. Anstatt einer Gablung finden wir in der Gegenwart eine Konvergenzzone der Entscheidungen. Die Krise in ihrer klassischen Gestalt ist verblichen, doch warum erfährt dieses Konstrukt trotz seines antiquierten Daseins eine solche Renaissance?

Auch wenn sich die Krise auf den ersten Blick nicht als leichte Kost präsentiert, ist sie ein Produkt unserer Sehnsucht nach einer einfachen und überschaubaren Welt, die nur vorübergehend – eben in der Krise – sich etwas zu verkomplizieren droht. Um dieses einfache Weltbild aufrecht erhalten zu können, wünschen wir uns die klassische Krise regelrecht herbei, um sie dann mit einer einzigen richtigen Entscheidung zu beenden und uns schließlich wieder in die einfache Welt zurückziehen zu können. Die Psychologie nennt dieses Phänomen seit Leon Festingers 1957 erschienenen Klassikers »A Theory of Cognitive Dissonance« Dissonanzreduktion. Unser kognitiver Apparat scheint für die Konstruktion von Krisen eine gewisse Leidenschaft zu pflegen. Wir denken uns negative Dinge (eine komplizierte Welt) lieber verschönert (eine einfache Welt), als uns den Widersprüchen zwischen unseren Wünschen und der Realität auszusetzen.

Die kognitionspsychologische These des »Ease of Computation« postuliert: Alles, was leicht zu verarbeiten ist, wird von unserem kognitiven System bevorzugt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Begleitumstände von »Krisensituationen« meistens mit verringerten Ressourcen einhergehen und oft angstbehaftet sind. Folgen wir der »Attentional Control Theory« von Michael Eysenck und Manuel Calvo (1992), konkretisiert sich die Vermutung, dass wir in Zeiten der Angst keine guten Entscheidungen treffen können. Die Theorie beschreibt das Phänomen, dass Angst die effiziente, zielorientierte Informationsaufnahme durch eine verengte Aufmerksamkeit einschränkt. Neben dieser Reduktion von zielrelevanter Aufmerksamkeit erhöht sich die reizgesteuerte Aufmerksamkeit sowie die Wahrnehmung von Reizen, die eine Bedrohung signalisieren. Wir können folglich der großen Vielfalt an möglichen Stellschrauben, die zum Überwinden der Krise beitragen könnten, keine Aufmerksamkeit widmen und sind erneut geneigt, der einen »richtigen« Entscheidung, die uns vermeintlich aus der Krise führt, Glauben zu schenken. Unterm Strich: Die Konstruktion von Krisen beschränkt unsere Wahrnehmung und führt zur Simplifizierung unserer Entscheidungen.

Mit dem Schwerpunkt »Friedensforschung« stellt diese Ausgabe ein Votum für die Akzeptanz von Komplexität und Unsicherheit dar sowie ein Plädoyer für die Anerkennung von systemischen Risiken und für die Einsicht einer nur bedingt steuerbaren Welt. Anstatt uns auf die Suche nach den »Wegen aus der Krise« und vermeintlich einfachen Patentrezepten zu begeben, die uns ständig angepriesen werden, kann solide Friedensforschung nur die Anerkennung einer komplexen Welt sein, die kontinuierlich nach Steuerung verlangt. Jede Forschung beginnt mit einer Frage und nicht mit einer Antwort; sie bildet Hypothesen, die durch systematisches Beobachten bearbeitet werden und durch formalisierte Auswertungen der Ergebnisse zu neuen Fragestellungen führen.

Die Alternative zur Anerkennung einer interdependenten Welt ist, dass wir die Krise als Alltag akzeptieren, doch damit würden wir uns jegliche Handlungsoption nehmen. Denn eine chronische Zuspitzung der Ereignisse ist ein Oxymoron. Akzeptieren wir lieber, dass wir auf dem Meer der Weltgeschichte zu einem Ozeandampfer geworden sind, dessen Steuerung durch eine große Verzögerung gekennzeichnet ist, als uns weiterhin dem Traumbild einer kleinen, wendigen Jolle hinzugeben und zu riskieren, das wir im nächsten Sturm untergehen.

Ihr Klaus Harnack

Rechtsextremismus und Friedenspsychologie

Rechtsextremismus und Friedenspsychologie

27. Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie, 19.-22. Juni 2014, Jena

von Forum Friedenspsychologie

In Jena fand unter Schirmherrschaft der Thüringer Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit und in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum Rechtsextremismus der Friedrich-Schiller-Universität Jena die 27. Jahrestagung des Forum Friedenspsychologie statt.

Unter dem Titel »Nationalsozialistischer Untergrund, Rechtsextremismus und aktuelle Beiträge der Friedenspsychologie« trafen 105 Teilnehmer/innen aus Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft, Presse, Polizei und Praxis zusammen und debattierten Konsequenzen des Rechtsterrorismus, aktuelle Entwicklungen der Rechtsextremismusforschung und Beiträge der Friedenspsychologie. An fünf öffentlichen Veranstaltungen (siehe unten) nahmen außerdem jeweils zwischen 150 und 200 Bürger/innen teil. Die Presse (tageszeitung, MDR, ZDF) berichtete ausführlich vom Verlauf der Tagung.

Mit der Tagung verfolgten die Organisator/innen folgende Ziele:

  • eine Bestandsaufnahme der nationalen und internationalen Forschungsfelder zum Rechtsextremismus und seiner Einordnung in die Friedens- und Konfliktforschung,
  • eine Analyse und Evaluation der auf den Rechtsextremismus gerichteten Präventions- und Interventionsansätze,
  • eine Vernetzung der auf dem Feld der Friedens- und Konfliktforschung tätigen Wissenschaftler/innen, der verantwortlichen Politiker/innen und der engagierten Öffentlichkeit,
  • die stärkere Einbindung von Nachwuchswissenschaftler/innen in die friedenspsychologische Forschung und
  • die Diskussion aktueller Themen der Konflikt- und Friedensforschung und der Friedenspsychologie.

Neben öffentlichen Hauptvorträgen von Anetta Kahane (Amadeu Antonio Stiftung), Patrick Gensing (freier Publizist) und Prof. Dr. Kurt Möller (Hochschule Esslingen) fanden zwei Podiumsdiskussionen mit Mitgliedern des Thüringer Untersuchungsausschusses zur Aufarbeitung des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) bzw. mit Expert/innen des Kompetenzzentrums Rechtsextremismus der Friedrich-Schiller-Universität Jena und weiteren externen Forschern sowie neun wissenschaftliche Panels statt. Das Themenspektrum reichte dabei von theoretischen Betrachtungen des Rechtsextremismusbegriffs über biografische Analysen der NSU-Mitglieder bis hin zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema. Dementsprechend setzte die Tagung einen wichtigen Impuls, der zum Austausch zwischen Psycholog/innen, Kommunikationswissenschaftler/innen, Soziolog/innen, Linguist/innen und Politikwissenschaftler/innen anregte. Zudem erhielten neben etablierten Forscher/innen auch Nachwuchswissenschaftler/innen hier eine Bühne, um frische Ideen und neue Forschungsprojekte vorzustellen.

Desiderate der Tagung lagen somit in der Verknüpfung verschiedener Forschungszweige sowie in der Verknüpfung von Praxis und Wissenschaft. Gerade in der Zusammenkunft mit Praktiker/innen aus dem Bereich der Rechtsextremismusprävention offenbarte sich ein großes Potenzial für eine verstetigte Zusammenarbeit. Denn trotz verschiedener Untersuchungsausschüsse und deren ständiger journalistischer Beobachtung klaffen noch immer große Lücken in der Aufklärung der Kriminalbiografien von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. So sind etwa der Mord an Michèle Kiesewetter sowie der versuchte Mord an ihrem Kollegen ein noch immer ungeklärte Puzzlestücke. Mit dem notwendigen Zugang zu Ermittlungsergebnissen könnten auch Wissenschaftler/innen an zentralen, noch offenen Fragen mitarbeiten und zugleich wichtige Einordnungen, wie die des NSU in die Geschichte des deutschen Rechtsterrorismus, vornehmen. Anetta Kahane machte darüber hinaus deutlich, dass in Zukunft ein Schwerpunkt auf Integration liegen müsse – Integration sowohl der Opfergruppen des NSU wie gesellschaftlicher Minderheiten. Deutschland fehle noch immer das Selbstverständnis als Einwanderungsland und die daraus resultierende Akzeptanz unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Sie schloss ihren Beitrag mit dem Appell „Weg von den Tätern, hin zu den Opfern!“.

Weiterhin unterstützte der »Blick über den Tellerrand« mit einem Fokus auf Süd- und Südosteuropa die gewünschte Außenansicht auf das Themenfeld und damit auch eine stärkere Konturierung des deutschen Falls. Neben dem internationalen Vergleich unterstützt der Bezug auf andere europäische Länder die Analyse von Vernetzungsbemühungen des organisierten und subkulturell geprägten Rechtsextremismus. Als weiterer Strang beschäftigten sich die Forscher/innen mit gesellschaftlichen und politischen Begründungsmustern für die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen. Eine solche reflektierte Ursachenanalyse ist von unmittelbarer Relevanz für die Auswahl zielgerichteter Präventions-, Interventions- und Repressionsmaßnahmen, um der rechtsextremen Ideologie entgegenzutreten.

Zum Abschluss der Tagung erhielt Frau Dr. Nicole Haußecker (Universität Jena) den Gert-Sommer-Preis 2014 für ihre Dissertation »Zur Inszenierung von Terrorismus in Fernsehnachrichten – visuelles Framing und emotionale Wirkung«. Herzlichen Glückwunsch!

Abgerundet wurde die Tagung durch die Ausstellung »Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen« , die die Biografien und das Umfeld der zehn bisher bekannten NSU-Opfer von Enver Þimþek bis Michèle Kiesewetter näher beleuchtet. Die Ausstellung wurde von Birgit Mair im Auftrag des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung e.V. Nürnberg erarbeitet und in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen gezeigt.

Auf der Basis der Tagungsergebnisse arbeiten die Organisator/innen momentan an einem Projektentwurf, mit dem ein neuer Ansatz zur Untersuchung rechtsextremer Orientierungen, Strukturen und Bewegungen umgesetzt werden soll. Geplant sind zudem ein Konferenzband (bei Springer VS Sozialwissenschaften) und mehrere wissenschaftliche Zeitschriftenartikel.

Die Webseite der Tagung, conference.friedenspsychologie.de, wird weiterhin aktualisiert und gibt Zugriff auf einige der Präsentationen; auch die entsprechende Facebook-Gruppe ist nach wie vor aktiv.

