Kritik des gläsernen Gefechtsfeldes

Kritik des gläsernen Gefechtsfeldes

Was Sprachmodelle und Massendaten im Krieg bedeuten

von Christian Heck

Für die »Kriegsführung 4.0« ist das »gläserne Gefechtsfeld« ausschlaggebend. Doch das »Internet of Military Things« (IoMT) und »Battle Management Systeme« sind nicht nur militärisch, sondern auch aufgrund ihrer Operationslogik hochgradig kritikwürdige Instru­mente. Der Trend zu immer mehr Komponenten des Maschinellen Lernens, die in diese Systeme implementiert werden, scheint derzeit unaufhaltbar. Es gilt, die grundsätzlichen Prämissen dieser Systeme adäquat zu kritisieren. Insbesondere die Bedeutung, die ihnen mittlerweile für kriegerisches Handeln zugemessen wird, muss umso mehr Anlass für Kritik sein, die in diesem Beitrag ausgeführt wird.

Die letzte sogenannte »Revolution in Military Affairs«, die vernetzte Kriegsführung (»Network Centric Warfare« (NCW)) der späten 1990er Jahre, in der technologische Innovationen gezielt zur Vernetzung vieler Informations- und Aufklärungssysteme miteinander gestaltet wurden, wurde im 2. Golfkrieg erstmals durch die US-Streitkräfte als Testfeld unter Beweis gestellt. Es entwickelte sich in der Folge eine systemische Denkweise von Militärtheoretiker*innen, dass durch ein integratives Verständnis von Einzelkomponenten exponentielle Leistungssteigerungen des Gesamtsystems in seiner militärischen Wirksamkeit erreicht werden können. Dieses frühe »Internet der Dinge« (IoT) verwob sich zunehmend mit dem Internet, das wir heute kennen: mit Sozialen Netzwerken, IT-Monopolen und Clouds, die riesige Rechenzentren weltweit zu Big Data durch Deep Learning1 und weitere neue technische kognitive Systeme verrechnen. Ein Auftakt ins neue Jahrtausend.

Ein Jahrtausend hybrider Konflikte und »gläserner Gefechtsfelder« mit Kampfhandlungen in unseren Städten, im Netz, sowie auch im Weltraum. Das »Internet of Military Things« (IoMT) und die »Kriegsführung 4.0« (vgl. W&F 4/2019) entwickelten sich aus zahlreichen Spin-in und Spin-off Effekten, d.h. Innovationen aus Industrie, Wirtschaft und Gesellschaft, die vom Militär übernommen wurden und umgekehrt. Militärtechniken fanden auf diese Weise Eingang in unsere zivilen Räume. In öffentliche und private Räume, in denen wir uns bewegen und miteinander sprechen, bzw. chatten.

Eine technisch erzeugte Wirklichkeit

Um »Multi Domain Operationen« (MDO) auszuführen, das heißt sich innerhalb dieser neu ausgeschriebenen Gefechtsfelder zurechtzufinden, Objekte und Situationen zu erkennen, sie adäquat einzuschätzen, um daraufhin besten Gewissens Entscheidungen zu treffen, benötigen Soldatinnen und Soldaten in Operationszentralen technische kognitive Systeme, sogenannte »Battle Management Systeme« (BMS), zu deutsch: digitale Führungssysteme. Diese Systeme dienen in erster Linie der Entscheidungsunterstützung, da die notwendigen Erkenntnisse innerhalb dieser Art der High-Tech-Kriegsführung nur durch die Unterstützung durch Technologien erlangt werden können. Diese digitalen Führungssysteme versprechen Einsatzschnelligkeit – und in der Vision von MDOs soll dies heißen, nicht nur möglichst schnell, d.h. in Echtzeit, sondern gar seiner Zeit voraus zu handeln. Diese innerhalb dieser Gefechtsfelder durch und durch technische Zeiteinheit jedoch ist nicht für den Menschen gemacht, sondern zur möglichst fehlerfreien Funktionstüchtigkeit der technischen Systeme selbst. So auch die Interpretation anfallender Datenströme, die im gläsernen Gefechtsfeld in Echtzeit in militärisch-technische Handlungen überführt werden müssen. Auch diese sind nicht für den Menschen gemacht und er wird die undenkbare Masse an Daten nicht alleinig bewältigen können, sei er noch so gut ausgebildet. Auch hierfür braucht es technische kognitive Systeme auf aktuellem Stand und ein ausgefeiltes »Man Machine Teaming« (MMT).

Dies bedeutet jedoch auch, dass im gläsernen Gefechtsfeld kognitive Technologien das meiste, das man wahrnehmen und erkennen kann, auch erst herstellen, dass das gläserne Gefechtsfeld also eine technisch erzeugte Wirklichkeit ist. Unter anderem deshalb ist es in MDOs zwingend notwendig, zur eigenen technischen Handlung während der militärischen Operationen Distanz einzunehmen, bzw. einnehmen zu können. Dies erfordert, Trennlinien zu setzen zwischen technischer und menschlicher kognitiver Leistung.

Da es bei militärischen Operationen fast immer um Leben und Tod geht, muss ethisch die letzte Entscheidung beim Menschen liegen. Zugleich müssen Führungskräfte, Beamt*innen und politische Entscheidungsträger*innen aber auch anerkennen, dass diese Entscheidungsfindung ohne technische kognitive Systeme nicht realisierbar ist. Sie müssen hierfür also mehr eine innere als eine analytische oder formale Grenze setzen. Eine Grenze zwischen dem Gewissen und der Entscheidung, basierend auf technischer Kognition.

Denn die spezielle Art dieser technischen Systeme räumt menschlichen Akteuren und nicht-menschlichen Artefakten eine gänzlich neue aktive politische Handlungskraft ein. Auch jenen, die in früheren Operationspraxen eine unwichtige, bisweilen gar keine Rolle, zumindest aber eine andere spielten: Dazu zählen unter anderem Betreiber*innen von Cloud­plattformen, Rechenzentren und Satellitenanlagen, kriegspropagandistische Influencer*innen oder eben BMS.

Die Integration von großen Sprachmodellen

Erste Komponenten für MDOs wurden bereits in den frühen 1980er Jahren in den Militärapparat implementiert. Hans-Jörg Kreowski erinnerte in seinem Artikel »Die militärische Seite der Digitalisierung« (Kreowski 2023) bspw. an die »Strategic Computing Initiative (SCI)« aus dem Jahr 1983, die das US-Verteidigungsministerium bereits Jahrzehnte vor der Notwendigkeit von Multi Domain Operationen in gläsernen Gefechtsfeldern startete. Mit SCI sollten KI-Projekte entwickelt werden, bei denen neben dem Design autonomer Landfahrzeuge auch die Konzeption eines frühen BMS und eines Sprachassistenten für die Pilot*innen der Luftwaffe zur Aufgabe standen.

Die jüngste Generation von Software-Produkten, die aus diesem Ansatz heraus entwickelt wurden, ist im April diesen Jahres auf dem Markt erschienen. Im September 2023 unterzeichnete das erste Rüstungsunternehmen einen Vertrag mit dem Hersteller, dem US-amerikanischen Datenanalyse-Unternehmen »Palantir« (vgl. Palantir Technologies 2023a). Mit ihrer digitalen Plattform »AIP for Defense« (Palantir Technologies 2023b) werden große vortrainierte Sprachmodelle mit künstlichen neuronalen Einbettungen (LLMs) für militärische Operationen nutzbar gemacht.

Das Unternehmen selbst wurde 2004 gegründet und nahm in diesem Jahrtausend u.a. im »Krieg gegen den Terror« eine nicht zu unterschätzende Rolle ein. Es spezialisierte sich ziemlich schnell auf die Überwachung von Individuen und die Zusammenführung eigentlich getrennter Datenbestände und wurde somit ein wichtiger Akteur in hybriden und asymmetrischen Kriegsführungsstrategien.

Ihre Datenbankvisualisierungs- und Analyse-Software »Gotham« wurde unter anderem zuerst von der »Joint Improvised-Threat Defeat Organization« (JIDO) getestet, einer Einheit des US-Verteidigungsministeriums (DoD), die eingerichtet wurde, um einem neuen Phänomen in dieser Art des Krieges entgegenzuwirken: dem von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen (»Improvised Explosive Devices« (IED)), mit Autobomben, Paketbomben, Selbstmordattentaten, etc. Die CIA, die NSA und das FBI wurden ziemlich schnell zu Kunden von Palantir. Auch die Europäische Polizeibehörde Europol nutzt inzwischen Produkte von Palantir für die Datenauswertung. In der Bundesrepublik wird Palantirs »Gotham« u.a. in Bayern als »Verfahrensübergreifende Recherche- und Analyseplattform« (Vera) eingesetzt. Auch die Polizei in NRW hat Software von Palantir in Betrieb, mit der »Datenbankübergreifende Analyse und Recherche Software« (DAR). In Hessen wurde Gotham in dem System »HessenData« seit 2017 eingesetzt. Die Landesregierung in Hessen hatte die Anschaffung der Software freigegeben gehabt, doch der Einsatz wurde im Februar 2023 vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe als verfassungswidrig eingestuft. Soweit bekannt, führt das System Daten aus sozialen Medien mit Einträgen in verschiedenen polizeilichen Datenbanken sowie Verbindungsdaten aus der Telefonüberwachung zusammen, um mögliche Straftäter*innen zu ermitteln. Zudem spielte Palantir eine nicht unerhebliche Rolle im Skandal um »Cambridge Analytica«. Das Unternehmen soll Facebook bei der Auswertung der illegal weitergegebenen Daten mitgeholfen haben.

Palantirs neuestes Softwarepaket »AIP for Defense« nun wird in naher Zukunft Einsätze unterstützen, indem es u. a. feindliche Stellungen erkennt und durch eine Chatfunktion (ähnlich dem Interface der international viel diskutierten KI »ChatGPT«) Gegenmaßnahmen vorschlägt und gegebenenfalls autonom ausführt – wie z.B. das Starten einer Aufklärungsdrohne ins Zielgebiet. Doch nicht nur das Interface mit integrierter Chatfunktion erinnert an ChatGPT, auch das maschinelle Lernverfahren in AIP ist ein ähnliches wie bei OpenAI’s Künstlicher Intelligenz hinter ChatGPT: Das generative Sprachmodell GPT (Generative Pretrained Transformer).

GPT ist ein LLM, dessen 175 Milliarden Parameter auf Clouds trainiert werden, die über viele Rechenzentren verteilt sind und dessen Entwicklung derzeit an physische und auch ökologisch tragbare Grenzen stößt. Der Stromverbrauch für das Training entspricht dem von 3.000 europäischen Durchschnittshaushalten, eine Frage an ChatGPT benötigt 1.000 Mal mehr Strom als eine Suchanfrage bei Google und für jede Antwort, die man von dem Bot erhält, könnte man ein Smartphone bis zu 60 Mal aufladen. Vermutlich ist AIP for Defense eines der ersten Battle Management Systeme, die LLMs implementiert haben.

Wie maschinelles Wissen gemacht wird

Bisher hatten LLMs wie eben GPT-3, bzw. -4, LaMDA und PaLM von Google oder LlaMA von Meta in digitalen Führungssystemen eine eher kleine, bis gar keine Rolle gespielt. Etablierteren Ansätzen, wenn auch nicht zwingend minder experimentellen, bei der komputativen Verarbeitung natürlicher Sprache (NLP2), kann auf der anderen Seite schon seit Jahren eine Art Schlüsselrolle zugeschrieben werden.

Der Sozialpsychologe und Sozialwissenschaftler James W. Pennebaker fasste eines der Hauptargumente hierfür wie folgt zusammen: „Die Worte, die wir im täglichen Leben verwenden, spiegeln wider, worauf wir achten, woran wir denken, was wir zu vermeiden versuchen, wie wir uns fühlen und wie wir unsere Welt organisieren und analysieren.“ (Tausczik und Pennebaker 2010, S. 25)

Die Entwicklung von »Word embeddings«3, zu deutsch: Worteinbettungen, eröffnete hierfür einen gänzlich neuen Handlungsspielraum in der komputativen Sprach- und Netzwerkanalyse.

Zur Extraktion inhaltlicher Strukturen, Features, Organisationseinheiten etc., werden aus einer Vielzahl von generierten semantischen Beziehungen zwischen Wörtern und Sätzen symbolische Repräsentationen in Sprachmodellen mit künstlichen neuronalen Einbettungen errechnet. Die Wörter und Sätze, die es zu berechnen gilt, kommen u.a. aus »Open Source Intelligence«-Datensätzen (Medienberichten, Social Media, wissenschaftlichen Arbeiten, öffentlich zugänglichen Statistiken etc.), aus Berichten von Geheimdiensten und des militärischen Nachrichtenwesens, Analysen von Sicherheitsbehörden, Erkenntnissen aus der signalerfassenden Aufklärung, der Bild- und Satellitenaufklärung, von Bots, Drohnen und anderen technischen kognitiven Systemen bzw. unbemenschten Fahrzeugen. Die »Lern«-Kriterien, nach denen maschinell Bedeutungen generiert werden, liegen in diesen Sprachmodellen verankert. Nach ihnen werden die Millionen von Gewichtungen, die an den einzelnen künstlichen Neuronen liegen, eingestellt. Eine undenkbare Masse an Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen wird für diesen Prozess gesammelt. Sie wird übersetzt, selektiert, kategorisiert und mit strukturierten Daten angereichert, sprich sie wird enkodiert. Sie wird maschinenlesbar gemacht (»machine readable«), um sie dann nach ihrer Verarbeitung wieder für den Menschen lesbar zu machen (»human readable«). Es findet auf diese Weise eine maschinelle Vorinterpretation statt. Eine Menschenlesbarmachung von maschinell erlernten symbolischen Repräsentationen, nach vorgegebenen Regeln, die im Code verankert sind.

Als im Jahr 2013 das vortrainierte Sprachmodell »Word2vec« von einem Google-Forscherteam veröffentlicht wurde, galt dies als ein Durchbruch in den NLP-Forschungsgemeinden. Es wurde recht zügig in Technologien der inneren und äußeren Sicherheit implementiert und ist bis heute noch eines der gebräuchlichsten Modelle zur Generierung von Worteinbettungen mittels Deep Learning. Die von Word2vec erzeugten Worteinbettungen können einfach und bequem zur Weiterverarbeitung verwendet werden, und zugleich konnte das KI-Modell Ergebnisse auf dem neuesten Stand der Technik (ca. 2013-15) liefern.

Die inneren Funktionsweisen vortrainierter Sprachmodelle mit künstlich neuronalen Einbettungen, egal ob LLMs oder Word2vec, beruhen auf der Idee, dass im Gegensatz zur formalen Linguistik und zur Chomsky’schen Tradition allein die Kontextinformation eine brauchbare Darstellung sprachlicher Elemente darstellt. Je nach Modell werden hier einzelne Wörter eines Korpus (Textes) als symbolische Repräsentationen in einem semantischen Vektorenraum (Wortraum) mit etwa 300 Dimensionen dargestellt. Zum Vergleich: in heutigen Transformer Architekturen à la GPT-3 werden 1.536 Dimensionen pro Wort errechnet. Worteinbettungen repräsentieren also den innertextlichen Kontext eines Datensatzes, in dem das jeweilige Wort vorkommt.

