Thesen zur „Militarisierung der Psychologie“

Thesen zur „Militarisierung der Psychologie“

von Winfried Mohr

  1. Die Ausgaben für militärische Forschung in den Bereichen Medizin, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte usw. haben von 1973 mit ca. 8,5 Mio. DM bis 1987 (Haushaltsplan) mit ca. 34,4 Mio. DM stark zugenommen. Gleichzeitig stellen Psychologen der Bundeswehr (Psychologische Rundschau, 1985, 26, S. 177) wachsenden Bedarf an Psychologen fest, denn „Personal (wird) zunehmend als „kritische Schwachstelle“ in militärisch-technischen Systemen angesehen und daher dem „Faktor Mensch“ ein immer stärkeres Gewicht beigemessen“.
  2. Trotz dieser Hinweise auf Militarisierungstendenzen der Psychologie steht ihr konkreter Nachweis noch aus. (Für andere Wissenschaften übrigens auch!). Es genügt dabei nicht, auf militärische Anwendung von Psychologie zu verweisen und einzelne militärische Forschungsprojekte. Um von Militarisierung einer Einzelwissenschaft sprechen zu können, muß ein erheblicher Anteil der Forschung und/oder Anwendung vorwiegend militärischen Zwecken dienen.
  3. Was ein „erheblicher Anteil“ ist, muß nach verschiedenen Kriterien beurteilt werden. Der Aufwand an Drittmitteln aus militärischen Quellen ist dabei nur eines unter mehreren. Bedeutsam ist gleichermaßen, inwieweit Ressourcen für andere Forschung eingeschränkt werden, welcher Anteil an Erstausstattung für die militärische Forschung eingebracht wird, wieviele Personen damit befaßt sind, wie eng bzw. breit der Kreis der Projektteilnehmer ist, welchen Status diese in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit und damit auch welchen Einfluß sie auf die Wissenschaft haben usw.
  4. Militarisierung darf nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Einschränkung in der Auswahl von Fragestellungen betrachtet werden, vielmehr ist auch der Einfluß auf die Theoriebildung, auf das Menschenbild der Psychologie zu berücksichtigen. Es ist zu prüfen, inwieweit militärische Forschung nicht einen negativen „theoretischen spin-off“ bewirkt.
  5. Unter diesem Gesichtspunkt wäre dann zu prüfen, inwieweit sich der militärische Zweck der Wissenschaft in der Lehre und in der öffentlichen Diskussion niedergeschlagen hat, Bestandteil der herrschenden und der Alltagstheorie geworden ist. Für die Psychologie ist dieser Gesichtspunkt von besonderer Bedeutung, insofern der militärische Zweck sich nicht nur in ihrer Anwendung als Psychotechnik, sondern auch in ihrem Beitrag zur herrschenden Ideologiebildung wiederfindet.
  6. Die Ausgaben für militärische psychologische Forschung sind nicht bekannt, dürften aber höchstens ein Fünftel der oben genannten Beträge ausmachen. Die Schwerpunkte liegen nach Angabe des PsychDstBw in den Bereichen Personalpsychologie, psychologische Ergonomie bzw. Arbeitspsychologie und Flieger- und Flugpsychologie, für die teilweise bundeswehreigene Forschungseinrichtungen bestehen. Der Großteil der Gelder dürfte in diese Institutionen fließen.
  7. Im Bereich öffentlicher Forschung kann man eine Konzentration von militärischen Forschungsaufträgen auf wenige Einrichtungen und Personen feststellen, soweit dies über öffentlich zugängliche Quellen nachweisbar ist. Es scheint eine relativ kleine und stabile Gruppe von Forschern zu geben, die bevorzugt mit militärischen Aufträgen bedacht werden?
  8. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von weniger engen Verbindungen zwischen Instituten und Militär (z.B. einmalige Gutachten, Diplomarbeiten, usw.), die einen größeren Kreis von Personen betreffen. Seit 1967 gab es derartige oder engere Verbindungen an 28 von 41 untersuchten psychologischen Lehr- und Forschungseinrichtungen.
  9. Die militärische Forschung ist nahezu ausschließlich anwendungsorientiert Grundlagenforschung wird anders als z.B. in den USA kaum unterstützt. Ausnahme sind die regelmäßigen NATO
    Symposien. Dies ist sicher ein Grund für die bislang relativ geringe Attraktivität militärischer Forschungsfinanzierung in der Psychologie. Dazu trägt auch die eingeschränkte Publikationsfähigkeit der Forschungsergebnisse aus diesem Bereich bei.
  10. Im Vergleich zu anderen Forschungsbereichen ist der Anteil militärischer Forschung in der Psychologie derzeit nicht sehr bedeutend. Ein unmittelbarer theoretischer spin-off militärischer Forschung in der BRD ist kaum auszumachen. Die militärische Forschung der Psychologie wird überwiegend von einer Forscher-Ingroup und von „Forschungsseilschaften“ betrieben und profitiert eher von nichtmilitärischen Projekten als umgekehrt. Die zunehmende Finanzierung militärisch angewandter Forschung bei gleichzeitig stagnierender oder sogar rückläufiger Forschungsfinanzierung in nichtmilitärischen Bereichen könnte allerdings dazu führen, daß der Kreis der Interessenten an militärischer Forschung in der Psychologie zunimmt.
  11. So lange jedoch frei publizierbare Grundlagenforschung nicht in verstärktem Maße militärisch gefördert wird und die Einrichtung von Personalstellen nicht in erheblichem Ausmaß von dauerhaftem Mittelzufluß aus dem militärischen Bereich abhängt, dürfte die Attraktivität militärischer Forschungsförderung recht begrenzt bleiben. In dieser Hinsicht gibt es deutliche Unterschiede zwischen der BRD und den USA.
  12. Die Bereitschaft, militärische Forschung zu betreiben, könnte allerdings indirekt zunehmen durch die verstärkte Hinwendung zu arbeits- und betriebspsychologischen Anwendungen der Psychologie, die in ihren Problemstellungen den militärischen verwandt sind.
  13. Im Bereich der psychologischen Theoriebildung gibt es in einigen Bereichen Anzeichen für einen spin-off militärischer Forschung aufgrund der Rezeption angloamerikanischer Psychologie, die in einigen Gebieten etwa der Allgemeinen Psychologie auch im Grundlagenbereich in erheblichem Maße militärisch finanziert ist. Auf dem Gebiet der „Militarisierung von Theorien“ gibt es ein erhebliches Forschungsdefizit.

Winfried Mohr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Psychologie der TH Darmstadt.

Psychologie in der Kriegsforschung

Psychologie in der Kriegsforschung

von Paul Brieler

Die Psychologie – ist sie überhaupt für Kriegsforschung verwend- und verwertbar? Betrachtet man die Titel einiger im militärischen Kontext entstandener Forschungsberichte, liegt der Gedanke an Kriegsforschung erstmal fern: „Zur Persönlichkeitsstruktur das Haschischkonsumenten“ (SCHENK 1974) oder „Die Entwicklung persönlicher und sozialer Kompetenzen bei 15 – 20jährigen Jugendlichen“ (SEIFFGE-KRENKE/OLBRICH 1983). Was an diesen Themen verweist auf militärische Nutzung oder Interessen? Und könnten die Inhalte nicht auch für zivile Bereiche von Interesse sein?

Das Dilemma, auf der inhaltlichen Ebene nicht problemlos zwischen ziviler und militärischer Forschung unterscheiden zu können, versuchte das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI mit einer Bestimmung von Rüstungsforschung zu lösen, „die sich auf die Intention des Geldgebers und die damit verbundene Funktion der Forschungsergebnisse bezieht„ (ASTA 1985, 186). Danach kann unter Rüstungsforschung subsumiert werden

„1. Jede Forschung und Entwicklung, die durch die Haushaltsausgaben eines Verteidigungsministeriums (oder einer vergleichbaren Verwaltungseinheit) finanziert werden; und

2. jede andere Forschung und Entwicklung, die durch Ministerien und Behörden finanziert wird und offiziell als Forschung und Entwicklung bezeichnet wird, die für die Zwecke des Militärs der Verteidigung oder der Zivilverteidigung durchgeführt werden oder sich hauptsächlich mit Waffen befassen!“ (SPIRI 1972, zit. n. ASTA 1985, 186 f.)

Bei Rückgriff auf diese Definition ist also davon auszugehen, daß die genannten übrigens im Auftrag des Bundesverteidigungsministeriums gefertigten Forschungsberichte ebenso wie die im weiteren erwähnten Arbeiten Rüstungsforschung, oder pointierter, Kriegsforschung darstellen. Im folgenden soll ein notwendig auf Ausschnitte beschränkter Einblick in Umfang, Inhalte, Folgen, etc. psychologischer Forschung für militärische Auftraggeber gegeben werden.1

Psychologische Forschung innerhalb der Bundeswehr

Wehrpsychologische Forschung wird in geringerem Umfang durchgeführt als von Bundeswehrpsychologen selbst gewünscht wird. Die Personalauslese- und Beratungstätigkeiten, der Arbeitsbereich von ca. 80 Prozent der noch 130 Bundeswehrpsychologen 2, scheint eine intensivere Forschungstätigkeit wohl nicht zuzulassen. Die anderen 20 Prozent sind überwiegend in der wehrpsychologischen Forschung und Entwicklung tätig. Forschungsstätten befinden sich derzeit im Bundeswehramt in Bonn, wo sozialpsychologische Fragestellungen behandelt werden, im Flugmedizinischen Institut der Luftwaffe (Fürstenfeldbruck)mit dem Forschungsbereich Flieger-/Flugpsychologie und im Schiffahrtsmedizinischen Institut (Kiel), im Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (Koblenz) sowie den Erprobungsstellen der Bundeswehr, in denen psychologisch ergonomisch geforscht und entwickelt wird. Der noch 1971 artikulierte Wunsch, ein wehrpsychologisches Institut als „geistige, wissenschaftliche Heimat“ der Wehrpsychologie einzurichten, blieb anscheinend unerfüllt. Eine weitere Forschungseinrichtung, von der noch die Rede sein wird, ist das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SoWi in München), das sich mit Problemen der Organisation, Information und Kommunikation in der Bundeswehr, dem Verhältnis Militär und Gesellschaft, Fragen der Theorie und Praxis der Ausbildung und empirischer Sozialforschung befaßt. Der Vollständigkeit halber seien noch die Psychologie-Abteilungen der beiden Bundeswehr-Universitäten genannt. Im traditionell wissenschaftsfeindlichen Militär ist die Psychologie neben den Anwendungsbereichen (vgl. MOHR 1985) auch mit einem breiten Aufgabenspektrum im Bereich der militärischen Forschung und Entwicklung engagiert.

Universitäre psychologische Kriegsforschung

Der zweite große Bereich psychologischer Kriegsforschung findet an bundesdeutschen Universitäten und privaten Forschungsinstituten statt. Weil in der Bundeswehr prinzipiell keine psychologische Grundlagenforschung betrieben wird, muß die Bearbeitung grundlegender Fachprobleme durch die externe Vergabe von Forschungsaufträgen und Gutachten erfolgen. Dadurch war und bleibt die Bundeswehr ein gewichtiger Forschungs-Nachfrager, wobei genaue Angaben über die Höhe der zur Verfügung stehenden wehrpsychologischen Forschungsmittel fehlen.

Konstatierten noch 1973 führende Bundeswehrpsychologen die „mangelnde Bereitschaft der Universitätsinstitute, Forschungsaufträge aus dem Bereich der Bundeswehr anzunehmen“, scheinen solche Schwierigkeiten heute überwunden, wie die lange Liste der bisher beteiligten Psychologischen Institute folgender Universitäten zeigt: Würzburg (als erstes Institut unter ARNOLD und PONGRATZ, die Trendsetter), Bonn, Aachen, TH München, Bielefeld, Mainz, Braunschweig, Düsseldorf, Mannheim, Frankfurt, Saarbrücken, Trier, Gießen und Bochum – psychologische Forschung für militärische Zwecke scheint nicht länger ein Tabu-Thema zu sein.

Beispielhaft herausgegriffen sei hier der seit 1976 laufende Forschungsvertrag „Wissenschaftliche Sachstandanalyse zum Problem der Aufmerksamkeit und anderer kognitiver Funktionen bei Kontroll-, Überwachungs- und Steuerungstätigkeiten in komplexen wehrtechnischen Systemen der Streitkräfte unter besonderer Berücksichtigung gruppendynamischer und situationsspezifischer Parameter“, bearbeitet von Prof. FRÖHLICH an der Universität Mainz. Dieser Forschungsauftrag ist Teil der verstärkten Bemühungen, im Rahmen auch des Einsames der Psychologie dem Ziel einer Optimierung militärischer Mensch-Maschine-Systeme näherzukommen (u. a. der optimalen Anpassung des Menschen an Waffen und Gerät). Das Forschungs- und Entwicklungsgebiet „Psychologische Ergonomie“ wird von den Streitkräften besonders gefördert, weil es eine (relativ) hohe Kampfwertsteigerung bei niedrigem Kosteneinsatz verspricht. In diesem Forschungsprojekt nun war von Interesse, „Informationen über latent leistungsbeeinträchtigende Faktoren speziell bei Kontroll-, Überwachungs- Steuerungstätigkeiten in militärischen Systemen zu gewinnen, wobei vor allem persönlichkeits-psychologische Parameter (…), Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz (…) und außerorganisatorische Belastungsfaktoren (…) untersucht wurden“ (ASTA 1985, 189). Die Quintessenz der Forschungsanstrengungen lautet: „daß Personen, die ein hohes Ausmaß an Life-Stress, definiert als negative, lebensverändernde Ereignisse, erfahren haben, weniger fähig sind, Probleme, die bei der Ausübung ihrer Tätigkeit anfallen, zu bewältigen, was sich u.a. in verstärkten Beanspnuchungsgefühlen und reduzierter Leistungsfähigkeit manifestiert, wobei Leistungsverschlechterungen vor allem in bedrohlichen und/oder unerwarteten Situationen zu erwarten wären“ (a.a.O., 191); d. h. besonders im sogenannten Ernstfall wäre auf diese für die Kriegsführung wichtigen Technik-Soldaten kein hundertprozentiger Verlaß. Um die Streßbewältigungsfähigkeit bzw. die Streßtoleranz zu steigern, entwickelte FRÖHLICH anschließend ein spezielles Trainingsprogramm für Soldaten, die hohem Life-Streß ausgesetzt sind. Er kooperiert dabei mit dem amerikanischen Psychologen SARASON, der an ähnlichen Life-Streß-Bewältigungsprogrammen für die amerikanische Marine arbeitet. Die AG „Psychologie und Frieden“ an der Universität Mainz stellte fest, daß die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes kaum auf zivile Tätigkeitsbereiche übertragbar seien, da dieses in Planung und Durchführung eng an die spezifischen Ansprüche der militärischen Auftrag- und Geldgeber angelehnt war. So wurden Tätigkeitsbereiche „untersucht, die tatsächlich nur im militärischen Gebiet zu finden sind; es wurden Versuchs Personen ausgewählt, die bestimmte Bedingungen erfüllen mußten, wie z. B. daß viele unterschiedliche Bereiche innerhalb der Bundeswehr abgedeckt sein sollten; zu guter Letzt wurden die Aufgaben in den Experimenten und Tests, an denen Soldaten teilnehmen mußten, auf Bundeswehrsoldaten ausgerichtet.“ (a.a.O., 190)

Die Rechtfertigung FRÖHLICHS, mit dieser Forschung der Auslösung von Fehlalarmen vorzubeugen und somit zu mehr militärischer Sicherheit beizutragen, dürfte nicht mehr als ein frommer Wunsch sein.

Psychologie im Dienst der NATO

FRÖHLICH „(ist) gleichzeitig Mitglied des „NATO-Scientific-Systems“, einem Gremium, in dem Entscheidungen darüber gefällt werden, welche Forschungsprojekte von der NATO gefördert werden und welche nicht“ (ASTA 1985, 195); er hat also auch die militärische Relevanz von Forschung zu bedenken. Diese NATO-Gremientätigkeit verweist auf einen dritten Weg der Dienstbarmachung der Wissenschaften für militärische Ziele: die Wissenschaftsorganisation der NATO.

Die Psychologie erlangte erst seit dem „First International Symposium an Military Psychology“ 1957 in Brüssel und dem Symposium in „Defence Psychology„ 1960 in Paris die größere Beachtung und Einfluß im NATO-Wissenschaftsbetrieb. Die Charta des NATO-Wissenschaftsausschusses „requires to establish „positive policies towards basic and applied research and the application of science for defence purposes among the member nations (…) that the field of defence psychology in such a scientific and technological field, that it has much to contribute to the strength of the NATO-community, especially by way of improving military effectiveness, is hardly debatable“ (GELDARD 1962, 15). Dieser Einschätzung der besonderen Bedeutung der Psychologie schlossen sich die NATO-Gremien an; 1967 dann wurde zur Forcierung der noch ungenutzten Möglichkeiten ein erweitertes Programm „Menschliche Verhaltensforschung„ aufgestellt. Dieses (seit 1973 Sonderprogrammgruppe) „befaßte sich mit dem Problem des besseren Verständnisses der menschlichen Verhaltensweisen als Einzelwesen und in der Gruppe und nahm Programme in Angriff, durch die die Verbreitung und Anwendung vorhandener Kenntnisse verbessert, die Forschungsarbeiten auf den vordringlichsten Gebieten gefördert und die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der menschlichen Verhaltensforschung intensiviert werden sollte; dieses Gebiet umfaßt die Sozial-, Erziehungs-, Umwelt-, experimentelle, physiologische und industrielle Psychologie und die Ergonomie.“ (NATO 1982, 244 f)

Daß die Psychologie wie Wissenschaft überhaupt zu einem zentralen Faktor in den militärischen Planungen der NATO geworden ist, wird in den umfangreichen Publikationsreihen „ASI-SERIES (Berichte von Konferenzen und Symposien) deutlich. Im Rahmen der für die Psychologie relevanten Serie „Human Factors“ der letztgenannten Reihe z. B. sind von 1976-1982 allein 25 Konferenzen bzw. Symposien mit pychologischer Fragestellung abgehalten worden. Der Berliner Psychologe und TU-Professor JUNGERMANN z. B. hat sich 1983 an einer Sommerschule des NATO advanced study Institute (ASI) beteiligt. In seinem Beitrag, in dem er sich mit der Problematik auseinandersetzt, wie möglichst genaue Vorhersagen über die zukünftigen Folgen von Großtechnologien (z. B. Atomkraftwerken) und ihren gesellschaftspolitischen Implikationen (z. B. Akzeptanz der Bevölkerung) gemacht werden können, zeigt er auf, daß die heute gebräuchlichen „Szenarien“ nur eine ungenaue Vorhersage zukünftiger Entwicklungen zulassen. Ein Faktor, dessen Beachtung wesentliches zur Verbesserung der Szenarien-Konstruktion beitragen könne, sei die kognitive Psychologie, denn die existierenden Techniken zur Szenarien-Konstruktionen basieren überwiegend auf der fachlichen Intuition der beteiligten Experten. Diese sei aber u. a. von der Wissensorganisation, der Verfügbarkeit von Informationen und den individuellen Vorstellungen von Zukunft abhängig und führe daher nicht unbedingt zu optimalen Szenarien. Auch eine Gruppe könne solche Fehlerquellen nur zum Teil ausgleichen, so daß weitere experimentelle Studien und Fallstudien über den kognitiven Faktor in der Szenarien-Konstruktion sowie die Entwicklung und Testung von Techniken, die kognitive Fähigkeiten optimal nuten, nötig seien.

Es ist äußerst schwierig, den konkreten militärischen Nutzen bzw. den Weg der Nutzbarmachung der Inhalte/ Ideen eines solchen Vortrages aufzuzeigen. Einleuchtend dürfte sein, daß die behandelte Thematik „Szenarien-Konstruktion“ von großem Interesse für militärische Planungen ist. Und aus dem Programm des NATO-Wissenschaftsausschusses läßt sich das Ziel der Wissenschaftsförderung – Steigerung der militärischen Potenz – unzweifelhaft ablesen. Doch wie das im einzelnen funktioniert, ob durch eine weitere militärische oder zivile Förderung derjenigen Wissenschaftler, deren Forschungsideen fruchtbar erscheinen, oder ob durch psychologische Forschung in militärinternen Forschungslaboratorien (von denen in den LISA einige arbeiten – vgl. WATSON 1982), muß hier noch dahingestellt bleiben – alle Beteiligten und Quellen geben sich zugeknöpft. In der US-amerikanischen psychologischen Forschung wäre ein Zusammenhang zwischen NATO-Aktivitäten und daraus resultierender Forschungsförderung wohl leichter nachweisbar. Dort stammt nämlich jede 3. Veröffentlichung aus dem Bereich der Militärpsychologie: ein Gutteil der psychologischen Forschung und Entwicklung wird vom Militär finanziert und dieser Geldgeber wird offen genannt.

Weitere Beobachtungen und Konsequenzen für das Wissenschaftssystem

Wie gelangt die Wissenschaft ins Militär bzw. das Militär an die Wissenschaft? Nun, PUZICHA und MEISSNER sind Angestellte des Verteidigungsministeriums, in dessen Auftrag sie forschen. Für FRÖHLICH, der nach eigenen Angaben auf einem Kongreß angesprochen wurde, interessierte sich die Bundeswehr, was auf eine genaue Beobachtung der je aktuellen Entwicklungen in der Forschung auf eine wehrpsychologische Verwertbarkeit hin schließen läßt. In der Regel würden sich die Wissenschaftler ans Militär wenden, um Gelder für ihre Forschungsvorhaben zu erhalten (nach ASTA 1985, 193). Und die NATO läßt durch 'unabhängige' Wissenschaftler Sommerschulen und Kongresse ausrichten, stellt Finanzen und Publikationsmöglichkeiten bereit und hat die Möglichkeit, durch Beobachter Kontakte anzubahnen. Bisher war es nur eine Minderheit unter den Psychologen in der BRD, die entweder aus eigenem Antrieb oder nach Anwerbung ihre wissenschaftlichen Kompetenzen direkt in den Dienst der militärischen Aufrüstung der Psyche stellten. Für die Zukunft zeichnet sich allerdings eine Wende ab, was ich weiter unten ausführen möchte. Aus der „sozialwissenschaftlichen Gemeinschaft“ waren bisher nur selten anerkennende Worte für die Wehrforscher zu vernehmen – Forschung über oder für das Militär genießt nur geringes Ansehen. „Das Verhältnis zwischen Militär und Sozialwissenschaften ist zunächst durch ein latentes gegenseitiges Mißtrauen gekennzeichnet. Der Wissenschaftler fürchtet einerseits eine unkontrollierte Verwertung seiner Ergebnisse durch das Militär (…). Auf der anderen Seite scheut das Militär häufig die verunsichernde Wirkung der Wissenschaft“ (LIPPERT/PUZICHA 1977, 298).

Das Mißtrauen seitens der Wissenschaft scheint berechtigt. Zwischen den Militär Psychologen Staaten bestehen nämlich rege Kontakte. So saßen z. B. auf dem 14. Kongreß für Angewandte Militärpsychologie 1976 in Florenz neben Militärpsychologen aus NATO-Ländern auch Vertreter aus Israel, dessen Armee in Angriffskriegen und für die „Befriedung“ okkupierter Gebiete eingesetzt wird. Ganz zu schweigen von der US-Armee als dem verlängerten Arm imperialistischer US-Außenpolitik, wie Vietnam oder Mittelamerika illustrieren. Außerdem dürfte es besonders in diesen Zeiten einer expansiven Waffenexportpolitik schwierig sein, Forschungsergebnisse nur in „demokratische“ Panzer- oder Schiffskonstruktionen einfließen zu lassen – eine Kontrolle der Verwendung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse ist somit illusorisch.

Eine Aufgabe der Wissenschaft muß m.E. darin bestehen, sich über die möglichen Konsequenzen ihrer Forschung und Veröffentlichungen klar zu werden und die Verantwortung für die weitere Verwertung zu übernehmen. Dies ist ein hehrer Anspruch, dem man sich aber nicht wie FRÖHLICH dadurch entziehen kann, es als 'nicht in seiner Hand liegend' anzusehen, wofür seine Forschungsergebnisse eingesetzt werden und so zumindest verbal eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik zu leugnen.

Dabei ignoriert das Militär schlicht einige Voraussetzungen für Wissenschaft. Wenn bundeswehrinterne Studien zu Ergebnissen führen, die nicht ins militärische Denkschema passen, wird deren Veröffentlichung einfach verhindert, denn „die Ermittlung und Veröffentlichung von Schwachstellen, das Aufzeigen von Problemen gilt auf der einen Seite als Schwächung der Verteidigungsbereitschaft, auf der anderen Seite provozieren sie Fragen nach der sinnvollen Verwendung von Steuergeldern, politischen Druck und Rechtfertigungsverhalten.“ So charakterisiert der ehemalige wissenschaftliche Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (SoWi) ZOLL (1979, 20), die Ängste des Militärs, die zu Eingriffen in die Wissenschaftsautonomie führen. Dem formal unabhängigen SoWi passierte es schon zweimal, daß politisch mißliebige Studien auf Eis gelegt bzw. zur inhaltlichen Kontrolle einer anderen militärischen Stelle vorgelegt wurden. Wissenschaftler machen sich so zum Büttel des Militärs.

Diese Verfahrensweise zeigt sehr deutlich, daß Wissenschaft im militärischen Kontext von den Erwartungen der Auftraggeber abhänigig ist. Innerhalb der Bundeswehr, so konstatierten (LIPPERT/PUZICHA 1977, 298), hätten die sozialpsychologischen Forderungen eine „Alibi- oder Feuerwehrfunktion„ und nur in geringem Maße eine „Planungsfunktion“. Kommt einmal ein Forschungsauftrag mit „Planungsfunktion“, spiegelt dessen Ergebnis – wie gezeigt die spezifischen Erwartungen der Auftraggeber wider und hat doch nur „Alibifunktion“ für politisch-militärisch motivierte Entscheidungen. Ein Grund liegt in der militärischen Sozialisation der Wehrpsychologen: sie sollten Reserveoffiziere sein, sich also als Militärs bewährt haben – die militärische Logik fließt so implizit in die „unvoreingenommene“ Forschung ein.

Die zivile militärpsychologische Forschung anregte m. W. bisher nicht das militärische Mißtrauen. Die Wissenschaftler sind ausgelesen und die Themen sind politisch nicht brisant, eher technokratisch, so daß mit Reinfällen nicht zu rechnen ist. Und sollte es Reinfälle gegeben haben, erfahren wir nur selten davon, wie z. B. aus den USA (vgl. WATSON 1982). Die öffentliche Diskussion nämlich, auf die Wissenschaft angewiesen ist, ist im Bereich der BRD-kriegspsychologischen Forschung, Entwicklung und Anwendung verpönt. Die Wissenschaftler beteiligen sich an dieser Praxis: so waren z. B. die Ergebnisse einiger universitärer Forschungsaufträge aus Gründen der militärischen Sicherheit von vornherein nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Die Notwendigkeit der Geheimhaltung läßt sich allerdings, weil nicht zu überprüfen, immer mit militärischen Sicherheitserfordernissen begründen, mit dem Nebeneffekt der Ausschaltung einer kritischen Öffentlichkeit. Seit 1981 ist z.B. die Zeitschrift „Wehrpsychologische Mitteilungen“ wieder als VSnfD (Verschlußsache – nur für den Dienstgebrauch) klassifiziert, ohne dies näher zu begründen. Damit ist die einzige Möglichkeit entfallen, sich eingehender über Arbeitsvorhaben, Forschungsprojekte und sonstige Interna des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr zu informieren.

Aber auch die zivilen Kriegswissenschaftler scheuen die Öffentlichkeit. FRÖHLICH gibt als Auftraggeber nur Bund an, er hat das Verteidigungsministerium einfach vergessen. Für die Öffentlichkeit forscht er über „sozialtechnische Systeme“, für die Bundeswehr jedoch über „wehrtechnische Systeme in den Streitkräften“. Und JUNGERMANN hielt seinen Vortrag vor dem „Advanced study Institute“ – der Geldgeber NATO scheint nicht erwähnenswert. Diese Beispiele ließen sich fortsetzen, und sie belegen eine Art „Desinformations-Verhalten“ der beteiligten Forscher, das für den dürftigen Wissensstand in der Fachöffentlichkeit mit ursächlich sein dürfte und ein unbehelligtes Weiterforschen erlaubt.

Auf der bereits erwähnten Konferenz der „Military Testing Association“ wurde hervorgehoben, „daß die Praktikabilität von Vorschlägen, überzeugende empirische Belege und der Nachweis eines ökonomischen Nutzens über das Gewicht entscheiden, welches fachpsychologischer Arbeit in den Streitkräften beigemessen wird. Die derzeitigen Rahmenbedingungen wurden als günstig angesehen. Knapper werdende Ressourcen, zunehmend komplexere Entscheidungsgrundlagen sowie der technologische und gesellschaftliche Wandel haben bei den militärischen Führungsstäben zu einer verstärkten Bereitschaft geführt, psychologisches Fachwissen anzufordern und umzusetzen. Dieses wird auch in der Bundesrepublik zunehmend durch Forschungsverträge mit Universitätsinstituten bereitgestellt“ (EBBENRETT/STEEGE 1985, 176). Das Forschungs-Budget der Bundeswehrpsychologen scheint zu wachsen.

