Die Schatten des Zweiten Weltkrieges

Die Schatten des Zweiten Weltkrieges

Folgen der traumatischen Erfahrungen in der älteren deutschen Bevölkerung

von Heide Glaesmer

Traumatische Erfahrungen führen bei vielen Menschen zu unterschiedlichen psychischen und körperlichen Beschwerden, und dies auch häufig noch lange Zeit nach Kriegsende, manchmal bis ins Alter. Die psychosoziale und medizinische Versorgung der »Kriegskinder« des Zweiten Weltkrieges ist darauf nicht ausreichend abgestimmt. Die Autorin fasst die Forschung zu diesem Thema zusammen und zeigt auf, dass die langfristigen Auswirkungen traumatischer Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges ein weiterer Grund sind, Kriege bereits im Vorfeld zu verhindern.

Der Zweite Weltkrieg war das wohl erschütterndste und schwerwiegendste zeitgeschichtliche Ereignis des letzten Jahrhunderts, welches gemeinsam mit weiteren Verbrechen des Dritten Reiches, wie dem Holocaust, 55 Millionen Opfer forderte. Er ging mit einem erheblichen Ausmaß traumatischer Erfahrungen einher und stellt eine wesentliche generationentypische Entwicklungsbedingung der heutigen älteren Bevölkerung in Deutschland wie in den anderen an diesem Krieg beteiligten Ländern dar.

Die Forschung zu den Holocaustüberlebenden und deren Kindern hat relativ früh begonnen. Die öffentliche Auseinandersetzung mit den psychosozialen Folgen des Krieges in Deutschland war dagegen lange Zeit tabuisiert. Die wenigen Studien aus der Nachkriegszeit vermittelten der Öffentlichkeit, dass sich die so genannten »Kriegskinder« weitgehend unauffällig weiterentwickelten (Brähler, Decker & Radebold, 2003). Die häufig sehr ausgeprägte Identifizierung mit der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen trug dazu bei, die eigenen Beeinträchtigungen und Belastungen zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Jahrzehntelang wurde ein Bild »anormaler Normalität« aufrechterhalten. In Deutschland hat vermutlich das lange anhaltende kollektive Schweigen über den Krieg und die Fragen von Schuld, Scham und Verantwortung eine Auseinandersetzung mit den Belastungen der Kriegsgeneration verhindert. Zudem standen die unvorstellbare Dimension des Holocausts und die Folgen für die Überlebenden im Mittelpunkt der Betrachtung. Erst seit einigen Jahren scheint es möglich, sich unter Anerkennung der Unvergleichlichkeit des Holocausts den Folgen für andere Gruppen von Traumatisierten zu widmen, ohne in den Verdacht der Bagatellisierung des Holocausts zu kommen. Mit der Gründung der Forschergruppe »Weltkrieg2Kindheiten« in Jahr 2002 wurde die Erforschung der Folgen des Zweiten Weltkrieges deutlich vorangetrieben. Inzwischen liegen empirische Befunde aus Betroffenengruppen, aber auch aus Bevölkerungsstudien vor.

Die Folgen kriegsbezogener Traumatisierungen

Im Rahmen klinischer Erfahrungen und in der Psychotherapie wurde in den letzten Jahren deutlich, dass die im Krieg erlittenen traumatischen Erfahrungen bei vielen Betroffenen nicht ohne Folgen blieben. Die meisten der heute noch Lebenden erfuhren diese Traumata in Kindheit und Jugend und damit in einer Entwicklungsphase mit erhöhter Vulnerabilität und noch nicht voll ausgereiften Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeiten (Maercker, 2002a). Die Folgen des Aufwachsens im Krieg für die Persönlichkeitsentwicklung, die Gestaltung sozialer Beziehungen oder die Ausdifferenzierung von Bewältigungsfähigkeiten spielen dabei eine große Rolle für die Ressourcen, die später bei der Bewältigung des Alternsprozesses mobilisiert werden müssen (Schneider, Driesch, Kruse, Nehen & Heuft, 2006). Klinische Beobachtungen zeigten, dass die Folgen der traumatischen Erfahrungen häufig erst im höheren Alter artikuliert und im Zusammenhang mit aktuellen psychischen Belastungen gesehen werden (Radebold, 2005; Radebold, 2006). Darüber hinaus wird diskutiert, dass im höheren Alter die Bewältigungskräfte und damit die Fähigkeit, traumabezogene Erinnerungen und Gefühle abzuwehren, nachlassen. Kommen weitere altersbedingte Stressoren dazu (z. B. Pensionierung, chronische Erkrankungen, Verlust von Freunden und Angehörigen) kommt es insgesamt zu einer Kumulation von Verlusten, die nicht mehr gut bewältigt werden können. Heuft (2004) führte in Abgrenzung zur »Retraumatisierung« den Begriff der »Trauma-Reaktivierung« im Alter ein. Folgende Umstände werden für die späten Auswirkungen der Traumata ins Feld geführt (Heuft, 2004):

  • Ältere Menschen haben mehr Zeit, um bisher Unbewältigtes wahrzunehmen, da sie vom Druck anderer Lebensanforderungen befreit sind.
  • Ältere Menschen spüren einen unbewussten Druck, sich einer noch unerledigten Aufgabe stellen zu wollen oder zu müssen.
  • Der Alternsprozess selbst kann als narzisstische Kränkung erlebt werden und so traumatische Inhalte reaktivieren (z.B. Beängstigung durch drohende Abhängigkeit und Hilflosigkeit).

Befunde aus verschiedenen Betroffenengruppen

Zunächst wurden Studien in verschiedenen Betroffenengruppen durchgeführt, wie zum Beispiel an Opfern von Flucht und Vertreibung (Beutel, Decker & Brähler, 2007; Fischer, Struwe & Lemke, 2006; Kuwert, Brähler, Glaesmer, Freyberger & Decker, 2009; Teegen & Meister, 2000), an ehemaligen Kindersoldaten (Kuwert, Spitzer, Rosenthal & Freyberger, 2008), bei ehemaligen Frontkrankenschwestern (Teegen & Handwerk, 2006), bei Opfern von Vergewaltigungen während des Krieges (Kuwert & Freyberger, 2007) oder von Bombenangriffen (Heuft, Schneider, Klaiber & Brähler, 2007; Lamparter et al., 2010; Maercker, Herrle & Grimm, 1999). Fasst man die Befunde zusammen, so zeigen sich in den verschiedenen Betroffenengruppen hohe Prävalenzen posttraumatischer Belastungsstörungen und anderer psychopathologischer Symptome. Insbesondere aufgrund von mehrfachen Traumatisierungen kam es zu kumulativen Effekten; die Lebensbedingungen während des Krieges und in der direkten Nachkriegszeit spielten bei der Bewältigung der Belastungen eine große Rolle. Gerade für die Betroffenen, die während des Krieges noch Kinder waren, stellten die Lebensbedingungen oft eine weitere Belastung dar, weil die Mütter der Kriegskinder als verlässliche Bezugspersonen nicht uneingeschränkt zur Verfügung standen, da sie durch Abwesenheit oder Tod des Vaters vielfältige Aufgaben zu bewältigen hatten und durch eigenen Traumatisierungen belastet waren. Studien zu vaterlos aufgewachsenen Kriegskindern belegen deren Belastetheit (Decker, Brähler & Radebold, 2004; Franz, Lieberz, Schmitz & Schepank, 1999; Franz, Hardt & Brähler, 2007). Die aufgeführten Befunde belegten eindrucksvoll die Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges, ließen aber dennoch Fragen offen, weil es an bevölkerungsrepräsentativen Aussagen zu den verschiedenen Traumata und insbesondere zum Auftreten posttraumatischer Symptome lange fehlte.

Psychosoziale Folgen in der älteren Bevölkerung

In bevölkerungsbasierten Studien berichten 40% bis 50% der älteren Deutschen mindestens ein traumatisches Ereignis (Glaesmer, Gunzelmann, Brähler, Forstmeier & Maercker, 2010; Hauffa et al., 2011; Maercker, Forstmeier, Wagner, Glaesmer & Brähler, 2008b), in der SHIP-Studie in Mecklenburg-Vorpommern berichten sogar 76,5% der ab 65-Jährigen mindestens ein traumatische Ereignis (Spitzer et al., 2008). Die Kriegsgeneration ist damit deutlich stärker belastet als die nachfolgenden Generationen. Kriegsbezogene Traumatisierungen machen dabei den weitaus größten Teil aus (Glaesmer et al., 2010; Maercker et al., 2008b). In einer Studie aus dem Jahr 2005 gaben in der Gruppe der ab 60-Jährigen 23,7% an, direkte Kriegshandlungen erlebt zu haben, 20,6% hatten Ausbombung erlebt, 17,9% waren vertrieben worden und 4,4% waren in Gefangenschaft gewesen (Maercker et al., 2008b). Innerhalb der Kriegsgeneration nehmen die Häufigkeiten kriegsbezogener traumatischer Erfahrungen deutlich zu: Während in der jüngsten Altersgruppe 19,2% mindestens ein kriegsbezogenes Trauma berichten, steigt dieser Anteil auf fast 60% in der höchsten Altersgruppe an (Glaesmer et al., 2010). Vergleicht man diese Befunde mit einer Studie an älteren Schweizern und damit mit einem Land, welches nicht direkt am Zweiten Weltkrieg beteiligt war, wird deutlich, dass diese mit einer Lebenszeitprävalenz von 36,3% in der gleichen Altersgruppe deutlich weniger belastet sind (Maercker et al., 2008a). Dies unterstreicht die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges als generationstypische Erfahrung für die Kriegsgeneration in Deutschland. Interessanterweise finden sich kaum Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der berichteten Kriegstraumata, nur für Gefangenschaft sind die Prävalenzen bei den Männern höher, was sich aus dem historischen Kontext gut erklären lässt.

In Anbetracht des Ausmaßes der traumatischen Erfahrungen in der deutschen Kriegsgeneration stellt sich zwangsläufig die Frage, wie häufig diese Erfahrungen auch zu Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) führen. Zwischen 3% und 4% der Älteren erfüllen heute die Kriterien eines Vollbildes einer PTBS (Glaesmer, Kaiser, Brähler & Kuwert, 2012; Glaesmer et al., 2010; Spitzer et al., 2008). Posttraumatische Belastungsstörungen treten damit in der Kriegsgeneration auch Jahrzehnte später häufiger auf als in den nachfolgenden Generationen (Maercker et al., 2008b).

Da die Forschung zu den Kriegsfolgen so spät begonnen hat, liegen praktisch keine Studien zu den Langzeitverläufen der posttraumatischen Symptomatik vor. Dies ist auch damit zu begründen, dass die PTBS als Diagnose erst seit 1980 beschrieben ist. Die Älteren berichten aus ihrer Selbstbeobachtung häufig, dass die Symptome nach Jahrzehnten der Störungsfreiheit auftreten. In einigen retrospektiven Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die Symptome im Rahmen des Alternsprozesses vermehrt auftraten (Kruse & Schmitt, 1999; Solomon & Ginzburg, 1999). Das Konzept der Traumareaktivierung (Heuft, 2004) spricht ebenfalls für eine Verschlechterung des psychischen Befindens im Alter. Eine amerikanische Arbeitsgruppe hat ein breiter angelegtes Konzept für einen derartigen Verlauf vorgestellt, in dem normative Faktoren des Alterns sowie individuelle Risiko- und Schutzfaktoren die Symptomatik lang zurückliegender Traumatisierungen modulieren (late onset stress symptomatology, LOSS) (Davison et al., 2006).

Mit Blick auf die Befunde zu den Langzeitverläufen in anderen Altersgruppen kann angenommen werden, dass es chronisch-persistierende bzw. fluktuierende Verläufe gibt, dass es aber ebenso Ältere gibt, die in früheren Lebensphasen eine posttraumatische Symptomatik hatten, aktuell aber nicht mehr betroffen sind. Wie groß die einzelnen Untergruppen sind, lässt sich nicht präzise sagen, weil eine Erfassung vorangegangener Verläufe nur noch retrospektiv möglich ist und damit zwangläufig mit Validitätsproblemen einhergeht. Zieht man die vermehrte Traumareaktivierung im Alter in Betracht, leitet sich ein relevanter Behandlungs- und Hilfsbedarf ab, dem derzeit nicht ausreichend begegnet wird. Neben posttraumatischen Symptomen spielen auch weitere psychische Beschwerden als Traumafolgestörungen eine Rolle. Aus den bereits erwähnten bevölkerungsrepräsentativen Studien in der deutschen Altenbevölkerung ist bekannt, dass eine aktuelle PTBS mit erhöhten Raten an depressiven und somatoformen Beschwerden einhergeht (Glaesmer et al., 2012).

Körperliche Erkrankungen als Folge traumatischer Erfahrungen

In den letzten Jahren rückte die Bedeutung traumatischer Erfahrungen für das Auftreten körperlicher Erkrankungen in den Blickpunkt des Interesses. Den Beginn nahm die Erforschung in den Arbeiten zu den körperlichen Folgen frühkindlicher Traumatisierungen, für die sich Zusammenhänge mit dem Auftreten verschiedener körperlicher Erkrankungen nachweisen ließen (Dong, Dube, Felitti, Giles & Anda, 2003; Dong et al., 2003; Goodwin & Stein, 2004). Erst in letzter Zeit wurden diese Forschungsansätze auf die Bedeutung von traumatischen Erfahrungen und PTBS im Erwachsenenalter übertragen. Die meisten der bisherigen Studien wurden an Betroffenengruppen (z. B. Kriegsveteranen, Opfer sexueller Gewalt) durchgeführt. Für die deutsche Kriegsgeneration wurde inzwischen gezeigt, dass sowohl traumatische Erfahrungen als auch eine aktuelle PTBS mit erhöhten Raten körperlicher Erkrankungen (z.B. kardiovaskuläre Erkrankungen und Risikofaktoren, Asthma, Schilddrüsenerkrankungen) einhergehen (Glaesmer, Brähler, Gündel & Riedel-Heller, 2011). Dieser Befund unterstreicht, dass die Kriegstraumatisierungen nicht nur psychische Folgen nach sich ziehen, sondern sich auch negativ auf die körperliche Gesundheit auswirken und die Folgen damit wesentlich komplexer als üblicherweise angenommen sind.

Schlussbemerkungen

Die im Zweiten Weltkrieg und der direkten Nachkriegszeit erfahrenen Traumatisierungen stellen für die Kriegsgeneration und damit die heutige ältere Generation eine wichtige historisch-biographische Bedingung dar, die auch über 60 Jahre nach Kriegsende mit psychischen und körperlichen Folgen assoziiert sind. Neben den typischen posttraumatischen Symptomen spielen die Traumatisierungen auch für andere psychische Erkrankungen wie depressive und somatoforme Beschwerden eine große Rolle. Häufig werden heutige Symptome oder Erkrankungen nicht mit den lange zurückliegenden Ereignissen in Verbindung gebracht. In der medizinisch-pflegerischen Versorgung sollte den Erfahrungen während des Krieges mehr Bedeutung in Anamnese und Behandlung zukommen.

Die Befunde unterstreichen aber auch, wie langfristig und vielfältig die gesundheitlichen Folgen traumatischer Erfahrungen sind. Es ist davon auszugehen, dass vergleichbare Folgen auch in anderen Bevölkerungsgruppen, die sich in aktuellen Konflikt- und Krisenregionen befinden, auftreten. Hier wird deutlich, wie wichtig die Vermeidung von bewaffneten Konflikten und Kriegen ist. Darüber hinaus muss auch die Prävention und Vermeidung von gesundheitlichen Folgen durch frühere Interventionen mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Literatur

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PD Dr. Heide Glaesmer erhielt für Ihre Habilitation »Traumatische Erfahrungen und posttraumatische Belastungsstörungen in der Altenbevölkerung – Zusammenhänge mit psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie mit medizinischer Inanspruchnahme« den Gert-Sommer-Preis 2011. Sie ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig.

Täter und Opfer kollektiver Gewalt

Täter und Opfer kollektiver Gewalt

25. Jahrestagung des Forums Friedenspsychologie,
1.-3. Juni 2012, Konstanz

von Wilhelm Kempf

An der Universität Konstanz fand die 25. Jahrestagung des Forums Friedenspsychologie (FFP) statt, die diesmal unter dem Motto »Täter und Opfer kollektiver Gewalt« stand und mit 120 Teilnehmern aus 18 europäischen, amerikanischen und asiatischen Nationen ein breites internationales Interesse fand.

Täter und Opfer kollektiver Gewalt sind ein Thema, das die Psychologie quer über ihre Teildisziplinen hinweg beschäftigt: von der Politischen Psychologie über die Sozialpsychologie und Klinische Psychologie bis hin zu den Neurowissenschaften. Auch aus den nicht-psychologischen Nachbardisziplinen der Friedenspsychologie – von der Politikwissenschaft über die Friedenspädagogik bis hin zur Medien- und zur Kulturwissenschaft – sind sie als Forschungsthema nicht wegzudenken. Ziel der Tagung, die in Zusammenarbeit mit der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz durchgeführt und durch die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT), die Fachgruppe Sozialpsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), den verlag irena regener berlin, die Fachzeitschrift conflict & communication online (cco) und die Universitätsgesellschaft Konstanz gefördert wurde, war es daher, einen transdisziplinären Gedankenaustausch anzuregen und die vielfältigen theoretischen und methodologischen Zugänge zur Friedensforschung konstruktiv miteinander zu verbinden.

Dem gegenwärtigen Diskussionsstand in den Friedenswissenschaften entsprechend wurde Gewalt dabei nicht nur als direkte (persönliche) sondern auch als strukturelle und kulturelle Gewalt verstanden. Die auf der Tagung behandelten Themen umfassten daher ein breites Spektrum, das von psychischem Trauma und kompetitiver Viktimisierung über die Reintegration von Kombattanten, Prozesse der Demokratisierung in Nachkriegsgesellschaften, den Holocaust, Menschenrechte, Gruppenfeindschaft, Antisemitismus, Rassismus und Vorurteilsforschung bis hin zu Erinnerungskultur, Prozessen des Vergebens, Friedenspädagogik und Rolle des Journalismus und der Medien für die Transformation von Konflikten reichte.

Die Konfliktfelder, anhand derer diese Themenvielfalt in zwei Hauptvorträgen, 14 Arbeitsgruppen mit 50 Einzelvorträgen und einem ganztägigen Workshop mit sieben Einzelvorträgen behandelt wurde, reichten von dem arabischen Frühling über Konflikte in der Subsahara-Region (insbes. Ruanda, Uganda und Somalia), dem Drogenkrieg in Kolumbien und Nachwehen des Bürgerkriegs in El Salvador, dem Kurdenkonflikt in der Türkei, andauernden Konfliktlagen in Serbien und Kroatien, dem (Anti-)Islamismus in Deutschland und dem Fall Sarrazin, Selbstmordattentaten und dem Krieg gegen den Terror bis hin zum Krieg in Afghanistan und dem Nahostkonflikt. Letzterer stand auch im Zentrum der beiden Hauptvorträge von Prof. Daniel Bar-Tal (Universität Tel Aviv) über sozio-psychologische Barrieren einer friedlichen Konfliktlösung sowie von Prof. Dov. Shinar (Netanya College) über die Dilemmata und Erfordernis eines neuen Paradigmas der Konfliktberichterstattung und war auch Gegenstand des erwähnten Workshops, auf dem die Projektgruppe »Friedensforschung Konstanz« die Ergebnisse eines 2009 bis 2012 von der DFG-geförderten Forschungsprojektes über »Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus« zur Diskussion stellte.

Weitere Höhepunkte der Tagung waren die Verleihung des Gert-Sommer-Preises an Frau Dr. Heide Glaesmer (Universität Leipzig) und der Vortrag der Preisträgerin über epidemiologische Befunde zu psychosozialen Langzeitwirkungen von Weltkrieg-II-Traumata in der deutschen Bevölkerung sowie zum Abschluss der Tagung die Abschiedsvorlesung von Prof. Wilhelm Kempf (Universität Konstanz), in der er das gerade in letzter Zeit wieder brisant gewordene Verhältnis von Israelkritik und Antisemitismus als methodologische Herausforderung für die Friedensforschung thematisierte.