Niemanden interessiert, wie es funktioniert, solange es funktioniert

Das Studium aktueller NLP-Forschungsarbeiten zeigt, dass trotz der weit verbreiteten Anwendung von künstlich neuronalen Worteinbettungen noch immer erstaunlich wenig über die Struktur und die Eigenschaften – und folglich auch die Konsequenzen – dieser Einbettungsräume bekannt ist. Dennoch werden zunehmende Teile von Welt durch sie in formale, computerlinguistisch verarbeitbare Informationen und Beschreibungsebenen (Morphologie, Syntax, Semantik, Aspekte der Pragmatik etc.), das heißt in symbolische Repräsentationen umgewandelt.

Auf diese Weise fließen aber auch immer wieder auftauchende, bisweilen diskriminierende Tendenzen, bis hin zu Rassismen in digitale Führungssysteme mit ein. Sogenannte »Verzerrungen«, die diesen textanalytischen Machine-Learning-Verfahren zwar nicht explizit, auch nicht vorsätzlich eingeschrieben werden, die aber dennoch im realweltlichen Gebrauch in Erscheinung treten. Denn trotz dieser bekannten und in den letzten 3-4 Jahren auch in der Öffentlichkeit verhandelten Defizite von KI-Sprachmodellen implementieren Firmen diese weiterhin in ihre Produkte und verkaufen sie an Sicherheitsbehörden und an das Militär.

Der Trend hin zu immer größer werdenden Modellen und immer mehr (unüberprüften) Trainingsdaten in den letzten Jahren führt auch zu einer immer schlechter werdenden Kontrollierbarkeit der inneren Funktionsweisen von technischen kognitiven Systemen. Funktionsweisen, durch die Minderheiten diskriminiert und gesellschaftliche Gruppen marginalisiert werden, und das auf eine Weise, die meist den Entwickler*innen selbst nicht bekannt, bzw. bewusst, schlimmstenfalls egal ist (vgl. Bender et al. 2021).

Auch aus diesem Grund ist es für Soldatinnen und Soldaten in Operationszentralen oder in Ämtern und Firmen, die die analytische Ausarbeitung für Führungskräfte unterstützen, unabdingbar, sich ein grundlegendes Verständnis des inneren Aufbaus dieser technischen kognitiven Systeme anzueignen. Denn die Bedeutung der jeweiligen militärisch-technischen Handlung muss aus diesen Systemen heraus, also in deren inhärenter Pragmatik erschlossen werden. Aus technischen kognitiven Systemen, die neben ihrer natürlichen Begrenztheit zugleich auch eine scheinbare Grenzenlosigkeit zu Tage fördern.

Eine Grenzenlosigkeit, die in ihrem Lern-Vermögen liegt, die uns derzeit auch bis zur Entgrenzung unseres menschlichen Denkens führt. Denn diese technischen Systeme können „sowohl lernen, dass die Erde flach ist, als auch rund“ (Chomsky et al. 2023), so Noam Chomsky (linker Intellektueller, Anarchist und emeritierter Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology, MIT) im März 2023 in der »New York Times«. Sie können auch lernen, dass seit weit über einem Jahr ein von Russland geführter Angriffskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung wütet. Im nächsten Moment können sie dies jedoch auch wieder verlernen, egal ob es der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Was diese technischen kognitiven Systeme eben nicht können, ist ihre innere Grenzenlosigkeit durch ethische Prinzipien einzuschränken. Eine Eigenschaft, die wir als »moralisches Denken« bezeichnen. Die technischen kognitiven Systeme sind, während sie prozessieren, getrennt von der Außenwelt. In ihren inneren Entscheidungsfunktionen liegen keine Modellierungen von dem, was Worte, was Dinge, was Taten und Ereignisse für uns in der Welt bedeuten. Dennoch werden sie über Leben und Tod von Soldatinnen und Soldaten, von Jugendlichen, von Großeltern, von Eltern und unseren Kindern algorithmisch mit entscheiden.

Anmerkungen

1) Die Technologie des »Deep Learning« begann sich um die Jahrtausendwende zu entfalten. Es begann bald darauf die Zeit von Big Data (dem Anstieg der Datenmengen durch die Verbreitung der Internettechnologien) und es wurden erhebliche Fortschritte in den Computertechnologien (in der Rechenkapazität, GPUs und preiswerten Speichertechnologien) erzielt. Erst durch diese technische Infrastruktur wurde die Weiterentwicklung der Künstlichen Neuronalen Netze (KNN) hin zum Deep Learning im Forschungs- und vermehrt auch im Anwendungsbereich möglich. Von dieser Technologie sprechen wir heute in erster Linie, wenn von Künstlicher Intelligenz zu hören ist: der subsymbolischen Künstlichen Intelligenz.

2) Das Kürzel NLP steht für Natural Language Processing. Eine Mischwissenschaft, die anteilig aus der Computerlinguistik, den Computerwissenschaften und der Künstliche Intelligenz Forschung besteht. Sie ist eine Wissenschaft der algorithmischen Verarbeitung von Sprache, der Verarbeitung von Daten und des künstlich intelligenten Verhaltens zugleich.

3) Der Sammelbegriff »Word embeddings« steht für eine Reihe von Sprachmodellierungs- und Feature-Learning-Techniken in NLP, bei denen Wörter oder Phrasen aus dem Vokabular auf Vektoren mit reellen Zahlen abgebildet werden: z.B. eine globale Korpusstatistik (GloVe: Globale Vektoren für Wortdarstellung) oder eine Wortkontextdarstellung (Word2vec), siehe Mikolov et al (2013).

Literatur

Bender, E. M.; Gebru, T.; McMillan-Major, A.;; Shmitchell, Sh. (2021): On the Dangers of Stochastic Parrots: Can Language Models Be Too Big? FAccT ‚21: Proceedings of the 2021 ACM Conference on Fairness, Accountability, and Transparency, S. 610-623.

Chomsky, N.; Roberts, I.; Watumull, J. (2023): The False Promise of ChatGPT. New York Times, 8.3.2023.

Kreowski, H.-J. (2023): Die militärische Seite der Digitalisierung. IMI-Ausdruck 113, S. 25-27.

Mikolov, T.; Sutskever, I.; Chen, K.; Corrado, G.; Dean, J. (2013): Distributed Representations of Words and Phrases and their Compositionality. NIPS‘13: Proceedings of the 26th International Conference on Neural Information Processing Systems – Volume 2, S. 3111–3119.

Palantir Technologies (2023a): Palantir Technologies Signs Partnership With Titan Defence Firm, Babcock. Pressemitteilung, 13.9.2023.

Palantir Technologies (2023b): AIP for Defense. Homepage, URL: palantir.com/aip/defense/.

Tausczik; Y. R.; Pennebaker, J. W. (2010): The Psychological Meaning of Words: LIWC and Computerized Text Analysis Methods. Journal of Language and Social Psychology 29 (1), S. 24-54.

Christian Heck ist künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter für Ästhetik & neue Technologien / Experimentelle Informatik und Doktorand an der Kunsthochschule für Medien Köln. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen auf Friedensforschung, Ästhetische Praxis und Ethik der Künstlichen Intelligenz mit Fokus auf Generative Systeme, ADM, IT-Sicherheitstechnologien, Kampfdrohnen und autonome Waffensysteme. Er ist Mitglied im Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) e.V. und der Gesellschaft für Informatik (GI).

Weniger Gigantomanie wagen

Weniger Gigantomanie wagen

Neuere Geschichte der Bundeswehr und mögliche Entwicklungsperspektiven

von Lutz Unterseher

Aus dem Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre ergibt sich eine neuere Geschichte der Bundeswehr, die für den heutigen Zustand ausschlaggebend ist. Der Beitrag entfaltet diese zentralen Entwicklungen (Personalstärke, Finanzierung, Auftrag) seit 1990 und skizziert abschließend eine alternative Perspektive für den Weg voran. Für transformative Perspektiven auf die Organisierung der militärischen Friedenssicherung in der Zukunft müssen neue Impulse gesetzt und bestehende Praktiken in Frage gestellt werden.

Das Jahr 1990 bezeichnet das Ende der NATO-Phalanx in Mitteleuropa. Die Bundeswehr war mit ihrem Heer in das System der alliierten Korpsstreifen integriert. Es gab 36 stehende Brigaden und 11 des Heimatschutzes. Der präsente Umfang lag bei 470.000 Personen. Diese Streitmacht erforderte einen Verteidigungshaushalt von 52,5 Mrd. DM. Mit den Versorgungslasten, noch nicht in diesem Budget geführt, ergaben sich etwa 60 Mrd. DM. Damit machten die Ausgaben für die militärische Sicherung 3,6 % des Brutto-Inlandsproduktes (BIP) aus.

Mit der Übernahme der Reste der NVA schwoll der Personalbestand auf 600.000 an. 1991/92 begann dann ein Schrumpfungsprozess, 1999/2000 lag der Umfang bei nur noch 330.000. Zehn Jahre später, vor der Aussetzung von Wehrpflicht und Zivildienst, war der Bestand auf unter 250.000 gesunken.

Heute dienen 180.000 Frauen und Männer freiwillig in der Bundeswehr. Das Heer umfasst 10 Brigaden (Heimatschutzverbände gibt es nicht mehr). Der Verteidigungshaushalt beträgt rund 50 Mrd. €, mit den Versorgungslasten. Hinzu kommen 8,5 Mrd. €: die erste Tranche aus dem 2022 kreierten Sondervermögen von 100 Mrd. € zur Beseitigung vorgeblicher Finanzierungsdefizite der Streitkräfte. Auch mit diesem Zuschuss gilt die Bundeswehr für Politik und die meisten Medien immer noch als unterfinanziert.

Fast 60 Mrd. €: Damit liegen die Verteidigungsausgaben etwa beim Doppelten dessen, was 1990 ausgewiesen war – und das bei einer Schrumpfung des Personalbestandes auf unter 40 % der Ausgangsgröße. Sollte die damit gegebene Ausgabensteigerung pro Soldat*in nicht die Geldentwertung mehr als kompensiert haben?

Ein anderer Eindruck ergibt sich daraus, dass die Verteidigungsausgaben, einschließlich des Zuschusses aus der Wundertüte Sondervermögen, nur noch 1,5 % des BIP ausmachen: ein Absturz gegenüber 1990, weit entfernt vom Ziel, einen Anteil von 2 % zu erreichen.

Dies lässt aber nicht auf eine Unterfinanzierung der Bundeswehr schließen, sondern eher darauf, dass die Deutschen die Sicherheitslage für nicht sehr problematisch halten und dass es in der Konkurrenz um knappe öffentliche Mittel Anliegen gibt, die legitimer erscheinen als die des Militärs (siehe dazu auch Wulf, S. 11 in dieser Ausgabe).

Rettung

Als der Warschauer Pakt sich auflöste und die UdSSR von Russland beerbt wurde, fehlte der NATO plötzlich die Daseinsberechtigung. Dass Russland instabil war, in nun unabhängigen Staaten Truppen unterhielt (Armenien, Moldawien, Tadschikistan) und Nachbarn bedrohte (Georgien, Baltische Staaten), schien als Herausforderung unzureichend. Ein neues Handlungsfeld wurde gefunden: in Gestalt der bewaffneten Konflikte an der Peripherie des Bündnisses (Balkan) und der »Neuen Kriege«.

Die Orientierung vor allem an letzterem Phänomen wurde durch einen Diskurs gestützt, den Politolog*innen initiiert hatten (Creveld 1991, Kaldor 2000, Münkler 2002). Mit der Globalisierung würde die Regierungsautorität gerade in den ärmeren Ländern geschwächt, womit partikulare Interessen – im Bündnis mit internationalem Kapital – sich gestärkt sähen und zu eigenem Vorteil Bürgerkriege anzettelten. Zweierlei wurde insinuiert: Zum einen, dass die Dynamik der Globalisierung auch zu einer solchen der bewaffneten Konflikte führen müsse, und zum anderen, dass es im westlichen Interesse liege, in das entstehende Chaos mit militärischen Mitteln einzugreifen – aus humanitären, vor allem aber auch ökonomischen Gründen. Empirische Studien zeigten jedoch, dass die erhöhte Häufigkeit von Bürgerkriegen nach der Ost-West-Konfrontation deren Nachwehen geschuldet war und dass sich das Konfliktgeschehen danach auf ein deutlich niedrigeres Niveau einpendelte (AKUF 2008).

Doch die NATO erklärte bereits Anfang der 1990er, und die EU gegen Ende der 1990er Jahre, ihre Zuständigkeit für Engagements »out of area«. Dafür schuf die NATO das »Allied Rapid Reaction Corps«, das sich zu einem Koloss mit weit über 100.000 Soldat*innen aufblähte. Es ging um das Dabeisein, also Status. Strukturanpassungen zwecks Interventionsfähigkeit blieben aus. Das nächste Großgebilde war ein EU-Produkt. Die Mitgliedsländer beschlossen 1999, in Reaktion auf die Dominanz der USA im Balkankonflikt, den Aufbau einer respektablen Eingreiftruppe: Entsendung von bis zu 60.000 Soldat*innen innerhalb von 60 Tagen bei mindestens einem Jahr Stehzeit vor Ort. Auch dieses Konstrukt erwies sich als Papiertiger.

So begann man, kleinere Brötchen zu backen und die Süd- durch eine Ostorientierung zu ersetzen: gegenüber der perzipierten russischen Bedrohung. Es wurden verschiedene Formationen geboren, im Umfang zwischen einer Brigade und einer Division, die innerhalb weniger Wochen einsatzbereit sein sollten: die »EU Battle Groups« und die »NATO Response Force« sowie deren Teilelement, die »Very High Readiness Joint Task Force«.

Neue Aufgabe: Machtprojektion

Den Eingreifkontingenten würden von Fall zu Fall Luft- und Seekomponenten zugeordnet werden. Hierzu ist von US-Militärs die Konzeption der »jointness« entwickelt und von ihren europäischen Kamerad*innen willig übernommen worden. Angestrebt wird die Vernetzung von Land-, Luft- und – wenn erforderlich – Seestreitkräften, um in engster Kooperation optimalen Effekt auch gegen starken Widerstand erzielen zu können. Den Hintergrund bildet die Annahme, dass es darauf ankommt, geballte Kampfkraft über große Distanzen zu projizieren, etwa gegen einen »rogue state«. Die realen Interventionsszenarien, in denen Infanterie möglichst ohne »Bombenterror« in »taktischer Kleinarbeit« die Aufgabe der Konfliktdämpfung zu leisten hat, kommen in diesem Denkraster nicht vor.

Die Konzeption der »jointness«, die der Luft-, aber auch der Seekomponente große Bedeutung verlieh, wurde von den Vertreter*innen dieser Teilstreitkräfte im Verein mit der einschlägigen Rüstungsindustrie genutzt, ihre Ressourcen zu Lasten der Landkomponente zu mehren. Beispiel Bundeswehr: Im Kalten Krieg bekam das Heer, weil man vor allem eine Bedrohung zu Lande sah, die Hälfte der Investitionsmittel. Heute ist die Luftwaffe entsprechend privilegiert. Dabei sind doch die allermeisten Aufgaben in der Krisenreaktion, trotz »jointness«, weiterhin vom Heer bewältigt worden. Diese zweckwidrige Zuweisung von Mitteln ist der Hauptgrund dafür, dass der öffentliche Eindruck des »Ausblutens« der Streitkräfte entstand.