Literatur

ASTA-Rüstungsforschungs-AG und AG „Psychologie und Frieden“ Mainz, „Militärische Forschung am Psychologischen Institut der Universität Mainz?“ Psychologie & Gesellschaftskritik (9) 1985, H. 33/34, S. 186-199.
BUND DEMOKRATISCHER WISSENSCHAFTLER (BdWi), „Der Bundeshaushalt 1985 – ein Sprung bei der Militarisierung von Wissenschaft und Forschung“ in: Stellungnahme zum Rüstungshaushalt 1985. Schriftenreihe „Wissenschaft und Frieden“, Nr. 3, 1984, S. 24-30.
BRIELER, P., Wehrpsychologie – historische Entwicklung und Funktion „vergessener Profession“ der Psychologie. Unveröffentlichtes und unkorrigiertes Manuskript einer Dipl. Arbeit am Psychologischen Institut der FU Berlin 1985.
EBBENRETT, H. J./STEEGE, F. W., „Perspektiven der Angewandten Psychologie in den Streitkräften. Bericht über die 26. Internationale Jahreskonferenz der „Military Testing Association“ vom 5.-9. November 1984 in München“. Psychologische Rundschau (36) 1985, S. 175-177.
GELDARD, F. A., Defence Psychology. Proceedings of a Symposium held in Paris, 1960. Oxford, London, New York, Paris 1962.
JUNGERMANN, H., Psychological Aspects of Scenaries. Lecture Diven at the Advanced Studies Institute (ASI) „Technology Assessment, Enviromental Impact Assessment, and Risk Analysis: Contributions from the Psychological and Decission Sciences“, Les Arcs (France), 1983 (Ms.).
LIPPERT, E./ PUZICHA, K., „Sozialpsychologie des Militärs“, in: ZOLL et al. (Hg.), Bundeswehr und Gesellschaft. Ein Wörterbuch. Opladen 1977, S.296-300.
MEISSNER, A./ PUZICHA, K., „Sozialpsychologische Überlegungen zur Entwicklung der KDV-Zahlen“. Bundeswehrverwaltung (27) 1984, H. 6, S. 121-129.
MOHR, W., „Unser Seelenleben im Kriege. Zur militärischen Anwendung der Psychologie“. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden (3) 1985, H. 2, S. 6- 9. NATO. Das atlantische Bündnis. Tatsachen und Dokumente. Brüssel 1982, (6. Aufl.).
PUZICHA, K./ MEISSNER, A. „Sozialpsychologische Forschung in der Bundeswehr: Die Motivation junger Männer gegenüber dem Wehrdienst und Kriegsdienstverweigerung“, in: Handbuch der Angewandten Psychologie, Bd. 3, München 1985, S. 645-658.
RILLING, R., „Die Wende in der Wissenschaft“. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden (3) 1985, H. 3, S. 5- 6.
SCHENK, J., „Zur Persönlichkeitsstruktur des Haschischkonsumenten“. Wehrpsychologische Untersuchungen (9) 1974, H. 1.
SEIFFGE-KRENKE, I./ OLBRICH, E., „Die Entwicklung persönlicher und sozialer Kompetenzen bei 15-20jährigen Jugendlichen“ Wehrpsychologische Untersuchungen (180) 1983, H.4.
WATSON, P., „Psycho-Krieg. Möglichkeiten, Macht und Mißbrauch der Militärpsychologie“, Düsseldorf 1982 (orig.1978).
ZOLL, R. (Hg.), „Wie integriert ist die Bundeswehr?“ München, Zürich 1979.

Anmerkungen

1 Soweit keine Quellenangaben, vgl., Brieler 1985.Zurück

2 In dieser Zahlenangabe fehlen sowohl die an Bundeswehr-Universitäten und -schulen lehrenden als auch die in der sog. „Psychologischen Verteidigung“ eingesetzten Psychologen. Zurück

Paul Brieler ist Diplompsychologe, West-Berlin.

Turning a blind eye: ein Auge zudrücken (…)

Turning a blind eye: ein Auge zudrücken (…)

von Carl Nedelmann

Es ist bekannt, daß die destruktive Aggressivität der Menschen eine so bedeutende Rolle spielt, daß sich in der Psychoanalyse die Annahme eines Todestriebes gebildet hat. Es ist dies die befremdlichste psychoanalytische Hypothese, die oft abgelehnt und als unwissenschaftlich verworfen worden ist. Aber vergessen wurde sie nie. Vielmehr scheint es, daß ihre weitreichende Bedeutung erst allmählich – über Interesse und Erkenntnis einiger weniger hinaus gewürdigt wird.

Mit dem Todestrieb wird eine Destruktivität gemeint, die zunächst auf einen selbst gerichtet ist und dann aus Gründen des inneren Schutzes und der Vermeidung von Angst teilweise nach außen abgelenkt wird. Die nach außen gelenkte Destruktivität führt zu Vorurteilen, Sündenbock- und Feindbildern, von deren Gefährlichkeit unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen sich jeder überzeugen kann, der die Geschichte studiert. Der Rassenwahn, der dazu führte, den Juden die Menschenwürde abzusprechen und im furchtbaren Singular zu sagen: „Der Jude ist unser Unglück“, ist ein prominentes Beispiel, das ebenso bekannt ist wie die Folgen bekannt sind, die daraus erwuchsen.

Es ist ferner bekannt, daß zur selben Zeit, als das europäische Judentum mit diesem radikalen Feinbild identifiziert wurde, das nicht minder radikale Feindbild des Bolschewismus entstand. Beide Feindbilder in Verbindung mit der Auffassung vom überlegenen Recht des Stärkeren im Daseinskampf schufen die wesentlichen psychologischen Voraussetzungen, daß das Programm der Judenvernichtung und das Programm eines Vernichtungskrieges des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die Russen in praktische Politik umgesetzt werden konnte (vgl. J. Förster, 1983 a, 23). Hier wie dort scheuen wir die Erinnerung, aber ein wenig wissen wir alle davon.

Auch wie es weiterging ist im wesentlichen bekannt. 1945 gab es bei uns über Nacht scheinbar keine Antisemiten mehr, aber die Struktur, die den Antisemitismus und den Antibolschewismus hervorgebracht hatte, blieb dieselbe und wurde unter dem Begriff des Antikommunismus zu einer Grundfeste der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (…)

Die Verteidigungsanstrengungen gegen tatsächliche und vermeintliche Gefahren haben dazu geführt, daß ein nuklearer Krieg droht, der unsere Kultur, wie wir sie kennen, wenn nicht die gesamte Menschheit und selbst die Erde zerstört.

Wir wissen es, aber wir kehren nicht um. Wir machen von unserem Wissen keinen hinreichenden Gebrauch. Sobald wir uns auf unser Wissen einlassen, droht die nach außen abgelenkte Destruktivität auf uns selbst zurückzufallen, drohen Angst oder Schmerz übermächtig zu werden. Also haben wir unser Wissen ohnmächtig gemacht. Wir verleugnen es. Darüber müssen wir nachdenken.

Verleugnung heißt in aller Regel nicht, daß wir etwas nicht hören oder nicht sehen, sondern, daß uns, was wir sehen oder hören, nichts oder nicht genug bedeutet, weil es unbequem ist, zuviel Unruhe und Ängste hervorruft, oder weil es Ansichten, auf die wir den größten Wert legen, zu sehr widerspricht.

Der Vorgang der Verleugnung ist gegen die Realitätsprüfung wenig abgesichert. Es bedarf einer gewissen Anstrengung, die Zeichen von Kummer und Elend, von Not und Gefahr zu überhören oder zu übersehen. Wir alle wissen mehr, als uns lieb ist oder wir ertragen können. Um der Verleugnung Erfolg und Dauer zu geben, ist ein weiterer Vorgang nötig, der in der Psychoanalyse „Gegenbesetzung“ genannt wird. Wir stellen uns taub oder blind und bleiben es, indem wir die Wahrnehmung des verleugneten Teils der äußeren oder inneren Realität auf projektivem Weg mit einer Einbildung überdecken. So entstehen Verkennungen, Vorurteile, Wahnbildungen. Sie begleiten unser tägliches Leben als harmlose Bausteine zu unserem Seelenfrieden, die allenfalls als verschrobene Eigentümlichkeiten in Erscheinung treten.

Die Harmlosigkeit verliert sich aber, wenn Gegenbesetzungen zur Verleugnung der Realität mit größeren Triebquanten ausgestattet werden, also insbesondere, wenn die genannten Feindbilder mit heftig drängenden destruktiven Wünschen „besetzt“ werden. Die Harmlosigkeit verliert sich, weil zum einen diese destruktiven Regungen im eigenen Inneren nicht genügend in Schach gehalten werden können, daher im „äußeren Feind“ bekämpft werden müssen, weil zum andern dieser Vorgang unbewußt ist und daher der nunmehr gebildete äußere Feind dem Bewußtsein als realer Feind erscheint.

Die Feindbildung spielt sich zunächst im je eigenen Kopf ab, wird aber unter bestimmten kollektiven Bedingungen zur herrschenden Idee und zur herrschenden Gewalt. Das Verhältnis zwischen Ost und West, wie wir es prägen, ist mit einer gewaltigen Triebgefahr aufgeladen, die aufgrund der intrapsychischen kollektiven Verdrängungen auf projektivem Weg im Bewußtsein als Realgefahr erscheint.

Man kann sich in diesem Zusammenhang fragen, ob in der westdeutschen Überzeugung vom Drang der Russen, den Rhein zur Grenze ihres Einflußbereiches zu machen, eine in der Projektion unkenntlich gemachte Wiederkehr des inzwischen verdrängten deutschen Weltmachtplanes zu sehen ist, den eigenen Herrschaftsbereich bis an den Ural auszudehnen. Man kann sich in diesem Zusammenhang auch fragen, ob die als selbstverständlich hingenommene Tatsache unserer Selbstvernichtung im „Verteidigungsfall“ als Wiederkehr der inzwischen verdrängten Vernichtungsstrategie begriffen werden muß, zwar unkenntlich gemacht in den Bündniszusammenhängen der bipolaren Welt, aber nicht so unkenntlich, daß ein altes Muster nicht durchschimmern würde. Denk- und Einstellungsmuster pflegen stabiler zu sein als man sich im allgemeinen klarmacht, und es ist eben noch nicht lange her, daß kollektive Fremd- und Selbstvernichtung zutiefst ineinander verschränkt zur historischen Realität geworden waren.

Der am 22. Juni 1941 begonnene „Blitzkrieg“ gegen die Sowjetunion, das Unternehmen „Barbarossa“, scheiterte nach fünf Monaten. Diese Erkenntnis hat sich nicht erst heute aus dem Studium der Quellen gebildet, sondern war klar geworden, als der Angriff auf Moskau im November 1941 endgültig stecken blieb. Noch vor Beginn der Gegenoffensive Anfang Dezember, am 29. November 1941, hatte Fritz Todt, der Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Hitler aufgefordert, den Krieg politisch zu beenden, da er rüstungswirtschaftlich verloren sei. Äußerungen von Halder und Jodl belegen, daß auch Hitler damals die Unmöglichkeit, diesen Krieg zu gewinnen, begriff (vgl. hierzu A. Hillgruber, 1983, 456 f.). Gleichwohl ging der Krieg weiter.

Ablenkung nach außen

Das Potential an innerer Destruktivität suchte sogar noch nach einer weiteren Ablenkung nach außen: am 20. Januar 1942 wurde am Wannsee „die Endlösung der Judenfrage“ besprochen, deren Umsetzung in die Tat „der dunkle Kern des Zwanzigsten Jahrhunderts“ (H. Klein, 1983, 119) wurde. Aber lange ließ sich die mögliche Selbstvernichtung der Deutschen hinter dem herrschenden Programm der Judenvernichtung und der Russenvernichtung nicht mehr verbergen, sondern wurde mehr und mehr auch offen einkalkuliert, erschien in Reden und Tagesbefehlen und fand schließlich in der Verteidigung „bis zum letzten Blutstropfen“ oder „bis zum letzten Mann“ Metaphern, die wiedergaben, was sich in der Realität abspielte, bis das eigene Reich zertrümmert war und damit auch die Ermordung der anderen ein Ende fand, das nicht durch Einsicht und vorausschauendes Denken, sondern nur durch Erschöpfung und Zerschlagung zustande kam. Die Frage, die George F. Kennan gestellt hat, ob eine Kultur diese Katastrophe, die aus der Entfesselung der Destruktivität stammt, überleben kann, ist noch nicht endgültig beantwortet.

Hinzuzufügen ist noch, daß die im Feindbild verdichtete unbewußte eigene Destruktivität eine gefährliche äußere Realität schafft, die keineswegs nur die wenigen „da oben“, die sie tragen, sondern zugleich „die schweigende Mehrheit“, die sie hinnimmt, problematisiert. Die so harmlos klingenden Sätze wie: was geht es mich an, ich kann es nicht ändern, ich weiß von nichts, verlieren in bestimmten historischen Konstellationen ihre Harmlosigkeit. Viele hatten und haben kein Feindbild und eifern nicht. Aber wie viele machen sich klar, daß diese Haltung noch keine Gewähr für Harmlosigkeit ist?

Auf der einen Seite der Verleugnungsskala haben wir es mit massiver Unbewußtmachung zu tun, die in der Starrheit und Heftigkeit der Gegenbesetzung nach außen als unkorrigierbarer Wahn erscheint. Auf der anderen Seite der Verleugnungsskala finden wir ganz und gar bewußte Schritte, vielleicht eine Lüge oder einen feinsinnig spitzfindigen Gedanken. Doch selbst in der Lüge und in der Feinsinnigkeit schwingt Unbewußtes mit, manchmal daran erkennbar, daß ein gewisser inniger Stolz diese Produkte unserer Seelentätigkeit begleitet. Meine Ausführungen bewegen sich ungefähr auf der Mitte dieser Skala, wo sich bewußte und unbewußte seelische Vorgänge die Waage halten und wo Verleugnung in einer Weise stattfindet, die „turning a blind eye“ zu nennen John Steiner kürzlich vorgeschlagen hat (1985).

Turning a blind eye kann nur unvollkommen ins Deutsche übersetzt werden. Sagen wir „sich blind stellen“, geht der in unserem Zusammenhang wichtige Umstand verloren, daß wir doch zwei Augen haben. Turning a blind eye betont, daß das eine Auge sieht, das andere nicht. Insoweit wäre „ein Auge zudrücken“ treffender. Aber darin schwingt zuviel bewußte Konspiration oder Entschuldigung mit.

Turning a blind eye ist eine Redewendung, deren Ursprung dem englischen Nationalhelden Lord Nelson zugeschrieben wird. Nelson hatte vor Abukir ein Auge verloren. Drei Jahre später, 1801, mitten in der Schlacht vor Kopenhagen und unter Beschuß der Kanonen von den vorgelagerten Forts, glaubte Sir Hyde Parker, der den Oberbefehl hatte, plötzlich nicht mehr an den Erfolg. Er ließ das vereinbarte Zeichen setzen, das den Befehl zum Rückzug gab. Nelson wurde davon unterrichtet, setzte sein Teleskop vor sein blindes Auge und erklärte, daß er das Zeichen nicht sehen könne. Also ging die Schlacht weiter. Die Engländer gewannen. Die dänische Flotte wurde vernichtet und damit das Machtgefüge gegen das napoleonische Frankreich zugunsten Englands verschoben. Die Legende vom Ursprung der Redewendung weist auch auf den Erfolg des turning a blind eye in der Machtausübung.

Nun genügt es nicht, nur zu sehen, wir müssen auch hören, und wenn uns die Sinne schwinden, sagen wir, daß uns Hören und Sehen vergeht. Hören ist älter als sehen, und interessanterweise ist die Redewendung „turning a deaf ear“ älter als „turning a blind eye“ (J. Steiner, 1985, 161). Auch das taube Ohr, das wir der Realität oder der inneren Stimme zuwenden, hat eine große Bedeutung für die Abwehr durch Verleugnung, wobei die Gleichzeitigkeit eines hörenden und eines tauben Ohres oder eines sehenden und eines blinden Auges besonders betont werden muß.

Diese Gleichzeitigkeit bezeichnet eine Nahtstelle zwischen Verleugnung und Anerkennung der Realität. Freud hat sie als „die Ichspaltung im Abwehrvorgang“ beschrieben. „Man muß zugeben“, urteilte Freud, „das ist eine sehr geschickte Lösung der Schwierigkeit. Beide streitende Parteien haben ihr Teil bekommen; der Trieb darf seine Befriedigung behalten, der Realität ist der gebührende Respekt gezollt worden (…) Der Erfolg wurde erreicht auf Kosten eines Einrisses im Ich. … Der ganze Vorgang erscheint uns so sonderbar, weil wir die Synthese der Ichvorgänge für etwas Selbstverständliches halten. Aber wir haben offenbar darin Unrecht. Die so außerordentlich wichtige synthetische Funktion des Ichs hat ihre besonderen Bedingungen und unterliegt einer ganzen Reihe von Störungen“. (1940e, 60) (…) „und wo immer wir in die Lage kommen, sie zu studieren, erweisen sie sich als halbe Maßregeln, unvollkommene Versuche zur Ablösung von der Realität“ (1940 e, 134).

Ein Auge blind stellen ist also eine „halbe Maßregel“; die eine Hand weiß doch, was die andere tut, oder ahnt es zumindest. Aber diesem Wissen können die Bedeutungen weitgehend entzogen sein.

Wesentliche Unterstützung findet dieser Vorgang der Abwehr durch Verleugnung in unseren Mitmenschen, die in derselben Weise verleugnen, so daß eine gemeinsame Abwehr möglich ist: nicht nur höre oder sehe ich nicht, was mir zuviel Angst macht, mich zu sehr schmerzt oder mir zu lästig ist, sondern auch höre und sehe ich nicht, was Du nicht hörst oder siehst und weil Du es nicht hörst oder siehst. In einem komplizierten Prozeß stillschweigender Einigung, die allenfalls ein Wink befördert, stellen wir ein geheimes und trügerisches Einverständnis her, das es mir ermöglicht, nicht zu hören oder zu sehen, was Du nicht siehst, und Dir ermöglicht, nicht zu hören oder zu sehen, was ich nicht höre oder sehe. Solche gemeinen und trügerischen Übereinkünfte haben eine außerordentlich große Bedeutung, wenn wir verschweigen, was wir beide doch wissen, so bleibt die Möglichkeit bestehen, daß die beargwöhnte Realität nicht gilt. Auf diese Weise kann Geschehenes nahezu ungeschehen gemacht werden. In einer – keineswegs nur auf Deutschland beschränkten – „Verschwörung des Schweigens“ (H. Krystal, W. G. Niederland, 1968, 341; vgl. auch I. Grubrich-Simitis, 1979, 1015) war über lange Zeit der Holocaust für das bewußte Erleben unwirklich geblieben.

Welches Ausmaß an Affekten diese Übereinkünfte besetzt halten kann, zeigt die Heftigkeit der Reaktionen, die frei werden, wenn Aufklärung den Schleier der Verleugnung zu zerreißen versucht.

„Nach“rüstung

„Wo wir das Verhängnis mit bloßem Auge ausmachen können“, können wir es mit dem blinden Auge zugleich verstellen. Die Realität ist gefährlich genug, aber die eigene destruktive Aggressivität schafft mit Hilfe unbewußter seelischer Vorgänge zur Angstverminderung im Inneren in der Lenkung nach außen Wahngebilde, die den Blick verhängen.

Zu den Wahngebilden, an denen wir in trügerischer und geheimer Übereinkunft festhalten, gehört die Überzeugung, daß die nukleare Aufrüstung des Westens notwendig ist, um einer Aggression aus dem Osten gewachsen zu sein. Ohne Widerspruch zu erregen, darf von dieser Überzeugung, die das primäre Übel im Osten sieht, allenfalls soviel zurückgenommen werden, als es auch möglich ist, zu sagen, der Rüstungswettlauf sei die Folge gegenseitiger Aufschaukelung, zumal diese Ansicht herrschendem Wettbewerbsdenken entgegenkommt. Und jeder, der mit dem durch herrschende Meinung geblendeten Auge durch das Teleskop blickt, wird bezeugen können, daß er nichts anderes sieht. Ein sehendes Auge aber findet etwas anderes und muß erkennen, daß die Amerikaner im Rüstungswettlauf immer die Nase vorn hatten und daß sich daran bis heute nichts geändert hat. Das ist eine schmerzliche Erkenntnis, die z.B. den Begriff der Nachrüstung als pure Demagogie entlarvt (vgl. C. Nedelmann, 1985, 22) und das westliche „Beharren auf dem Recht des Ersteinsatzes“ (G. Kennan, 1982, 284) nuklearer Waffen in einem bedenklichen Licht erscheinen läßt. Diese Erkenntnis zu haben, ist schlimm genug. Sie auszusprechen, führt häufig zu befremdlichen und heftigen Reaktionen.

Übrigens scheinen wir mit der Erkenntnis, daß im Rüstungswettlauf die Amerikaner immer die Nase vorn hatten, mehr Schwierigkeiten zu haben als z.B. die Engländer. In einer Studie vom Cambridge Disarmament Seminar finden sich gar keine Aufhaltungen, sondern wird ohne Umschweife gezeigt: „how the United States raced ahead in the development of the strategies and weapons“ (G. Prins, 1983, 83).

Sagt man es hier, kann es passieren, daß man gefragt wird, wann man endlich „nach drüben“ geht. Oder man wird als Kommunist oder Handlanger des Kommunismus bezeichnet, vielleicht mit dem perfiden Zusatz, man sei es „bewußt oder unbewußt“, als betreibe man die Sache des bösen Feindes und wisse es noch nicht einmal. Der Grad der Blindheit solcher Reaktionen läßt sich an der Heftigkeit des Affektes messen. In der wahnhaft gespaltenen Welt, in der das Denkschema des Entweder-Oder (H. Thorner, 1980) regiert, fühlt man sich plötzlich auf die andere Seite gesetzt.

Die am meisten von Blindheit geprägte Antwort auf die Feststellung, daß die Amerikaner im Rüstungswettlauf die Nase immer vom hatten und noch haben, ist aber die, die zunächst zustimmt und hinzufügt: „Gott sei Dank“. Nichts bei beruhigender für unsere Sicherheit als die immer vorhandene Überlegenheit der Amerikaner. Diese Reaktion zeigt übrigens besonders deutlich, daß die Verleugnung auch andere Ich-Funktionen in Mitleidenschaft zieht und mit der Wahrnehmung auch das Gedächtnis und die Erinnerung leidet. Wo aber Wahrnehmung, Gedächtnis und Erinnerung fehlen, fehlt die Vernunft im Denken und im Handeln. Wer die nukleare Überlegenheit des Westens preist, hat zumindest aus dem Auge verloren, daß aus dem Überlegenheitsdenken die Pläne eines begrenzten und gewinnbaren nuklearen Krieges stammen, die sich mit dem Verteidigungsgedanken kaum noch vereinbaren lassen, da sie Kriegfühnungspläne sind.

Außerdem haben manche – vielleicht sogar viele – unser schwieriges, von der Vergangenheit belastetes Verhältnis zu den Russen aus den Augen verloren.

Zur Verleugnung dieses Verhältnisses dient zunächst natürlich der Antikommunismus, der nicht nur die Ablehnung eines andersartigen politischen Systems bezeichnet, sondern außerdem eine ausgeprägt innenpolitische ideologische Funktion hat. Weitere Elemente, die wir als Gegenbesetzungen heranziehen, um die Verleugnung vor der Realitätsprüfung zu schützen, sind schwerer zu durchschauen, weil sie zugleich Tatsachen darstellen, die von der russischen Politik geschaffen worden sind. Die ersten Glieder in einer langen Argumentations- und Tatsachenkette sind die Russen als Besatzungsmacht in Deutschland sowie die von ihnen veranlaßte Vertreibung Deutscher aus den Ostgebieten, die 1945 begann. Das letzte Glied dieser Kette, das innenpolitisch bei uns eine Rolle gespielt hat, ist die Aufstellung der Raketen vom Typ SS 20. Sie sind übrigens eine besondere Betrachtung wert, weil sich auch hier in phantastischer Weise Wahn und Wirklichkeit im innenpolitischen Kalkül gemischt haben (vgl. C. Nedelmann, 1985, 13-17).

Hinter der dichten und langen Kette der Fiktionen und Tatsachen russischer Gewalt gegen uns konnte der am 22. Juni 1941 von uns begonnene Rußlandkrieg verblassen und der Verleugnung verfallen. Dieser Krieg ist bis heute nur unzulänglich kritisch durchdrungen worden. Selbst die historischen Fachleute sind sich in der Bewertung nicht einig, aber ihre Forschungsergebnisse haben inzwischen eine Eindeutigkeit erreicht, die nicht mehr bestritten werden kann. Dem Wissen der Fachleute steht aber immer noch die mangelhafte Verbreitung dieses Wissens im politischen Bewußtsein unserer Öffentlichkeit entgegen. Was Alexander und Margarete Mitscherlich in „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) allgemein für die Epoche des Dritten Reiches konstatiert haben, trifft in besonderer Weise auf diesen Teil der Geschichte zu: „Wir – als ein Kollektiv – verstehen uns in diesem Abschnitt unserer Geschichte nicht. So wir überhaupt darauf zurückkommen, verlieren wir uns vornehmlich in Ausflüchten und zeigen eine trügerische Naivität; de facto ist unser Verhalten von unbewußt wirksam gewordenen Verleugnungen bestimmt.“ (S. 13)

Die präventive Notwendigkeit, den Hitler-Stalin-Nichtangriffspakt zu brechen, mag umstritten bleiben. Nicht mehr strittig ist daß der Krieg gegen die Sowjetunion als „Vernichtungskrieg“ konzipiert und in sorgfältiger Vorbereitung in die politische und militärische Praxis umgesetzt wurde (vgl. J. Förster, 1983 a, und R.-D. Müller, 1983). Zu unserer „Vernichtungsstrategie“ gehörte die „Säuberungsstrategie“ der „Einsatzgruppen der SS“, die als „mobile Tötungseinheiten“ hinter der Front ihren „Sonderauftrag“ erfüllten, im übrigen aber im Frontgebiet auch mit der Wehrmacht kooperierten. Zu der „Vernichtungsstrategie“ gehörte außerdem eine geplante und konsequent durchgehaltene „Hungerstrategie“, der bis zum 1. Februar 1942 zwei Millionen russische Kriegsgefangene zum Opfer fielen (R.-D. Müller, 1983, 1018 f.; vgl. J. Hoffmann, 1983, 730, Anm. 71). Die Zahlen müssen in Bilder und Schicksale übersetzt werden, sonst versteht man sie nicht. Ich zitiere daher zur Veranschaulichung aus dem Halbmonatsbericht des Wirtschaftsstabes Ost vom 27. November 1941:

„Man beobachtet es auf allen Straßen, auf denen Kriegsgefangene entlang geführt werden, daß Blätter und weggeworfene Strünke der Rüben mit wilder Gier vom Felde aufgegriffen und verzehrt werden. Auf die einheimische Bevölkerung machen diese Gefangenenzüge einen Mitleid erregenden Eindruck. In den Dörfern sammeln sich die Einwohnerschaft, um in den Zug hinein Rüben, Kartoffeln und Melonenteile zu werfen. Auf dem Felde werfen die Frauen beim Nahen eines solchen Gefangenentransportes Rüben auf den Weg, die von den Gefangenen eiligst aufgesammelt werden. Es ist anzunehmen, daß durch den Anblick dieser entkräfteten Gefangenen, denen der Hunger aus den Augen stiert, die Stimmung den Deutschen gegenüber leidet.“ (zit. nach R.-D. Müller, a. a. O.)

In dem Versuch einer „Schlußbetrachtung“ kam Jürgen Förster trotz des noch nicht „einheitlichen“ Bildes deutscher Historiker vom Rußlandkrieg zu folgender bemerkenswerten Feststellung: „Unter den Historikern besteht allerdings Einigkeit darüber, daß die Folgen des deutsch-sowjetischen Krieges noch in der politischen Gegenwart deutlich spürbar sind.“ (1983b, 1079) Dieses Wissen hat die deutsche Öffentlichkeit noch nicht erreicht, aber in Rußland ist es lebendig. Die Russen haben es nicht vergessen, daß ihre Überzeugung von der Haltbarkeit des Nichtangriffspaktes sich als Illusion entlarvte und der Überfall der Deutschen ihre Vernichtung zum Ziel hatte. Für sie bedeutet es bis heute viel. Im heutigen russisch-amerikanischen Verhältnis darf die Frage nicht unbedacht bleiben, wer im Duopol der Supermächte „mehr Recht“ hat, sich bedroht zu fühlen. Das ist keineswegs nur eine allgemeine und unverbindliche Frage, sondern ein sehr konkretes Problem, das z. B. in der Meinungsverschiedenheit auftaucht, wie die Pershing II im „Gleichgewicht“ zu bewerten sei. Aus russischer Sicht handelt es sich um „strategische Waffen“, den amerikanischen Interkontinentalraketen gleich zu ordnen, während es sich aus amerikanischer Sicht „nur“ um Mittelstreckenraketen, also „taktische“ Waffen handelt. Wie nicht anders zu erwarten, vertritt die Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich den amerikanischen Standpunkt. Wenn wir wüßten, was wir tun. Die Pershing II sind eben nicht die „Gegenstücke“ der SS 20, was Rau in seiner Ahlener Rede zur Eröffnung des Bundeswahlkampfes sagte, sondern etwas anderes, schlimmeres und viel gefährlicheres.

Dr. med. Carl Nedelmann ist Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Direktor des Michael-Balint-Instituts in Hamburg. Nedelmann ist Mitglied der International Psychoanalyst Against Nuclear Weapons.

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Die Initiative der Gründung der International Psychoanalyst Against Nuclear Weapons – ging von Londoner Mitgliedern der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) aus. Innerhalb relativ kurzer Zeit gelang es, Mitglieder aus anderen Zweigstellen der IPV zu gewinnen.
Die deutsche Sektion der IPANW wurde am 22. November 1985 gegründet.
Chairman des Executive Committes ist Dr. Moses Laufer. Die Adresse: 48 Abbey Gardens, London NW8 9AT.
Die Sekretärin des Exeutive Committee ist Priscilla Roth, 12 Parhing Road, London NW3.
Das deutsche korrespondierende Mitglied für das Executive Committee ist Jörg Scharif Viktoria-Straße 31, 6242 Kronberg 1.

Amerikanismus, Antiamerikanismus – oder was sonst?