Organisiert wurde die 27. Jahrestagung von Prof. Dr. Wolfgang Frindte; Dr. Daniel Geschke; Dr. Nicole Haußecker; Nico Dientrich, M.A.; Franziska Schmidtke, M.A.; Carolin Junold.

Wolfgang Frindte, Daniel Geschke, Nicole Haußecker und Nico Dietrich

Behandlungsziele vorgegeben?

Behandlungsziele vorgegeben?

Psychotherapie für Soldaten

von Neue Gesellschaft für Psychologie

Im März 2014 fand an der Freien Universität Berlin das Symposium »Trommeln für den Krieg« der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP, ngfp.de) statt. Auf dem Symposium wurde vom NGfP-Vorstand eine Stellungnahme zu einem Kooperationsvertrag über die psychotherapeutische Betreuung von Soldaten zwischen der Bundespsychotherapeutenkammer und der Bundeswehr abgegeben. Der Präsident der Psychotherapeutenkammer reagierte mit einem Gesprächsangebot, um offensichtlich entstandene „Missverständnisse“ auszuräumen. Die NGfP entschied sich aber, die Diskussion lieber öffentlich fortzusetzen und konkretisierte ihre Haltung zum Thema daher in einem Offenen Brief. W&F dokumentiert die beiden Texte.

Stellungnahme zur Psychotherapie von Soldaten

Am 16. September 2013 trat eine Vereinbarung zwischen dem Bundesministerium der Verteidigung und der Bundespsychotherapeutenkammer in Kraft, nach der zivile Psychotherapeuten in Privatpraxen Soldaten nach Verfahren behandeln, die von der Bundeswehr geregelt sind. Der Vereinbarung ging eine gleichartige Übereinkunft des Bundesministeriums der Verteidigung mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung [über die ärztliche Versorgung von Soldaten; d.Red.] voraus. Die Bundeswehr und die Psychotherapeutenkammer veranstalten zudem am 13. März 2014 in Berlin im Offiziersheim der Blücher-Kaserne eine erste gemeinsame Fortbildungsveranstaltung, die Therapeuten auf die Behandlung von Soldaten vorbereiten soll.

Aus der Vereinbarung, dem Programm der Fortbildungsveranstaltung und aus Äußerungen des Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer, Professor Rainer Richter, am 26. November 2013 geht eindeutig hervor, dass es sich um psychotherapeutische Behandlungen durch zivile Therapeuten unter der Regie und im Interesse der Bundeswehr handelt. Richter ließ erklären, dass bei zunächst psychisch erkrankten und dann „erfolgreich behandelten“ Soldaten nichts gegen eine Teilnahme an Auslandseinsätzen spreche.

Psychisch belastete oder traumatisierte Soldaten bedürfen selbstverständlich einer psychotherapeutischen Behandlung, aber psychotherapeutische Behandlung von Soldaten muss unabhängig von der Bundeswehr sein. Das Bundesverteidigungsministerium oder die Truppe dürfen weder die Behandlungsmethoden noch Behandlungsziele vorgeben. Es kann nicht Aufgabe von Psychologen sein, Reaktionen von Soldaten auf Kriegshandlungen – wie Entsetzen, Abscheu und Angst vor erneutem Erleben – wegzutherapieren, um Soldaten für den nächsten Einsatz fit zu machen. Therapien mit solchen Zielsetzungen dienen der Unterstützung und Fortsetzung von kriegerischen Einsätzen der Bundeswehr.

Im Mittelpunkt jeder Therapie haben allein Wohl und Gesundheit des Klienten zu stehen.

Es ist Pflicht des Therapeuten dafür zu sorgen, dass Dritte mit anderen Interessen keinen Einfluss auf die Behandlung nehmen können. Daher lehnen wir solche psychotherapeutische Behandlungen unter der Regie der Bundeswehr ebenso wie die von der Bundeswehr organisierten Fortbildungen ab.

Berlin, 9. März 2014 Der Vorstand: Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder, Dr. Christoph Bialluch, Dipl.-Psych. Jörg Hein

Offener Brief an den Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer

An den Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer, Prof. Dr. Rainer Richter

Sehr geehrter Herr Richter, die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) hat sich am 9. März 2014 in einer Stellungnahme gegen die Zusammenarbeit der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) mit der Bundeswehr und dem Bundesverteidigungsministerium gewandt. In Ihrer Antwort auf unsere Erklärung haben Sie von Missverständnissen unsererseits gesprochen und ein Gespräch angeboten, um diese Missverständnisse über Ihre Kooperation mit der Bundeswehr auszuräumen. Wir möchten aber stattdessen weiter öffentlich über diese Kooperation debattieren und wollen Ihnen hier unseren Standpunkt vertiefend erläutern. Inzwischen hat auch die Ärzteorganisation IPPNW eine kritische Stellungnahme zur Ihrer Zusammenarbeit mit der Bundeswehr abgegeben, der wir voll zustimmen.

Ihre Bemühungen, zivilen PsychotherapeutInnen ohne Kassensitz in Privatpraxen die Behandlung von SoldatInnen zu ermöglichen, hatten einen längeren Vorlauf. Noch im Juni 2013 klagte Ihre Kammer, die deutschen Streitkräfte blockierten die „schnelle psychotherapeutische Versorgung traumatisierter Soldaten“, indem sie diesen die Nutzung von Privatpraxen untersagten. Im September vergangenen Jahres unterzeichnete die Kammer dann eine Vereinbarung mit dem Verteidigungsministerium, die Hindernisse für Behandlungen in Privatpraxen aus dem Weg räumte.

Am 13. März fand in Berlin im Offiziersheim der Blücher-Kaserne eine erste Fortbildung der Bundeswehr für privat abrechnende PsychotherapeutInnen statt. Die Veranstaltung eröffnete der Beauftragte des Verteidigungsministeriums für posttraumatische Belastungsstörungen, Brigadegeneral Klaus von Heimendahl. DozentInnen waren ausschließlich PsychologInnen und ÄrztInnen im Bundeswehrdienst. Die TeilnehmerInnen wurden unter anderem informiert über „Besonderheiten des Soldatenberufs“, über Spezifika einer „Heilbehandlung für die Bundeswehr“, über „aktuelle Einsatzgebiete und Einsatzsituationen“ und über das Thema „Truppenpsychologen im Einsatz – mit Soldaten auf Patrouille/auf Wache/im Feldlager“.

Dieses thematisch erstaunliche Fortbildungsprogramm war zuletzt der Anlass für unsere Erklärung. Hinzu kam Ihre Äußerung als Kammerpräsident, dass bei traumatisierten psychisch erkrankten Soldaten nach erfolgreicher Behandlung nichts gegen einen erneuten Auslandseinsatz spreche. Als NGfP sind wir zum einen aus politischen Gründen gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Davon unabhängig lehnen wir auch eine Psychotherapie ab, für die das Wohl der Klientin/des Klienten nicht höchster Maßstab ist, die sich vielmehr in den Dienst der Bundeswehr und ihrer Ziele stellt.

Die psychischen Störungen von BundeswehrsoldatInnen, die sich seit einigen Jahren häufen und um deren Behandlung es geht, sind meist Folge traumatisierender Kriegserlebnisse im Ausland, etwa von Erlebnissen, bei denen Kameraden der Betroffenen getötet oder schwer verletzt wurden oder bei denen die betroffenen Soldaten selbst Menschen getötet oder verletzt haben.

Die traumatisierten Soldaten haben ein Recht auf therapeutische Hilfe. Es kann aber nicht Aufgabe von PsychologInnen sein, Reaktionen von SoldatInnen auf Kriegshandlungen, wie Entsetzen, Abscheu und Angst vor erneutem Erleben, wegzutherapieren, um diese schnell für den nächsten Einsatz fit zu machen. Dies haben wir bereits in unserer Erklärung betont.

In Ihrer Antwort auf diese Erklärung widersprechen Sie unserer Kritik und schreiben, es sei „absurd und entbehrt jeder Grundlage, die Bundeswehr würde Behandlungsziele vorgeben“. Die Vereinbarung, die Sie im vergangenem September mit der Bundeswehr abgeschlossen haben, gliedert aber die Behandlung von Soldaten durch privat abrechnende TherapeutInnen in die truppenärztliche Versorgung ein. TruppenärztInnen sind rechtlich verpflichtet, vor allem für die Einsatzfähigkeit von SoldatInnen zu sorgen. Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit ist das ihnen vorgegebene Behandlungsziel.

BundeswehrsoldatInnen sind nicht krankenversichert. Sie haben keine freie Arztwahl. „Vielmehr erfolgt die Versorgung der Soldaten über den Truppenarzt. Dieser entscheidet, ob ein Soldat auf weitere Fachärzte zugreifen könne“, so sagte es auch eine Psychologin der Bundeswehr bei der oben erwähnten Fortbildung. Allein der Truppenarzt kann psychisch erkrankte Soldaten an freie Therapeuten überweisen. Der Therapeut habe dem überweisenden Truppenarzt Diagnose sowie Indikation und Therapieziel mitzuteilen, heißt es in den Informationen Ihrer Kammer zur »Behandlung von Soldaten in Privatpraxen«. Der Truppenarzt genehmige die Therapie und entscheide später auf Grundlage eines ausführlichen Berichts über Verlängerungen.

Die rechtlichen Regeln der truppenärztlichen Versorgung finden sich in einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesbesoldungsgesetz. „Die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung dient […] der Erhaltung und Wiederherstellung der Dienst- und Einsatzfähigkeit der Soldatinnen und Soldaten. Sie umfasst alle damit im Zusammenhang stehenden notwendigen und angemessenen Maßnahmen zur Gesunderhaltung, Verhütung und frühzeitigen Erkennung von gesundheitlichen Schäden sowie die zur Behandlung einer Erkrankung spezifisch erforderlichen medizinischen Leistungen“, heißt es einleitend in Paragraf 2 der Vorschrift.

Das übergeordnete Ziel der truppenärztlichen Versorgung ist somit die „Erhaltung und Wiederherstellung der Dienst- und Einsatzfähigkeit“. Die „Maßnahmen zur Gesunderhaltung“ dienen diesem Zweck. Nur zum Vergleich: Die Behandlung ziviler KassenpatientInnen hat nach dem Sozialgesetzbuch V „die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern“. Hier steht die Gesundheit und nicht berufliche Einsatzfähigkeit im Vordergrund. Anders als Soldaten können Kassenpatienten den Arzt ihres Vertrauens wählen und müssen nicht immer zuerst einen bei ihrem Arbeitgeber angestellten Mediziner aufsuchen.