Die Veröffentlichung der beiden Hauptvorträge wird in Vol. 12, No. 2 (October 2013) von »conflict & communication online« (cco.regener-online.de) erfolgen, der dem Schwerpunktthema »Kommunikation und Konflikttransformation« gewidmet ist. Die Abschiedsvorlesung von Prof. Kempf erscheint im »Journal for the Study of Antisemistism« (jsantisemitism.org), Vol. 4, No. 2 (December 2012).

Wilhelm Kempf

Von »arabischen Moslems« und »islamischen Arabern«

Von »arabischen Moslems« und »islamischen Arabern«

von Uwe Drexelius

Vor zwei Jahren überraschte der Arabische Frühling die Welt, und alle, die wollten, konnten nahezu live daran teilnehmen. Die Medienpräsenz vor Ort war enorm, der Protest in einer äußerst konfliktären Spannungssituation wurde sichtbar, auch und gerade für den Westen. Die Bilder und Berichte bewegten viele Menschen in Europa und dem Rest der Welt zutiefst. Nicht zuletzt die Wirkung der Bilder auf junge Menschen in anderen arabisch-sprachigen Ländern war so groß, dass es schließlich in ganz Nordafrika und dem Nahen Osten zu Protesten und Aufständen kam. Bereits im gleichen Jahr gab es viele politische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit diesem Phänomen, das weiterhin Schlagzeilen macht und die Welt wohl noch Jahre beschäftigen wird (siehe Übersicht in Hajatpour et al. 2011). In diesem Artikel soll es um eine wenig beachtete Perspektive dieses Themas gehen, und zwar um die Frage, welchen Einfluss unsere Konstruktion der sozialen Wirklichkeit auf unsere Bewertung von sozialen Konflikten hat. Die Beeinflussung dieser Konstruktion durch die Medien wird zusätzlich im Fokus stehen.

Die menschliche Wahrnehmung sozialer Umwelt erfolgt fast immer automatisiert über eine Einteilung von Personen in Gruppen anhand spezifischer Merkmale. Diese Gruppen werden auch als »soziale Kategorien« bezeichnet. Ist eine bestimmte soziale Kategorie aktiviert, so steuert diese die weitere Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Umwelt sowie der entsprechenden Verhaltensintentionen. Insbesondere in komplexen und unübersichtlichen Kontexten, in denen es verschiedenste Möglichkeiten der Kategorisierung gibt, ist die Interpretation der Situation fundamental von der Wahl der sozialen Kategorien abhängig. Der Arabische Frühling ist so eine Situation, da die Masse seiner Protagonisten für westliche Augen zumeist sehr homogen erscheint, in Wirklichkeit jedoch äußerst heterogen zusammengesetzt ist.

Eigengruppenprojektion im Kontext des Arabischen Frühlings

Eine im Herbst 2011im Rahmen meiner Masterarbeit an der Universität Bielefeld durchgeführte Online-Studie versuchte zu überprüfen, inwieweit sich die Annahmen des Modells der »Eigengruppenprojektion« (IPM, engl. Ingroup Projection Model; Mummendey & Wenzel 1999) auf den Arabischen Frühling übertragen lassen. Das IPM geht auf Basis der »Theorie der sozialen Identität« (SIT, engl. Social Identity Theory), die in den 1970iger Jahren von Henri Tajfel und John Turner (1986) formuliert wurde, sowie der »Theorie der Selbstkategorisierung« (SCT, engl. Self-Categorization Theory) von Turner, Hogg, Oakes und Wetherell (1987) davon aus, dass unsere Einstellungen vor allem über den Mechanismus der sozialen Projektion zustande kommen. Letztere findet deshalb statt, weil Individuen nicht nur soziale Kategorien zur Orientierung benötigen, sondern unterbewusst zusätzlich Prototypen dieser Kategorien generieren.

Um etwa die Frage »Sind Araber gute Demokraten?« beantworten zu können, orientiert die/der Befragte sich an seinem persönlichen Prototyp eines »guten Demokraten«. Wie gelangt die/der Befragte zu einem solchen Prototyp? Über die Eigengruppenprojektion. Sie lässt das Bild eines Prototyps einer Kategorie (hier »gute Demokraten«) mithilfe von Attributen seiner Eigengruppe (z.B. »Europäer«) entstehen. Anstatt sich allein auf seine eigene Erfahrung oder die Erfahrung seiner Mitmenschen zu stützen, projiziert sie/er die stereotypen Merkmale seiner Eigengruppe auf den Prototyp der übergeordneten Kategorie. Dies hat zur Folge, dass ein Europäer und ein Amerikaner unterschiedliche Prototypen der Kategorie »gute Demokraten« haben, der sie sich wahrscheinlich beide zuordnen. Der Europäer stellt sich den prototypischen Demokraten sehr europäisch (in seinem Sinne), und der US-Amerikaner wiederum sehr amerikanisch (in seinem Sinne) vor (siehe z.B. Waldzus et al. 2004).

Da Araber im Vergleich zu Europäern bzw. Amerikanern als anders wahrgenommen werden, werden sie in der Tendenz eher als schlechte Demokraten eingeschätzt werden – zumindest schlechter als Europäer bzw. Amerikaner. Die Stärke dieses Effekts geht einher mit der Stärke der Eigengruppenprojektion. Diese theoretischen Beobachtungen konnten in mehreren Studien reproduziert werden (vgl. z.B. Mummendey & Kessler 2008; Waldzus et al. 2004; Wenzel et al. 2003).

Aufgrund von Beobachtungen hinsichtlich der Nutzung der unterschiedlichen sozialen Kategorien seitens der Medien, war die Grundidee des Experiments zu überprüfen, ob es einen Unterschied macht, wenn man in den Protestierenden aufgrund von Medienberichten ein Mal die soziale Gruppe der »Araber«, ein anderes Mal die Gruppe der »Muslime« sieht. Übertragen auf das IPM heißt die Frage: Inwiefern beeinflusst eine Manipulation der übergeordneten sozialen Kategorien »Kultur« (arabisch bzw. Araber) und »Religion« (islamisch bzw. Muslime) die Bewertung des Arabischen Frühlings und seiner Akteure?

Die übergeordnete Kategorie wurde experimentell manipuliert, indem in einer Fragebogenversion von Protesten in der »arabischen Welt« gesprochen wurde, während in der zweiten Fragebogenversion von Protesten in der »muslimischen Welt« die Rede war. Die Teilnehmenden wurden jeweils einer dieser Fragebogenversionen randomisiert zugeordnet. In den Bögen mit dem Begriff »arabische Welt« handelte es sich bei der Fremdgruppe um Araber, im Bogen mit dem Begriff »muslimischeWelt« um Muslime. Die Stichprobe bestand aus 66 Teilnehmenden und war überwiegend im studentischen Milieu verortet.

In dieser Studie war es interessanterweise nicht möglich, die Vorhersagen des Modells der Eigengruppenprojektion am Beispiel des Arabischen Frühlings zu bestätigen. Ein Zusammenhang zwischen dem Effekt der Eigengruppenprojektion und der Bewertung der Protestierenden konnte nicht festgestellt werden. Auch die Manipulation der übergeordneten Kategorie »Kultur« und »Religion« hatte keinen signifikanten Einfluss auf die Eigengruppenprojektion und die Bewertung der Protestierenden. In der Studie wurden hingegen zahlreiche potentielle Herausforderungen identifiziert, die bei der Übertragung von sozialpsychologischen Theorien auf komplexere soziale Konflikte auftreten können. Probleme mit der Interpretation der sozialen Kategorien sollen hier exemplarisch vorgestellt werden.

Bei der Konzeption der Studie war vor allem die Wahl der sozialen Kategorien problematisch. Ausgangssituation war die eingangs geschilderte Beobachtung, dass in der medialen Berichterstattung zum Arabischen Frühling teils von der »arabischen«, teils von der »islamischen Welt« die Rede war. Das Konstrukt des »Arabischen« erwies sich für Theoretiker wie Versuchspersonen als schwer greifbar. Die sprachliche Unterscheidung wurde in der Studie schließlich als kulturelle und religiöse Kategorie interpretiert. Ist die Deutung der religiösen Kategorie weitestgehend unproblematisch, so bietet doch die Kategorie »Kultur« Anlass zur Kritik, ist doch auch die Religion Bestandteil von Kultur, was eine klare Abgrenzung sehr schwer macht (vgl. Saraglou & Cohen 2011). Auch wenn beispielsweise im Libanon ein arabisches Selbstverständnis jenseits des Islams existiert, so bildet der Islam doch für einen Großteil der arabischen Welt ein gemeinsames kulturelles und identitätsstiftendes Fundament. Womöglich wäre Ethnie eine begriffliche Alternative, wobei auch bei diesem Begriff eine Unschärfe zu anderen, beispielsweise zum Begriff der Nation, existiert. Gerade beim Arabischen Frühling ist dies, allein aufgrund der unterschiedlichen nationalen Entwicklungen, nicht zu vernachlässigen. Diese Problematik zeigt die Schwierigkeiten, vor denen man steht, wenn man eine sozialpsychologische Grundlagentheorie auf komplexere soziale Konflikte übertragen will.

Kategorien in der Berichterstattung über den Arabischen Frühling

Beispiele aus der medialen Berichterstattung zum Arabischen Frühling sprechen für die grundsätzliche Richtigkeit des Eigengruppenprojektionsmodells.

Bei der Rezeption der unterschiedlichen Formen von Medienberichten über den Arabischen Frühling (kommentierte Live-Übertragungen im Fernsehen, Zeitungsartikel etc.) war zu beobachten, dass die Nutzung der sozialen Kategorien »arabisch« und »islamisch« von Seiten der Medien nicht unproblematisch ist. Natürlich wurden die Protestierenden in Ägypten, Tunesien und anderen Ländern häufig entsprechend ihrer Nationalität bezeichnet. Sehr oft war aber auch ganz allgemein von »Arabern« und seltener von »Muslimen« die Rede. Entsprechend dieser Beschreibungen änderten sich auch die Schauplätze der Proteste von konkreten Städten und Ländern zu theoretischen Platzhaltern. Ereignisse in Tunesien strahlten nicht mehr aus nach Ägypten oder in den Jemen, sondern in die »arabische Welt« oder die »islamische Welt«.

Die Begriffe »arabische Welt« und »islamische Welt« werden hier vielfach synonym verwendet. Die im eigentlichen Sinne islamische Welt, in der die Araber lediglich eine Minderheit darstellen, wird in Artikeln gemeinhin nicht konkret angesprochen. Wie zu erwarten, wird zudem bei religiösen Subthemen häufiger von »islamischer Welt« gesprochen und bei nicht spezifisch religiösen Subthemen häufiger von »arabischer Welt«. Dies sind jedoch nicht die einzigen beobachteten Tendenzen.

Wenn es um den Einfluss des Islams bzw. von Islamisten auf die Staaten des Arabischen Frühlings geht und damit einhergehend um den schwindenden Einfluss des Westens, stellen die Berichte das Islamische anstatt das Arabische in den Vordergrund. Konkrete Anlässe waren in letzter Zeit vor allem die guten bis sehr guten Ergebnisse der »islamistischen« Parteien bei den letzten Wahlen. Beispielsweise im Spiegel: „Damit bestätigt sich ein eindeutiger Trend: Wo immer im islamischen Nahen Osten zuletzt freie Wahlen stattfanden, haben religiöse Parteien gewonnen – 2006 im Gaza-Streifen, 2010 im Irak, 2011 in der Türkei, in Tunesien, in Marokko.“ (Steinvorth 2011)

In diesem Beispiel fällt zudem eine andere begriffliche Ungenauigkeit auf. Der »Nahe Osten« erstreckt sich in Nordafrika nach allgemeinem Sprachgebraucht in der Regel westlich bis Ägypten und nicht bis nach Marokko. Es scheint in diesem Kontext allgemein ein Bedürfnis zu geben, bestimmte Begriffe (islamisch, islamistisch, Naher Osten, …) zu benutzen, obwohl sie inhaltlich nicht korrekt oder zumindest äußerst unscharf sind. Der Begriff der »arabischen Welt« indessen kommt dann vermehrt vor, wenn ein Artikel keine religiöse Dimension besitzt und mehr oder weniger neutral berichtet (z.B. Wirtschaftsberichte).

Diese Beispiele zeigen, dass soziale Kategorien nicht immer nach rationalen Gesichtspunkten gewählt werden. Es muss daher Gründe geben, die eine rein rationale oder politisch korrekte Wahl der sozialen Kategorien mitunter verhindern. Das IPM versucht, mit der Eigengruppenprojektion einen dieser Gründe zu beschreiben.

Fazit

Die Beispiele aus der medialen Berichterstattung und die hierbei beobachtete tendenziöse Nutzung von sozialen Kategorien sprechen nicht gegen die Annahmen des Eigengruppenprojektionsmodells, sondern bestärken darin anzunehmen, dass die Schwierigkeiten in der Forschung keine etwaige Unschärfe der sozialpsychologischen Theorien offenbaren, sondern lediglich erneut die stets unterschätzte Komplexität von modernen sozialen Konflikten zutage bringen. Das angesprochene Verhältnis von Kultur und Religion ist nur ein Beispiel dafür, wie unklar sich uns soziale Kategorien in der Realität noch immer darstellen. Es ist zudem nicht plausibel anzunehmen, dass es folgenlos bleibt, wenn wir Menschen vornehmlich als Teil einer spezifischen Ethnie, Sprachgemeinschaft, Religionsgemeinschaft oder anderen denkbaren Teilidentitäten darstellen oder wahrnehmen – und dabei andere große Teilbereiche dieser Individuen komplett ausblenden. Erst recht dann nicht, wenn bekannt ist, dass die so fokussierten Teilbereiche eng mit negativen Vorurteilen verbunden sind (vgl. z.B. Zick, Küpper & Hövermann 2011).

Der aufgedeckten Unschärfe kann mit vertiefter Forschung begegnet werden. So muss man sich in Zukunft beispielsweise mit dem Problem der überlappenden Kategorien befassen. Hier wäre es zum Beispiel sinnvoll, Methoden zu entwickeln, welche die Kategorisierung der Versuchspersonen nicht manipulieren, sondern lediglich erfassen; dies jedoch mit einer erhöhten Komplexität, sodass es möglich wird zu verstehen, welche Rolle etwa das »Moslem-Sein« in unserem Bild eines Arabers spielt und umgekehrt.

Betrachtet man Berichterstattung über den Arabischen Frühling, hier speziell die Nutzung sozialer Kategorien, sieht man mitunter, dass soziale Kategorien gemessen an konkreten Sachlagen teils falsch oder zumindest äußerst fragwürdig genutzt werden. Dieses Verhalten – ob bewusst oder nicht – ist zu benennen und zu hinterfragen. Die Kenntnis basaler sozialpsychologischer Prozesse, wie der Eigengruppenprojektion, kann neue Formen fundierter Kritik ermöglichen und sie antreiben. Natürlich bedeutet dies auch neue Herausforderungen für die Produzenten von Berichterstattung, etwa für den Friedensjournalismus, und zwar insofern die subtile Frage der Wahl und Legitimität von Kategorien bei der Analyse und Beschreibung von Konflikten sehr viel stärker beachtet werden sollte. Dies bietet aber auch große Chancen, weil das Hinterfragen und Aufbrechen etablierter Kategorisierungen ein wichtiger Schritt beim Auflösen dualer Freund-Feind-Darstellungen sein kann, welche Konflikte simplifizieren und so Eskalationenen erleichtern.

Auf der anderen Seite sollte jedoch klar sein, dass die Medienkritik zum jetzigen Zeitpunkt nicht lückenlos sein kann. Bis die Auswirkungen der Kategorisierungen tiefer verstanden wurden, ist über diese folglich auch nicht in befriedigender Weise zu urteilen. Neben der Aufklärung und vorsichtigen Kritik ist es daher an allen zu versuchen, eine persönliche Sensibilität für diesen Aspekt von Berichterstattung zu kultivieren. Wo immer konkrete soziale Konflikte und ihre Protagonisten einseitig mittels Zuschreibung von sozialen Kategorien beschrieben werden, sollten wir innezuhalten und diese Zuschreibung und ihr Wirken auf uns hinterfragen.

Literatur

Hajatpour, R., Jaeger, K., Jaeger, R., ElOuazghari, K., Brakel, K., El Husseini, A.M. und Loetzer, K.D. (2011): Länder der Region im Porträt. In: Arabische Zeitenwende. Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament« B39/2011, S.16-35.

Mummendey, A. und Kessler, T. (2008): Akzeptanz oder Ablehnung von Andersartigkeit: Die Beziehung zwischen Zuwanderern und Einheimischen aus einer sozialpsychologischen Perspektive. In: Kalter, F. (2008) (Hrsg.): Migration und Integration. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 48, S.513-528.

Saroglou, V. & Cohen, A.B. (2011): Psychology of Culture and Religion: Introduction to the JCPP Special Issue. Journal of Cross-Cultural Psychology, 42(8), S.1209-1319.

Steinvorth, D. (2011): Zerstört die Tempel. Der Spiegel, 12. Dezember 2011.

Tajfel, H., & Turner, J. C. (1986). The social identity theory of intergroup behaviour.In: S. Worchel & W. G. Austin (eds.): Psychology of intergroup relations. Chicago, IL: Nelson-Hall, S.7–24).

Turner, J. C., Hogg, M. A., Oakes, P. J., Reicher, S. D. and Wetherell, M. S. (1987): Rediscovering the social group: A self-categorization theory. Oxford: Blackwell.

Waldzus, S., Mummendey, A., Wenzel, M. and Boettcher, F. (2004). Of bikers, teachers and Germans: Groups’ diverging views about their prototypicality. British Journal of Social Psychology, 43, S.385-400.

Wenzel, M., Mummendey, A., Weber, U. and Waldzus, S. (2003): The Ingroup as Pars Pro Toto: Projection From the Ingroup Onto the Inclusive Category as a Precursor to Social Discrimination. Personality and Social Psychology Bulletin, 29(4), S.461-473.

Zick, A., Küpper, B. und Hövermann, A. (2011).Die Abwertung des Anderen: Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Uwe Drexelius studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie sowie Sozialwissenschaften und arbeitet derzeit an der Universität Bielefeld zu interreligiösen Beziehungen aus sozialpsychologischer und religionspsychologischer Perspektive.

Das Forum Friedenspsychologie 2011/2012

Das Forum Friedenspsychologie 2011/2012

von Prof. Dr. Klaus Boehnke und Gert Sommer

Der Tätigkeitsbericht in Auszügen

Ein Schwerpunkt der Tätigkeit des Forum Friedenspsychologie – Bewusst-Sein für den Frieden (FFP) e.V. war die Durchführung der federführend von der AG Sozialpsychologie, Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg, und unserem Vorstandsmitglied Dr. Jost Stellmacher organisierten 24. Tagung Friedenspsychologie vom 17.-19. 6. 2011 in Marburg. An der Tagung nahmen mehr als 60 WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen aus Australien, Deutschland, Nordirland, Österreich, Schweden und den USA teil. In sieben Arbeitsgruppen wurden 22 Vorträge gehalten. Der Hauptredner Prof. Dr. Fathali Moghaddam (Director des Conflict Resolution Program der Georgetown University in Washington D.C., USA) gab in seinem Vortrag »Rethinking terrorism, security, and dictatorship: a psychological perspective in global context« einen Überblick über zentrale Faktoren: Wie entstehen Diktaturen? Unter welchen Bedingungen kommt es zu Terrorismus? Welche Lösungen gibt es für Konflikte zwischen allochthonen und autochthonen BürgerInnen?