Amerikanismus, Antiamerikanismus – oder was sonst?

von Horst Eberhard Richter

Richter ging aus von der Erfahrung, daß viele Menschen offenbar Angst hätten, die Amerikaner bzw. ihre Regierung zu ärgern. Schon der Vorwurf des Antiamerikanismus reiche aus, um politisch Andersdenkende zu ächten. „Man könnte sich als Gegenvorwurf doch auch „blinden Amerikanismus“ vorstellen. Warum hört man diesen Gegenbegriff nie? Meine Erklärung: Weil dieser Begriff die psychische Realität trifft.. Wir sind eben zu einem großen Teil im Westen die geistigen Halbamerikaner geblieben die wir nach 1945 geworden sind. Das Risiko, zu den Amerikanern auf Distanz zu gehen, bedeutet für viele noch immer eine unerträgliche Bedrohung des Identitätsgefühls.“ Deshalb wäre das „Abkoppeln so schlimm – übrigens ein entlarvender Begriff: Abgekoppelt werden bekanntlich vor allem Anhänger, die mechanisch gezogen werden und keiner Eigenbewegung fähig sind.“ Nach Richter haben wir es mit einer Erscheinung von Hörigkeit zu tun, der er im folgenden nachspürt:

„Der Prozeß begann mit großer Selbstunsicherheit. Ich traf alte Bekannte, die mir früher als kraftvoll und selbstbewußt imponiert hatten und die jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. Ihre Identifizierung mit dem System hatte sie einst in einem Maße gestützt, daß sie als volle Persönlichkeiten erschienen waren, ohne es zu sein. Sie hatten narzißtisch gezehrt von der Partizipation an dem durch die Begriffe Volk – Reich – Führer benannten Großgebilde und sich mit der Stärke verwechselt, die in Wirklichkeit auf enormer Abhängigkeit beruhte Was sie dachten, war immer schon von oben vorgedacht. Und zu dieser geistigen Steuerung war die komplette Verplanung und Durchorganisation ihres praktischen Daseins im totalitären System gekommen. Nun enthüllte sich das Maß ihrer Entpersönlichung und zugleich ihrer praktischen Orientierungslosigkeit. Typisch war das Bild der aus Gefangenschaft heimkehrenden „Helden“, die von ihren weniger deformierten Frauen wie hilflose Kinder an die Hand genommen und wieder lebensfähig gemacht werden mußten. Aber wer sagte ihnen jetzt, wer sie waren, welche Sprache sie sprechen, welchen Konzepten sie folgen sollten? All das lieferten uns im Westen umgehend die Sieger, an deren Spitze die Amerikaner. Die funktionierten wie ein neues Animationssystem, das die Identitätsleere ausfüllte. Es war durchaus keine mühsame, sondern eine ersehnte, rettende Anpassung, freilich ein eher mechanischer Prozeß; eine Flucht aus einer Hörigkeit in die nächste. Aber zum Schutz der Selbstachtung mußte man sich natürlich als eigene Überzeugung einreden, was in Wirklichkeit nur vertauschte Abhängigkeit war. Das scheinbar schlagartig funktionierende demokratische Gewissen schlug von außen. Es sprach englisch. Ein Volk von verwaisten Kindern war in neuer Vormundschaft untergekommen.

Hitler hatte in uns anscheinend nur unterdrückt, was wir immer schon gewesen waren – Anhänger der amerikanischen Bürgerideale, geistige Halb- Amerikaner. Jetzt durften wir endlich sein, was wir längst schon geworden wären, hätte man uns nur gelassen.

Es ist schwierig, als Interpret dieses Zusammenhanges den falschen Anschein zu vermeiden, als fühlte man sich selbst in einer völlig distanzierten Betrachterposition. Natürlich probierte auch ich damals alles aus, was der moralischen Selbstschonung diente. Wenn ich es vielleicht schwerer als manche andere hatte, mich auf die geschilderte Weise zu entlasten, so rührte das von meiner Vorgeschichte her, die mich vor dem Maß an innerer Anpassung bewahrt hatte, die jetzt viele zur automatischen Amerikanisierung trieb.

Seit vielen Jahren war den Leuten stereotyp eingehämmert worden: Ihr seid die edelste Rasse, die stärksten Soldaten, die Tüchtigsten, Anständigsten, Tapfersten, die Retter der Welt. Selbst in den letzten Jahren der katastrophalen militärischen Rückschläge hatten Radio, Presse und Filmwochenschauen noch in einem fort Triumphe bejubelt: Fluchtbewegungen hießen erfolgreiche Rückzugsschlachten; von Niederlagen blieben nur die schweren Verluste übrig, die man dem Gegner zugefügt hatte; die Wunderraketen V 1 und V 2 und weitere bereitgehaltene Geheimwaffen hatten dazu gedient, den Mythos vom unbezweifelbaren Endsieg zu befestigen. Schwäche, Elend, Niederlagen – das war die Geschichte, Dolchstoß, Versailles, Weimarer Verzichtspolitik. Auch moralisch war jeder Selbstzweifel gelöscht worden. Schuld war das Monopol der anderen, der Juden, der Plutokraten, der Bolschewisten. Die Propaganda hatte sich der unbewußten Tendenz bedient, die Angst vor der nahenden Katastrophe mit manischer Überkompensation zu bewältigen. Allzu vielen war es nur sehr recht gewesen, sich immerfort neue Argumente zur Verleugnung des bevorstehenden Zusammenbruchs einreden zu lassen, der ja auch zur inneren Katastrophe zu geraten drohte.

Wie konnten nun der Schock, die totale Niederlage, die absolute moralische Demütigung durch Auschwitz bequemer bewältigt werden als durch blitzschnellen Parteiwechsel? War es nicht die Rettungschance, schleunigst sich selbst und die Welt so umzudenken, daß man für die Sieger ihresgleichen wurde? Alsbald tauchten Phantasien auf: Hätten die Amerikaner doch auf Ribbentrop – später noch auf Himmler gehört, als die ihnen einen frühen einseitigen Waffenstillstand im Westen angeboten hatten! Wie leicht hätte man – Seite an Seite – das weitere Vordringen der Russen nach Zentraleuropa noch aufhalten können! Seite an Seite! Ihr und wir, wir Abendländer wir Antikommunisten, wir Hüter des Christentums! Hätten wir, hättet ihr nur früher begriffen, daß wir eigentlich zusammengehören, daß wir im Grunde eins sind! Nun, da wir Hitler und seine Verbrecherhorde los sind, wird uns nichts und niemand mehr hindern, mit euch zu marschieren. Wann rüstet ihr uns wieder auf?

A. und M. MITSCHERLICH haben später in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ vornehmlich den Mechanismus der Verleugnung beschrieben, der zur Abwehr einer unerträglichen Melancholie führte:

„Die Konfrontation mit der Einsicht, daß die gewaltigen Kriegsanstrengungen wie die ungeheuerlichen Verbrechen einer wahnhaften Inflation des Selbstgefühls, einem ins Groteske gesteigerten Narzißmus gedient hatten, hätte zur völligen Deflation des Selbstwertes führen, Melancholie auslösen müssen, wenn diese Gefahr nicht durch Verleugnungsarbeit schon in statu nascendi abgefangen worden wäre.“

„Der kollektiven Verleugnung der Vergangenheit ist es zuzuschreiben, daß wenig Anzeichen von Melancholie oder auch von Trauer in der großen Masse der Bevölkerung zu bemerken waren.“

A. und M. MITSCHERLICH maßen dem Identitätsverlust eine überragende Bedeutung bei, den die Deutschen damals erlitten hätten, als sie ihren „idealen Führer“ verloren hatten. Es könnte aber sein, daß dieser Identitätsverlust deshalb gar nicht so bedeutend war, weil das, was man Identität nennt, nur sehr mangelhaft ausgebildet worden war. Hitler war vermutlich bei weitem nicht in dem Maße als Ich-Ideal innerpsychisch integriert worden, wie es den Anschein hatte. Seine rasche Austauschbarkeit nach Kriegsende spricht dafür, daß ein Höchstmaß an regressiver Hörigkeit im Spiele war, wie es etwa HANNAH ARENDT am Beispiel von Eichmann herausgearbeitet hat. Nur der präsente äußere Hitler hatte die Macht gehabt, einem Heer von praktisch Selbstentmündigten die so inständig gehegten überkompensatorischen Größen- und Überwertigkeitsträume zu erhalten. Hitlers Präsenz, der suggestive Rapport zwischen ihm und der infantilisierten Masse hatte das System in Funktion gehalten. Nicht umsonst waren keine anderen Begriffe so himmlisch verklärt worden wie Pflicht, Gehorsam, Treue. Dabei ging Treue in Gehorsam auf und Ehre in Treue. Das SS-Motto „Unsere Ehre heißt Treue“ sollte die Verknüpfung des Ehrbegriffs mit sittlicher Selbstverantwortung löschen. Absolute Hitler-Ergebenheit war alles zugleich: Pflicht, Treue und höchste Ehre. Nur einer durfte sagen: Ich will. Für die anderen hieß es: Er will.

Es war sicherlich oft nicht einmal gelogen, wenn später viele als subjektives Bewußtsein beteuerten, sich nicht selbst für Schlimmes verantwortlich gefühlt zu haben, das unter ihrer Mitwirkung geschehen war. Aber daß diese Preisgabe des Selbst, die Externalisierung der moralischen Verantwortlichkeit eher eine noch größere Schuld war, sollte keiner weiteren Erläuterung bedürfen.

Jedenfalls war es unter diesem Aspekt eigentlich ganz natürlich, daß nun ausgerechnet diejenigen sich im Boot der Sieger am raschesten heimisch zu machen wußten, die sich zuvor konfliktlos hochgedient hatten. Als geübte, reibungslose funktionierende Gehilfen der Macht machten sie sich erneut unentbehrlich, und es fiel ihnen nicht schwer, sich mit einer übergestülpten neuen Ideologie an das Sieger-Hilfs-Ich anzukoppeln.

Viel schwerer hatten es die Trauernden, die Hitler echt geliebt hatten. Und erst recht die Scharen der im Hitler-System zermürbten Gruppen der Zweifler, der Außenseiter, der Leidenden.

Viele waren zu entmutigt, um nun noch die späte Chance wahrzunehmen, aus der Unterdrückung auszubrechen und ihre ewig frustrierten Ansprüche durchzusetzen. In diesen Kreisen wurde die Depression ausgetragen, welche jene virtuosen Stehaufmännchen vermieden.

Hier fanden sich die Sensiblen, die Schlaflosen, denen die Bilder von Auschwitz, von Treblinka, vom Volksgerichtshof nicht mehr aus dem Kopf gingen. Und die sich zugleich mit der ewig wiederkehrenden Frage quälten, wie sie vor den eigenen toten Angehörigen und Freunden dastanden.

Es mag einem die oberflächlich zynische Typeneinteilung in die „Winners“ und die „Loosers“ einfallen. Die einen sind immer oben die anderen immer unten. Die einen sind die Meister im Verdrängen, die anderen die ewigen Träger des Verdrängten, die den Schuldigen auch noch deren Schuld, deren vermiedene Trauer abnehmen und die in der Klassengesellschaft die Dauerherrschaft einer unentwegt selbstgerechten Machtelite stabilisieren.

Es etablierte sich die westdeutsche Demokratie mit einer in vieler Hinsicht vorbildlichen Verfassung. Aber dieser Prozeß vermochte nicht zu verhindern, daß nur wenige von Hitlers Gegnern, dafür in großer Zahl dessen arrivierte Gefolgschaft allmählich die gesellschaftliche Macht in der Bundesrepublik zurückgewann. Der Ersatz der Führungsinstanz Hitler durch die Amerikaner hatte es erlaubt, einen wesentlichen Teil des Nazi-Militarismus in den offiziellen amerikanischen Antikommunismus einzubringen. So waren es keine Pannen, sondern logische Folgen aus der verdeckt weiterwirkenden Mentalität, wenn Männer wie Globke, Seebohm, Oberländer, Filbinger, Kiesinger Karriere machen konnten. Die opportunistischen Amerikaner hatten diese Entwicklung kräftig gefördert. Ihr Interesse an der „Entnazifizierung“ endete dort, wo ihre Machtinteressen berührt wurden: Bedenkenlos kooperierten sie mit Ex-Gestapo-Chefs bis hinauf zu Klaus Barbie und brachten diese in Sicherheit. Genauso ungeniert nahmen sie die gesamte Elite der deutschen Raketen-Experten, ob Nazis oder nicht, in ihre Arme und ließen die V 1 und V 2 des Hitlerkrieges zu den neuen Großraketen der eigenen Rüstung weiterentwickeln. Entsprechend traditionellem Siegerbrauch hatten sie in Nürnberg gemeinsam mit ihren ehemaligen Alliierten imperialistischen Machtwahn und menschenverachtende Aggression als spezifisches Übel des Gegners abgeurteilt, die eigenen Anfälligkeiten durch Projektion verleugnend. Blind dafür, worin sie in ihrem eigenen expansionistischen Vorherrschaftsstreben dem zerschlagenen Regime verwandt waren, war es ihnen schon bald nach Nürnberg recht, die deutsche Wiederaufrüstung mit Hilfe der gleichen Wirtschaftskreise anzukurbeln, die noch kurz zuvor Hitler mitgetragen hatten. Nicht kurzes Gedächtnis, sondern imperialistisches Trachten verleitete sie zu der Remilitarisierung der Bundesrepublik. In einem seiner letzten Briefe klagte A. EINSTEIN: „Gestern Nürnberger Prozesse, heute Bewaffnung Deutschlands unter hohem Druck. Wenn ich es mir zu erklären versuche, komme ich von folgender Idee nicht los. Das letzte meiner Vaterländer hat für sich eine neue Art von Kolonialismus erfunden, … nämlich das Herrschen durch investiertes Kapital im Ausland. Dies verschafft solide Abhängigkeiten. Wer aber sich dagegen wehrt, ist ein Feind.“

Durch ihre zweideutige Deutschlandpolitik – die verbal auf politische Umerziehung, hintergründig aber auf Kollaboration mit wirtschaftlichen und geistigen Stützen Hitlers ausgerichtet war, kamen die Amerikaner jener Mehrheit der hiesigen Kriegsgeneration entgegen, die bald nicht mehr im Glauben an ihre neue amerikanisierte (Pseudo-)Identität erschüttert werden mochte. So hatte sich eine verflachte, allein der wirtschaftlichen Expansion und dem Konsum zugewandte Mentalität ausgebreitet. Über die Vergangenheit wurde mit Bedacht hinweggelebt. Die Schwenkung zu einer neuen Stärke- und Militärpolitik vertrieb die beunruhigenden Erinnenungen. Was mit dem Segen, ja auf Geheiß der Amerikaner und im Rahmen der parlamentarischen Regeln geschah, brauchte anscheinend nicht kritisch an der jüngsten Geschichte gemessen zu werden. KARL JASPERS schrieb 1966:

„Heute droht kein Hitler und kein Auschwitz und nichts Ähnliches. Aber die Deutschen scheinen durchweg noch nicht die Umkehr vollzogen zu haben aus der Denkungsart, die die Herrschaft Hitlers ermöglichte. Werden wir, wenn es uns als Produktions- und Konsumgesellschaft gut geht, so zufrieden mit dem Augenblick, so blind für die Tatsachen, so phantastisch, so verantwortungslos, so verlogen bleiben? Dann gehen wir einem Verhängnis entgegen, ganz anderer Art als dem Hitlers, und dann werden wir uns so wenig verantwortlich dafür fühlen wie seinerzeit und heute noch die Mehrzahl der Deutschen der Realität des Hitlerstaates gegenüber. Um unseren sittlich-politischen Zustand zu durchschauen, dazu bedarf es der Kenntnis der Geschichte im Tatsächlichen und im Verstehbaren. Heute scheint noch wie früher das Tollste möglich."

Im Zuge der Remilitarisierung der Bundesrepublik wurden alle Anläufe, sich mit der Vergangenheit offen auseinanderzusetzen, immer wieder abgeblockt. Aber meine Hoffnung ist, daß wir jetzt neue Ansätze vorfinden. Der Weg zu einem eigenständigen politischen Bewußtsein zwischen Amerikanismus und Antiamerikanismus kann nur über ein Aufarbeitung unserer Erinnerungen führen. Diese braucht auch und in erster Linie die junge Generation, die mehr oder weniger unbewußt damit belastet worden ist, was ihre Eltern nicht bewältigt haben. Unsere ärztliche Friedensbewegung kann der Stagnation nur entgehen, wenn wir uns bewußt bleiben, gegen welche Mentalität, gegen welche unheilvolle Tradition wir ein neues Bewußtsein in der Bevölkerung und in der Politik fördern wollen."

H. E. Richter Professor für Psyschosomatik an der Universität Gießen, Mitglied des Vorstandes der IPPNW, Sektion Bundesrepublik

Friedliche Psychologie

Friedliche Psychologie

von Paul Brieler

Die mit der Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen einhergehenden Friedensdiskussionen in der Psychologie vermittelten den Eindruck, als sei diese eine „friedliebende Wissenschaft“ – bei einer genaueren Betrachtung allerdings zeigten sich Risse in diesem Bild (vgl. ausführliche Darstellungen bei Brieler 1985; Mohr 1984; Riedesser, Verderber 1985).

So ist die Anerkennung der Psychologie als ein eigenständiges wissenschaftliches Fach in Deutschland wie auch in den USA wesentlich durch ihre militärische Verwertbarkeit (z. B. Effektivierung der Personalauslese) voran getrieben worden; und die Konzeption des Berufes „Diplom-Psychologe“, die während des Nationalsozialismus entwickelt wurde, orientierte sich primär an den Anforderungen der wehrmachtspsychologischen Tätigkeit. Nach dem Kriege sorgten die ehemaligen Wehrmachtspsychologen für eine personelle wie auch inhaltliche Kontinuität in universitärer Forschung und psychologischer Praxis, ohne je den spezifischen Beitrag ihrer Wissenschaft z. B. zur Ermöglichung des faschistischen Angriffskrieges zu reflektieren. Von Schuldgefühlen unbelastet hatten sich die alten Kameraden dann bis 1956 auch die Wiedereinführung einer Wehrpsychologie, des „Psychologischen Dienstes der Bundeswehr“ erkämpft. Dieser fristete lange Zeit ein Schattendasein, bis die Militärführung in den 60er Jahren ein verstärktes Interesse an den angebotenen psychologischen Problemlösungsfertigkeiten bekundete.

Seit jener Zeit ist wieder eine zunehmende Militarisierung der Psychologie festzustellen, d. h. erstens wird psychologische Forschung immer häufiger direkt oder indirekt in Hinblick auf eine militärische Nutzung konzipiert (und finanziert), und zweitens werden die aktuellsten psychologischen Erkenntnisse systematischer auf eine militärische Verwertbarkeit hin geprüft.

In die erste Kategorie sind die Forschungsaufträge, etc. einzuordnen, die vom Psychologischen Dienst der Bundeswehr extern vergeben werden. Bei Durchsicht dieser wird deutlich, daß das Interesse der Militärs nicht so sehr der Erforschung gesellschaftspolitisch brisanter Themen wie Abwesenheitsdelikten, Drogen- und Alkoholmißbrauch, Suiziden und Kriegsdienstverweigerung gilt (diese Fragestellungen werden überwiegend bundeswehrintern bearbeitet), sondern eher auf eine Verfeinerung der Personalauslese sowie der Optimierung der psychologisch- ergonomischen Gestaltung von Waffen und Gerät gerichtet ist. Die gleiche Tendenz ist auch in der Wissenschaftspolitik der NATO festzustellen, die 1967 ein erweitertes Programm „Menschliche Verhaltensforschung“ aufgestellt hat, um eine intensivere multinationale Erforschung des menschlichen Faktors in der militärischen Organisation zu unterstützen. Im Rahmen dieses Wissenschaftsprogramms wird besonders die zweite Kategorie des indirekten Wissenstransfers durch die Abhaltung von Symposien und Sommerschulen sowie durch die Gewährung von Forschungsaufenthalten und -stipendien gefördert. Diese subtile Form der Dienstbarmachung der Wissenschaft wäre einer genaueren Betrachtung wert, weil unter dem Deckmantel der selbstlosen Förderung von Grundlagenforschung im Grunde knallharte militärische Interessen verfolgt werden.

Die skizzierte Intensivierung der zivil- militärischen Zusammenarbeit in der Psychologie führt zwangsläufig zu einer steigenden internationalen Verflechtung mit der Konsequenz einer militärpsychologischen Wissensakkumulation, die zunehmend einer kritischen Kontrolle entzogen ist (dies gilt auf jeden Fall für die BRD). Denn angesichts der Öffentlichkeitsscheu und Geheimhaltungssucht der Militärs und der Militärforscher ist es kaum möglich, den wissenschaftlichen Gehalt und die Konsequenzen solcher Forschung in einem freien Diskurs zu hinterfragen. Erschwerend kommt hinzu, daß in der BRD die personelle Fluktuation zwischen Bundeswehrforschungsinstituten und den der Offiziersausbildung verpflichteten Hochschulen der Bundeswehr einerseits und den zivilen Psychologischen Instituten andererseits zunimmt. In dieser wachsenden personellen Verquickung liegt m. E. eine große Gefahr, weil die Forschung immer unschärfer wird; die „richtige Einstellung“ und die Nutzung informeller Kanäle werden zukünftig für eine effektivere und ungestörte Zusammenarbeit auf breiterer Basis sorgen.

In diesem Sinne ist es nicht Zweck des Hinweises auf die allgemein zugänglichen Wehrpsychologischen Mitteilungen (WPsM – 1971/1980) und die Wehrpsychologischen Untersuchungen (WPsU – 1972/75), die militärpsychologische Forschung betreibenden Wissenschaftler zu denunzieren, auf das an den Instituten zur Hatz geblasen wird. Die Lektüre soll vielmehr zu einer weitergehenden Beschäftigung mit Formen und Inhalten militärpsychologischer Forschung anregen, um die in der Regel in aller Heimlichkeit ablaufende Kooperation zwischen zivilen Hochschulen und Militär transparenter werden zu lassen.

Aufmerksamkeit müßte in der inhaltlichen Auseinandersetzung der Frage nach dem Einfluß militärischer Denkweisen auf die psychologische Theoriebildung, und, allgemeiner, nach der Beeinflußbarkeit einer Wissenschaft durch militärische Vorgaben gelten.

Literatur

Brieler, Paul, Wehrpsychologie – historische Entwicklung und Funktion einer „vergessenen Profession“ der Psychologie. Unveröffentlichtes und unkorrigierten Manuskript einer Diplomarbeit am Psychologischen Institut der FU Berlin, 1985.
Mohr, Winfried, Die Aufrüstung des Faktors Mensch. Militärische Forschung und Anwendung der Psychologie. TH Darmstadt 1984.
Riedesser, Peter, Axel Verderber, Aufrüstung der Seelen. Militärpsychologie und Militärpsychiatrie in Deutschland und Amerika. Freiburg (Dreisam-Verlag) 1985.

Paul Brieler arbeitet an der FU Berlin

„Unser Seelenleben im Kriege“. Zur militärischen Anwendung der Psychologie

„Unser Seelenleben im Kriege“. Zur militärischen Anwendung der Psychologie

von Winfried Mohr

Die Beschäftigung mit den psychologischen Aspekten von Krieg ist nicht neu. Bereits 1916 erschien etwa „Unser Seelenleben im Kriege. Psychologische Betrachtungen eines Nervenarztes“ (Preis: 2 Mark) von einem Dr. Wilhelm Stekel, allerdings nur eine aus einer ganzen Reihe ähnlicher Schriften, gedacht zur moralischen Aufrüstung der Heimatfront. „Der Wille zur Macht und der Wille zur Unterwerfung“, „Krieg und Kunst“ und, „Todesahnungen und Prophezeihungen“ sind einige der darin behandelten Themen. Die individuellen Bedingungen der Kriegssituation und die Bereitschaft des Einzelnen, sich am Krieg zu beteiligen, stehen im Vordergrund der Betrachtungen. Auch heute noch wird die Psychologie vorrangig mit diesen Fragen in Verbindung gebracht, wird ihr auch in der Friedensbewegung die Untersuchung der individuellen Bereitschaft zum Töten, von aggressivem Verhalten als Aufgabe zugewiesen (z. B. Richter, 1982).

Angesichts der Komplexität militärischer und politischer Organisationen sind allerdings erhebliche Zweifel angebracht, ob die Rolle des Individuums im Krieg über die Untersuchung individueller Motive angemessen zu beschreiben ist. Rüstung heute (und in weniger augenfälligem Ausmaß seit der Existenz von Armeen) zielt auf hoch „arbeits“teilige Formen der Massenvernichtung ab. Nur ein sehr geringer Teil der Militärorganisation ist mit der Aufgabe des Tötens Auge in Auge mit dem Feind befaßt. Die Probleme sind andere, sie ergeben sich aus dem Zusammenwirken einer Vielzahl von Teilsystemen und Einheiten der Organisation. So ist der effektive Einsatz einer Rakete ohne die optimale Koordination von Aufklärung, Zielortung und Zielbestimmung, technischer Handhabung der Abschußvorrichtung und Erfolgskontrolle kaum möglich. Die Techniker, die letztlich den vielzitierten roten Knopf bedienen, erfahren kaum etwas über die Verwüstungen, die Opfer und deren Leiden, die Folgen ihres Handelns. Die Aufgabenteilung bringt es mit sich, daß der individuelle Anteil am Töten immer weniger erkennbar wird. Die Entfremdung (!) vom Ergebnis seines Handelns, seine Rolle als Systemkomponente mit begrenztem Aufgabenbereich lassen den Soldaten immer mehr als Teil eines industriellen Großbetriebes erscheinen (Motto der Bundeswehr vor einiger Zeit: „Wir produzieren Sicherheit!“). Entsprechend der industriellen Organisation stellt sich „der Mensch“ als ein Faktor, eine Systemkomponente dar, die wenn nicht durch Technik ersetzbar, in ihrer Funktion zu optimieren ist, berechenbar und möglichst zuverlässig in ihrem Verhalten.

Die militärische Anwendung der Psychologie entspricht unter diesen Bedingungen ihrer Anwendung in großen industriellen Organisationen mit hohem Grad an Arbeitsteilung – in keiner Weise spektakulär, ohne auf unbewußte, triebhafte unkontrollierbare Wesensregungen „des Menschen“ zurückgreifen zu müssen. Bereits im Ersten Weltkrieg findet man einen solchen Einsatz der Psychologie: z. B. zur Auslese von Kraftfahrern und zur Verbesserung der Leistungen von Richtschützen (Mitze, 1971).

Die Geschichte der Psychologie war auch in den folgenden Jahren stark von ihrer militärischen Anwendung geprägt, ja, die Psychologie verdankt dieser zumindest teilweise ihre Professionalisierung (vgl. Geuter, 1984; Geuter & Kroner, 1983; Graumann, 1985): Bereits im Faschismus war der Psychologische Dienst der Wehrmacht mit etwa 150 Mitgliedern die größte fachpsychologische Organisation der Welt, und den akademischen Grad des Diplompsychologen gibt es seit dem Erlaß einer entsprechenden Prüfungsordnung im Jahr 1941.

Auch die ersten Nachkriegsjahre waren von wehrpsychologisch erfahrenen Psychologen geprägt: Nahezu alle Ordinarien in der Psychologie der Bundesrepublik waren ehemalige Wehrmachtpsychologen (Mitze, 1971). Obwohl sich diese Tradition personell nicht fortgesetzt hat und die Inhalte der Psychologie von angloamerikanischen Ausrichtungen dominiert werden, ist der militärische Hintergrund nach wie vor von Bedeutung. Klassische Ansätze der Testtheorie etwa bauen im wesentlichen auf den Methoden der Eignungsdiagnostik und Personalauslese der US-Armee im Zweiten Weltkrieg auf. Inwieweit diese Tradition das Menschenbild der Psychologie beeinflußt hat, wäre eine untersuchenswerte Frage. Hier soll aber im folgenden überblickshaft und notwendigerweise unvollständig die heutige militärische Anwendung der Psychologie in der Bundesrepublik behandelt werden, ohne ausführlicher deren Rückwirkungen auf die inhaltliche Orientierung zu diskutieren. Wichtig erscheint mir dies auch, um Anhaltspunkte für mögliche Militarisierungstendenzen in der Psychologie zu erhalten, wie sie sich in anderen Fächern bereits zeigen.

Die systematische militärische Anwendung der Psychologie in der BRD ist organisatorisch vor allem an den Psychologischen Dienst der Bundeswehr gebunden.

Laut Steege (1977) sind dort etwa 130 Psychologen beschäftigt, zum Teil in der Bundeswehrverwaltung, vor allem im Wehrersatzwesen und der Beschaffung, zum Teil bei den Streitkräften. Alle haben dort zivilen Status. Darüberhinaus gibt es die Bundeswehrhochschulen, bei denen ebenfalls Psychologen tätig sind.

Psychologische Verteidigung

Für die psychologische Kriegsführung – die in der Bundeswehr psychologische Verteidigung (PSV) genannt wird – sind zwei Spezialbataillone in Andernach und Clausthal-Zellerfeld zuständig (Lossmann, 1983). Watson (1982) nennt die Zahl von 3000 damit befaßten Personen, doch sind darunter nach Aussagen eines bei einem Wehrersatzamt beschäftigten Psychologen „höchstens eine Handvoll Psychologen“. Genaueres über die Tätigkeit seiner dort beschäftigten Kollegen wußte er jedoch nicht zu berichten. Die Aufgaben des PSV bestehen (lt. Bundesministerium der Verteidigung, zitiert nach Lossmann, 1983, S. 81) in der „lagebezogene(n) Einflußnahme auf Einstellung und Verhalten bestimmter Zielgruppen außerhalb der Bundeswehr; um die Durchführung des Auftrags der Streitkräfte zu unterstützen. Zielgruppen können eigene Bevölkerungsteile und in Krise und Krieg zusätzlich Feindkräfte sein.“ Dazu gehört Öffentlichkeitsarbeit, etwa in der Zeitschrift „Beiträge zur Konfliktforschung“, die nach Aussagen von A. Mechtersheimer vom PSV gegründet wurde. Über weitere Betätigungen können nur Spekulationen angestellt werden. Denkbar wären etwa die Erstellung psychologischer Eigenschaftsprofile bestimmter Zielgruppen, die Analyse von Stimmungen und Einstellungen in der Bevölkerung zu politischen und militärischen Fragen u. ä.