Bei den meisten körperlichen Leiden gibt es zwischen den Zielen „Gesunderhaltung“ von SoldatInnen und deren „Einsatzfähigkeit“ sicher keinen Konflikt: Je körperlich fitter der Soldat/die Soldatin, desto einsatzfähiger ist er/sie. Anders sieht es auf dem Felde der psychischen Gesundheit aus. Vor allem bei SoldatInnen, die durch Kriegseinsätze im Ausland erkrankt sind, ist ein Zielkonflikt zwischen psychischer Gesundung und „Wiederherstellung der Dienst- und Einsatzfähigkeit“ ohne weiteres denkbar. Für eine Therapie, die von vornherein dem rechtlich von der Bundeswehr vorgegebenen Ziel „Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit“ folgt, ist das Wohl der KlientInnen daher nicht mehr oberster Maßstab.

Die Bundespsychotherapeutenkammer hat in den Veröffentlichungen zur Zusammenarbeit mit der Bundeswehr an keiner Stelle berufsethische Probleme angesprochen, die mit dem vorgegebenen Therapieziel „Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit“ verbunden sind. Stattdessen stand das Bestreben im Vordergrund, die Bundeswehr als neuen Auftraggeber für TherapeutInnen zu gewinnen.

Zudem hat die Kammer oder haben Sie, Herr Richter, auch die Probleme unerwähnt gelassen, die sich aus der Verschwiegenheitspflicht von SoldatInnen für eine Therapie ergeben. Erst auf der erwähnten Fortbildungsveranstaltung waren dann die Grundrechtsbeschränkungen im Wehrbereich und das Soldatengesetz Thema. Dieses Gesetz verlangt in Paragraf 14 vom Bundeswehrangehörigen, „über die ihm bei oder bei Gelegenheit seiner dienstlichen Tätigkeit bekannt gewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu bewahren“. Aufgehoben ist die Verschwiegenheitspflicht nur für innerdienstliche Mitteilungen und für Tatsachen, „die offenkundig sind oder ihrer Bedeutung nach keiner Geheimhaltung bedürfen“.

Selbst für Aussagen über dienstliche Begebenheiten vor Gericht oder in Ermittlungsverfahren brauchen SoldatInnen stets eine Genehmigung. Anders als das Gespräch mit dem Truppenarzt/der Truppenärztin, zählt die Sitzung bei externen TherapeutInnen kaum zum innerdienstlichen Verkehr. Damit dürfen SoldatInnen den TherapeutInnen nur offenkundige oder bedeutungslose Erlebnisse im Auslandseinsatz schildern. In den Mitteilungen der Kammer ist an keiner Stelle davon die Rede, dass SoldatInnen vor der ersten Sitzung beim externen Therapeuten von der Verschwiegenheitspflicht entbunden würden. Eine Therapie aber, in der der Traumatisierte/die Traumatisierte nicht offen und über alles sprechen kann, ist schlechterdings eine Absurdität.

Eine Psychotherapie traumatisierter SoldatInnen, die dem truppenärztlichen Ziel Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit folgt, lehnen wir aus ethischen und politischen Gründen ab. Therapie muss offen sein, auch gerade offen für die Erkenntnis der Klientin/des Klienten, dass Kriegseinsätze und Gewalt gegen Mitmenschen auch SoldatInnen krank machen können und künftig zu meiden sind. Politisch fügt sich die Vereinbarung Ihrer Kammer mit der Bundeswehr für uns in die Bestrebungen ein, mehr Akzeptanz für deutsche Kriegseinsätze im Ausland zu schaffen. Obwohl der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr, 1999 im Kosovo-Krieg gegen Jugoslawien, nunmehr 15 Jahre zurückliegt, obwohl Politiker verschiedenster Couleur, wie zuletzt Bundespräsident Joachim Gauck, immer wieder offensiv für Einsätze werben, lehnen die Bundesbürger diese weiter mehrheitlich ab.

Die Vereinbarung der Bundespsychotherapeutenkammer mit der Bundeswehr wurde im Namen der Kammermitglieder abgeschlossen. PsychotherapeutInnen sind Zwangsmitglieder der Kammer. Eine öffentliche Diskussion unter den Mitgliedern über die Vereinbarung gab es aber nicht. Wie viele andere PsychotherapeutInnen sehen wir in der Vereinbarung ein Bekenntnis der Kammer zu einer kriegerischen deutschen Außenpolitik. Wir fühlen uns in diesem Punkt von der Kammer nicht vertreten.

Wir fordern Sie daher auf, die ohne Zustimmung der Kammermitglieder abgeschlossene Vereinbarung aufzukündigen sowie die dieser zugrundeliegenden Verträge und Absprachen zu veröffentlichen und sich einer Diskussion mit den Mitgliedern über Ihre Kooperation mit der Bundeswehr zu stellen.

Berlin, Ostern 2014 Mit freundlichen Grüßen Vorstand: Prof. Dr. K.-J. Bruder, Dr. Ch. Bialluch, Jörg Hein

Zur Entwicklung des Gegenübers

Zur Entwicklung des Gegenübers

Sozialpsychologische Ursachen von Intergruppenkonflikten

von Ulrich Wagner und Christoph Butenschön

In den großen Konflikten der letzten Jahrzehnte – von den Balkankriegen über Libyen, Ägypten bis zu Syrien – wurden und werden nationale, ethnische und/oder religiöse Zugehörigkeiten thematisiert und benutzt, um die eigenen Reihen zu schließen und sie gegen Einflüsse des Gegenübers abzuschotten. Die Autoren gehen aus sozialpsychologischer Sicht der Frage nach, welche psychologischen Mechanismen bei der Austragung solcher Intergruppenkonflikte als Erklärung herangezogen werden können.

Verschiedene Modelle aus der Sozialpsychologie, Soziologie und Konfliktforschung sehen in der Auseinandersetzung von Gruppen um materielle Ressourcen eine wesentliche Ursache für die Entstehung von negativ eskalierenden Intergruppenkonflikten. Die klassische Arbeit, die diese Annahme dokumentiert, wurde von Mustafer Sherif und seinen Mitarbeitern (z.B. Sherif 1966) in den 1940-50er Jahren in den USA durchgeführt. Er lud 11- bis 12-jährige weiße amerikanische Jungen zur Teilnahme an Feriencamps ein. In diesen Camps wurden die Jungen in zwei Gruppen aufgeteilt und separat untergebracht. Nach einiger Zeit forderte Sherif dann die beiden Gruppen zu Wettkämpfen gegeneinander auf, beispielsweise ließ er sie zum Tauziehen gegeneinander antreten. Der Gewinnergruppe wurde ein materieller Gewinn in Form von Taschenmessern versprochen. Die Ergebnisse der mehrtägigen Wettkämpfe wurden auf einer Anzeigetafel fortlaufend dokumentiert. Sherifs Untersuchungen zeigen, dass eine solche Konstellation nicht nur zu engagierten Wettkämpfen zwischen den Gruppen führt, sondern dass die Gruppen aufgrund der Auseinandersetzung auch zunehmend Feindseligkeiten, negative Stereotype und Gewaltbereitschaft gegeneinander entwickeln (zu neueren Studien und theoretischen Weiterentwicklungen der Grundannahme vgl. z.B. Bobo 1999).

Ein verwandtes Konzept zu Sherifs Theorie des realistischen Gruppenkonflikts ist die Theorie der kollektiven relativen Deprivation (Vanneman & Pettigrew, 1972). Danach entstehen feindselige Intergruppenkonflikte, wenn Gruppenmitglieder den Eindruck haben, dass andere Gruppen im Vergleich zur eigenen Gruppe ungerechterweise bevorzugt sind. Die Erklärungsansätze, die feindselige Intergruppenkonflikte auf die Auseinandersetzung um materielle Ressourcen zurückführen, betonen, dass allein die Wahrnehmung eines Ressourcenkonflikts ausreicht, um die beschriebenen Prozesse auszulösen: Menschen entwickeln Vorurteile und diskriminieren, wenn sie allein glauben, dass EinwanderInnen die ökonomische Prosperität »ihres« Landes gefährden.

Identitätskonflikte

20 Jahre nach Sherifs Ferienlageruntersuchungen und einer Vielzahl von Replikationen seiner Befunde stellten Henri Tajfel und seine Mitarbeiter die Frage, ob tatsächlich ein Ressourcenkonflikt vorliegen muss, um feindselige Intergruppenkonflikte auszulösen. In ihren »minimal group studies« teilten sie ihren Versuchspersonen, z.B. englischen SchülerInnen, mit, dass sie einer von zwei Gruppen angehören, z.B. der blauen und nicht der grünen Gruppe. Anschließend wurden die Versuchspersonen aufgefordert, einen Geldbetrag auf zwei anonyme andere Versuchspersonen zu verteilen, von denen eine derselben und eine der fremden Gruppe angehört. Die Ergebnisse zeigen, dass unter solchen Bedingungen die Mitglieder der eigenen Gruppe, der »Ingroup«, bevorzugt und die der fremden Gruppe, der »Outgroup«, benachteiligt werden. Andere Studien dokumentieren darüber hinaus, dass sich die Einteilung in exklusive Gruppen nicht nur auf die Zuweisung von Geldbeträgen, sondern auch auf die Beurteilung der Gruppen auswirkt. Die fremde Gruppe und ihre Mitglieder werden allein aufgrund einer Kategorisierung in »Outgroup« schlechter bewertet (Hewstone, Rubin & Willis 2002). Dies geschieht selbst dann, wenn den Versuchspersonen sehr deutlich klar ist, dass die Kategorisierung rein zufällig erfolgt (Billig & Tajfel 1973).

Die »minimal group studies«sind mittlerweile häufig repliziert, z.B. mit Marburger Studierenden. Tajfel (1978; Tajfel & Turner 1979) hat zur Erklärung der Befunde die »social identity theory« erfunden. Danach sind Gruppenzugehörigkeiten identitätsrelevant. Wer und was wir sind, unsere Soziale Identität, erklärt sich (auch) dadurch, welchen Gruppen wir zugehören – die Autoren dieses Beitrags verstehen sich als Mitglieder der Philipps-Universität, Männer und Anhänger von Fußballvereinen. Tajfel geht außerdem davon aus, dass Menschen in der Regel eine positive Selbstwertschätzung anstreben. Für die Soziale Identität, also den Teil des Selbstkonzepts, der aus Gruppenzugehörigkeiten abgeleitet wird, ist eine solche Selbstaufwertung insbesondere dadurch zu erreichen, dass die eigene Gruppe im Vergleich zu wichtigen fremden Gruppen aufgewertet wird – in den »minimal group«-Untersuchungen geht das am besten durch die materielle Bevorzugung der Mitglieder der eigenen Gruppe. Negativ eskalierende Intergruppenkonflikte entstehen aus der Perspektive der Theorie der Sozialen Identität also als Resultat von Identitätskonflikten.

