Armee mit Flotte?

Armee mit Flotte?

Zur maritimen Dimension der militärstrategischen Debatte

von Marlies und Peter Linke

80 Jahre nach Gründung der KP Chinas werden in den Reihen der chinesischen Armee Diskussionen um die »Nationalisierung« der Streitkräfte geführt. Die Armeezeitung Jiefangjun Bao weist in ihren Internetausgaben von Mai und Juni 2001 solche Art Ansinnen als vom Westen nach China hereingetragen zurück und verweist auf die Unabdingbarkeit der Führung der Volksbefreiungsarmee (VBA) durch die KP Chinas. Die Entwicklung der chinesischen Streitkräfte in den letzten 20 Jahren aber lässt erkennen, dass diese ihre Planungen lange nicht mehr an klassengebundenen Zielen ausrichtet, sondern an nüchtern definierten nationalen Interessen. Chinesische Strategen verzichten seit 1978 zunehmend auf Kategorien von Klassenzugehörigkeit zur Einordnung Chinas in das internationale Gefüge. Die Betonung des Führungsanspruchs der Partei gegenüber den Streitkräften lässt Erinnerungen an die Zeiten Mao Zedongs aufleben. Seit Maos Tod vollzog sich jedoch ein gravierender Wandel des Aktionsumfelds der VBA sowohl innerhalb Chinas als auch auf regionaler und globaler Ebene, auf den die chinesischen Streitkräfte mit einer Anpassung ihrer Strategie reagierten. Im Folgenden sollen die Strategie der VBA und – angesichts ihrer wachsenden Bedeutung im System der Landesverteidigung – der VBA-Marine skizziert und deren Bemühungen zur technischen Sicherung der an sie gestellten Aufgaben dargestellt werden.

Über lange Jahre hinweg folgte die VBA der in den 1920ern und 1930ern entwickelten Strategie des »Volkskrieges«, die gekennzeichnet war durch

  • Verzicht auf die Verteidigung fester Punkte, hohe Truppenmobilität um »Raum gegen Zeit zu tauschen«,
  • Setzen auf die Unterstützung der Armee durch die Bauern,
  • das Primat ideologisch geschulter Soldaten über Waffen,
  • die Postulierung eines Partisanenkrieges.

Nach 1977 und verstärkt durch die Schlappe, die chinesische Truppen bei ihrem Überfall auf Vietnam 1979 einsteckten, war offensichtlich geworden, dass eine Modifizierung dieser Strategie notwendig war. Positionskämpfen wurde eine größere Rolle eingeräumt um die gewachsene industrielle Basis und die Ballungszentren ziviler Bevölkerung verteidigen zu können. Dies sollten meist reguläre Truppen übernehmen, unterstützt von Partisanen, Milizen und der Zivilbevölkerung. Als potenzieller Hauptgegner wurde seit den späten 1960ern der nördliche Nachbar betrachtet. Es wurde aufgerufen, sich auf einen „frühen, großen und nuklearen Krieg gegen die Sowjetunion“ vorzubereiten. Das Motto des Volkskrieges („Die Invasoren im Meer des Volkskrieges ertränken“) wurde ergänzt um ein Vergeltungsszenario für nukleare Angriffe und eine Luft-Land-Strategie gegen das sowjetische Hinterland. Angesichts allzu großer potenzieller eigener Verluste wurde der Ansatz, »Raum gegen Zeit einzutauschen«, aufgegeben.1

Vom Volkskrieg zum lokalen Krieg unter Hochtechnologiebedingungen

Wie bereits seit Ende der 1970er sollte auch nach dem 1985 einsetzenden Wechsel der Militärdoktrin die Sicherung eines stabilen friedlichen äußeren Umfeldes für die erfolgreiche Umsetzung des Modernisierungskurses Chinas die Hauptaufgabe der VBA bleiben.

Der neuen Militärdoktrin lagen vor allem neue Annahmen über mögliche künftige Kriege zugrunde. Deng Xiaoping ging am 04.06.1985 in seiner Rede vor der Zentralen Militärkommission davon aus, dass – obwohl die Gefahr eines globalen Krieges weiterbestehe – es möglich sei, dass ein großer Weltkrieg auf längere Sicht nicht stattfinden werde. Daraus leitete sich das Ziel des „Aufbaus der Armee in Friedenszeiten“ ab, „um eine Abschreckungskraft aufzubauen, um Krieg herauszuzögern und ihn einzudämmen (falls er ausbrechen sollte)…Inzwischen sollte der Schwerpunkt darauf gelegt werden, sich vorzubereiten, in verschiedenen lokalen Kriegen und bewaffneten Konflikten zu kämpfen und diese zu gewinnen.“2

Lokale Kriege würden nach Einschätzung der VBA-Planer – so die Untersuchung Nan Lis, Senior Fellow am United States Institute of Peace, zu den Gründen der neuen Schwerpunktsetzung in der chinesischen Militärdoktrin – künftig von größerer Bedeutung sein. Die nukleare Patt-Situation zwischen der Sowjetunion und den USA zwinge diese zu mittleren Formen der Auseinandersetzung: Zwischen einem die Gefahr gegenseitiger Vernichtung bergenden ausgedehnten Krieg und dem wegen Inkongruenz ihrer Interessen und Wertvorstellungen unmöglichen völligen Kompromiss. Hieraus ergebe sich auch die zunehmende Gefahr von Stellvertreterkriegen. Die aus ungleicher ökonomischer Entwicklung resultierende ungleiche Entwicklung von Militärtechnologien verschiedener Staaten erhöhe die Gefahr für die schwächere Seite, zum Testgebiet für neue Waffen zu werden. Zunehmende Zerstörungen und wachsende Kosten, die ein ausgedehnter Krieg mit sich bringen würden, ließen lokale Kriege zu einer kostengünstigen Alternative werden um die angestrebten Ziele zu erreichen. Steigende Ressourcenknappheit könne territoriale Konflikte wiederbeleben oder entfachen. Bürgerkriege lüden zu äußerer Intervention ein, territoriale und ethnische Spannungen erhöhten die Wahrscheinlichkeit von lokalen Kriegen, die nicht immer Stellvertreterkriege seien, da auch Staaten der Dritten Welt und sozialistische Staaten begrenzte Kriege austrügen.3

Als kennzeichnende Züge »lokaler Kriege« werden nicht nur ihr begrenzter Umfang genannt, sondern auch ihr stärker ausgeprägter politischer denn militärischer Charakter, damit verbunden ihre größere Offenheit für Vermittlungsbemühungen, das größere Gewicht politischer und diplomatischer Gründe zur Deeskalation des Konflikts, die Begrenztheit der Kriegsziele, die mit weniger, aber gut ausgebildeten und ausgerüsteten Truppen und durch Überraschungs- und Präzisionsschläge erreicht werden sollen. Ziel dieser Kriege ist nicht die vollständige Vernichtung des Gegners, sondern das Erreichen begrenzter politischer, wirtschaftlicher und strategischer Zwecke. Daraus leiten chinesische Militärstrategen fünf wahrscheinliche Szenarien für einen begrenzten Krieg ab:

  • den militärischen Konflikt mit Nachbarstaaten in einer begrenzten Region,
  • den militärischen Konflikt in Territorialgewässern,
  • den nichterklärten Luftangriff durch Feindstaaten,
  • die territoriale Verteidigung in einer begrenzten militärischen Operation,
  • die Strafoffensive mit einem begrenzten Vordringen in einen Nachbarstaat.4

Eine Konkretisierung der Doktrin des »lokalen Krieges« ergab sich aus der Analyse des Golfkrieges von 1991, der als »begrenzter Krieg unter Hochtechnologiebedingungen« die technischen Möglichkeiten und Anforderungen an eine Kriegsführung mit modernsten Waffensystemen deutlich machte. Hauptbedrohungen für ihre nationale Sicherheit sehen chinesische Strategen in bestimmten Konstellationen »zwischenstaatlichen Wettbewerbs«, darin, sich als Nation nicht rechtzeitig und hinreichend an der Erkundung und Nutzung neuer Räume (Antarktis, Weltraum, Weltmeere) beteiligt zu haben, und in direkten Bedrohungen der territorialen Integrität Chinas.5

Dem offenen Meer zugewandt – Räume und Ressourcen für Chinas Entwicklung

Nachdem Chinas nördlicher Nachbar nicht mehr als Bedrohung perzepiert wird und es gelungen ist, die Territorialprobleme an Chinas Landgrenze – bis auf die Probleme mit Indien – weit gehend zu klären, richtet sich im Zusammenhang mit den Erfordernissen des Wachstums von Wirtschaft und Bevölkerung in wachsendem Maße die Aufmerksamkeit der Planer auf Chinas maritime Räume und Ressourcen, gewinnt die chinesische Marine als Mittel zur Sicherung nationaler Interessen bedeutend an Gewicht.6

Energieträger, Lebensmittel, Schifffahrtswege, Inseln und nationale Einheit dürften zu den wichtigsten Stichwörtern bei der Betrachtung der maritimen Interessen der VR China zählen.

Zur Sicherung der Energieversorgung vor allem seiner wachsenden Wirtschaft deckt China einen steigenden Anteil seines Energiebedarfs nicht mehr durch Kohle (gegenwärtig 77 %), sondern durch Öl und Erdgas. Bei Anwendung der heute verfügbaren Fördertechnologien und einer Fördermenge von 150 Mrd. t/Jahr dürften sich Chinas derzeit bekannte förderbare Ölvorräte innerhalb der nächsten 30 Jahre erschöpfen.7 Obwohl die eigene Ölproduktion 2000 165 Mrd. t erreichen sollte, wird von einem zusätzlichen, durch Importe zu deckenden Bedarf von 45-65 Mrd. t ausgegangen.Bereits 1996 zweitgrößter Getreideimporteur der Welt, sieht sich die chinesische Regierung nicht nur mit einer wachsenden Bevölkerungszahl, sondern auch mit einem ansteigendem Pro-Kopf-Verbrauch von Lebensmitteln, bei sich verschlechternden Bedingungen für landwirtschaftliche Produktion (rückläufige Anbauflächen, Wassermangel, sinkender Düngereinsatz etc.), konfrontiert.8 Der Zukauf im Ausland und die Gewinnung von Nahrungsmitteln aus dem Meer erlangen daher zunehmend an Bedeutung.

Z.Z. noch wenig genutzte, aber bei künftiger Entwicklung entsprechender Fördertechnologien bedeutsame Meeresressourcen (Mangan etc.) und Ressourcen, die heute noch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, da ihre Verwertbarkeit noch nicht entdeckt wurde, dürften ebenfalls Begehrlichkeiten wecken. Transportlinien, nicht nur für Rohöl und Getreide sondern für ca. 85 % des Außenhandels, durchlaufen das Seegebiet Chinas und bedürfen der zuverlässigen Sicherung.