Interventionspraxis

Der erste Ferneinsatz der Bundeswehr, Somalia 1993, war peinlich – die logistisch zu unterstützende indische Brigade kam nie an – und rechtlich nicht abgesichert. Erst ein Jahr später ermöglichte das Bundesverfassungsgericht Missionen über die Landes- und Bündnisverteidigung hinaus, wenn ein positives Votum des Bundestages vorläge und es die Legitimierung durch ein System kollektiver Sicherheit gäbe. Das sind völkerrechtlich gesehen die Vereinten Nationen (VN) oder eines ihrer Regionalregime. Abweichend davon sah das Gericht aber auch die NATO, ein militärisches, kein politisches Bündnis, als Quell der Legitimität (Rauch 2006).

Auf so wackliger Rechtsgrundlage beteiligte sich die deutsche Luftwaffe 1999 mit 14 ihrer damals insgesamt 450 Kampfflugzeuge am NATO-Angriff auf Rumpf-Jugoslawien. Der Einsatz war seither der einzige dieser Teilstreitkraft, der über symbolische Präsenz oder Aufklärungsmissionen hinausging, die auch von anderen – kostengünstigeren – Instrumenten hätten wahrgenommen werden können.

Die Marine übernahm mit der Kampfmittelbeseitigung in der Adria nach der Bombenkampagne von 1999 eine wichtige Aufgabe. Im Übrigen wurde sie, in internationalem Verbund im Sinne symbolischer Präsenz (Seepatrouillen nach dem Libanonkrieg 2006) und etwa zum Schutz von Handelsschiffen gegen Piraten am Horn von Afrika eingesetzt (2008-2016).

Das Heer als Hauptträger der militärischen Krisenreaktion beteiligt sich seit 1999 – anfangs mit 6.000, gegenwärtig nur noch mit 70 Soldat*innen – an der von den VN legitimierten Überwachungsmission im Kosovo: unspektakulär, aber bedeutsam, weil damit nach Beendigung der Kampfhandlungen zumindest die akute Gewalt eingehegt bleiben konnte – zwar fragil, aber immerhin. Schon vorher hatte es mit kleineren Kontingenten die Beteiligung an ähnlichen Missionen gegeben: ab 1985 in Bosnien-Herzegowina und ab 1998 in Mazedonien (Keßelring 2023).

Es gab aber auch, im internationalen Verbund, den Einsatz von Bundeswehrkontingenten, vor allem des Heeres, in Ländern mit offener Gewalt: Afghanistan (2001-2021) mit bis zu 6.000 Soldat*innen und Mali (2013-2023) mit 450 (formell für Ausbildungsaufgaben). Beide Missionen scheiterten.

Empirische Studien legen nahe: Im ersten Fall fehlte es an Truppen. Zur – auch nur oberflächlichen – »Befriedung« wäre im Vergleich mit dem Insurgentenpotenzial ein Vielfaches erforderlich gewesen (Lange 2008). Westliche Demokratien, die militärisch intervenieren, scheinen zu einer solchen Truppenpräsenz offenbar nicht gewillt zu sein – oder es fehlt ihnen an der entsprechenden demokratischen Legitimierung für solche Einsätze. Und: Die Truppe muss Respekt vor der Kultur der Region haben. US-Kontingente und auch deutsche in Afghanistan und französische in Mali entsprachen dem nicht. Zudem muss es vor Ort einen verlässlichen politischen Partner von Autorität geben, mit dem die Ziele der Operation geteilt werden. In beiden Fällen, vor allem in Mali, fehlte dies. All dessen hätte sich das deutsche militärpolitische Establishment bewusst sein können.

Auf anderer Ebene liegen die Probleme, die – besonders in Afghanistan – die Bundeswehr mit ihrer Ausrüstung hatte. Ursachen waren nicht nur die Fehlallokation von Mitteln, sondern auch der Umgang von Militär und Industrie miteinander. Beispiel: Da von militärischer Seite kein Bedarf angemeldet wurde, musste die Industrie ein Minen-geschütztes Patrouillenfahrzeug im Alleingang entwickeln.

Aussetzung der Wehrpflicht

Die Wehrpflicht wurde 2011 suspendiert. Es war eine Augenblicksreaktion angesichts fiskalischer Probleme – versprach doch die Nicht-Einberufung von Wehrpflichtigen kurzfristig Entlastung. Dahinter stand aber ein Votum der sogenannten »Weizsäcker-Kommission«, die eine solche Aussetzung wenige Jahre zuvor erarbeitet hatte.

Ein Argument war dabei zentral: Auch ein demokratischer Staat darf nicht so einschneidend, wie es die Wehrpflicht ist, in die Entwicklung junger Menschen eingreifen – vor allem dann nicht, wenn dieser Eingriff unfair erfolgt (nur Männer nach immer weiter willkürlichen Kriterien einbezieht). Andere Argumente konnten weniger überzeugen (Ahammer und Nachtigall 2010):

  • Für Militärinterventionen sind Wehrpflichtige unbrauchbar, weil sie nur zur Landes- und Bündnisverteidigung herangezogen werden können. Aber was, wenn das Intervenieren nicht mehr »in« ist?
  • Technik macht Armeen vorgeblich leistungsfähig. Wehrpflicht bedeutet billige Arbeitskraft, was die Technisierung behindert. Aber: In vielen modernen Kriegsszenarien kommt es auf menschliches Handeln an – ob beim Peacekeeping oder infanteristischen Operationen in der heutigen Ukraine.
  • Fortschrittliche Militärtechnik ist so komplex, dass ihre Nutzung Längerdiener erfordert. Aber: Modernste Waffensysteme werden für einfache Bedienung konstruiert.

Situation nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine

Als Russland die Ukraine überfiel, reagierte Deutschland mit einem Rüstungsschub zur Stärkung der eigenen Streitkräfte: 100 Mrd. € Sondervermögen und Anstreben eines dauerhaften BIP-Anteils des Wehretats von mindestens 2 %. Zum Vergleich: An die Ukraine gingen Waffen und Gerät zu Kosten von bisher ca. 4 Mrd. €. Diese Politik wurde mit bürokratischen Prozeduren und damit begründet, dass nicht mehr Waffensysteme unmittelbar verfügbar seien, vor allem weil die Bundeswehr nichts aus eigenen Beständen hergeben könne: In der Krise dürfe man sie nicht schwächen (als wäre Deutschland unmittelbar bedroht).

Gigantische Mittel werden in die Streitkräfte gepumpt, ohne deren Strukturprobleme anzupacken, die ursächlich für die Misere des Verteidigungssektors sind: Bürokratie, sachfremde Rüstungsplanung und die Privilegierung der Luftwaffe zu Lasten vor allem des Heeres. Letzteres wird auch damit begründet, dass unter deutscher Ägide ein Europäisches Luftverteidigungssystem (European Sky Shield Initiative) aufgebaut werden soll: zum Ruhm des Landes und zur Irritation wichtiger Partner.

Mit dem Geldsegen dürfte auch weiterhin versucht werden, im Sinne der Statuskonkurrenz mit den größeren Nachbarn, die Präsenzstärke der Bundeswehr auf über 200.000 Soldat*innen zu heben. Ein unsinniges Unternehmen gegen die Demografie: Es beschert exponentiell steigende Kosten der Personalwerbung bei sinkender Verfügbarkeit der Applikant*innen. So ist es trotz aller Finanzspritzen sehr wahrscheinlich, dass die Bundeswehr auch künftig ein innenpolitischer Krisenherd sein und Fähigkeiten aufweisen wird, die eher Status- als Aufgabenbezug haben.

Alternativen auch denken – und handeln

Es lässt sich für eine friedenspolitisch weitsichtigere Politik eine Bundeswehr konzipieren (Unterseher 2023), die in ihrem Mittelbedarf im Rahmen der früheren Planung oder darunter bleibt und die dem Gemeinwesen substanziell mehr Luft für zentrale Aufgaben lässt: Sozialstaat, In­frastruktur, Bildung, Umweltschutz (vgl. auch Wulf, S. 11 in dieser Ausgabe und in 1/1983). Es geht um Streitkräfte, die – ohne andere zu provozieren – an wesentlichen Aufgaben orientiert sind: Heimatschutz, defensive Unterstützung von Nachbarn und Überwachung von Waffenstillstandsabkommen im Rahmen der VN (vgl. auch Mengelkamp 2023). Das Profil im Telegramm:

Zur Entlastung von kostenträchtiger Personalgewinnung: Verringerung der Präsenz auf höchstens 170.000. Verkleinerung des Umfanges von Streitkräftebasis, Marine und Luftwaffe zu Gunsten des Heeres durch Rationalisierung und präzisere Funktionsvorgaben. Reform des Beschaffungswesens: mehr Marktorientierung statt Eigensinn und Europawahn. Revision des Investitionsschlüssels. Reduzierung der fliegenden Kräfte der Luftwaffe um bis zu 50 Prozent – vor dem Hintergrund eines Überangebots an taktischen Kampfflugzeugen in der westlichen Allianz. Reorientierung der Marine von der Hochseepräsenz mit »Dickschiffen«, die es in der NATO im Überfluss gibt, zur flexiblen Randmeerkontrolle. Strukturreform des Heeres: statt des heutigen Wirrwarrs straffere Führung (Korps und Brigaden, Wegfall der personalintensiven Divisionsebene). Nur zwei Typen von Brigaden: 3-4 schwere für Ex­tremsituationen und 6-7 leichte, schnell verlegbare, die vor Ort nur in der Defensive bestehen können.

Es mag den Traum geben, dass die Irrationalismen des deutschen Verteidigungssektors sich eines Tages in einer großen Krise von selbst erledigen. Dies ist aber aus der Eigenlogik der Verteidigungsbranche heraus illusorisch – und teuer obendrein. Besser wäre es, die Streitkräfte, aufgabenorientiert und bezahlbar, am Leben zu erhalten, damit aber auch die Chance zu bekommen, unbeirrt durch Kassandrageschrei die Möglichkeit weiterer Abrüstungsschritte und die Einpassung in ein künftiges Europäisches Sicherheitssystem zu durchdenken. Dieser Aufgabe hat sich bislang noch niemand im Verteidigungssektor ernsthaft angenommen – es wird aber eine unabwendbare Aufgabe friedens­politischer Verantwortung sein.

Literatur

Ahammer, A.; Nachtigall, S. (2010): Wehrpflicht – Legitimes Kind der Demokratie. Berlin: BWV.

AKUF (2008): Das Kriegsgeschehen 2005. Daten und Tendenzen der bewaffneten Konflikte,hrsg. von W. Schreiber. Wiesbaden: Springer.

Creveld, M. van (1991): The Transformation of War. New York: Free Press.

Kaldor, M. (2000): Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Keßelring, A. (2023): Die Bundeswehr auf dem Balkan. Göttingen: V&R.

Lange, S. (2008): Die Bundeswehr in Afghanistan, SWP-Studie 9, Berlin.

Mengelkamp, L. (2023): Defensive Verteidigung. Orientierungshilfen aus den 1980ern. W&F 1/2023, S. 10-13.

Münkler, H. (2002): Die neuen Kriege. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

Rauch, A. M. (2006): Auslandseinsätze der Bundeswehr. Baden-Baden: Nomos.

Unterseher, L. (2023): Die Mär von der unterfinanzierten Bundeswehr. In Ebd. (Hrsg.): Russland und die Ukraine. Berlin: LIT, S. 44-51.

Lutz Unterseher, Soziologe und Politologe, war sicherheitspolitischer Berater und hat an Universitäten und Militärakademien im In- und Ausland gelehrt. Sachgebiete u. a. Militärtheorie, NS-System.

Strukturelle Nichtverteidigbarkeit

Strukturelle Nichtverteidigbarkeit

Zur Aktualität der Verletzbarkeit moderner Industriestaaten

von Rolf Bader1

Wer vor einem Krieg abschrecken will, muss ihn kämpfen können, lautet die gültige Maxime der militärischen Sicherheitspolitik. Landesverteidigung ist aber nur dann sinnvoll und gegenüber der eigenen Bevölkerung zu verantworten, wenn das, was verteidigt werden soll, nicht zerstört wird. Militärische Verteidigung moderner Industriestaaten ist dabei allerdings in einem unüberwindbaren Widerspruch gefangen – denn sie sind strukturell nicht verteidigbar.2 Zu militärischen Verteidigungsansätzen müssen also tragbare Alternativen entwickelt und propagiert werden.

Die Bundeswehr müsse wieder befähigt werden, ihren eigentlichen Auftrag der Landesverteidigung erfüllen zu können, so Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede kurz nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022. Folglich muss die heutige Sicherheitspolitik mit dem Fokus auf Landesverteidigung auch die Frage nach dem Überleben einer Gesellschaft im »Verteidigungsfall« überzeugend beantworten können. Wenn sich nämlich zeigen ließe, dass der Fortbestand des Lebens durch die Anwendung militärischer Gewalt (nicht nur durch einen Atomschlag) gefährdet wird, wären militärische Verteidigungsstrategien ein existentielles Risiko und somit keine überzeugende oder gar zulässige Option für Verteidigung.

Im Dezember 1988 gründete sich auf der Tagung der Naturwissenschaftler*innen-Initiative »Verantwortung für den Frieden e.V.« in Tübingen eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die es sich zur Aufgabe machte, die zivile Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften primär in Europa zu untersuchen und aus den Ergebnissen sicherheitspolitische Konsequenzen abzuleiten.

Es war die Zeit des Kalten Krieges. Hochgerüstet standen sich in Mitteleuropa entlang der deutsch-deutschen Grenze die Streitkräfte der NATO und des Warschauer Paktes gegenüber. Im Falle eines Krieges wären beide deutschen Staaten unmittelbares Schlachtfeld gewesen. Deshalb bemühte sich die Tübinger Forschergruppe auch um den Kontakt und den Austausch mit einer ähnlichen Arbeitsgruppe in der DDR, die dem Rat für Friedensforschung an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin angegliedert war. Der Leipziger Chemiker Karlheinz Lohs referierte schon 1987 auf einem Kongress der IPPNW in Essen über die Risiken, die von industriellen Ballungsräumen der Stoff- und Energiewirtschaft ausgingen. Seine Expertise half bei der Untersuchung der Gefahrenpotentiale der chemischen Großindustrie unter Kriegseinwirkung.

Zivile Verwundbarkeit

Hochindustrialisiert und extrem verwundbar, so lauten die kennzeichnenden Attribute der heutigen Zivilisation. Dichte Ballungszentren mit großer Industriekonzentration prägen im Besonderen die Situation in Mitteleuropa. Es hat sich eine Lebens- und Arbeitswelt entwickelt, die durch Komplexität, Vernetzung, Arbeitsteilung, Mobilität, Automation und Information gekennzeichnet ist.