Wir alle gehören verschiedenen Gruppen an oder werden diesen zugerechnet. Diese Gruppenzugehörigkeiten sind in unterschiedlichen Situationen von unterschiedlicher Bedeutung. Nur wenn eine Gruppenmitgliedschaft in einer Situation wichtig – salient – ist, wird sie verhaltensrelevant: Nur wenn sexuelle Orientierung salient wird, z.B. indem sie thematisiert wird, wird die Zugehörigkeit zu der Gruppe Homo- oder Heterosexueller bedeutsam, und vorher unproblematische Interaktionen zwischen Individuen werden zu Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern: Es besteht die Gefahr der oben beschriebenen gegenseitigen Abwertungsprozesse.

Man könnte einwenden, dass die empirische Basis für die Theorie der Sozialen Identität, die »minimal group studies«, sehr artifiziell und in ihrer Bedeutung für »richtige« Intergruppenkonflikte daher eingeschränkt seien. Henri Tajfel, der für seine kritische Haltung gegenüber Laborexperimenten bekannt war, begegnete diesem Einwand mit dem Argument, dass die Effekte einer Kategorisierung in Ingroup-Outgroup noch viel deutlicher ausfallen müssten, wenn die jeweiligen Gruppenzugehörigkeiten von hoher subjektiver Bedeutung sind, wenn es sich also um ethnische Zugehörigkeit, Zugehörigkeit zur ArbeitnehmerInnen- oder Arbeitgebergruppe, die so genannte gesellschaftliche Mitte oder Prekarisierte, usw. handelt – um die Zugehörigkeit zu Gruppen also, die unter Umständen schon in einem jahrelangen Konfliktverhältnis zueinander stehen. Eine weitere Annahme der Theorie der Sozialen Identität ist daher, dass die Prozesse der Ingroup-Outgroup-Differenzierung umso stärker ausfallen, je mehr sich die Beteiligten mit ihren jeweiligen Gruppen identifizieren. NationalistInnen und RassistInnen gehen gegen fremde Gruppen radikaler vor als Personen, für die die eigene nationale oder ethnische Zugehörigkeit von nur geringer Bedeutung ist.

Die Theorien des Realistischen Gruppenkonflikts und der Sozialen Identität sind die sozialpsychologischen Äquivalente der konflikttheoretischen Unterscheidung von Ressourcenkonflikten einerseits und Identitäts- oder Werte- oder Normen-Konflikten andererseits (Bonacker & Imbusch 1999). Tajfel (1978) waren die Befunde Sherifs zum Zeitpunkt der Entwicklung der Theorie der Sozialen Identität natürlich bekannt. Tajfel hat auch nicht versucht, mit seiner Theorie die Theorie des Realistischen Gruppenkonflikts in Frage zu stellen. Er betont vielmehr, dass die Auseinandersetzung um materielle Ressourcen Identitätskonflikte verschärft, indem sie die Salienz der Kategorien und die Identifikation mit der jeweiligen Ingroup erhöht. Dies entspricht einer Annahme aus der Konfliktforschung, wonach Ressourcenkonflikte mit zunehmender Dauer in Identitätskonflikte übergehen können. Der Israel-Palästina-Konflikt beispielsweise begann mit einer Auseinandersetzung um Land und Wasser; inzwischen sind beide Seiten durch die chronisch hohe Salienz der Kategorisierung und die zunehmende Identifikation mit der jeweiligen Seite so weit in einen Identitätskonflikt verstrickt, dass sie massive Benachteiligungen für die Ingroup in Kauf nehmen, nur um der Outgroup noch stärker zu schaden.

Die Bedeutung des »äußeren Feindes«

Gruppen sind für ihre Mitglieder also identitätsrelevant; sie sind darüber hinaus eine wichtige Quelle der Information über angemessene normative Vorstellungen und Verhaltensweisen (Festinger 1954). Insbesondere dann, wenn ich die Richtigkeit der eigenen Überzeugung nicht mehr direkt an der Realität testen kann – welche Haltung soll ich zu Einwanderung einnehmen, welche zu Waffenbesitz, welche zu einer militärischen Intervention in einem Bürgerkriegsland? –, orientiere ich mich an den Vorstellungen, die in meiner Ingroup vertreten werden. John Turner, Miterfinder der Theorie der Sozialen Identität, hat zusammen mit seinen MitautorInnen mit der Selbstkategorisierungstheorie ein Modell vorgestellt, das die Prozesse genauer beschreibt, die in einer Gruppe zu beobachten sind, wenn die Mitglieder dieser Gruppe sich mit einer fremden Gruppe konfrontiert sehen (Turner et al.1987). Danach versuchen die Gruppenmitglieder, innerhalb der eigenen Gruppe eine starke Meinungshomogenität und gleichzeitig eine maximale Differenz zur Meinungsposition der fremden Gruppe herzustellen (um sich so von der fremden Gruppe zu distanzieren – siehe Theorie der Sozialen Identität). Die sich daraus ergebende optimale Position der eigenen Gruppe, auf die sich die Gruppenmitglieder zubewegen, ist die prototypische Gruppenposition.

Mit dem Bekanntwerden – in der Sprache der Selbstkategorisierungstheorie: der Zunahme an Salienz – der Outgroup-Position rücken die Mitglieder mit ihren individuellen Überzeugungen enger zusammen und entfernen sich gleichzeitig von der Position der Outgroup. Mit diesem Prozess verschiebt sich auch die prototypische Gruppenposition, also der Punkt, der die normative Position der Gruppe zu angemessenen Überzeugungen und Verhaltensweisen am besten repräsentiert. In der Outgroup kommt es natürlich zum selben Prozess.

Die Theorie der Selbstkategorisierung macht deutlich, wie der Kontext, in den eine Gruppe eingebettet ist, die Prozesse innerhalb einer Gruppe beeinflusst und die Positionen der Gruppenmitglieder sowie die prototypische Gruppenposition extremisiert. Bekannt sind die Beispiele, dass politische Führer mit der Einführung eines äußeren Feindes und dessen (scheinbar sehr abweichenden) Position die eigenen Reihen hinter sich schließen: Hitler hat dazu die Outgroup der Juden salient gemacht, der Nationalismus in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien wurde damit befeuert, und viele Ereignisse in Israel und Palästina lassen sich aus der ständigen Präsenz des äußeren Feindes erklären (Campbell 1965).

Was kann mensch tun?

Diskriminierung zwischen Gruppen und Gewalt zwischen Gruppen gehen nicht allein auf psychologische Mechanismen zurück (Wagner, Christ & Heitmeyer 2010). Zum Verständnis solcher Ausdrucksformen von Intergruppenkonflikten sind die Analysen objektiv existierender Machtunterschiede, wirtschaftlicher Interessen, des Zugangs zu Informationen und internationaler Vereinbarungen von vorrangiger Bedeutung: Ob Drittstaaten in einem Bürgerkrieg intervenieren oder nicht, hängt in der Regel nicht direkt von der Haltung in der Bevölkerung zu einer solchen Intervention ab. Aber: Das Konfliktverhalten von Makro-Akteuren ist von der Zustimmung oder Ablehnung in (manchen) Bevölkerungen nicht unabhängig. Einwanderungspolitik, die Gleichstellung von Minderheiten und militärische Interventionen sind leichter durchzuführen, wenn sie die Zustimmung der Menschen haben. Damit wird die Frage von Bedeutung, wie die oben beschriebenen sozialpsychologischen Mechanismen beeinflusst werden können, um einer Konflikteskalation entgegenzuwirken.

Wesentliche sozialpsychologische Bedingung für die Entstehung von Intergruppenkonflikten ist die Kategorisierung in Ingroup und Outgroup. Wenn es gelingt, eine solche Kategorisierung zu vermeiden oder einer bestehenden Ingroup-Outgroup-Kategorisierung eine gemeinsame übergeordnete Kategorie hinzuzufügen, können die in der Theorie der Sozialen Identität beschriebenen Mechanismen der Outgroup-Ablehnung vermieden oder abgebaut werden. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft hat eine solche übergeordnete Kategorisierung geschaffen und Ressentiments reduziert, allerdings nur in Bezug auf die, die dazu gehören. Die Ablehnung von EinwanderInnen aus Afrika blieb davon unberührt. Außerdem ist zu beachten, dass wir selbst bei einer gemeinsamen übergeordneten Kategorisierung – z.B. in EuropäerInnen – dazu neigen, unsere ursprüngliche Subkategorie, die der Deutschen, in ihrer Bedeutung für die gemeinsame Oberkategorie Europa zu überschätzen (Mummendey & Wenzel 1999) und damit erneut Konfliktpotential zu entwickeln.

Bei der Betrachtung von Kategorisierungsprozessen ist allerdings wichtig zu beachten, dass die Kategorisierungen von Menschen und die Attribute, die unterschiedlichen Gruppen zugewiesen sind, soziale und politische Konstruktionen sind. Menschen unterscheiden sich voneinander in einer Vielzahl von Merkmalen. Dass nun gerade die Hautfarbe, die sexuelle Orientierung oder die Partizipation am Arbeitsmarkt zu relevanten Kategorisierungs- und damit Ausgrenzungsmerkmalen werden (und nicht die Augenfarbe), ist das Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Diskurse. Dasselbe gilt, wenn Gruppen ohne empirische Basis Merkmale zugeschrieben werden: Die Türken, Juden, Homosexuellen sind …

Es bedarf deshalb angemessener Wege, um den Missbrauch politisch motivierter Kategorisierung von Menschen in Ingroup und Outgroup entgegenzuwirken. Wie wir in unserer eigenen Forschung zeigen, ist der Kontakt zwischen Mitgliedern verfeindeter Gruppen ein solcher Weg. Intergruppenkontakt trägt dazu bei, negative Stereotype und Vorurteile über fremde Gruppen zu reduzieren und gleichzeitig eine kritischere Perspektive auf die eigene Gruppe einzunehmen (Pettigrew et al. 2011). Dieser Mechanismus wirkt selbst nach massiven Auseinandersetzungen zwischen Gruppen, wie nach Bürgerkriegen (Wagner & Hewstone 2012).