Personalauslese

Die Eignungsdiagnostik und Personalauslese ist mit einem Anteil von 60 % der Psychologenstellen der weitaus bedeutendste Bereich militärischer Anwendung der Psychologie. Es gibt keinen anderen Bereich der Eignungsdiagnostik in der BRD, der einen vergleichbaren Umfang aufweist: Allein die Eignungs- und Verwendungsprüfung (EVP), die laut § 20 a Wehrpflichtgesetz alle dienstfähigen Wehrpflichtigen zu durchlaufen haben, wird in jeder der 32 Prüfgruppen in den Ersatzämtern der BRD täglich durchschnittlich 50 bis 55 mal durchgeführt (Steege, 1977). Von jedem dienstfähigen Wehrpflichtigen werden Eignungsmerkmale und Verwendungsvorschläge erhoben und festgehalten (vgl. Fritscher, 1981; Steege, 1977; Mitze, 1971). Freiwillige, Offiziersanwärter und Bewerber für Spezialaufgaben (z. B. Kampfschwimmer, Piloten) werden zusätzlichen Tests unterzogen, an denen Psychologen maßgeblich beteiligt sind. Die verwendeten Verfahren werden unter Verschluß gehalten. Bekannt ist jedoch, daß sie sich vor allem auf „allgemeines Intelligenz- und Bildungsniveau, technisches Verständnis und Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit (Steege, 1977, S. 52) beziehen – durchaus keine militärspezifischen Eigenschaften, sondern solche, die man etwa von einem guten Ingenieur erwarten würde. Die Qualität der Personalauslese hängt wesentlich von der Güte der Testverfahren ab. Die Optimierung dieser Verfahren ist daher auch ein militärisch wichtiges Forschungsgebiet (z. B. Schulz, 1983; Wottawa, 1983).

Sozialpsychologie

Die Sozialpsychologie in der Bundeswehr befaßt sich nach Puzicha (1977) und Mitze (1971) mit folgenden Problemen:

  • den Ursachen der Lockerung oder des Zerfalls der inneren Festigkeit von Gruppen,
  • dem Verhalten in Extremsituationen (Flucht, Panik, Meuterei),
  • den Führungsstilen
  • Problemen der Identifikation (mit Führung, Gruppe, Ideologie) u. ä.

Die Aufgabe der Psychologen ist in erster Linie die Beratung verantwortlicher Stellen auf der Grundlage empirischer Erhebungen z. B. zur Arbeitszufriedenheit von Soldaten, zu den Folgen von Versetzungen auf die Moral und Zufriedenheit der Betroffenen (Neuberger u. a., 1982), zur Einstellung gegenüber dem Wehrdienst (Puzicha & Meißner, 1981) und zu „Symptomen nicht gelungener Sozialisation in der Bundeswehr“ wie Fahnenflucht, Kriegsdienstverweigerung bei Soldaten, Drogenkonsum, Selbstmorde u. ä. (z. B. Renn & Feser, 1983). Man stelle sich vor, die Sozialisation von Arbeitslosen würde mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht(…)

Klinische Psychologie

Zu den Aufgaben der Klinischen Psychologie in der Bundeswehr gehört auch die individuelle Therapie, doch ist über die verwendeten Methoden in der Literatur kaum etwas zu finden. Es ist anzunehmen, daß ein wesentlicher Teil der Funktionen entsprechend einem traditionellen Verständnis von Heiltätigkeit von Psychiatern (also Medizinern) wahrgenommen wird. Genannt werden z B. therapeutische Maßnahmen bei unfallbedingter Flugangst von Flugzeugführern (Gerbert, 1981).

Flieger und Flugpsychologie

Einen besonderen Stellenwert nimmt in der Bundeswehr die Flieger- und Flugpsychologie ein, entstehen hier doch besonders hohe Kosten, falls der Faktor Mensch versagen sollte: In 80 bis 90 % aller Flugunfälle wird „menschliches Versagen“ als Hauptursache diagnostiziert (Gerbert, 1981). Die zunehmende Komplexitt des Gesamtsystems hat trotz höherer Zuverlässigkeit der Technik zu vermehrten psychischen Belastungen gebührt. Personalauslese, Ausbildung und ergonomische Gestaltung der Systeme spielen daher eine bedeutende Rolle und stellen ein wichtiges Einsatzfeld für Psychologen dar.

An diesem Beispiel wird allerdings ach deutlich daß sich die militärische Anwendung der Psychologie keineswegs nur auf die Übertragung allgemeiner arbeitspsychologischer Prinzipien auf die Bedingungen der Organisation Bundeswehr beschränkt. Deren Besonderheit wirkt auch auf die Auswahl der in der Psychologie untersuchten psychischen Phänomene zurück. Dies gilt z. B. für die psychische Belastung und Beanspruchung von Piloten, für die es – außer vielleicht in der Weltraumfahrt – keine Entsprechung im nichtmilitärischen Bereich gibt. Ein Teil der Streitforschung etwa ist daher eindeutig als militärische Forschung zu kennzeichnen (vgl. Wehrpsychologische Untersuchungen, Heft 3/1982).

Der hier gegebene Überblick ist notwendigerweise unvollständig und skizzenhaft. 1 Es sollte aber ein Aspekt der Rolle der Psychologie in der Rüstungsfrage aufgezeigt werden, der in der bisherigen Diskussion in der Friedensbewegung weitgehend ausgespart blieb, aber insbesondere die in Forschung und Lehre tätigen Psychologen in erheblichem Maße betrifft. Wenn die Inhalte ihrer Wissenschaft in breitem Umfang militärische Anwendung finden und gleichzeitig von dieser militärischen Anwendung teilweise bestimmt werden, dann gilt für die Psychologen gleichermaßen, was häufig als spezifische Forderung an Natur- und Ingenieurwissenschaftler formuliert wird, sich ihrer besonderen Verantwortung als Wissenschaftler für die Verhinderung von Krieg bewußt und entsprechend aktiv zu werden. Eine Position, die den „Beitrag der Psychologie zum Friedenskampf auf die Frage „Ist der Mensch zum Frieden fähig?“ zuspitzt 2, klammert den eigenen Beitrag zur Verwissenschaftlichung des Krieges (und zur Militarisierung von Wissenschaft) aus.

Zudem scheint die Frage falsch gestellt zu sein: Die Art und Weise, wie die Psychologie militärisch angewandt wird, legt eher die Frage nahe, wie der Mensch zum Krieg zu befähigen sei…

Literaturverzeichnis:

Benne, K., Krämer, C., Syrer, Y. (Hg.), Beiträge zum Friedenskampf – Ist der Mensch zum Frieden fähig? FU Berlin, 1982.
Fritscher, W., Die psychologische Eignungsfeststellung bei ungedienten Wehrpflichtigen. In H. Hasse & W. Molt (Hg.), Handbuch der angewandten Psychologie, Band 3. Landsberg: Verlag Moderne Industrie, 1981.
Gerbert, K., Flugpsychologie. In Hasse/ Molt (Hg.), a.a O.
Geuter, U., Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984.
Geuter, U. & Kroner, B., Militärpsychologie. In DGVT (Hg.), Psychologische Mobilmachung. Tübingen, 1983.
Graumann, C. F. (Hg.), Psychologie im Nationalsozialismus. Berlin: Springer 1985.
Losemann, M., Die Strategie dir flexiblen Irreführung – Was die Bundeswehr unter „Psychologischer Verteidigung“ versteht. In DGVT (Hg.), a.a.O.
Mitze, W., Psychologen in der Bundeswehr. In H. Benesch, F. Dorsch (Hg.), Berufsaufgaben und Praxis des Psychologen. München: Reinhardt, 1971.
Neuberger, O. u. a., Mobilität in der Bundeswehr. Versetzungen und ihre Auswirkungen auf den Soldaten und seine Familie. Wehrpsychologische Untersuchungen, 1982, Heft 5.
Puzicha, K., Sozialpsychologie in der Bundeswehr. Psychologie und Praxis, 1977, 21, 57-66.
Puzicha, K. & Meißner, A., Sozialpsychologische Forschung in der Bundeswehr: Die Motivation junger Männer gegenüber Wehrdienst und Kriegsdienstverweigerung. In Hasse/Molt (Hg.), a.a.O.
Renn, H. & Feger, H., Probleme des Alkoholmißbrauchs junger Soldaten im Vergleich zu gleichaltrigen Zivilpersonen. Wehrpsychologische Untersuchungen, 1983, Heft 6.
Richter, H. E., Zur Psychologie des Friedens. Reinbek: Rowohlt, 1982.
Schulz, U., Modelle und Methoden der Validierung und Nutzenbestimmung personalpsychologischer Klassifikationen. Wehrpsychologische Untersuchungen, 1983, Heft 5.
Steege, F. W., Personalpsychologie in der Bundeswehr. Psychologie und Praxis, 1977, 21, 49-57.
Steege, F. W., Psychologische Beiträge zur Personalgewinnung und Personalentwicklung in der Bundeswehr. In Hasse/ Molt (Hg.), a.a.O.
Watson, P., Psycho- Krieg. Möglichkeiten Macht und Mißbrauch der Militärpsychologie. Düsseldorf: Econ, 1982.
Wehrpsychologische Untersuchungen, Heft 3/1982, zum Thema Flugpsychologie.
Wottewa, H., Neuere Methoden der Analyse und Bewertung der diagnostischen Urteilsfindung auf Ausleseverfahren der Bundeswehr. Wehrpsychologische Untersuchungen, 1983, Heft 3.

Anmerkungen

1 Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrages findet sich in der Reihe „THD-Initiative für Abrüstung: Analysen, Nr. 3 Oktober 1984, W. Mohr: Die Aufrüstung des Faktors Mensch. Militärische Forschung und Anwendung der Psychologie.“Zurück

2 Dieser Vorwurf ist allerdings nicht auf die Autoren der gleichnamigen, sehr lesenswerten Broschüre (siehe Literaturverzeichnis) gemünzt.Zurück

Winfried Mohr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Psychologie der TH Darmstadt

Kriege beginnen in den Köpfen von Menschen

Kriege beginnen in den Köpfen von Menschen

von Hans-Peter Nolting

Bietet uns die psychologische Forschung zum Problem von Krieg und Frieden Informationen, mit denen wir die Phänomene besser verstehen und Ansatzpunkte zur Friedensförderung finden können? Daß in dieser Hinsicht Erwartungen an die Psychologie gestellt werden, ist offenkundig.

„Kriege beginnen in den Köpfen von Menschen“ heißt es in der Präambel der UNESCO – und ist das, was in den Köpfen von Menschen vor sich geht, nicht Gegenstand psychologischer Forschung? Und Albert Einstein wandte sich 1931 mit seiner Frage „Warum Krieg?“ nicht etwa an einen Politologen oder Militärhistoriker, sondern an Sigmund Freud. Man mag die Präambel der UNESCO nur für die halbe Wahrheit halten und vor einer Psychologisierung politischer Erscheinungen warnen. Doch sicher sind Krieg und Frieden auch psychologische Probleme. Denn Kriege sind keine Naturereignisse. Sie werden von Menschen gemacht und vor allem mitgemacht. Man muß sich daher fragen, auf Grund welcher Gefühle, Gedanken, Interaktionsformen usw. sie es tun.

Frieden – ein Thema in der Psychologie?

Bisher war der Frieden so gut wie kein Thema in der Psychologie. Es gibt eine Verkehrspsychologie, eine Gerichtspsychologie, eine Betriebspsychologie, eine Werbepsychologie und auch eine Wehrpsychologie aber keine Friedenspsychologie. Auch in der politischen Psychologie spielt dieser Problemkreis bislang kaum eine Rolle. In den Psychological Abstracts, in denen jährlich über zehntausend Arbeiten gesammelt sind, sucht man das Stichwort „Frieden“ oder „Friedensforschung“ vergeblich, ebenso auch „Gewaltlosigkeit“ – , will man etwas über nonviolence erfahren, muß man unter violence nachsehen und findet dort ein bißchen, wenn man Glück hat. In der Bibliographie deutschsprachiger psychologischer Literatur sieht es nicht besser aus. Weder „Frieden“, noch „Krieg“, noch „Gewalt“ noch „Gewaltlosigkeit“ sind zu finden. Man muß unter den breiten Stichworten Aggression oder Konflikt nachschauen und findet dann ganz selten etwas zu den Fragen, die uns hier auf dem Kongreß bewegen, während ich in denselben Registern schon Stichworte wie „Pendel“, „Orakel“ oder „Poltergeist“ angetroffen habe.

Diese Tatbestände rühren sicher zum Teil daher, daß Krieg und Frieden als politische Phänomene für den Psychologen so schwer zu untersuchende Gegenstände sind – sehr komplexe und unüberschaubare Massenerscheinungen, die überdies weder im Labor noch in natürlicher Umgebung experimentell herstellbar sind. Aber es gibt offenbar auch politische Berührungsängste. Ein eklatantes Beispiel konnten wir gerade in diesen Tagen erleben. Beim diesjährigen Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Wien sollte auf Antrag der Professoren Kempf und Werbik auch ein Symposium zum Thema „Atomare Bedrohung und Krieg“ stattfinden. Alle Modalitäten für einen solchen Arbeitskreis wurden erfüllt, die Referenten waren benannt, die Abstracts eingereicht. Die Auswahlkommission hat es jedoch abgelehnt, die Thematik ins Programm zu nehmen, weil sie zu politisch sei so die mündliche Begründung auf Anfrage von Herrn Kempf, da ein schriftlicher Bescheid nicht gegeben wurde. Offenbar sind die Ängste groß; Die Angst, daß politische Themen das Bild von der objektiven Wissenschaft ankratzen könnten und vermutlich auch die Angst, daß solche Themen zu Konflikten im Kreis der eigenen Mitglieder führen könnten.

Die Gefahr, daß Politik die Wissenschaft verderben kann, will ich nicht leugnen. Wer könnte das nach den trüben Erfahrungen in unserer eigenen Vergangenheit?! Ich will auch gar nicht dafür plädieren, einen Kongreß mit eindeutig wissenschaftlicher Zielsetzung als ganzen zu politischen Stellungnahmen drängen zu wollen. Es gibt dafür ja gesonderte Kongresse wie diesen. Aber: darf die politische Zurückhaltung so weit gehen, daß man es einem Kreis von interessierten Kollegen untersagt, sich in einer Arbeitsgruppe des Kongresses, zu deren Besuch niemand gezwungen wird, auch mit der Frage zu beschäftigen, ob die eigene Wissenschaft zu einem drängenden politischen Weltproblem etwas zu sagen hat? Kann man sich überhaupt mit Existenzfragen der Menschheit befassen, ohne dabei politisch zu werden? Und merken auf politische Abstinenz bedachte Kollegen nicht, daß man bei bestimmten Ereignissen nicht politisch unschuldig bleiben kann, daß das Raushalten aus der Politik immer eine Unterstützung für die ist, die die Macht haben?

Die Unhandlichkeit des Gegenstandes und politische Berührungsängste dürften also Gründe dafür sein, daß es in der Psychologie eine explizite Friedensforschung bislang nicht gibt. Was die wissenschaftliche Seite betrifft, so lassen sich Teilaspekte der komplexen Phänomene sicherlich empirisch und experimentell untersuchen, und im Prinzip geschieht dies auch. Mir scheint allerdings, daß die Teilaspekte zuweilen schon fast als die ganze Erklärung überbewertet und überdies die Akzente zu einseitig gesetzt wurden.

Aufgrund meiner Beschäftigung mit psychologischen Fragen der Friedensforschung halte ich alle Erklärungsversuche, die das Problem auf einen einzigen kurzen Nenner bringen möchten, für grobe Vereinfachungen. So können wir unter anderem nicht davon ausgehen, daß, wenn Millionen Menschen in den Krieg ziehen, sie alle dafür dieselben Motive haben.

Es sind vor allem zwei Aspekte, unter denen in der Psychologie das Problem von Krieg und Frieden betrachtet worden ist: die Frage nach dem Ursprung „der“ menschlichen Aggression und das Phänomen der Vorurteile und der Feindbilder. Was die psychologische Aggressionsforschung anbetrifft, so hat sie sich fast ausschließlich mit individueller Aggression befaßt, und es geriet dabei ganz aus dem Blick, daß Kriege extreme Formen kollektiver Gewalt sind, die man mit den Aggressionen im sozialen Nahraum oder mit gewöhnlicher Gewaltkriminalität nicht ohne weiteres gleichsetzen kann. Aggressive Verhaltensweisen, wie wir sie bei Kindern und Erwachsenen im Alltag erleben – und darauf bezieht sich der überwiegende Teil der Untersuchungen – bilden sicherlich nicht die Bausteine für die Funktionsfähigkeit militärischer Apparate; sie sind dort eher störend und unerwünscht. Und wenn man meint, daß zwar das Verhalten verschieden, aber die Motivation im Grunde dieselbe sei, daß sich im prügelnden Vater wie im Abwerfen von Bomben gleichermaßen aggressive Impulse ausdrückten, so haben uns spätestens diverse Studien über Nazi-Täter wie Eichmann und die bekannten Gehorsams-Experimente von Milgram darüber belehrt, daß dies keineswegs so sein muß. Gewaltbereitschaft ist weit vielfältiger und umfassender als persönliche Aggressivität. Sie umfaßt neben aggressiven Motiven wie Vergeltungsdrang und Sadismus gerade im Falle kollektiver Gewalt auch materielle Vorteilssuche, Anerkennungsbedürfnis, Opportunismus, Gehorsamsbereitschaft, Autoritätshörigkeit, Pflichtgefühl, Sendungsbewußtsein oder die schlichte Angst „nein“ zu sagen.

Was die Vorurteile und Feindbilder anbelangt, so ist mit ihnen sicher ein kollektiver Aspekt erfaßt; denn es geht dabei ja um Gruppenstereotype. Aber auch damit bleibt ein ganz entscheidendes Merkmal außer Betracht, daß nämlich politische Gewalt (ob Krieg, Foltersysteme usw.) praktisch immer organisierte Gewalt ist: mit Schulungen, Rollenverteilungen, Hierarchien, systematischen Belohnungen und Bestrafungen. Und das Handeln des einzelnen dürfte in der Regel weit mehr von seiner Stellung in der eigenen Gruppe, also von gegnerunabhängigen Faktoren, bestimmt sein als durch das Bild von jenen, die als Gegner bekämpft werden.

Mein Eindruck ist, daß die Psychologie zwar schon heute einige interessante Aspekte zum Verständnis von Krieg und Frieden beisteuert, daß sie sich aber mehr als bisher explizit mit der organisierten Gewalt zwischen politischen Gruppen (wie Völkern, Rassen, Schichten usw.) beschäftigen und diese unter einem umfassenden Gefüge von Gesichtspunkten untersuchen müßte. Dazu gehören sowohl individuelle Faktoren und ihre erzieherischen Hintergründe als auch gruppendynamische und organistionspsychologische. Erfaßt werden muß das Handeln von Menschen auf allen Ebenen organisierter Gewaltsysteme, auf der unteren Ebene der Befehlsempfänger ebenso wie auf der Ebene der Führungskreise, die die Entscheidungen treffen. Einbezogen werden müßte auch das Verhalten jener passiv zuschauenden Bürger, die durch ihre gewährenlassende Haltung den Gewaltaktionen freien Raum geben.

Weiterhin müßte auch die strukturelle Gewalt Thema psychologischer Friedensforschung sein. Sicherlich kann man darüber streiten, wie weit man den Friedensbegriff fassen soll. Tatsache ist aber, daß die strukturelle Gewalt, im Sinne sozialer Ungerechtigkeit, ebenfalls auf kollektivem, organisiertem Verhalten beruht und daß an ihr jährlich mehr Menschen zugrunde gehen – durch Hunger, vermeidbare Krankheiten usw. – als an der personalen Gewalt durch Bomben und Gewehre. Mit diesen Formen stiller Unterdrückung – mit den Herrschern wie den Beherrschten – hat sich die Psychologie bislang so gut wie gar nicht befaßt.

Schließlich müßten auch jene Formen von Gewaltlosigkeit in den Blick genommen werden, die zur Überwindung von personaler und struktureller politischer Gewalt beitragen können. Da dies nicht individuelle, sondern wiederum nur organisierte Gewaltlosigkeit sein kann, geht es um psychologische Aspekte von gewaltfreien Aufständen und sozialem Widerstand. Mit Recht beklagt der amerikanische Psychologe Pelton, der m.W. die bisher einzige Monographie zur Psychologie der Gewaltlosigkeit verfaßt hat, daß sich die Psychologie zwar ausgiebig mit der sozialen Verhaltenskontrolle befaßt hat, aber so etwas wie eine Psychologie des sozialen Widerstands praktisch völlig fehlt.

Zu einem weiteren Aspekt können wissenschaftliche Informationen zum Problem politischer Gewalt und ihrer gewaltfreien Bekämpfung sich in größere politische Wirksamkeit umsetzen? Wächst der politische Einfluß mit der Differenziertheit der Sachkenntnisse?

Kann psychologische Sachkenntnis nützen?

Jeder, der sich nur mal ein wenig mit der Politik eingelassen hat, weiß, daß dies eine sehr naive Annahme wäre. Politik wird von Interessen bestimmt und nicht von der Suche nach Erkenntnis. Es setzt sich durch, wer die Macht hat, und nicht, wer der Sachkundigere ist. Haben wir nicht alle schon diese deprimierenden Diskussionen erlebt, in denen differenzierteste Sachargumente (z.B. zu den technisch bedingten Gefahren der Raketen) einfach nicht ernst genommen wurden und Antworten hervorriefen, in denen z. B. von Zusammenhalt, von Treue oder von Regeln der Diplomatie die Rede war? Die Ohnmacht der Wissenschaft trifft die Psychologie genauso wie jede andere Disziplin. Prinzipiell wird Wissenschaft erst politisch wirksam, wenn sich Machtgruppen ihrer bedienen. In erster Linie sind dies natürlich Regierungen und ihre Träger, und die haben, wie die Geschichte zeigt, der Wissenschaft stets mehr Einfluß gewährt, wenn es um Zwecke der Aufrüstung und Kriegsführung ging als um Abrüstung und Kriegsverhinderung. Will Wissenschaft in dieser Hinsicht ihre Ohnmacht verlieren, so eben wiederum nur über Menschen, die selbst eine Macht bilden. Und das versuchen wir als Teil der Friedensbewegung ja zu sein.

Ist nun zu erkennen, daß Forschung, speziell Friedensforschung, über eine solche politische Bewegung Wirkungen zeigt? Ich kann hier nur sehr subjektiv urteilen. Aber mir scheint, daß bei der Nachrüstungsproblematik die Friedensforschung zum ersten Mal überhaupt öffentlich in Erscheinung getreten ist.

Die Militärexperten unter den Friedensforschern haben der Bewegung die Argumente geliefert und sie zum Teil wohl auch mit ausgelöst.

Die Psychologie hat hier sicher einen schlechteren Stand als die Militärexperten und Naturwissenschaftler. Dennoch können unsere Beiträge für die Öffentlichkeitsarbeit und den Austausch innerhalb der Friedensbewegung durchaus nützlich sein. Und zwar einfach deshalb, weil viele Menschen Psychologie interessant finden und bereit sind, sich eher mit psychologischen Aspekten zu befassen als z. B. mit Waffentechnik. Diesen schlichten Tatbestand sollten wir nutzen.

Ich möchte nur einige Inhalte nennen, die mir interessant erscheinen: Politische Gewalt unterscheidet sich erheblich von individueller Aggressivität und zu ihrer Verminderung ist die Widerstandsfähigkeit gegenüber Aufforderungen zur Gewaltbeteiligung wichtiger als der Umgang mit eigenen Aggressionsgefühlen.

Dieser Gesichtspunkt mag diejenigen Aktivisten in ihrer Oberzeugung bestärken, die Verweigerungen und organisierten gewaltfreien Widerstand, wie er sich in der Friedensbewegung formiert hat, grundsätzlich für den richtigen Weg halten.

Verschiedene psychologische Mechanismen halten uns davon ab, den Gefahren ins Auge zu sehen und das Handeln der eigenen Seite nach denselben Maßstäben zu messen wie das des Gegners; ein Großteil der politischen Propaganda ist darauf angelegt, eben diese Täuschungen und Selbsttäuschungen zu fördern.

Dieser Gesichtspunkt scheint mir besonders relevant, um zur Immunisierung der Öffentlichkeit gegenüber politischen Verführungen und Bagatellisierungen beizutragen und den Blick für diverse Formen des Selbstbetruges zu schärfen.

Politische Entscheidungen in Führungsspitzen werden nicht weniger von irrationalen und allzumenschlichen Faktoren – persönlichen wie gruppendynamischen – bestimmt als unser alltägliches Handeln.

Mit diesem Gesichtspunkt können wir vermutlich zwar keine Politiker umstimmen, wohl aber dazu beitragen, deren Autorität in der Öffentlichkeit zu erschüttern, und zwar auch bei politisch inaktiven Bürgern. Obwohl viele Menschen über Politiker schimpfen, wenn die eigene Interessengruppe sich finanziell getroffen sieht, gehen die meisten wohl immer noch von der stillen Annahme aus, daß „die da oben“ ansonsten doch den besseren Überblick und die größere Sachkenntnis haben müßten. Vielleicht können wir das Expertenimage derer abbauen helfen, die stets so tun, als seien sie die Rationalität in Person und hätten alles unter Kontrolle. Der Fall Wörner/Kießling ist ein Musterbeispiel für das, was ich meine. Derselbe Mann, der mit Stimme und Gesicht stets souveräne Unerschütterlichkeit darstellt und der jeden Irrtum auszuschließen vermag, versucht uns ja auch einzureden, daß ein Atomkrieg durch technische und menschliche Fehler gänzlich unmöglich sei, obwohl hier – anders als in der Generalaffäre – nicht Monate, sondern nur Minuten zur Urteilsbildung zur Verfügung stehen.

Informationen sind wichtig, um die eigenen Überzeugungen besser zu begründen und um die öffentliche Meinung nach und nach zu verändern – was der Friedensbewegung bisher ja in einer verblüffenden Schnelligkeit gelungen ist. Welcher Friedensaktivist hätte 1981 für möglich gehalten, daß sich in zwei Jahren die öffentliche Meinung umkehren und im Bundestag 200 Raketengegner sitzen würden. Aber jeder weiß, daß Aufklärung nicht ausreicht. Wenn 70 % der Bevölkerung gegen die Raketen sind, bedeutet dies ja nicht, daß 70 % dagegen etwas unternehmen. Nicht die Raketenbefürworter sind unser eigentliches Problem, sondern die vielen Passiven. In unserer Göttinger Gruppe hatte jemand das Problem mal so formuliert: Wie bringen wir die Leute dazu, das zu tun, was sie wollen?

Dr. Hans-Peter Nolting ist Oberrat am FB Erziehungswissenschaften der Universität Göttingen. Es handelt sich bei dem vorstehenden Beitrag um eine gekürzte Fassung des Referates, das Nolting auf dem 2. Friedenskongreß Psychosozialer Berufe gehalten hat.

Annäherungen an eine Psychologie des Terrorismus

Annäherungen an eine Psychologie des Terrorismus

von Karin Weis und Andreas Zick

Journalistische und politische »Erklärungen« des Terrorismus, insbesondere des internationalen Terrorismus, geraten fast unweigerlich in die Sackgasse standortbedingter Perspektivendivergenz: Was für die einen i.W. eine Reaktion ist auf die Aggressivität, mit der der Kapitalismus die letzten Rohstofflager ausbeutet und sich auch die kleinsten Märkte unterwirft, stellt für die anderen ein Epiphänomen eines aus endemischen, letztlich irrationalen (Ab-) Gründen gespeisten politischen und kulturellen Zerfallsprozesses dar, der unbedingt eine Regulierung seitens der »internationalen Gemeinschaft«, nicht zuletzt mit militärischen Mitteln, erfordert. Die folgenden »Annäherungen an eine Psychologie der Terrorismus« lassen sich kaum einem dieser »weltsystemischen« Ansätze zuordnen. Was immer auf dieser Ebene Terrorismus stimulieren oder begünstigen mag, letztlich sind Personen und Gruppen die Akteure und man kann dementsprechend mit Fug und Recht von Individual- und Sozialpsychologie klärende Beiträge erwarten. Die Überlegungen der AutorInnen lassen allerdings erkennen, dass seitens der Psychologie die Voraussetzungen für eine kritisch-integrative Auseinandersetzung mit den angesprochenen Deutungsrichtungen noch lange nicht gegeben sind.

Den Realitätsgehalt der terroristischen Bedrohung katapultierte »9/11« der westlichen Welt ins Bewusstsein. Der Terrorismus trat nicht nur mit unerwarteter Zerstörungskraft auf, er zeigte auch ein unbekanntes Gesicht, indem er sich nicht mehr als bloß lokales Problem erwies. Mit 9/11 wurde deutlich, dass sich der Terrorismus zunehmend neuer Mittel bedient, andere Zielgruppen hat und eine »asymmetrische Kriegführung« verfolgt. Dieser »neue Terror« ist durch eine Reihe von Merkmalen charakterisiert: Die Zahl potenzieller Täter und Unterstützer ist enorm; der Terror hat viele religiöse und ideologische Gesichter; er nutzt moderne Medien und schafft transnationale Netze; zivile Opfer werden in Kauf genommen oder sind beabsichtigt; er zielt auf die Verbreitung von Angst und Schrecken, und in nie dagewesenem Ausmaß töten sich die Attentäter selbst bei Anschlägen.

Prävention und Intervention gegen diese Gefahr hängen mit einer zuverlässigen Ursachenanalyse zusammen: Was bewegt Individuen und Gruppen dazu, das Erreichen ihrer Ziele über das Leben anderer zu stellen? Obgleich unzählbare Analysen vorliegen, meinen die meisten Experten, dass schlüssige Antworten fehlen (Lia & Skjølberg, 2004). Das ist nicht allein auf eine fehlende gemeinsame Definition des Phänomens zurückzuführen (Laqueur, 2004). Die komplexe Frage nach den Ursachen ist nur aus unterschiedlichsten Perspektiven zu beantworten. Bedenkt man, dass Terrorismus von individuellen, sozialen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungsfaktoren und ihren Wechselwirkungen beeinflusst ist, sind einfache Ursachenangaben von vornherein verfehlt. Mit dem vorliegenden Beitrag konzentrieren wir uns auf die psychologische Perspektive, das heißt eine Perspektive, die das »terroristische Individuum« im Kontext der sozialen Umwelt zu verstehen sucht. Indem wir andere Zugänge ausblenden, reduzieren wir den Erklärungsansatz explizit.