Die Interoperabilität fast aller Arbeitsbereiche durch verschiedenste Kommunikations- und automatisierte Informationssysteme trägt zwar zur Produktions- und Effizienzsteigerung bei, erhöht aber gleichzeitig die Störanfälligkeit und Verwundbarkeit des Gesamtsystems. Die Gefahren durch Cyberangriffe auf lebenswichtige Versorgungseinrichtungen einer Gesellschaft wie Strom, Wasser und Logistik sind allgegenwärtig (vgl. BBK 2023, BSI 2022). Hacker-Angriffe auf die EDV-Systeme des Deutschen Bundestages, Stadtverwaltungen, Banken und Industrieunternehmen waren erfolgreich. Eine Unterbrechung des Kühlsystems von Atomkraftwerken – trotz redundanter Absicherung – wäre ein Super-GAU-Szenario mit unabsehbaren Folgen. Diese Gefahr wurde der Mehrheitsbevölkerung abrupt sichtbar, als mit der Sprengung des Staudamms von Kachowka Anfang Juni 2023 in den besetzten Gebieten der Ukraine die Kühlkette des größten europäischen Atomkraftwerks unterbrochen zu werden drohte.

„Die Leistungsfähigkeit und Stärke der hochentwickelten Industriestaaten hängen ab vom Funktionieren einer zivilen Infrastruktur, die hochgradig verletzlich ist und bereits mit nichtatomarer Munition und ‚intelligenten‘ Waffenträgern – niedrig fliegende, gelenkte Drohnen, Raketensysteme – ausgeschaltet werden kann.“ (Knies 1988, S. 81)

Ohne diese Infrastruktur sind Indus­triestaaten weitgehend handlungsunfähig. Allein ein längerer Stromausfall würde die gesamte elektronische und elektrisch gesteuerte Infrastruktur (bspw. Pipelines, Kraftwerke usw.) lahmlegen und alle wichtigen Lebens- und Arbeitsbereiche einer Gesellschaft empfindlich beeinträchtigen. Um aber die wichtigsten und großen Elektrizitätswerke und die Schaltzentralen zu zerstören, bedarf es keiner Atomwaffen. Es reichen »chirurgische« Einsätze mit zielgenauen konventionellen Waffen – auch dies wurde im Verlauf des Krieges in der Ukraine mit gezielten Angriffen auf Elektrizitäts- und Umspanneinrichtungen deutlich. Nicht nur den wichtigen Industrieanlagen, auch den lebenswichtigen Bereichen der Trinkwasser-, Fernwärme- und Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung droht in solchen Fällen der Kollaps. Eine hochindustrialisierte Zivilisation ohne Stromversorgung bedeutet Chaos und Desorganisation des gesellschaftlichen Lebens.

Schon 2010 formulierte das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Bundestag, dass ein längerer Stromausfall in Deutschland und „die dadurch ausgelösten Folgen […] einer nationalen Katastrophe gleich[käme]. Diese wäre selbst durch eine Mobilisierung aller internen und externen Kräfte und Ressourcen nicht beherrschbar, allenfalls zu mindern.“ (Petermann et al. 2010, S. 237) Es zeigt sich also, dass es völlig ausreicht, nur die lebenswichtigen Nervenzellen der Industriestaaten zu zerstören, um den ökonomischen und ökologischen Kollaps eines Staates herbeizuführen.

Verschränkte Risiken

Hier liegt nun eine Verschränkung mit der gleichzeitigen Komplexität und Vernetzung von Industriegesellschaften vor, die schon in Friedenszeiten ein erhebliches potentielles Risiko allgegenwärtig werden lässt: Industriekomplexe sind vor allem in der Nähe von Großstädten und Ballungszentren angesiedelt. Bei technischen Unfällen können diese das Leben vieler Menschen gefährden. Die Katastrophen von Seveso (Italien 1976), Bophal (Indien 1984), Tschernobyl (Sowjetunion/Ukraine 1986) und Fukushima (Japan 2011) sind Indizien für die Gefährlichkeit, die von Großtechnologien ausgehen kann. Die Flucht und Betroffenheit abertausender Menschen im direkten Umfeld der Industrieansiedlungen zeigt die Risiken der zivilen Verwundbarkeit deutlich auf. Industriekatastrophen dieser Art kennen weder nationale Grenzen noch soziale Schranken. Sie kennen nicht einmal zeitliche Grenzen und können Generationen von Menschen treffen. Die Irreversibilität der erzeugten Folgen ist ein wesentliches Novum.

Beispiel Chemieindustrie

Die geographische Betrachtung der industriellen Struktur Europas zeigt, welches Ausmaß die Ansiedelung chemischer Industrieanlagen vorrangig am Rand oder in der Nähe dicht besiedelter }Gebiete erreicht hat. Die Zentren der chemischen Industrie erstrecken sich von Norditalien bis an die Rhein- und Elbemündungen.

In den Industrieregionen der Chemie werden heute nichtmilitärische Giftstoffe als Vor-, Zwischen- oder Finalprodukte in großen Mengen hergestellt, weiterverarbeitet, gelagert und transportiert. Die Beherrschbarkeit der von der chemischen Industrie ausgehenden Risiken ist nur unter Friedensbedingungen realisierbar.

Schon 1988 dokumentierte der Chemiker und Toxikologe Prof. Karlheinz Lohs am Beispiel der Stoffe Chlor, Phosgen und Zyanwasserstoff, dass durch eine Zerstörung chemischer Großanlagen aus einem „EUROCHEMIA ein EUROSHIMA“ entstünde (Lohs 1989, S. 38). Die Produktionskapazitäten lagen schon damals für Chlor bei 25 Mio. Tonnen, für Phosgen bei 1,5 Mio. Tonnen und für Zyanwasserstoff bei 600.000-700.000 Tonnen im Jahr.

Ökozid als Kriegsstrategie

Aktuell droht in der Ukraine ein Umweltkrieg, der zu einem Ökozid werden könnte. Am Zugang zur Krim liegt eines der größten Chemiekombinate Europas. Im Krymskj-Titan-Werk werden Titandioxyd und andere hochgiftige Chemikalien produziert. Zehntausende Tonnen des hochexplosiven Ammoniaks sind dort gelagert. So wie Karlheinz Lohs schon 1988 nachwies, würde ein Einsatz konventioneller Waffen – z.B. ein Artilleriebeschuss – zu einer Explosion führen, die hunderte Quadratkilometer der Ukraine verseuchen würden.

Die mit Sprengung des Kachowka-Damms – sehr wahrscheinlich durch die russische Armee – verursachte Flutkatastrophe forderte Menschenleben und überschwemmte weite Gebiete, Dörfer und Städte entlang des Dnipro. Die mit­angeschwemmten Gift- und Explosionsstoffe – u.a. Pestizide, Schwermetalle und Minen – verseuchten zehntausende Hektar Land, die auf Jahre landwirtschaftlich nicht mehr nutzbar sein werden. Der Ökozid ist inzwischen nicht nur eine Kriegsfolge, sondern eine praktizierte Strategie der Militärs.

Beispiel Atomenergie

Ein weiteres Risiko sind die rund 110 Reaktorblöcke in 13 Staaten der Europäischen Union, die aktuell noch in Betrieb sind (BMK 2023). Obwohl immer wieder behauptet wird, der Schutzmantel der Reaktorblöcke wäre auch bei einer direkten Einwirkung konventioneller Waffen noch intakt, sind Zweifel angebracht. Es ist eher davon auszugehen, dass mit einer Beschädigung zu rechnen ist. Moderne panzerbrechende Waffen mit einer wesentlich höheren Durchschlagsleistung und Sprengstoffmenge könnten bei einem Direktbeschuss einen Bruch des Schutzmantels bewirken (vgl. Greenpeace 2010). Die Gefahr einer Kernschmelze besteht im Kriegsfall auch schon bei einem längeren Ausfall der Stromversorgung und der Kühlung der Reaktoren (wie im oben diskutierten Fall des ukrainischen Kernkraftwerkes Saporischschja vielfach sichtbar wurde).

Die Analyse ließe sich mit etwa gleichen Resultaten auf alle weiteren Lebensbereiche ausdehnen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist auch in der Versorgungs- und Wasserwirtschaft, im Transport-, Kommunikations- und Informationsbereich, im Gesundheitswesen, im Kultur-, Bildungs- und Sozialbereich einer Gesellschaft bei einem Waffeneinsatz mit großen, vielleicht sogar irreversiblen Schäden zu rechnen.

Dies wirft Fragen auf: Ist die Störanfälligkeit und existentielle Verwundbarkeit hochindustrialisierter Staaten grundsätzlich reduzierbar? Gibt es realistische Szenarien und Maßnahmen, diesen Zustand durch eine Reduzierung der Gefahrenpotentiale, durch technische Maßnahmen oder durch einen verstärkten, verbesserten Zivilschutz aufzuheben? Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik gibt es sicher Möglichkeiten, durch Redundanz die Störanfälligkeit des Gesamtsystems zu mindern. Auch durch Zivilschutzmaßnahmen ließen sich Schäden und gravierende Störungen reduzieren. Ein flächendeckender Schutz ist nach Einschätzung des Büros für Technikfolgenabschätzung aber nicht realisierbar (vgl. Petermann et al. 2010) – und eine weitere Versicherheitlichung und Militarisierung kritischer Infrastruktur sind auch nicht sinnvoll. Die Verwundbarkeit moderner Industriestaaten ist also eine unumgängliche Faktizität: Die Staaten und ihre Gesellschaften sind nur noch unter Friedensbedingungen lebens- und funktionsfähig.

Militärische Landesverteidigung – ein existentielles Risiko ?

Ein konventioneller Verteidigungskrieg aber scheint nach Überzeugung hochrangiger Militärs und Fachpolitiker*innen immer noch mit kalkulierbarem Risiko führbar, zumal nur begrenzte Kollateralschäden durch den Einsatz konventioneller Waffen entstünden. Die Zerstörungswirkung wird verharmlost, um ein entsprechendes Kriegsbild mit noch tragbaren Opfern aufrechterhalten zu können.

Ein auf das Schlachtfeld begrenztes Szenario (wie zuletzt im I. Weltkrieg) ist völlig unrealistisch, da sich ein Krieg nicht mehr regional begrenzen lässt. Wie sollen Ballungszentren, das Ruhrgebiet, Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München militärisch verteidigt werden? Wie sehen realistische Evakuierungspläne für Millionen Menschen aus? Wie viele Millionen flüchtender Menschen werden einkalkuliert? Ist eine medizinische Versorgung von hunderttausenden verletzten Soldat*innen und Zivilist*innen überhaupt realisierbar?

An der Scheidelinie zwischen der NATO und Russland stehen sich hochgerüstete Streitkräfte gegenüber. Waffenarsenale aller Art – konventionell wie atomar – könnten bei einem Versagen der Abschreckung im Verteidigungsfall in Europa eingesetzt werden. Und auch schon unterhalb der Ebene der atomaren Eskalation zeigen sich hier existentielle Gefahren.

Denn in den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich weitgehend alle Parameter der konventionellen Waffentechnik deutlich verschoben: vor allem durch die Steigerung der Reichweite, der Durchschlagskraft und Zerstörungswirkung im Zielbereich. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Vernichtungswirkung konventioneller Waffen auf einer immer größeren Fläche. Die Schäden, die durch den massenhaften Einsatz dieser Flächenwaffen hervorgerufen werden, töten und verletzen nicht nur Soldat*innen auf dem Gefechtsfeld sondern auch die betroffene Zivilbevölkerung.3 In den konventionellen Kriegen wird das Sterben zunehmend vergesellschaftet. Die Unterscheidung zwischen Kombattant*in und zu schützender Zivilperson trägt nicht mehr. Auch scheint es zunehmend weniger Hemmungen kriegführender Parteien zu geben, Infrastruktur zu vernichten (Gebäude usw.), obwohl im Kriegsvölkerrecht klar geächtet.

Widersprüche der militärischen Verteidigung

Die NATO-Staaten haben sich entschlossen, als Reaktion auf den verbrecherischen russischen Angriff auf die Ukraine ihre Streitkräfte massiv aufzurüsten. Dem Aggressor soll damit abschreckend vor Augen geführt werden, dass ein Krieg und der Angriffskrieg im Besonderen keinen Erfolg haben wird. Diese Strategie der Wehrhaftigkeit scheint die einzige Option zu sein, der Aggression erfolgreich begegnen zu können. Das kann durchaus gelingen – birgt aber unkalkulierbare Risiken. Der Krieg kann jederzeit eskalieren.

Überall dort, wo die Waffen zum Einsatz kommen und ihre vernichtende Wirkung ausbreiten können, bleibt verbrannte Erde zurück. Das belegen schon die Kriege in weniger hochindustrialisierten Staaten, wie im Irak, in Syrien, in Afghanistan. Nicht zuletzt jedoch zeigt eben auch der Krieg in der Ukraine die Auswirkungen dieser strukturellen Nichtverteidigbarkeit. Von den betroffenen Städten bleiben nur noch Ruinen übrig. Die Zivilbevölkerung lebt nach den Angriffen in einem Stadium des »Vegetierens« – ohne Strom, Wasser, Versorgung, in den Resten der Ruinen (im Winter in feuchter Kälte). Zivile Katastrophenhilfe nach Angriffen kann dieses Leid nur begrenzt lindern – und im schlimmsten Fall massiver Angriffe gar nicht darauf reagieren. Krieg bedeutet Tod, Verstümmelung und schlimmste Verletzungen an Leib und Seele.

Eine Demokratie wehrhaft militärisch nach außen zu verteidigen klingt zwar sehr plausibel, trägt aber dieses unauflösbare Dilemma in sich: Aus der Synergie von Vulnerabilität und vernichtender Waffenwirkung resultiert die »Strukturelle Nichtverteidigbarkeit« moderner Industriestaaten. Sie stellt die Sinnhaftigkeit einer militärischen Wehrhaftigkeit, die auf Verteidigung mit Waffengewalt baut, grundsätzlich in Frage. Deshalb bedarf es eines Instrumentariums, das über Krisenprävention und Diplomatie zwischenstaatliche Konflikte entschärft und zur Deeskalation erfolgreich beiträgt, sowie Mitteln der Wehrhaftigkeit ohne Waffen.

Von der Nichtverteidigbarkeit zur »Kultur des Friedens«

Das Dilemma der Nichtverteidigbarkeit ruft also dazu auf, präventiv Krieg zu verhindern. Um dies erfolgreich tun zu können, bedarf es einer Renaissance der UN-Charta von 1945, spezifisch ihres Friedensgebotes. „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ (Kapitel I, 2 UN-Charta)

Es bedarf einer strategischen Allianz von (auch und vor allem hochindustrialisierten) Mitgliedsstaaten in der UN, die aus dem Dilemma der Nichtverteidigbarkeit agieren und sich gegen den Widerstand der aktuell stark als Vetoakteure auftretenden Staaten USA, Russland und China durchsetzen können. Dazu gehören auch blockfreie Staaten aus Asien, Südamerika und Afrika. Dass dies gelingen kann, belegen eine Reihe von Abkommen, die durch die UN-Vollversammlung beschlossen wurden, auch gegen den organisierten Widerstand: beispielsweise das Verbot von Antipersonenminen und Streumunition von 1999 oder auch die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes 2002; prominent und von großer Relevanz sind ebenso das Pariser Abkommen zum Klimaschutz von 2015 und der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV), der am 22.01.2021 in Kraft trat (vgl. Zumach 2021, S. 16). Bei der Gewichtung strategischer Ziele der UN haben die Verhinderung eines Atomkrieges und die Eindämmung des Klimawandels höchste Priorität, weil sie die Existenz des Lebens bedrohen.