Die Antwort auf die Frage der Zugehörigkeit der Nansha-Inseln (Spratly) hat nicht nur Auswirkungen für Chinas territoriale Integrität, sie ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Klärung der Größe der Exklusiven Wirtschaftszone (EEZ) und des Kontinentalschelfs, das von China genutzt werden kann. Die Wiederherstellung der nationalen Einheit Chinas unter Einbeziehung Taiwans bleibt in den Augen der Pekinger Führung zentrale Aufgabe chinesischer Politik.9 Der Wiedereingliederung Taiwans in den chinesischen Staatsverband stehen aber nicht nur taiwanesische Interessen konträr gegenüber, sie berührt auch die Sicherheitsinteressen Japans und der USA.

Zur Sicherung der maritimen Interessen Chinas verfolgt die chinesische Führung eine Doppelstrategie, die einerseits auf internationale Kooperation setzt (u.a. die aktive Beteiligung an der Formulierung des Rechtsrahmens für die Nutzung des maritimen Raums, die Teilnahme an regionalen Foren zur Diskussion von Sicherheitsfragen als vertrauensbildende Maßnahme) und die andererseits die Vorbereitung auf einen Kampf zur Durchsetzung der eigenen Interessen als worst-case-Szenario beinhaltet. Pekings Strategie zielt gleichzeitig auf

  • die Stärkung der Seestreitkräfte,
  • die Verstärkung und Ausweitung seiner physischen Präsenz in umstrittenen Seegebieten,
  • die Heranziehung westlicher Ölfirmen zur Ausbeutung der Ölvorkommen in den beanspruchten Gebieten,
  • auf bilaterale Diskussion seiner Position mit den anderen Ansprüche erhebenden Seiten.10

China, Erstunterzeichner der UN-Seerechtskonvention von 1982, ratifizierte diese 1996 und erweiterte damit seinen Zugang von 380.000 km² Seegebiet innerhalb der 12 sm-Zone nach UN-Seerecht über die Exklusive Wirtschaftszone auf 3 Mio. km² Seegebiet, unter Einrechnung des Bohai-Inlandmeeres 4,7 Mio. km².

Das »Gesetz über die Territorialgewässer und die angrenzende Zone« von 1992 dokumentiert in klar kodifizierter Weise Chinas maritime Prioritäten und räumt der VBA-Marine das Recht ein, unbefugt eindringende fremde Schiffe abzufangen und/oder zu beschießen.

China sieht seine maritimen Interessen in der Gegenwart durch Konfliktpotenziale mit einer Reihe von globalen und regionalen Akteuren bedroht: USA, Japan, Taiwan wie auch andere Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres (besonders Vietnam und die Philippinen).

Die veränderte Bedrohungsperzeption und die aus der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas erwachsenden Erfordernisse schlugen sich Mitte der 1980er auch in der Anpassung der Marinestrategie nieder. Nach Einschätzung chinesischer Marineoffiziere sind ausgedehnte Seekriege in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich, sie rechnen eher mit begrenzten Seekonflikten. Im Hauptfokus von Seeschlachten sehen sie die Erlangung der Souveränität über Inseln, die Kontrolle von Meeresgebieten und den Wettkampf um die Vorherrschaft auf den Ozeanen. Da Rivalitäten zwischen einzelnen Staaten um territoriale Souveränität, Seerechte und Ressourcen zu militärischen Auseinandersetzungen auf See führen können, muss sich die chinesische Marine bereits in Friedenszeiten auf die erfolgreiche Durchsetzung nationaler Interessen vorbereiten. Dieses Vorbereitetsein für den Fall der Eskalation eines Konflikts wird auch als Voraussetzung für die Tragfähigkeit politischer und diplomatischer Lösungen eines lokalen Krieges betrachtet. 11Ausgehend von der zuvor betonten Konzentration auf Küstenverteidigung begann seit 1982 Admiral Liu Huaqing, 1982-1988 Chef der Marine Chinas, die Notwendigkeit der Off-shore-Verteidigung zu unterstreichen.12 In einem 3-Stufen-Plan wies er die Entwicklungsrichtung des maritimen Arms der VBA:

  • Bis 2000: Konzentration der Marine auf Training und Ausbau der existierenden Formationen, Überholung und Verbesserung der Marineschiffe. Ziel: Abschreckung regionaler Bedrohungen, schnelle und erfolgreiche Beendigung von Schlachten unter niedrigem Risiko.
  • 2001-2020: Konzentration auf Bau mehrerer leichter Flugzeugträger von 20.000-30.000 t. Kauf mehrerer Kriegsschiffe zur Unterstützung der Flugzeugträger-Taskforce um die Flotte zu verstärken und die off-shore-Kampffähigkeit der Marine auszubauen. Ziel: Projektion der Marine nicht nur in den Westpazifik, sondern Erkundung der Weltmeere mit Flugzeugträgern und Hightech-Ausrüstung.
  • 2021-2040: Verwandlung der Marine in eine bedeutende Seemacht mit Hochseefähigkeit.13

Chinas Marine strebt damit den Sprung von einer auf die Verteidigung der eigenen Küsten konzentrierten Streitmacht, die in erster Linie Unterstützung für Armee und Luftstreitkräfte leistet, zu einer Seemacht von Weltrang an.

Dieses Streben Chinas zielt nicht nur auf die Sicherung des Zugangs zu wichtigen maritimen Räumen und Ressourcen, sondern spiegelt wohl auch das Bewusstsein, dass die Fähigkeit zur Kontrolle über das offene Meer als essenzieller Bestandteil des Weltmachtstatus betrachtet wird.

Das Herausschieben des Verteidigungsperimeters in den 1980ern und frühen 1990ern dokumentiert auch ein sich veränderndes, den Möglichkeiten moderner Kriegsführung unter Hochtechnologiebedingungen Rechnung tragendes Sicherheitsbedürfnis: In Chinas Küstenregionen, die 30 % des Territoriums ausmachen, erwirtschaften 40 % der Bevölkerung 60 % des BIP. Der Ozean wird als „natürlicher Schutzvorhang für diese strategisch wichtige Region“ betrachtet.14

1988 definierte Admiral Zhang Lianzhong die folgenden Verteidigungsperimeter:

  • äußerer Bereich – schließt Seegebiete bis zur ersten Inselkette (diyi diaolian) ein,
  • mittlerer Bereich – bis ca. 150 sm vor der Küste,
  • innerer Bereich – bis 60 sm vor der Küste.

Liu Huaqing bezeichnete die zu sichernde Zone mit 200 sm (entspricht jinhai für Küstengebiete), später mit 600 sm (zhonghai für Gebiete zwischen 200 und 600 sm vor der Küste). Die Kontrolle über einige Spratly-Inseln erweitert den Aktionsradius der VBA-Marine auf ca. 1000 sm, mit der Ausdehnung der Kontrolle bis zur ersten Inselkette (Gebiete von Wladiwostok, Ryukyu, den Philippinen bis zur Straße von Malakka) würde sie »green-water capability« erreichen. Operationsfähigkeit im Ozean erreicht die Marine (yuanyang haijun, blue-water capability) mit der Einbeziehung der zweiten Inselkette (Kurilen, Bonin, Marianen, Papua-Neuguinea) in ihren Operationsrahmen.15

China versucht durch Machtprojektion, Bedrohungen bereits möglichst weit vor der eigenen Küste auszuschalten. Dazu ist die Marine bemüht Hochtechnologiewaffen in ihr Arsenal zu integrieren. Zu deren Weiterentwicklung werden der Marine beträchtliche Ressourcen zur Verfügung gestellt. Im 21. Jahrhundert, so die Planer der VBA-Marine, werden für die Austragung von Seekonflikten neue Räume erschlossen – unter Wasser, im Weltraum und im elektromagnetischen Raum –, was ein fein abgestimmtes Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme erfordert.16

Chinas Seestreitkräfte auf dem Sprung ins 21. Jahrhundert

Ende der achtziger Jahre hatte sich die VBA-Marine zur drittgrößten Kriegsmarine der Welt gemausert: Mehr als 2.000 Schiffe verteilten sich auf 3 Flottenkommandos:

  • die Nordseeflotte mit Sitz Qingdao (Shandong),
  • die Ostseeflotte mit Sitz Ningbo (Zhejiang)
  • und die Südseeflotte mit Sitz Zhanjiang (Guangdong).

Die Kontrolle lag beim Marinehauptquartier in Peking, das wiederum dem Generalstab der VBA unterstand.17

Ende der neunziger Jahre standen insgesamt 260.000 Männer und Frauen im Dienst der VBA-Marine, die nunmehr über mehr als 50 Zerstörer und Fregatten, rund 60 konventionelle und 6 atomgetriebene U-Boote sowie ungefähr 50 Landungsschiffe verfügte. Ergänzt wurde diese Streitmacht durch mehrere hundert Hilfs- und kleinere Patrouillenboote sowie eine Seeluftstreitmacht aus über 500 Starrflügelflugzeugen und rund 30 Hubschraubern.18

Die weitere Modernisierung dieser Streitmacht im Kontext der laufenden militärstrategischen Debatte zielt im Kern auf kurzfristige Verbesserungen bei der Seezielbekämpfung und Punktschlag-Kriegführung. Dementsprechend konzentriert sich das Interesse der chinesischen Seestreitkräfte auf Waffen, mit deren Hilfe potenzielle Gegner, die von Marineplattformen oder Stützpunkten im Ost- und Südchinesischen Meer aus operieren, abgewehrt werden können. Insbesondere geht es um Waffen, die sich aus sicherer Entfernung aktivieren lassen, wie Marschflugkörper zur Schiffsbekämpfung oder Langstrecken-Marschflugkörper zur Landzielbekämpfung.