Schlüssige, hinlänglich empirisch gestützte psychologische Theorien über den Prozess, wie eine Person zu einem Mitglied einer Terrorgruppe wird und sich an Anschlägen beteiligt, liegen u.E. nicht vor. Das ist darauf zurückzuführen, dass Terrorismus bislang kaum als wesentliches psychologisches Thema beachtet wurde, aber auch darauf, dass empirische psychologische Analysen kostspielig und gefährlich sind. Dies vorweggenommen, werden wir zunächst prominente psychologische Erklärungsansätze skizzieren, die in die Terrorismusforschung Eingang gefunden haben, und dann unsere »Annäherungen an eine Psychologie der Terrorismus« thesenartig präzisieren.

Erklärungsansätze

Wir betrachten zwei Theoriegruppen näher: Solche, die nach personalen Ursachenfragen, und solche, die nach dem Einfluss der Einbindung von Individuen in Gruppen fragen.

Die personbezogene Sicht: Devianz, Disposition, Emotion

Die These ist verbreitet, dass Terroristen psychisch auffällig sind und spezifische »Störungsbilder« aufweisen. Das kann kurz zurückgewiesen werden: Es gibt bis heute keine validen Hinweise, dass Terroristen psychisch krank sind (vgl. Hudson, 1999). Selbstverständlich können Einzeltäter auch unter psychischen Krankheiten leiden, aber wenn man den organisierten Terrorismus betrachtet, wird schnell klar, dass solche Organisationen es sich kaum leisten könnten, auffällige Personen aufzunehmen. Wenn Personen in eine Terrorgruppe aufgenommen werden, verringert sich ihr Kontakt zu etablierten sozialen Netzen (Freunde, Familie etc.) nach und nach, und die Gruppe wird Lebensmittelpunkt. Wer isoliert lebt, muss sich anpassen können und gruppeninterne Kommunikations- und Interaktionskompetenzen entwickeln. Die Operationen müssen geheim gehalten werden, und nach außen muss der Anschein der Normalität gewahrt bleiben. Dies berücksichtigt, erstaunt es nicht, dass Interviews mit Terroristen keine Hinweise auf psychische Krankheiten geben (McCauley, 2002), auch nicht bei Selbstmordattentätern (vgl. z.B. Atran, 2003). Selbst wenn man annimmt, dass Terroristen eine antisoziale Persönlichkeitsstörung aufweisen (z.B. Psychopathie), also intelligent und leistungsfähig, aber nicht empathisch und manipulativ gewaltbereit sind, würde das die Kooperation und Koordination in Gruppen stören oder unmöglich machen. Empirisch belegt ist auch nicht die »schwächere« These von Post (1990), dass Terroristen eine spezifische Form des Überlegens (terrorist psychologic) annehmen, die z.B. durch Hass geprägt ist. Zudem erklärt der Psychopathie-Ansatz nicht, warum sich einige Personen mit entsprechendem Profil Terrorgruppen anschließen und andere nicht. Crenshaw (1981) kommt sogar zum Gegenteil: Relativ »normale« Personen seien eher anfällig, sich Terrorgruppen anzuschließen. Sie müssen sich vielfach sogar besonders gut in der Normalität auskennen, um in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen (vgl. auch Corrado, 1981; Stahelski, 2004).

Ein weiterer Ansatz, der nach Persönlichkeitsmerkmalen fragt, verweist auf spezifische Dispositionen, die im Verlauf der Sozialisation entwickelt werden. Berücksichtigt man, dass terroristische Handlungen – selbst Selbstmordanschläge – Gruppenhandlungen sind, liegt es nahe, die individuelle Terrorneigung auf einen Autoritarismus zurückzuführen, der die Konformität befördert. Studien dazu liegen kaum vor. Ferracuti & Bruno (1981) identifizieren in Fallstudien Merkmale autoritär-extremistischer Persönlichkeiten wie Autoritätsambivalenz, Einsichtsschwäche, Konventionalismus, emotionale Ablösung von den Konsequenzen ihrer Handlungen, sexuelle Identitätsstörung mit Rollenunsicherheit, Aberglaube, Magie und stereotypes Denken, Destruktivität, Fetischisierung von Waffen und Festhalten an gewalttätigen subkulturellen Normen. Eher rechtsextreme Terroristen seien psychopathologisch zu beschreiben, auch weil ihre Ideologie »leer« (realitätsfern) sei. Bezieht man die Konflikt- und Rechtsextremismusforschung ein, dann liegt die Annahme nahe, dass Terroristen macht- und dominanzorientiert oder rigide und dogmatisch sind. Empirisch ist das nicht geprüft und solche dispositionalen Ansätze können nicht erklären, wie und warum sich so disponierte Individuen zu Terrorgruppen finden. U.E. sind Dispositionen eher Folge eines kulturellen Sozialisationsprozesses, der in sozialen Netzwerken stattfindet, und keine Ursache.

Vielversprechender erscheint uns die Frage, welche EmotionenMenschen dazu veranlassen, gewalttätig zu werden. Zu den zentralen Emotionen zählen Wut und Hass sowie Kränkungen und Frustration. Im Falle muslimischer Selbstmordattentäter kommt oftmals auch eine religiöse Hingabe dazu, sowie eine »freudige« Vorwegnahme des späteren Lebens im Paradies. Nicht jede Emotion muss in jedem Fall vorhanden sein, aber u.E. spielen Emotionen eine gewichtige Rolle. Wut und Hass auf andere Gruppen oder Nationen können Menschen dazu veranlassen, diese und die wahrgenommenen Ungerechtigkeiten und Bedrohungen zu bekämpfen. Ein Unterscheidungsmerkmal von Wut und Hass besteht darin, dass Wut auf Verletzung und Zerstörung, Hass auf die Nichtexistenz oder Zerstörung des Zielobjektes abstellt. Wut ist eine »heiße Emotion«, wohingegen Hass auch »kalt und berechnend« sein kann. Daraus resultieren unterschiedliche Handlungstendenzen. Wut führt zu einer Annäherung an das Zielobjekt (Weis, submitted). Dies beruht oft auf einer gewissen Irrationalität. Würde jeder Mensch rational handeln, würden stärkere Gruppierungen nie von schwächeren angegriffen werden, weil rein vernunftmäßig von vornherein klar ist, dass der Stärkere gewinnt, auch wenn er Verluste erleidet. Wut lässt Menschen irrational handeln und das Zielobjekt trotzdem angreifen. Hass hingegen kann die Emotion Wut sowie weitere Emotionen wie Angst, Ekel oder Verachtung beinhalten. Die Duplex-Theorie des Hasses von Sternberg (2003) postuliert, dass Hass aus drei Komponenten besteht, Negation von Intimität, Leidenschaft und Commitment. Je nachdem, welche der Komponenten zu welchem Ausmaß bedeutsam ist, sind die Hassqualität und resultierende Handlungstendenzen andere (s.a. Weis, 2006). Je mehr Komponenten des Hasses vorhanden sind, desto mehr steigt auch die Gefahr des Terrorismus.

Aber nicht nur negative Emotionen können Terrorismus motivieren. Handlungsgründe, die oft von muslimischen Attentätern angeführt werden, betonen die Hingabe an Gott oder die Aussicht auf ein Leben im Paradies und die Bindung an ihre Gruppe (z.B. Cole, 2003). Insgesamt halten wir einen psychologischen Ansatz, der die Emotionen von Tätern fokussiert, für unabdingbar, wenn auch empirische Studien dazu fehlen. Dabei ist zu beachten, dass die Emotionen in einen Gruppenkontext eingebettet sind.

Die Gruppenperspektive: Deprivation, Identität, Interaktion

Eine weit verbreitete These besagt, dass Terroristen Kränkungen und Frustrationen erfahren haben; der Terrorakt im weitesten Sinn ein Ruf nach Anerkennung ist. Dabei müssen Terroristen nicht unbedingt selbst widrige Umstände oder Kränkungen erleben. So stammten die meisten der Terroristen des 11.9. aus der gebildeten Mittelschicht und wuchsen relativ behütet auf. Krueger & Maleèkova (2003) zeigen in einer umfassenden Studie, dass Bildungsdefizite und nicht ökonomische Deprivation Terrorneigung und die Partizipation in Terrorgruppen erklären. Wesentlich ist u.E., dass Frustrationen (wie auch autoritäre Orientierungen, Emotionen etc.) v.a. dann die Terrorneigung erhöhen, wenn sie die soziale Identität und den damit verbundenen Selbstwert bestimmen; also jenen Teil des Selbstkonzepts, der aus der Mitgliedschaft zu Gruppen resultiert (Tajfel & Turner, 1986). Die Gruppenidentität ruft Emotionen hervor, wenn der Gruppe oder Mitgliedern etwas widerfährt und die anderen das empfinden, als wenn es ihnen selbst zugestoßen wäre. Erfolge der Gruppe führen zu einer Selbst-Aufwertung, Niederlagen und Demütigungen zur Abwertung der sozialen Identität; unabhängig von individuellen Erfahrungen. Propaganda kann diesen Effekt hervorrufen und verstärken. Blickt man auf die Situation vieler muslimischer Länder, so sehen diese sich unrechtmäßig vom Westen dominiert, unterdrückt, und sie bezichtigen den Westen, an ihrem Ungemach schuld zu sein. Zudem fühlen sie sich vielfach nicht ernst genommen, was dazu führen kann, dass junge Muslime sich aus Frustration einer Terrororganisation anschließen, selbst wenn sie ungefährdet aufgewachsen sind. Eine besondere Frage dabei ist, wie die Opferbereitschaft von Selbstmord-Attentätern zu erklären ist.

Eine Antwort gibt die Terror Management Theory von Greenberg, Salomon & Pyszczynski (1997). Sie befasst sich mit Reaktionen, die resultieren, wenn Menschen ihre Sterblichkeit bewusst wird. In Studien wurde festgestellt, dass sich Menschen im Zustand der Mortalitätsbewusstheit (selbstverständlich) fürchten. Sie möchten sich daher zur Angstreduktion an etwas festhalten, das den Eindruck der Unsterblichkeit bietet, bzw. der Nachwelt etwas von Wert hinterlassen. Die Zustimmung zu Werten und Normen der Kultur kann Mut machen, Sinn und Sicherheit geben. Erinnert man Menschen an ihre Sterblichkeit, dann identifizieren sie sich stärker mit Werten und Weltanschauungen. Relevant sind dabei länger existente Werte, die vermeintlich überdauern. Terrororganisationen sehen sich meist selbst nicht als Terroristen. Sie sind prosozial, kämpfen für ihre Kultur; leben und sterben für deren Essenz und können sich daher sicher sein, dass sie durch ihre Gruppe selbst nach dem Tod weiterleben werden, indem sie Essenz und Werte der Gruppe beispielhaft verkörpern und so zum Überdauern beitragen.

Thesen

Fasst man gegenwärtige psychologische Erkenntnisse zusammen, sprechen u.E. die Befunde für vier Thesen.

1. Grundsätzlich muss Terrorismus auf der Grundlage der Interaktion von personalen und gruppalen Faktoren verstanden werden. Im Besonderen ist dabei von den folgenden Annahmen auszugehen.

2. Terrorismus ist ein Gruppenphänomen, das auf einer starken Identifikation mit Terrorgruppen basiert, die auch die Gruppendynamik bestimmt. Da sich die Mitglieder einer terroristischen Vereinigung mehr und mehr von ihren herkömmlichen sozialen Gruppen fern halten und die Terrorzelle zur zweiten Familie wird, stehen sie mehr und mehr unter ihrem Einfluss. Da die Mitglieder von der Außenwelt isoliert sind, wird der Einfluss an einem bestimmten Punkt so stark, dass die Mitglieder mehr Angst davor haben, ihre Mitgenossen oder den Ringführer zu enttäuschen als zu sterben (McCauley, 2002). Dabei kann es zum Phänomen des »Gruppendenkens« (groupthink) kommen. Besonders anfällig dafür sind Gruppen, in denen die Kohäsion sehr hoch ist und deren Mitglieder sich von außen bedroht und unter Druck fühlen, Entscheidungen treffen zu müssen. In dieser Situation fühlen sie sich unverwundbar und moralisch überlegen und rationalisieren Entscheidungen, die auf einer schwachen Faktenbasis beruhen. Zudem teilen die Mitglieder Stereotype gegenüber Nicht-Gruppenmitgliedern und Fremdgruppen. Da innerhalb der Gruppe Druck ausgeübt wird, sich der allgemeinen Meinung anzupassen, trauen sich die Mitglieder kaum mehr, ihre individuellen Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen und es entsteht die Illusion uniformer Entscheidungen. Dazu kommt, dass es Personen gibt, die Informationen aktiv fernhalten, die nicht dem Meinungsbild der Gruppe entsprechen oder ihm widersprechen. Daraus resultiert, dass die Gruppe weniger Handlungsalternativen berücksichtigt, Risiken ihrer Entscheidungen nicht genügend abwägt, Experten- oder abweichende Meinungen verwirft oder gar nicht anhört, und keine Alternativpläne zur Zielerreichung entwirft.

3. Die Aktion wird durch gruppenbezogene Legitimationen ermöglicht. Oftmals sehen Terroristen die Mittel durch den Zweck gerechtfertigt (deviante Legitimierung). Terroristen glauben, dass es entweder gerechtfertigt war, die Opfer umzubringen, oder dass sie moralisch verpflichtet waren, ihren Anschlag zu verüben. Dazu muss aber die Bedrohung unmittelbar bevorstehen und darf auch nicht mit anderen Mitteln verhinderbar erscheinen. Die entscheidende Frage ist: Wie kommt es dazu, dass Personen Bedrohungen und Hass in einer solchen Weise empfinden, dass sie den Terror als gerechtfertigt ansehen? Zu vermuten ist, dass bei Terroristen durch bestimmte Ereignisse der Glaube in die Funktionsfähigkeit des Systems, in dem man sozialisiert ist, erschüttert wurde. Erklärungen werden gesucht, die oft auf Sündenböcke rekurrieren. Wenn der genannte Eindruck hinzukommt, dass die Bedrohung ganz unmittelbar bevorsteht und mit anderen Mitteln nicht abzuwenden ist, wird die Tötung von anderen als »Selbstverteidigung« akzeptabel (Drummond, 2002). Indem Terroristen für ihre eigene Kultur und Weltanschauung kämpfen, leben sie nach ihrem Selbstverständnis auch über ihren eigenen Tod hinaus in den kulturellen Werten fort, für die sie gekämpft haben (s.o.).

4. Terrorismus ist als Steigerungsprozess zu verstehen. Um den Prozess plausibel zu machen, warum viele Menschen unter ungleichwertigen Bedingungen leben, aber nur einige wenige zu Terroristen werden, zieht Moghaddam (2005) eine Treppenhaus-Metapher heran. Das Treppenhaus besteht aus fünf Stockwerken und wird von unten nach oben hin immer schmaler. Ist eine Person im obersten Stockwerk des Gebäudes angekommen, verübt sie einen Terroranschlag. Ob eine Person in einem Stockwerk verbleibt oder sich einen Stock weiter nach oben begibt, hängt von den Alternativen und Möglichkeiten ab, die sie für sich auf dem jeweiligen Stockwerk wahrnimmt; ob sie z.B. viele Türen sieht, durch die sie gehen könnte, und ob sie den Eindruck hat, dass diese Türen ihr offen stehen. Je weiter sie sich jedoch nach oben begibt, desto weniger Handlungsalternativen hat sie. Im ersten Stockwerk befindet sich eine Vielzahl von Personen, die sich ungerecht behandelt oder depriviert fühlen; dabei kommt es auf die persönliche Wahrnehmung an. Diejenigen Personen, die andere für ihre unglückliche Situation verantwortlich machen, begeben sich damit ins zweite Stockwerk. Dort findet eine Zuschreibung der Aggressionen auf Fremdgruppen statt. Dieser Prozess wird unterstützt durch Organisationen und Führungspersonen, die ihre Ideologie und Beschuldigungen anderer für Missstände kundtun und auf der Suche nach neuen Mitgliedern sind. Im dritten Stockwerk findet eine moralische Bindung an die terroristische Vereinigung statt. Die Personen kommen zur Einsicht, dass zur Erreichung der »idealen Gesellschaft« der Einsatz aller Mittel zu rechtfertigen und entsprechendes Handeln moralisch legitim ist, selbst wenn dabei andere zu Schaden kommen. Zusätzlich versuchen Terrororganisationen, die neuen Rekruten mit Mitteln der Isolierung, Angst und Verschwiegenheitspflicht zu binden. Das Endziel ist der Aufbau eines geheimen Parallellebens und ein Gefühl vollkommener Zugehörigkeit. Im vierten Stockwerk werden die Wahrnehmungen der neuen Mitglieder durch Engagement in kleinen Gruppen weiter verändert: Sie kommen mehr und mehr zur Einsicht, dass die Welt auf einfache Weise in Eigengruppe und Fremdgruppen eingeteilt werden kann. Wer nicht zur Eigengruppe gehört, ist Feind. Die Bindung an die Terrorzelle wird gestärkt und die neuen Mitglieder werden an die Bräuche, Traditionen, Handels- und Denkweisen der Gruppe herangeführt. Ungehorsam und mangelnde Konformität führen zu negativen Konsequenzen, und allgemein gibt es kaum mehr eine Möglichkeit, die Terrorzelle lebendigen Leibes zu verlassen. Der fünfte Stock führt dann zur Vorbereitung und Durchführung des Terroraktes. Die Mechanismen der vorherigen Stockwerke unterstützen die Fähig- und Willigkeit, andere Menschen zu töten. Die Einteilung der Welt in Gut und Böse erhöht die Bereitschaft, den Feind zu töten. So können auch Zivilisten ohne schlechtes Gewissen getötet werden. Des Weiteren geschehen Attentate aus einem Überraschungsmoment (zumindest für die Opfer) heraus, sodass die Opfer gar keine Möglichkeit bekommen, um ihr Leben zu flehen, Unterwürfigkeit oder andere Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die den Tötungswillen des Attentäters unterlaufen könnten.

Zusammenfassung und Ausblick

Unsere Skizze versucht, eine Perspektive zu entwickeln. Leider hat die psychologische Forschung weiterhin kaum Daten zur Verfügung, mit denen Hypothesen und Theorien überprüft werden könnten. Die Zuverlässigkeit der Thesen ist also noch gering. Berücksichtigt man, dass terroristische Anschläge im Kontext von Gruppen und Netzwerken und unter bestimmten strukturellen, politischen und historischen Bedingungen geplant und ausgeführt werden, ist evident, dass psychologische Theorien nicht hinreichen. Der Fokus auf die Psychologie begrenzt diesen Analyseansatz unweigerlich. Selbst Führungspersonen sind nur Masterminds hinter den Kulissen, die sich mit Strategien von Gruppen beschäftigen, während andere die Details der Anschläge planen und wieder andere, die im Extremfall erst 24 Stunden vor Ausführung des Anschlags angeworben werden, die Durchführung übernehmen. Zudem spricht vieles dafür, dass Terrorakte dann nahe liegen, wenn das soziale »Klima« günstig ist, das heißt die Täter auf eine weit reichende soziale Unterstützung treffen oder Terrorakte Erfolg versprechend zur Markierung der Vormachtstellung einer Gruppe scheinen (Bloom, 2005). Des Weiteren müssen wir unterscheiden zwischen den wenigen Terroristen und den vielen, die den Terrorismus unterstützen oder zumindest stillschweigend dulden und damit auch zu einem »System des Terrors« beitragen. Grundsätzlich ist aber zu bedenken, dass die Analyse von Gruppenprozessen und Ideologien notwendig ist. Der Wunsch vieler Politiker, ein psychologisches Profil potentieller Terroristen zu entwickeln, kann bislang nicht erfüllt werden. Sicherlich spielen Dispositionen eine Rolle, aber wir meinen, dass ein adäquates Erklärungsmodell komplexer sein muss, um die Wechselwirkungen von Persönlichkeit und Umfeld, Einstellungen, Anreizsystemen und Emotionen zu berücksichtigen. Wir meinen ferner, dass die Psychologie auf Nachbardisziplinen angewiesen ist und letztendlich nur ein interdisziplinärer Forschungsansatz sinnvoll sein kann.

Ebenso umfassend und komplex wie die Gründe eines Menschen, sich zum Terrorismus zu entscheiden, sind dann auch die Interventionsmöglichkeiten. Gerade junge Menschen werden als Terroristen rekrutiert und unterstützen Terrorismus eher als ältere Personen (Haddad & Khashan, 2002), und daher macht es Sinn, auch hier mit Präventionsmaßnahmen anzusetzen (vgl. auch Benard, 2005). Auch wenn das der akuten Bekämpfung des Terrorismus fern scheint, erinnern wir an Studien, die zeigen, dass Konfliktbewältigungsprogramme dazu führen können, dass Kinder und Jugendliche weniger gewaltbereit und aggressiv sind. Vermittlung und Übung von Kommunikationsfähigkeit, Toleranz gegenüber Differenzen und von Gewaltpräventionsfertigkeiten können dazu beitragen, dass Kinder lernen, Konflikte nicht auf der Basis von Gewalt auszutragen (vgl. z.B. Sexton-Radek, 2005). Des Weiteren ist es sinnvoll, Kindern beizubringen, nicht nur für sich selbst und Mitglieder ihrer Bezugsgruppen zu sorgen, sondern sich um das Wohlergehen anderer Menschen zu kümmern, die nicht der Eigengruppe angehören (Staub, 2003). Das vermindert die Tendenz von Individuen, sich »gegen die anderen« zu stellen. Ein drittes Konzept, das die Wahrscheinlichkeit von Gewalt und Terrorismus verringern könnte, ist, Kindern beizubringen, »weise« Entscheidungen zu treffen. Sternberg (2001) zufolge ist Weisheit die Anwendung von Intelligenz, Kreativität und Wissen zum Allgemeinwohl, wobei die eigenen Interessen mit denen anderer lang- und kurzfristig unter Zuhilfenahme von Werten abgewogen werden. Hierbei ist es wichtig, die Perspektive von anderen zu übernehmen, einen langfristigen Blickwinkel zu haben, und Werte wie Aufrichtigkeit, Integrität, Mitleid etc. als Grundlage des Handelns zu vermitteln.

Literatur

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Benard, C. (Ed.) (2005): A future for the young: Options for helping Middle Eastern youth escape the trap of radicalization. Rand National Security Research Division.

Bloom, M. (2005): Dying to kill: The allure of suicide terrorism. Columbia University Press, New York.

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Karin Weis promovierte an der Universität Heidelberg zum Thema Hass. Sie ist Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung und gegenwärtig als Postdoktorandin an der University of Connecticut in den USA tätig. Andreas Zick vertritt derzeit die Professur für Sozialpsychologie an der TU Dresden. Er forscht vor allem zu den Themen: Vorurteile, Konflikte und Gewalt zwischen Gruppen, Akkulturation von Minderheiten.

Unsichtbare Wunden

Unsichtbare Wunden

Posttraumatische Belastungsstörungen als Folge von Krieg und Gewalt

von Fabian Virchow, Willi Butollo, Roger Braas und Karin Griese

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3/2009
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

»Sprechen über PTBS«

von Fabian Virchow

Sprechen über PTBS – so überschrieb das Monatsmagazin des Deutschen BundeswehrVerbandes im Juni einen Beitrag über „einsatzbedingte psychische Störungen bei Soldaten“ und konzedierte, dass dieses Problem in den letzten Monaten verstärkt öffentlich wahrgenommen und diskutiert würde.1 Dass unter den SoldatInnen Unzufriedenheit über die von der Bundeswehr angebotene medizinische Betreuung in Sachen »Posttraumatische Belastungsstörung« (PTBS bzw. engl. PTSD/Post-Traumatic Stress Disorder) herrscht, ging aus einem kurz darauf veröffentlichten Beitrag hervor: „So müssten sich eigentlich 40 Bundeswehr-Ärzte um das Problem kümmern, es seien jedoch nur 22 Stellen besetzt. Am Einsatzort sei es fast unmöglich, kompetente Ansprechpartner zu finden“.2 Aufgrund dieser Situation sei die Gefahr einer (zu) späten Diagnostizierung gegeben.

Die Bundeswehr sieht sich im Zuge der Umwandlung der Bundeswehr zu einer »Armee im Einsatz« auch mit einer wachsenden Zahl von Todesfällen oder kriegsbedingten Erkrankungen in den eigenen Reihen konfrontiert. Zu letzteren zählt die PTBS/PTSD „als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“.3 PTBS/PTSD umfasst verschiedene psychische bzw. psychosomatische Symptome, die chronisch werden können oder als Trauma relevant werden. PTBS/PTSD tritt nicht nur als Folge von Kriegshandlungen auf, sondern insbesondere in Verbindung mit tief in die Persönlichkeit des betroffenen Individuums eingreifenden Gewalterfahrungen, z.B. bei KZ-Häftlingen oder in Fällen sexualisierter Gewalt. Im Unterschied zur akuten Belastungsreaktion spricht man von PTBS/PTSD ab einer Dauer von einem Monat.

Die PTBS/PTSD-Symptome wurden bereits früh vom Freud-Schüler Abram Kardiner aufgeführt4; zu diesen gehört das wiederholte Erleben des Traumas mit Gefühlen extremer Angst, von Entsetzen und Hilflosigkeit. PTBS/PTSD wird erlebt als Gefühl des Betäubtseins und emotionale Abstumpfung bzw. Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit gegenüber der Umwelt. Häufig kommt es auch zu übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlafstörung sowie zu Depressionen, die bis zu Suizidgedanken reichen. In manchen Fällen chronifiziert sich die Störung und geht in andauernde Persönlichkeitsveränderungen über. Als Diagnose fand PTBS/PTSD erstmals 1980 Eingang in das international relevante, von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebene Diagnose-Handbuch DSM III (aktuelle Fassung: DSM IV), wo es unter 309.81 als Form der Angststörung aufgeführt wird.

In der Forschung sind Risikofaktoren identifiziert worden, die einzeln oder in Kombination das Auftreten von PTBS/PTSD wahrscheinlichkeitstheoretisch begünstigen; als prätraumatische Risikofaktoren liegen diese zeitlich vor dem traumatischen Ereignis (z.B. bereits existierende psychische Probleme, sozial Isolation, Aufwachsen in Armut, soziale Marginalisierung, Dissozialität eines Elternteils, autoritäres elterliches Verhalten).5 Die Risikofaktoren können jedoch auch in der traumatischen Erfahrung selbst begründet sein oder als posttraumatische Risikofaktoren auftreten.

Vom »Kriegszitterer« zu PTSB/PTSD

Auch wenn PTBS/PTSD erst im Jahr 1980 als klinischer Zustand offiziell anerkannt wurde, gab es für das Krankheitsbild bereits in den früh(er)en Kriegen des 20. Jahrhunderts die Bezeichnung »Kriegsneurose« (»shell shock«). Als »Kriegszitterer« wurden jene Soldaten des Ersten Weltkriegs bezeichnet, die von schwerem Schüttelfrost gebeutelt wurden. Während für die Erkrankung die spezifische Konstellation eines lang andauernden Stellungs- und Grabenkrieges mit massivem Granatbeschuss verantwortlich gemacht werden kann6, wurden die betroffenen Soldaten – erleichtert durch die Vielzahl der auftretenden Krankheitsbilder, die sich nicht auf Bewegungsstörungen beschränkten – häufig als »Drückeberger« denunziert. Entsprechend sollten die Soldaten mit Eiswasserergüssen, wochenlangen Isolationsfoltern oder Elektroschocks zur Räson gebracht (»behandelt«) werden. Die Methode der Faradisation mittels elektrischer Ströme trat dabei in den Vordergrund: die betroffenen Soldaten erhielten Elektroschocks, denen sich militärische Kommandos anschlossen bis sie die Flucht aus der Krankheit in die Gesundheit antraten und »freiwillig« an die Front zurückkehrten.7 Auch mit anderen Methoden wie Hypnose konnte die sogenannte »Frontfähigkeit« nur in wenigen Fällen wieder hergestellt werden. Daher lag das Interesse des Kriegsministeriums bald beim Bemühen, die Erkrankten wieder arbeitsfähig zu machen – etwa in den rückwärtigen Munitionsfabriken –, um die mit etwaigen Rentenansprüchen verbundenen ökonomischen Kosten möglichst gering zu halten. Hinsichtlich der sogenannten »Kriegsneurosen« in Deutschland während und nach dem Ersten Weltkrieg war sich die deutsche Kriegspsychiatrie mit der großen Mehrheit der bürgerlichen Intelligenz, des Offizierskorps und der Generalität darin einig, der vermuteten kontraselektorischen Auswahl des Krieges gegenzusteuern.