Rüstungskontrolle, Abrüstung und Entspannung sind und bleiben auch zukünftig eine zentrale Aufgabe der Vereinten Nationen und der Mitgliedsstaaten. Es bedarf verstärkt diplomatischer Initiativen, um Verhandlungen zu befördern. Besonders der Generalsekretär der UN ist gefordert, diesen Prozess anzustoßen. Diese und weitere Maßnahmen müssten zusammengefügt eine Kultur des Friedens zu etablieren helfen – wie es dazu in der Erklärung einer Arbeitsgruppe in Deutschland schon in den 1980er Jahren hieß:

„Aus der Erfahrung zu lernen heißt, die zerstörerische Idee des Krieges aus den Köpfen der Menschen weltweit zu verbannen, damit die Idee einer Kultur des Friedens Raum in ihrem Bewusstsein finden kann. Kultur des Friedens bedeutet Gegenentwurf zu einer Welt mit Krieg, Hunger, Hass, Ausbeutung, Zerstörung der Natur und der menschlichen Persönlichkeit“ (Abschlussproklamation für eine Kultur des Friedens, Internationaler Kongress „Kultur des Friedens“, Tübingen 6.-8.5.1988).4 Eine solcherlei verstandene Kultur des Friedens kann dann gleichermaßen eine Alternative präventiver Deeskalation schaffen helfen, die einer Welt struktureller Nichtverteidigbarkeit angemessen ist.

Anmerkungen

1) Der Autor dankt dem verantwortenden Redakteur von W&F, David Scheuing, sehr für seine vielfältigen Anregungen und Kommentare zu diesem Beitrag, die diesen wesentlich verbessert haben.

2) Die Wortschöpfung »Strukturelle Nichtverteidigbarkeit« stammt von Michael Kortländer, dem ehemaligen Leiter des Instituts für Psychologie und Friedensforschung e.V. (IPF) in München, um dem Konzept der »Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit« des Instituts für Sicherheitspolitik und Friedensforschung der Universität Hamburg (IFSH) ein Pendant gegenüberzustellen. »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit« forderte eine Streitkräftestruktur, die konzeptionell und in der Waffenausrüstung auf effiziente Verteidigung und militärische Abhaltung ausgerichtet ist. Es entwickelte sich in der Folge ein kritischer Diskurs und wertvoller Austausch beider Friedensforschungsinstitute.

3) Die Mehrfach-Raketenwerfer MARS der Bundeswehr und HIMARS der US-Streitkräfte können pro Rakete eine Fläche von ca. 1,3 km² (ca. 185 Fußballfelder) abdecken. Sie haben eine Reichweite bis zu 80km. Die Artilleriesysteme (u.a. die Panzerhaubitze 2000) werden im Verbund mit Luftstreitkräften eingesetzt. Teilweise wird sogar Uranmunition verwendet.

4) Im Mai 1988 trafen sich in Tübingen Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen, um einen Gegenentwurf zu unserer bedrohten Welt zu entwickeln. Zu ihnen gehörten u.a. Mikis Theodorakis, Tschingis Aitmatov, Robert Jung, Christa Wolf und Hans Peter Dürr. Die von ihnen proklamierte »Kultur des Friedens« zielt auf Konfliktlösung über Dialog und Diplomatie. Sie basiert auf der Achtung vor dem Leben, der menschlichen Würde und den Menschenrechten.

Literatur

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) (2023): Cybergefahren. Homepagebeitrag, bbk.bund.de.

Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) (2022): Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland. BSI-LB22/511, bsi.bund.de.

Greenpeace (2010): Terrorangriff mit einer panzerbrechenden Waffe (AT-14 Kornet-E) auf (ältere) deutsche Atomkraftwerke Bericht, gekürzte Fassung. Erstellt von Dipl.-Physikerin Oda Becker, im Auftrag von Greenpeace Deutschland e.V.

Knies, G. (1988): Friedfertigkeit durch zivile Verwundbarkeit? S+F 2/88, S. 81-87.

Lohs, K. (1989): Risikopotential Chemie. Wissenschaft und Frieden 1/89, S. 37-38.

Österreichisches Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) (2023): Kernenergie in der EU, Webseite des Ministeriums, bmk.gv.at.

Petermann, T. et al (2010): Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und langandauernden Ausfalls der Stromversorgung. Endbericht zum TA-Projekt. Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), Arbeitsbericht Nr. 141, November 2010.

Zumach, A. (2021): Reform oder Blockade – Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunkt Verlag.

Rolf Bader, Dipl. Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr und ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der IPPNW, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vorstandsmitglied am ehem. Institut für Psychologie und Friedensforschung e.V.

Defensive Verteidigung

Defensive Verteidigung

Orientierungshilfen aus den 1980ern

von Lukas Mengelkamp

Ideen und Konzepte über defensive Verteidigung aus den 1980er Jahren könnten heute Orientierung bieten, wie insbesondere die territoriale Integrität der ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten zu garantieren ist, ohne dabei das bestehende Sicherheitsdilemma mit Russland noch weiter zu verschärfen, die Rolle von Nuklearwaffen aufzuwerten und das Wettrüsten auf Dauer zu stellen. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über den Entstehungskontext, die Genese und Aktualität dieser militärischen Konzepte.

Als in den 1980ern der Streit um die »Nachrüstung« tobte, wurde den Gegner*innen der Stationierung von US-amerikanischen Pershing-II Mittelstreckenraketen und landgestützten Marschflugkörpern häufig vorgehalten, ihre Alternativvorschläge seien illusionär, naiv und utopisch. Unilaterale Abrüstung oder »soziale Verteidigung«, das heißt gewaltfreier Widerstand, würden die Abschreckung untergraben und Westeuropa der Sowjetunion ausliefern. Dem wurde aus den Friedensbewegungen entgegengehalten, dass die Rüstung der NATO ebenso wenig in der Lage sei, den Konflikt mit der Sowjetunion langfristig einzuhegen oder gar zu lösen. Die heutige Debatte scheint entlang ähnlicher Gegensätze zu verlaufen: Aufrüstung gegen Abrüstung. Betrachtet man die Debatten der 1980er Jahre über Alternativen zur NATO-Strategie jedoch genauer, fällt auf, dass diese weitaus differenzierter waren als in Rückblicken häufig dargestellt. So standen sich nicht schlicht »Aufrüster*innen« und »Abrüster*innen« gegenüber. Das Feld der Unterstützer*innen des NATO-Doppelbeschlusses war vielmehr aufgeteilt in jene, die darin tatsächlich eine Erweiterung der Fähigkeiten zur nuklearen Kriegsführung sahen, und jene, deren Anliegen die Sicherung der Abschreckung in Europa war. Auf Seiten der Kritiker*innen des Doppelbeschlusses befanden sich neben Befürworter*innen von allgemeiner Abrüstung auch prinzipielle Unterstützer*innen der Abschreckung, die jedoch die Nachrüstung für unnötig oder gar gefährlich hielten. Hinzu kamen Friedensforscher*innen und Militäranalyst*innen, die sich für militärisch defensive konventionelle Alternativen stark machten.1

Die NATO-Strategie der »Flexible Response«

Im Jahr 1967 löste innerhalb der NATO die Strategie der »Flexible Response« (Flexible Antwort) die noch aus den 1950er Jahren stammende »Massive Retaliation«-Doktrin (Massive Vergeltung) ab, die auch auf rein konventionelle Angriffe des Warschauer Paktes mit einem massiven nuklearen Angriff auf die Sowjetunion geantwortet hätte. Da der Warschauer Pakt in Europa zumindest zahlenmäßig auf der konventionellen Ebene überlegen war und die Sowjetunion im Laufe der 1960er Jahre die Fähigkeit erworben hatte, auch das US-amerikanische Festland mit Interkontinentalraketen anzugreifen, schien die Androhung eines allgemeinen Nuklearschlages im Falle eines Krieges in Europa nicht mehr glaubwürdig. Für die NATO ergab sich daraus ein Dilemma: Während die europäischen NATO-Mitglieder sicherstellen wollten, dass jeder Krieg auf die strategische nukleare Ebene eskalieren würde, so dass keine Partei jemals ein Interesse daran entwickeln könnte, schien es aus US-amerikanischer Sicht geboten, einen Krieg nach Möglichkeit auf Europa zu begrenzen. Dies erforderte zum einen die Stärkung des konventionellen Elements der NATO-Verteidigung und zum anderen flexiblere und auf Europa »begrenzte« nukleare Optionen, wobei hier die Bandbreite von reiner Demonstration des Willens zum Einsatz von Nuklearwaffen bis hin zur vollständigen Integration »taktischer« Nuklearwaffen in die reguläre Kriegsführung reichte. Aus europäischer Sicht war die Unterscheidung zwischen dem globalen und »begrenzten« Nuklearkrieg jedoch Makulatur, würden beide doch zur vollständigen Zerstörung Europas führen.

Die Strategie der Flexible Response war ein politisch-militärischer Kompromiss, welcher diesen amerikanisch-europäischen Gegensatz überbrücken sollte. Die Strategie war offen genug formuliert, so dass beide Seiten ihre jeweiligen Präferenzen in sie hineininterpretieren konnten. Während dieser Kompromiss auf der politischen Ebene bis in die 1980er Jahre relativ gut funktionierte, ergaben sich auf der militärischen Ebene große Probleme bei der Umsetzung, die letztlich auch wieder auf die politische Ebene durchschlagen sollten. Die konkrete Umsetzung der Flexible Response musste allein aufgrund ihres Kompromisscharakters schwerfallen, denn was auf politischer Ebene Spielraum für die unterschiedlichen Interessen beiderseits des Atlantiks erkaufte, erschwerte Planungs- und Anschaffungsprozesse auf militärischer Ebene. So konnte sich die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der NATO erst im Oktober 1986 – nach fast 20 Jahren Beratungen – auf Richtlinien für die Planung des Nuklearwaffeneinsatzes im Rahmen der Flexible Response einigen. Bereits Anfang der 1970er Jahre hatte innerhalb der NATO eine Diskussion da­rüber begonnen, ob die Flexible Response eine Modernisierung der so genannten »Theater Nuclear Forces« (TNF), der nuklearen Gefechtsfeldwaffen, erforderlich machen würde. Ein Großteil der ca. 7.000 in Westeuropa stationierten taktischen Nuklearwaffen stammte noch aus den 1950er Jahren und damit aus der Ära der Massiven Vergeltung. Darunter fand sich eine Vielzahl an nuklearer Munition für Artillerie und Kurzstreckenraketen. In der Debatte über die Modernisierung der TNF bildete sich eine widersprüchliche transatlantische Koalition aus Experten*innen heraus, die für die Einführung moderner Mittelstreckenwaffen warben, insbesondere die damals noch in Entwicklung befindlichen Marschflugkörper. Während in der Argumentation von US-Experten wie Albert Wohlstetter Überlegungen über die Begrenzbarkeit und Führbarkeit eines Nuklearkrieges Pate standen, ging es aus westeuropäischer und deutscher Sicht insbesondere darum, jene Waffen zu ersetzen, die aufgrund ihrer kurzen Reichweite nur Ziele auf dem Territorium der Bundesrepublik, der DDR oder der Tschechoslowakei angreifen konnten. Zudem war damit auch die Hoffnung verbunden, dass Mittelstreckenwaffen Europa an das strategische Arsenal der USA »koppeln« würden. Mit ihrer Hilfe konnte man von Europa aus die Sowjetunion bedrohen. Damit war auch automatisch die interkontinentale Dimension der Abschreckung berührt. Mit der Aufstellung der SS-20 Mittelstreckenraketen in der Sowjetunion ab Ende der 1970er Jahre intensivierte sich die Debatte über die TNF-Modernisierung schließlich massiv und kam mit dem NATO-Doppelbeschluss 1979 auch in der breiteren Öffentlichkeit an. Die Widersprüchlichkeit der nuklearen Abschreckung im Allgemeinen und der Flexible Response im Besonderen rückte so ins Scheinwerferlicht. Die Vielzahl an unterschiedlichen politischen Deutungsangeboten zur Flexible Response geriet jetzt von einem politischen Vor- zu einem Nachteil. Zum ersten Mal verlangten Bürger*innen millionenfach Auskunft darüber, wann und wie die NATO denn gedenke, die Nuklearwaffen einzusetzen – also genau den Punkt, über den man sich bis dahin selbst innerhalb der NATO gerade nicht einig war. Angesichts der massiven Kritik an der nuklearen Komponente der geltenden Strategie wuchs allenthalben das Interesse an konventionellen Alternativen.

Die Suche nach konventionellen Alternativen

In historischen Rückblicken auf die 1980er Jahre wird das Thema konventioneller Alternativen häufig auf die »AirLand Battle«-Doktrin der US Army und das NATO-Konzept des »Deep Strike« (Tiefer Schlag) reduziert. Die AirLand Battle-Doktrin war Ausdruck der »Wiederentdeckung« der operativen Ebene in der US Army im Laufe der 1970er Jahre. Erstmals fanden hier NATO-Streitkräftestruktur und -Doktrin zueinander: Die großen und schweren Panzerverbände sollten nicht nur wie bisher im Rahmen der Vorneverteidigung eine grenznahe Linie so lang wie möglich gegen die Streitkräfte des Warschauer Paktes halten, sondern Bewegungskrieg führen. Vorgesehen waren Gegenstöße bis auf das Territorium der DDR und der Tschechoslowakei, um die zahlenmäßig überlegenen gegnerischen Streitkräfte an ihren verletzlichen Flanken und im rückwärtigen Raum bedrohen zu können. Während die erste Welle des Warschauer Paktes so besiegt werden sollte, würden tiefe präzise Schläge mit konventioneller Langstreckenmunition auf die Verkehrsadern in Ostmitteleuropa es der zweiten Welle unmöglich machen, rechtzeitig das Schlachtfeld zu erreichen. Doch die angedachte Konventionalisierung der Verteidigung, die die in der Bevölkerung unbeliebte nukleare Komponente zurückdrängen sollte, stieß auf bereits bekannte Probleme und Widerstände. Gleich stand wieder die Kritik im Raum, die Strategie würde einen Krieg in Europa nicht abschrecken, sondern vielmehr wahrscheinlicher machen, da er wieder als führbar gelten könne. Der angedachte Bewegungskrieg würde die NATO-Mitglieder dazu nötigen, ihre konventionellen Streitkräfte massiv auszubauen. Vielen Beobachter*innen erschien dies aus politischen, wirtschaftlichen und auch demographischen Gründen kaum durchführbar. Nicht zuletzt wurde dem Konzept vorgehalten, dass auch begrenzte Vorstöße auf das Territorium des Warschauer Paktes in Moskau als Beginn einer großangelegten strategischen Gegenoffensive wahrgenommen werden und damit der Einsatz von Nuklearwaffen ausgelöst werden könnte. Darüber hinaus schien es fraglich, ob konventionelle Waffen tatsächlich in der Lage sein würden, die Verkehrsadern in ganz Ostmitteleuropa lahm zu legen. So lange nicht massive Vorräte an präzisen Bomben, Raketen und Marsch­flugkörpern angelegt würden – mit entsprechenden Kosten – würde man zur Blockierung der zweiten Welle im Zweifel doch wieder auf nukleare Mittelstreckensysteme angewiesen sein (Unterseher 1987).