China ist bemüht, diese Waffen und deren Trägermittel weitestgehend in eigener Regie zu entwickeln, stößt dabei aber auf eine Reihe ernster Probleme. Der Bau eines eigenen Flugzeugträgers als sichtbarster Ausdruck für Pekings ambitioniertes Flottenmodernisierungsprogramm kommt nur schleppend voran. Seit über 20 Jahren sitzen chinesische Ingenieure an entsprechenden Entwürfen. Geplant ist ein 48.000-Tonnen-Schiff, das 24 Kampfflugzeuge aufnehmen kann. Gebaut wird seit 2000 und 2005 soll Chinas erster Flugzeugträger voll einsatzfähig sein19, vorausgesetzt, dass das Land bis dahin über ausreichend trägerfähiges Fluggerät verfügt.1999 wurde das erste Schiff der neuen Luhai-Zerstörer-Klasse, die DD-167 Shenzhen, in Dienst gestellt. Hinsichtlich ihrer Bewaffnung unterscheidet sich die Shenzhen jedoch kaum von den Schiffen der älteren Luhu-Klasse. Zwar verfügt sie mit 16 C-802-Raketen formal über die doppelte Schiffsabwehrkapazität wie ihre älteren Schwestern20, allerdings ist die C-802 mit einer Geschwindigkeit von 0,9 Mach und einer Reichweite von 120 km den derzeit am weitesten fortgeschrittenen Anti-Schiff-Raketen der Welt, wie der US-amerikanischen Harpoon oder der russischen Moskit, klar unterlegen. Ähnliches trifft auf die Flugabwehrkapazität der Luhai-Klasse zu, die wie die Luhu-Klasse mit einer HQ-7-Rakete bestückt ist. Die Installierung einer effektiveren, weil senkrecht startenden neuen Flugabwehr-Rakete, der HQ-9, musste wegen technischer Probleme verschoben werden.21Ebenfalls eingeschränkt ist die Schiff- und Flugabwehrkapazität der modernsten chinesischen Fregatten vom Typ 057/Jiangwei-II-Klasse: 8 C-802-Raketen und eine HQ-7-Rakete. Die zusätzliche Installation einer HQ-61-Flugabwehr-Rakete kann nur bedingt als Fortschritt gelten. Zwar garantiert die HQ-61 mit einer Geschwindigkeit von Mach 3 und einer Reichweite von 12 km der VBA-Marine gewisse Hochseefähigkeit. Fehlende Möglichkeiten, Flugabwehr-Raketen senkrecht zu starten, machen den Typ 057 allerdings ebenso verwundbar wie seinen Vorgänger, den Typ 055/Jiangwei-Klasse. Erst mit dem Typ 059/Jiangwei-III-Klasse, dessen Bau ab 2005 geplant ist, soll dieses Manko behoben werden.22Noch heftigeres Kopfzerbrechen bereitet Chinas Marinestrategen die Modernisierung der U-Boot-Flotte. Nicht nur die Bewaffnung, sondern auch die Konstruktion der Boote gestaltet sich schwierig. Aufgrund technischer Probleme bei der Entwicklung der JL-2, Chinas neuer ballistischer Interkontinentalrakete, kommt die Konstruktion einer neuen Klasse strategischer Atom-U-Boote (Typ 094) nur sehr schleppend voran.23 Ebenso intensiv nachgedacht wird über die Bewaffnung für das neue atomgetriebene Jagd-U-Boot Typ 093. Vieles deutet darauf hin, dass es zum Zeitpunkt seiner Indienststellung um das Jahr 2003 lediglich mit einer Variante der C-801, dem Vorgängermodell der C-802, ausgerüstet sein wird.24 Sorgenkind Nr. 1 bleibt jedoch das Mitte der neunziger Jahre in Dienst gestellte Diesel-U-Boot Typ 039/Wuhan-C(Song)-Klasse. Wie an seinem Vorgänger, Typ 035/Ming-Klasse, wird an Typ 039 permanent herumgebastelt, verändert, nachgebessert25, trotz oder gerade wegen der Verwendung diverser ausländischer technologischer Komponenten.Im Bemühen, die bei der Modernisierung der Seekriegsflotte auftretenden technologischen Probleme möglichst schnell zu lösen, greift Peking zunehmend auf Komplett-Angebote ausländischer Rüstungsagenturen zurück. Die Nase vorn haben dabei russische Produzenten, die fortschrittlichste Technologien zu Tiefstpreisen anbieten. So wird Chinas erster Flugzeugträger höchstwahrscheinlich mit russischen Suchoj-Jagdflugzeugen bestückt. Und zwar nicht nur mit der Standard-Exportvariante Su-30MK, von der China bereits 40 Stück erworben hat und die es mit modernisierten Luft/Schiff-Raketen vom Typ Moskit ausrüsten möchte, sondern auch mit dem brandneuen, speziell für Schläge gegen Objekte über und unter Wasser optimierten Multifunktionsflieger Su-32-FN.26Die Probleme, die es mit der Luhai/Luhu-Klasse hat, scheint Peking durch den Ankauf russischer Zerstörer der Sowremenny-Klasse aus der Welt schaffen zu wollen. Insbesondere die 8 SS-N-22 Moskit-Schiffabwehr-Raketen, die zur Grundausstattung jedes Sowremenny-Zerstörers gehören, werden Chinas Hochseefähigkeit grundlegend verbessern. Mit einer Geschwindigkeit von Mach 3 und einer effektiven Reichweite von 250 km dürfte die SS-N-22 die effektivste Schiffabwehr-Rakete der Gegenwart sein. Zwei Sowremenny-Zerstörer hat China bereits gekauft und erhalten. Ebenso 48 SS-N-22. Über den Erwerb zweier weiterer Schiffe wird gegenwärtig verhandelt.27Deutliches Indiz für die Unzufriedenheit der chinesischen Seestreitkräfte mit den Booten der Wuhai/Song-Klasse ist die Entscheidung Pekings, vier russische Kilo-Boote zu kaufen: zwei Boote des Projekts 877, dessen Produktion inzwischen eingestellt wurde, sowie 2 Boote des Nachfolgeprojekts 636, das insbesondere für seine Lautlosigkeit geschätzt bzw. gefürchtet wird.28 Am liebsten würde China Projekt 877 in Lizenz nachbauen, begnügt sich aber gegenwärtig mit Verhandlungen über den Ankauf weiterer Boote.29

In dem Maße, wie China die bei der Modernisierung auftretenden technologischen Probleme durch den Ankauf komplexer ausländischer Rüstungsgüter löst, schiebt sich ein weiteres Problem in den Vordergrund, das bisher nur sehr ungenügend Beachtung gefunden hat, das Problem der Integration verschiedener Waffensysteme in ein Megasystem. Spätestens hier wird deutlich, wie gewaltig die Diskrepanz zwischen strategischer Absicht und technologischem Vermögen Pekings eigentlich ist.

Marlies Linke ist China-Wissenschaftlerin und arbeitet als freiberufliche China-Analystin und Übersetzerin

Anmerkungen

1) June Teufel Dreyer: State of the Field Report, Research on the Chinese Military, The National Bureau of Asian Research, 1997, http://www.accessasia.org/products/aareview/vol1No1/Article1.htm, p. 4.

2) Jiang Siyi: Guofang jianshe he jundui jianshe zhidao sixiang zhanlüexing zhuanbian (Der strategische Wandel der Leitgedanken zu Aufbau von Verteidigung und Armee), in Jiang Siyi u.a. (Hrsg.): Zhongguo renmin jiefangjun dashidian, xiace (Wörterbuch großer Ereignisse der Volksbefreiungsarmee, Band 2), Tianjin, Tianjin renmin chubanshe, 1992, zit. nach: Nan Li: The PLA´s Evolving Warfighting Doctrine, Strategy and Tactics, 1985-1995: A Chinese Perspective, in: China quarterly, June 1996, p. 446.

3) Nan Li: The PLA´s Evolving Warfighting Doctrine, Strategy and Tactics, 1985-1995: A Chinese Perspective, in: China quarterly, June 1996, p. 446.

4) June Teufel Dreyer: s. o., p. 6.

5) Nan Li: From Revolutionary Internationalism to Conservative Nationalism. The Chinese Military´s Discourse on National Security and Identity in the Post-Mao Era, Peaceworks, No. 39, US Institute of Peace, Washington, 2001, pp. 22-27.

6) Der Wechsel zur Doktrin des »lokalen Krieges« schlug sich unmittelbar u.a. in einer wesentlichen Reduzierung der Truppenstärke der VBA nieder. Marine und Luftstreitkräfte waren davon mit einer Kürzung um je ca. 25 % ihres Personalbestandes weniger betroffen waren als die Bodentruppen, die etwa 70 % der Kürzungen erbrachten. http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/overview.htm, 10.08.2001; Arthur S. Ding: The Streamlining of the PLA, Issues and Studies (November 1992), p. 90.

7) Ni Weidou/Nien Dak Sze: Energy Supply and Development in China, in: McElroy, Michael B./Nielsen, Chris P./Lydon, Peter: Energizing China. Reconciling Environmental Protection and Economic Growth, HUP, 1998, p. 85.

8) Chinas Bevölkerung soll bis zum Jahr 2030 auf ca. 1,6 Mrd. Menschen anwachsen, die Nachfrage nach Getreide steigt damit um 47 % auf 720 Mio t. International Herald Tribune, June 09/10, 2001.

9) JZM rief 1995 dazu auf, die Marine sollte die Verantwortung für das Vorantreiben der Wiedervereinigung des Vaterlandes übernehmen. Kondrapalli, Srikanth: China´s Naval Strategy, IDSA, p. 4.

10) Siehe dazu Valencia, Mark J.: China and the South China Sea, Adelphi Paper 298, London, IISS, October 1995.

11) Xiao Jun: Zhongdian yu junheng: Lin Zhiye shaojiang dui Zhongguo haijun jianshe de tantao (Balance und Priorität: Konteradmiral Lin Zhiyes Studie zur grundlegenden Politik des Aufbaus der Marine), in: Jianchuan Zhishi (Marine und Handelsschiffe) Nr. 11, 1989 zit. nach: Kondrapalli, Srikanth: China´s Naval Strategy, in: Strategic Analysis 3/2000, vol XXIII, no. 12, p. 5, aus: http://www.idsa-india.org/an-mar00-3.htm

12) Singh, Swaran: Continuity and Change in China´s Maritime Strategy, in: Strategic Analysis 12/1999, vol. XXIII, no. 9, p. 5, http://wwww.idsa-india.org/an-dec9-6.htm.

13) Kondrapalli, Srikanth: China´s Naval Strategy, in: Strategic Analysis 3/2000, vol. XXIII, no. 12, p. 2, aus: http://www.idsa-india.org/an-mar00-3.htm.

14) So Jiang Zemin während der Marine-Manöver im Herbst 1995. Liaowang, no. 45, 06.11.1995, S. 6/7.

15) http://www.idsa-india.org/an-man00-3.htm p. 3, 09.08.2001.

16) Siehe Ausführungen des Direktors der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Marine-Forschungsinstituts Peking, Marinekapitän Shen Zhongchang, und seiner Mitarbeiter zu Entwicklungstrends maritimer Kriegsführung im 21. Jahrhundert in: http://www.fas.org/nuke/guide/china/doktrine/chinview/chinapt4.htm , p.8-19, 10.08.2001.

17) ebenda.

18) ebenda.

19) http://www.taiwansecurity.org/AFP/AFP-01122000-Aircraft-Carrier.htm

20) http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/plan/luhai.htm

21) ebenda.

22) http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/plan/jiangwei.htm.

23) http://www.fas.org/nuke/guide/china/slbm/type_94.htm

24) http://www.fas.org/nuke/guide/china/slbm/type_93.htm

25) http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/plan/song.htm

26) Nesawisimaja Gaseta. Moskwa 15.3.2000.

27) http://www.taiwansecurity.org/News/WT-071200.htm.

28) ITAR-TASS. Moskwa 16.10.1997.

29) http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/plan/kilo.htm.