Der Gert-Sommer-Preis für friedenspsychologische akademische Abschlussarbeiten 2011 wurde an Dr. Friederike Feuchte für ihre Dissertation »Can We Make a Difference Tomorrow? – A Systematic Evaluation of a Peace Education Programme Implemented with Liberian Refugees« verliehen. Darin geht es um die Arbeit mit liberianischen Flüchtlingen in Ghana und die Implementierung und Wirksamkeit eines etablierten Friedenserziehungsprogramms (Inter-Agency Peace Education Programme) in der Phase nach kriegerischen Auseinandersetzungen.

2012 wurde der zum sechsten Mal ausgeschriebene Gert-Sommer-Preis an Dr. Heide Glaesmer für ihre kumulative Habilitationsschrift »Traumatische Erfahrungen und Posttraumatische Belastungsstörungen in der Altenbevölkerung – Zusammenhänge mit psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie mit medizinischer Inanspruchnahme« vergeben, in der u.a. die Verarbeitung von durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufenen Traumata in der deutschen Altenbevölkerung analysiert wird.

Im Berichtzeitraum war ein weiterer Arbeitsschwerpunkt die Mitarbeit bei der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« (W&F): Anne-Katrin Henseler arbeitet in der Redaktion mit, der Ehrenvorsitzende Prof. Dr. Gert Sommer betreut das Forum und vertritt den Verein im geschäftsführenden Vorstand. Prof. Dr. Wilhelm Kempf und Prof. Dr. Wolfgang Frindte sind FFP-Vertreter im W&F-Beirat.

K. Boehnke hat seine Mitarbeit im Committee for the Psychological Study of Peace (CPSP) als Senior Advisor fortgesetzt. Er wurde zudem in den Beirat der neuen im Nomos-Verlag erscheinenden »Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung« (ZeFKo) berufen. C. Cohrs setzte im Berichtsjahr seine Tätigkeit als Associate Editor der Zeitschrift »Peace and Conflict: Journal of Peace Psychology« fort.

Der Verein hat weiterhin in Publikationen, Vorträgen, Interviews und Leserbriefen zur Verbreitung psychologischer Erkenntnisse zur Friedenssicherung und Völkerverständigung beigetragen, u.a. durch K. Boehnke beim Bremer Friedensforum zur Militarisierung der Gesellschaft.

C. Cohrs betreute die Website des Forum Friedenspsychologie (friedenspsychologie. de).

J. Stellmacher moderierte die Mailing-Liste »Friedenspsychologie« (friedenspsychologie@lists.uni-marburg. de), in die man sich bei ihm (stellmac@staff.uni-marburg.de) eintragen lassen kann. Etwa 130 KollegInnen sind Mitglied der Liste, die insbesondere für friedenspsychologisch und friedenspolitisch relevante Informationen genutzt wird.

Das FFP hat sich durch C. Cohrs und M. Schroer-Hippel im Steering Committee an der weiteren Etablierung des International Network of Psychologists for Social Responsibility (INPsySR) beteiligt und während des europäischen Kongresses für Psychologie (4.-8.7.2011) in Istanbul ein Symposium zum Thema »Understanding and Embracing Diversity« durchgeführt.

Die Praktikumsliste des FFP wurde aktualisiert und um internationale Praktikumsmöglichkeiten (v.a. in Nordirland, Großbritannien und USA) ergänzt (vgl. FFP-Website). Zudem wird eine internationale Mailingliste zu friedenspsychologischer Forschung unterhalten (Anmeldung unter friedenspsychologie.de/inpsysr/?left%20projects).

Bei den Neuwahlen des Vorstandes wurde der bisherige Vorstand wieder gewählt: Vorsitzender Prof. Dr. Klaus Boehnke, zweite Vorsitzende Dipl.-Psych. Miriam Schroer-Hippel, Kassenwart Dipl.-Psych. Karl-Günther Theobald und als weitere Vorstandsmitglieder Dr. Christopher Cohrs und Dr. Jost Stellmacher.

Der Verein ist weiterhin (bis Ende 2014 ) als gemeinnützig anerkannt und berechtigt, entsprechende Spendenbescheinigungen für steuerliche Zwecke auszustellen. Das FFP hat derzeit 96 Mitglieder. Es ist besonders zu würdigen, dass das FFP seit 30 Jahren besteht (1982 gegründet, seit 1986 e.V.) und dass wir seit 25 Jahren kontinuierlich jährliche Fachtagungen durchführen.

gez. Prof. Dr. Klaus Boehnke (Vorsitzender)

Mitgliederversammlung und Vorstandssitzung (Auszüge)

Die 26. Tagung Friedenspsychologie wird im Juni 2013 in Bremen mit dem Arbeitstitel »Religion und Frieden« stattfinden und von K. Boehnke organisiert. W. Frindte bietet an, die 27. Tagung Friedenspsychologie im Juni 2014 in Jena durchzuführen.

Um den Kreis der aktiven FFP-Mitglieder zu erweitern und insbesondere jüngere Mitglieder stärker anzusprechen, soll ein Perspektivenworkshop am 18./19. Januar 2013 in Bremen stattfinden. Das Treffen wird von C. Cohrs, M. Schroer und J. Stellmacher organisiert.

Der Vorstand wird beauftragt, das Thema »(friedens-) politische Stellungnahmen des Vereins« zu diskutieren und Verfahrensvorschläge zu machen.

Jost Stellmacher bietet an, die Mailing-Liste mit einem Informationsteil anzureichern und diesen etwa einmal im Monat an die Liste zu versenden.

Die Rechte für das Buch »Krieg und Frieden – Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie« sind vom Beltz-Verlag auf die Herausgeber Gert Sommer und Albert Fuchs übergegangen. J. Stellmacher wird das Buch über die Website von G. Sommer ins Internet stellen.

Der Vorstand dankt W. Kempf für die sehr gelungene Tagung 2012.

gez. Gert Sommer

Tätigkeitsbericht 2009/2010

Tätigkeitsbericht 2009/2010

Forum Friedenspsychologie – Bewusst-Sein für den Frieden (FFP)

von Forum Friedenspsychologie

Im Berichtszeitraum (25.6.2009-16.6.2010) hat der Verein in vielfältiger Weise zur Untersuchung und Verbreitung von psychologischen Kenntnissen der Friedenssicherung, Abrüstung und Völkerverständigung beigetragen. Ein Schwerpunkt unserer Tätigkeit war die Durchführung der federführend vom Vorsitzenden des Forums Friedenspsychologie, Prof. Dr. Klaus Boehnke, organisierten 22. Tagung Friedenspsychologie vom 25.-28.6.2009 in Bremen. Die Tagung wurde gemeinsam mit der im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder geförderten Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS) durchgeführt. Die Tagung stand unter dem Motto »Attitude Formation, Value Change, and Intercultural Communication: Peace Psychology Perspectives« (gleichzeitig einer der Schwerpunkte der DoktorandInnenausbildung in BIGSSS) und hatte ca. 60 TeilnehmerInnen. Sie wurde von der Fachgruppe Sozialpsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) finanziell unterstützt.

Die Hauptvorträge der Konferenz hielten Prof. Ronald Inglehart, University of Michigan, USA, gleichzeitig Wisdom-Professor an der Jacobs University Bremen: »Cultural Change and the Democratic Peace Thesis«; Prof. Felicia Pratto, University of Connecticut, USA: »Why People Disregard International Humanitarian Law that they Say they Endorse«; Prof. Andreas Zick, Universität Bielefeld: »Attention Prejudice! – The Syndrome of Group-Focused Enmity and its Political Implications«; und Prof. Sonia Roccas, Open University, Israel: »Personal Values and Group Processes«. Der Vortrag von Ronald Inglehart wurde durch ein Rundgespräch von PolitikwissenschaftlerInnen und PsychologInnen zum Thema »Demokratie und Frieden« ergänzt. Zusätzlich zu den Hauptvorträgen gab es 16 weitere – zumeist in englischer Sprache gehaltene – Einzelvorträge.

Weiterer Höhepunkt war die Verleihung des Gert-Sommer-Preises für Friedenspsychologie, der 2009 doppelt vergeben wurde. Preisträgerinnen waren Dr. Johanna Vollhardt, University of Massachussetts, Amherst, »Victim Consciousness and its Effects on Intergroup Relations – a Double-Edged Sword« und Dr. Susanne Jaeger, Universität Konstanz, »Nachrichtenmedien als Ressource für Frieden und Versöhnung: Inhaltsanalytische Pressestudien zur westdeutschen Berichterstattung über Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg«. Beide Preisträgerinnen stellten ihre Promotionsprojekte in Vorträgen vor.

Wichtigster Tagesordnungspunkt der anlässlich der 22. Tagung Friedenspsychologie durchgeführten Mitgliederversammlung war die Neuwahl der vertretungsberechtigten Mitglieder des Vorstandes. Alle bisherigen Vorstandsmitglieder wurden in ihrem Amt bestätigt. (1. Vorsitzender: Prof. Klaus Boehnke; 2. Vorsitzende: Miriam Schroer; Kassierer: Karl-Günther Theobald; weitere Vorstandsmitglieder: Dr. Christopher Cohrs, Dr. Jost Stellmacher).

Im Berichtszeitraum war ein weiterer Arbeitsschwerpunkt die Mitarbeit bei der Zeitschrift »Wissenschaft & Frieden« (W&F), die von unserem Verein zusammen mit neun weiteren Organisationen herausgegeben wird und die die größte friedenswissenschaftliche deutschsprachige Zeitschrift ist. Unser Mitglied Prof. Albert Fuchs schied im Berichtsjahr aus der Redaktion von W&F aus Altersgründen aus; er gehört nunmehr dem Beirat von W&F an. Der Ehrenvorsitzende Prof. Gert Sommer betreut weiterhin die Nachrichten aus dem Verein, die im »Forum« von W&F erscheinen. Unsere Mitglieder Prof. Wilhelm Kempf, Konstanz, und Prof. Wolfgang Frindte, Jena, unterstützen weiterhin die Arbeit von W&F durch ihre Mitgliedschaft in deren Beirat.

Christopher Cohrs betreute im Berichtsjahr weiterhin die Website des Forums Friedenspsychologie (www.friedenspsychologie.de). Wilhelm Kempf ist weiterhin Herausgeber der Fachzeitschrift »Conflict and Communication online« (www.cco.regener-online.de).

Im Berichtsjahr hat das Forum Friedenspsychologie zum vierten Mal den mit Euro 500 dotierten Gert-Sommer-Preis für friedenspsychologische akademische Abschlussarbeiten ausgelobt. Der als Jury fungierende Vorstand des FFP hat den Preis 2010 an Sarah Koch für ihre Diplomarbeit »Gute Gründe für Nuklearwaffen? Rekonstruktion persönlicher Argumentationssysteme politischer Akteure im Sicherheitsdiskurs« vergeben (siehe diese Ausgabe von W&F: Sarah Maria Koch, Gute Gründe für Nuklearwaffen?).

Das Forum Friedenspsychologie hat sich im Berichtszeitraum durch die Vorstandsmitglieder Christopher Cohrs und Miriam Schroer im Steering Committee an der weiteren Etablierung des International Network of Psychologists for Social Responsibility (INPsySR) beteiligt. Im Rahmen des Europäischen Kongresses für Psychologie (ECP) in Oslo vom 7.-10. Juni 2009 organisierten die Mitglieder des Steuerungskomitees drei wissenschaftliche Symposien, ein Treffen über psychosoziale Arbeit im Gazastreifen und im Libanon, die Vorführung und Diskussion des Films »Interrogate this« (Marianne Galvin) zur Rolle US-amerikanischen MilitärpsychologInnen in der Terrorbekämpfung sowie eine offene Mitgliederversammlung. Im Rahmen der 23. Jahrestagung des Forums Friedenspsychologie 2010 findet auch ein Tagungsprogramm des INPsySR mit insgesamt fünf Workshops u.a. zu den Themen Gender, Konfliktbearbeitung und Versöhnung im Nachkrieg statt. Zudem wird ein Workshop mit Praktikerinnen aus der Flüchtlingsarbeit angeboten und die Mitgliederversammlung des Netzwerks durchgeführt.

Klaus Boehnke hat seine Mitarbeit im Committee for the Psychological Study of Peace (CPSP) als Senior Advisor fortgesetzt. Klaus Boehnke und Christopher Cohrs haben im Berichtsjahr ihre Tätigkeit im Editorial Board der Zeitschrift »Peace and Conflict: The Journal of Peace Psychology« fortgesetzt; Klaus Boehnke hat diese Tätigkeit dann im Berichtsjahr nach zehn Jahren beendet.

Der Verein hat weiterhin in Publikationen, Vorträgen, Interviews und Leserbriefen zur Verbreitung psychologischer Erkenntnisse zur Friedenssicherung und Völkerverständigung beigetragen.

Zwölf WissenschaftlerInnen (zumeist FFP-Mitglieder) haben mit zehn Beiträgen den Schwerpunkt »Psychologie die Friedens« der Zeitschrift »Friedensforum – Zeitschrift der Friedensbewegung« (Heft 1/2010) gestaltet.

Vorstandsmitglied Jost Stellmacher moderierte auch im Berichtsjahr die Mailing-Liste »Friedenspsychologie« (friedenspsychologie@lists.uni-marburg. de; Anmeldungen bei stellmac@Staff.Uni-Marburg.de). Es sind mittlerweile 121 KollegInnen Mitglieder der Mailing-Liste, die zeitweise intensiv und kontrovers zur Weitergabe friedenspsychologisch relevanter Informationen genutzt wird. Christopher Cohrs und Jost Stellmacher haben im Juni 2009 eine NutzerInnenbefragung zur Akzeptanz der Mailing-Liste durchgeführt, deren Ergebnisse auf der Vorstandssitzung in Bremen diskutiert und an die Mailing-Liste rückgemeldet wurden.

Im Berichtszeitraum trat der Vorstand zweimal zusammen (am 28.06.2009 in Bremen und am 1.05.2010 in Hannover). Dabei wurden u.a. folgende Themen bearbeitet: Nachbereitung der Fachtagung in Bremen, Vorbereitung der 23. Fachtagung in Bielefeld, Vergabe des Gert-Sommer-Preises für Friedenspsychologische Akademische Abschlussarbeiten, FFP-Faltblatt, Mailingliste, Vertretung des FFP bei W&F, insbesondere in der Redaktion.

Der Verein ist weiterhin als gemeinnützig anerkannt. Er hat derzeit 92 Mitglieder; im Berichtszeitraum gab es 3 Austritte und 9 Eintritte. Zwei Nichtmitglieder haben über den Verein die Zeitschrift »Wissenschaft & Frieden« abonniert, die den Mitgliedern automatisch zugeht.

Es ist besonders zu würdigen, dass unsere Gruppierung seit nunmehr 28 Jahren besteht (1982 gegründet, seit 1986 e.V.) und dass wir seit 23 Jahren kontinuierlich jährliche Fachtagungen veranstalten.

gez. Prof. Dr. Klaus Boehnke (Vorsitzender)

Paramilitärische Bestrafung in Nordirland

Paramilitärische Bestrafung in Nordirland

Eine situationsbezogene Methodologie zu ihrer Erforschung

von Dermot Feenan

Dieser Beitrag befasst sich mit einer Reihe von methodologischen Fragen, die bei der Erforschung von paramilitärischem Bestrafungshandeln in Nordirland auftreten. Diese Fragen betreffen – allgemein formuliert – den Zugang, die Sicherheit und rechtliche Dimensionen. Da diese Aspekte im weiteren Sinne im Feld der sogenannten »gefährlichen« oder »heiklen« Forschung verortet sind (Lee 1993, 1995), erfordert die Umsetzung methodologische Sensitivität hinsichtlich des zeitlichen, örtlichen und kulturellen Kontextes.1

Ziel des Forschungsprojekts war es, zum Verstehen paramilitärischen »Polizeiverhaltens« beizutragen, indem Art und Umfang von »bestrafenden« Angriffen und Einschüchterungen dokumentiert und Gründe für die allgemeine Ausbreitung dieser Aktivität identifiziert werden. Darüber hinaus ging es um die Erfassung der Sichtweisen der Mitglieder der Gemeinden, die Bewertung möglicher Strategien zur Prävention und Reduzierung dieses Verhaltens sowie um die Auswertung der Reaktionen von ehrenamtlichen und auf gesetzlicher Grundlage handelnden Akteuren gegenüber diesem Phänomen (Feenan 2002a). Die Forschung fand in einer Konstellation eines hoch aufgeladenen politischen, häufig auch gewaltförmig ausgetragenen Konflikts zwischen dem britischen Staat und – meist republikanischen – paramilitärischen Organisationen sowie zwischen republikanischen und loyalistischen Paramilitärs statt.

Paramilitärische Bestrafung

Paramilitärische Bestrafung hat die charakteristischen Besonderheiten rudimentärer Rechtssysteme, darunter: eine organisierte Struktur und Mitarbeiter, eindeutig definierte »Verbrechen«, Verbrechensprävention, Verfahrensregeln (incl. Ermittlung, Beschluss über Schuld oder Unschuld, Gerichtsurteil und Bestrafung), Strafrahmen sowie strafmildernde Umstände.

Trotz einiger Unterschiede hinsichtlich Ideologie, Motivationen und Praktiken haben die loyalistischen und die republikanischen Bestrafungen bemerkenswerte Ähnlichkeiten hervorgebracht. Die Bestrafungen reichen von Warnungen bis hin zu gewaltsamen physischen Angriffen oder Schießereien. Zu ihnen gehören aber auch: Ausgrenzungen, Hinrichtungen, die Beschädigung von Eigentum und Einschüchterung.

Problemfelder

Die Forschung hat zwischen Juli 1998 und dem Jahr 2000 in einer Zeit nachhaltigen politischen Übergangs stattgefunden. Das Belfast-Abkommen vom Frühjahr 1998 hat Republikaner und Loyalisten, jedoch insbesondere die Republikaner, unter erheblichen Druck seitens der britischen und der irischen Regierungen sowie der innerstaatlichen politischen Mitbewerber gesetzt, die paramilitärischen Bestrafungen einzustellen. Mit dem Versuch, Zugang zu denjenigen zu finden, die Bestrafung ausgesetzt waren, und denen, die eng genug mit den Paramilitärs verbunden waren, um mit einer gewissen Autorität über die Praktiken der Bestrafung Auskunft zu geben, waren verschiedene Problemfelder verbunden.

Persönliche Sicherheit

Es gibt eine Vielzahl von Gefahren bei der Erforschung paramilitärischer Gewalt. Diejenigen, die verdächtigt werden, Informationen an die »andere« Seite auf dem Schauplatz des gewaltsamen politischen Konflikts weiter zu geben, können Risiken ausgesetzt sein. Die Ermordung von »Tippgebern« bzw. »Informanten« ist ein bekanntes Phänomen in Nordirland. Dieses Risiko trifft auch Forscher (Guelke 1998).