Den Konzepten von AirLand Battle und Deep Strike, die man auch als offensive Varianten der Konventionalisierung bezeichnen könnte, setzten einige Kritiker*innen defensive Alternativen entgegen. Bereits 1970 hatte Carl Friedrich von Weizsäcker die Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« veröffentlicht, die erstmals die katastrophalen Folgen auch eines »begrenzten« Einsatzes von Nuklearwaffen in Europa wissenschaftlich aufarbeitete (Weizsäcker 1971). In Reaktion darauf begann Horst Afheldt, ein Mitarbeiter Weizsäckers am »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, rein konventionelle und defensive Verteidigungsmodelle zu entwickeln (Afheldt 1976).

Diese zielten darauf ab einerseits die sowjetischen Panzerverbände aufzuhalten und gleichzeitig keine lukrativen Ziele für taktische Nuklearwaffen zu bieten. Konkret schlug Afheldt dazu den Aufbau eines Netzwerks aus »Technokommandos« vor, kleinen Infanterieeinheiten, die mit modernen Panzerabwehrwaffen ausgestattet, aus vorbereiteten versteckten Stellungen sowjetische Verbände angreifen sollten. Außerdem sollten diese Infanterieeinheiten zusätzlich durch Artillerie unterstützt werden. In den 1980er Jahren nahm die »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« (SAS), die maßgeblich vom Soziologen Lutz Unterseher geleitet und inhaltlich geprägt wurde, die Netzwerkidee auf. Sie reagierte aber auch auf die bestehende Kritik an Afheldts Konzept, dem man vorhielt, »monokulturell« und durch den kombinierten Einsatz von Infanterie, Panzern und Luftstreitkräften überwindbar zu sein. In Untersehers Vorstellung sollte das »Netz« aus Infanterie und Artillerie durch vergleichsweise kleine mobile gepanzerte Kräfte ergänzt werden. Sie sollten an den Orten unterstützend eingreifen, wo das Netz allein einen Angreifer nicht hätte aufhalten können. Entscheidend war jedoch, dass die mobilen Kräfte über keinen großen eigenen logistischen Apparat verfügen würden und stattdessen zur Versorgung auf das Netz angewiesen blieben. Die mobilen Kräfte sollten wie eine „Spinne in ihrem Netz“ agieren können, außerhalb davon aber nicht in der Lage sein zu manövrieren (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989, S. 153ff.). Insgesamt würde das Konzept, so die Hoffnung, ein unilaterales »Ausklinken« aus dem Wettrüsten ermöglichen, ohne dabei Abstriche an der eigenen Sicherheit machen zu müssen. Unterseher führte dazu den Begriff »Vertrauensbildende Verteidigung« ein: Einerseits Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Verteidigung ohne Nuklearwaffen, da diese zerstören würden, was man hoffte zu verteidigen. Andererseits die Herstellung von Zuversicht auf der Gegenseite, dass keine Absicht bestand, selbst offensive Operationen durchzuführen, da man dazu auch kaum in der Lage war (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989).

»Differenzierende Abschreckung« oder defensive Verteidigung?

Das Dilemma der Flexible Response, ein politischer Kompromiss zu sein, der sich militärisch nicht umsetzen ließ, führte bereits unter Zeitgenossen dazu, sie als Mythos zu bezeichnen. Da dies im allgemeinen politischen Bewusstsein in Westeuropa und insbesondere in der Bundesrepublik immer offensichtlicher wurde, begann sich Interesse an defensiven Alternativen bis in die Bundesregierung und Bundeswehr zu bilden.

Die Unterzeichnung des INF-Vertrages 1987 ließ die westeuropäischen Regierungen zum Teil ratlos und verärgert zurück: Die »Nachrüstung«, für die sie jahrelang gegen massiven Widerstand in den eigenen Bevölkerungen gekämpft hatten, wurde rückgängig gemacht, ohne dass das konventionelle Ungleichgewicht in Europa adressiert worden wäre. Gleichzeitig ließ die Debatte in den USA über die Militärstrategie der Zukunft auch in etablierten sicherheitspolitischen Kreisen immer stärkere Zweifel an der Flexible Response aufkommen. Im Januar 1988 wurde ein von der US-Regierung in Auftrag gegebener Expert*innenbericht veröffentlicht, der unter dem Titel »Discriminate Deterrence« (Differenzierende Abschreckung) für eine Konventionalisierung der NATO-Strategie eintrat (Iklé und Wohlstetter 1988). Die Nuklearwaffen in Westeuropa sollten weitestgehend abgezogen werden, die verbleibenden modernisiert und wie »normale« Waffen in die Verteidigungsplanung integriert werden. Der Bericht rief in ganz Westeuropa und über das gesamte politische Spektrum hinweg Ablehnung und sogar Empörung hervor. Argumente, die vor kurzem eher aus den Friedensbewegungen zu hören gewesen waren, wurden nun auch von Befürworter*innen der »Nachrüstung« aufgegriffen. Der Verteidigungsexperte der FAZ, Karl Feldmeyer, interpretierte den Bericht als eine Absage an die Flexible Response. An die Stelle der Abschreckungs- würde eine Kriegsführungsstrategie treten. Der erzkonservative Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, geißelte den Bericht bei einem Besuch in Washington als Versuch, einen Krieg auf Europa zu begrenzen und die USA von Westeuropa sicherheitspolitisch abzukoppeln. Gleicher Ansicht waren auch Verteidigungsminister Manfred Wörner und sein Staatssekretär Lothar Rühl, die beide öffentlich Stellung gegen den Bericht bezogen (vgl. zu den Stellungnahmen: Armes 1988, S. 252ff.). Auch wenn sich die neue US-Regierung unter George H. W. Bush angesichts der massiven Kritik aus Westeuropa von dem Bericht distanzierte, legte die Kontroverse doch offen, wie wenig die Strategie der Flexible Response noch in der Lage war, die unterschiedlichen Interessen, Verteidigungskonzeptionen und Wahrnehmungen der internationalen Lage im Bündnis zu integrieren.

Der Rezeptionsprozess der defensiven Alternativen begann sich nun auch in der Sache auf beiden Seiten des Atlantiks zu intensivieren. Die Weißbücher des Verteidigungsministeriums von 1983 und 1985 wie auch der Verteidigungsausschuss des Bundestags hatten diese lediglich zur Kenntnis genommen und auch dies war wohl eher dem öffentlichen Druck als genuinem Interesse geschuldet. Am Ende des Jahrzehnts setzte sich in der Bundesrepublik mit General a.D. Gerd Schmückle aber ein Schwergewicht des sicherheitspolitischen Establishments öffentlich für defensive Alternativen ein. Zusammen mit Albrecht von Müller, einem Mitarbeiter Horst Afheldts, legte Schmückle im Mai 1988 der Bundesregierung ein Abrüstungsprogramm vor, das die defensive Restrukturierung der Streitkräfte in Ost und West forderte. Im Januar 1989 veranstaltete das der US-amerikanischen Friedensbewegung nahestehende »Institute for Defense and Disarmament Studies« (IDDS) zusammen mit der Pentagon-nahen RAND Corporation einen Workshop zur defensiven Neustrukturierung der NATO-Verteidigung in Europa, auf dem Lutz Unterseher die Ideen der »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« vorstellte. Mit RAND war die Debatte über defensive Alternativen nun selbst im intellektuellen Geburtsort der Nuklearstrategie angekommen. Durch den Mauerfall 1989 und den anschließenden Zerfall der Sowjetunion entfiel jedoch das nukleare Dilemma der NATO. Dadurch endete auch die breite Debatte über verteidigungspolitische Alternativen, die in den frühen 1980er Jahren maßgeblich unter dem Druck der Friedensbewegungen begonnen hatte.

Defensive Verteidigung – ein Modell mit Zukunft?

Die heutige Debatte über die zukünftige Verteidigungspolitik in der Bundesrepublik erscheint oft als prinzipieller Gegensatz zwischen jenen, die für das Sondervermögen und eine dauerhafte Erhöhung des Wehretats eintreten, und jenen, die darin lediglich eine Verschwendung von Kapital sehen, welches besser für die Bekämpfung des Klimawandels und den Erhalt des Sozialstaats eingesetzt werden sollte (siehe bspw. »Der Appell« von 2022). Relativ selten wird allerdings die Frage nach dem »wie« der Verteidigung gestellt und wenn, bleibt es häufig bei einer im Allgemeinen verharrenden Gegenüberstellung von Abschreckung und Diplomatie. So heißt es bspw. in dem Aufruf »Der Appell« vom März 2022: „Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfflugzeugen und bewaffnungsfähigen Drohnen als Abschreckung unter atomaren Militärblöcken ist sinnlos.“ (Dieren u.a. 2022) Vor dem Hintergrund der dargestellten Debatten über die Nuklearstrategie der NATO im Ost-West-Konflikt könnte man diesen Satz durchaus als ein Eintreten für eine Strategie der Massiven Vergeltung lesen. Mindestens aber scheint hier ein dichotomes Denken auf, das nur die Alternativen von nuklearer Abschreckung, mit ihren bekannten Paradoxien und Gefahren, und allgemeiner Abrüstung kennt. Umgekehrt haben Befürworter*innen des Sondervermögens und eines langfristig gesteigerten Verteidigungshaushalts bisher selbst keine konkreten Konzepte vorgelegt, wie sie sich die zukünftige Verteidigung etwa des Baltikums vorstellen.

Die zukünftige Verteidigung muss zwei Anforderungen gerecht werden: Sie muss Krisenstabilität gewährleisten, also nicht zur (unbeabsichtigten) Eskalation beitragen und gleichzeitig glaubwürdig in der Lage sein, einen gezielten Angriff, vergleichbar dem auf die Ukraine, abwehren zu können. Für die erste Anforderung stellt sich jedoch unter anderem im Baltikum ein Dilemma: Der begrenzte Raum, die geografische Lage und die Siedlungsdichte schließen eine Rückkehr zu überkommenen, panzerlastigen Konzepten konventioneller Verteidigung aus. Diese würden zu hohen Truppenkonzentrationen auf engem Raum führen, die sich als Ziele für taktische Nuklearwaffen geradezu anbieten. Schweren Verbänden bliebe, um den Raum zu gewinnen, der nötig ist, um ihre militärischen Stärken auszuspielen, nur der Ausbruch in Richtung Belarus und Russland selbst. Auch muss dahingestellt bleiben, ob »tiefe Schläge« im Sinne von »Deep Strike«-Konzepten, selbst wenn sie nur konventionell durchgeführt würden, nicht auch Kommando- und Kontroll-Einrichtungen der russländischen Nuklearstreitkräfte beeinträchtigen würden. Eine Eskalation auf die nukleare Ebene wäre nicht auszuschließen. Im Falle einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland würde damit auf beiden Seiten massiver Druck herrschen, als erster anzugreifen (Präemption), um einem tatsächlichen oder nur vermuteten Angriff des Gegners zuvorzukommen.

Defensive Verteidigungskonzepte nach dem Prinzip der »Spinne im Netz« könnten hier einen Ausweg weisen. Durch die Netzstruktur würden lohnende Ziele für Nuklearwaffen vermieden werden. Mobile gepanzerte Elemente könnten auf Größen begrenzt bleiben, die den geographischen Bedingungen im Baltikum Rechnung tragen. Ebenso würde die Notwendigkeit für präemptive tiefe Schläge ins Hinterland entfallen. Die Anforderung der Krisenstabilität würde also erfüllt werden. Gleichzeitig aber bliebe die zweite zentrale Anforderung durch eine Spezialisierung auf defensive Kräfte erfüllt: Die erfolgreiche Abwehr eines gezielten Angriffs. Unter diesen Bedingungen könnte ein solches Konzept dann langfristig auch Rüstungskontrolle ermöglichen.

Anmerkung

1) Ebenso existente nicht-militärische Verteidigungskonzepte sollen mit diesem Beitrag nicht absichtlich übersehen werden. Der Schwerpunkt liegt mithin aufgrund der gebotenen Kürze des Beitrags auf der Erörterung militärischer Konzepte. Eine Darstellung der »Sozialen Verteidigung« u.a. Konzepte muss an anderer Stelle erfolgen.

Literatur

Afheldt, H. (1976): Verteidigung und Frieden – Politik mit militärischen Mitteln. München: Hanser.

Armes, K. (1988): Discriminate deterrence: Western European comment. The Atlantic Community Quarterly, 26(3), S. 247-269.

Dieren, J. u.a. (2022): Der Appell – HET BONHE – Nein zum Krieg! – Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz! Veröffentlicht als Homepage, März 2022.

Iklé, F.; Wohlstetter, A. (1988): Discriminate deterrence. Report of the commission on integrated long-term strategy. Washington, DC.: Department of Defense.

Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (Hrsg.) (1989): Vertrauensbildende Verteidigung – Reform deutscher Sicherheitspolitik. Gerlingen: Bleicher Verlag.

Unterseher, L. (1987): Bewegung, Bewegung! Zur Kritik eingefahrener Vorstellungen vom Krieg. Sicherheit und Frieden 5(2), S. 90-97.

Weizsäcker, C. F. v. (Hrsg.) (1971): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung. München: Hanser.

Lukas Mengelkamp, M.A., wohnhaft in Darmstadt, ist Historiker und promoviert an der Universität Marburg über die Geschichte der Kritik nuklearer Abschreckung in den 1970er und 1980er Jahren.

Bilanz eines Desasters

Bilanz eines Desasters

Zum Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan

von Matin Baraki

Trotz 20 Jahren Krieg ist es den USA und ihren NATO-Verbündeten nicht gelungen, die Taliban zu besiegen. Die USA mussten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren. Damit ist auch die Greater Middle East-Strategie der Neokonservativen an den Bergen des Hindukusch sprichwörtlich zerschellt. Der Autor zieht Bilanz und wirft einen vorsichtigen Blick auf das, was kommt.

Trotz 20 Jahren Krieg ist es den USA und ihren NATO-Verbündeten nicht gelungen, selbst unter Einsatz von bis zu 150.000 Soldat­*innen, die Taliban zu besiegen. Die USA mussten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren. Damit ist auch die Greater Middle East-Strategie der Neokonservativen an den Bergen des Hindukusch sprichwörtlich zerschellt. Erst unter dieser Einsicht haben die USA jahrelang geheim und zwei Jahre offiziös mit den Taliban in Doha, Katar, verhandelt und im ­Februar 2020 ein Abkommen unterzeichnet. Darin verpflichteten sich die USA, ihre Soldat*innen bis Ende April 2021 aus Afghanistan abzuziehen. Damit zogen die Taliban die USA buchstäblich diplomatisch über den Tisch und deren Kapitulation wurde vertraglich besiegelt. Als Trost haben die Taliban
„in einem geheimen Anhang des US-Taliban-Abkommens vom Februar 2020 [zugesagt], die ausländischen Militärbasen vor Angriffen anderer militanter Gruppen schützen“1 zu wollen, wozu sie kaum in der Lage sind. Dennoch wollte der Verhandlungsführer der Taliban, Sher Mohammad Abbas Stanikzai, im Januar 2021den Eindruck erwecken, „einer ausländischen Invasorentruppe freies Geleit“2 zu gewähren.