Nicht immer ist direkter Kontakt zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen möglich. Dann bedarf es zumindest einer unabhängigen und detaillierten Presseberichterstattung, um durch Fakten der Entstehung von Vorurteilen entgegenzuwirken. Einschränkend muss dazu allerdings eingewandt werden, dass die empirische Forschung noch nicht so weit ist, eindeutig empfehlen zu können, welche Form der Darstellung (»normale« Mitglieder der Outgroup, besonders erfolgreiche oder Interaktionen zwischen Mitgliedern der In- und Outgroup) besonders geeignet ist, positive Bilder über Outgroups zu fördern und negative zu vermeiden (Mutz & Goldmann 2010).

Auch für kollektives Handeln als Reaktion auf Benachteiligung sind Gruppenprozesse entscheidend. Wenn diskriminierte Menschen ihre Lage als individuelles Problem wahrnehmen und verändern wollen, werden sie z.B. eigene Bildungsanstrengung unternehmen. Die Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln gegen Benachteiligung steigt, wenn die Gruppengrenzen und ihre Undurchlässigkeit salient werden, wenn die TellerwäscherInnen also die harte Grenze zu den MillionärInnen wahrnehmen. Die Wahrnehmung von Illegitimität und Veränderbarkeit der Hierarchie zwischen den Gruppen ist Voraussetzung für Befreiungsbewegungen. So beeinflussten die antikolonialen Bewegungen das Selbstverständnis und Handeln der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Auch hier helfen Bildung und kritische Medien, die Realität und Veränderbarkeit struktureller Gewalt zwischen Gruppen zu erkennen und eine politisierte soziale Identität zu entwickeln (Simon & Klandermanns 2001).

Literatur

Billig, M.G. & Tajfel, H. (1973): Social categorization and similarity in intergroup behaviour. European Journal of Social Psychology, 3, S.27-52.

Bobo, L.D. (1999): Prejudice and group position: Microfoundations of a sociological approach to racism and race relations. Journal of Social Issues, 55, S.445-472.

Bonacker, T. & Imbusch, P. (1999): Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung: Konflikt, Gewalt, Krieg, Frieden. In: P. Imbusch & R. Zoll (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Opladen: Leske & Budrich, S.73-107.

Campbell, D.T. (1965): Ethnocentrism and other altruistic motives. In: D. Levine (ed.): Nebraska Symposium on Motivation (Vol. 13). Lincoln, NE: University of Nebraska Press, S.283-311.

Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations, 7, S.117-140.

Hewstone, M., Rubin, M. & Willis, H. (2002): Intergroup bias. Annual Review of Psychology, 53, S.575-604.

Mummendey, A. & Wenzel, M. (1999): Social discrimination and tolerance in intergroup relations: Reactions to intergroup difference. Personality and Social Psychology Review, 3, S.158–174.

Mutz, D.C. & Goldman, S.K. (2010): Mass media. In: J.F. Dovidio, M. Hewstone, P. Glick & V.M. Esses (eds): Prejudice, stereotyping and discrimination. London: Sage, S.241-257.

Pettigrew, T. F., Tropp, L. R., Wagner, U. & Christ, O. (2011): Recent advances in intergroup contact theory. International Journal of Intercultural Relations, 35, S.271-280.

Simon, B. & Klandermanns, B. (2001): Politicized collective identity: A social psychological analysis. American Psychologist, 56, S.319-331.

Sherif, M. (1966): In common predicament: Social psychology of intergroup conflict and cooperation. Boston, MA: Houghton Mifflin.

Tajfel, H. (1978) (ed.): Differentiation between social groups. London: Academic Press.

Tajfel, H., Billig, M. G., Bundy, R. P. & Flament, C. (1971): Social categorization and intergroup behavior. European Journal of Social Psychology, 1, S.149–178.

Tajfel, H. & Turner, J. C. (1979): An integrative theory of intergroup conflict. In: W. G. Austin & S. Worchel (eds.): The social psychology of intergroup relations. Monterey, CA: Brooks/Cole, S.33-47.

Turner, J. C., Hogg, M.A., Oakes, P.J., Reicher, S.D. & Wetherell, M.S. (1987): Rediscovering the social group.Oxford: Blackwell.

Vanneman, R.D. & Pettigrew, T.F. (1972): Race and relative deprivation in the urban United States. Race, 13, S.461-486.

Wagner, U., Christ, O. & Heitmeyer, W. (2010): Ethnocentrism and bias towards immigrants. In: J.F. Dovidio, M. Hewstone, P. Glick & V.M. Esses (eds.): Handbook of prejudice, stereotyping, and discrimination. Los Angeles, CA: Sage, S.361-376.

Wagner, U. & Hewstone, M. (2012): Intergroup contact. In: L.R. Tropp (ed.): The Oxford handbook of intergroup conflict. Oxford: Oxford University Press, S.193-228.

Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie im Fachbereich Psychologie und am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Konflikte zwischen Gruppen, Vorurteile, Gewalt und Intervention und Evaluation.
Dipl.-Pol. Christoph Butenschön ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitseinheit Sozialpsychologie der Philipps-Universität Marburg. Er beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Vorurteilen.

Antisemitismus und Israelkritik

Antisemitismus und Israelkritik

Mythos und Wirklichkeit eines spannungsreichen Verhältnisses

von Wilhelm Kempf

Israelkritik wird (nicht nur) in Deutschland mit großer Regelmäßigkeit über einen Kamm geschert und als antisemitisch gebrandmarkt. Die Bundestagsdebatte über den angeblichen Antisemitismus der Linken (vgl. Melzer 2011), der Medienaufruhr über das (zweifellos recht naive) Gedicht von Günther Grass (vgl. Krell & Müller 2012) und die Auseinandersetzung um Jakob Augstein, den Herausgeber der linken Wochenzeitung »Der Freitag«, sind dramatische Beispiele dafür. Glaubt man dem Kulturredakteur beim Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«, Matthias Matussek (2013, S.15), dann droht die Gefahr „nicht von ewiggestrigen Nazi-Rülpsern, sondern aus dem linken Milieu“. Aber kann man ihm glauben? Worauf gründet sich der Antisemitismusvorwurf gegen die Kritiker Israels denn überhaupt? Ist das rechte Spektrum tatsächlich vernachlässigbar? Und ist es wirklich das linke Spektrum, von dem die Gefahr einer Renaissance des Antisemitismus droht?

Dass zwischen Antisemitismus und Israelkritik eine empirische Korrelation besteht, ist noch lange kein Beleg für den antisemitischen Charakter der Israelkritik. Wer die israelische Politik bedingungslos unterstützt, wird wohl kaum antisemitisch vorbelastet sein, und ausgewachsene Antisemiten werden der israelischen Politik kaum wohlwollend gegenüberstehen. Diese beiden Extremgruppen bewirken zwar eine moderate Korrelation zwischen Israelkritik und Antisemitismus, die jedoch nichts darüber aussagt, ob und in welchem Maße Israelkritik antisemitisch motiviert ist.

Die »Projektgruppe Friedensforschung Konstanz« hat in den Jahren 2009-2012 daher ein DFG-unterstütztes Forschungsprojekt über »Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus« in Angriff genommen und u.a. eine Feldstudie durchgeführt, deren Hauptergebnisse im Folgenden skizziert werden.

Theorie und Methodologie

Ausgangspunkt der Studie war die in der Antisemitismusforschung verbreitete Auffassung, dass der Antisemitismus trotz Diskreditierung offen antisemitischer Einstellungen nach Ende des Dritten. Reichs nicht gänzlich verschwunden ist, sondern subtilere Formen angenommen hat. Entsprechend unterscheidet man zwischen verschiedenen Facetten des Antisemitismus (vgl. Frindte 2006).

  • Als »manifesten« Antisemitismus bezeichnet man die auf traditionelle Vorurteile zurückgreifende Diffamierungen von Juden als Juden.
  • Der Begriff des »sekundären« Antisemitismus bezieht sich auf den Umgang der Deutschen mit der Nazi-Vergangenheit, dem Holocaust und der Schuld- und Verantwortungsfrage und bezeichnet die Relativierung, Verharmlosung oder Leugnung des Holocaust ebenso wie die Forderung, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.
  • Als »latenten« Antisemitismus bezeichnet man den Versuch, das Thema Antisemitismus und Juden öffentlich zu meiden.

Es gibt weitere Facetten, deren Subsummierung unter das Konzept des Antisemitismus nicht so offensichtlich ist:

  • Der »Antizionismus« lehnt die zionistische Staatsideologie Israels ab und macht die Juden schlechthin dafür verantwortlich (generalisierende Israelkritik).
  • Auf Bergmann & Erb (1991) zurück geht das Konzept der »antisemitischen Israelkritik«, welche die Kritik an der israelischen Palästinapolitik – im Sinne einer Ersatzkommunikation – dazu benutzt, das Kommunikationstabu für antisemitische Einstellungen zu umgehen.

Mit seinem Eingang in den öffentlichen Diskurs hat das Konzept der antisemitischen Israelkritik jedoch einen Bedeutungswandel durchgemacht, und spätestens seit der Konferenz von Durban1 macht sich unter Politikern und Publizisten eine Tendenz bemerkbar, jegliche Israelkritik als antisemitisch zu brandmarken (z.B. Cotler 2006). Viele (nicht-jüdische und jüdische) Kritiker der israelischen Politik befürchten daher, dass sie mittels des Antisemitismusvorwurfes mundtot gemacht werden sollen. Umgekehrt befürchten aber auch viele Israelis, Holocaust-Überlebende und ihre Nachkommen (aber auch nicht-jüdische Deutsche, welche die Lehren aus der Geschichte gezogen haben), dass die zunehmende Israelkritik Anzeichen für ein Wiederaufleben des Antisemitismus sein könnte.

Beide Befürchtungen sind berechtigt, und ein Ausweg aus dieser vertrackten Situation lässt sich nur dann finden, wenn man beide Möglichkeiten in Rechnung stellt und Israelkritik weder pauschal verurteilt noch pauschal rechtfertigt. Dass Israelkritik antisemitisch motiviert sein kann, steht außer Zweifel. Aber es kann auch nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, dass sich die Kritik aus anderen Motiven speisen kann – etwa aus Pazifismus und/oder aus dem Engagement für die Menschenrechte der Palästinenser. Auch die Lehre von Auschwitz, „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“, ist ja keineswegs eindeutig und kann bezüglich der Menschenrechtsfrage in zweierlei Weise interpretiert werden: 1. als Eintreten für die unmittelbaren Opfer des Nationalsozialismus, was eine Tendenz zu unbedingter Solidarität mit Israel nahelegt, oder 2. als Eintreten für die Unteilbarkeit der Menschenrechte, was eine Tendenz zur Distanzierung von zumindest einigen Aspekten der israelischen Politik und ein gewisses Maß an Empathie für die palästinensische Seite impliziert.