Aus diesem Grund wurde bei der Feldforschung einem umsichtigen Sicherheitsprotokoll gefolgt. Die Einstellung der Militäroperationen der Provisorischen IRA und des Vereinigten Loyalistischen Militärkommandos im Jahr 1994 und der Rückgang konfessionsgebundener Morde bis und während der Forschungsperiode bedeutete, dass es wenig Risiko gab, in chaotische Unruhen verwickelt zu werden. Es bestanden aber weiterhin kleinere Risiken in einem Sinne, den Yancey und Rainwater (1970) als Risiken der »Präsentation« im Zuge der Befragung bezeichnen, und im gelegentlichen Auftreten von Aufruhr. Dies bedeutete, sich der Umgebung bewusst zu sein, in der die Interviews geführt wurden, und – zumindest anfänglich – die Durchführung eines Teils der Feldforschung als Paar bis Vertrautheit mit den Schauplätzen hergestellt war. Ebenso waren die Planung sicherer Zutritts- und Ausgangsrouten durch paramilitärische Enklaven und – wo möglich – die Auswahl sicherer Orte zur Durchführung der Befragungen, z.B. in den Büros der Bewährungshilfe, von Bedeutung. Besondere Vorsicht war in den Wochen vor und nach dem 12. Juli geboten – dem Tag, an dem in vielen Teilen Nordirlands die Aufmärsche des Oranje-Ordens stattfanden, der verbreitet von Gewalt begleitet war. Solche Vorsichtsmaßnahmen bestanden häufig darin, vor der Fahrt zur Arbeit und vor der Rückkehr die Verkehrsnachrichten im Radio zu verfolgen, um sichere Fahrtrouten jenseits bereits blockierter oder potenziell gesperrter Strecken einzuplanen. Gleichwohl erlebten wir bei der Rückkehr von einem Interview in einer republikanischen Hochburg typische Straßengewalt. Als wir mit dem Wagen die Stätte des Interviews verließen, hielt ein Polizeifahrzeug vor uns. Sofort und scheinbar aus dem Nichts begannen mehrere Jugendliche damit, Steine auf den Polizeiwagen zu werfen. Die Trümmer prallten vom Fahrzeug ab und zerstoben vor uns. Während Gefährdungen der physischen Sicherheit in Nordirland handhabbar sind, erwies sich der Zugang zu wichtigen Informanten im Kontext lang anhaltender politischer Gewalt als echte Herausforderung.

Herstellen der Vertrauensbasis

Sozialwissenschaftliche Forschung in den städtischen Arbeitervierteln Nordirlands betont die Notwendigkeit der Herstellung eines Vertrauensverhältnisses. Dies ist besonders wichtig bei der Frage der paramilitärischen Bestrafung, da die jeweiligen Gemeinschaften die sozialen Milieus sind, aus denen die Paramilitärs hervorgehen und durch die sie ihre Unterstützung erhalten. Paramilitärische »Bestrafung« häuft sich in städtischen Arbeitervierteln loyalistischer oder republikanischer Orientierung, den traditionellen Zentren der Paramilitärs. Es wäre sinnlos gewesen, den Versuch zu unternehmen, diese Praktiken zu verstehen, indem man jene Gemeinden betritt, die aufrichtige Abscheu gegenüber dieser Praxis geäußert haben. Zudem sind viele dieser Gemeinden eng verbunden und in Frontstellung gegenüber externen konfessionellen oder militärischen Bedrohungen. Einige der städtischen Viertel der Arbeiterklasse der Hauptstadt Belfast sind noch immer durch sogenannte »Friedensmauern« voneinander getrennt. Sie sind territoriale Räume, die durch visuelle und andere Zeichen ethno-nationalistischer Identität markiert sind. Dies bedeutet, dass Fremde auffällig sind und ihnen mit Argwohn begegnet wird. Der Fremde könnte aufgefordert werden, seine/ihre Anwesenheit zu begründen und den guten Willen unter Beweis zu stellen. Im Rahmen unserer Forschung war es notwendig, in den untersuchten Gemeinden eine Vertrauensbasis und Neutralität zu schaffen.

Der Argwohn, den die Gemeinden – einschließlich der Paramilitärs – gegenüber Außenstehenden haben, wirkt sich auch auf die staatlichen Sicherheitskräfte als Wachsamkeit gegenüber paramilitärischen Forschern aus, d.h. Spione mit keiner sichtbaren Verbindung zu paramilitärischen Organisationen.

Zudem achteten die Forscher darauf, angesichts der tief sitzenden Feindschaft zwischen republikanischen und loyalistischen Paramilitärs nicht einer Seite zugeneigter zu erscheinen. Einige der Befragten hatten sofort den Verdacht, dass es anderweitige Motive für die Forschung gebe. Dieser Verdacht führte im schlechtesten Fall dazu, den Zugang unmöglich zu machen oder wenigstens die Datensammlung erheblich einzuschränken. Zwei Taktiken erwiesen sich als wirkungsvoll im Umgang mit diesem Problem.

Erstens war es zentral, sich die »Anerkennung« von wichtigen Interessengruppen zu sichern. Die Durchführung der Befragung erforderte die stillschweigende Zustimmung seitens der Paramilitärs oder zumindest eine Information darüber, dass Feldforschung dieser Art durchgeführt wurde und welchem Zweck diese diente. Da es in Nordirland weithin akzeptiert ist, dass bestimme politische Parteien eine enge Verbindung zu den Paramilitärs haben (trotz offizieller Dementis oder der Verschleierung des Wesens der Beziehung), informierten wir die relevanten politischen Parteien über unser Interesse und den Bedarf an Kooperation. Es war nicht zu erwarten, dass sie unsere Forschung offiziell ablehnen würden, da sie offiziell die »Bestrafungs« aktionen ablehnten und ihre Reputation im Friedensprozess aufs Spiel gesetzt hätten, wenn der Vorwurf der Nichtzusammenarbeit mit Forschern im Feld erhoben worden wäre. Dennoch war es sicher der Entscheidung der politischen Parteien und ihren zahlreichen Basisaktivisten überlassen, ob sie die Feldforschung durch fehlende Bereitschaft sich zu treffen oder die Beeinflussung des Fortgangs des Forschungsvorhabens konterkarierten. Die Einbeziehung von Vertretern dieser Parteien bei einigen unserer Treffen unterstrich, dass guter Glauben und Vertrauen etabliert werden konnten. Ein Teil unserer Vertrauenswürdigkeit entstand durch die Anerkennung seitens wichtiger ehrenamtlicher Gemeindegruppen und einer Körperschaft (des Büros für Bewährungshilfe), die über Anerkennung in den Gemeinden verfügt.

Die zweite Taktik zur Herstellung einer Vertrauensbasis war die Betonung der Unabhängigkeit der Forschenden. Ein wichtiger Aspekt dabei war die Art der Finanzierung des Projektes. Da die Regierung von einigen der Interviewten als ein zentraler Akteur des Konflikts angesehen wird, wäre jede Finanzierung aus dieser Quelle als Parteinahme für den Feind gewertet und die Motive für das Projekt in Frage gestellt worden. Die Tatsache, dass das Projekt vom Economic and Social Research Council finanziert wurde und an einer Universität angesiedelt war, wies auf eine Unabhängigkeit hin, die anders schwer zu sichern gewesen wäre. Als ich von der RUC zur Teilnahme an informellen Mittagessen eingeladen wurde, lehnte ich deshalb auch ab, weil dies von den Informanten als eine zu enge Beziehung zur Polizei hätte angesehen werden können. Dies hätte zu einer Befangenheit geführt – oder noch schlimmer – zum Risiko, dass man unterstellt hätte, wir würden Geheimdienstinformationen über Paramilitärs beschaffen.

Offenheit und Transparenz

Angesichts des Argwohns und der möglichen Gefahr bedarf es besonderer Sorgfalt bei der Forschung in solchen Gemeinschaften. Um paramilitärisches »Polizeiverhalten« in Nordirland zu verstehen, bedarf es Fragen nach den Motiven, den Methoden, der Unterstützung für die Aktionen der Paramilitärs in den Gemeinden sowie der Erkundung alternativer Wege des Umgangs mit anti-sozialem Verhalten, welchem ebenfalls mit gewissem Argwohn begegnet wird. Burton (1978) berichtet, dass junge Leute, die ihn in der Frühphase seiner ethnographischen Forschung in Belfast besuchten und ihm einfach neugierig auf den englischen »Studenten« zu sein schienen, seine Aktivitäten und Ansichten an die IRA meldeten. Solche Ausforschung ist gerade dann wahrscheinlich, wenn der Forscher der »anderen« Gemeinschaft zugerechnet wird. Befragte Personen können sich an dem Prozess des »Erzählens« über die Identität eines Fremden beteiligen, indem sie dem Äußeren und dem Auftreten, dem Namen, dem Wohngebiet, der besuchten Schule und dem Akzent bzw. der Sprache soziale Bedeutung zuweisen (Burton 1978). Forscher sollten sich dem stellen, indem sie offen sind und ihre Identität und ihre Ziele transparent machen. Außerdem sollten sie die Unparteilichkeit des Projekts gegenüber den jeweils dominanten politischen Erwartungen verdeutlichen. Besondere Fürsorge wurde ergriffen, wenn der Argwohn zugespitzt war, etwa bei Anfragen zur Bandaufzeichnung eines Gesprächs zum Zwecke der Datenanalyse.

Es war ebenfalls unentbehrlich, dass wir die Namen von Informanten nicht mitteilten, besonders in Befragungssituationen – egal wie harmlos ihre Identität zu sein schien. Verschiedene erfahrene Feldforscher wiesen mich darauf hin, dass eine solche Bekanntgabe in manchen Vierteln sofort als Unfähigkeit betrachtet würde, Identitäten (und möglicherweise andere sensible Informationen) für sich zu behalten.

Ein Ansatz, der sich als nützlich für die Herstellung von Transparenz erwies, war ein Faltblatt mit Informationen über Projektdetails (Zielsetzung, Zweck, Methodologie, usw.), welches Teilnehmern an Interviews im Vorwege zugesandt wurde und deutlich machte, dass uns daran gelegen war, paramilitärische Gewalt zu verstehen, wir selbst aber Gewalt ablehnend gegenüberstanden.

Politisch sensitive Sprache

Ein wichtiger Aspekt bei der Forschung war die politische Sensitivität der Sprache durch die Forscher. Sprache in Nordirland wird dazu benutzt, kollektive Solidarität auszudrücken oder vorzuenthalten in einer Weise, die Außenstehenden undurchsichtig sein kann. Die Verwendung von politisch unsensitiver Sprache kann zu einem eingeschränkten Feldzugang führen oder den Eindruck der Voreingenommenheit hervorrufen. Am ehesten treten Probleme bei der Verwendung des Begriffs »Nordirland« auf. Nordirland ist die Bezeichnung für die förmliche politische Einheit, wie sie durch den Government of Ireland Act 1920 geschaffen wurde. Nationalisten verwenden den Begriff »Sechs Grafschaften« oder »der Norden Irlands«, während Unionisten die Bezeichnung »Ulster« oder »Nordirland« bevorzugen.

Der Anwendungsbereich politisch sensitiven Sprachgebrauchs erstreckt sich auch auf die Namen von Orten. Beispielsweise nennen Nationalisten die zweitgrößte Stadt in Nordirland Derry. Unionisten erwähnen es als Londonderry. In Interviews mit Nationalisten und besonders mit Republikanern haben wir darauf geachtet, vom »Norden« statt von »Nordirland« und von »Derry« statt von »Londonderry« zu sprechen.

Jenseits der Verwendung von allgemeinen politischen Labeln hat diese spezielle Forschung ihre eigenen Schwierigkeiten in der Forschungssprache hervorgebracht. Der Begriff »Bestrafung« wurde von einigen Kontaktpersonen als unzulänglich zur Beschreibung des Phänomens eingestuft. Andere waren überzeugt, dass er solche Gewalt als verdiente Aktivität legitimiert. Eine Organisation, die als gatekeeper agierte, aber in manchen republikanischen Gegenden auch geschmäht wurde, verwandte die Bezeichnung »Verstümmelungsangriff«. Die Forscher versuchten Begriffe zu vermeiden, die wertend erschienen (und damit die Arbeit im Feld nachteilig beeinflussen), indem sie von »sogenannter Bestrafung« sprachen.

Ich habe auch vermieden, in Verbindung mit Paramilitärs die Begriffe Terrorismus/Terroristen zu verwenden – im Bewusstsein, dass politische Gewalt in den republikanischen und loyalistischen Gemeinden, in denen ich Interviews durchführte, von den wichtigen Informanten als legitim betrachtet wird. Stattdessen habe ich neutrale Formulierungen wie »politische Gewalt/paramilitärische Aktivität« beziehungsweise »Kämpfer/Paramilitärs« verwendet – Begriffe, die in jener Zeit zunehmend von den Paramilitärs, ihren politischen Gefährten und von jenen benutzt wurden, die an einer vorurteilsfreien Analyse des politischen Konflikts interessiert waren. Zudem versuchte die Forschung zu vermeiden, sich auf die Zielgruppe als »Opfer« zu beziehen. Der Begriff war hochpolitisiert worden, insbesondere seit das Belfast Abkommen 1998 das Bedürfnis anerkannt hatte, die »Opfer« der Unruhen zu ehren.

Zugang zu den Bestraften

Angesichts des politischen Hintergrundes und der begleitenden Risiken, wenn man in Nordirland offen über politische Gewalt spricht, und trotz unserer strategischen Sensitivität war es in der Anfangsphase unserer Forschung aufgrund der Angst weiterer Angriffe, von Scham und zerstörten Lebensmustern extrem schwer, Zugang zu jenen zu bekommen, die von paramilitärischen »Bestrafungen« betroffen waren.

Diese Herausforderung des Interviewens derjenigen, die der »Bestrafung« ausgesetzt waren, ist mit einer Vielzahl weiterer psychologischer Faktoren verbunden. Ein von uns interviewter Berater machte deutlich, dass manche »Bestrafung« an Erfahrungen sexueller Misshandlung im Kindesalter erinnern könne. Die Wiederkehr eines solchen Ereignisses könne extrem belastend sein. Außerdem existiert ein Stigma im Zusammenhang mit der »Bestrafung«, das gegen eine Bekanntmachung spricht. Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge hat die bestrafte Person die »Bestrafung« schon irgendwie verdient – auch wenn der Angriff brutal war.

Gesetzliche Probleme

Angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass während der Erforschung paramilitärischer Gewalt Straftaten aufgedeckt werden, bestand ein Aspekt bei der Vorbereitung des Interviewgeschehens darin, wie mit dem Bekanntwerden von kriminellen Handlungen oder mit der Absicht solche auszuführen umzugehen sei (Feenan 2002b). Routinemäßige Befragungen von Verdächtigen durch die Polizei kann ergeben, dass die Interviewer Kenntnis von einem Delikt erhalten haben, das hätte mitgeteilt werden müssen. Die Gefahr der Festnahme und einer möglichen Beschlagnahme von Material hätte substanziell abträgliche Auswirkungen auf die Forscher, die gastgebende Institution, die Finanziers des Projekts und die Möglichkeit eines Zugangs zu weiteren Kontakten. Auf der anderen Seite kann die Nichtmitteilung von Informationen über ein aufhaltbares Vergehen zu schweren Delikten führen, die nicht ermittelt werden. So bestand bei der Durchführung der Interviews ein Spannungsverhältnis zwischen der Deklaration, dass ein Interesse an spezifischen Informationen über Delikte aus Respekt gegenüber dem Interviewten und um die eigene juristische Situation abzusichern nicht bestehe einerseits und der Hemmung bzw. Einschüchterung der Interviewten durch ein Verhalten, das als Vorlesen des Aussageverweigerungsrechtes hätte erscheinen können, andererseits.

Aus diesem Grunde verständigte man sich zu Beginn des Interviews darauf, dass ein Interesse an tatsächlichen Namen oder identifizierbaren Details nicht bestünde. Dennoch war es in zwei Fällen notwendig, die Interviewten daran zu erinnern, das solche Informationen nicht erforderlich waren.

Schlussfolgerung

Meine Forschungen zum paramilitärischen »Bestrafen« in Nordirland betonen eine Reihe von methodologischen Problemen, die Implikationen für ähnlich gelagerte Forschung andernorts haben können (vgl. Nordstrom & Robben 1996). Sicherlich haben sich Beschaffenheit und Ausmaß der politischen Gewalt – einschließlich der paramilitärischen Bestrafungen – im Rahmen der jüngsten politischen Entwicklung verändert bzw. vermindert. Dennoch erforderte die Forschung eine methodologische Sensitivität gegenüber den zeitlichen, örtlichen und kulturellen Besonderheiten einer spezifischen Situation, d.h. Nordirland in einer Zeit der unsteten Abkehr von der politischen Gewalt. Eine solche Sensitivität erfordert Aufmerksamkeit gegenüber vorhersagbaren Gefahren und Flexibilität bei der Annäherung an Probleme, die sich im Feld ergeben. Fortschritte in der Forschung hingen von der erfolgreichen Bearbeitung der Aspekte Enthüllung, sprachliche Sensitivität und perzipierte Identifikation mit allen Parteien ab. Die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses mit den gatekeepern war Voraussetzung für den Zugang. Die Befragung der von paramilitärischem »Bestrafen« Betroffenen war schwierig, da diese Gruppe unsichtbar ist und verschiedene Befürchtungen hat.

Während das Risiko der physischen Verletzung gering war, konnte eine erfolgreiche Gesprächsführung im politischen Minenfeld durch Transparenz bezüglich der Unparteilichkeit, die finanzielle Unabhängigkeit der Forscher und eine strategische Sensitivität gegenüber den Gemeinschaften und politischen Hintergründen erreicht werden. Die allgemeinen Fragen dieser Forschung mögen nicht einzigartig sein. Sollte diese Forschung wiederholt werden, z.B. in 20 Jahren, würden die veränderten politischen Umstände auch eine veränderte Methode erfordern. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, dass die jeweiligen Methoden unter genauer Berücksichtigung von Zeit, Ort und Kultur des Forschungsfeldes gewählt werden müssen.

Literatur

Burton, F. (1978): The Politics of Legitimacy: Struggles in a Belfast Community. London: Routledge & Kegan Paul.

Feenan, D. (2002a): Researching Paramilitary Violence in Northern Ireland, in: International Journal of Social Research Methodology, 5(2): 147-163.

Feenan, D. (2002b): Legal Issues in Acquiring Information about Illegal Behaviour through Criminological Research, in: British Journal of Criminology, 42(4): 762-81.

Guelke, A. (1998): The Age of Terrorism and the International Political System. London: I.B. Tauris.

Lee, R. (1995): Dangerous Fieldwork. Thousand Oaks, CA: Sage.

Lee, R. (1993): Doing Research on Sensitive Topics. London: Sage.

Nordstrom, C. & Robben, A. C. G. M. (eds) (1996): Fieldwork Under Fire. Berkeley: University of California Press.

Yancey, W. & Rainwater, L. (1970): Problems in the ethnography of urban underclasses, in R. W. Habenstein (ed): Pathways to Data. Chicago: Aldine.

Anmerkungen

1) Dieser Beitrag fasst die Überlegungen des Autors zusammen, die er bei der Konferenz »Methoden der Friedensforschung« an der Universität von Tromsø (21.-23. März 2007) unter dem Titel »Situational Methods: Researching Paramilitary Punishment in Northern Ireland« vorgestellt hat.

Dermot Feenan lehrt an der School of Law der University of Ulster. Übersetzung: Fabian Virchow

Lehre in Friedenspsychologie an deutschsprachigen Universitäten: Eine Bestandsaufnahme für 1992 bis 1994*

Lehre in Friedenspsychologie an deutschsprachigen Universitäten: Eine Bestandsaufnahme für 1992 bis 1994*

von Gert Sommer / Ulrich Wagner

Angesichts der weltweit in Anzahl und Ausmaß unverändert sich fortsetzenden gewalttätigen und kriegerischen Auseinandersetzungen sollte die Behandlung des Themas Frieden zu den wesentlichen Aufgaben universitärer Forschung und Lehre gehören (zur Begriffsbestimmung von Frieden und Gewaltlosigkeit vgl. Galtung, 1975; Kempf, Frindte, Sommer & Spreiter, 1993; Sommer, in Druck; zur allgemeinen akademischen Friedenslehre siehe Kinkelbur, 1994; zur Analyse der allgemeinen Friedensforschung und -lehre in Nordrhein-Westfalen vgl. Lammers & Schmidt, 1994). Diese Aufgabe sollte auch psychologische Fragestellungen umfassen (R.V. Wagner, 1988).