Peter Linke ist Japan-Wissenschaftler und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Manfred Müller

US-Streitkräftereform und Infowar

US-Streitkräftereform und Infowar

Bushs Neudefinition des Krieges

von Dirk Eckert

Die militärische Dominanz ergänzen durch die Unverwundbarkeit des eigenen Territoriums, deshalb mehr Mittel für das Militär. Das gehörte zur Wahlkampfrhetorik des George W. Bush. Ein halbes Jahr später ist selbst manch verbündeter Politiker erschrocken darüber, wie Bush als Präsident ohne Rücksicht auf internationale Verträge, ohne Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen anderer Länder – auch der NATO-Verbündeten – eine Politik der Hochrüstung forciert. Im Anknüpfen an Reagans Pläne der Weltraummilitarisierung, den Plänen für eine National Missile Defense, NMD, wird das besonders deutlich. Doch während NMD in die Schlagzeilen kommt, bleibt ein anderer Bereich unterbelichtet: die Streitkräftereform, die die US-amerikanischen Truppen für den Informationskrieg fit machen soll. Georg W. Bush kann auch hier, wie bei NMD, auf Planungen der Clinton-Administration zurückgreifen.
Bei seinem Besuch auf dem Marinefliegerhorst Norfolk im Februar kündigte George W. Bush eine „umfassende Überprüfung des amerikanischen Militärs, unserer Strategie, der Struktur unserer Streitkräfte und ihrer Haushaltsansprüche“ an.1 Besondere Bedeutung maß der US-amerikanische Präsident dabei den technologischen Veränderungen zu: „Wir sind Zeugen einer Revolution in der Kriegstechnologie, in der Mächte zunehmend nicht mehr über ihre Größe, sondern ihre Mobilität und Schnelligkeit definiert werden. Immer häufiger entstehen Vorteile durch Informationen wie die dreidimensionalen Bilder eines simulierten Kampfes, die ich gerade gesehen habe.“ Und weiter: „Sicherheit gewinnt man durch List und Stärke, die über den langgestreckten Bogen präzisionsgesteuerter Waffen projiziert wird. Die beste Art und Weise, den Frieden zu wahren, ist, den Krieg zu unseren Bedingungen neu zu definieren.“2

Damit spielte Bush auf das an, was als Informationskrieg seit einigen Jahren durch die Planungspapiere des US-Militärs wie durch die Presse spukt.3 Inzwischen hat das Pentagon einige Strategiepapiere und Handbücher herausgebracht, in denen die neue Form der amerikanischen Kriegführung skizziert wird. Zusätzlich wurden diverse Forschungseinrichtungen gegründet und einzelne Truppenteile wurden zu »Cyber Warriors« umgerüstet, die auf dem digitalen Schlachtfeld4 der Zukunft siegreich sein sollen.

Die Zauberworte des Krieges der Zukunft lauten Informationskriegführung und Informationsoperationen. „Wenn wir eine Situation herbeiführen können, in der der Feind sich widersprechende Befehle erteilt, bis seine Truppen völlig verwirrt sind, und wir dann nur noch auf das Schlachtfeld gehen müssen und aufräumen, dann ist das eine effektive Informationsoperation“, so Michael L. Warsocki vom U.S. Army Land Information Warfare Center.5

Joseph S. Nye und William A. Owens schreiben in der US-amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs über die Bedeutung dieser Strategie6: Eine der Fähigkeiten der Vereinigten Staaten, die sie vor manch anderen Staaten auszeichnet sei die Fähigkeit, Informationen zu sammeln, zu verarbeiten, auf ihrer Grundlage zu handeln und sie weiter zu verbreiten. Dieser Informationsvorteil könne helfen, gegen traditionelle militärische Bedrohungen eine Abschreckung zu relativ niedrigen Kosten aufzubauen und die Führung in Allianzen oder ad-hoc-Koalitionen zu sichern. Nye/Owens weiter: „So wie früher die nukleare Dominanz der Schlüssel zur Führung in Koalitionen war, so wird Informationsdominanz der Schlüssel im Informationszeitalter sein.“7

Dabei handelt es sich bei Information Warfare weder um eine „abstrakte Neuerfindung“, noch um eine „neue Bezeichnung bekannter militärischer Operationsformen“.8 Vielmehr ist Information Warfare die schrittweise Weiterentwicklung und Neuordnung militärischer Operationsformen, die auf der Adaption neuer technischer Mittel beruht, wie Bernhardt/Ruhmann schreiben.9 „Auf strategischer Ebene spielt Information Warfare bei den Überlegungen eine Rolle, dass sich die geopolitischen Interessen der USA nicht mehr allein mit ihrem atomaren Drohpotenzial durchsetzen lassen und herkömmliche Rüstungsprogramme und Allianzen nicht länger die gewünschten Ergebnisse garantieren.“10

Planung und Durchführung

Mit der »Joint Vision 2010« legten die Vereinten Stabschefs der US-amerikanischen Streitkräfte 1996 das zentrale Planungspapier für die Kriegführung im 21. Jahrhundert vor. Mit bekannten Bedrohungsszenarien, in denen Cyberterroristen die US-amerikanische Infrastruktur lahm legen oder die Kurse an der Wallstreet manipulieren, hat diese »Joint Vision 2010«, die inzwischen als »Joint Vision 2020« neu aufgelegt wurde, wenig zu tun. Vielmehr geht es in dieser Vision darum darzustellen, wie die US-Streitkräfte in der Zukunft kämpfen werden. Die Vorlage wurde in mehreren Doktrinen und Handbüchern konkretisiert, damit verfügt das amerikanische Militär inzwischen über einen umfangreichen Schriftsatz zu Themen wie Psychologischer Kriegführung, Elektronischer Kriegführung oder Informationsoperationen.

Die neue Art der Kriegführung wird in der »Joint Vision 2010« aus der Beschaffenheit des strategischen Umfeldes abgeleitet. Von der Friedensmission bis zum Kampfeinsatz – allein, mit Bündnispartnern oder in ad-hoc-Koalitionen –, in allen Einsätzen sollen die US-Truppen siegreich sein. Konsequent wird in der Planung getrennt zwischen offensiver Informationskriegführung und ihrer defensiven Variante. Letztere wird nicht etwa als Verteidigung vor eventuell auftretenden Bedrohungen bestimmt, sondern in Abhängigkeit von offensiver Informationskriegführung definiert: Sie ist notwendig, um sich bei offensiven Informationsoperationen vor Gegenangriffen zu schützen.

Spätestens mit dem Golfkrieg 1991 wurden die Veränderungen in der Art der Kriegführung augenfällig. „Irak hat den Krieg verloren, bevor er überhaupt begann. Es war ein Krieg von Aufklärung, »Electronic Warfare«, »Command and Control« und Spionageabwehr. Irakische Truppen wurden geblendet und taub gemacht (…) Moderner Krieg kann durch Informatika gewonnen werden“, hieß es 1998 in der »Joint Doctrine for Information Warfare«, eine der Doktrinen, mit der die »Joint Vision 2010« auf operativer Ebene umgesetzt wird.11

Der Kosovokrieg schließlich hat es der NATO ermöglicht, das ganze Arsenal von Informationsoperations-Waffen einzusetzen. Das ist jedenfalls die Ansicht von William Church, Direktor des Centre for Infrastructural Warfare Studies. Besondere Bedeutung hat für Church, dass im Kosovo Waffen auf die Informationsinfrastruktur gerichtet wurden, „um den Entscheidungsprozess von Regierung und Zivilbevölkerung zu beeinflussen.“12

Als Beispiele nennt er den Einsatz von Graphitbomben gegen Elektrizitätswerke, um die jugoslawische Regierung unter Druck zu setzen, sowie das Hacken von geheimen Systemen der Luftabwehr, um deren Leistungsfähigkeit zu mindern.13 Beide Seiten hätten zudem eine umfangreiche psychologische Kampagne geführt. So habe etwa die NATO Flugblätter verteilt und die jugoslawische Bevölkerung vor einer angeblichen Offensive am Boden gewarnt. Hinzu käme das Hacken von Webseiten mit minderer strategischer Bedeutung. Alles in allem habe der NATO-Krieg gegen Jugoslawien gezeigt, dass Informationsoperationen effektiv seien und daher ausgedehnt werden könnten.Churchs Prognose: „Nicht-NATO-Staaten werden defensive und offensive Fähigkeit aufbauen, und die NATO wird die Entwicklung vorantreiben, um auf diesem Gebiet führend zu bleiben.“

Lässt sich Informationskriegführung mit dem Völkerrecht vereinbaren? Um diese Frage zu klären ließ das Pentagon eine Studie erstellen, die im April 1999, während des Krieges gegen Jugoslawien, unter dem Titel »An Assessment of International Legal Issues In Information Operations« erschien und bereits ein halbes Jahr später eine Neuauflage erfuhr.14 1998 hatten die Vereinigten Staaten einen Vorstoß Russlands bei den Vereinten Nationen abgeblockt, ein Abkommen zum Verbot von Entwicklung, Produktion und Gebrauch besonders gefährlicher Informationswaffen auszuarbeiten. Doch schon die Definition dieser Waffen erschien den USA unmöglich. Gleichzeitig gaben sie damals vor es gebe Dringenderes, etwa den Schutz von Informationssystemen vor Kriminellen und Terroristen.15

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die bisherigen Prinzipien des Kriegsrechtes auch auf »Information Operations« anwendbar sind. Schwieriger sei es mit »Information Operations« bzw. Computer-Netzwerk-Attacken in Friedenszeiten. „Es ist alles andere als klar, inwieweit die Weltgemeinschaft Computer-Netzwerk-Attacken als »bewaffnete Angriffe« oder »Einsatz von Gewalt« betrachten, und wie die Doktrinen der Selbstverteidigung und Gegenmaßnahmen auf Computer-Netzwerk-Attacken angewandt werden.“16 Die Studie erwartet, dass durch Computer-Netzwerk-Attacken angegriffene Staaten sich verteidigen dürfen. Unter Umständendürften auch traditionelle militärische Mittel als Selbstverteidigung gegen Computer-Netzwerk-Attacken als gerechtfertigt erachtet werden.17 Schließlich macht die Studie drauf aufmerksam, dass die Handlungen von Staaten die Entwicklungen eines neuen Rechts beeinflussen. Insofern müssten sich die Regierenden in Washington auch der diesbezüglichen Implikationen ihrer eigenen Handlungen bewusst sein.

Bush im Cyberspace

Drei Tendenzen der Politik der Bush-Regierung lassen sich bereits jetzt ausmachen: Erstens wird die Streitkräftereform vorangetrieben, um die US-amerikanischen Truppen der Vision der Stabschefs näher zu bringen. Zweitens rückt im Zuge des geplanten Aufbaus des Raketenabwehrsystems der Weltraum ins Zentrum strategischer Planung. Hier schließt sich der Kreis zur Informationskriegführung: Die USA sind nicht zuletzt führend auf diesem Gebiet wegen ihrer Satelliten, die ständig neue Überwachungsdaten liefern – und das weltweit. Drittens wird der Schutz der Infrastruktur in Zusammenarbeit mit der Industrie organisiert und ist nicht etwa alleinige Domäne des Militärs.