Mit den ersten militärischen Niederlagen der Nazi-Wehrmacht stellten sich erneut spezifische »Kriegsneurosen« ein; die Häufung von Übelkeit und Erbrechen führte zur Aufstellung sogenannter »Magenbataillone«. Quasi in Radikalisierung der bereits im Ersten Weltkrieg anzutreffenden starken Tendenz der Kriminalisierung kriegsneurotischer Patienten8 bemühten sich Militärpsychiatrie und eine rücksichtslose Kriegsgerichtsbarkeit darum, dass die Angst vor Bestrafung größer war als die Angst vor dem Krieg.9

Nach Schätzungen des dem US-Amt für Veteranen-Angelegenheiten zugeordneten » National Center for Post-Traumatic Stress Disorder« (http://www.ncptsd.va.gov/ncmain/index.jsp) litt jeder Zwanzigste der US-Soldaten des Zweiten Weltkrieges an PTBS/PTSD-Symptomen; noch im Jahr 2004 erhielten 25.000 Veteranen dieses Krieges Kompensationszahlungen wegen PTBS/PTSD-Erkrankungen. Aus einer Zusammenstellung verschiedener Studien durch den »San Francisco Chronicle« ergeben sich für den Vietnam-Krieg, die Golfkriege 1991 und 2003 sowie den Krieg in Afghanistan folgende Zahlen zum Auftreten von PTBS/PTSD bei US-amerikanischen SoldatInnen10:

bei 15,2% der eingesetzten männlichen und 8,1% der weiblichen Vietnam-SoldatInnen (479.000 bzw. 610) wurden PTBS/PTSD-Symptome festgestellt;

34% aller männlichen Vietnamkriegsteilnehmer waren nach ihrer Rückkehr mehr als einmal inhaftiert; 11,5% wurden wegen schwerer Verbrechen verurteilt;

im Jahr 2004 erhielten noch 161.000 Vietnam-Veteranen Kompensationen wegen Berufsunfähigkeit;

nach dem Golfkrieg 1991 zeigten 3% der Männer und 8% der Frauen unmittelbar nach der Rückkehr aus dem Einsatz PTBS/PTSD-Symptome; deren Zahl stieg auf 7% bzw. 16% in der Zeitspanne von 18 bis 24 Monaten nach Rückkehr;

von 45.880 ehemals in Afghanistan eingesetzten SoldatInnen zeigten 18% psychologische Auffälligkeiten, darunter 183 Personen mit PTBS/PTSD-Symptomen;

nach dem Irak-Krieg 2003 zeigten 20% der 168.528 VeteranInnen psychologische Fehlsteuerungen, darunter 1.641 mit PTBS/PTSD (Veterans Affairs); eine vorhergehende Untersuchung kam zum Ergebnis, dass 12.500 von knapp 245.000 VeteranInnen Beratungszentren zur Behandlung entsprechender Probleme aufgesucht hatten; aufgrund der stärkeren Beteiligung an Kampfhandlungen waren SoldatInnen der Marines und des Heeres viermal öfter von PTBS/PTSD betroffen als andere Truppenteile;

60% der Irak-SoldatInnen aus Kampfeinheiten, die ernsthafte Symptome wie schwere Depression und PTBS/PTSD zeigten, vermieden es, sich medizinischer Betreuung anzuvertrauen, weil sie befürchteten, sie würden von den Kommandeuren und ihren Kameraden dann anders behandelt.

Mit Blick auf die beiden Kriegseinsätze im Irak und in Afghanistan drückt der Mitarbeiter des »Boston Veterans Affairs Healthcare System« Brett T. Litz seine Besorgnis aus: da zahlreiche Studien gezeigt hätten, dass die Häufigkeit und die Intensität der Teilnahme an Kampfhandlungen linear korreliert mit dem Risiko chronischer PTBS/PTSD-Erkrankung und in beiden Ländern die seit langem stärksten Kämpfe mit US-Beteiligung stattfänden, gäbe es Grund zur Annahme, dass eine neue Generation von PTBS/PTSD-geschädigten VeteranInnen entstehe.11

Deutschland

Die Zahl der soldatischen PTBS/PTSD-Erkrankungen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen: der Wehrbeauftragte spricht – unter Hinweis auf eine zusätzliche hohe Dunkelziffer – von einer Verdreifachung der Fälle vom Jahr 2006 (83) bis zum Jahr 2008 (245), wobei die große Mehrzahl in Verbindung mit dem ISAF-Einsatz aufgetreten sei.12 Die Bundeswehr widmet dem Problem vermehrt Aufmerksamkeit13 und das Thema – einschließlich der auch wissenschaftlich belegten zerstörerischen Auswirkungen, die PTBS/PTSD auf das familiäre Umfeld von SoldatInnen haben kann14 – ist inzwischen Gegenstand populärkultureller Fernsehproduktionen wie etwa in dem Film »Nacht vor Augen«, der von Seiten der Bundeswehr für seine realistische Darstellung gelobt wurde. Einen Anlass dazu, die zerstörerische Wirkung des Krieges auch auf jene, die an ihm aktiv beteiligt sind, ganz grundsätzlich zu überdenken, sehen die politisch und militärisch Verantwortlichen offenbar nicht. Wird man von der Bundeswehr also keine grundsätzlich kritische Auseinandersetzung mit der durch Krieg erzeugten Brutalisierung erwarten können, so erstaunt doch, dass angesichts der vorliegenden Forschungsergebnisse zu den Ursachen und Kontextvariablen von PTBS/PTSD die Anforderungen an zukünftige BundeswehrsoldatInnen hinsichtlich ihrer Stressresistenz abgesenkt wurden.

Anmerkungen

1) Sprechen über PTBS, in: Die Bundeswehr 6/2009, S.65.

2) PTBS – Es muss noch einiges getan werden, in: Die Bundeswehr 7/2009, S.39.

3) Klassifikation »Posttraumatische Belastungsstörung« nach ICD10 F43.1; die ICD 10 ist die von der WHO erstellte internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme.

4) Vgl. Theo Meißel (2006): Freud, die Wiener Psychiatrie und die »Kriegszitterer« des Ersten Weltkrieges, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit Heft 1: 40-56.

5) Vgl. Gottfried Fischer & Peter Riedesser (2003): Lehrbuch der Psychotraumatologie, Stuttgart, S.148; Jennifer L. Price (2004): Findings from the National Vietnam Veterans‘ Readjustment Study – Factsheet. National Center for PTSD; Gina P. Owens et al. (2009): The Relationship Between Childhood Trauma, Combat Exposure, and Posttraumatic Stress Disorder in Male Veterans, in: Military Psychology 21(1): 114-125.

6) Peter Leese (2002): Shell Shock: Traumatic Neurosis and the British Soldiers of the First World War, Basingstoke.

7) Vgl. die Dissertation von Frank Heinz Lembach mit dem Titel »Die ‚Kriegsneurose‘ in deutschsprachigen Fachzeitschriften der Psychiatrie und Neurologie von 1889-1922« (Universität Heidelberg) sowie Paul Lerner (2003): Hysterical men: war, psychiatry, and the politics of trauma in Germany, 1890-1930, Ithaca, N.Y.

8) Peter Riedesser & Axel Verderber (1985): Aufrüstung der Seelen: Militärpsychiatrie und Militärpsychologie in Deutschland und Amerika, Freiburg i. Br.

9) Klaus Blaßneck (2000): Militärpsychiatrie im Nationalsozialismus. Kriegsneurotiker im Zweiten Weltkrieg, Baden-Baden; Roland Müller (2001): Wege zum Ruhm: Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Marburg. Köln.

10) Jack Epstein & Johnny Miller (2005): U.S. wars and post-traumatic stress disorder, in: San Francisco Chronicle vom 22.06.2005, URL: http://www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/c/a/2005/06/22/MNGJ7DCKR71.DTL&type=health

11) Brett T. Litz (2007): Research on the Impact of Military Trauma: Current Status and Future Directions, in: Military Psychology 19(3): 217-238.

12) Bericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages 2008, BT-Drucksache 16/220, S.46.

13) Vgl. auch die entsprechenden Beiträge von Klaus M. Barre und Karl-Heinz Biesold im Band von Klaus J. Puzicha et al. (2001): Psychologie für Einsatz und Notfall, Bonn.

14) Jeffrey I. Gold et al. (2007): PTSD Symptom Severity and Family Adjustment Among Female Vietnam Veterans, in: Military Psychology 19(2): 71-81.

Wissenschaftliche Grundlagen der Posttraumatischen Belastungsstörung

von Willi Butollo

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS oder PTSD für »Posttraumatic Stress Disorder«) ist eine extreme Reaktion auf eine ebenso extreme Belastung. Die Betroffenen entwickeln starke Ängste, vermeiden i.B. Situationen, die an das Schreckerlebnis erinnern. Die Diagnose der PTBS wurde 1980 in das Diagnosemanual der American Psychiatric Association, das DSM-III, aufgenommen (APA, 1980) und fand als diagnostische Kategorie 1992 Eingang in das europäische Pendant, das ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 1992). Während zuvor also keine explizite Übereinkunft in Forschung und Praxis hinsichtlich der Definition einer traumabedingten Störung bestand, ermöglichte dies nun die Vergabe einer entsprechenden Diagnose und stimulierte damit die Darstellung und Erforschung dieses Störungsbereiches ungemein.

»Entwicklungsgeschichte«

Natürlich war schon vor der offiziellen Einführung der Posttraumatischen Belastungsstörung als eigenständige diagnostische Kategorie bekannt, dass und wie sich katastrophale Ereignisse auf die Psyche auswirken können. Die moderne »Entwicklungsgeschichte« der PTBS beginnt im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Beschreibungen über nervöse Syndrome nach Zugunglücken und Erdbeben und bei Soldaten auf der einen Seite. Auf der anderen Seite sind hier die grundlegenden Arbeiten zur Hysterie zu nennen, z.B. durch Charcot (1887 – »choc nerveux«), Janet (1889) und natürlich auch durch Freud (1896/1977). Die phänomenologischen Parallelen zwischen diesen unterschiedlichen Patientengruppen, nämlich den meist weiblichen hysterischen Patienten, dann den auf Schadenersatz klagenden Unfallopfern und schließlich den so genannten »Kriegszitterern« waren nicht zu übersehen. Nicht zuletzt angesichts der mit der Zunahme solcher Diagnosen verbundenen gesellschaftlichen Kosten entbrannte bereits um die Jahrhundertwende eine rege Diskussion zur Verursachung der »traumatischen Neurose«. Den Begriff prägte der deutsche Neurologe Oppenheim, der die Symptomatik als organische Folge einer tiefgreifenden Erschütterung des zentralen Nervensystems betrachtete. Lag also eine organisch-neurologische Erschütterung zu Grunde, wie es die Konzepte des »railroad spine« im zivilen oder des »shell shock« im militärischen Bereich vertraten? Wieso traf das Syndrom aber nicht alle gleichermaßen und wieso zeigten manche Soldaten die Symptomatik, obwohl sie gar nicht in der Nähe einer Explosion gewesen waren? Gab es konstitutionelle Prädispositionen, lag eine Schwäche der Persönlichkeit vor oder waren manche der Betroffenen sogar Simulanten, die auf Freistellung vom Fronteinsatz, Schadenersatzzahlungen oder Rente hofften? In Deutschland entwickelte sich dazu eine denkwürdige Fachdiskussion, die sich in dem vielzitierten Diktum »Das Gesetz ist die Ursache der Unfallneurosen« zusammenfassen lässt. So schreibt der Psychiater Bonhoeffer (1926, S.180): „Es handelt sich gar nicht um einen Krankheitsvorgang im eigentlichen Sinn, sondern um eine in letzter Instanz psychologisch bedingte Reaktion, die eintritt bei bestimmten Wünschen und Begehrungen und die fortfällt bei deren Wegfall.“ Und sein Kollege His (1926, S.185) fordert im selben Fachblatt eine entsprechende Anpassung in der damaligen Reichsversicherungsordnung (RVO), um der traumatischen Neurosen Herr zu werden, die sich „gleich einer Infektion“ ausbreiten. Dies prägte nicht nur den Umgang mit den Unfall- und Kriegsversehrten dieser Zeit, sondern später auch den bundesdeutschen Umgang mit Opfern nationalsozialistischer Verfolgung (Fischer-Hübner & Fischer-Hübner, 1990).

Nach Weisæth (2002 – zit. nach Butollo & Hagel, 2003) spielte es in der weiteren Forschung zu Traumafolgen eine maßgebliche Rolle, welche spezifischen Erfahrungen die einzelnen Länder im Zweiten Weltkrieg machten. So konzentrierten sich US-amerikanische Veröffentlichungen auf die Folgen von Kampfeinsätzen und Kriegsgefangenschaft, während sich z.B. britische Untersuchungen auch mit den Folgen der Bombardierungen ziviler Städte beschäftigten. Die vergleichsweise geringe Zahl deutschsprachiger Veröffentlichungen zu den Folgen des Zweiten Weltkrieges in der Nachkriegszeit lässt Weisæth unkommentiert. In persönlichen Gesprächen (Anmerkung des Verfassers, 1996) wies er jedoch auf die bedauernswerte Unterversorgung deutscher Kriegsheimkehrer hin, die als »Kriegsverlierer« und »Aggressoren« sowohl im Nachkriegs-geschüttelten Inland wie auch aus dem Ausland nicht die Anerkennung ihrer Leiden erfuhren, die zu deren Linderung bitter nötig gewesen wären.

Die Aufnahme der Diagnose »Posttraumatic Stress Disorder« in das Manual der APA und deren Übernahme durch die WHO kann in mehrerer Hinsicht als politisch betrachtet werden: Die gesellschaftlichen Kosten staatlicher Gewalt (Krieg und Diktatur) und der Gewalt in den Familien und auf den Straßen konnten nicht länger in dem Maße tabuisiert werden, wie das bisher der Fall gewesen war und ebenso wenig die gesellschaftlichen Kosten des Fortschritts (ökologische und technische Katastrophen, z.B. Staudammbrüche oder Industrieunglücke). Zugleich wurde in einer Zeit, als sich vor allem die US-amerikanische Psychiatrie bemühte, psychische Störungen möglichst nur phänomenologisch zu beschreiben, um das unscharfe Konzept der neurotischen Verursachung zu verlassen, ein Störungsbild in das DSM aufgenommen, das explizit mit einem festgeschriebenen persönlichkeitsunabhängigen ätiologischen Moment konzipiert wurde, nämlich dem traumatischen Ereignis als Auslöser.

So spielte bei kaum einer anderen psychischen Störung das jeweilige gesellschaftliche Klima eine derart entscheidende Rolle für deren Interpretation, wie dies bei der PTBS der Fall ist, und auch die heutige Diskussion ist geprägt von den immer gleichen Fragen:

1. Werden die Symptome in der Hauptsache durch die vorausgehenden Stressoren verursacht? 2. Oder handelt es sich bei posttraumatischen Stresserkrankungen um den Ausdruck individueller Vulnerabilität, so dass der traumatische Stressor eher als auslösender Faktor für eine bereits angelegte Pathologie verstanden werden kann? Die Annahme, dass es die Empfindlichkeit der Opfer sei, die zu ihren stressbedingten Symptomen führte, kann erklären, wieso Individuen so unterschiedlich auf ähnliche traumatische Erfahrungen reagierten und viele symptomfrei bleiben.

3. Damit unmittelbar verbunden ist die Frage, wer im Falle des zugefügten Leides die Kosten für die daraus resultierende psychische Störung übernimmt. Gemäß dem Verursacherprinzip können Versicherungen, wie auch Privatpersonen in solchen Fällen belangt werden, wo ein Verursacher zu finden ist. Und Patienten finden sich in einer Situation wieder, in der sie die Herkunft ihres Leidens belegen müssen (siehe auch Butollo & Hagl, 2003; Hagl, 2008).

Kriterien und Befunde

Um die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS (bzw. PTSD) stellen zu können, muss zuerst einmal das »Ereigniskriterium« (Kriterium A) erfüllt sein, eine oder mehrere traumatische Erfahrungen, die direkt erlebt oder beobachtet wurden und zu intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen geführt haben. Weiters müssen die sogenannten Leitsymptome vorhanden sein: Mindestens ein Symptom des Wiedererlebens (Kriterium B), drei Symptome des Rückzugs- oder Vermeidungsverhaltens (Kriterium C) und zwei Symptome der Übererregung (Kriterium D). Außerdem muss das Störungsbild länger als einen Monat anhalten (Kriterium E) und in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Dysfunktionalität beinhalten (Kriterium F). Die Bedingungen, unter denen eine PTBS nach DSM-IV als Diagnose vergeben werden kann, sind also recht genau festgelegt. Im Gegensatz zum DSM-IV ist die Operationalisierung in der ICD-10 weniger restriktiv. Die Betonung der intrusiven Symptomatik als Kardinalssymptom, die im ICD-10 enthalten ist, hat zur Folge, dass eine Person, die kein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten zeigt oder keine deutlichen Anzeichen eines erhöhten Erregungsniveaus, gemäß ICD-10 trotzdem die Diagnose PTBS erhalten kann.

Die Prävalenz der PTBS hängt zunächst naturgemäß von der Häufigkeit potentiell traumatisierender Ereignisse ab. Diese ist je nach Ort, Zeit und Bevölkerungsgruppe unterschiedlich. In einem politisch instabilen Land mit hoher Straßenkriminalität, das an bewaffneten Konflikten mit anderen Nationen teilnimmt, ist das Risiko besonders hoch, ein traumatisches Erlebnis zu erfahren – und zwar vor allem für junge Männer. In einem stabilen, reichen Land ohne internationale Konflikte fällt das Risiko für alle grundsätzlich geringer aus, aber ist dennoch je nach Geschlecht, Alter und gesellschaftlicher Position unterschiedlich. Die wahre Prävalenz lässt sich nur schätzen, denn wer zählte je in einem Krieg wirklich alle Opfer und wie ließe sich die hohe Dunkelziffer sexualisierter und innerfamiliärer Gewalt jemals exakt bestimmen? Katastrophale Ereignisse wie der Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001, die Tsunami Ende des Jahres 2004 oder der Hurrikan Katrina im Jahr 2005 traumatisieren auf einen Schlag ganze Städte oder Regionen – als besonders schreckliche Beispiele für eine Traumatisierung des Typs I, also unerwartet und kurzfristig. Dort wo Not herrscht oder – wie in manchen Katastrophengebieten – weiterherrscht, wird aus der kurzfristigen Traumatisierung eine längerfristige und sich wiederholende im Sinne einer Typ-II-Traumatisierung. Ebenso anhaltend und damit in gewisser Weise für das Opfer vorhersehbar sind in der Regel viele Formen der zwischenmenschlichen Gewalt, im Krieg, bei Terror und Folter und in Form der Gewalt auf den Straßen und in den Familien.

In Europa ist die Lebenszeitprävalenz der PTBS einer neueren Studie zufolge (Alonso et al., 2004) überraschend gering, obwohl das methodische Vorgehen durchaus mit den bisher geschilderten Studien vergleichbar ist: Die Lebenszeitprävalenz für Männer betrug 0.9% (mit einer 12-Monatsprävalenz von 0.4%) und 2.9% bei den Frauen (mit einer 12-Monatsprävalenz von 1.3%). Dieses für alle Altersklassen repräsentative Ergebnis ist damit relativ gesehen niedriger als die Zahlen aus den rein deutschen Studien zum Thema.

Männer erleben in der Tendenz mehr traumatische Ereignisse als Frauen, aber das Erkrankungsrisiko ist für Frauen höher und ähnlich wie es für andere Angststörungen und für depressive Erkrankungen gilt, ist PTBS bei Frauen häufiger als bei Männern. Auch wenn die Zahlen in den einzelnen Studien je nach Land, Vorgehensweise und möglicherweise Studienziel differieren, kann man sagen, dass PTBS keine seltene psychische Störung ist, wenn auch nicht so häufig wie affektive Störungen.

Betrachtet man die Verläufe von PTBS differenziert, zeigt sich, dass Betroffene, die PTBS entwickeln mit einer höheren Ausgangssymptomatik starten, die zunächst sogar noch zunimmt, um im Laufe der Monate und Jahre abzunehmen. Personen, die keine PTBS entwickeln, zeigen dagegen nach der Traumatisierung durchaus auch posttraumatische Symptomatik, aber eben auch die gerade beschriebene kontinuierliche Abnahme derselben. Darüber hinaus gibt es durchaus Fälle, die zunächst kaum Symptomatik zeigen und im ersten halben Jahr keine PTBS entwickeln, jedoch später, also Fälle mit so genanntem verzögertem Beginn (»delayed onset«). Ein solches Krankheitsgeschehen wurde z.B. von Versicherungen angezweifelt, hat sich aber in einer Reihe von Studien bestätigt.

Grundsätzlich scheint PTBS häufig mit einer Reihe anderer Störungen einherzugehen, sämtliche epidemiologische Studien finden eine verhältnismäßig hohe Komorbidität, insbesondere affektive Störungen, Angststörung und Substanzmittelmissbrauch bzw. -abhängigkeit. Zum einen können traumatische Ereignisse nicht nur zu einer PTBS führen, sondern auch zu anderen psychischen Störungen, bzw. bilden langfristig eine unspezifische Vulnerabilität. Diese Erklärung ist naheliegend und lässt sich in zahlreichen Studien belegen. In einer Zusammenfassung von fünf Studien zu den Folgen ziviler Traumata zeigte sich unabhängig von der hohen Komorbidität mit PTBS die erhöhte Wahrscheinlichkeit folgender psychischer Störungen: Major Depression, Generalisierte Angststörung, Substanzmissbrauch und Phobie. Neben affektiven Störungen und Angststörungen sind hier natürlich auch solche Störungen zu nennen, von denen lange bekannt ist, dass sie eng mit traumatischen Erlebnissen in Verbindung stehen, die aber in den bisherigen großen epidemiologischen Studien nicht berücksichtigt wurden: Dissoziative Störungen, Somatoforme Störungen und Persönlichkeitsstörungen, vor allem die Borderline-Persönlichkeitsstörung (Übersicht bei Butollo & Hagl, 2003). Alle diese genannten Störungen können also als Folge posttraumatischer Entwicklung auftreten und stellen damit oft komorbide Störungen der PTBS da, treten aber auch ohne eigentliche posttraumatische Symptomatik auf. Möglicherweise zeigen sich dabei unterschiedliche posttraumatische Entwicklungspfade, die neben der basalen Vulnerabilisierung des stressverarbeitenden Systems auf individuellen Lernerfahrungen und Bewältigungsstrategien fußen. Eine bereits bestehende psychische Störung erhöht in jedem Fall das Risiko, nach einem traumatischen Ereignis eine PTBS zu entwickeln.

Therapeutische Ansätze

Eine einheitliche PTBS-Therapie gibt es nicht, obwohl im Mainstream der psychotraumatologischen Forschung weitgehend Konsens hinsichtlich der therapeutischen Methode der Wahl herrscht: In einem gemeinsamen Positionspapier der »International Consensus Group on Depression and Anxiety«, zu dem auch herausragende PTBS-Experten gehört wurden, wird die Bedeutung der kognitiv-behavioralen Therapien in der psychotherapeutischen Behandlung unterstrichen (Ballenger et al., 2000). Ebenso wird die pharmakologische Behandlung mit den so genannten SSRI (also Antidepressiva der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) empfohlen. Tatsächlich aber kommt in der klinischen Praxis eine ganze Reihe von Methoden aus den unterschiedlichsten Schulrichtungen zur Anwendung, die auf einem mehr oder weniger starken empirischen Fundament und auf klinischem Erfahrungswissen basieren. Dies hat zwei Gründe: Zum einen neigen psychotherapeutisch Tätige dazu, solche Interventionen zu verwenden, mit denen sie sich gemäß ihrer Ausbildung identifizieren können – und die sie beherrschen. So kommen manche Verfahren zur Anwendung, deren Wirksamkeit speziell für PTBS nicht unbedingt hinreichend belegt ist, die aber eine lange Tradition in der Behandlung psychischer Störungen vorweisen können. Dies gilt für die psychodynamischen und humanistischen Verfahren, ebenso wie für die Hypnotherapie. Zum anderem kann chronische posttraumatische Symptomatik recht hartnäckig sein und bietet gleichzeitig ein anrührendes Bild hohen Leidensdrucks, so dass sich psychotherapeutisch Tätige nach allen Seiten umsehen, um Hilfe für ihre Patienten und Patientinnen zu finden. Das führt zur Anwendung neuerer, noch kaum evaluierter Verfahren und einem manchmal etwas getrieben anmutenden Eklektizismus.

Solche Methodenvielfalt ist dann ein Vorteil, wenn sie gezielt eingesetzt wird, um den vielfältigen Erscheinungsbildern und Symptombereichen posttraumatischer Störungen gerecht zu werden, und wenn man dabei empirische Ergebnisse und bestehendes klinisches Wissen berücksichtigt. Letztlich gilt es, eine Passung zu erreichen, zwischen den ganz individuellen Behandlungsbedürfnissen eines Patienten und der Neigung sowie dem Behandlungsgeschick eines Therapeuten, und dies alles auf dem Boden eines funktionierenden Störungsmodells und Therapierationals.

Behandlungsmanuale, wie sie z.B. von Ehlers (1999), Resick und Schnicke (1993) oder Foa und Rothbaum (1998) für den kognitiv-behavioralen Bereich vorgestellt wurden, halten wir durchaus für hilfreich. Tatsächlich beruhen praktisch sämtliche Effektivitätsstudien auf solchen manualisierten Therapien mit eher geringer Sitzungszahl. In diesen Studien handelte es sich aber in der Regel auch um eine recht ausgelesene Population. Meist sind dies Personen, die sich auf einen Studienaufruf hin meldeten oder von Ambulanzen für solche Studien aus der Gesamt-Klientel ausgewählt wurden. Schwierige, chronifizierte Fälle mit hoher Komorbidität und extremer Symptomatik (z.B. Suizidalität oder Sucht) wurden in der Regel ausgeschlossen. Überspitzt formuliert handelt es sich in solchen Psychotherapiestudien oft um eine Idealtherapie für Idealfälle. Diese Forschung hat jedoch in jedem Fall ihre Berechtigung, denn so lassen sich die Ergebnisse für die einzelnen Therapiemethoden besser vergleichen und deren Effektivität überhaupt unter einigermaßen kontrollierten Bedingungen evaluieren. In der klinischen Praxis können manualisierte Kurzzeitinterventionen schnelle und effektive Therapieangebote für Patienten sein, die vor allem die klassische PTBS-Symptomatik zeigen und das noch nicht allzu chronifiziert und bei geringer anderweitiger Symptomatik. Für Patienten mit komplizierter Symptomlage sind sie nicht selten ein effizienter Baustein in einem breiteren und individuell zugeschnittenen Angebot.

Bevor wir uns aber rückhaltlos an den Ergebnissen von Psychotherapiestudien orientieren und dabei möglicherweise hilfreiche Methoden verwerfen, weil sie nicht ausreichend evaluiert wurden, sollten wir daran denken, dass die Ergebnisse dieser Studien auf einem bestimmten Boden geerntet werden. Solche Studien stellen auf der einen Seite aber den Optimalfall in der Behandlung dar. Andererseits beinhaltet die Anwendung manualisierter Therapien mit meist geringer Sitzungszahl auch die Gefahr, die Kraft bestimmter Interventionen zu unterschätzen. Psychotherapie ist nicht zuletzt die Kunst, eine funktionierende Modifikationsmethode in flexibler Weise für einen ganz bestimmten Patienten anzupassen, so dass er sie erfolgreich anwenden kann. Und manche Patienten brauchen vielleicht einfach nur etwas länger und hätten von einer höheren Sitzungszahl profitiert. Grundsätzlich präsentieren Psychotherapiestudien den durchschnittlichen Erfolg aller Teilnehmer und berücksichtigen dabei nicht immer die Unterscheidung nach möglichen Subgruppen von Respondern und Non-Respondern. Für die Praxis gilt also: Die Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung sollen beachtet werden, beantworten aber (noch) nicht die Frage nach der spezifischen Indikation für eine bestimmte Patientin. Und die Verwendung einer »Methode der Wahl« erspart keinesfalls die möglichst objektive Evaluation im Einzelfall und die Supervision der eigenen Therapieleistung. Besonders wichtig ist dabei eine katamnestische Bearbeitung der Fälle, sei es in der eigenen Praxis oder im Rahmen von Therapiestudien: War ein Therapieerfolg von Dauer? Diesen Vorbehalten unterliegen auch die am meisten untersuchten Therapieverfahren, die im Weiteren kurz dargestellt seien.

Die kognitiv-behavioralen Verfahren gelten in ihrer Wirksamkeit bei der Behandlung der PTBS als empirisch am besten belegt. Dies entspricht dem erwähnten Positionspapier einer recht angesehenen Gruppe von Klinischen Psychologen und Psychiatern und den »Practice Guidelines« der ISTSS (Foa et al., 2000). Allerdings könnte man auch argumentieren, dass die kognitiv-behavioralen Verfahren einfach am längsten beforscht und am stärksten vertreten werden, z.B. durch so herausragende Forscherinnen wie Edna Foa. Die »Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung« der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (Flatten, Hofmann, Liebermann et al., 2001) liefert eine Zusammenfassung und Bewertung von sieben Übersichtsartikeln/Meta-Analysen zu den Ergebnissen der Therapieforschung im Bereich PTBS (Flatten, Wöller & Hofmann, 2001). Die Autoren kommen dabei zu dem Schluss, dass speziell zur konkreten Traumabearbeitung als einer der Phasen effektiver Traumatherapie, kognitiv-behaviorale Verfahren in ihrer Wirksamkeit belegt sind. In ihrer grundsätzlichen Überlegenheit als Verfahren in der Behandlung einer PTBS sind sie jedoch nicht bestätigt und die Autoren empfehlen ein multimodales Vorgehen, bei dem verschiedene Techniken kombiniert werden.

»Eye Movement Desensitization and Reprocessing« (EMDR) ist eine Methode, die man von den Inhalten her eigentlich den kognitiv-behavioralen Verfahren zuordnen könnte, die von ihren Vertretern aber als eigenständige Methode begriffen und vermarktet wird. Auch hier steht die Konfrontation mit der traumatischen Erinnerung und angstauslösenden Stimuli zusammen mit einer kognitiven Umbewertung im Vordergrund. EMDR ist eine vergleichbar junge Behandlungsmethode, die speziell zur Bearbeitung von traumatischen Erinnerungen entwickelt wurde (Shapiro, 1989). Von ihren Vertretern stark propagiert, erfuhr diese Methode schnell Akzeptanz bei praktisch tätigen Therapeuten, noch bevor ihre Wirksamkeit als ausreichend empirisch gesichert galt. Von anderer Seite wurde der Methode einiges an Skepsis entgegengebracht, nicht zuletzt deshalb, weil bis heute kein überzeugendes Erklärungsmodell speziell zur Wirkung der Augenbewegungen oder allgemein der alternierenden Stimuli existiert. So fehlt aus experimentellen Studien der Nachweis, dass die Augenbewegungen überhaupt einen zusätzlichen Effekt haben. Einige besonders kritische Autoren sehen in EMDR deshalb nichts anderes als eine eher schlecht durchgeführte Expositionsbehandlung und vermuten weitgehend unspezifische oder gar Placebo-Faktoren als Grundlage der Wirkung (u.a. Lohr et al., 1999). Inzwischen existiert eine Reihe von randomisierten und kontrollierten Studien, die die Wirksamkeit des Verfahrens in der Behandlung der posttraumatischen Symptomatik belegen. In ihrer Meta-Analyse kommen van Etten und Taylor (1998) zu dem Schluss, dass EMDR in seiner Wirksamkeit der Kognitiven Verhaltenstherapie in der Behandlung von PTBS ebenbürtig ist. Allerdings gibt es unseres Wissens bisher nur drei Veröffentlichungen, die beide Verfahren direkt vergleichen.