Ziel der hier vorgestellten Befragung war es, die aktuelle Repräsentanz von Friedenslehre in der universitären Ausbildung im Fach Psychologie zu ermitteln. Im Frühjahr 1994 wurden dazu alle deutschsprachigen Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit Psychologischen Instituten bzw. Fachbereichen angeschrieben, die einen Studiengang mit Hauptdiplom in Psychologie anbieten (Klassifikation A im Anschriftenverzeichnis des Psychologen-Kalenders, Hogrefe, 1994; bei mehreren Instituten an einer Universität wurden alle angeschrieben). Die Empfänger wurden gebeten, in einem Fragebogen zu beschreiben, ob in dem viersemestrigen Zeitraum zwischen Wintersemester 1992/3 und Sommersemester 1994 Lehrveranstaltungen aus sieben von uns vorgegebenen Themen der Friedenspsychologie angeboten wurden. Darüber hinaus wurde nach der Häufigkeit des Angebotes dieser Veranstaltungen und dem Umfang der Friedensthematik in den genannten Veranstaltungen gefragt. In dem eine Seite langen Fragebogen wurden die Antwortkategorien vorgegeben, zudem waren kurze inhaltliche Stellungnahmen möglich.

Von den 60 angeschriebenen Universitäten haben 31 geantwortet; davon haben 23 im Untersuchungszeitraum mindestens eine Veranstaltung zum gegebenen Themenbereich angeboten. Die insgesamt gemeldeten 35 Veranstaltungen waren von den Befragten wie folgt den vorgegebenen Themenblöcken zugeordnet worden (Mehrfachnennungen waren möglich):

  • Ethnische und nationale Vorurteile und Feindbilder: 11
  • Psychologische Bedingungen von Gewalt und Gewaltlosigkeit: 9
  • Gewaltfreie Konfliktlösungen: 8
  • Politische Einstellungen und Konflikte: 4
  • Auswirkungen von Krieg und Kriegsdrohung: 2
  • Psychologische Aspekte von Rüstung und Abrüstung: 1
  • Psychologische Dimensionen von Kriegsursachen: 1.

Die Befragten wiesen einer Restkategorie „sonstige“ sieben weitere Veranstaltungen mit den folgenden Themen zu: Rechtsextremismus/Ausländerfeindlichkeit, Masse und Massenhandeln, Zivilcourage, Menschenrechte, politische Psychologie, Beziehungskonflikte, Macht in Psychotherapien.

Aus der Aufstellung wird deutlich, daß der Großteil der Nennungen sich auf klassische sozialpsychologische Themen bezieht (die 20 Nennungen unter den Kategorien 1 und 2): Vorurteile und Gewalt. Darüber hinaus haben zwei Veranstaltungen eine primär klinisch-psychologische Orientierung. Lehrveranstaltungen mit dem engeren Schwerpunkt Friedenspsychologie sind also wenig vertreten. Anders gewendet kann festgestellt werden, daß friedenspsychologische Themen in einigen sozialpsychologischen Lehrveranstaltungen durchaus behandelt wurden.

Bezogen auf die Häufigkeit bzw. Regelmäßigkeit des Veranstaltungsangebots ergibt sich, daß 6 der insgesamt 35 gemeldeten Veranstaltungen in jedem Semester angeboten werden, 6 in jährlichem und 3 in zweijährigem Rhythmus. 15 Veranstaltungen gehören somit zum regelmäßig wahrnehmbaren Angebot der jeweiligen Universitäten. Von diesen regelmäßigen Lehrveranstaltungen sind 5 sozialpsychologische Vorlesungen bzw. Seminare. Der Anteil von regelmäßigen Lehrveranstaltungen zum Thema Friedenspsychologie im engeren Sinne ist somit gering.

Die Befragten waren schließlich gebeten anzugeben, welchen Anteil die oben genannten sieben friedenspsychologischen Themenbereiche an den Veranstaltungsinhalten ausmachen. Dabei ergab sich folgende Klassifikation in die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten:

  • 100<0> <>% der Inhalte: 4 Veranstaltungen
  • mindestens 50<0> <>%: 2
  • mindestens 25<0> <>%: 9
  • weniger als 25<0> <>%: 8
  • keine Angaben: 12.

Insgesamt ist somit das Angebot an Veranstaltungen, die sich inhaltlich überwiegend – d.h. mit mindestens 50<0> <>% – mit dem Thema Friedens- und Konfliktforschung befassen, mit einer Zahl von 6 Veranstaltungen ausgesprochen gering. Die Themen dieser Veranstaltungen lauten: Friedens- und Konfliktforschung, Zivilcourage, Krieg – Ausdruck gesellschaftlicher Krankheit?, Flüchtlingsprojekt, Ist unser Land ein volles Boot?, Forschungsseminar Friedensforschung.

Werden die Merkmale „Regelmäßigkeit einer Lehrveranstaltung“ und „Anteil an Friedenspsychologie“ kombiniert, dann ergibt sich folgendes Ergebnis: Von den 15 regelmäßig angebotenen Lehrveranstaltungen haben lediglich zwei einen substantiellen Anteil ( 50<0> <>%) an friedenspsychologischen Themen (vier weitere haben einen Anteil von 25<0> <>%). Dies bedeutet, daß an allen deutschsprachigen Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammengenommen pro akademischem Jahr regelmäßig insgesamt eine Lehrveranstaltung angeboten wird, die sich substantiell mit friedenspsychologischen Themen beschäftigt.

Wenn wir die gemeldeten Lehrveranstaltungen nach ihren Titeln und nicht nach den von uns vorgegebenen sieben Themenschwerpunkten analysieren, dann befassen sich sechs Veranstaltungen mit Rechtsextremismus bzw. Fremdenfeindlichkeit, also einem Thema, das zumindest zum Befragungszeitraum in Deutschland und Europa von großer gesellschaftspolitischer Relevanz war. Drei dieser Veranstaltungen wurden explizit nur einmal angeboten.

Die Ergebnisse unserer Befragung machen deutlich, daß das Thema »Frieden« in der deutschsprachigen akademischen Lehre in der Psychologie nur unangemessen repräsentiert ist. Denkbar ist natürlich, daß an einigen Universitäten, die auf unsere Anfrage nicht geantwortet haben, weitere Lehrveranstaltungen zum Thema Friedenspsychologie angeboten werden. Wir halten dies aber nicht für wahrscheinlich, da auch mit weiteren Recherchen (u.a. Lammers & Schmidt, 1994; jährliche Fachtagungen zur Friedenspsychologie) keine zusätzlichen Lehrangebote ausfindig zu machen waren.

Mit der – gemessen an der gesellschaftlichen Bedeutung des Themas – offensichtlich unzureichenden Behandlung von Friedenspsychologie in der deutschsprachigen akademischen Lehre besteht nicht nur die Gefahr, daß die deutschsprachige Psychologie mehr und mehr in die Situation gerät, an einer bedeutsamen Entwicklung in der internationalen Psychologie nicht teilzuhaben (vgl. Sleek, 1996); darüber hinaus ist zu erwarten, daß die relevanten psychologischen Aspekte der Entstehung von Konflikten und Kriegen, der gewaltfreien Konfliktaustragung und der Herstellung von Frieden nur unzureichend Berücksichtigung finden – mit den entsprechenden sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen.

Literaturverzeichnis

Galtung, J. (1975). Strukturelle Gewalt. Hamburg: rororo.

Kempf, W., Frindte, W., Sommer, G. & Spreiter, M. (Hrsg.)(1993). Gewaltfreie Konfliktlösungen. Heidelberg: Asanger.

Klinkelbur, D. (1994). Akademische Friedenslehre. In B. Dietrich, P. Krahulec, C. Ludwig-Körner & K. Seyffarth (Hrsg.), Den Frieden neu denken (S. 171-188). Münster: Agenda.

Lammers, C. & Schmidt, H. (1994). Zum Stand der Friedenswissenschaft (Friedensforschung, Friedenslehre) an den Hochschulen in Nordrhein-Westfalen. Ministerium für Wissenschaft und Forschung NRW.

Sleek, S. (1996). Psychologists building a culture of peace. The APA Monitor, 27,1.

Sommer, G. (in Druck). Internationale Gewalt: Friedens- und Konfliktforschung. In H.W. Bierhoff & U. Wagner (Hrsg.). Aggression und Gewalt. Stuttgart: Kohlhammer.

Wagner, R.V. (1988). Distinguishing between positive and negative approaches to peace. Journal of Social Issues, 44, 1-15.

Anmerkung

* Teile des vorliegenden Beitrages wurden auf der 7. Tagung Friedenspsychologie, 24.-26. Juni 1994 in Konstanz vorgestellt.

Der Artikel erschien soeben in Psychologische Rundschau, 1997, Heft 48. Wir danken dem Hogrefe-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Klinische Psychologie und Dr. Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie an der Phillips-Universität Marburg

Die Ausgrenzung von Minderheiten

Die Ausgrenzung von Minderheiten

Psychologische Erklärungen

von Ulrich Wagner

Minderheiten, also zahlenmäßig kleine oder machtlose Gruppen, haben häufig mit Ablehnung, negativer Stereotypisierung, Diskriminierung bis hin zu tätlichen Angriffen zu kämpfen. Die Psychologie allein kann die Entstehung solcher Ausgrenzungen nicht erklären. Dazu ist die Analyse gesellschaftlicher Prozesse notwendig. Die Beachtung psychischer Prozesse ist aber unabdingbar, um den Umgang mit Minderheiten verstehen zu können. Der folgende Beitrag erläutert zunächst einige wichtige psychische Prozesse zum Verständnis von Ausgrenzung, nämlich das Phänomen der Wahrnehmungsakzentuierung, den Prozeß der Differenzierung zwischen Gruppen und die in diesem Zusammenhang besonders bedeutsame Rolle von Konflikten (vgl. auch Wagner, 1985; Wagner & Zick, 1990). Daran sollen der Wert, aber auch die Grenzen psychologischer Modelle deutlich werden. Schließlich werden, darauf aufbauend, einige sozialwissenschaftliche Technologien zur Verbesserung konflikthafter Begegnungen mit Minderheiten angesprochen.

Die menschliche Informationsverarbeitung scheint so angelegt zu sein, daß sie große Unterschiede in der wahrgenommenen Welt überbetont und kleinere eher vernachlässigt. Diese Akzentuierung läßt sich am besten am Beispiel einer typischen Versuchsanordnung verdeutlichen (vgl. Tajfel & Wilkes, 1964).

Jeder Versuchsperson werden nacheinander verschiedene Linien von unterschiedlicher Länge präsentiert. In der hier relevanten Klassifikationsbedingung werden die kürzeren Linien immer zusammen mit dem Buchstaben A, die längeren immer in Kombination mit dem Buchstaben B dargeboten. Die Aufgabe der Versuchspersonen besteht darin, die Länge der Linien einzuschätzen. Die Ergebnisse zeigen, daß die Etikettierung mit den Buchstaben A und B die Versuchspersonen veranlaßt,

  • die Längenunterschiede zwischen der längsten Linie der Klassen A und der kürzesten Linie der Klasse B zu überschätzen (der sogenannte Inter-Klassen Effekt) und
  • die Unterschiede zwischen der kürzesten und längsten Linie innerhalb jeder Klasse zu unterschätzen (der Intra-Klassen Effekt).

Der allgemeine Satz lautet: Unterschiede zwischen klassifizierten Stimulusserien werden überschätzt, Unterschiede innerhalb klassifizierter Stimulusserien nivelliert. Der beschriebene Mechanismus hat offensichtlich die Funktion, die Umwelt zu vereinfachen. Seine Bedeutung für die hier interessierende Fragestellung liegt ebenfalls auf der Hand, wenn man sich vorstellt, als »Stimulusmaterial« würden statt Linien Menschen verwendet (vgl. z.B. Lilli & Lehner, 1971): Unterschiede zwischen Menschen werden als größer wahrgenommen, wenn diese Menschen nach einem beliebigen Kriterium in unterschiedliche Kategorien eingeordnet werden können, wenn sie beispielsweise wissen, daß sie unterschiedlichen Fußballvereinen anhängen, daß sie der einen oder anderen Nation angehören, unterschiedliche Hautfarbe haben oder unterschiedliches Geschlecht usw. Die Unterschiede werden geringer, wenn Menschen feststellen, daß sie unter irgendeinem Gesichtspunkt derselben Kategorie zugehören: Die Fans von Bayern München und Borussia Dortmund können wunderbar gemeinsam Siege der deutschen Fußball-Nationalmannschaft feiern (vgl. auch Turner, Hogg, Oakes, Reicher & Wetherell, 1987; Wagner, 1991).

Differenzierung zwischen Gruppen

Die Akzentuierungstheorie beschreibt, warum Menschen, wenn sie feststellen, daß sie unterschiedlichen Kategorien zuzurechnen sind, Unterschiede zwischen diesen Kategorien besonders hervorheben (vgl. auch Doise, 1978). Die Erfahrung lehrt jedoch: Wenn Menschen unterschiedlichen Gruppen zugehören, dann hat das häufig nicht nur zur Folge, daß die Unterschiede zwischen diesen Gruppen betont werden, sondern auch, daß die Gruppenmitglieder die Mitglieder der jeweils anderen Gruppe abwerten, diskriminieren und mit physischer Gewalt attackieren. Die Gewalttaten gegen ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik machen das auf erschreckende Weise deutlich. Eine solche Abwertung von Mitgliedern von Fremdgruppen kann die Akzentuierungstheorie nicht erklären.

Zu Anfang der siebziger Jahre wurde in Bristol, England, eine zur Erklärung dieses Problems wichtige Serie von Experimenten durchgeführt, die sogenannten Minimal-Group-Untersuchungen (Tajfel, Billig, Bundy & Flament, 1971). Die Versuchspersonen wurden nach Zufall, z.B. indem sie Lose aus einer Trommel ziehen konnten (Billig & Tajfel, 1973), in zwei Gruppen eingeteilt. Im zweiten Teil der Untersuchung wurden sie dann unter einem Vorwand aufgefordert, an zwei andere Versuchspersonen nach vorgegebenen Verteilungsmatrizen (vergl. Abbildung 2) Geldbeträge zu verteilen. Wer diese beiden anderen Personen waren, wurde nicht gesagt. Mitgeteilt wurde lediglich, daß die eine dieser Personen derselben Gruppe angehörte wie die jeweilige Versuchsperson und die andere der alternativen Gruppe. Außerdem wurde ausgeschlossen, daß man sich selbst Geldgewinne zuteilen konnte.

Die Ergebnisse zeigen durchgängig, daß unter den geschilderten Bedingungen das Mitglieder der eigenen »Gruppe« systematisch gegenüber dem Mitglied der anderen Gruppe bevorzugt wird. Vor die Alternative gestellt, entweder dem Mitglied der eigenen Gruppe einen maximalen Gewinn und gleichzeitig dem Mitglied der fremden Gruppe einen nur unwesentlich kleiner Gewinn zuzuweisen oder den Gewinn für das Mitglied der eigenen Gruppe zu reduzieren und gleichzeitig dem Mitglied der fremden Gruppe einen deutlich niedrigeren Gewinn zukommen zu lassen, wird in der Regel die zweite Alternative bevorzugt. Die Befunde der Minimal-Group-Untersuchungen konnten in verschiedenen westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern mit unterschiedlichen Versuchspersonen repliziert werden, vergleichbare Ergebnisse zeigen sich außerdem, wenn man statt einer Geldverteilungsaufgabe gegenseitige Beurteilungen von Gruppenmitgliedern erhebt (Wagner, 1994).

Die Befunde der Minimal-Group Untersuchungen machen deutlich:

  • Schon sehr künstliche und auch für die Beteiligten erkennbar artifizielle Klassifikationen von Menschen reichen aus, um bei den Beteiligten ein Bewußtsein von Gruppen und Gruppenmitgliedschaften zu schaffen.
  • Gruppen entstehen aus der Abgrenzung von anderen Gruppen.
  • Intergruppensituationen sind konfliktträchtig. Die bloße Aufteilung in zwei Gruppen ist hinreichend, um eine relative Abwertung der fremden und eine Aufwertung der eigenen Gruppe zu evozieren.

Erklärt werden die Ergebnisse der Minimal-Group-Untersuchungen mit der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1979). Die psychologischen Grundannahmen dieser Theorie lassen sich zu drei Sätzen zusammenfassen (Wagner & Zick, 1990).

  • Menschen definieren einen Teil ihrer Identität, ihre soziale Identität, über die Mitgliedschaft in Gruppen.
  • Menschen streben nach einer positiven Identität.
  • Eine positive soziale Identität ergibt sich aus einem positiven Vergleich zwischen einer relevanten Ingroup mit einer oder mehreren Vergleichsgruppen.

Gruppenzugehörigkeiten haben nach dieser Theorie also eine identitätsstiftende Funktion. Um eine positive Identität aus ihrer Gruppenzugehörigkeit ableiten zu können, sind die Gruppenmitglieder bemüht, die eigene Gruppe positiv von wichtigen fremden Gruppen abzugrenzen. Zwei Voraussetzungen für diesen Prozeß müssen gegeben sein: Zum einen müssen die Gruppenmitglieder sich mit ihrer Gruppe identifizieren. Erst wenn einer Person ihre nationale Gruppenzugehörigkeit relevant ist, wird sie auf Mitglieder fremder nationaler Gruppen mit Intergruppendiskriminierung reagieren. Zum zweiten muß eine Gruppe in einem Interaktionskontext für die Gruppenmitglieder relevant, salient sein: In einer Diskussion um ethnische Konflikte werden ethnische Gruppenmitgliedschaften salient und weniger die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Fußball-Fan-Gruppe.

Die bislang beschriebenen Mechanismen machen deutlich: Die Psychologie kann erklären, warum Gruppenmitglieder feindseliges Intergruppenverhalten zeigen. Sie kann aber nicht verständlich machen, warum es gerade nationale, ethnische, fußballrelevante, das Geschlecht oder beliebige andere Kriterien sind, die zur Gruppeneinteilung herangezogen werden. Die Definition von Gruppen und Gruppengrenzen und die inhaltliche Ausgestaltung der gegenseitigen Gruppenstereotype ist ein gesellschaftlicher Prozeß. Die Antwort auf die Frage, wer eine Minderheit bildet, ist in politischen und sozialen Abläufen zu suchen. Die Entwicklung der sogenannten Asylproblematik macht dies deutlich. Das Thema Asyl und damit die Outgroup der Asylsuchenden wurde durch eine zunehmend schärfere politische Debatte seit Beginn der achtziger Jahre geschaffen, bekam gesellschaftliche Relevanz. Nicht nur die Asylsuchenden wurde so als wichtige Minderheit konstruiert, gleichzeitig wurden in der politischen Debatte auch die Stereotypen über diese neue Fremdgruppe mitgeliefert, nämlich daß sie „uns“ die Arbeitsplätze, Wohnungen, Frauen und Kindergartenplätze wegnehmen würden. Solche Stereotypen werden deshalb leicht akzeptiert, weil sie das Bedürfnis zur positiven Absetzung der eigenen Gruppe, hier der Deutschen, gegen eine fremde Gruppe, die Asylsuchenden, so hervorragend bedienen. Das Zusammenspiel der beschriebenen politischen und psychischen Einflüsse macht schließlich die Serie gewalttätiger Ausschreitungen zunächst gegen Asylsuchende, später auch gegen Arbeitsmigranten, erklärbar.