Zugleich muss man auch in Rechnung stellen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht nur einer zwischen Juden und Nicht-Juden ist, sondern eben ein Konflikt, der als solcher denselben sozialpsychologischen Mechanismen folgt wie andere Konflikte auch. Und man muss zwischen pauschal israel- oder palästinenser-feindlichen Einstellungen und der Art und Weise unterscheiden, wie sich Menschen den Konflikt erklären – oder anders ausgedrückt: mittels welcher mentaler Modelle sie ihn zu verstehen versuchen.

Bereits Morton Deutsch (1973) hat nachgewiesen, dass die Eskalation von Konflikten mit spezifischen Wahrnehmungsverzerrungen einhergeht, und Daniel Bar-Tal (1998) hat gezeigt, dass sich diese Wahrnehmungsverzerrungen in lang andauernden Konflikten zu gesellschaftlichen Grundüberzeugungen verdichten, die Bestandteil der psychischen Infrastruktur sind, welche die Mitglieder einer Gesellschaft befähigt, solche Konflikte aushalten zu können.

Diese Grundüberzeugungen beinhalten u.a. den Glauben an die Gerechtigkeit der eigenen Sache und die eigene Opferrolle, die Delegitimierung des Feindes und den Glauben an die Aufrechterhaltung von persönlicher und nationaler Sicherheit durch eine Politik der Stärke. Wenn man eine Friedenslösung anstrebt, muss man diese Wahrnehmungsverzerrungen überwinden und die o.g. Grundüberzeugungen (die gleichsam einen »War-Frame« bilden) durch einen anderen Interpretationsrahmen ersetzen: durch einen »Peace-Frame«. Der Peace-Frame gesteht der Gegenseite die Berechtigung der (oder zumindest einiger ihrer) Anliegen zu, anerkennt die beidseitige Opferrolle, hebt die Delegitimierung des Gegners auf und sucht persönliche und nationale Sicherheit durch eine Friedenslösung zu erreichen.

Auch Dritte, die den Konflikt verstehen wollen, stehen vor der Wahl, ihn entweder im Sinne eines War-Frame oder im Sinne eines Peace-Frame zu interpretieren. Dabei sind beide Frames durchaus ambivalent, denn beide versprechen Sicherheit und schaffen zugleich Unsicherheit. Der War-Frame bietet Sicherheit, weil an bewährten Verhaltensmustern festgehalten werden kann, und er schafft Unsicherheit, weil die Fortsetzung der Gewalt droht. Der Peace-Frame bietet Sicherheit, weil er ein Ende der Gewalt verspricht, und er schafft Unsicherheit, weil neue Verhaltensmuster erprobt werden müssen, deren Effektivität noch ungewiss ist.

Entsprechend haben die mentalen Modelle, mittels derer man einen Konflikt zu verstehen sucht, sowohl eine kognitive als auch eine affektive Komponente. Die kognitive Komponente besteht in der Art und Weise, wie man sich zu dem Konflikt positioniert (in welchem Frame und zugunsten welcher Partei?). Die affektive Komponente besteht in der emotionalen Nähe zu dem Konflikt und in der Sensibilität für die Ambivalenz der beiden Frames (vgl. Kempf 2011).

Methodik und Ergebnisse

Der Fragebogen, den wir in unserer Feldstudie verwendet haben, umfasste daher nicht nur eine Reihe von Skalen zur Messung von manifestem, sekundärem und latentem Antisemitismus, Antizionismus, antiisraelischen und antipalästinensischen Einstellungen, sondern auch ein Israelquiz, mittels dessen wir das Wissen über den israelisch-palästinensischen Konflikt erhoben, Skalen zur Erfassung der kognitiven und affektiven Komponenten der mentalen Modelle, mittels derer die Befragten den Konflikt interpretierten, sowie Skalen zur Messung von Pazifismus, Menschenrechtsorientierung und moralischer Ablösung.

Die Datenerhebung fand in der Zeit zwischen Juni und November 2010 statt. Die Stichprobe setzte sich aus einer nach Alter, Geschlecht und Schulbildung für Deutschland repräsentativen Stichprobe von je 499 Befragten aus einem alten (Baden-Württemberg) und einem neuen Bundesland (Thüringen) zusammen sowie aus 464 Teilnehmern einer Online-Befragung, mittels derer es uns nach dem Schneeballprinzip gelang, an aktive Israelkritiker heranzukommen. 86% dieser Teilstichprobe, in der ältere Personen (ab einem Alter von 55) überrepräsentiert waren, verfügten über Abitur oder einen vergleichbaren Schulabschluss, weitere 10% immerhin über einen Realschulabschluss.2

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten – insbesondere in den alten Bundesländern – ein besorgniserregend hohes Potenzial für Antisemitismus in Deutschland:

  • 8% aller Deutschen meinen, dass man mit Juden besser nichts zu tun haben sollte;
  • 14% der Westdeutschen und 11% der Ostdeutschen halten es für eine vertretbare Meinung, dass die Juden selber schuld sind, dass man sie nicht mag;
  • 22% (West) bzw. 17% (Ost) meinen, dass man ja nicht sagen darf, was man über die Juden wirklich denkt;
  • 24% (West) bzw. 14% (Ost) meinen, dass die Juden zu viel Einfluss auf der Welt haben;
  • 26% (West) bzw. 20% (Ost) meinen, dass so mancher Jude aus dem Holocaust heute seinen Vorteil zieht;
  • 47% (West) bzw. 39% (Ost) meinen, dass man mit dem Gerede (!) über unsere Schuld gegenüber den Juden Schluss machen sollte;
  • und wenn man die Frage etwas gemäßigter formuliert sind sogar 53% (West) bzw. 42% (Ost) dafür, dass man einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen sollte.

Auch eine generalisierende Israelkritik, die

  • »den Juden« unterstellt, dass ihnen der Holocaust eine willkommene Rechtfertigung sei, um die Politik Israels zu rechtfertigen (West: 31%; Ost: 21%),
  • davon ausgeht, dass sich Israel ohne die »weltweite Macht des Judentums« nicht so einfach über internationales Recht hinwegsetzen könnte (West: 33%; Ost: 25%) und/oder
  • fordert, dass wir uns von »den Juden« nicht weiterhin unter Druck setzen lassen sollten, die Palästina-Politik Israels unwidersprochen hinzunehmen (West 36%, Ost: 29%), ist in den alten Bundesländern weiter verbreitet als in den neuen.

Hier zeigen sich die Nachwirkungen der politischen Sozialisation in der DDR, die (auch wenn man dies gerne verleugnet) bei der Bekämpfung des Antisemitismus offensichtlich etwas erfolgreicher war als die BRD. Gleichzeitig zeigen sich die Nachwehen des Kalten Krieges aber auch darin, dass die Menschen in den neuen Bundesländern bis heute etwas stärker dazu neigen, Israel die Alleinschuld an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Konflikte im Nahen Osten zu geben (West: 13%; Ost: 19%).

Die Art und Weise, wie sich die Menschen in Deutschland zum israelisch-palästinensischen Konflikt positionieren, fällt deutlich zugunsten der Palästinenser aus. Zwar gibt es eine relativ große Gruppe von Befragten (15% der Quotenstichprobe), die überhaupt keine Position beziehen. Die überwiegende Mehrheit (45%) interpretiert den Konflikt jedoch in einem Peace-Frame mit teilweise pro-israelischer (12%), weit häufiger jedoch mit pro-palästinensischer Tendenz (33%), und eine große Gruppe (21%) interpretiert den Konflikt in einem pro-palästinensischen Frame, der schon sehr deutlich polarisiert und gleichsam an der Schwelle zu einem War-Frame steht. Pro-israelische und pro-palästinensische Hardliner, die den Konflikt in einem War-Frame interpretieren, sind mit 10% bzw. 9% etwa gleich große Minderheiten.

Mit Ausnahme der pro-israelischen Hardliner teilen alle diese Gruppen (selbst jene, die mit Israel sympathisieren) die Auffassung, dass das Ziel der israelischen Politik in der fortgesetzten Unterdrückung und Entrechtung der Palästinenser besteht. Trotzdem werden die palästinensischen Terroranschläge (fast) durchgehend schärfer verurteilt als die israelischen Militäroperationen. Einzige Ausnahme sind die pro-palästinensischen Hardliner, aber auch diese rechtfertigen die Terroranschläge nicht.

Wie wir mittels Latent-Class-Analyse nachweisen konnten, gibt es jedoch zwei verschiedene Formen der Israelkritik, denen völlig entgegengesetzte Motivationssysteme zugrunde liegen (vgl. Kempf, im Druck). Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung (69%) positioniert sich relativ bis sehr stark zugunsten der Palästinenser und kann in zwei Gruppen eingeteilt werden: antisemitische Israelkritiker (zusammen 26%), die starke bis sehr starke antisemitische Vorurteile teilen, sowie Israelkritiker (zusammen 44%), die sich zwar zugunsten der Palästinenser positionieren, antisemitischen Vorurteilen jedoch (fast) durchgehend ablehnend gegenüberstehen. Lediglich eine kleine Teilgruppe der radikalsten unter diesen Kritikern (2%) zeigt vereinzelte antisemitische Vorurteile.

Antisemitische Israelkritik ist typisch für NPD-Wähler, aber auch in der Mitte der Gesellschaft (insbesondere bei den CDU/CSU-Wählern) fest verankert. Bei den Grünen und der Linken kommt sie etwas weniger vor.

31% der deutschen Bevölkerung ergreifen eher eine pro-israelische Position und können ebenfalls in zwei Subgruppen unterteilt werden, deren eine (20%) sich überwiegend in einem pro-israelischen War-Frame positioniert und keine antisemitischen Einstellungen zeigt. Die andere Gruppe (11%) positioniert sich dagegen eher in einem Peace-Frame, bezieht aber meist überhaupt keine Position und zeigt trotz ihrer tendenziellen Unterstützung für Israel einzelne antisemitische Vorurteile.

Der Verdacht, dass wir es bei dieser Gruppe mit latentem Antisemitismus zu tun haben könnten, erhärtet sich dadurch, dass dieses Muster das einzige ist, das sich neben offen antisemitischer Israelkritik auch bei den NPD-Wählern findet, und zwar häufiger als in allen anderen Teilen der Gesellschaft. Auch hier sind es wieder die Wähler der Grünen und der Linken, bei denen sich dieses Muster etwas seltener zeigt.