Bush skizziert die Richtung wie folgt: „Am Boden werden unsere Panzertruppen leichter und unsere leichte Infanterie tödlicher sein. Alle werden einfacher zu stationieren und zu unterhalten sein. In der Luft werden wir punktgenau angreifen, sowohl mit Flugzeugen als auch unbemannten Systemen. Auf dem Meer werden wir Informationen und Waffen neuartig miteinander verbinden und so unsere Fähigkeit, Macht über Land zu projizieren, maximieren. Im Weltall werden wir das für den reibungslosen Ablauf unseres Handels und die Verteidigung unserer Interessen wesentliche Satellitennetzwerk schützen.“18

„Dominanz (…) von Stammeskriegen bis zum Informationskrieg, von Raketen bis zu Biowaffen“, ist das Ziel von Andrew Marshall, Chef im Planungsstab des Pentagon.19 Marshall hat seine Arbeit bereits unter Clinton begonnen. Jetzt beginnt sie Früchte zu tragen: Eine „neue Strategie der Beherrschung eines jeden Konflikts mit begrenzten, aber flexibel einsetzbaren Mitteln fortgeschrittener Technologie“, wird das Resultat sein, so die Ansicht von Lothar Rühl, ehemaliger Staatsekretär im bundesdeutschen Verteidigungsministerium.20

Die Informationsdominanz erlaubt dem Militär Einsätze, die Lothar Rühl wie folgt beschreibt: „Kleinere Kampfgruppen mit leichterer Ausrüstung, aber optimierten Präzisionswaffen, hoher Zielwirkung und einer Elektronikunterstützung, die den Waffeneinsatz nicht nur punktzielgenau, sondern auch zeitnah zur Zielaufklärung und seine Schadenswirkung schnell überprüfbar macht, sollen den amerikanischen Streitkräften die lang gesuchte, aber nie erreichte weltweite Beweglichkeit und Einsatzflexibilität mit einem breiten Fächer situationsgerechter operativ-taktischer Optionen geben.“

Als Donald H. Rumsfeld am 28. Dezember 2000 der Öffentlichkeit als zukünftiger Verteidigungsminister vorgestellt wurde, nannte er die Informationskriegführung eine der Bedrohungen der Zukunft.21 Auf der Münchner Wehrkundetagung, die sich jetzt Sicherheitskonferenz nennt, erklärte er als neuer US-Verteidigungsminister Anfang des Jahres: „Heute sind wir gegenüber der Bedrohung eines massiven Atomkriegs sicherer als zu jedem anderen Zeitpunkt seit dem Anbruch des Atomzeitalters – aber wir sind heute verwundbarer durch die Kofferbombe, den Cyberterroristen, die rohe und zufällige Gewalt eines verbrecherischen Regimes oder eines mit Raketen und Massenvernichtungswaffen ausgerüsteten Schurkenstaats. Diese sogenannte Welt nach dem Kalten Krieg ist eine integriertere Welt. Folglich sind Waffen und Technologien, die einst nur in wenigen Ländern vorhanden waren, jetzt überall zugänglich.“22

Konkrete Bedrohungen kann aber bisher niemand nachweisen, deshalb müssen alte und neue Feindbilder herhalten, von Fidel Castro bis Osama bin Laden. So erklärte Tom Wilson, Chef der »Defense Intelligence Agency«, bei einer öffentlichen Anhörung im Februar 2001 vor dem »Senate Intelligence Committee«, dass die Gefahr bestünde, dass Kuba Informationskriegführung oder eine Computer-Netzwerk-Attacke gegen die USA durchführe. Konkretes konnte er auch auf Nachfrage nicht vorlegen, versicherte dem fragenden Senator aber: „Kuba ist… keine starke konventionelle militärische Bedrohung. Aber seine Fähigkeit zu trickreichen asymmetrischen Taktiken gegen unsere militärische Übermacht könnte bedeutsam sein. Sie haben einen starken Geheimdienstapparat, einen guten Sicherheitsdienst und das Potenzial, unser Militär durch asymmetrische Taktiken zu stören.“23

Aufsehen sorgte dieses Jahr eine Ankündigung von James Adams, Berater des Geheimdienstes NSA, gegenüber dem Handelsblatt, nachdem die USA den Aufbau eines Abwehrsystems planten, um ihre Computernetzwerke, seien sie staatlich oder privat, vor Angriffen zu schützen. „Das Projekt ist in seiner sicherheitsrelevanten und finanziellen Dimension mit dem NMD zu vergleichen“, so Adams unter Anspielung auf die geplante Raketenabwehr, National Missile Defense (NMD).24 Und Adams weiter: „Wenn ein Staat unsere Wasserversorgung mit einer Cyber-Attacke unterbricht, müssen wir im Stande sein, seine Stromversorgung oder sein Bankensystem lahm zulegen.“

Die geschätzten Kosten von 50 Mrd. Dollar, von denen das Handelsblatt unter Berufung auf US-amerikanische Regierungskreise berichtet, sind bisher allerdings offiziell nicht bestätigt. Zudem gibt es in Fachkreisen einige Bedenken gegen die Machbarkeit einer virtuellen Abwehr.25 Nicht zu vergessen: Im »National Plan for Information Systems Protection« aus dem Jahre 2000 hatte die Clinton-Regierung betont: „Die Bundesregierung kann die kritische Infrastruktur der USA nicht alleine schützen.“26 „Die Regierung schützt sich nur noch selbst“, kommentierte Ralf Bendrath treffend.27 So würde ein virtuelles NMD dem Militär einen Kompetenzzuwachs bringen, da es zur Zeit nur mit dem Schutz der eigenen, militärischen Infrastruktur beschäftigt ist.

Dafür, dass die Bush-Administration weiter auf eine Zusammenarbeit von Staat und Industrie setzt, spricht eine Stellungnahme des Weißen Hauses, nach der – gemeinsam mit der Industrie – eine neue Version des Nationalen Plans für Sicherheit im Cyberspace und zum Schutz kritischer Infrastruktur erarbeitet werden soll.28 Auch eine Äußerung von Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice weist in diese Richtung.29 Da nahezu jeder Wirtschaftszweig von funktionierenden Computern abhängig sei, sei der Schutz der kritischen Infrastruktur ein Schlüsselthema für den Nationalen Sicherheitsrat, versicherte sie vor dem Internet Security Policy Forum II in Washington Ende März. Sie setzt weiterhin auf die Zusammenarbeit zwischen Staat und Industrie, die sie als „ohne Beispiel in unserer Geschichte“ bezeichnete.

Weitere Informationen zum Thema im Internet:

Special der Online-Zeitung Telepolis: http://www.telepolis.de/deutsch/special/info/

Deutsche Mailingsliste Infowar: http://userpage.fu-berlin.de/~bendrath/liste.html

Information Warfare-Seite der Federation of American Scientists (FAS), mit vielen Links: www.fas.org/irp/wwwinfo.html

Anmerkungen

1) George W. Bush: NATO, Solange wir zusammenstehen, wird die Macht immer auf der Seite von Frieden und Freiheit sein. Rede von Präsident Bush am 13. Februar 2001 im Marinefliegerhorst Norfolk, USINFO-DE.

2) George W. Bush: NATO, a. a. O.

3) Vgl. bspw. Ralf Bendrath: Postmoderne Kriegsdiskurse. Die Informationsrevolution und ihre Rezeption im strategischen Denken der USA, in: telepolis, 13.12.1999, http://www.heise.de/tp/deutsch/special/info/6562/1.html

4) Vgl. Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann: Der digitale Feldherrnhügel. Military Systems: Informationstechnik für Führung und Kontrolle, in: Wissenschaft und Frieden, Dossier 24, 1997.

5) In: Thomas E. Copeland (Hrsg.), The Information Revolution And National Security, August 2000, http://carlisle-www.army.mil/usassi/ssipubs/pubs2000/inforev/inforev.htm

6) Joseph E. Nye/ William A. Owens: America’s Information Edge, in: Foreign Affairs, März/April 1996, S. 20-36.

7) Nye/Owens: America’s Information Edge, a.a.O., hier S. 20.

8) Vgl. Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann: Vom Cyberwar zur digitalen Entspannungspolitik, in: WechselWirkung, Mai/Juni 2001, S. 36-43, hier S. 39.

9) Vgl. Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann: Vom Cyberwar zur digitalen Entspannungspolitik, a.a.O. , hier S. 39.

10) Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann: Vom Cyberwar zur digitalen Entspannungspolitik, a.a.O., S. 39.

11) Lieutenant General S. Bogdanov, Chief of the General Staff Center for Operational and Strategic Studies, Oktober 1991, in: Joint Doctrine for Information Operations, Joint Pub 3-13, 9.10.1998, http://www.dtic.mil/doctrine/jel/c_pubs2.htm, S. II-15.

12) Vgl. William Church: Kosovo and the Future of Information Operations, http://www.infowar.com/info_ops/treatystudyio.shtml

13) Church beruft sich dabei auf ranghöhere Air Force-Beamte.

14) Department of Defense (Office of General Counsel), An Assessment of International Legal Issues In Information Operations, April 1999, http://www.infowar.com/info_ops/info_ops_061599a_j.shtml

15) Vgl. Department of Defense, An Assessment of International Legal Issues In Information Operations, a.a.O.

16) Vgl. Department of Defense, An Assessment of International Legal Issues In Information Operations, a.a.O.

17) Die USA berufen sich nach Art. 51 UN-Charta auf das Recht auf Selbstverteidigung „im Falle eines bewaffneten Angriffs“, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“ (UN-Charta Art.51). Als Beispiele aus jüngster Zeit, bei denen die USA das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nahmen, nennt die Studie: Die Bombardierung von Libyen 1986, die Angriffe auf Irak 1993 (nachdem Attentatspläne auf den früheren Präsidenten Bush bekannt geworden waren), die Angriffe auf eine sudanesische Fabrik und ein Trainingslager in Afghanistan 1998.

18) George W. Bush: NATO, a.a.O.

19) So die Charakterisierung von Michael Stürmer in der Welt, 28.3.2001.

20) Lothar Rühl: Zurück zu interkontinentalen Reichweiten? Das Pentagon öffnet die Perspektiven einer neuen Globalstrategie, in: FAZ, 3.5.2001. Vgl. auch Bernhardt, Ute/Ruhmann, Ingo, Der digitale Feldherrnhügel. Military Systems: Informationstechnik für Führung und Kontrolle, in: Wissenschaft und Frieden, Dossier 24, 1997.

21) The 43rd President; Comments by Bush and Rumsfeld on Selection for the Secretary of Defense, in: New York Times, 29.12.2000.

22) Donald H. Rumsfeld: Raketenabwehrsystem soll Bevölkerung und Streitkräfte vor begrenztem Angriff mit ballistischen Raketen schützen, Rede des US-Verteidigungsministers bei der Münchner Konferenz zur Sicherheitspolitik vom 3. Februar 2001, in: USINFO-DE.

23) Declan McCullagh: Feds Say Fidel Is Hacker Threat, in: Wired News, 9.2.2001, http://www.wired.com/news/politics/0,1283,41700,00.html

24) Burkhard Ewert/Peter Littger, USA bauen Internet-Schutzschild auf, in: Handelsblatt, 4.3.2001.

25) Vgl. Ralf Bendrath: Homeland Defense, virtuelle Raketenabwehr – und das schnöde Ende einer Medienhysterie. Die neue US-Regierung auf der Suche nach einer Cyber-Sicherheitspolitik – und die Medien auf der Suche nach einer Story, in: telepolis 28.3.2001, http://www.telepolis.de/deutsch/special/info/7234/1.html. Dort findet sich eine sehr detaillierte Darstellung des derzeitigen Standes der Cyber-Politik der Bush-Administration.

26) Zit. n. Ralf Bendrath: Elektronisches Pearl Harbor oder Cyberkriminalität? Die Reformulierung der Sicherheitspolitik im Zeitalter globaler Datennetze, in: S+F. Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, 2/2000, Manuskript, http://userpage.fu-berlin.de/~bendrath/SuF_2000.rtf

27) Bendrath: Elektronisches Pearl Harbor oder Cyberkriminalität?, a.a.O.