Abgang einer Großmacht

Der neue US-Präsident Joe Biden hatte zunächst den vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump festgelegten Rückzug bis Ende April 2021 in Frage gestellt und kurz nach seiner Amtsübernahme eine Prüfung des Abkommens angeordnet.

Die Taliban bestanden aber darauf, dass die USA sich an das Abkommen vom Februar 2020 zu halten haben. Der Sprecher der Islamisten meldete per Twitter, wenn sich die Biden-Administration nicht an das geschlossene Abkommen hielte, würden „die Probleme dadurch gewiss verstärkt, und diejenigen, die sich nicht an das Abkommen gehalten haben, werden dafür zur Verantwortung gezogen“.3 Wie jedes Jahr haben die Taliban ihre Frühjahrsoffensive angekündigt, um damit in diesem Jahr die USA und die NATO zum Rückzug zu zwingen. Das wäre eine faktische Vertreibung der Weltmacht vom Hindukusch, und ein geordneter Rückzug der US- und NATO-Einheiten aus Afghanistan wäre kaum noch möglich. Es drohe, mehr nach Flucht auszusehen“4, sagte die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Genau dieses Szenario wollen die USA auf jeden Fall vermeiden. Ein zweites Saigon darf es nicht geben.

US-Präsident Biden musste nolens volens einsehen, dass die USA in Afgha­nistan keine Perspektive mehr haben und gab am 13. April 2021 den Rückzug seiner Soldat*innen für September 2021 bekannt, wie die Washington Post meldete. Bis zum 11. September müssen alle US-Einheiten bedingungslos5 und ohne eine Gegenleistung seitens der Taliban vom Hindukusch abgezogen sein. „Es ist an der Zeit, den längsten Krieg Amerikas zu beenden. Es ist Zeit, dass die amerikanischen Soldaten nach Hause kommen“6, hob Präsident Biden hervor. Er wies darauf hin, dass er der vierte Präsident sei, in dessen Amtszeit die US-Einheiten in Afghanistan Krieg führen. „Ich werde diese Verantwortung nicht an einen fünften übergeben.“7 Es sei kaum möglich, betonte Biden, den Kriegseinsatz in die Länge zu ziehen, „in der Hoffnung, dass irgendwann die Umstände für einen idealen Rückzug vorliegen.8 Dafür werde es niemals ideale Bedingungen geben. So kann auch ein Verlierer seine Niederlage tröstlich artikulieren. „Die Niederlage des Westens ist so umfassend, dass sich die Taliban nicht einmal zum Schein an Friedensgesprächen beteiligen müssen. Die ausländischen Streitkräfte ziehen nun nahezu Hals über Kopf ab.9 Eine Abschiedszeremonie für die 10.000 NATO- und davon 1.100 Bundeswehrsoldat*innen war nicht vorgesehen.10 Ab dem 1. Mai 2021 begann offiziell der Rückzug der NATO-Einheiten aus Afghanistan. Was passiert mit den ausländischen Söldner*innen, die im Auftrage des US-Geheimdienstes CIA und anderer Geheimdienste der NATO-Länder in Afghanistan im Einsatz sind? Assadullah Walwalgi, ein Experte für Militärfragen in Kabul, ging 2010 von rund 40.000 Söldner*innen aus, die bei etwa 50 verschiedenen, überwiegend US-Militärfirmen unter Vertrag standen,11 die die „Drecksarbeiten erledigen“.12 Von deren Ab- und Rückzug ist bis jetzt keine Rede.

Abzug des deutschen Bündnispartners

Auch für deutsche Truppen ist der Einsatz zu Ende: „Wir dürfen auch nicht vergessen: es war nicht zuletzt Deutschland, das 2002 die NATO gedrängt hat, Afghanistan zu einer NATO-Operation zu machen. Das ist die Regierung Schröder/Fischer gewesen“13, erklärte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann. Das militärische »Engagement« Deutschlands am Hindukusch war der Türöffner für künftige weltweite Operationen der Bundeswehr. Die Bundesrepublik Deutschland hatte in ihrem 20 Jahre andauernden militärischen »Engagement« am Hindukusch insgesamt 160.000, zuletzt 1.100 Soldaten im Kampfeinsatz. Das haben 59 Soldat*innen mit ihrem Leben bezahlt.14 Dieser Bundeswehreinsatz hat seit 2001 mehr als 12 Mrd. € gekostet.

Trotz der finanziellen und menschlichen Verluste ist der jetzige Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) der Ansicht: „Es ist nicht umsonst gewesen“15 und kündigte ein weiteres politisches und finanzielles Engagement Deutschlands am Hindukusch an. „Der Friedensprozess braucht einen neuen diplomatischen Push“16, meinte Maas. Für das laufende Jahr hat die BRD 430 Mio. € „und für die Jahre bis 2024 die gleiche Summe in Aussicht gestellt.“17 Aber die Auszahlung wird davon abhängig gemacht, wie sich der »Friedensprozess« zwischen den Vertreter*innen der Kabuler Administration und der Taliban entwickeln werde. Ob die Bundesregierung auch mit einer Taliban-Regierung zusammenarbeiten würde, wird nicht eindeutig erklärt.

Geopolitische Verschiebungen

Mittlerweile ist ersichtlich, dass es der US-Imperialmacht in Afghanistan von Anfang an weder um Frauen- noch um Menschenrechte, geschweige denn um Afghanistan an sich gegangen, sondern es steht zu vermuten, dass es ihr nur um ihre strategischen Interessen in der Region, um die Umzingelung der Russischen Föderation und um einen Regimewechsel in Iran ging. Das Land am Hindukusch wurde von den USA für zwanzig Jahre zu ihrem »unsinkbaren Flugzeugträger« gemacht. Mittlerweile haben sich aber die Rahmenbedingungen geändert und damit die geopolitischen Prioritäten der US-Strategie. In absehbarer Zeit wird die VR China mit den USA ökonomisch, aber auch militärisch mindestens gleichziehen können. Ende 2017 wurde die VR China in der »Nationalen Sicherheitsstrategie« der USA als
„strategischer Rivale“ eingestuft.18 Die USA werden versuchen, die VR China militärisch zu umzingeln und den Aufstieg des Landes zu einer künftigen Weltmacht mindestens zu verzögern. Schon der ehemalige US-Präsident Barack Obama und dessen Vize Joe Biden hatten im November 2011 das Pazifische Jahrhundert unter Führung der Vereinigten Staaten ausgerufen. Diese Strategie ist eindeutig gegen die VR China gerichtet. Für die Realisierung dieser Option haben die USA bereits regionale Militärbündnisse mit Japan, Südkorea, Australien, Philippinen, Thailand, Singapur, Vietnam, Malaysia, Indonesien und der Atommacht Indien geschmiedet. Der regionale Konflikt um das Südchinesische Meer, von dem die VR China 80 % für sich beansprucht und sogar schon einzelne Inseln besetzt hat, wobei sie sich auf bis zweitausend Jahre zurückreichende historische Argumente beruft, könnte von den USA als Hebel für einen größeren Konflikt mit China instrumentalisiert werden. Afgha­nistan ist vorläufig abgeschrieben. Die USA wollen ihre Kräfte auf die künftig wichtige geostrategische Region konzentrieren und das ist die Region des pazifischen Ozeans.

Bilanz eines Desasters

Zwanzig Jahre US- und NATO-Krieg haben in Afghanistan Verheerungen angerichtet. „Die hehren Ansprüche von einst, die Stabilisierung und Demokratisierung des Landes, sind vergessen. Und die Bilanz ist eine Schmach für die Supermacht, die gewiss nachwirken wird: Mehr als 2.000 Amerikaner haben am Hindukusch ihr Leben verloren. Hinzu kommen mindestens 100.000 tote afghanische Zivilisten.“19 Nach Zählungen der afgha­nischen und der US-Regierung sowie der UNO sollen seit 2001 ca. 160.000 Menschen ums Leben gekommen sein.20 Darüber hinaus wurden „66.000 afghanische Sicherheitskräfte, viertausend internationale Soldaten und 80.000 Islamisten“21 getötet. Hinzu kommt noch, dass durch die Zusammenarbeit und direkte Unterstützung der Warlords durch die NATO-Länder, Korruption, Vetternwirtschaft, ethnische Fragmentierung, Drogenanbau und -handel sowie Machtdemonstrationen bis hin zu Entführungen an der Tagesordnung waren.

Der gesamte Staatsapparat, von der Judikative über die Exekutive bis hin zur Legislative, sowie die Sicherheitsorgane sind von Korruption durchdrungen. Natürlich konnten Mädchen in den letzten Jahren die Schule besuchen, aber die Absolventinnen finden kaum eine Arbeit. Die Elite hat längst ihre Dollars auf Banken in Dubai transferiert und sitzt nun auf gepackten Koffern. Wer kann, verlässt das Land. Schon 2020 haben „mehr als dreihundert Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben oder ganz das Land verlassen.22

Es bleibt das traurige Ergebnis: „Das Risiko ist groß, dass die Taliban nach dem Abzug der USA wieder die Macht in Af­ghanistan an sich reißen wollen. Die USA tragen eine große Verantwortung für diese Entwicklung. Die Invasion vor 20 Jahren basierte auf falschen Erwartungen. Ein stabiles und demokratisches Afghanistan bleibt vermutlich eine Utopie“23, wie die schwedische Zeitung Skånska Dagbladet konstatierte.

Was wird aus Afghanistan?

Anfang 2021 warnten vom US-Kongress eingesetzte Expert*innen der Afghanistan Study Group, dass ein unüberlegter Abzug zum ‚Kollaps‘ in Afghanistan führen“24 würde. Eine solche „Perspektive ist ein Desaster für die USA und ihre Verbündeten in Berlin, London und Paris.“25 Das Rückzugsdatum der US- und NATO-Einheiten steht nun fest. Wozu sollten die Taliban überhaupt noch mit der Kabuler Seite verhandeln? Sie „müssen nur ein paar Monate warten, ehe sie zum Sturm auf Kabul blasen“.26 Das ist ein faktischer Beleg für „das Scheiterns des Westens in diesem Krieg“27 am Hindukusch.

Doch was sind die Optionen für Af­ghanistan nach dem Abzug der Truppen? Vermutlich bieten sich folgende Szenarien an:

  • Alleinherrschaft: Unmittelbar nach dem Rückzug der NATO-Einheiten könnte die politische und militärische Elite Afghanistans die Flucht ergreifen, lieber ein ruhiges und schönes Leben im Exil bevorzugen, als sich auf einen erneuten Krieg mit den Taliban einzulassen; dann wären die Taliban die alleinigen Herrscher des Landes, wie schon ab 1996.
  • Transformation: Würde es der US-­Administration gelingen, mit vielseitigen finanziellen und entwicklungspolitischen Angeboten die Taliban für eine Koalitionsregierung mit der Kabuler Administration zu gewinnen, könnte eine für ­afghanische Verhältnisse relativ reibungslose Transformation stattfinden.
  • Bürgerkrieg: Gelingt dies nicht, würde es sehr wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg wie 1992 kommen, als Kabul weitgehend zerstört wurde und über 50.000 Menschen ums Leben kamen.

Angesichts der drohenden Umstände wäre meines Erachtens unbedingt der Einsatz einer UN-Blauhelmtruppe notwendig, bestehend aus den Blockfreien Staaten und der Organisation der Islamischen Staaten, die die NATO-Einheiten ablösen und ausnahmsweise mit einem robusten Mandat ausgestattet werden sollte, um für eine Übergangsphase bis zu einer Stabilisierung der innerafghanischen Verhältnisse dafür zu sorgen, dass die Gewalt nicht überhand nimmt.

Anmerkungen

1) Meier, C. (2021): Die NATO zieht ab, die Taliban greifen an. FAZ, 3.5.2021, S. 5.

2) Meier, C. (2021): Was wollen die Taliban?, in: FAZ, 30.4.2021, S. 3.

3) Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

4) Früherer Afghanistan-Abzug?, in: FAZ; 22.4.2021, S. 5.

5) Vgl. Gutschker, Th. (2021): Bedingungsloser Abzug, in: FAZ, 16.4.2021, S. 1.

6) Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

7) Brössler, D.l/Kolb, M. (2021): Wenn einer geht, gehen alle, in: SZ, 15.4.2021, S. 7.

8) Ebd.

9) Carstens, P. (2021): Eine Abschiedsfeier ist nicht geplant, in: FAZ, 24.4.2021, S. 8; Die USA hatten die Taliban für den 24. April 2021 zu einer Friedenskonferenz nach Istanbul eingeladen. Die Islamisten hatten daran kein Interesse und lehnten eine Beteiligung ab.

10) Vgl. Carstens (2021); Rückkehr im Juli statt September, in: SZ, 22.4.2021, S. 5.

11) Vgl. Gerner, M. (2010): Das Geschäft mit der Sicherheit, in: Der Tagesspiegel, 28.10.2010; Michelis, H. (2010): Afghanistan – Krieg der Söldner: in, Rheinische Post, 18.11.2010.:

12) Heilig, R. (2021): Von Lügen getragen, in: Neues Deutschland (ND), 17./18.4.2021, S. 4.

13) Naumann, K., Deutschlandfunk-Interview, 2.7.2009 (Typoskript).

14) Vgl. Brössler, D. (2021): „Es ist nicht umsonst gewesen“, in: SZ, 30.4.-2.5.2021, S. 10.

15) Ebd.

16) Maas sichert Afghanistan weitere Hilfe zu, in: FAZ, 30.4.2021, S. 1.

17) Brössler (2021)

18) US Department of Defense (2017): Summary of the 2018 National Defense Strategy of the United States of America: Sharpening the American Military’s Competitive Edge. S. 1.

19) Gutschker, Th., et al (2021): Augen zu und raus, in: FAZ, 15.4.2021, S. 3.

20) Vgl. Matern, T. (2021a): Die Truppen gehen, die Angst bleibt, in: SZ, 19.4.2021, S. 7.

21) Wiele, J.: Ein Trauerfall, in: FAZ, 17.4.2021, S. 11.

22) Ebd.

23) Skånska Dagbladet, Malmö, Schweden, 10.5.2021.

24) Brössler/Kolb (2021)

25) Matern, T. (2021b): Der Krieg bleibt, in: SZ, 15.4.2021, S. 4.

26) Frankenberger, K. (2021): Nach zwanzig Jahren, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

27) Matern, T. (2021c): Schadensbegrenzung, in: SZ, 30.3.2021, S. 4.

Dr. phil Matin Baraki ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung der ­Philipps-Universität Marburg.

Dieser Artikel ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen als: „L’Afghanistan deviendra-t-il le Vietnam version 2?“ In: Horizons et débats 14, 2021, S. 6-8.

Europas Hinterhof?


Europas Hinterhof?

»Ertüchtigung« und Militarisierung der Sahel-Region

von Christoph Marischka

Die EU betreibt die systematische Militarisierung der Sahel-Region. Bereits die ersten eigenständigen Schritte einer militärisch gestützten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ohne Rückgriff auf NATO-Strukturen erfolgten auf dem afrikanischen Kontinent – 2003 in der DR Kongo. Aktuell ist die EU mit diversen Missionen in der erweiterten Sahel-Region aktiv. Das sind die EU-Trainingsmissionen (EUTM) in Somalia und Mali, die Mission zum Kapazitätsaufbau (EUCAP) in Somalia, die EUCAP-SAHEL-Missionen ebenfalls in Mali und dem benachbarten Niger sowie eine Mission zur militärischen Beratung in der Zentralafrikanischen Republik. Eine weitere Mission zur Unterstützung der Grenzsicherung (EUBAM) in Libyen ist von Tunesien aus aktiv.