Stellt man die antisemitischen und nicht-antisemitischen Israelkritiker einander gegenüber, so zeigt sich, dass die nicht-antisemitischen Israelkritiker besser informiert sind und eine größere emotionale Nähe zu dem israelisch-palästinensischen Konflikt zeigen. Ihr Pazifismus ist stärker ausgeprägt und ihre Menschenrechtsorientierung ist konsistenter. Ihre Positionierung zugunsten der Palästinenser wird umso radikaler, je besser sie über den Konflikt informiert sind, je größer ihre emotionale Nähe zu dem Konflikt ist, je stärker ihr Pazifismus ausgeprägt ist, je konsistenter ihre Menschenrechtsorientierung ist, je mehr sie die Einschränkung von Menschenrechten ablehnen, je weniger sie zu moralischer Ablösung neigen und je stärker sie für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen eintreten.

Bei den antisemitischen Israelkritikern ist es genau umgekehrt. Je radikaler sie sich zugunsten der Palästinenser positionieren, desto schlechter sind sie informiert, desto weniger emotionale Nähe zu dem Konflikt haben sie, desto geringer ist ihre pazifistische Einstellung, desto inkonsistenter ist ihre Menschenrechtsorientierung und desto weniger treten sie für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein.

Die antisemitischen Israelkritiker zeigen sich generell vorurteilsbeladen. Sie teilen starke antisemitische, antizionistische, antiisraelische und antipalästinensische Einstellungen und positionieren sich weniger radikal zugunsten der Palästinenser als die nicht-antisemitischen Kritiker.

Die nicht-antisemitischen Israelkritiker dagegen lehnen sowohl antisemitische als auch antipalästinensische Vorurteile ab. Die radikaleren unter ihnen zeigen jedoch antizionistische und antiisraelische Einstellungen.

Nicht-antisemitische Israelkritiker, die sich in einem Peace-Frame positionieren, zeigen sich trotzdem besonders sensibel für die Ambivalenz ihres Frames. Sie sind sich des israelischen Sicherheitsdilemmas bewusst oder zeigen sich zumindest unsicher, ob eine Friedenslösung Israel Sicherheit bieten kann. Was sie dazu bringt, sich dennoch in einem Peace-Frame zu positionieren, sind ihr starker Pazifismus und ihre ausgeprägte Menschenrechtsorientierung sowie ihre strikte Ablehnung jeglicher Vorurteile, seien sie nun antisemitischer, antizionistischer, antiisraelischer oder antipalästinensischer Art.

Auch ursprünglich nicht-antisemitisch motivierte Israelkritik läuft jedoch Gefahr, in die Entwicklung antisemitischer Vorurteile abzugleiten: Jene unter ihnen, die sich am radikalsten zugunsten der Palästinenser positionieren, spalten sich in zwei Gruppen, von denen eine keinerlei antisemitische Vorurteile zeigt, die andere jedoch zu dem Glauben neigt, dass die Behandlung der Palästinenser in Israel »das wahre Gesicht der Juden zeigt« und dass es eine jüdische Weltverschwörung gibt (ohne die Israel seine Politik nicht durchsetzen könnte). Deshalb möchten sie auch einen Schlussstrich unter die deutsch-jüdische Vergangenheit ziehen.

Im Vergleich zu den nicht weniger radikalen Israelkritikern, die solche Einstellungen nicht entwickeln, sind sie über den israelisch-palästinensischen Konflikt etwas weniger informiert und haben etwas weniger emotionale Nähe zu dem Konflikt. Ihr Pazifismus ist etwas weniger stark ausgeprägt und ihre Menschenrechtsorientierung etwas weniger konsistent. Sie neigen etwas stärker dazu, Einschränkungen der Menschenrechte zu rechtfertigen, zeigen eine etwas stärkere Tendenz zu moralischer Ablösung und treten etwas weniger stark für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein.

Fazit

Das antisemitische Potenzial in Deutschland ist besorgniserregend. Nicht nur wegen seines Ausmaßes, sondern auch, weil es in der Mitte der Gesellschaft fest verankert ist. Dort und am rechten Rand finden sich nicht nur die antisemitischen Israelkritiker, sondern auch eine Gruppe von Befragten, die sich zum israelisch-palästinensischen Konflikt meist überhaupt nicht positionieren und des latenten Antisemitismus verdächtig sind.

Unter den aktiven Israelkritikern waren diese Muster dagegen nicht zu finden. Die aktiven Israelkritiker und mit ihnen die überwiegende Mehrheit der Deutschen, die sich zugunsten der Palästinenser positionieren, teilen keinerlei antisemitische Vorurteile, sondern kritisieren die israelische Politik in Folge ihres Menschenrechtsengagements und Pazifismus. Während die aktiven Kritiker dazu neigen, sich trotz ihres ausgeprägten Pazifismus in einem pro-palästinensischen War-Frame zu positionieren, sind diese radikalen Spielarten der Israelkritik in der allgemeinen Bevölkerung extrem selten. Diese radikalen Kritiker wählen Die Linke oder Bündnis 90/Die Grünen, und in der Mitte der Gesellschaft (bei den Wählern von CDU, SPD und FDP) finden sie sich überhaupt nicht.

Dass gerade sie es sind, die so oft des Antisemitismus bezichtigt werden, muss zu denken geben. Zum einen entsteht der Verdacht, dass es bei den erhobenen Antisemitismusvorwürfen gar nicht um die Bekämpfung von Antisemitismus geht, sondern darum, vom tatsächlichen Antisemitismus in Deutschland abzulenken. Zum anderen muss man sich fragen, welche Konsequenzen diese Hexenjagd für die Reanimation antisemitischer Vorurteile haben kann. Wenn man hinreichend naiv ist, fällt es nur allzu leicht, dahinter eine jüdische Weltverschwörung zu sehen. Dass auch ursprünglich nicht-antisemitisch motivierte Israelkritik Gefahr läuft, in die Wiederbelebung antisemitischer Vorurteile abzugleiten, lässt sich angesichts unserer Befunde daher nicht von der Hand weisen.

Literatur

Bar-Tal, D. (1998). Societal beliefs in times of intractable conflict: The Israeli case. The International Journal of Conflict Management, 9/1, S. 22-50.

Bergmann, W., Erb, R. (1991). Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland: Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946-1989. Opladen: Leske + Budrich.

Cotler, I. (2006). The disgrace of Durban – five years later. National Post, 12. September 2006, S. A20.

Deutsch, M. (1973). The resolution of conflict. New Haven: Yale University Press.

Frindte, W. (2006). Inszenierter Antisemitismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kempf, W. (2011): Mental Models of the Israeli-Palestinian Conflict. Journal for the Study of Antisemitism, 3/2, S.101-136.

Kempf, W. (im Druck). Anti-Semitism and the criticism of Israel: Methodology and results from a survey in Germany. In: Baum, S. K. and Cohen, F. (eds). Antisemitism in North America. Theory, Research and Methodology. Leiden, The Netherlands: Brill.

Krell, G. & Müller, H. (2012). Noch ein Krieg im Nahen Osten? Zum misslungenen Anstoß von Günter Grass zu einer überfälligen öffentlichen Debatte. HSFK Report 2/2012.

Mattusek, M. (2013). Die Gefahr droht nicht von ewig gestrigen Nazi-Rülpsern, sondern aus dem linken Milieu. Idea-Spektrum 4, 24. Januar 2013, S.15.

Melzer, A. (2011): Eine Debatte, die keine war, über Antisemitismus, der keiner ist. Protokoll einer Hexenjagd im Deutschen Bundestag. Der Semit, 3/Sondernummer 1/2011, S.4-31.

Anmerkungen

1) In Durban/Südafrika fand vom 31.8.-7.9.2001 die »World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance« statt.

2) Für einzelne Analysen konnten wir zusätzlich auf eine Stichprobe aus vor allem jüngeren Personen mit guter Schulbildung (Abitur oder vergleichbarer Schulabschluss) und/oder auf die Daten aus drei experimentellen Studien zurückgreifen, die im Rahmen des Projektes durchgeführt wurden.

Prof. Dr. Wilhelm Kempf ist emeritierter Professor für Psychologische Methodenlehre und Friedensforschung an der Universität Konstanz und Herausgeber des »open access«-Journals »conflict & communication online« (www.cco.regener-online.de).

Weniger verträglich

Weniger verträglich

Wie der Wehrdienst die Persönlichkeit beeinflusst

von Kathrin Jonkmann und Ingrid Bildstein

Dass traumatische Kriegserlebnisse tiefe emotionale Narben bei Veteranen hinterlassen können, die ihre Fähigkeit, im Leben »danach« zurechtzukommen, stark beeinflussen, ist kein Geheimnis. Eine gemeinsame Studie von Psychologen der Universität Tübingen und der Washington University in St. Louis, USA legt jetzt nahe, dass schon allein der Wehrdienst, also auch ohne einen Einsatz im Kampf, einen anhaltenden Effekt auf die Persönlichkeit des Menschen hat.

Lange Jahre herrschte in der Psychologie die Meinung vor, dass sich unsere Persönlichkeit im Laufe des Lebens nur geringfügig verändert. Die Persönlichkeit wird allgemein als einer der stabilsten und am schwersten zu ändernden menschlichen Züge angesehen. Orientiert man sich an den so genannten »Big Five« der Persönlichkeitspsychologie, so bleiben wir zeitlebens etwa gleich extravertiert, gewissenhaft, neurotisch, offen für neue Erfahrungen und sozial verträglich. Ob man studiert, heiratet oder einen Beruf ausübt, die Persönlichkeit wird davon nicht beeinflusst, so die bisherige Annahme.

Doch diese wird immer mehr in Frage gestellt. Zwei große Metaanalysen haben jüngst gezeigt, dass sich die Persönlichkeit über die gesamte Lebensspanne verändern kann: So werden wir im jungen Erwachsenenalter gewissenhafter, emotional stabiler und tendenziell verträglicher. Gleichzeitig gibt es aber bei diesen Veränderungen große Unterschiede zwischen den einzelnen Personen. Manche Menschen zeigen beispielsweise einen sehr viel stärkeren Anstieg der Gewissenhaftigkeit als andere, einige bleiben eher stabil und manche bewegen sich sogar entgegen dem allgemeinen Trend: Ihre Gewissenhaftigkeit nimmt ab. Die Wissenschaft identifiziert bedeutsame Lebenserfahrungen, die einen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung nehmen können. Eine frühere Studie hat zum Beispiel gezeigt, dass die Gewissenhaftigkeit von Abiturienten, die eine Ausbildung beginnen, stärker ansteigt als die ihrer früheren Klassenkameradinnen und -kameraden, die ein Studium aufnehmen. Letzteres hingegen schien einen positiven Einfluss auf die Verträglichkeit zu haben.