Hypnose wurde schon lange bevor das heutige PTBS-Konzept existierte, bereits um die Jahrhundertwende z.B. von Pierre Janet, zur Behandlung traumatischer Erinnerungen angewendet. Dementsprechend beschreibt eine lange Reihe von Fallstudien deren Effekt. Umso erstaunlicher ist es, dass es bis heute nur eine einzige kontrollierte Studie zur Wirksamkeit einer Hypnotherapie bei posttraumatischer Symptomatik gibt (Brom et al., 1989). Die Autoren verglichen bei insgesamt 112 Personen Hypnose, systematische Desensibilisierung und psychodynamische Therapie mit einer Wartelistenkontrollgruppe (im Durchschnitt 16 Sitzungen). Alle drei Behandlungsgruppen brachten signifikante und klinisch relevante Verbesserungen der Symptomatik.

Imaginative Techniken werden natürlich nicht nur im Rahmen der Hypnotherapie genutzt. Eine klassische und vielverwendete Vorstellungsübung, die z.B. auch von Shapiro (1995) ins EMDR-Protokoll übernommen wurde, ist die Erschaffung eines inneren sicheren Ortes (Beispiel bei Reddemann, 2001a, S.40). Ein derartiges Phantasiebild dient als eine Art inneres Rückzugsgebiet und ermöglicht der Patientin ein Gefühl der Ruhe und des Schutzes. In der Traumatherapie hat die Arbeit mit Vorstellungsbildern grundsätzlich einen großen Stellenwert, was nach Flatten, Wöller und Hofmann (2001) auch unmittelbar mit der Phänomenologie der posttraumatischen Symptomatik zusammenhängt: Traumatische Ereignisse bleiben oft in einer bildlichen bzw. sensorischen Modalität verhaftet, ohne ausreichend sprachlich verarbeitet zu werden. In ähnlicher Weise lässt sich so auch die Anwendung kunst- und körpertherapeutischer Techniken begründen. Nach Flatten et al. handelt es sich bei all diesen Techniken um adjuvante Verfahren, die eine Behandlung von PTBS ergänzen können, aber nicht als Einzelverfahren belegt sind. Die Autoren unterstreichen die besondere Bedeutung dieser Techniken für die Behandlung von Gewaltopfern, also von Personen, bei denen es zu einem traumatischen Überschreiten der Körpergrenzen kam, sei es durch physische oder sexuelle Gewalt. Grundsätzlich dürften nonverbale Methoden immer dort von Nutzen sein, wo die traumatische Erfahrung schwer verbal zugänglich ist, aus welchen Gründen auch immer (z.B. sehr frühe Traumatisierung, hohe Dissoziation). Gleichzeitig ermöglichen solche, den kreativen Ausdruck fördernde Methoden eine Stärkung des Selbstgefühls und Selbstbewusstseins. Eine systematische Evaluation solcher Therapiebausteine, die gerade im stationären Setting rege Anwendung finden, ist bisher nicht erfolgt und daher dringend erforderlich. Es fehlt der Beleg, dass sie tatsächlich den Zugang zu Ressourcen des Patienten erleichtern bzw. eine Weiterverarbeitung und Integration der traumatischen Erfahrungen ermöglichen.

Fischer (2000) entwickelte auf psychoanalytischer/tiefenpsychologischer Grundlage ein integratives Therapiemanual, die »Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie« (MPTT). Die MPTT setzt neben Kenntnissen in den in sie integrierten Verfahren eine psychoanalytische Ausbildung voraus und ist in ihrer Darstellung zumindest für Nicht-Analytiker etwas undurchsichtig. Trotz des hohen Stellenwertes, der Dokumentation und Erfolgskontrolle beigemessen wird, steht die Veröffentlichung einer kontrollierten Studie mit Darstellung der Forschungsmethodik noch aus.

Die »Traumazentrierte Psychotherapie« von Reddemann und Sachsse (1997; 2000) bzw. »Psychodynamisch imaginative Traumatherapie« (Reddemann, 2001a; 2001b) ist ein integrativer Ansatz, der vor allem aus der Erfahrung in der stationären Arbeit mit schwer traumatisierten Patientinnen entstand. Ausgehend von einem tiefenpsychologischen Verständnis wurden vor allem imaginative Verfahren integriert. Die Methode folgt dem klassischen Phasenansatz mit einer Stabilisierungsphase (auf die in der Arbeit mit komplexen posttraumatischen Störungen besonderer Wert gelegt wird), dann einer Phase der Traumasynthese und schließlich der Phase des Trauerns und der Neuorientierung. Das Vorgehen von Reddemann und Sachsse hat im deutschen Sprachraum großen Anklang gefunden, obwohl die empirischen Belege zur Wirksamkeit noch spärlich sind.

Das integrative Vorgehen von Reddemann steht in seiner ganzen Haltung (Transparenz, Ressourcen- und Wachstumsorientierung) deutlich einem humanistischen Psychotherapieverständnis nahe. Klassische humanistische Psychotherapieverfahren, wie die Gestalttherapie oder die Gesprächstherapie nach Rogers, scheinen explizit in der Behandlung traumabedingter Störungen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Tatsächlich ist es wohl eher so, dass zumindest die heute üblicherweise angewandte Kognitive Verhaltenstherapie sich sowohl die Rogers’schen Basisvariablen als auch eine Reihe gestalttherapeutischer Techniken einverleibt hat. Niedergelassene Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen in Deutschland haben nicht selten eine entsprechende Zusatzausbildung (Butollo et al., 1996). Explizit humanistisch in seiner Basis ist der von unserer Arbeitsgruppe vorgelegte Behandlungsansatz »Integrative Traumatherapie und Dialogische Exposition« (Butollo, 1997; Butollo et al., 1998; Butollo & Karl, 2009), in dem gestalttherapeutische und verhaltenstherapeutische Ansätze integriert wurden. Basis dieses Ansatzes ist die Überlegung, dass traumatische Erfahrungen in der Regel einem entstellten Interaktionsgeschehen zwischen Individuum und seiner sozialen bzw. physischen Umfeld entspringen und so die gewachsenen, sozial-interaktionellen Erfahrungen Traumatisierter erschüttern. Die Therapie ist demzufolge als sozial-interaktives Geschehen anzusetzen, in dem die Selbstprozesse der Betroffenen neu konfiguriert werden.

Literatur

Alonso, J., Angermeyer, M. C., Bernert, S., Bruffaerts, R., Brugha, T. S., Bryson, et al. (2004): Prevalence of mental disorders in Europe: results from the European Study of the Epidemiology of Mental Disorders (ESEMeD) project. Acta Psychiatrica Scandinavica, Suppl. 420, pp. 21-27.

APA (American Psychiatric Association). (1980): Diagnostic and statistical manual of mental disorders (3rd ed.). Washington, DC: APA.

Ballenger, J. C., Davidson, J. R., Lecrubier, Y., Nutt, D.J., Foa, E. B., Kessler, R. C., McFarlane, A. C., Shalev, A. Y. (2000): Consensus statement on posttraumatic stress disorder from the International Consensus Group on Depression and Anxiety. Journal of Clinical Psychiatry, 61, Suppl. 5, pp. 60-66.

Bonhoeffer, K. (1926): Beurteilung, Begutachtung und Rechtsprechung bei den sogenannten Unfallneurosen. Deutsche medizinische Wochenzeitschrift, 52, S.179-182.

Brom, D., Kleber, R. J. & Defares, P. B. (1989): Brief psychotherapy for posttraumatic stress disorders. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 57, S.607-612.

Butollo, W. (1997): Traumatherapie. Die Bewältigung schwerer posttraumatischer Störungen. München: CIP-Medien.

Butollo, W. & Hagl, M. (2003): Trauma, Selbst und Therapie. Konzepte und Kontroversen in der Psychotraumatologie. Bern: Huber.

Butollo, W. & Karl, R. (2009): Integrative Traumatherapie. Ein Manual zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung. Unveröffentlichtes Manuskript. LMU-München, LS Klinische Psychologie und Psychotherapie.

Butollo, W., Krüsmann, M. & Hagl, M. (1998): Leben nach dem Trauma. Über den therapeutischen Umgang mit dem Entsetzen. München: Pfeiffer.

Butollo, W., Piesbergen, C. & Höfling, S. (1996): Ausbildung und methodische Ausrichtung psychologischer Psychotherapeuten Ergebnisse einer Umfrage. Report Psychologie, 21, S.126-137.

Charcot, J. M. (1887): Leçons sur les maladies du système nerveux faites à la Salpêtrière (Bd. 3). Paris: Delahye & Lecrosnie.

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Prof. Dr. Willi Butollo ist Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der LMU München und Gründer des Münchner Instituts für Traumatherapie.

Posttraumatische Belastungsstörungen bei deutschen Soldaten nach Auslandseinsätzen

Flottenarzt Dr. Roger Braas im Interview

Für deutsche Soldaten, die nach Auslandseinsätzen PTBS aufweisen, gibt es in der Bundesrepublik zwei Behandlungszentren, eines davon am Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz. In der Abteilung »Psychotherapie und Psychologie« mit dem Schwerpunkt Psychotraumatologie werden im Jahr 700 bis 1.000 Patienten stationär aufgenommen, pro Monat gibt es 700 ambulante Patientenkontakte. Geleitet wird die Abteilung von Flottenarzt Dr. Roger Braas, seit 30 Jahren im Dienst der Bundeswehr.

W&F: Der Wehrbeauftragte des Bundestages hat in seinem Bericht eine Verdreifachung der Fälle von PTSB von 2006 bis 2008 festgestellt, können Sie das bestätigen?

Braas: Wir erleben eine steigende Tendenz, die man aber genauer betrachten muss. Wir diagnostizieren die Störung eher, weil wir genau wissen, wovon wir reden. Es kommen inzwischen auch Patienten zu uns, die schon länger unter Störungen leiden, erst jetzt aber wissen, was das eigentlich ist. Und wir haben bei den Einsätzen, insbesondere in Afghanistan, eine höhere Quote von Ereignissen. Die deutschen Soldaten werden heute öfter beschossen, und das führt dazu, dass die Fälle zunehmen. Wir wissen aus amerikanischen Untersuchungen, dass ab einer Stärke von vier bis fünf Feuergefechten zwanzig Prozent der Soldaten eine PTBS bekommen. Und wenn sie häufiger ein Feuergefecht haben, dann erfüllen Sie irgendwann die Kriterien, dann ist eben ein Fünftel der Soldaten auch betroffen.

W&F: Machen Sie immer noch die Erfahrung, dass es den Soldaten schwer fällt, sich seelische Schäden einzugestehen?

Braas: Es gibt immer eine Hemmschwelle, zum Psychiater zu gehen. Wir haben vor Ort einen eigenen Psychiater, in Masar-i-Sharif und im Kosovo, wir haben Truppenpsychologen vor Ort, aber es dauert schon eine Weile, bis die in Anspruch genommen werden. So stark wie früher ist die Angst, ein »Weichei« zu sein, jedoch nicht mehr. Wenn jemand heute weiß, ich habe eine psychische Verwundung davongetragen, dann geht man auch zum Spezialisten. Bei offenkundigen Ereignissen, z.B. einem Bombenattentat, werden wir in der betroffenen Einheit aktiv. Wir ziehen die Soldaten zusammen, und erklären: „Das und das habt ihr jetzt erlebt, das und das ist jetzt passiert, und das und das kann mit Euch noch passieren: ihr könnt Schlafstörungen bekommen, ihr könnt das albtraumhaft immer wieder erleben, also flash backs bekommen, ihr könnt unspezifische Symptome wie Angstzustände bekommen, und dann hat das vielleicht mit dem Einsatz zu tun. Und wenn solche Störungen auftreten, solltet ihr zum Spezialisten vor Ort gehen, oder euch nach der Rückführung an uns wenden.“

Wir haben an vielen Standorten psychosoziale Netzwerke eingerichtet, die den Soldaten und ihren Angehörigen Hilfestellung geben, wenn etwas im Miteinander auffällig wird. Manchmal ist es ja so, dass die betroffenen Soldaten selbst nicht merken, wie sehr sie sich verändern, aber sie kommen verändert von den Einsätzen zurück, und plötzlich stellt die Familie fest: „Papi ist so komisch, der ist so dünnhäutig und explodiert immer sofort.“

Dann nehmen die Angehörigen mit uns Kontakt auf. Hier in Koblenz-Lahnstein haben wir ein gut funktionierendes psychosoziales Netzwerk. Dazu gehören die Militärseelsorge, der Sozialdienst, der truppenärztliche Dienst und wir im Bundeswehrzentralkrankenhaus.

W&F: Können Sie einen typischen Fall eines Soldaten mit PTBS schildern?

Braas: Wir hatten einen Offizier, der verwickelt war in Aufstände im Kosovo. Dort kam es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Feuergefechten, mit Einsatz von Handgranaten. Der Soldat hat das vor Ort sehr hautnah miterlebt, aber den Einsatz noch zu Ende gebracht, ohne zu wissen, wie sehr ihn das beeinträchtigt hat. Erst nach der Rückkehr zu seiner Familie ist er durch seine Verhaltensänderung auffällig geworden. Zusätzlich bekam er somatoforme Störungen, die er nicht verstand, unspezifische Schmerzen. Keiner fand etwas, organisch war alles in Ordnung. Nur durch einen Zufall wurde er von einem Kollegen zu uns weitergeleitet. Nach der Diagnose haben wir ihn stationär aufgenommen, in vier Wochen stabilisiert, dann in der Tagesklinik und schließlich ambulant weiter betreut, so dass er seine Symptome los wurde, oder sie zumindest einordnen konnte. Das hat ein drei Viertel Jahr gedauert. Er macht jetzt allerdings eine Schreibtischtätigkeit.

W&F: Wie sieht die Behandlung der Soldaten mit PTBS konkret aus?

Braas: Wir verwenden erst mal viel Zeit auf eine genaue Diagnose, mit psychologischen Fragebögen und Anamnese. Dann müssen die Betroffenen informiert werden über das, was die Umstrukturierung im Gehirn bewirkt. Als zweiter Schritt ist es wichtig, eine Stabilität zu erreichen. Die betroffenen Soldaten merken selbst, sie explodieren bei Nichtigkeiten, und wissen nicht, woran das liegt. Dann bekommen sie Werkzeuge an die Hand, mit denen sie sich in solchen Situationen »runterfahren« können.

Das klingt banal, nimmt aber einen großen Raum in der Therapie ein. Die bekommen manchmal nur ein kleines Gummi ans Handgelenk, mit dem sie sich schnippen können, und daran merken sie, ich komme wieder ins Hier und Jetzt. Oder sie lernen, durch Rückwärtszählen, wieder im Jetzt anzukommen. Oder sie lernen, Dinge im Raum zu benennen, die sie aus der Aufgeregtheit wieder herausholen.

Das klingt wirklich banal. Es ist aber ein schwieriger pädagogischer Prozess, ihnen das beizubringen. Die Patienten sind ungeheuer glücklich, wenn sie das dann können, wenn sie merken: jetzt war was mit mir, aber ich kriege mich wieder ein.

W&F: Setzen Sie in der Trauma-Therapie auch anerkannte Techniken ein wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), bei denen der Therapeut seine Hand unmittelbar vor den Augen des Patienten schnell hin und her bewegt, so dass die Erinnerungsbilder beim Patienten schneller entstehen?

Braas: Ja, wobei man sagen muss, wenn wir EMDR einsetzen, dann sind wir schon ganz weit. Denn das beinhaltet ja eine Konfrontation mit dem erlittenen Trauma, und das ist das Schlimmste. Wenn Sie das schaffen können in der Therapie, dass die Patienten sich tatsächlich an das Ereignis erinnern können, an Gerüche, an Laute, an Erleben, dann haben Sie schon fast gewonnen, dann ist fast die Therapie zu Ende.

W&F: Wie lange dauert die Behandlung?

Braas: Das ist unterschiedlich, bis zu einem drei Viertel Jahr, oft in einem Wechsel von Tagesklinik, stationärem und ambulantem Aufenthalt.

W&F: Nach dem Stabilisieren und dem Behandeln kommt das Reintegrieren, wie gut gelingt das?

Braas: Das kommt darauf an. Es gibt Soldaten, die haben mehrere Traumatisierungen erlitten, da schauen wir nach Alternativen. Es gibt ja Jobs bei den Streitkräften, die weniger exponiert sind. Und es gibt auch durchaus Fälle, da kann man wieder einen Auslandseinsatz in Betracht ziehen.

Das Trauma selbst ist nie weg. Es ist immer eine Narbe, die bleibt. Narben können verheilen und funktionieren, tun aber auch immer mal wieder weh.

W&F: Laut einer Statistik gehen 30 Prozent der Soldaten nach erfolgreich behandelter PTBS wieder zurück in den Kriseneinsatz…

Braas: Diese Zahl kann ich nicht bestätigen. Das ist auch schwierig zu ermitteln. Der Großteil der Soldaten, die wir betreuen, das sind freiwillig länger Dienende, und die scheiden nach einer gewissen Zeit wieder aus, weil ihre Dienstzeit vorüber ist. Die Berufs- und Zeitsoldaten gehen wieder in den Einsatz. Aber 30 Prozent scheint mir hoch gegriffen.

W&F: Der Wehrbeauftragte des Bundestages hat beklagt, dass wir von einer umfassenden Rundumbetreuung der Einsatzkräfte nach Schocksituationen weit entfernt sind, wie beurteilen Sie das?

Braas: Ich glaube, dass wir gut aufgestellt sind. Wir haben eine gute Expertise im Umgang mit dem Störungsbild. Wir sind dicht dran, wir haben Kontakt vor Ort, wir wissen, wenn Soldaten repatriiert werden aus psychischen Gründen und nehmen die auch in Empfang. Natürlich kann man das nicht umfassend für alle Betroffenen sagen. Das geht schon deshalb nicht, weil manchmal in den Wirren der Ereignisse vor Ort die Beteiligten nicht alle erfasst werden. Das sind so Viele: die Patrouille, die angesprengt wird, die Hilfskräfte, die sie rausholen, die Sicherungskräfte sind beteiligt, es sind Sanitäter im Einsatz… Eigentlich müssten sie jeden Einzelnen screenen, ob er was hat. Das ist nicht leistbar. Rein theoretisch muss jeder Soldat nach seiner Rückkehr einen Fragebogen ausfüllen. Aber da rutschen uns viele Betroffene durch. Auch weil die Symptome einer PTBS erst oft bis zu einem halben Jahr nach dem Ereignis auftreten.

Ein Mitglied des Technischen Dienstes der sog. Friedenstruppen für Kosovo meldete sich auf Drängen einer Nachbarin in der Trauma-Ambulanz. Er hatte vor sechs Monaten mit seinem Jeep eine unachtsame Passantin angefahren, die eine schwere Kopfverletzung erlitt. Die Angehörigen der Frau waren sehr aufgebracht und der Soldat entging der Lynchjustiz nur dank dem Eingreifen seiner Kameraden. Er war unmittelbar nach dem Ereignis gefasst und konnte detailliert Auskunft über den Unfallhergang geben. Allerdings erlebte er an den Tagen nach diesem Geschehen eine ihm bisher unbekannte eigenartige Unruhe. Er wurde zwei Wochen krank geschrieben und fuhr danach, als er sich noch nicht fit fühlte, drei Wochen in den Urlaub, wo es ihm besser ging. Anschließend wurde ein »Arbeitsversuch« gestartet, der anfangs gut verlief. Allerdings vermied er nach Möglichkeit Einsätze außerhalb der Werkstätte. Ließ es sich nicht vermeiden, steigerte sich seine Nervosität und Fahrigkeit, so dass einer dieser Einsätze aus diesem Grund abgebrochen werden musste.

Danach wurde er zu einer als vorübergehend geplanten Einsatztätigkeit in eine Werkstätte außerhalb des Konfliktgebietes versetzt. Sein Zustand besserte sich jedoch nicht, im Gegenteil. Er schreckte nachts nach Albträumen auf, musste immer wieder an den Hergang des Unfalles und den bedrohlichen Aufruhr danach denken. Er haderte mit seinem Schicksal und empfand die Versetzung als persönliche Niederlage: Darüber war er tief deprimiert, Medikamente waren ineffektiv und er begann in der Folge vermehrt Alkohol zu trinken, um sich zu beruhigen und um einschlafen zu können. Er vermied den Kontakt mit den Kollegen von früher, zog sich von sozialen Aktivitäten zurück und quittierte bald darauf den Dienst.

Wieder zuhause, erlebte er eine Panikattacke, als er unmittelbar dabei war, als vor seinem Haus eine unbekannte Frau zusammenbrach und noch vor dem Eintreffen der Rettung verstarb. Danach hatte sich sein Zustand so verschlechtert, dass er dem Drängen der Nachbarin folgte und therapeutische Hilfe suchte.

W&F: Einige Mediziner beklagen, PTBS sei durch viele Medienberichte eine Art Modediagnose geworden. Wird das Phänomen überbewertet?

Braas: Von Modediagnose kann nicht die Rede sein, dafür ist das Thema zu ernst. Die Einsätze der US-Amerikaner im Irak-Krieg haben gezeigt, dass zwanzig Prozent der Kampftruppen betroffen sind, also jeder fünfte Soldat erleidet eine PTBS. Wir Deutschen haben zwar überwiegend noch Peace-Keeping-Missions, nur vereinzelt Kampfeinsätze. Wenn es jetzt aber immer mehr »robustere Einsätze« gibt, wird die Zahl zunehmen. Und dann müssen wir uns noch besser darauf vorbereiten – mit Bettenausstattung, Facharztausstattung, etc. Deshalb finde ich den mahnenden Zeigefinger des Wehrbeauftragten sehr berechtigt.

W&F: Warum wirken gewalttätige Ereignisse wie Kriegsgeschehen so viel traumatisierender als Naturkatastrophen?

Braas: Naturkatastrophen sind schicksalhaft. Man kann niemandem unterstellen, dass er das gewollt hat. Ein Tsunami passiert, weil die Erde so ist, wie sie ist. Bei dem Erleben durch Menschen gemachter Gewalt ist ja das Gewollte dahinter: Ich will Dich verletzten, ich will Dich existenziell bedrohen, vielleicht sogar Deine Existenz auslöschen. Es gibt ein Gegenüber, eine menschliche Kreatur, die das beabsichtigt. Und ich glaube, auch wenn der Mensch schon solange auf diesem Planeten wandelt, hat es immer eine ganz besondere Dimension, wenn er von der eigenen Spezies bedroht wird.

Das Interview führte Dr. Daniela Engelhardt

Afghanistan: Menschenrechtsverletzungen an Frauen und ihre Folgen

von Karin Griese

Drei Jahrzehnte Krieg haben ihre Spuren in der afghanischen Zivilgesellschaft hinterlassen. Es gibt kaum eine Familie in Afghanistan, die nicht über den Tod von Angehörigen hinaus zahlreiche kriegsbedingte traumatische Ereignisse verarbeiten muss. Immer noch gibt es keinen tatsächlichen Frieden in dem Land, in dem im August 2009 Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Unsicherheit und Gewalt sind an der Tagesordnung. Die Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan hat sich seit dem gewaltsamen Sturz des Talibanregimes – durch den so genannten Krieg gegen den Terror – nach anfänglichen Verbesserungen wieder verschlechtert und ist heute kaum besser als vor der internationalen Militärintervention. Mit den Kriegen und unregulierten Nachkriegswirren ist die Gewalt gegen Frauen und Mädchen eskaliert: Sie waren und sind Kriegsvergewaltigungen, Menschenhandel und einem Anstieg von oft lebensbedrohlicher häuslicher Gewalt ausgesetzt (Ertürk 2006). Hinzu kommt ökonomische Not gepaart mit der alltäglichen strukturellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die unter anderem auf frauenfeindlichen patriarchalen Traditionen und einem Mangel an Rechtsstaatlichkeit basiert. Seit 2003 engagiert sich die Frauen- und Menschenrechtsorganisation »medica mondiale« für von Gewalt und Traumatisierung betroffene Frauen und Mädchen in Afghanistan mit verschiedenen Projekten.

Versucht man sich im Internet einen Überblick über aktuelle Artikel zum Thema Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS oder engl. PTSD) und Afghanistan zu verschaffen, fällt auf: Wenn derzeit über PTSD berichtet wird, geht es fast ausschließlich um zurück gekehrte Soldaten (u.a. Deutscher Bundestag 2009). Fügen wir im Internet den Begriff Frauen hinzu, erscheinen Artikel über die hohe Rate der weiblichen Kriegsveteraninnen mit kriegsbedingten Traumatisierungen, u.a. auch durch sexualisierte Gewalt (Dotinga 2008). Die Verzweiflung afghanischer Frauen und Mädchen angesichts Jahrzehnte langer Kriege und massiver Gewalt in Gesellschaft und Familie besitzt keinen hohen Nachrichtenwert mehr. Es sei denn, es geht um Nachrichten mit Sensationswert wie z.B. die Verabschiedung eines frauenfeindlichen schiitischen Familiengesetzes im Vorfeld der Wahlen durch den afghanischen Präsidenten Karzai oder um anschauliche Berichte zu den Selbstverbrennungen von afghanischen Frauen. Oder aber Politiker jeglicher Couleur nutzen die miserablen Lebensbedingungen der afghanischen Frauen als Argument in der öffentlichen Debatte, wenn es um die Rechtfertigung einer weiteren militärischen Aufrüstung geht.

Kriegsgewalt und Traumatisierung

Traumatische Ereignisse sind gekennzeichnet von der Angst um das eigene Leben oder die eigene körperliche Unversehrtheit oder aber das Miterleben des Todes oder der schweren Verletzung anderer, gepaart mit extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht. Es sind kein Kampf und keine Flucht möglich, die Situation ist ausweglos.

Durch den extremen Stress, der das Leben und die Identität des Menschen bedroht, sprengt ein Trauma die normalen Prozesse, wie Erfahrungen verarbeitet werden können. Die Folge: Funktionsstörungen, Panikattacken, Depressionen, chronische Schmerzen oder eine PTSD) können das Leben der Betroffenen über Jahre hinweg massiv beeinträchtigen (Griese 2009).

Die Diagnose der PTSD muss für die Erfassung der psychischen Folgen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Kriegs- oder Nachkriegszeiten unzureichend bleiben. Sie zielt auf die Folgen einzelner traumatischer Ereignisse ab und erfasst nicht den längerfristigen komplexen Prozess, in dem sich das Trauma im sozialen Bezugsrahmen entwickelt (Joachim 2006). In Kriegs- und Nachkriegssituationen sind Frauen und Mädchen jedoch einer Vielzahl von traumatischen Ereignissen über einen längeren Zeitraum ausgesetzt, so dass von einer hohen Langzeitbelastung ausgegangen werden muss. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass viele Frauen in Kriegs- und Nachkriegsregionen unter einer komplexen PTSD (Herman 1994) oder einer sequentiellen Traumatisierung (Keilson 1979) mit entsprechend weitreichenderen Folgen sowie anderen stressbedingten psychosozialen Problemen leiden.

Häufig treten in Verbindung mit der PTSD auch andere psychische Folgen auf, sogenannte Komorbiditäten wie z.B. Depressionen, Panikattacken oder Zwangsstörungen, selbstverletzendes Verhalten, psychosomatische Erkrankungen. Wichtig sind darüber hinaus spezifische Unterschiede in der Symptomentwicklung, die unter anderem mit der jeweiligen (sozialen) Bewertung der Ereignisse und unterschiedlich vorhandenen Bewältigungsstrategien zusammen hängen (Joachim 2006, Zemp 2006).

Gewalt und Gewaltfolgen in Afghanistan

Betrachten wir die Gegenwart von Frauen und Mädchen in Afghanistan, scheint es fast fragwürdig, sich angesichts der verheerenden tagtäglichen Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen in Afghanistan der Problematik mittels einer klinischen Diagnostik zu nähern. Groß ist die Gefahr, die Frauen – wie traditionell üblich – als Opfer zu pathologisieren, damit das »Problem« bei ihnen zu sehen und die Ursachen und damit die Täter aus dem Blick zu verlieren.

So schreibt Azimi 2004: „The most devastating and crippling psychological difficulties most women and children of Afghanistan face today are the horrors of Posttraumatic Stress Disorder (PTSD).“ Der Autor bezieht sich dabei vor allem auf die Traumatisierung durch die Kriegsereignisse und die spezifischen Leiden der Frauen unter den Taliban. Die im Vergleich zu den Männern außergewöhnlich hohe Rate an PTSD-Symptomen unter Frauen führt er darauf zurück, dass Frauen in der Regel sensibler und verletzlicher seien als Männer. Mit keinem Wort wird die immer noch andauernde, oft lebensbedrohliche alltägliche Gewalt gegen Frauen erwähnt.

Gleichzeitig weist die mittels der klinischen Diagnostik auf die Perspektive der psychischen Folgen fokussierte Betrachtung der gegenwärtigen Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan in alarmierender Weise auf ihre Notlage und den deutlichen Unterstützungsbedarf hin und ist deshalb ausgesprochen wichtig.