28) Vgl. White House Statement on the Review of Critical Infrastructure Protection and Cyber Security, 9.2.2001.

29) Vgl. Kevin Poulsen: Hack attacks called the new Cold War, in: The Register, 23.3.2001, http://www.theregister.co.uk/content/8/17820.html

Dirk Eckert studiert Politikwissenschaft und ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI).

Die russische Militärreform

Die russische Militärreform

von Karl Harms

Die Notwendigkeit einer Reformierung des gigantischen russischen Militärapparats wurde bereits zu tiefsten Sowjetzeiten erkannt, seit dem Beginn der Perestroika heftig diskutiert, dann aber auf Grund der chaotischen Zustände im Lande und eines sich rasch verändernden politischen Umfelds – mehr von der Not getrieben, als von einem klaren Konzept – mal zögerlich, mal sprunghaft in die Tat umgesetzt. Der Hauptwiderspruch aller Reformbemühungen besteht von Anfang an in der Tatsache, dass sich Russland keine Riesenarmee mehr leisten will, dem Staat aber die Mittel für eine ausgewogene und planvolle Reform fehlen.

Bei einer näheren Betrachtung des bisherigen Verlaufs der russischen Militärreform lassen sich in etwa folgende Etappen feststellen:

  • Die erste Etappe begann ungefähr 1987 (Beginn der öffentlichen Diskussion über eine Militärreform). Die Anfänge der Reform erlitten schon bald schwere Rückschläge durch die Auflösung des Warschauer Vertrages, den unvorbereiteten Rückzug der Sowjetarmee aus den osteuropäischen Staaten, den Zerfall der Sowjetunion u.a.m. Diese Etappe kann als die Etappe des chaotischen Niedergangs der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie bezeichnet werden.
  • Die zweite Etappe begann 1997, dem Jahr, in dem der neu gebildete Verteidigungsrat schmerzhafte Rahmenbedingungen für die Reform festlegte, die nicht von Wunschträumen, sondern von dem tatsächlichen Zustand der Wirtschaft und der Staatsfinanzen ausgingen. Diese Etappe kann man als den Versuch werten, Ordnung in den chaotischen Niedergang zu bringen, wenige machbare Reformschwerpunkte zu bestimmen und auch durchzusetzen.
  • Eine dritte Etappe könnte durch die im Januar 2000 veröffentlichte neue »Konzeption der nationalen Sicherheit der russischen Föderation« begonnen haben. Unter günstigen Voraussetzungen, d.h. klares Konzept, straffe Führung, minimale Erholung der Wirtschaft und der Staatsfinanzen, wäre das die Etappe der Stabilisierung. Nach vorsichtigen Schätzungen könnte diese Etappe vier bis sechs Jahre dauern bevor ein behutsames, vor allem qualitatives Anwachsen des russischen Militärpotenzials beginnen würde und die Streitkräfte mit einem klaren Auftrag sowie einer gefestigten Struktur den ihnen vom Staat zugewiesenen Platz in der Gesellschaft einnehmen könnten.

Es würde über den Rahmen eines Artikels weit hinausgehen, wollte man den bisherigen Verlauf der russischen Militärreform mit allen Widrigkeiten und Konflikten objektiver und subjektiver Art beschreiben wollen. Deshalb werden im weiteren nur die entscheidenden, wirklich tragenden Ergebnisse der bisherigen Reformbemühungen dargelegt.

Eine veränderte Grundstruktur der Streitkräfte

Die Sowjetarmee bestand aus folgenden Teilstreitkräften: Landstreitkräfte, Seestreitkräfte, Luftstreitkräfte, Truppen der Luftverteidigung des Landes und Raketentruppen strategischer Bestimmung.1 Darüber hinaus unterstanden dem Verteidigungsminister direkt die Luftlandetruppen und die Kosmischen Streitkräfte, die nicht als Teilstreitkräfte bezeichnet wurden.

Im Rahmen der unabdingbaren quantitativen Kürzungen in allen Teilstreitkräften ergab sich die Notwendigkeit einer Vereinfachung der Führungsstrukturen, der Überwindung jeglicher strukturellen Doppelgleisigkeit und einer Straffung bzw. Streichung von Organen und Truppenteilen der Sicherstellung. Das führte zu folgenden Veränderungen:

  • Den Raketentruppen Strategischer Bestimmung wurden die bis dahin selbstständigen Kosmischen Streitkräfte unterstellt. Die Waffengattung »Raketenabwehr« wurde aus der Teilstreitkraft Truppen der Luftverteidigung des Landes herausgelöst und ebenfalls den Raketentruppen strategischer Bestimmung unterstellt.
  • Die Truppen der Luftverteidigung (LV) des Landes und die Luftstreitkräfte (LSK) wurden zu einer Teilstreitkraft unter der Bezeichnung »Luftstreitkräfte« zusammengefasst. Abgeschlossen ist die Bildung von Luftarmeen des Oberkommandos, und zwar einer Luftarmee strategischer Bestimmung und einer Luftarmee der Transportfliegerkräfte (jeweils ausgestattet mit Flugzeugen großer Reichweite). Neu gegliedert wurden die Kräfte und Mittel der LV. Sie umfassen nunmehr einen Bezirk der LSK/LV in der westlichen strategischen Richtung, vier Armeen der LSK/LV und ein selbstständiges Korps der LSK/LV im Raum Ural.
  • Der Hauptstab der Landstreitkräfte wurde aufgelöst. Es verblieben lediglich zwei Hauptverwaltungen, die im Verteidigungsministerium eingerichtet wurden. Ansonsten werden die Verbände der Landstreitkräfte direkt von den Chefs der jeweiligen Militärbezirke (MB) geführt.
  • In allen Teilstreitkräften wurde die Masse der nicht voll aufgefüllten Verbände und Truppenteile aufgelöst. Tausende hochqualifizierter Offiziere wurden ohne soziale Absicherung entlassen.
  • Die große Zahl militärischer Lehranstalten (16 Militärakademien, 2 Universitäten, einige Dutzend Offiziershochschulen), wissenschaftliche Forschungsinstitute (jede Teilstreitkraft hatte mindestens eins) und Erprobungszentren (Erprobung neuer Waffensysteme für die Truppenverwendung) wird reduziert und neu gegliedert.
  • Die dem Verteidigungsministerium direkt unterstehenden Bautruppen sowie eine Reihe von Einheiten und Einrichtungen der Rückwärtigen Dienste wurden aufgelöst.

1998 wandte sich der Verteidigungsminister (früher Chef der Strategischen Raketentruppen) an den russischen Präsidenten mit dem Vorschlag, auf der Basis der Strategischen Raketentruppen, die Teilstreitkraft Strategische Abschreckungskräfte (»Sily Strategitscheskogo Sdershiwanija« SSS) zu schaffen. Dazu sollten alle strategischen Kernwaffenträger aus dem Bestand der Luftstreitkräfte und der Seestreitkräfte den Raketentruppen strategischer Bestimmung operativ unterstellt werden; operativ heißt im Sinne der Einsatzplanung und Einsatzführung. Dieser Vorschlag wurde lange diskutiert und fand viele kritische Gegenstimmen vor allem aus den Hauptstäben der Luft- und Seestreitkräfte. Eine Entscheidung wurde vertagt.

Eine neue territoriale Gliederung

Auf dem Territorium der Russischen Föderation (RF) existierten bis vor einiger Zeit acht Militärbezirke und das Sondergebiet Kaliningrad. Sie wurden z.T. überlagert von dem Moskauer Luftverteidigungsbezirk, von sieben Bezirken der Truppen des Ministeriums des Innern, von sechs Bezirken der Grenztruppen und neun Regionalzentren des Ministeriums für Katastrophenschutz. Innerhalb der Grenzen einiger Militärbezirke befinden sich außerdem die Stationierungsräume der Flotten, und zwar der Baltischen Flotte, der Schwarzmeerflotte, der Nordmeerflotte, der Pazifikflotte und der Kaspischen Flotille.

Die Grundidee der neuen territorialen Gliederung der Streitkräfte ist aus den nachstehend genannten Maßnahmen erkennbar, die ab Juli 1998 in Angriff genommen wurden:

  • Die Anzahl der Militärbezirke wurde von acht auf sechs verringert. Als selbstständiges Gebilde bleibt das Kaliningrader Sondergebiet (siehe Abb. 1).
  • Die Grenzziehung der Militärbezirke und notwendige strukturelle Veränderungen wurden den entscheidenden strategischen Richtungen angepasst
    (siehe Abb. 2).
  • Die Führungsstäbe der Militärbezirke erhielten den Status operativ-strategischer Führungsstäbe. Alle militärischen oder paramilitärischen Truppenkörper in den Grenzen eines Militärbezirks sollen nunmehr der Kommandogewalt des Chefs des Militärbezirks unterstehen, und das unabhängig von ihrer strukturellen Zugehörigkeit.
  • Um die Spezifik verschiedener Teilstreitkräfte (z.B. Luftstreitkräfte) oder Unterstellungsverhältnisse (z.B. Truppen des Ministeriums des Innern) berücksichtigen zu können wurden drei Formen der Unterstellung unter die Befehlsgewalt des Chefs des MB festgelegt: die direkte Unterstellung, die operative Unterstellung und die Unterstellung in spezifischen Fragen.

Das Wehrersatzwesen

Eine der ersten – und in der damals noch sowjetischen Öffentlichkeit heiß diskutierten – Fragen einer künftigen Militärreform war das Problem der Auffüllung der Streitkräfte.

Die vorherrschende Meinung bestand darin, die Wehrpflicht abzuschaffen und zu einer Freiwilligen- bzw. Berufsarmee überzugehen. Man versprach sich angesichts einer immer anspruchsvolleren Kampftechnik eine höhere Qualifikation der Soldaten, eine verbesserte soziale Absicherung und vor allem auch eine neue Qualität der Disziplin und Ordnung. Auf Grund der z.T. katastrophalen Zustände in der Armee und der vielen gefallenen Wehrpflichtigen im Afghanistankrieg schrie die Öffentlichkeit förmlich nach radikalen Veränderungen. Heute, fast dreizehn Jahre nach Beginn der Militärreform, ist immer noch alles beim Alten. Die Kriminalitätsrate in der Armee ist ungewöhnlich hoch, die massenhafte Drangsalierung jüngerer Soldaten durch die schon länger dienenden ist erschrekkend, bei der Auswahl der Unteroffiziere herrscht das Prinzip der »negativen Auswahl« (Jugendliche aus ärmlichen Verhältnissen, die weniger Gebildeten, ohne Beruf usw.). Hauptgrund für die Stagnation auf diesem Gebiet auch hier – die fehlenden Mittel. Eine Berufs- oder Freiwilligenarmee ist teurer als eine Wehrpflichtarmee. Die einzige positive Veränderung der letzten Zeit besteht darin, dass auf Grund der erheblichen zahlenmäßigen Reduzierung der Streitkräfte die Anzahl der Wehrpflichtigen über dem Bedarf liegt. Die Armee ist dadurch in der Lage, eine gewisse positive Auswahl unter den Wehrpflichtigen vorzunehmen.