Doch wie verhält es sich mit dem Wehrdienst? Er ist ein wichtiger Wendepunkt im Leben eines jungen Menschen und könnte folglich entscheidende Auswirkungen auf die Persönlichkeit haben.

Wer entscheidet sich für den Wehrdienst?

Zunächst sollte die Studie »Military training and personality trait development: Does the military make the man or does the man make the military?«die Frage klären, ob bestimmte Eigenschaften die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich ein junger Mensch zum Wehrdienst meldet. Dazu wurden Daten von TOSCA verwendet, einer Längsschnittstudie, die am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin initiiert wurde und nun an der Universität Tübingen beheimatet ist. In TOSCA werden die Abiturkohorten der Jahre 2002 und 2006 von rund 150 zufällig ausgewählten Gymnasien in Baden-Württemberg im Abstand von zwei Jahren regelmäßig zu ihren Lebensumständen und ihrer beruflichen sowie persönlichen Entwicklung befragt. Aus diesen beiden Stichproben wurden diejenigen jungen Männer ausgesucht, die zwei Jahre nach dem Abitur angaben, entweder Wehr- oder Zivildienst absolviert zu haben. Diese 1.261 Lebensläufe wurden anschließend ausgewertet, darunter 245 von Wehrdienstleistenden.

Basierend auf dem Fünf-Faktoren-Modell, dem derzeit vorherrschenden Modell in der Persönlichkeitsforschung, wurden den Probanden Fragen zu fünf Persönlichkeitsmerkmalen (»Big Five« der Psychologie) gestellt, die als relativ dauerhaft sowie als unabhängig voneinander und von kulturellen Unterschieden gelten: Extraversion, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Extravertierte Personen suchen die Gesellschaft anderer; sie sind freundlich und herzlich, durchsetzungsfähig, selbstbewusst, begeisterungsfähig, erlebnishungrig und risikofreudig. Neurotizismus zeichnet sich aus durch Ängstlichkeit, Reizbarkeit und Verletzlichkeit, einer Neigung zu übermäßigen Sorgen und Depressionen, einer ausgeprägten sozialen Befangenheit, Impulsivität und niedriger Frustrationstoleranz. Personen, deren Offenheit ausgeprägt ist, sind intellektuell neugierig und denken gerne über Ideen, Kunst oder Musik nach. Sie sind unkonventionell, flexibel, fantasievoll und suchen neue abwechslungsreiche und intellektuell anregende Situationen. Verträgliche Personen sind auf der Suche nach sozialer Harmonie und haben eine positive Sichtweise auf andere Menschen. Sie sind gutherzig und bescheiden, unkompliziert und einfühlsam, selbstlos und hilfsbereit, kooperativ und außerdem bereit, Kompromisse einzugehen. Gewissenhafte Menschen schließlich sind diszipliniert und ehrgeizig, ordentlich und pflichtbewusst und treffen Entscheidung nicht impulsiv, sondern wohl überlegt.

Die Ergebnisse der Befragung zeigten, dass sich anhand dieser Persönlichkeitsmerkmale tatsächlich bis zu einem bestimmten Grad vorhersagen lässt, ob jemand Wehr- oder Zivildienst absolviert. Für den Zivildienst entschieden sich nämlich in etwas stärkerem Maße Personen, die sich selbst als »verträglich« beschrieben. Diese jungen Männer wiesen auch eine höhere Offenheit auf, d.h. sie mochten intellektuelle Herausforderungen, waren etwas weniger an Fakten orientiert und interessierten sich beispielsweise verstärkt für Kunst. Junge Erwachsene, die sich für den Militärdienst entschieden, beschrieben sich dafür als gelassener, ausgeglichener, optimistischer, sicherer im Umgang mit anderen und verfügten über eine hohe Frustrationstoleranz. Wer Wehrdienst leistete, war also bis zu einem gewissen Grad auch von der Persönlichkeit abhängig – allerdings waren die dokumentierten Unterschiede nicht besonders stark ausgeprägt.

Veränderungen der Persönlichkeit

Beeinflusst der Wehrdienst aber auch seinerseits langfristig die Persönlichkeit? Da es vielfältige Gründe für Veränderungen der Persönlichkeit geben kann, ist es kompliziert, diese nachzuvollziehen. Methodisch wurde der Weg gewählt, so genannte »statistische Zwillinge« unter den Wehr- und Zivildienstleistenden zu finden, also Personen, die aus ähnlichem Elternhaus stammten, ähnliche Bildungsaspirationen aufwiesen und in einer Vielzahl psychologischer Merkmale vergleichbar waren und sich daher mit gleicher Wahrscheinlichkeit für oder gegen den Wehrdienst entscheiden würden. So sollte ausgeschlossen werden, dass etwa Effekte der unterschiedlichen Ausbildung und nicht des Wehrdienstes auf die Persönlichkeit verändernd wirkten.

Zwei Jahre nach dem Abitur, also nach Abschluss des Wehr- oder Zivildienstes, wurden die jungen Männer erneut befragt. Die Ergebnisse zeigten, dass der zuletzt gerade noch neun Monate dauernde Wehrdienst die individuelle Persönlichkeit junger Bundeswehrrekruten tatsächlich nachhaltig beeinflusste. War das Persönlichkeitsmerkmal Verträglichkeit bei den Zivildienstleistenden und den Rekruten, die als »statistische Zwillinge« identifiziert wurden, vor dem Wehrdienst vergleichbar stark ausgeprägt, so lag nach dem Wehrdienst die soziale Verträglichkeit der ehemaligen Rekruten statistisch signifikant unter der der Zivildienstleistenden. Zwar wurden beide Gruppen in dieser Lebensphase insgesamt verträglicher – bei den Rekruten fiel dieser Anstieg jedoch geringer aus. Ausgeschlossen werden kann, dass diese Unterschiedlichkeit der Persönlichkeitsveränderung weniger dem Militärdienst geschuldet war, sondern vielmehr mit den meist sozialen Tätigkeiten des Zivildienstes zusammenhingen: Die ehemaligen Zivildienstleistenden erwiesen sich nicht verträglicher als Gleichaltrige, die gar keinen Dienst geleistet hatten.

Nachhaltige Auswirkungen

Aber was passiert nun langfristig mit den Soldaten, nachdem sie das Militär verlassen haben? Man könnte schließlich annehmen, die Persönlichkeitsveränderung wäre nur temporär, und die Rekruten holten den Unterschied in Sachen Verträglichkeit in den Jahren nach dem Wehrdienst wieder auf. Doch weitere Analysen vier und sechs Jahre nach dem Schulabschluss zeigten, dass dies nicht der Fall war. Im Gegenteil: Der Trend setzte sich noch mindestens vier weitere Jahre fort. Die etwas niedrigere Verträglichkeit der ehemaligen Soldaten im Vergleich mit ihren Altersgenossen bestand also auch noch Jahre später, als die Teilnehmer bereits ihr Studium, ihre Ausbildung oder ihren Beruf aufgenommen hatten. Es handelt sich demnach nicht nur um einen kurzzeitigen Effekt, sondern um langfristige Auswirkungen des Wehrdiensts auf das Persönlichkeitsmerkmal der Verträglichkeit.

Welchen Einfluss dieser Unterschied wiederum auf das Leben der ehemaligen Soldaten hat, lässt sich noch nicht absehen. Kumulative Auswirkungen könnten von Bedeutung sein. Schließlich kann sich die Verträglichkeit direkt auf etliche wichtige Lebensereignisse auswirken, wie zum Beispiel auf die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Eine niedrige Verträglichkeit könnte eine Belastung für Freundschaften und Partnerschaften darstellen, da sich durch dieses Persönlichkeitsmerkmal möglicherweise das Konfliktpotenzial erhöht. Andererseits muss diese menschliche Eigenschaft nicht zwingend negative Konsequenzen haben: So ist es wahrscheinlicher, dass Menschen, die weniger kompromissbereit sind, die Karriereleiter erklimmen und bessere Aufstiegschancen im Beruf haben.

Für die psychologische Grundlagenforschung war es bedeutsam, mit der Studie nachgewiesen zu haben, dass der Wehrdienst diese lang anhaltenden Auswirkungen auf den Menschen haben kann. Das Ergebnis zeigt allerdings auch, wie robust die Persönlichkeit eines Menschen ist: Schließlich wurde nur eine der fünf großen Persönlichkeitseigenschaften durch diese Erfahrung beeinflusst.

Welcher Part des militärischen Lebens genau diese Veränderungen der Persönlichkeit bewirkt, hat die Studie nicht ermittelt. Es lässt sich allerdings vermuten, dass es um ein Zusammenspiel von zwei Faktoren geht: Zum einen sind Verhaltensweisen, die eine niedrigere Verträglichkeit anzeigen, ein explizites Trainingsziel, um Soldaten optimal auf Kampfeinsätze vorzubereiten. Zum anderen stellt das Militär eine Umgebung dar, in der Personen mit bestimmten Eigenschaften zusammenkommen, also einen Kontext, in dem tendenziell unverträglichere, weniger offene und emotional stabilere Personen aufeinander treffen, die sich dann gegenseitig in ihren Persönlichkeitsmerkmalen bestärken.

Verstärkung des Effekts nach dem Wegfall der Wehrpflicht?

Es ist anzunehmen, dass nach Wegfall der obligatorischen Frage »Wehr- oder Zivildienst?« junge Erwachsene eine Entscheidung für den Militärdienst jetzt deutlich bewusster treffen als früher. Verstärken sich also die beschriebenen Selektionseffekte, da die Gruppe der Wehrdienstleistenden noch homogener wird und dies wiederum beeinflusst, was im Kontext Militär erlebt wird? Und verstärken sich damit womöglich auch die Unterschiede in der Persönlichkeit zwischen Berufssoldaten und Normalbevölkerung? Um dies herauszufinden, sind weitere Forschungsarbeiten notwendig.

Literatur

Jackson, J. J., Thoemmes, F., Jonkmann, K., Lüdtke, O., and Trautwein, U. (2012): Military training and personality trait development: Does the military make the man or does the man make the military? Psychological Science 23, S.270-277.

Prof. Dr. Kathrin Jonkmann ist Juniorprofessorin in der Abteilung Empirische Bildungsforschung und Pädagogische Psychologie sowie Fakultätsmitglied der Exzellenz-Graduiertenschule LEAD der Universität Tübingen. Dipl.-Kulturwirtin Ingrid Bildstein ist Mitarbeiterin der Abteilung Empirische Bildungsforschung und Pädagogische Psychologie sowie der Exzellenz-Graduiertenschule LEAD der Universität Tübingen.