Die Bedeutung von Intergruppenkonflikten

Die in den Minimal-Group-Untersuchungen beobachtbare Neigung zur Abwertung von Mitgliedern fremder Gruppen tritt unter bestimmten Bedingungen verstärkt auf. Ein besonders wichtiger Umstand ist das Vorliegen von Konflikten zwischen Gruppen. Auch dieses Phänomen läßt sich anhand einer berühmten Versuchsserie verdeutlichen, die Muzafer Sherif und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits in den vierziger und fünfziger Jahren in den USA durchgeführt haben (vgl. z.B. Sherif & Sherif, 1969). Sherif hat mehrfach „normale protestantische Mittelschichtsjungen von durchschnittlicher Intelligenz“ zu Zeltlagern auf dem Lande eingeladen. Die etwa 11jährigen Jungen kannten sich in der Regel vorher nicht. Die Jungen wurden bei ihrer Ankunft im Zeltlager zunächst in zwei Gruppen aufgeteilt und ihrer Gruppenzugehörigkeit entsprechend getrennt untergebracht. Für etwa eine Woche ging jede der beiden Gruppen ihren Aktivitäten nach. Es gab zwar schwache Hinweise auf gegenseitige Abgrenzungen zwischen den beiden Gruppen, die nach den Minimal-Group-Untersuchungen zu erwarten sind, aber keine ausgeprägten Feindschaften. Das änderte sich drastisch im zweiten Teil der Untersuchungen: In dieser Phase wurden die Gruppen nämlich zu arrangierten Wettkämpfen gegeneinander aufgefordert. Dazu gehörten alle Formen von Mannschaftssportarten, die nur einen Gewinner zulassen.

Den Mitgliedern der Gruppe, die die mehrtägigen Wettkämpfe erfolgreich abschloß, wurden materielle Gewinne versprochen.

Die Wettkampfsituation hatte eine dramatische Verschlechterung des Klimas zwischen den Gruppen, bis hin zur physischen Auseinandersetzung, zur Folge, gleichzeitig stieg die Solidarität innerhalb der Gruppen. An diesen Untersuchungsergebnisse wird deutlich, wie Auseinandersetzungen um beschränkte materielle Ressourcen zu Intergruppenkonflikten führen können: Wenn die Deutschen annehmen, Einwanderer konkurrierten mit ihnen um die wenigen freien Arbeitsplätze, sollte das zur Ausländerfeindlichkeit beitragen. Wichtig ist dabei, daß die Gruppenmitglieder nur glauben müssen, sie stünden mit den Mitgliedern der fremden Gruppe in einem Konflikt um materielle Güter. Der beschriebene Mechanismus ist somit politisch einsetzbar: Diejenigen, die die öffentliche Meinung kontrollieren, können über die Suggestion von materiellen Konflikten zwischen Gruppen fremde Gruppen und deren gesellschaftlichen Ausschluß kreieren, vielleicht, um auf diese Weise von anderen gesellschaftlichen Problemfeldern abzulenken.

Abbau von Vorurteilen

Sherif hat in einigen seiner Untersuchungen auch nach Möglichkeiten gesucht, Feindseligkeiten zwischen Gruppen abzubauen. Die erfolgreichste Strategie war, die Gruppen mit einem Problem zu konfrontieren, dessen Lösung beide Gruppen anstrebten und das beide Gruppen nur gemeinsam lösen können. Beispielsweise wurde der LKW, der für die Versorgung des Ferienlagers eingesetzt wurde, so präpariert, daß er nicht ansprang. Die Mitglieder einer der beiden Gruppen waren zu schwach, den LKW anzuziehen, nur durch gemeinsamen Einsatz beider Gruppen war das gemeinsame Ziel erreichbar. Die Verfolgung gemeinsamer übergeordneter Ziele kann auch darin bestehen, einen gemeinsamen äußeren Feind abzuwehren. In der Geschichte gibt es unzählige Beispiele dafür, daß die gemeinsame Auseinandersetzung mit einem äußeren Feind zur Reduktion von Konflikten zwischen vormals verfeindeten Gruppen beiträgt – zumindest für die Zeit der äußeren Bedrohung.

Aus psychologischer Sicht bieten sich eine Reihe von Möglichkeiten, um individuelle Ressentiments gegen Minderheiten abzubauen, in der Terminologie der Sozialpsychologie, um gegen individuelle Vorurteile gegen Mitglieder fremder Gruppen anzugehen. Die Maßnahmen sollen Ignoranz, Angst und Ablehnung zwischen den Gruppen reduzieren. Je nach theoretischer und politischer Position soll damit eines von zwei Zielen erreicht werden: Entweder die Auflösung von Gruppengrenzen und die Umgestaltung von intergruppalen zu interpersonalen Begegnungen, d. h. Ausländer und Deutsche sollten als Individuen und nicht länger als Repräsentanten ihrer jeweiligen Gruppen interagieren. Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, daß solche Individualisierungen von Intergruppenbeziehungen zwar die konkrete Interaktion zwischen je zwei Individuen verbessern können, nicht jedoch die ablehnenden Haltungen zur jeweils anderen Gruppe insgesamt (Hewstone & Brown, 1986). Außerdem stoßen solche Strategien häufig auf den Widerstand von Minderheiten, z.B. von Migranten, die ihre Herkunft nicht verleugnen wollen. Oder das Handlungsziel kann darin bestehen, den Gruppenmitgliedern Möglichkeiten aufzuzeigen, mit den Mitgliedern der jeweils anderen Gruppe umzugehen, ohne daß die Interaktionspartner dazu ihre Herkunft, d.h. ihre Gruppenmitgliedschaft, völlig in den Hintergrund stellen müssen. Dies entspricht der Idee einer multikulturellen Gesellschaft (van Dick et al., im Druck).

Die Verfahren lassen sich weiterhin danach gruppieren, ob sie primär auf Interaktionen oder Informationen aufbauen. Interaktionen zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen wirken besonders dann konfliktreduzierend, wenn sie unmittelbare persönliche Begegnungen realisieren, die Gruppenmitglieder zumindest in der Interaktionssituation statusgleich sind und wenn sie gemeinsam ein oder mehrere übergeordnete Ziele verfolgen (vgl. Sherif & Sherif, 1969). Kooperative Intergruppeninteraktionen zum Abbau von gegenseitigen Vorurteilen lassen sich beispielsweise in Form kooperativen Unterrichts einsetzen. Dazu werden Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Gruppen zu gemischten Kleingruppen zusammengebracht. Die Einzelmitglieder einer solchen Kleingruppe verfügen über unterschiedliche Informationen, beispielsweise Versatzstücke einer Biographie; das Unterrichtsziel kann in der Kleingruppe nur erreicht werden, wenn alle Mitglieder dieser Kleingruppe ihren spezifischen Beitrag leisten. Solche Programme sind in den USA und in Israel sehr erfolgreich eingesetzt worden, auch wir konnten in dritten und vierten Klassen in NRW die Wirksamkeit solcher Maßnahmen mit ethnisch gemischten Gruppen nachweisen (vgl. Wagner & Avci, 1993).

Im Zusammenhang mit den Arbeiten von Sherif wurde deutlich, daß die Auseinandersetzung um begrenzte Ressourcen, die Feindseligkeiten zwischen Gruppen häufig zugrunde liegt, oft nur auf Hörensagen, vor allem aber auf mediale Vermittlung zurückgeht. Auch diejenigen, die voller Überzeugung behaupten, die Türken nähmen „uns“ die Arbeitsplätze weg, haben den konkreten Konfliktfall kaum persönlich erlebt. Solche Fehlinformationen sind durch Informationen auch wieder richtigzustellen. Zwei Strategien lassen sich hierbei unterschieden: Die Betonung von Gemeinsamkeiten zwischen „uns“ und den Fremden dort, wo solche Gemeinsamkeiten existieren. Dies ist oft genug der Fall: Die vermeintliche Frauenfeindlichkeit des Islam läßt sich auch in christlichen Religionen finden. Zuweil sind Unterschiede zwischen Gruppen aber real existent, ihre Nichtbeachtung ist weitgehend unmöglich. In solchen Fällen gilt es, die historischen Ursachen der Unterschiede aufzudecken und das Verhalten der Anderen damit verständlich und weniger bedrohlich zu machen.

Literatur

Billig, M. & Tajfel,H. (1973). Social categorization and similarity in intergroup behaviour. European Journal of Social Psychology, 3, S. 27-52.

Doise, W. (1978). Groups and individuals. Cambridge: Cambridge University Press.

Dick van, R., Wagner, U., Adams, C., Petzel, T. (in Druck). Einstellungen zur Akkulturation: Erste Evaluation eines Fragebogens an sechs deutschen Stichproben. Gruppendynamik.

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Dr. Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie an der Phillips-Universität Marburg

Konfliktberichterstattung zwischen Eskalation und Deeskalation

Konfliktberichterstattung zwischen Eskalation und Deeskalation

Ein sozialpsychologisches Modell

von Wilhelm Kempf

Massenmedien vermitteln Konfliktwirklichkeiten nicht im Verhältnis eins zu eins, sondern selektieren, akzentuieren und bewerten und beeinflußen eben dadurch ihrerseits Konfliktverläufe. Aufgrund der weitgehenden Orientierung an einem konkurrenzbetonten Konfliktverständnis tragen sie vielfach zur Eskalation bei. »Friedensjournalismus«, deeskalierende Berichterstattung, hat zur Voraussetzung, daß ein kritisch-kooperationsbetontes Konfliktverständnis zugrundegelegt wird.

In modernen Kriegen stellt absichtsvolle und systematische Propaganda ein zentrales Element der psychologischen Kriegsführung dar. So kommt bereits Lasswell (1927) zu dem Schluß, daß die psychologischen Widerstände gegen den Krieg in modernen Gesellschaften so groß sind, daß jedem Krieg der Anschein gegeben werden muß, ein Verteidigungskrieg gegen einen bedrohlichen, mörderischen Aggressor zu sein. Um dies zu erreichen, ist ein massiver Aufwand an Propaganda erforderlich, deren Ziel es ist, den Kriegswillen der eigenen Soldaten und der eigenen Zivilbevölkerung zu stärken, ihre Identifikation mit den Kriegszielen herzustellen, sich mit der Kriegslogik zu identifizieren und eine friedliche Streitbeilegung abzuwehren.

Seit dem Golfkrieg hat sich die friedenswissenschaftliche Diskussion zunehmend mit der Rolle der Massenmedien in diesem Prozeß auseinanderzusetzen begonnen und die Frage aufgeworfen, inwieweit ihre Kriegsberichterstattung die Medien zu Katalisatoren der Gewalt werden läßt. Die Steuerung der Kriegsberichterstattung durch die militärische Führung (Zensurmaßnahmen des Pentagon, Pool-System etc.) und die Aktivitäten von Public Relations Agenturen (z.B. Hill & Knowlton, Ruder & Finn), die jenseits der professionellen Richtlinien und berufsethischer Normen des Journalismus operieren, ließen den Ruf nach Etablierung einer neuen Profession laut werden: nach der Profession des Friedensjournalisten, der durch besondere Qualifikationen in die Lage versetzt werden soll, über Konflikte in einer Art und Weise zu berichten, die – im Unterschied zu herkömmlicher Kriegsberichterstattung – zu einer Deeskalation der Konflikte beiträgt oder zumindest ihre Eskalation nicht befördert.

Wenn Journalismus wie Propaganda aussieht, nach Propaganda riecht und wie Propaganda schmeckt, dann ist er tatsächlich zu Propaganda geworden. Dies kann mit Absicht oder aus Fahrlässigkeit geschehen sein. Propaganda und Journalismus sind oft kaum noch voneinander zu unterscheiden. Denn auch gut gemachte Propaganda will nicht nach Propaganda stinken, und sie hat die besten Chancen dazu, weil die von ihr unterstützten Prozesse der Wahrnehmungsverzerrung in eskalierenden Konflikten auch ohne systematische Propaganda – gleichsam naturwüchsig – ablaufen. Wenn man diese Prozesse kennt, kann man Propaganda jedoch schon sehen, riechen und schmecken, bevor sie zu stinken beginnt. Und man kann ihr das Modell eines kritischen Friedensjournalismus entgegenstellen, der der Propagandafalle entgeht, indem er sich gegenüber diesen naturwüchsigen Prozessen als widerständig erweist, ohne in Gegenpropaganda umzuschlagen.

Perspektivendivergenz

Kriegspropaganda produziert eine verzerrte Realitätswahrnehmung, welche die Kriegsparteien polarisiert, und den Krieg als gleichermaßen notwendig wie gerechtfertigt erscheinen läßt. Sie tut dies, indem sie naturwüchsige Tendenzen der Wahrnehmungsverzerrung der Konfliktparteien aufgreift und unterstützt. Diese Tendenzen haben ihren Ursprung in der systematischen Perspektivendivergenz zwischen den Konfliktparteien: Während man seine eigenen Handlungen vom Innenstandpunkt des Blicks auf die damit verfolgten Intentionen wahrnimmt, werden Fremdhandlungen von einem Außenstandpunkt, d.h. von den Handlungsfolgen her erfahren.

Gegenseitiges Verstehen der Handlungsweisen der Konfliktparteien erfordert daher einen aktiven Prozeß der Perspektivenübernahme. Wenn eine der Konfliktparteien jedoch in ihrer Perspektive verfangen bleibt, erscheint ihr die andere als Aggressor, welche Sichtweise sowohl die Notwendigkeit als auch die Rechtfertigung impliziert, sich gegen die Aggression zu verteidigen.

Je mehr die Konfliktparteien in eine solche aggressive Interaktion verwickelt werden, desto mehr werden sie zugleich an ihre je eigene Perspektive gebunden, die für Empathie mit der gegnerischen Partei keinen Raum läßt, und auch keinen Raum lassen darf, da sonst die Grundlage zerstört würde, auf welcher die Konfliktparteien meinen, die Situation unter Kontrolle zu haben (Kempf, 1995).

Ist diese Konstellation gegenseitiger Bedrohung erst einmal erreicht, so hat sich der Konflikt zu einem autonomen Prozeß verselbständigt, in dem jede der Konfliktparteien für sich selbst keine andere Handlungsmöglichkeit mehr sieht als die Verteidigung ihrer Ziele. Unabhängig davon, ob ihre Verteidigungshandlungen Erfolg haben oder nicht, werden sie von der gegnerischen Gruppe jedoch ihrerseits als Angriff wahrgenommen, durch welchen diese nun ihre Ziele bedroht sieht, wogegen sie sich verteidigen zu müssen glaubt…

Destruktive Konfliktverläufe

Welchen Verlauf ein Konflikt nimmt, hängt nach Deutsch (1976) wesentlich davon ab, ob der Konflikt als kompetitiver oder als kooperativer Prozeß begriffen wird.

Destruktive Konflikte haben die Tendenz, sich auszubreiten und hochzuschrauben. Sie verselbständigen sich und dauern auch dann noch an, wenn die ursprünglichen Streitfragen belanglos geworden oder vergessen sind. Parallel zur Ausweitung des Konfliktes vollzieht sich eine zunehmende Fixierung auf Machtstrategien, auf die Taktiken der Drohung, des Zwanges und der Täuschung.

Die Tendenz, den Konflikt hochzuschrauben, resultiert aus drei miteinander verbundenen Prozessen: aus der Konkurrenz, die aus dem Versuch resultiert, im Konflikt zu gewinnen, aus der Fehleinschätzung des gegnerischen Handelns und seiner Intentionen (Perspektivendivergenz, Feindbildkonstruktion) und aus dem Prozeß der sozialen Verpflichtung, der damit einhergeht, daß der Sieg über den Gegner zum vorrangigen Ziel der Innengruppe wird.

Der Konkurrenzprozeß bewirkt eine Verarmung der Kommunikation zwischen den Konfliktparteien. Die bestehenden Kommunikationsmöglichkeiten werden nicht ausgenutzt oder dazu benutzt, den Gegner einzuschüchtern oder irrezuführen. Aussagen des Gegners wird wenig Glauben geschenkt. Fehleinschätzungen von Informationen im Sinne bereits existierender Vorbehalte werden dadurch begünstigt.

Der Konkurrenzprozeß legt die Ansicht nahe, daß eine für die eigene Seite befriedigende Konfliktlösung nur auf Kosten des Gegners und gegen diesen durchgesetzt werden kann. Dadurch wird die Anwendung immer drastischerer und gewaltsamerer Mittel der Durchsetzung der eigenen Ziele begünstigt.

Der Konkurrenzprozeß führt zu einer argwöhnischen und feindseligen Haltung gegenüber dem Gegner, welche die Wahrnehmung von Gegensätzen zwischen den Konfliktparteien verschärft und die Wahrnehmung für Gemeinsamkeiten der Konfliktparteien vermindert.

Der Prozeß der Fehleinschätzung resultiert zunächst aus der Perspektivendivergenz der Konfliktparteien und schraubt den Konflikt infolge der entstehenden Asymmetrie von Vertrauen und Argwohn hoch, so daß die Bereitschaft der Konfliktparteien sinkt, das gegnerische Handeln (auch) aus der Perspektive des Gegners zu sehen. Die Fähigkeit der Konfliktparteien zur Aufnahme von Informationen, welche die vorurteilsbeladenen Interpretationen des gegnerischen Handelns korrigieren könnten, nimmt ab, und die Konfliktparteien neigen dazu, die eigenen Ziele und Handlungen für angebrachter und berechtigter zu halten als die der Gegenseite.

Durch die Verschärfung des Konfliktes entsteht eine erhöhte Spannung, durch welche die intellektuellen Möglichkeiten reduziert werden, andere Wege der Konfliktlösung zu gehen. Durch den Prozeß der sozialen Verpflichtung auf den Sieg über den Gegner wird die Konfliktlösungskompetenz im Falle von Konflikten zwischen Gruppen noch weiter eingeschränkt: Gruppenmitglieder, die sich im Kampf hervortun, gewinnen an Einfluß; Kompromißbereitschaft und Vermittlungsversuche werden als Verrat abgewehrt, und die andauernde Verstrickung in den Konflikt bindet die Gruppenmitglieder an die Konfliktstrategie, indem sie ihre bisherige Beteiligung rechtfertigt.

Eskalierende Konfliktberichterstattung

Erfolgreiche Propaganda beruht wesentlich auch darauf, daß sie nicht sofort als Propaganda durchschaut wird. Dies gelingt, indem die Propaganda nicht einfach ihre eigene Propagandawirklichkeit konstruiert, sondern indem sie naturwüchsige Prozesse der Wahrnehmungsverzerrung aufgreift, weiterträgt und verschärft.

In jedem Konflikt gibt es eigene Rechte, Intentionen etc. und fremde Handlungen, die damit interferieren und als Bedrohung erlebt werden. Zugleich gibt es Rechte und Intentionen der anderen Partei, mit welchen die eigenen Handlungen interferieren und die vom anderen als Bedrohung erlebt werden. Aber es gibt auch gemeinsame Rechte, Intentionen etc. und einen gemeinsamen Nutzen aus der Beziehung zwischen den Parteien, die Anlaß für gegenseitiges Vertrauen sind

Die systematische Perspektivendivergenz zwischen den Parteien behindert jedoch einen solch vollständigen Blick auf die Konfliktkonstellation. Der Blickwinkel ist auf die eigenen Rechte, Intentionen etc. und ihre Bedrohung durch die gegnerischen Handlungen verengt, die zugleich als Bedrohung der gemeinsamen Rechte und Intentionen sowie als Bedrohung des gemeinsamen Nutzens wahrgenommen werden.

Wird der Konflikt als Konkurrenzsituation interpretiert, so geraten auch die gemeinsamen Rechte, Intentionen etc. und der gemeinsame Nutzen aus dem Blickfeld. Das gegenseitige Vertrauen geht verloren. Man sieht nur noch die eigenen Rechte, Intentionen etc. und deren Bedrohung durch die gegnerischen Handlungen.

Eskaliert die Konkurrenz zum Kampf, so werden die Rechte des anderen bestritten und seine Intentionen dämonisiert. Eigene Handlungen, die mit gegnerischen Rechten, Intentionen etc. interferieren, werden gerechtfertigt und die eigene Stärke betont. An die Seite der Bedrohung durch den Gegner tritt die Zuversicht, den Kampf gewinnen und die eigenen Rechte, Intentionen etc. durchsetzen zu können. Eigene Rechte, Intentionen etc. werden idealisiert. Gegnerische Handlungen, welche damit interferieren, werden verurteilt und die Gefährlichkeit des Gegners wird betont. Die Bedrohung gegnerischer Rechte durch die eigenen Handlungen wird verleugnet. Die Angriffe des Gegners erscheinen ungerecht und lassen Argwohn gegen ihn entstehen.