Sehr ernst ist die Lage in Bezug auf den Offiziersnachwuchs. Aus vielerlei Gründen hat der früher so geachtete Beruf des Offiziers an Attraktivität verloren. Es ist hier nicht der Platz, diese Gründe aufzulisten. Vielleicht genügt ein Beispiel. Allein 1996 haben ca. 500 Offiziere Selbstmord begangen weil sie ihre Situation als ausweglos empfanden oder weil sie sich vom Staat im Stich gelassen fühlten. Die Krise im Offiziersnachwuchs wird von den dafür zuständigen Personalchefs als besorgniserregend bezeichnet.

Der milit.-ind. Komplex (MIK)

Ganz am Beginn der Militärreform, d.h. Ende der Achtzigerjahre, wurde dieser Frage eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das hatte seine Gründe: Die überdimensionierte Rüstungsindustrie der Sowjetunion war gegenüber der übrigen Volkswirtschaft in jeder Hinsicht privilegiert. Sie hatte sich zu einem Staat im Staate entwickelt und übte einen bedeutenden Einfluss auch auf politische Entscheidungen aus. Andererseits verfügte sie über ein überragendes technisches und menschliches Potenzial, das man für Modernisierung anderer Zweige der Volkswirtschaft nutzen wollte. Einer der ersten damaligen Reformschritte bestand darin, den gebündelten Militäretat dem Verteidigungsministerium zuzuweisen, damit dieser gegenüber der Rüstungsindustrie als Auftraggeber auftreten konnte. Als nächste Schritte waren die Optimierung des Gesamtsystems und eine teilweise Konversion von Rüstungsbetrieben geplant. Diese gut gedachten Vorhaben scheiterten an dem weiteren Verlauf der innenpolitischen Veränderungen wie z.B. überhasteter Auflösung der staatlichen Plankommission und des zuständigen Ministeriums, Zusammenbruch bisheriger Absatzmärkte bzw. Auftraggeber, Inflation, steigender Staatsverschuldung, »Dollarisierung« der Volkswirtschaft.

Alle Probleme der russische Streitkräfte zusammengenommen erscheinen heute als unbedeutend gegenüber den Problemen der MIK. Einen letzten Versuch der Reformierung des MIK stellte das 1997 vom Wirtschaftsministerium erarbeitete Programm der Umstrukturierung und Konversion dar. Es gelang nicht, dieses Programm in der erforderlichen Breite und Abfolge zu realisieren. Eine Reihe geplanter Vorhaben entsprechen auch nicht mehr der sich veränderten Lage. Der MIK wird nicht mehr geführt, die noch vorhanden gewesenen geringen Chancen für seine Umgestaltung wurden verspielt. Einige Betriebe produzieren noch weil sie vom Rüstungsexport profitieren, andere führen ein kümmerliches Dasein auf der Basis geringfügiger Aufträge bzw. staatlicher Subventionen. Neue Militärtechnik wird in nur sehr geringer Zahl produziert. Sie basiert ausschließlich auf dem ehemals bedeutendem Entwicklungsvorlauf sowjetischer Konstruktionsbüros. Die Entwicklung von Militärtechnik der nächsten Generation stagniert. Kräfte und Mittel für die Erarbeitung eines neuen wissenschaftlich-technischen Vorlaufs können nicht bereitgestellt werden. Das Entscheidungsfeld für einen Ausweg aus dieser Misere ist bis aufs Äußerste eingeschränkt. Ein russischer Militärkommentator bemerkte dazu treffend: „Es gibt nur noch die Wahl zwischen den schlechten und den sehr schlechten Varianten.“2

Der Versuch eines Neubeginns

Am 10. Januar 2000 unterschrieb der amtierende russische Präsident Putin die Neufassung der Konzeption der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation. Es ist dies die dritte offizielle Variante in den letzten zwei Jahren (erste Konzeption im Dezember 1997, die zweite im Oktober 1999).

In ersten Kommentaren wird darauf verwiesen, dass nur ein enger Kreis von Spezialisten diese Konzeption in kürzester Zeit (im Verlauf von einem Monat und 18 Tagen) erarbeiten musste. Dabei handelt es sich um ein Staatsdokument, das als das zweitwichtigste nach der Verfassung der Russischen Föderation gesehen wird. Die dadurch unvermeidbaren theoretischen Schwächen dieses Dokuments werden nicht ohne Einfluss auf die Praxis der nationalen Sicherheit bleiben. Dennoch neigen russische Kommentatoren zu der Einschätzung, dass die Konzeption 2000 insgesamt einen Schritt nach vorn bedeutet.

Es ist wichtig zu wissen, dass im Oktober 1999 der Entwurf einer neuen Militärdoktrin zur Diskussion gestellt wurde. Einer der Gründe für die Eile bei der Erarbeitung der neuen Konzeption der nationalen Sicherheit der RF könnte der Wunsch des neuen Interimspräsidenten gewesen sein, der Diskussion um die Doktrin und damit auch um die künftigen Schwerpunkte der Militärreform ganz bestimmte Rahmenbedingungen vorzugeben.

Einleitend wird die Konzeption der nationalen Sicherheit als ein System von Ansichten zur Gewährleistung der Sicherheit der Persönlichkeit, der Gesellschaft und des Staates vor äußeren und inneren Bedrohungen definiert. Unter der nationalen Sicherheit wird die Sicherheit seines multinationalen Volkes als des Trägers der Souveränität und der einzigen Machtquelle verstanden.

Diese sehr breite Konzeptdefinition und der sehr allgemein gehaltene Sicherheitsbegriff führten m. E. dazu, dass eine Vielzahl von Sicherheitsrisiken und eine noch größere Anzahl von Aufgaben beschrieben werden mussten. Über weite Strecken beinhaltet die Konzeption eine wundersame Mischung ökonomischer, finanzpolitischer, wissenschaftlich-technischer, regionaler, ethnischer, ökologischer, sozialer und rein militärischer Probleme und Aufgaben. Sowjetische und russische Erfahrungen haben in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass ausufernde Dokumente – und mögen sie theoretisch noch so richtig gewesen sein – vom Staatsapparat und den Führungskräften nicht angenommen wurden. Nach den ersten Lippenbekenntnissen verstaubten sie.

Worin bestehen die wesentlichsten sicherheitspolitischen Aussagen der neuen Konzeption?

Im Kapitel 1, »Russland innerhalb der Weltgemeinschaft«, wird die Feststellung getroffen, dass sich nach dem Ende der bipolaren Konfrontation zwei Entwicklungstendenzen gegenüber stehen: Die erste als eine alle Bereiche (ökonomische, politische, wissenschaftlich-technische usw.) umfassende integrative Tendenz. Auf ihrer Grundlage wird Russland um die Herausbildung einer bipolaren Welt bemüht sein. Die zweite „äußert sich in dem Versuch der Schaffung einer solchen Struktur internationaler Beziehungen, die auf eine Dominanz der hochentwickelten westlichen Länder unter Führung der USA und auf eine einseitige vor allem militärische Lösung der Schlüsselfragen der Weltpolitik, unter Umgehung des Völkerrechts, hinausläuft.“

Im Kapitel 2, »Die nationalen Interessen der Russischen Föderation«, werden die Interessen Russlands im militärischen Bereich so formuliert: „Die nationalen Interessen Russlands im militärischen Bereich bestehen in der Verteidigung seiner Unabhängigkeit, der Souveränität, der staatlichen und territorialen Integrität, in der Verhinderung einer militärischen Aggression gegen Russland und seine Verbündeten, in der Gewährleistung von Bedingungen für eine friedliche, demokratische Entwicklung des Staates.“

Im Kapitel 3, »Bedrohungen der nationalen Sicherheit der RF«, wird zunächst den ökonomischen Faktoren, den separatistischen und nationalistischen Tendenzen, der unzureichenden Rechtsstaatlichkeit, der Kriminalität, dem Terrorismus und anderen zivil-gesellschaftlich relevanten Faktoren Aufmerksamkeit zuteil.

Bei der Darstellung der Bedrohungen im internationalen Bereich werden die folgenden »grundlegenden Bedrohungen« genannt:

  • „Das Bestreben einzelner Staaten … die Rolle bestehender Mechanismen zur Gewährleistung der internationalen Sicherheit, vor allem aber der UNO und der OSZE, herabzusetzen;
  • die Gefahr einer Schwächung des politischen, ökonomischen und militärischen Einflusses Russlands in der Welt;
  • die Festigung der militärisch-politischen Blöcke und Bündnisse, vor allem die Osterweiterung der NATO;
  • die Möglichkeit des Auftauchens ausländischer Militärbasen und großer militärischer Kontingente in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen;
  • die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln;
  • die Schwächung der Integrationsprozesse in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS);
  • das Entstehen und die Eskalation von Konflikten in der Nähe der Staatsgrenzen der RF und der äußeren Grenzen der GUS;
  • territoriale Ansprüche an die Russische Föderation.“

Nach der Aufzählung weiterer Bedrohungsfaktoren kommen die Autoren der Konzeption zu einer erstmalig in dieser Eindeutigkeit formulierten Aussage: „Das Niveau und die Maßstäbe der Bedrohung im militärischen Bereich wachsen an.“ Dem schließt sich die z.T. präzisierte Formulierung aus der Konzeption des Jahres 1999 an, die da lautet: „Der in den Rang einer strategischen Doktrin erhobene Übergang der NATO zur Praxis gewaltsamer (militärischer) Handlungen außerhalb des Verantwortungsbereiches des Blocks und ohne Sanktion des Sicherheitsrates der VN, birgt die Gefahr einer Destabilisierung der gesamten strategischen Weltlage in sich.“

Beachtenswert in diesem Kapitel erscheint ein Absatz, der die gegenwärtige Ausgangslage für die Fortsetzung der Militärreform darstellt. Seine kritischen Feststellungen lauten sinngemäß so: Die Reform militärischer Strukturen und der Verteidigungsindustrie haben sich über Gebühr verzögert. Hauptursachen dafür sind die unzureichende Finanzierung und Unzulänglichkeiten in der rechtlichen Basis. Die sich verstärkenden negativen Tendenzen zeigen sich vor allem in einem kritisch niedrigen Niveau der operativen- und Gefechtsausbildung, in einer unzulässigen Verringerung des Ausstattungsgrades mit modernen Waffen und modernem Gerät sowie in der äußersten Schärfe sozialer Probleme. Das alles führt zu einer Schwächung der militärischen Sicherheit der Russischen Föderation.