Wesentliche Voraussetzung zur Verarbeitung traumatischer Erfahrungen wie z.B. Kriegserlebnisse sind materielle und physische Sicherheit, soziale Anbindung und Unterstützung. In Afghanistan setzt sich aber für die Frauen und Mädchen die Gewalt im Alltag fort. 57% der afghanischen Frauen heiraten vor dem Mindestalter von 16 Jahren, 70 – 80% aller Frauen werden zur Heirat gezwungen (UNIFEM 2008a). Kindes- und Zwangsheirat sind die Ursache für verschiedenste Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen (UNIFEM 2008b). Vergewaltigungen, sexuelle Übergriffe und andere Formen der Gewalt im familiären Rahmen sind zum einen ein Tabu, entsprechen zum anderen einer akzeptierten gesellschaftlichen Norm (Ertürk 2006). Hinzu kommen Freiheitsentzug, in bestimmten Regionen verschiedene Formen der traditionsbedingten Gewalt wie z.B. »badal« oder »bad« (Übergabe eines Mädchens an eine andere Familie, um z.B. Blutrache zu beenden). Mangelernährung, frühe und zahlreiche Schwangerschaften und unzureichende medizinische Versorgung tragen dazu bei, dass Afghanistan das einzige Land der Welt ist, in dem die Lebenserwartung der Frauen mit 44 Jahren in 2008 noch niedriger ist als die der Männer (UNIFEM 2008). Vielen erscheint ihre Lage so aussichtslos, dass sie sich selbst das Leben nehmen. So ist z.B. die Selbstverbrennung unter Frauen und Mädchen unter anderem im Raum Herat sehr verbreitet (medica mondiale 2006-2007).

Es gibt nur eine verschwindend geringe Anzahl von ausgebildeten Psychiatern oder PsychotherapeutInnen, nur wenige Anlaufstellen stehen Menschen mit psychischen oder psychosozialen Problemen zur Verfügung, die wenigsten Frauen haben überhaupt aufgrund ihrer geringen Mobilität die Möglichkeit, entsprechende Beratungsstellen aufzusuchen.

Ebenso wichtig ist es, die Folgen der fast drei Jahrzehnte andauernden Kriege für Frauen nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch im sozialen Kontext zu betrachten. So sind die Ursachen der massiven häuslichen Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Afghanistan zum einen in frauenfeindlicher Tradition, Politik und einer entsprechend ausgelegten Religiosität zu sehen. Neben den individuellen, psychischen Folgen haben die kriegsbedingten Traumafolgen auch eine zerstörerische Wirkung auf die soziale Gemeinschaft insgesamt. So wird durch die massive zwischenmenschliche Gewalt und Brutalität in Kriegszeiten das Vertrauen in andere Menschen tief erschüttert. Wie in anderen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften auch, ist in Afghanistan zu beobachten, dass die zwischenmenschliche Gewalt im Vergleich zu Friedenszeiten extrem hoch ist. Auch das kann u.a. mit unverarbeiteten Traumata zusammen hängen. Ohnmacht und damit verbundene Wut und Aggression setzen sich in der oftmals schwierigen ökonomischen Situation fort – und entladen sich häufig gegenüber jungen Frauen und Kindern, die gesellschaftlich die schwächste Position haben.

Gewalt und Traumatisierung

Seit 2004 bietet »medica mondiale Afghanistan« in Kabul psychosoziale Beratungsgruppen für Frauen an. Die Teilnehmerinnen sind Überlebende mit kriegsbedingten Traumatisierungen, darunter viele Witwen, sowie Frauen, die häusliche Gewalt durch Ehemänner oder Schwiegerfamilien erfahren mussten

Die qualitative Auswertung der Angaben von 109 Teilnehmerinnen, die über ein halbes Jahr lang ein Mal wöchentlich an den Beratungsgruppen von »medica mondiale Afghanistan« teilnahmen, zeigt, dass die Mehrheit der Teilnehmerinnen in den Beratungsgruppen Erleichterung von psychischen oder körperlichen Problemen/Symptomen suchte.

So nannten 28,6% der Befragten als Grund, eine Beratungsgruppe aufzusuchen, eine generalisierte oder spezifische Schmerzsymptomatik, Zittern, ein Gefühl von Lähmung oder auch Betäubung und Kurzatmigkeit. 24,1% aller Befragten gaben Frustration, Depression, Nervosität, extreme Besorgnis, Angstgefühle, Aggression, Selbstverletzung oder die Angst verrückt zu werden als Grund zur Teilnahme an der Gruppe an. Generell zeigte sich eine auffällig hohe Anzahl depressiver Symptome sowie auch psychosomatisch bedingte Schmerzsymptome1 (siehe auch Zemp 2006).

Für Afghanistan beschreiben wissenschaftliche Studien mit unterschiedlichen thematischen und regionalen Schwerpunkten hohe Raten an PTSD bei Frauen, variierend zwischen 30 bis 48 Prozent der jeweiligen Stichproben (Seino et. al 2008, Scholte et. al 2004). In der ersten landesweiten repräsentativen Erhebung zu psychischer Gesundheit in Afghanistan 2002 zeigten 48,33% der befragten Frauen eine PTSD Symptomatik gegenüber 32,14% der Männer. Bei einer Stichprobe von Menschen dieser Studie, die als »disabled«, also aus verschiedenen Gründen als für die Alltagsbewältigung beeinträchtigt eingestuft wurden, lag die Rate bei 55% bei den Frauen und bei 26% bei den Männern (Lopes Cardozo 2004).

Verschiedene Artikel und Studien weisen aber darauf hin, dass in Afghanistan neben PTSD-Symptomen auch andere Folgen traumatischer Ereignisse wie Depressionen sehr häufig auftreten (u.a. Miller et. al 2008, Miller et. al 2009, Lopes Cardozo 2004, Zemp 2006). Die Rate an PTSD liegt dabei niedriger als die von Depression und Angststörungen.

So beschreibt auch Missmahl (2006), basierend auf der praktischen Arbeit in einem Beratungszentrum in Kabul, dass sich bei den Klientinnen und Klienten nur selten ein voll ausgebildetes Bild einer Posttraumatischen Belastungsstörung zeige (allerdings ohne zwischen Angaben zu Männern und Frauen zu unterscheiden). Dagegen litten viele Menschen an einer oder mehreren Langzeitfolgen unbehandelter traumatischer Erfahrungen, neben verschiedenen Symptomen, die dem Symptombild der PTSD zugeordnet werden können, erwähnt sie Somatisierung, körperliche Erkrankung, chronische Schmerzen.

Zusammenfassend legen die oben aufgeführten Ergebnisse nahe, dass im Fall von Gewalterfahrungen von Frauen in Afghanistan PTSD-Symptome nur einen Ausschnitt der möglichen psychischen Folgen darstellen (Joachim 2008).

Gesellschaftlicher Umgang mit Gewalt und Traumatisierung

2004 wurde die »Mental Health Task Force« ins Leben gerufen, eine Arbeitsgruppe, die angliedert ist an das afghanische »Ministry of Public Health« (Ditmann 2004). Seit Beginn 2007 nehmen afghanische Mitarbeiterinnen von »medica mondiale Afghanistan« regelmäßig an dieser Arbeitsgruppe teil, die sich zusammensetzt aus Regierungsmitarbeitern aus den Bereichen Gesundheit und Erziehung sowie aus VertreterInnen ausgewählter afghanischer und internationaler Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen sowie der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Relevanz psychischer Störungen, einschließlich Traumafolgestörungen, sowie der Bedarf an breiter Unterstützung für die Betroffenen jenseits von psychiatrischer Versorgung wird auch von der afghanischen Regierung mittlerweile als hoch eingeschätzt. Das zeigt sich u.a. daran, dass die »Mental Health Task Force« in 2008-2009 intensiv an der Integration einer ausgearbeiteten Komponente zu psychosozialer Begleitung als Teilbereich zum Thema Psychische Gesundheit im offiziellen »Basic Package of Health Services« (BPHS) (Ministry of Public Health 2005, Acera et. al 2009) der afghanischen Regierung gearbeitet hat. Diese schließt Trainingsmanuale für Gesundheitsfachkräfte ein und soll über die staatlichen Gesundheitsdienste in ganz Afghanistan umgesetzt werden. Die Gruppe hat erreicht, dass das Thema »Psychische Gesundheit« jetzt nicht mehr mit niedriger, sondern mit hoher Priorität im BPHS enthalten ist.

Wie schwierig es ist, Gewalt gegen Frauen und ihre Folgen im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit als Thema einzubringen, zeigten allerdings die zähen Verhandlungen in der »Mental Health Task Force« dazu, wie dieses Thema in den Ausbildungscurricula und Trainingsmanualen für Gesundheitsfachkräfte angemessen berücksichtigt werden kann. Immer noch wird deutlich lieber von »innerfamiliärer Gewalt« gesprochen anstatt Gewalt gegen Frauen explizit zu benennen und das Thema sexualisierte Gewalt ist nach wie vor tabuisiert. Letztendlich ist es gelungen, dass zumindest das Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen basierend auf einem Minimalkonsens als Querschnittsthema in die Manuale aufgenommen wurde.

In wie fern traumatische Erlebnisse auch tatsächlich zu einer chronifizierten Stress-Symptomatik wie PTSD oder anderen Stressfolgeerkrankungen führen, hängt maßgeblich davon ab, wie diese – gesellschaftlich und individuell – bewertet werden. Das macht z.B. in Afghanistan die Verarbeitung von extrem erniedrigenden und stigmatisierenden Gewalttaten wie Vergewaltigungen oder aber auch der sozial akzeptierten häuslichen Gewalt sehr problematisch.

Die afghanischen Mitarbeiterinnen von »medica mondiale« bieten seit 2005 Trainings zum Thema »Psychosoziale Beratung« an, die den Umgang mit Traumatisierung und Gewalt gegen Frauen einschließen – die Nachfrage ist groß. Dabei ist aber auch zu beobachten, dass die eigene Identifizierung als »Traumaopfer« auch einen Prozess der Hilflosigkeit auslösen kann: „Wir in Afghanistan sind alle traumatisiert? Was sollen wir schon tun?“.2

In der Arbeit von »medica mondiale« in Afghanistan ist es daher wichtig, immer den Blick auf die eigenen und sozialen Ressourcen zu öffnen, kleine Veränderungen und Fortschritte wahrzunehmen und auf die Stärke der Überlebenden zu fokussieren. So ist es essentiell, immer wieder auch ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass auch schwierige Lebenssituationen zu meistern sind. Schließlich ist es vielen Frauen und Mädchen in Afghanistan gelungen, trotz Jahrzehnte andauernden Kriegen, Konflikten und Unterdrückung und vielen körperlichen und psychischen Problemen immer noch ihre Alltagsanforderungen zu bewältigen und niemals vollständig die Hoffnung zu verlieren. Das ist ein Aspekt der psychischen Gesundheit, der nur selten in Studien untersucht wird (Miller nach Dittmann 2004).

Praktische Unterstützung vor Ort

Ruft man sich in Erinnerung, dass die Kriegserklärung an Afghanistan unter anderem mit den massiven Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen unter den Taliban begründet wurde, ist die Anzahl an zivilgesellschaftlichen und internationalen Projekten in Afghanistan, die sich gezielt für Frauen einsetzen, verschwindend gering. Zudem setzen sich gerade einheimische Frauen, die sich für Frauenrechte engagieren – sei es in internationalen und lokalen Nichtregierungsorganisationen – massiven Anfeindungen, lebensgefährlichen Bedrohungen und auch Attentaten aus.

So ist »medica mondiale Afghanistan« eines der wenigen Projekte, das konkrete Unterstützungsangebote für von Gewalt und Traumatisierung betroffene Frauen und Mädchen anbietet.

Dabei ist das Thema »Trauma« auch ein Türöffner z.B. für Trainingsangebote für Gesundheitsfachkräfte in Krankenhäusern. Es bietet den Mitarbeiterinnen – und auch den Teilnehmerinnen – einen gewissen Schutz davor, sofort als Frauenrechtlicherinnen abgestempelt zu werden und damit ungleich mehr gefährdet zu sein.

Seit 2003 engagiert sich »medica mondiale« für Frauen und Mädchen in Afghanistan mit verschiedenen Projekten: Die Mitarbeiterinnen vor Ort bieten Frauen direkte psychosoziale und rechtliche Unterstützung an. Mit politischer Arbeit setzt sich »medica mondiale« zudem offensiv für die Durchsetzung der Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan ein. Die Projektarbeit konzentriert sich auf die Städte Kabul, Herat, Mazar-i-Sharif (bis 2008 auch Kandahar) sowie auf einige angrenzende Provinzen. So bietet »medica mondiale« Rechtshilfe für Frauen an, die in den Frauengefängnissen in Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif inhaftiert sind. Die Mehrzahl dieser Frauen sind wegen so genannter moralischer Verbrechen im Gefängnis – zum Beispiel weil sie aus Angst vor einer Zwangsverheiratung von zu Hause geflohen sind oder nach einer Vergewaltigung der Unzucht bezichtigt werden. »medica mondiale Afghanistan« stellt den Frauen Anwältinnen zur Seite, die dafür sorgen, dass sie einen fairen Prozess erhalten und nicht für Jahre im Gefängnis verschwinden.

In sechs Stadtteilen Kabuls hat »medica mondiale Afghanistan« Beratungsräume eingerichtet, die Frauen eine psychosoziale Unterstützung in ihrer Nähe und einen Treffpunkt an einem geschützten Ort bieten. In mehreren Schutzhäusern, in Krankenhäusern in Herat und Kabul sowie in den Frauengefängnissen in Kabul und Herat bieten afghanischen Psychologinnen von »medica mondiale« ebenfalls Einzel- und Gruppenberatungen an. Die Nachfrage ist groß, da es in Afghanistan kaum qualifizierte Anlaufstellen für von Gewalt betroffene oder traumatsisierte Frauen gibt. Deshalb trainiert »medica mondiale Afghanistan« auch fortlaufend afghanische Fachkräfte wie Rechtsanwältinnen, Gesundheitsfachkräfte und Sozialarbeiterinnen im kompetenten Umgang mit von Gewalt betroffenen Afghaninnen.

Der Schwerpunkt liegt derzeit auf der intensiven Weiterbildung und Sensibilisierung medizinischen Fachpersonals von Krankenhäusern in Kabul und Herat. Viele Ereignisse der Gegenwart – wie etwa eine medizinische Untersuchung bei Frauen, die vergewaltigt wurden – bewirken eine Reaktualisierung der traumatischen Erfahrung. Sie rufen die schmerzhaften Erinnerungen so lebendig hervor, dass die Frauen das Gefühl haben, alles noch einmal zu erleben. Leider treffen Überlebende von (Kriegs-)Gewalt in Afghanistan in der Regel eher auf Menschen, die ihrer Problematik unvorbereitet gegenüberstehen – in Kliniken, vor Gerichten, Ministerien und auch bei Hilfsorganisationen. Dabei hängen die Verarbeitungsmöglichkeiten der körperlichen und seelischen Verletzungen elementar von den Hilfsangeboten und dem umsichtigen Handeln der Fachkräfte ab. Durch die Berücksichtigung einfacher, in Trainings vermittelter Grundprinzipien können z.B. Retraumatisierungen eingegrenzt oder vermieden werden.

Darüber bieten die Seminare die Möglichkeit zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und sensibilisieren für angemessene Unterstützung und Hilfsmaßnahmen.

Ausblick

Die psychischen Folgen von Traumatisierungen müssen immer im Kontext mit den massiven Menschenrechtsverletzungen gesehen werden, in dem sie entstanden sind. Sehr viele Frauen, mit denen »medica mondiale« in Afghanistan zu tun hat, haben Schreckliches erlebt und leiden täglich unter der zermürbenden Gewalt der Unterdrückung. Trotzdem gibt es Heldinnen des Alltags wie z.B. Malalai Joya, Mitglied des Parlaments, die sich trotz massiver Widerstände beharrlich aufgelehnt hat. Oder diejenigen, die gegen die Verabschiedung des international und in Afghanistan massiv kritisierten schiitischen Familiengesetzes auf den Straßen Kabuls protestiert haben. Oder die afghanischen MitarbeiterInnen von »medica mondiale« vor Ort, die sich trotz der Gefahren und Anfeindungen immer wieder engagiert einsetzen für die Umsetzung von Frauenrechten und für ihre Klientinnen. Oder die betagte Oberärztin des Universitätskrankenhauses in Kabul, die die Arbeit von »medica mondiale« schon seit 2004 unterstützt und es geschafft hat, ihr Leben lang sich auch unverheiratet Respekt zu verschaffen.

Auswertungen zeigen, dass die Angebote von »medica mondiale Afghanistan«, in denen Frauen sich in psychosozialen Beratungsgruppen regelmäßig in geschütztem Rahmen unter Begleitung einer afghanischen Psychologin treffen, mit verhältnismäßig wenig Aufwand eine schon fast überraschend positive Wirkung haben. Über 90% der Frauen beschreiben, dass sich durch die Teilnahme in der Gruppe ihre gesundheitliche oder soziale Situation deutlich verbessert hat. Ein ganz wesentlicher Faktor ist dabei die Aufhebung ihrer Isolation und die Begleitung beim Aufbau von Unterstützungssystemen, die über die Familie hinausgehen. Zum anderen bewirken der angeleitete Erfahrungsaustausch, die Aufklärung über den Zusammenhang von körperlichen und psychischen Problemen und die Übungen zu Stressreduktion und Problemlösungsstrategien eine deutliche Entlastung und Stärkung der Teilnehmerinnen, die sich unter anderem in einem Rückgang von körperlichen und psychischen Beschwerden, Stress- und auch Traumasymptomen widerspiegelt.

Viele Frauen treffen sich auch nach Beendigung der Gruppenarbeit weiter und nutzen u.a. gemeinsam Alphabetisierungskurse von »medica mondiale Afghanistan«. Was fehlt sind andere, auf einkommensschaffende Maßnahmen für Frauen spezialisierte Organisationen, die auch wenig gebildeten und vor allem wenig mobilen Frauen aus den Distrikten die Chance geben, größere ökonomische Sicherheit und damit auch größere Handlungsspielräume zu bekommen und damit mehr Schutz vor ausbeuterischen Abhängigkeits- und Gewaltverhältnissen. Darüber hinaus sind psychosoziale Angebote zur Traumabearbeitung und Sensibilisierung zu geschlechtsspezifischer Gewalt für Jungen und Männer als vorbeugende Maßnahme gegen häusliche Gewalt, familiäre Konflikte und bewaffnete Gewalt dringend erforderlich.

Gegenwärtig werden aus dem Bundeshaushalt pro Jahr mehr als 530 Millionen Euro für den Militäreinsatz ausgegeben. Für den zivilen Aufbau steht weniger als ein Viertel dieser Summe zur Verfügung. Das Budget für die Förderung von Frauenrechten und Unterstützung von Frauen unter anderem im Gesundheits- und Bildungswesen lag 2007 nur bei 1,7 Millionen Euro.

Die aggressive militärische Strategie der Anti-Terrorbekämpfung hat den Frauen bislang nur eines gebracht: eine sich dramatisch verschlechternde Sicherheitssituation, die immer mehr Frauen und Mädchen in ihre Häuser zurück zwingt – und sie dabei zu Zielscheiben fundamentalistischer Mächte macht. »medica mondiale« fordert einen nachhaltigen Strategiewechsel beim Wiederaufbau Afghanistans. Frieden, Entwicklung und Wiederaufbau können nur gelingen, wenn die militärische Gewaltspirale beendet und das Primat der militärischen Konfliktlösung durch einen deutlich verstärkten zivilen Wiederaufbau abgelöst wird, an dem Frauen maßgeblich beteiligt werden.

Dabei schaffen psychische Stabilisierung und Stärkung durch Traumaarbeit, psychosoziale Arbeit oder Selbsthilfegruppen für viele Frauen überhaupt erst die Möglichkeit, sich aktiv an der friedensfördernden Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte und am gesellschaftlichen Wiederaufbau zu beteiligen. Die inhaltliche Verknüpfung von Friedensaufbau und der Prävention von neuer Gewalt gegen Frauen und bewaffneter Gewalt muss bei internationalen und nationalen Konzepten endlich berücksichtigt werden.

Anmerkungen

1) Eine detaillierte klinische Diagnostik der PTDS wird von »medica mondiale« in Afghanistan aus verschiedenen Gründen nicht durchgeführt.

2) Aussage der Teilnehmerin zu Beginn eines Trainings von Gesundheitsfachkräften in Kabul 2006 durch »medica mondiale«.

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Karin Griese arbeitet als Referentin für Traumaarbeit bei der Frauen- und Menschenrechtsorganisation »medica mondiale« mit Sitz in Köln. »medica mondiale« unterstützt vergewaltigte und von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen in Kriegs- und Konfliktgebieten wie in Afghanistan, Kosovo und Liberia mit eigenen Frauenberatungszentren, in anderen Regionen, wie der Demokratischen Republik Kongo, in Kooperation mit Frauenorganisationen vor Ort. Die Geschäftsführerin Monika Hauser erhielt 2008 für ihre Arbeit und die ihrer Organisation den Alternativen Nobelpreis.

Psychologische Beiträge für Frieden und Gerechtigkeit

Psychologische Beiträge für Frieden und Gerechtigkeit

Bericht über die 18. Tagung des Forums Friedenspsychologie

von Christopher Cohrs

Mit großem Erfolg fand am 10. und 11. Juni 2005 die 18. Jahrestagung des Forums Friedenspsychologie (FFP) an der Universität Erlangen-Nürnberg in Erlangen statt, ausgerichtet von Dr. Christopher Cohrs vom dortigen Lehrstuhl für Sozialpsychologie. Unter dem Motto »Psychologische Beiträge für Frieden und Gerechtigkeit: Aktuelle Herausforderungen« stehend, war die Tagung mit fast 50 Teilnehmer(inne)n, die aus verschiedenen Regionen Deutschlands, aber auch aus Großbritannien, der Schweiz, den USA, Indien und den Niederlanden angereist waren – einige Interessent(inn)en aus Gambia, Nigeria und dem Kosovo hatten leider keine Visa erhalten –, eine der größten und »internationalsten« friedenspsychologischen Tagungen der letzten Jahre. In knapp 20 englisch- und deutschsprachigen Vorträgen wurde eine große Bandbreite friedenspsychologischer Fragestellungen theoretisch und empirisch beleuchtet.

Den Auftakt am Freitag-Nachmittag machte Prof. Gert Sommer (Universität Marburg), langjähriger Vorsitzender und Gründungsmitglied des FFP, mit einem subjektiven Rückblick auf die Entstehungsbedingungen, ursprünglichen Ziele, die vielfältigen Aktivitäten, Publikationen, Leistungen und Probleme des 1982 (bzw. 1986 formell) gegründeten FFP, damals »Friedensinitiative Psychologie * psychosoziale Berufe«. Als zentrale Themen, die bearbeitet wurden, benannte er psychologische Aspekte von Aufrüstung und Krieg, Feindbilder und Propaganda, gewaltfreie Konfliktlösung und Pazifismus, Menschenrechte sowie Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Gerade für die zahlreichen jüngeren Zuhörer(innen) dürfte dieser Bericht aus erster Hand, der das Ineinandergreifen von Friedensbewegung, Friedensforschung und Psychologie im FFP veranschaulichte, sehr interessant und informativ gewesen sein. Den zweiten Hauptvortrag hielt Prof. Ed Cairns von der University of Ulster in Nordirland zum Thema »Peace Psychology: The Future«. Durch die Veränderungen gewalttätiger Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges in Richtung ethnisch, religiös, kulturell oder sprachlich definierter Intergruppenkonflikte resultierten hohe Flüchtlings- und Vertriebenenzahlen und eine starke Betroffenheit der Zivilbevölkerung. Für die Psychologie entstünden dadurch wichtige neue Herausforderungen, in Bezug sowohl auf die Analyse von Konfliktursachen (insbesondere die Theorie der Sozialen Identität sei hier fruchtbar) als auch auf die Anwendung gewonnener Erkenntnisse. Einen zentralen Stellenwert hätte hierbei theoretisch fundierte Aktionsforschung, etwa zur Durchführung und Evaluation von Interventionsprogrammen zur Versöhnung oder gewaltfreien Konfliktbearbeitung in Konfliktregionen, die durch das Einwirken auf politische Entscheidungsträger und andere Multiplikatoren auch langfristige Effekte zu erzielen in der Lage ist.

Am Samstagmorgen berichtete Dr. Jost Stellmacher (Universität Marburg; Koautor: Gert Sommer) in einem weiteren Plenarvortrag über ein Forschungsprogramm zur Psychologie der Menschenrechte. Dabei ging er auf vier teilweise paradoxe Punkte ein: die Diskrepanz zwischen subjektiver Wichtigkeit von Menschenrechten und Wissen darüber, interindividuelle Unterschiede im Umgang mit Menschenrechten, die Legitimierung von Kriegen durch Menschenrechte sowie Menschenrechtserziehung. Anschließend fanden Vorträge in thematischen Arbeitsgruppen statt. Die Arbeitsgruppe zu »Nonviolence and Promoting Peace« versammelte die beiden am weitesten gereisten Teilnehmer: Dr. Sam Manickam vom Sri Ramachandra Medical College and Research Institute in Chennai (Indien), der in seinem Vortrag unter dem Titel »Sahya: An Integrative Psychological Quality that Leads to Global Peace« über ein mit »aktiver Toleranz« nur unzureichend übersetzbares Konzept aus der indischen Philosophie sprach, und Prof. Vinod Kool (State University of New York, Utica, USA), der über 20 Jahre Forschung mit dem von ihm und Sen entwickelten »Nonviolence Test« referierte. Als dritter Redner sprach Prof. Klaus Boehnke (International University Bremen; Koautorin: Mandy Boehnke) unter dem Titel »Once a Peacenik – Always a Peacenik? Results from a German Six-Wave, Nineteen-Year Longitudinal Study« über eine Längsschnittstudie zu (friedens-)politischem Engagement. In einer parallelen Arbeitsgruppe über »Toleranz, Diskriminierung und Gewalt« sprach André Knote (Universität Jena; Koautor: Wolfgang Frindte) über den »Zusammenhang von kultureller Weltsicht und Selbstwert in der Terror-Management-Theorie«, und Prof. Albert Fuchs (Meckenheim) hielt einen Vortrag mit dem Titel »‚Der Glaube an das Militär Versetzt Berge … von Menschen unter die Erde’ – Zum Anteil der Bevölkerung am ‚Krieg gegen die Bevölkerung’«, der kürzlich in leicht veränderter Fassung in Wissenschaft und Frieden (Heft 3/2005) veröffentlicht wurde.

Nach der Mittagspause stellte Prof. Wilhelm Kempf (Universität Konstanz) zwei experimentelle Studien zu »Acceptance and Impact of De-Escalation Oriented Coverage of Post-War Conflicts« vor. Anschließend fand eine von Dr. Clifford Scott geleitete Arbeitsgruppe zum Thema »Social Identity and Intergroup Conflict« statt. Johanna Vollhardt (University of Massachusetts, Amherst, USA) sprach über »Reducing the Fundamental Attribution Error and the Potential for Intergroup Conflict through Close Intercultural Contact: A Quasi-Experimental Study«, Elissa Myers und Tania Tam (Oxford University; Koautoren: Miles Hewstone, Jared Kenworthy und Ed Cairns) über »Intergroup Trust and Distrust in Northern Ireland«, Tania Tam (Oxford University; Koautoren: Miles Hewstone und Ed Cairns) über »Intergroup Forgiveness in Northern Ireland« und Dr. Clifford Stott und Martina Schreiber (University of Liverpool) über »Hooliganism and Legitimacy in Social Relations« und »German Fans and ‚Hooliganism’ at Euro 2004: The Cross-Cultural Importance of Social Identity and Legitimacy in Intergroup Relations«. Diese Vorträge bestätigten eindrücklich die von Prof. Cairns am Vortrag behauptete Fruchtbarkeit der Theorie der Sozialen Identität für friedenspsychologische Fragestellungen.

In einer parallelen Arbeitsgruppe wurden verschiedene Arbeiten über »Friedenspsychologische und -pädagogische Interventionen« vorgestellt, die die von Prof. Cairns ebenfalls am Vortag aufgestellte Forderung nach theoretisch fundierter Forschung zur Evaluation friedenspsychologischer Programme zumindest ansatzweise einlösen. Prof. Christian Büttner von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung stellte unter dem Titel »Der Krieg in den Köpfen der Menschen – Pädagogisch-Psychologische Friedens- und Konfliktforschung an der HSFK« den politikwissenschaftlich-psychologischen Ansatz der HSFK anhand ausgewählter Projektfragestellungen dar. Norman Geißler (Universität Potsdam; Koautorin: Christin Schaefer) berichtete über eine Studie zur »Wissensvermittlung zu Antisemitismus durch Kooperatives Lernen«. Miriam Schroer (Camino gGmbH, Berlin) sprach anschließend über die Evaluation dreier Programme zur zivilen Konfliktbearbeitung in Serbien-Montenegro und Kroatien, und Dr. Jochen Krautz (Bergische Universität Wuppertal) analysierte unter dem Titel »Frieden Sehen und Empfinden« aus pädagogischer, psychologischer und ästhetischer Perspektive »Psychologische Aspekte Emotionaler Verankerung von Friedenserziehung am Beispiel der Ausstellung ‚The Family of Man’«. In einer weiteren Veranstaltung schließlich stellte Johanna Vollhardt das Ph.D.-Programm »The Psychology of Peace and the Prevention of Violence« vor, das die University of Massachusetts in Amherst, USA, unter Leitung von Prof. Ervin Staub anbietet (Informationen dazu unter http://www.umass.edu/peacepsychology/).

Trotz des dichten Programms wurde auf der Podiumsdiskussion zum Tagungsmotto – »Psychologische Beiträge für Frieden und Gerechtigkeit: Aktuelle Herausforderungen« –, die im Anschluss an die wissenschaftlichen Vorträge stattfand, noch eifrig diskutiert, über inhaltliche Aspekte der Friedenspsychologie, aber auch über den Stellenwert der Friedenspsychologie innerhalb der Psychologie, über strukturelle und organisatorische Schwierigkeiten des Fachs und über mögliche Wege, der Friedenspsychologie mehr Einfluss und größere Bekanntheit, vor allem unter jüngeren Menschen, zu verschaffen. Als erster Schritt in diese Richtung waren auf der Mitgliederversammlung am darauf folgenden Sonntag bereits mehrere Beitritte zum FFP zu verzeichnen.

Abschließend sei der Dr. Alfred-Vinzl-Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg, der Fachgruppe Sozialpsychologie in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie sowie Herrn Mate Bacic für finanzielle Unterstützung der Tagung gedankt! Die nächste Tagung des Forums Friedenspsychologie wird im Juni 2006 in Jena stattfinden, federführend ausgerichtet von Prof. Wolfgang Frindte.

Christopher Cohrs