Mit der weiteren Eskalation zum Krieg verengt sich die Konfliktwahrnehmung vollends auf die militärische Logik. Diesen Prozeß zu unterstützen, in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten ist Gegenstand und Ziel der Kriegspropaganda.

Die Alternative einer friedlichen Streitbeilegung wird zurückgewiesen, der Argwohn gegenüber dem Gegner geschürt. Gemeinsame Interessen, die Grundlage einer konstruktiven Konfliktbearbeitung sein könnten, werden bestritten. Die Möglichkeit der Kooperation mit dem Gegner wird ausgeschlossen. Die (gerechtfertigte) Empörung über den Krieg wird in eine (selbstgerechte) Empörung über den Feind umgewandelt: das gemeinsame Leid, das der Krieg für beide Seiten mit sich bringt, darf nicht gesehen werden; ebensowenig der gemeinsame Nutzen, den eine friedliche Streitbeilegung mit sich bringen könnte

Konstruktive Konfliktverläufe

In einer kooperativen Umgebung kann ein Konflikt dagegen als gemeinsames Problem angesehen werden, an dem die Konfliktparteien das gemeinsame Interesse an einer allseits zufriedenstellenden Lösung haben. Dies begünstigt eine produktive Konfliktlösung in dreierlei Hinsicht: Der kooperative Prozeß verhilft zu offener und ehrlicher Kommunikation. Die Freiheit, Informationen untereinander auszutauschen, ermöglicht es den Konfliktparteien, über die offenliegenden Streitfragen zu den dahinterliegenden Interessen der Konfliktparteien vorzudringen und dadurch erst eine angemessene Definition des Problems zu erarbeiten, dem sie gemeinsam gegenüberstehen. Zugleich wird jede Partei in die Lage versetzt, vom Wissen ihres Partners zu profitieren, so daß ihre Beiträge zur Lösung des Konfliktes optimiert werden. Nicht zuletzt verringert eine offene Kommunikation die Gefahr von Mißverständnissen, die zu Verwirrung und Argwohn führen können. Der kooperative Prozeß ermutigt die Anerkennung der Sichtweisen und Interessen des Partners und die Bereitschaft zur Suche nach Lösungen, die beiden Seiten gerecht werden. Er reduziert defensive Einstellungen und ermöglicht es den Partnern, das Problem so anzugehen, daß ihre besonderen Kompetenzen zum Tragen kommen. Der kooperative Prozeß führt zu einer vertrauensvollen, wohlwollenden Einstellung der Partner zueinander, welche die Sensitivität für das Erkennen von Gemeinsamkeiten erhöht und die Bedeutung von Unterschieden reduziert. Er regt eine Annäherung von Überzeugungen und Werten an.

Ebenso wie bei Konkurrenzprozessen treten charakteristische Formen der Fehlauffassung und des Fehlurteils auf – allerdings mit unterschiedlichem Vorzeichen. Die Kooperation neigt dazu, die Wahrnehmung für Widersprüche abzuschwächen und die Wahrnehmung für das Wohlwollen des Partners zu stärken. Diese typischen Veränderungen haben nach Deutsch (1976) oft die Wirkung, den Konflikt einzudämmen und eine Eskalation unwahrscheinlich zu machen, sie tragen aber auch die Gefahr in sich, daß Konflikgegenstände übersehen werden oder daß sich die Partner auf eine »verfrühte Kooperation« einlassen und deshalb zu keiner stabilen Übereinkunft kommen, weil sie sich nicht genügend mit ihren Widersprüchen beschäftigt oder mit den Streitfragen nicht gründlich genug auseinandergesetzt haben (Keiffer, 1968).

Deeskalierende Konfliktberichterstattung

Dieser Gefahr entgehen zu müssen, ist Teil des Dilemmas, in dem sich Konfliktberichterstattung befindet, sobald sie sich als kritischer Friedensjournalismus zu verstehen sucht, der weder mit Absicht noch aus Fahrlässigkeit Propaganda ist – weder Propaganda für den Krieg, noch Propaganda für eine Befriedung, welche die Menschen lediglich ihrer Widerständigkeit beraubt und wehrlos macht gegenüber Unrecht, Unterdrückung und Gewalt.

Ein so verstandener Friedensjournalismus darf weder die Übernahme gegnerischer Propaganda bedeuten (welche derselben Art von Wahrnehmungsverzerrungen und Fehlurteilen unterliegt, wie die Propaganda der eigenen Seite), noch darf er Friedenspropaganda sein (welche durch Wahrnehmungsverzerrungen und Fehlurteile mit umgekehrtem Vorzeichen charakterisiert ist). Er kann jedoch eine Infragestellung des Krieges und der militärischen Logik leisten, die Rechte des Gegners respektieren und seine Intentionen unverzerrt darzustellen versuchen. Er kann einen selbstkritischen und realistischen Bick auf die eigenen Rechtsansprüche und Intentionen üben und der Tatsache Rechnung tragen, daß auch der Gegner Anlaß hat, sich bedroht zu fühlen und sich in einer Verteidigungsposition zu befinden meint. Dazu bedarf es der kritischen Beurteilung eigener Handlungen, die mit generischen Rechten interferieren und einer unvoreingenommenen Beurteilung gegnerischer Handlungen – auch, wenn sie der eigenen Seite als bedrohlich erscheinen. Es bedarf des Abbaus eigener Bedrohungsgefühle und der Vermittlung von Einsicht in den Preis, der für einen militärischen Sieg zu zahlen ist.

Kritischer Friedensjournalismus erfordert schließlich auch die Einforderung friedlicher Alternativen. Er distanziert sich von beiden Seiten und übt Kritik an ihren Handlungsweisen. Er stellt die gemeinsamen Rechte in den Vordergrund und macht sich auf die Suche nach Ansätzen von Friedensbereitschaft auf beiden Seiten. Er berichtet über das gemeinsame Leid, welches der Krieg für beide Seiten hervorbringt, und thematisiert den gemeinsamen Nutzen, den beide Seiten aus der Beendigung des Krieges ziehen können. Er schenkt der Opposition gegen den Krieg auf beiden Seiten sein Augenmerk und eröffnet Perspektiven der Versöhnung.

Soziale Identifikation

Der entscheidende Punkt für die Aufrechterhaltung von Kriegsbereitschaft ist das gleichzeitige Bestehen von Gefühlen der Bedrohung durch den Feind und Zuversicht in den Ausgang des Krieges, Vertrauen in die eigene Führung etc. Um dies zu erreichen, muß der Feind so bösartig wie möglich und so gefährlich wie möglich erscheinen. Aber die Dämonisierung des Feindes darf nicht so weit gehen, die eigene Bevölkerung zu entmutigen und ihr den Glauben an den eigenen Sieg zu nehmen.

Man kann davon ausgehen, daß nicht nur direkt beteiligte Kriegsparteien diese Art von Manipulation nutzen, um einen militärischen Konfliktaustrag zu legitimieren. Auch dritte Parteien und unabhängige Journalisten sind nicht davor gefeit, massive Wahrnehmungsverzerrungen, die im Kriegsgebiet existieren, zu übernehmen, weiterzutragen und zu verschärfen.

Die Polarisierung der Kriegsparteien in den Medien verhilft den Rezipienten zur Orientierung in einer vertrauten Welt, wo Gut und Böse gegeneinander streiten. Sie reduziert Gefühle des Unbehagens über kriegerische Auseinandersetzungen. Sie verschärft den subjektiv erlebten Handlungsdruck (»es muß etwas geschehen«) und gibt ihm eine Richtung (»dem Bösen muß Einhalt geboten werden«). So kommt es, daß der Krieg per se nicht mehr als absurd erscheint, sondern in einem übergeordneten Sinnzusammenhang steht, dessen Auflösung nicht bloß ein kognitiver Akt ist, sondern ein sozialer Prozeß, der grundlegende Wertorientierungen berührt: wer sich der Logik des Krieges verweigert läuft Gefahr sich mangelnder Solidarität schuldig zu machen, unterlassener Hilfeleistung etc.

Im Unterschied zu Kriegspropaganda, die eine Parteilichkeit und Einseitigkeit der Konfliktwahrnehmung herzustellen sucht, zielt kritischer Friedensjournalismus auf eine differenzierte Abwägung der Argumente pro und contra ab. Auch dafür sind Prozesse der sozialen Identifikation von zentraler Bedeutung. Diese richtet sich jedoch nicht auf die partikulären Interessen der einen oder anderen Seite, sondern auf den Prozeß des Interessensausgleichs und der gewaltfreien Konfliktlösung. Emotionale Involviertheit, die auf eine Perspektive von außerhalb des Konfliktes verpflichtet, fördert eine kritische Auseinandersetzung mit beiden Seiten.

Literatur

Deutsch, M., 1976. Konfliktregelung. München: Reinhardt.

Keiffer, M.G., 1968. The Effect of Availability and Precision of Threat on Bargaining Behavior. Ph.D. Dissertation. Columbia University: Teachers College.

Kempf, W., 1995. Begriff und Probleme des Friedens. Beiträge der Sozialpsychologie. Kurseinheit 1: Aggression, Gewalt und Gewaltfreiheit. Hagen: Fernuniversität.

Lasswell, H.D., 1927. Propaganda Technique in the World War. London: Kegan Paul.

Dr. Wilhelm Kempf ist Professor an der Universität Konstanz

Enmifikation

Enmifikation

Zu den Ursachen des Prozesses der Feindbildproduktion

von John F. Hunt

Enmifikation ist der Prozeß der Produktion von Feindbildern. Ein Feind ist „die Person, der man kein soziales Gefühl entgegenbringt“ (Rieber & Kelly, 1991, S.8). In diesem Artikel wird vorgeschlagen, Enmifikation als Teil eines wesentlich komplexereren Vorgangs anzusehen. Es ist mehr als der Wunsch, eine dritte Person geistig zu befähigen zu töten oder dem Töten eines anderen Menschen zuzustimmen. Die Tatsache, daß Enmifikation überhaupt möglich ist, ist ein Hinweis auf die Voraussetzung von Menschen sich so beeinflussen, manipulieren oder überreden zu lassen, daß sie entgegen ihrer natürlichen Art (wenn sie nicht der Beeinflussung, Manipulation oder Überredung einer dritten Partei ausgesetzt gewesen wären) handeln oder denken.

Der Artikel will untersuchen, was im Individuum zuläßt, daß es geistig entgegen dem beeinflußt wird, was unter normalen Umständen sein Wille wäre. Aus diesem Grund sollen Propaganda und andere Methoden der Beeinflussung von Entscheidungsfindung untersucht werden. Die andere Seite der Enmifikation ist die Person, welche das Feindbild produziert: wie und warum kommt er oder sie zu dem Bedürfnis, diesen Prozeß in Gang zu setzen und welche – bewußten oder unbewußten – Charakteristika wurden beobachtet. Anhand aktueller, praktischer Beispiele wird gezeigt, wie durch Manipulationen Anfälligkeit für den Enmifikations-Prozeß erreicht wird. Schließlich werden Antworten auf die Frage betrachtet, wie man dem Bedürfnis, andere zu enmifizieren, entgehen und die Anfälligkeit für Enmifikation vermeiden kann. Im folgenden Aufsatz werden sowohl praktische als auch theoretische Probleme angesprochen, auf die dann der in dieser Einleitung zusammengefaßte Ansatz bezogen wird.

In seinem Buch „Faces of the Enemy“ räumt Sam Keen (1991) der Darstellung von Beispielen für Enmifikation sehr viel Platz ein: die meisten haben mit Kriegen zu tun sowie mit der Polarisation der Gefühle von Liebe und Haß. Dies ist verständlich, da die augenfälligste Form der Enmifikation darauf abzielt, Menschen dazu zu bringen, sich in Kriegen gegenseitig umzubringen. Der Prozeß der Enmifikation führt zu einer derartigen Dehumanisierung, daß von der oder dem Betroffenen im Geiste des Betrachters ein Bild entsteht, das jene/n der normalen Gefühle eines menschlichen Wesens für unwürdig oder unfähig erscheinen läßt. Deshalb sollte Enmifikation in einem wesentlich weiteren Rahmen als dem des Krieges untersucht werden, obwohl Krieg einer der klarsten und dramatischsten Vertreter dieser menschlichen Tendenz bleibt. Sam Keen gibt zahlreiche Beispiele für Enmifikation im Krieg, um die Existenz dieses Phänomens zu beweisen. Ich werde nun mit der Untersuchung der Implikationen und Ursprünge dieses Prozesses fortfahren.

Kognitive Dissonanz und Enmifikation

Obwohl es viele psychologische Ursprünge für das Bedürfnis zu enmifizieren oder für die Anfälligkeit für diesen Prozeß gibt, dürfte die Konsistenz-Theorie eine der fundamentalsten Motivationen des Individuums erfassen, d.h. den Drang nach Konsistenz als Motiv für Verhalten und Einstellungen. Diese Theorie wird später in diesem Aufsatz wieder auftauchen, im Zusammenhang mit Persuasion und Manipulation, bei denen die gleichen psychologischen Methoden Verwendung finden wie bei der Enmifikation. Tatsächlich haben die Überredungstechniken der modernen Medienwerbung vieles gemeinsam mit dem Prozeß der Enmifikation. Oft liegt der einzige Unterschied in dem erwünschten Ergebnis des Prozesses.

Eine Forschungsgruppe an der Yale University (USA) untersuchte nach dem 2. Weltkrieg viele Aspekte der Überredung. Eine der wichtigsten einstellungsbeeinflussenden Konstellationen, die sie entdeckten, wurde als „Konsistenz-Theorie“ bekannt. „Kognitive Konsistenz ist die Übereinstimmung zwischen den Vorstellungen einer Person über ein Objekt oder Ereignis. Die grundlegende Annahme ist, daß, wenn neue Informationen widersprüchlich oder inkonsistent zu den Einstellungen einer Person sind, dies zu Konfusion und einem Spannungszustand führt. Dieser Spannungszustand motiviert die Person, ihre Verhaltensweisen zu verändern oder anzupassen.“ (Jowett & O'Donnel, 1992, S.133). Die menschliche Neigung zur Homöostase bedeutet, daß ein Mensch alles Erforderliche tut, um das Gleichgewicht seines Weltbildes – wie irrational es einem externen Beobachter auch erscheinen mag – wieder herzustellen. Die Theorie der Kognitiven Dissonanz von Leon Festinger (1957) entstand aus der Theorie der „Social Amplification“. Diese besagt, daß ein Mensch das „Bedürfnis zu wissen“ und das Bedürfnis nach konsistentem Wissen hat (Deutsch & Krauss, 1965, S.68). Wenn es inkonsistent ist, gibt es einen Druck, diese Dissonanz zu reduzieren: durch Veränderung der Kognition, durch Veränderung des Verhaltens oder durch das Ausfindigmachen von neuen Informationen und Meinungen, die mit der eigenen Sichtweise konsistent sind. Propaganda verzerrt Kommunikation oft in einer Art und Weise, die deren Empfänger zu einem Versuch der Disonanzreduktion veranlaßt, was wiederum den Propagandisten begünstigt. Den Unterschied zwischen informativer Kommunikation und Propaganda drücken Jowett und O'Donnell (1992, S.20) wie folgt aus: „Der Zweck der Propaganda ist es, eine Angelegenheit der eigenen oder der Gegenpartei ganz im Interesse des Propagandisten zu fördern, aber nicht notwendigerweise im Interesse des Empfängers“.

Einfache Botschaft

Dieses Konzept der Vereinfachung von Informationen ist fundamental für jegliche Diskussion im Zusammenhang mit Feindschaft und wenn es darum geht, wie Menschen von einer neuen Meinung oder Verhaltensweise überzeugt werden. Eine Gemeinsamkeit aller persuasiver Medien ist die Kürze der Aussage und das Vermeiden von komplexen Gedankengängen auf seiten des Empfängers der Information. Darauf wird später im Kontext von Werbung noch ausführlicher zurückzukommen sein. Für den Augenblick soll es als Charakteristik erwähnt sein, die dem Mechanismus der Enmifikation ermöglicht, den Kopf eines Menschen in den Griff zu bekommen. Nach der Meinung von Walter Lippmann (1929) sind Menschen nicht in der Lage „mit so viel Feinheit, so viel Verschiedenheit, so vielen Permutationen und Kombinationen umzugehen“. Er sagt, sie müßten es in ihren Köpfen einfacher rekonstruieren. Oder anders ausgedrückt, sie müßten sich mit einer Landkarte versehen, mit der sie sich in der Welt zurechtfinden können.

Warum scheinen wir diese Vereinfachung der Welt zu wollen? Haben wir Angst vor dem, was wir finden könnten, wenn wir uns die Welt zu genau betrachten würden? Oder haben wir vielleicht Angst vor dem, was Keen „homo hostilis“ nennt, und verdecken es deshalb mit einfachen, heuristischen Techniken oder projizieren die Teile unseres Selbst, die wir hassen und verleugnen, auf andere? Haben weiterhin diese „Schatten“ von uns selbst (Jungs Definition von „Schatten“ folgt später) derart Bestand über die Epochen hinweg, wie Keen argumentiert, daß sie Archetypen des Feindes bilden? Müssen wir tatsächlich, wenn keine natürlichen Feinde existieren, welche kreieren, um ein angeborenes menschliches Bedürfnis zu befriedigen? Die Antwort auf all diese Fragen muß „ja“ lauten, wenn wir die vergangenen Erfahrungen der menschlichen Spezies und die zahlreichen Verhaltensbeispiele, die von Sam Keen zitiert werden, betrachten. Zur Natur der Enmifikation gehört Dehumanisation. Dies kann vom menschlichen Verstand nicht ohne die Vereinfachung und Stereotypisierung der Vorstellung eines Feindes vollbracht werden. Bevor gedankenloses Töten stattfinden kann, müssen die Gedanken »reduziert« werden. Dies wird – wenigstens im Krieg – durch die ausgedehnte Propaganda-Maschinerie erreicht, die von den kriegführenden Nationen geschaffen wurde.

Ein Teil des Vereinfachungsprozesses besteht darin, die Protagonisten in leicht zu identifizierende Modelle für Liebe oder Haß zu polarisieren, die dann in den Köpfen der Empfänger grundsätzlich mühelos durch den Propagandisten für seine Motive zu manipulieren sind. Den eher augenfälligen Motiven liegt das zentrale Motiv zugrunde, die Gruppe oder Gesellschaft (sehr ähnlich dem »Granfalloon« Prozeß, auf den ich mich später noch beziehen werde) von allen »anderen« abzusondern. Das klassische Beispiel wurde von George Orwell in seinem Buch „1984“ sehr gut dargestellt. Er schrieb von einer hoffnungslos totalitären Gesellschaft, die durch die Oligarchie zusammengehalten wurde, welche sich der Mittel von Zensur und Gewalt bediente. Sie wurden „vom Staat in täglichen »zwei Minuten Haß«-Übungen gegen einen angenommenen, nationalen Feind, mit dem sie in einen endlosen aber wenig erfolgreichen Krieg verwickelt waren, indoktriniert“. (Deutsch, 1970, S.390).

Bei der Untersuchung des Phänomens, wie Inividuen durch den Prozeß von Enmifikation und Propaganda beeinflußt werden, ist es wesentlich, sich auch den Effekt auf eine große Menge von Menschen als Ganzes innerhalb einer Gesellschaft anzusehen. Es ist vielleicht einfacher, die Anfälligkeit eines Individuums für Propaganda und Enmifikation durch die Aussage zu erklären, sie entstünde aus dysfunktionalem oder neurotischem Verhalten oder wegen eines unerfüllten Bedürfnisses dieses Individuums. Aber gibt es eine andere Erklärung, wenn ganze Gesellschaften erfolgreich propagandistisch beeinflußt werden? Rieber und Kelly (1991, S.8) sagen, daß Neurotiker leicht Feinde erwerben, da ihnen soziales Empfinden fehlte. Nationen erwürben Feinde auf einer ganz ähnlichen Basis. Was gebraucht werde, um beides, Krieg und Neurose, zu heilen, sei beidesmal dasselbe. Wenn das wahr ist, wie werden dann die normalen menschlichen Gefühle, die eine Gesellschaft zusammenhalten und ihr ermöglichen, mit Individuen und Gesellschaften außerhalb in Verbindung zu treten, reduziert?