Das 4. Kapitel behandelt »Die Gewährleistung der nationalen Sicherheit der RF«. Auch hier finden die LeserInnen eine unendliche Aufzählung verschiedenster Aspekte für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit, die einen vorrangig deklarativen Charakter tragen. In dem eigentlich militärischen Teil dieses Kapitels erscheinen die folgenden Aussagen beachtenswert:

  • „Zur Verhinderung des Krieges und bewaffneter Konflikte bevorzugt die Russische Föderation politische, diplomatische, ökonomische und andere nichtmilitärische Mittel. Gleichwohl erfordern die nationalen Interessen das Vorhandensein einer für ihre Verteidigung ausreichenden Militärmacht.“
  • „Eine der wichtigsten Aufgaben der Russischen Föderation besteht in der Gewährleistung der Abschreckung im Interesse der Vorbeugung einer Aggression beliebigen Maßstabs, einschließlich einer Aggression unter Anwendung von Kernwaffen gegen Russland und seine Verbündeten.“
  • „Die Russische Föderation muss über nukleare Kräfte verfügen, die garantiert dazu befähigt sind, jedem Aggressorstaat oder einer Staatenkoalition einen angemessenen Schaden unter beliebigen Bedingungen der Lage zuzufügen.“
  • „Die Streitkräfte der Russischen Föderation müssen in ihrem Friedensbestand in der Lage sein, den zuverlässigen Schutz des Landes vor einem luft-kosmischen Überfall,… die Abwehr einer Aggression im lokalen Krieg (bewaffneten Konflikt) bzw. die strategische Entfaltung für die Lösung von Aufgaben in einem großflächigen Krieg zu gewährleisten.“

Ganz offensichtlich lässt sich Russland auch die Möglichkeit von Auslandseinsätzen seiner Streitkräfte offen, denn im weiteren heißt es: „Die Interessen der Gewährleistung der nationalen Sicherheit verlangen unter entsprechenden Umständen die militärische Präsenz Russlands in einigen strategisch wichtigen Regionen der Welt. Die Stationierung begrenzter Truppenkontingente – auf vertraglicher und völkerrechtlicher Grundlage – muss die Bereitschaft Russlands gewährleisten, seine Verpflichtungen zu erfüllen, in den Regionen zur stabilen militärstrategischen Kräftebalance beizutragen und der RF die Möglichkeit geben, auf Krisensituationen in deren Anfangsstadium zu reagieren und die Verwirklichung außenpolitischer Ziele des Staates zu fördern.“

Fazit

Unter den vielen Bedrohungen der nationalen Sicherheit sieht Russland auch eine rein militärische. Die nach dem Ende des Kalten Krieges vorherrschende Meinung von einer langen Periode des friedlichen Zusammenlebens der Völker verliert in der russischen Öffentlichkeit zusehends an Glaubwürdigkeit. Dominierend sind heute Misstrauen und Argwohn. Die Hauptgründe dafür sind die Osterweiterung der NATO, die jüngsten Kriegshandlungen der NATO-Staaten gegen Jugoslawien, der zusehends größer werdende qualitative und quantitative waffentechnische Vorsprung der USA und das alarmierende Beispiel des Tschetschenienkrieges.

Die frühzeitig erkannte Notwendigkeit einer Militärreform scheiterte an den katastrophalen Folgen politischer, administrativer und ökonomischer Umbrüche. Die bisher durchgeführten Reformschritte haben den Niedergang der Streitkräfte verlangsamt, aber noch nicht gestoppt.

Das Empfinden der russischen Führung, dass das Niveau und die Maßstäbe der Bedrohung im militärischen Bereich anwachsen, bestimmt zweifellos ihr weiteres Vorgehen. Der verfügbare Handlungsspielraum bleibt aber zunächst äußerst beschränkt. Aus der militärischen Logik heraus erhöhen sich dadurch Rolle und spezifisches Gewicht der Abschreckung. Die herkömmlichen Kräfte und Mittel einer strategischen Abschreckung sind – gemessen am US-amerikanischen Potenzial – schwach. Die Streitkräfte, die für die Verteidigung des Riesenlandes zur Verfügung stehen, befinden sich in einem desolaten Zustand. Das sind die Gründe für die in letzter Zeit russischerseits immer wieder betonte Notwendigkeit einer glaubhaften atomaren Abschreckung.

Die Militärreform als eine komplexe Abfolge gut durchdachter Einzelschritte wird in dem Maße vorankommen, wie es gelingen wird, die russische Wirtschaft anzukurbeln. Von einer russischen Gefahr kann im überschaubaren Zeitraum nicht die Rede sein. Dennoch sollte sich der Westen hüten Russland zu demütigen. Der Weg zu gutnachbarlichen Beziehungen führt, wie gehabt, über eine vertrauensbildende Politik, die es versteht russische Befindlichkeiten zu berücksichtigen und Misstrauen abzubauen.

Militärbezirke
Abb.1: Neufestlegung der Militärbezirke
Strategische Richtung Militärbezirk Stab
Westl. strateg. Richtung Moskauer MB Moskau
Nordwestl. strat. Richtung Leningrader MB St. Petersburg
Südwestliche strat. Richtung Nordkaukasischer MB Rostow am Don
Zentral-asiat. strat. Richtung Wolga-Ural-MB Samara
Sibirische strat. Richtung Sibirischer MB Tschita
Fernöstliche strat. Richtung Fernost-MB Chabarowsk
Abb.2: Anpassung der Grenzziehung der Militärbezirke an die entscheidenden strategischen Richtungen

Anmerkungen

1) Jede TSK wurde von einem Oberbefehlshaber kommandiert, der sich in seiner Führungstätigkeit auf einen Hauptstab der TSK stützte. Die Hauptstäbe der TSK waren dem Generalstab nachgeordnet.

2) Sergej Sokut in »Nezawisimaja Gaseta« Nr.1/2000

Dr. Karl Harms war als Oberst der NVA über sechs Jahre im Stab der Vereinten Streitkräfte in Moskau tätig. Er arbeitet heute als Publizist in Berlin.

Russland setzt aufs Militär

Russland setzt aufs Militär

von Jürgen Nieth

Vor einem Jahr, am 24. März 1999 startete die NATO ihren Luftkrieg gegen Jugoslawien. Sie startete, ohne vorher die zivilen internationalen Institutionen ausreichend in eine Lösungssuche für den existierenden Konflikt einzubeziehen, sie bombardierte ohne internationales Mandat. Über die wahren Gründe für diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gibt es bis heute viele Diskussionen und Spekulationen. Dass die vorgegebenen »humanitären Aspekte« für den Krieg nicht die ausschlaggebenden – auf gar keinem Fall aber die einzigen – waren, wurde bereits nach wenigen Tagen sichtbar, als in Folge des Krieges das Elend unter der zu schützen vorgegebenen Zivilbevölkerung wuchs und die Flüchtlingszahlen explodierten.

Nein, die Gründe für das amerikanische Drängen auf schnellen Kriegsbeginn unter Umgehung der UNO – und die damit verbundene Brüskierung Russlands und Chinas – lagen nicht im Kosovo, sie waren globaler. In jeder Phase dieses Konfliktes demonstrierten die USA – nicht nur gegenüber Jugoslawien sondern auch gegenüber den Verbündeten und dem Rest der Welt, wer das sagen hat und dass sich die letzte Supermacht nicht mehr reinreden läßt. Unfreiwillig (?) bestätigt vom deutschen Außenminister Fischer in der »Zeit«: „Wir hatten nur 15 Minuten Zeit“ um zu entscheiden ob wir mitmachen oder nicht.

Die verbliebene Supermacht USA demonstrierte Macht und die einstige Supermacht Russland wurde vorgeführt, zeigte sich ohnmächtig. Wäre der Krieg nach wenigen Tagen wie geplant zu Ende gewesen, die Welt wäre heute eine andere.

Doch es kam anders: Die UNO und die Russen mussten nach über 2 Monaten Krieg ins Boot zurückgeholt werden. Und die Russen zeigten militärisch neues Selbstbewusstsein, als sie in einer Blitzaktion den Flugplatz von Pristina besetzten und damit die Aufteilung des Protektorats Kosovo unter die 4 mächtigsten NATO-Mächte kurzfristig in Frage stellten.

Ein viertel Jahr nach dem Ende des Kososvo-Krieges führt Russland dann selbst Krieg im eigenen Land. Und – im Vergleich zum ersten Tschetschenienkrieg muss man bitter feststellen – sie haben vom NATO-Krieg gegen Jugoslawien gelernt. Diesmal ist ihr Krieg propagandistisch gut vorbereitet. Ein paar Hundert Tote in Folge von Anschlägen in russischen Städten, für die Tschetschenische Rebellen verantwortlich gemacht werden, haben in der Bevölkerung die Stimmung für ein hartes durchgreifen geschürt. Die Berichterstattung über den Krieg im Kaukasus wird – wie auf dem Balkan – sorgsam gefiltert. Russische Politiker zeigen sich selbstsicher, auch was die Reaktionen der westlichen Welt betrifft, die dann tatsächlich trotz Flüchtlingstrecks, dem Erdboden gleichgemachter Dörfer und ungezählter Toter unter der Zivilbevölkerung auffallend zurückhaltend sind. Der selbst gerechtfertigte Krieg (Kosovo) gegen ein anderes Land macht es eben schwer, den selbst gerechtfertigten Krieg eines anderen Landes gegen sogenannte Terroristen zu verurteilen. Wer selbst den Krieg als »Fortführung der Politik mit anderen Mitteln« betrachtet, muss das zwangsläufig auch bei anderen akzeptieren. Insoweit hat das Wort vom Kosovo als der »Mutter des zweiten Tschetschenienkrieges« seine Berechtigung.

Doch die Ex-Supermacht greift nicht nur in Tschetschenien auf das Militärische zurück. Auch in der internationalen Politik Russlands wird dem militärischen Faktor eine offensichtlich größere Bedeutung beigemessen: In Japan drohte Jelzin Ende des letzten Jahres allen potenziellen Feinden unverblümt mit der A-Bombe und in der neuen Militärdoktrin wird auch der Ersteinsatz der A-Waffen einkalkuliert.

Ein Schritt zurück zur bipolaren Welt ist die Betonung des militärischen Faktors sicher nicht, dafür ist der Abstand zwischen Russland und den USA ökonomisch und militärisch viel zu groß; ob dieser Schritt die Chancen für eine neue russische Weltmachtrolle in einem multipolaren System verbessert oder ob es Schritt ist, der den ökonomischen Niedergang noch beschleunigt, das wird die Zeit zeigen, denn da spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle.

Doch soviel steht fest: Ein Blick auf den Kosovo zeigt, der militärische Sieg der NATO hat die Probleme nicht gelöst, der Hass ist eskaliert und an ein ziviles Zusammenleben der unterschiedlichen Ethnien ist für eine überschaubare Zukunft nicht zu denken.

Ein Blick auf Tschetschenien zeigt, der militärische Sieg Russlands wird die Probleme nicht lösen, unter Umständen wird selbst der Kampf gegen die »Rebellen« noch Jahre dauern.

International stagniert seit längerem die Politik der Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsvereinbarungen. Mit der »Neuauflage von SDI« drohen die USA auch bestehende Verträge wie den ABM-Vertrag auszuhebeln. Die stärkere Betonung des militärischen Faktors wird auch hier nicht zur Lösung von Problemen beitragen, im Gegenteil, sie wird bestehende Probleme verschärfen. Was wir brauchen ist eine zivile Politik und in die muss Russland als weltpolitisch wichtiger Faktor einbezogen werden, noch ist die Tür dafür offen.

Ihr Jürgen Nieth