Die Experimente von Milgram (1974) haben gezeigt, daß es wahrscheinlich ist, daß Menschen anderen Menschen in einer Laborsituation übermäßige Schmerzen durch elektrische Schocks zufügen, nur um sich der »Norm« der wissenschaftlichen Umgebung – oder vielleicht deren Ideologie – zu fügen. Es gibt viele psychologische Mechanismen, die diese Art irrationalen Verhaltens zwischen verschiedenen Teilen der Menschheit erklären sollen. Dazu gehören: Psychische Abstumpfung (»psychic numbing«), Brutalisation (des »Feindes«) und die oben erwähnte Konsistenz-Theorie. Von dem neurotischen Verhalten des »Doubling« spricht man, wenn eine Person in einem solchen Ausmaß zerfällt, daß ein anderes »Selbst« entsteht, z.B. eines, das die »Logik« der nuklear-technologischen Überlegenheit eher akzeptiert als einem Selbst, das Mitgefühl mit anderen Menschen hat. Dies kann auch gleichgesetzt werden mit Jungs Idee der »Persona«, d.h. der Summe der gesellschaftsfähigen Eigenschaften einer Person und ihres »Schattens«, der gebildet wird aus dem, was nicht mit dem Bild übereinstimmt, das er/sie von sich selbst hat, und deshalb unterdrückt wird. Jung sagt, der Schatten sei die »negative« Seite der Persönlichkeit, die Summe all dieser unangenehmen Qualitäten, die wir, zusammen mit den unzulänglich entwickelten Funktionen und dem Inhalt des persönlichen Unterbewußtseins, verstecken wollen.

Die Frage, wie und warum diese Abspaltungsmechanismen eine Population beeinflussen bzw. sich in dieser ausbreiten, ist schwierig zu beantworten, aber wurde von Menschen wie Freud, Jung, Reich und Trotter gestellt. Sam Keen (1991, S.19) sagt, daß »Konsensuelle Paranoia« die Basis aller Gesellschaften ist, in denen Kriege gerechtfertigt werden. Ohne sie könnte das Bild eines Feindes nicht existieren. Jung argumentiert, daß emotionale Übertragung für kollektive Enmifikation verantwortlich sei. Andere Psychologen dieser Zeit nahmen an, daß dies der Menschheit angeboren ist, und Wilfred Trotter erweiterte 1916 die Theorie in seinem Werk über den Herdeninstinkt in Kriegs- und Friedenszeiten. (Rieber & Kelly, 1991, S.10). Freud setzte die Gedanken zu emotionaler Übertragung fort, indem er sie (inter alia) als Identifizierung des Führers der Propagandaideologie als Vater-Figur mit der pervertierten Aggression des Ödipus-Komlexes, die auf Außenstehende gerichtet ist, beschrieb. Wilhelm Reich (1934) sprach von einer »emotionalen Seuche«, die er als „Gesamtsumme aller irrationalen Funktionen im Leben des menschlichen Tieres“ definierte, welche die ganze Gesellschaft durchdringe. Weiterhin sagt er, daß es eine zentrale Funktion dieser emotionalen Seuche im sozialen Leben sei, den Schwierigkeiten der Verantwortlichkeit und den Gegebenheiten des täglichen Lebens und Arbeitens zu entkommen, und Zuflucht in Ideologie, Illusion, Mystik, Brutalität oder einer politischen Partei zu finden. (Reich, 1950). Hitler wußte dies, wie aus seinen Handlungen und seinen Ausführungen in »Mein Kampf« ersichtlich wird, nur zu gut und hat all dies bewußt manipuliert. Reich (1934) betont die Verbindung zwischen persönlichem Verhalten per se und persönlichem Verhalten als Teil des gesellschaftlichen Handelns, indem er darauf hinweist, daß die emotionale Seuche, die auf der Charakterstruktur der Subjekte basiert, in interpersonellen, also sozialen Beziehungen spürbar und in korrespondierenden Institutionen organisiert wird.

Rieber und Kelly (1991, S.20) sagen, daß „Enmifikation mit einem Virus verglichen werden kann; einem Virus, der sich von einer Gesellschaft zur anderen durch Kontakt verbreitet“. Vielleicht ist die medizinische Metapher, nach der in all diesen Beispielen die ideologische Propaganda und Enmifikation als »Krankheit« beschrieben werden, mehr als nur eine Metahper. Es kann gut sein, daß es in der Natur der psychologischen Grundlagen von Propaganda liegt, daß sie, einmal in der sozialen Psyche aktiviert, sich über Kommunikation verstärkt und ausbreitet.

Ich möchte noch, bevor wir die Betrachtung der Ursachen von Enmifikation abschließen, eine andere Perspektive berücksichtigen. Und zwar die, welche von Pratkanis und Aronson (1991, S.167-174) vorgelegt wurde. Sie ist die logische Grundlage einer weiteren Persuasions-Technik, die auf die kollektiven Emotionen einer Population abzielt, und ist bekannt als »Minimum Group Paradigma« – ursprünglich entdeckt von Henri Tajfel (1981). Seine Experimente zeigten, daß sich eine Gruppe aus den bedeutungslosesten und trivialsten Gründen bilden kann und Menschen sich aus geringstem Anlaß –„at drop of a hat“ – als Gruppenmitglieder identifizieren. Pratkanis und Aronson erwähnen, daß der Novelist Kurt Vonnegut den Begriff »Grandfalloons« für eine „stolze und bedeutungslose Verbindung von Menschen“ geprägt hat und verwenden diesen Titel im folgenden ihr ganzes Buch hindurch.

Diese Information wird regelmäßig für Werbung verwendet – z.B.: „Wir sind die reiche, moderne Gruppe, weil wir Mobiltelefone besitzen“ –, aber es gibt auch eine viel bedrohlichere Seite davon. Wie Pratkanis und Aronson (1991, S.168) hervorheben, werden nicht nur die Gemeinsamkeiten einer Gruppe betont, sondern auch die Unterschiede überbewertet. Daraus folgt die Bezeichnung der »Außenseiter« als »Krouts«, »Japs«, »Gooks«, »Nigger«, »Wogs« etc. Das Abstrakte ist leichter zu töten, und gleichzeitig fühlt sich die Gruppe sicherer, mehr in der Lage, sich selbst zu verteidigen, und verhilft sich zu einem wachsenden Selbstbewußtsein. Diese Tendenz findet sich nicht nur in der modernen Gesellschaft, sondern auch in vielen Stammessystemen. Der Stamm der Mandrakas in Brasilien zum Beispiel macht eine Unterscheidung zwischen sich selbst als »Menschen« und allen anderen, die sie als nicht-menschlich oder tierisch ansehen und »Paraquot« nennen. Es gibt viele andere Beispiele eines natürlichen Dehumanisationsprozesses in primitiven Kulturen. Sehr oft werden die »anderen« einer umso gößeren Dehumanisation unterzogen, je weiter sie von dem Stamm oder der lokalen Gesellschaft entfernt sind. Wieder einmal ist Hitler das extreme Beispiel für bewußtes und effizientes Generieren der Meinung einer Masse über »den anderen«. Und tatsächlich nannte er all diejenigen, die er als Außenseiter klassifizierte – so die Juden, Kommunisten, Polen, Zigeuner, Slawen und Homosexuelle – »Untermenschen«. Die Menschen innerhalb der »Gruppe« waren für diesen Enmifikationsprozeß anfällig, da sie, beginnend mit dem ersten Weltkrieg, ihre eigene Identität verloren hatten. Wie Lifton und Markusen (1990, S.52) sagen, war die Niederlage mehr als nur eine militärische Niederlage. „Sie war verbunden mit einem Gefühl der nationalen Demütigung, des ökonomischen Chaos aufgrund der katastrophalen Inflation und des nahenden Bürgerkrieges. (…) Für die einzelnen Deutschen zerbrach eine Welt. Sie erfuhren ein Gefühl der personellen Desintegration und verzweifelten an ihrer indviduellen und kollektiven Zukunft.“

Bisher wurde in diesem Artikel der psychologische Prozeß betrachtet, der bei der Enmifikation von Massen beteiligt ist, und es wurde aufgezeigt, wie Propaganda dieselben Prozesse – so die Vereinfachung des Denkens, die Polarisation und das Bedürfnis, zu Gruppen zu gehören – für ihren manipulativen Zweck verwendet. Es wurden einige der erfolgreichen Methoden der Massenpropaganda untersucht und ihre Ähnlichkeit mit dem spezifischeren Prozeß der Enmifikation hervorgehoben.

Der »Feind« in Waco

Im folgenden werde ich ein aktuelles Beispiel untersuchen, in dem vom Anfang bis zum Ende eine verwickelte Ausbreitung von Enmifikations- und Propagandaprozessen wirksam war. Dies war der Fall bei der Davidianischen Sekte in Waco (Texas), wo eine Kultgemeinschaft sich vor der Welt verbarrikadierte und nach dem Eingreifen des FBI Suizid beging.

Eillen Barker, Autorin des „British Home Office Guide to New Religion movements“ sagt, daß es drei Hauptelemente gibt, die eine Sekte ausmachen, nämlich: soziale Isolation, verantwortungsfreie und absolute Führung und das Verbot, Fragen zu stellen (zit. n. Sydney Morning Herald vom 5. März 1993). Wir werden sehen, daß diese drei Charakteristika Voraussetzungen für das sind, was ich vorher als stark vereinfachtes Denken beschrieben habe, wobei die Menschen beeinflußt oder gezwungen werden, nicht selbst nachzudenken und, bewußt oder anderweitig, die in ihren kognitiven Prozeß »geladene« Information zu akzeptieren, die dann ihr Verhalten beeinflußt. Obwohl im Fall von Enmifikation nicht immer alle drei Elemente gleichzeitig gegenwärtig sind, ist – wenn sie, wie im Falle von Sekten, gemeinsam auftreten – der Enmifikationsprozeß fast eine ontologische Gewißheit.

Um einen »Anhänger« dazu zu bringen, daß er die obigen drei Charakteristika akzeptiert, muß er/sie vermutlich auf einen klassischen Enmifikationsprozeß zurückgreifen. Im Falle von religiösen Sekten, und ganz bestimmt im Fall Waco, erscheint der Feind zuerst in der Philosophie des Führers (in Waco: David Koresh), in der der Teufel zum Feind gemacht wird. Dann expandierte der Feind, um alle einzuschließen, die gegen den Davidianischen Orden waren um schließlich all diejenigen zu umfassen, die dem Orden nicht angehörten. Die mystisch-religiöse Qualität der Leidenschaft, die Hitler in den Menschen entfachte, ist eine Notwendigkeit für jeden religiösen Kult. Üblicherweise eine Empfindung der Losgelöstheit von der natürlichen Welt, ein Gefühl des Nichtverstandenwerdens und der Wille, dem Führer und der Philosophie ihre Ergebenheit zu beweisen, machen sie zu auserlesenen Vollstreckern von Selbstaufopferung.

Das FBI hätte in Koreshs Augen kein besserer Feind sein können, da es die Regierung und damit den Feind – die Welt außerhalb des Hauptquartiers der Sekte auf Ranch Apocalypse – repräsentierte. An diesem Fall kann man sehen, wie der Feind als nicht-natürliches Etwas entstand und immer konkreter im realen Leben repräsentiert wurde, bis schließlich jeder außerhalb des Ranch-Geländes zum Feind wurde, der von ihrer Sicht der Welt aus genügend dehumanisiert war, um ungestraft getötet werden zu können. Dies ging noch einen Schritt weiter, bis die Dehumanisation sich auf ihre eigene Körper bezog und sie Suizid begingen. Man kann sich fragen, ob dieser letzte Schritt Enmifikation als solche ist, aber es ist sicherlich eine Konsequenz davon. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte, wo Massenmörder in der Folge der Dehumanisation von anderen Menschen sich selbst das Leben genommen haben. Georg Simmel (1955) macht es eher noch überzeugender deutlich, wenn er von Konflikt als dem Versuch spricht, divergierende Dualismen zu lösen. Danach ist Konflikt ein „Weg um eine Art Einheit zu erreichen, selbst wenn dies durch die Vernichtung einer der Konfliktparteien geschieht“. Dies steht in Verbindung mit der Kognitiven Dissonanz-Theorie von L. Festinger, auf die ich mich weiter oben bezogen habe. Die »Einheit« in diesem Fall wird nicht durch die antizipierte Vernichtung der Welt außerhalb erreicht, sondern durch die geplante vollzogene Vernichtung ihrer eigenen Welt. Ein weniger dramatischer Fall wird von Lifton und Markusen (1990) aufgeführt, in dem eine Frau in San Francisco das Ende der Welt für einen bestimmten Tag vorhergesagt hatte. Als dies nicht eintraf, wurde die kognitive Dissonanz bei ihr und ihren Anhängern durch die Aussage reduziert, daß ihre Vorbereitungen und die Vorhersage des fatalen Tages sein Auftreten verhindert hätten.

John Mayer (zit. n. Sydney Morning Herald vom 5. März 1993) hat eine Entdeckung gemacht, die er „das gefährliche Führungssyndrom“ nennt und dessen Charakteristika genau die gleichen sind wie bei Enmifikation. Dies sind:

  • Gleichgültigkeit gegenüber Leiden und Abwertung von anderen;
  • Verbot von Kritik und Kontrolle der Information und
  • ein ausgeprägter Sinn für einen Führungsanspruch, der sich oft in dem Glauben manifestiert, sie wären von Gott oder dem Messias ausgesandt.

Es sollte angemerkt werden, daß es viele »seltsame« Religionen oder Gruppen auf der Welt gibt, die oft Sekten genannt werden, aber nicht allen dieser drei Charakteristika entsprechen. Es ist zum Beispiel nicht ausreichend, sonderbare Überzeugungen zu haben. Die Bhagwan Rajneesh Organisation wird oft als die klassische Sekte angesehen. Aber trotz all ihrer unüblichen Überzeugungen und Aktivitäten hat ihr Führer seinen Anhängern keine rigide Denkweise auferlegt und hat den Informationsfluß und das Fragen nicht eingeschränkt. In der Tat stellt Eillen Barker (zit. n. Sydney Morning Herald vom 5. März 1993) heraus: „Ernsthafte Forschung legt nahe, daß viele der Prozesse, die involviert sind, wenn jemand Mitglied in einer neuen religiösen Bewegung wird, sich nur wenig, wenn überhaupt, von den Prozessen unterscheiden, die in der Familie, der Schule, der Armee oder traditionellen Religionen vorkommen.“

Auf der anderen Seite des »Zauns« im Fall Waco stand das FBI, das wohlbekannte Propagandamethoden anwendete, um die Menschen von der Ranch zu vertreiben. Bei der gegebenen Fortdauer des Enmifikationsprozesses auf beiden Seiten und des Gefühls, daß etwas geschehen müsse (im Gegensatz zur Möglichkeit der Untersuchung tief verwurzelter Bedürfnisse), war das Ergebnis nicht inkonsistent mit den Aktionen des FBI.

Schlußfolgerung

Im letzten Teil dieses Artikels habe ich ein aktuelles Beispiel des Enmifikationsprozesses aufgeführt und versucht, einige Lehren aus der Geschichte herauszustellen und einige weniger offensichtliche Implikationen des modernen alltäglichen Propagandaprozesses zu verdeutlichen. Es ist klar, daß wir für die Bedingungen der Enmifikation anfällig sind. Wenn wir diese Tatsache einmal erkannt haben, können wir durch Selbst-Analyse und bewußte Umstellung unserer Denkprozesse der Akzeptanz vereinfachter Meinungen und einfacher, »primitiver« Lösungen des Konflikts, mit dem wir konfrontiert sind, entgegenwirken. Wir müssen mit dem Prozeß der Analyse und des Hinterfragens anfangen, bevor Kriege beginnen oder Konflikte eskalieren und dürfen instinktiven Verteidigungsmechanismen nicht erlauben, uns zu beherrschen, und nicht zulassen, daß Angst- und Haßgefühle sich vervielfachen, bis sie auf einen Feind projiziert werden.

Wenn wir bei der Lösung eines Konflikts den eskalatorischen – zu Sündenböcken abstempelnden – Enmifikationsprozeß verhindern wollen, werden wir eine fundamentale Veränderung der Einstellungen und der Denkrichtung erreichen müssen. Ein Paradigmenwechsel ist nötig; weg von den exponentiellen Streßkurven der derzeitigen Entscheidungsfindungsmechanismen, die nur die nicht aufhaltbaren, reaktiven Szenarien fördern, welche zu Krieg führen. Die Zeiten, in denen wir über den Luxus verfügten, den Feind als einen nicht mit uns verwandten Fremden wahrzunehmen, sind vorbei. Wie Paul Pillar (1990) sagt: „Der Feind muß jetzt, da er nicht länger nur ein Objekt des Hasses oder Ziel militärischer Operationen ist, als Partner bei der schwierigen Suche nach einer akzeptablen und funktionierenden Schlichtung gesehen werden. Damit diese Suche erfolgreich sein kann, müssen die Ziele und Empfindlichkeiten des Feindes mehr beachtet – und muß ihnen mehr Berechtigung zugesprochen – werden.“ Die vergangenen Wahlen in Südafrika machen dieses Land zu einem lebensechten Laboratorium, um Pillars Prämisse zu überprüfen. Wenn ein solcher Paradigmenwechsel erreicht werden kann, können vielleicht die Worte eines anonymen Spiritual-Dichters Trost bringen: „The holiest place on earth is where an ancient hatred becomes a present love“ – Der heiligste Platz auf Erden ist da, wo ein vormals verhaßter Mensch zum Geliebten wird.

Literatur

Deutsch, K. W., 1970. Politics and Government. Boston: Houghton Mifflin.

Deutsch, M., Krauss, R. M., 1965. Theories in Social Psychology. London: Basic Books.

Festinger, L., 1957. A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford, CA.: Stanford University Press.

Jowett, G. S., O'Donnell, V., 1992. Propaganda and Persuasion. London: Sage.

Keen, S., 1991. Faces of the Enemy. San Francisco: Harper.

Lifton, R. J., Markusen, E., 1990. Genocidal Mentality. London: Macmillan.

Lippmann, W., 1929. Public Opinion Around the World. New York: Macmillan.

Milgram, S., 1974. Das Milgram-Experiment. Reinbek: Rowohlt.

Pillar, P. L., 1990. Ending Limited War: The Psychological Dynamics of the Termination Process, in: Glad, B. (Ed.). The Psychological Dimensions of War. London: Sage.

Pratkanis, A., Aronson, E., 1991. Age of Propaganda: The Everyday Use and Abuse of Persuasion. New York: W. H. Freeman.

Reich, W., 1934. Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1971.

Reich, W., 1950. Character Analysis. London: Vision Press.

Rieber, R. W., Kelly, R. J., 1991. Substance and Shadow: Images of the Enemy, in: Rieber, R. W. (Ed.). The Psychology of War and Peace. New York: Plenum Press.

Tajfel, H., 1981. Human Groups and Social Categories. Cambridge, UK.: Cambridge University Press.

John F. Hunt, geb. 1948, war Rechtsanwalt (Solicitor) mit eigener Praxis in London (U.K.), die er im August 1991 aufgab um auf Weltreisen zu gehen. 1992/93 absolvierte er ein Postgraduiertenstudium in »Conflict Resolution« an der Macquarie University in Sydney (Australien), wo er heute lebt.