Die deutlich erkennbare Fokussierung der Europäischen Sicherheitspolitik auf den afrikanischen Kontinent lässt sich neben der relativen geografischen Nähe auch auf andere Gründe zurückführen. Zum einen sind hier die Einflussgebiete der international führenden Mächte nicht so klar abgesteckt und zugleich hart umkämpft, wie etwa im Mittleren Osten oder dem Kaukasus.

Zum anderen entsprechen viele postkoloniale afrikanische Staaten ziemlich exakt dem Szenario, welches die EU in ihrer 2003 verabschiedeten Sicherheitsstrategie unter dem Titel »Ein sicheres Europa in einer besseren Welt« als Rahmenbedingung für eigenständiges militärisches Handeln entworfen hat. Auch hier stehen nicht geopolitische Konkurrenten und die möglicherweise notwendige »Verteidigung« gegen einen etwa gleichwertigen militärischen Gegner im Mittelpunkt, sondern sogenannte »scheiternde Staatlichkeit«, unter der nicht nur die jeweils ansässige ­Bevölkerung zu leiden hätte, sondern die auch die Grundlage für verschiedene Bedrohungen wie Terrorismus, Kriminalität, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und – oft in einem Atemzug damit genannt – (illegale) Migration bildet, die hier ihren Ausgang nähmen und auch Europa beträfen.

Zuletzt zeigt auch die räumliche Verteilung europäischer Missionen auf dem Kontinent, dass dabei ein Fokus auf den ehemaligen französischen Kolonien liegt. Viele der frühen EU-Missionen wären nicht nur ohne die postkoloniale französische Militärpräsenz und Infrastruktur, sondern auch ohne die damit verbundenen diplomatischen Kontakte und entsprechenden außenpolitischen Wissensbestände kaum denkbar gewesen. Vergleichbare Strukturen bildeten sich in der Europäischen Verwaltung erst ab 1999 ansatzweise und weitgehend ad hoc und wurden erst ab 2010 mit der Einrichtung des »Europäischen Auswärtigen Dienstes« (EEAS) zunehmend systematisiert aufgebaut, z.B. durch Abteilungen mit regionalen Schwerpunkten.

Nachträglich könnte man durchaus mutmaßen, dass zumindest die frühen EU-Missionen auf dem afrikanischen Kontinent weniger den im jeweiligen Mandat festgelegten (humanitären) Zielen im Einsatzland dienten, sondern dem neuen außenpolitischen Akteur EU nicht nur eine gewisse Sichtbarkeit, sondern v.a. auch Erfahrungswerte liefern sollten.

Hinterhof-Politik

Die aktuelle Konzentration europäischer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die Sahel-Region allerdings erscheint weniger experimentell als viel mehr strategisch. Seit etwa 2005 formieren sich im entstehenden diplomatischen Apparat der EU Personengruppen und Strukturen, die in den Beziehungen zu den Staaten Mauretanien, Mali und Niger vonseiten der EU einen länderübergreifenden Ansatz propagieren. Problematisiert werden dabei von diesen Staaten ausgehende Bedrohungen wie Organisierte Kriminalität, Drogenhandel und zunehmend auch Terrorismus. Befördert wurde diese Tendenz durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex und andere EU-Programme, die »illegale Migration« weit jenseits der eigenen Außengrenzen in den Herkunfts- und Transitstaaten untersuchten, problematisierten und als »Ströme« konzipierten, die es bereits hier aufzuhalten gelte. In der Konsequenz wurde die Region politisch als »Hinterhof Europas« verstanden, vom damaligen deutschen Entwicklungsminister Dirk Niebel gar ganz Afrika als Europas »Vorgarten« bezeichnet. Ganz in diesem Sinne erfuhr die Region zeitgleich mit der sicherheitspolitischen Problematisierung auch eine wachsende Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer ökonomischen Potentiale. Beispielhaft dafür ist die 2009 v.a. mit deutschem Kapital gegründete Desertec Industrial Initiative (Dii) GmbH, welche die Versorgung europäischer Energiemärkte mit »Wüstenstrom« aus der Sahara propagierte und vorantrieb.

Kurz nachdem der EEAS Ende 2010 seine Arbeit aufgenommen hatte, veröffentlichte er im März 2011 mit der »Strategie für Sicherheit und Entwicklung im Sahel« seine erste Regionalstrategie überhaupt. Als Ziele werden benannt, das Potential dortiger Terrorgruppen, Anschläge in Europa zu verüben, zu verringern, „Drogenschmuggel und anderen kriminellen Handel nach Europa einzudämmen, legale Handels- und Kommunikationswege durch den Sahel (Straßen, Pipelines) zu sichern, […] bestehende ökonomische Interessen zu schützen und die Basis für Handel und Investitionen aus der EU zu schaffen“ (EEAS 2011, S. 4). Die Strategie basierte u.a. auf vier Fact-Finding Missionen, welche die EU bereits zwischen Juli 2009 und Juli 2010 in Mauretanien, Mali, Niger und Algerien durchgeführt hatte und die in den drei erstgenannten Staaten „mangelnde operationale und strategische Kapazitäten“ im gesamten Sicherheitssektor offenbart hätten, woraus u.a. eine ungenügende „Kontrolle des Territoriums“, Rechtsdurchsetzung und ein ineffizientes Grenzmanagement resultieren würden (Ebd., S. 3). Die Bemühungen der EU fokussieren sich seitdem darauf, diese Kapazitäten aufzubauen.

Zwischen der Veröffentlichung der Sahel-Strategie und ihrer Umsetzung in den Missionen EUCAP Sahel Niger (Aug. 2013), EUTM Mali (März 2013) und EUCAP Sahel Mali (April 2014) lagen allerdings zwei – miteinander in Verbindung stehende – Ereignisse, welche die Lage in der Region grundsätzlich veränderten: Mit der NATO-Intervention »Unified Protector« wurde Libyen als Regionalmacht ausgeschaltet, das Land in einen bis heute anhaltenden Bürgerkrieg gestürzt und eine große Zahl von Waffen und Kämpfer*innen mobilisiert. Der darauf folgende Aufstand im Norden Malis, der einen Putsch im Süden des Landes auslöste, führte Anfang 2013 zu einer massiven französischen Militär­intervention und zur Stationierung von über 10.000 Soldat*innen, vorwiegend aus afrikanischen Staaten, die zunächst unter dem Dach der Afrikanischen Union (AU-Mission AFISMA), bald aber unter UN-Führung (MINUSMA) standen, was auch eine umfangreiche deutsche Beteiligung (bis zu 1.100 Kräfte) ermöglichte.

»Ertüchtigung« in der Sahel-Region

MINUSMA bildet seitdem die militärische Grundlage für eine Vielzahl von Ausbildungs- und Ausrüstungsinitiativen. Im Rahmen der EUTM-Mission wurden bislang laut EU-Außenbeauftragtem Borrell „90 % der malischen Armee“ (EEAS 2020) fortgebildet, deren Gesamtumfang auf knapp 20.000 Soldat*innen geschätzt wird. Das EUTM-Mandat wurde schrittweise auf die Nachbarstaaten ausgeweitet, damit auch weitere Angehörige der »Force Conjointe du G5 Sahel« ausgebildet werden können – gemeinsame Eingreifkräfte der Armeen Mauretaniens, Malis, Nigers, Burkina Fasos und des Tschad, für deren Aufbau Deutschland und Frankreich im Februar 2018 mehr als 400 Mio. € mobilisiert hatten1 und die vor allem in den Grenzregionen aktiv sind. Ende Mai 2020 wurde auch die Ausbildung nigrischer Soldaten durch Kampfschwimmer*innen der Bundeswehr – zuvor ohne Mandat als »Operation Gazelle« durchgeführt – in das deutsche Mandat der EUTM aufgenommen. Neben den deutschen Kampfschwimmer*innen und einem deutsch-französischen Logistikdrehkreuz in Niamey sind im Niger auch geschätzte 800 US-Soldat*innen, überwiegend Spezialkräfte, und die französische Operation »Barkhane« aktiv. Sie führen gemeinsame Anti-Terror-Operationen mit lokalen Einheiten durch, die ebenfalls häufig als Ausbildungsunterstützung dargestellt werden. Wie viele andere Staaten liefert Deutschland im Rahmen seiner »Ertüchtigungsinitiative« militärisches Material – von gepanzerten Fahrzeugen bis zu Helmen und Schutzwesten – nach Mali und Niger und baut vor Ort militärische Infrastruktur, Werkstätten und Munitionsdepots auf. Im Rahmen der EUCAP-Missionen in beiden Staaten werden darüber hinaus Grenzschutz-, Gendarmerie- und Polizeikräfte aufgebaut. Zuletzt wurden zudem immer wieder Gerüchte kolportiert, dass auch Russland zunehmend in Mali aktiv sei und u.a. zwei Kampfhubschrauber geliefert hätte (Muvunyi 2020), was wiederum in der EU als Argument dafür genannt wird, die eigenen Anstrengungen zu intensivieren.

Angesichts des gewaltigen Umfangs dieser internationalen Aufrüstung ist es kein Wunder, dass sowohl bei der Niederschlagung der Proteste gegen den ehemaligen malischen Präsidenten Keïta als auch bei dessen Sturz durch das Militär am 18. August 2020 jeweils von der EU ausgebildete »Sicherheitskräfte« beteiligt waren. Auch die Tatsache, dass nur einen Monat zuvor der malischen Armee in jener Basis, von welcher der Putsch ausgegangen war, im Beisein des deutschen Botschafters feierlich Fahrzeuge und Ausrüstung übergeben wurde, verdeutlicht eher die Alltäglichkeit solcher Zeremonien als irgendeine heimliche Komplizenschaft. Beispielhaft für den völligen Kontrollverlust im Zuge der militärisch gestützten »Stabilisierung« sind sie allemal.

Fragilitäts-Dilemma

Die Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) spricht im Hinblick auf die Region von einer »Counter-Terrorism Governance« die sich dort als neue Staatsräson etabliert habe, aber nur „in Verbindung mit ausländischer Militärpräsenz“ funktioniere. Darin zeige sich das sogenannte »Fragilitäts-Dilemma«: „Je mehr Militär dort hingeschickt wird, je mehr das Sahel-Militär aufgerüstet wird, desto schwächer werden dort die Staaten [und andere gesellschaftliche Machtstrukturen], desto abhängiger werden [sie] von der EU und den USA“ (FFM 2020). Das lässt sich auch rein monetär abbilden: Die Kosten einer flächendeckenden militärisch-polizeilichen Präsenz, wie sie v.a. den EU-Strateg*innen vorschwebt, würde die Gesamthaushalte der betreffenden Staaten um ein Vielfaches übersteigen. Die von außen zuströmenden Mittel entwickeln und versorgen vor Ort (und in Paris, Brüssel, Calw, …) korrupte, militaristische Strukturen, die keinerlei Interesse an einer Lösung und Demilitarisierung der Konflikte haben. Der Krieg ernährt sich selbst und hält die Sahel-­Region im Status eines unruhigen Hinterhofs. Höchste Zeit, diese »Ertüchtigung« zu beenden.

Anmerkung

1) Die Gelder stammten von der EU und ihren Mitgliedsstaaten, den USA, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien.

Literatur

EEAS (2011): Strategy for Security and Development in the Sahel.

EEAS (2020): Informal meeting of EU Defence Ministers: Remarks by the High Representative/Vice-President Josep Borrell at the press conference. Berlin, 26.8.2020.

Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) (2020): Aufstandsbekämpfung im Sahel. Beitrag der FFM zum Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 21.11.2020, nachzuhören unter: https://www.wueste-welle.de/mp3/77954_Panel4_FFM-MP3.mp3.

Muvunyi, F.; Cascais, A. (2020): Putsch in Mali – Welche Rolle spielt Russland? Deutsche Welle, 28.8.2020.

Christoph Marischka ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und arbeitet dort zu den Schwerpunkten der EU-Afrikapolitik und der Technologiepolitik.

Zwischen Intervention und Verteidigung


Zwischen Intervention und Verteidigung

Zeit für eine neue Balance?

von Marius Müller-Hennig

Die Diskussion um Europäische Außen- und Sicherheitspolitik erscheint oft reflexhaft: Einerseits ertönt häufig die Klage über mangelnde politische und militärische Handlungsfähigkeit der EU in beliebigen internationalen Krisen. Andererseits werden weitergehende Souveränitätstransfers nach Brüssel und vertiefte militärische Integration von verschiedenen Seiten skeptisch gesehen bzw. abgelehnt. Bei diesen Diskussionen kommt die Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der Pfadabhängigkeiten oft zu kurz. Die Maßstäbe, die in der politischen Bewertung von Erfolg und Misserfolg angelegt werden, erscheinen zudem oft ahistorisch und daher in weiten Teilen unrealistisch.

Im Folgenden werden für den Zweck einer realistischeren Debatte über die Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf Basis eines knappen historischen Rückblicks zwei Thesen formuliert. Diese werden dann zu einer alternativen Vision für die Zukunft der militärischen Inte­gration der EU verdichtet: Einer defensiveren und realistischeren Verteidigungsintegration der EU. Einer Integration, die das »interventions-optimistische« Weltbild der 1990er Jahre hinter sich lässt, die Frage nach einer gemeinsamen Verteidigung für die EU in den Vordergrund stellt und die globale Friedenspolitik primär als politisch-diplomatisches und nicht militärisches Projekt begreift.

Historischer Rückblick: Von der Verteidigung zur Intervention

Die Geschichte der europäischen Inte­gra­tion ist hinreichend bekannt: von der EGKS, über EURATOM und EWG zur EG und weiter zur EU. Oftmals übersehen wird, dass bereits zu Beginn dieses Prozesses auch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) auf der Agenda stand. Sie hatte sogar schon die meisten politischen Hürden genommen, bevor sie 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Ziel des Projektes war es, neue deutsche Truppenkontingente in eine gemeinsame europäische Verteidigung Westeuropas zu integrieren. Die EVG wäre wiederum strategisch der NATO unterstellt gewesen (vgl. Schwabe 2016, S. 231); wenn man so möchte, eine Art europäischer Pfeiler in der NATO. Die Initiative für die EVG kam aus Frankreich und wurde von den USA nachdrücklich unterstützt. Als sie scheiterte, erfolgte die Wiederbewaffnung Deutschlands stattdessen direkt fest integriert in die NATO. Letztere sollte Westeuropa vor einer vermeintlichen sowjetischen Expansion beschützen und gleichzeitig dafür sorgen, dass sich das deutsche Militär nicht wieder zu einer Bedrohung seiner westeuropäischen Nachbarn entwickelte. So leistete die NATO einen indirekten, aber wichtigen Beitrag zur europäischen Einigung: Verteidigung nach außen und Vertrauensbildung nach innen.

Paradigmenwechsel in den 1990er Jahren: Von der Verteidigung zum Krisenmanagement

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts änderte sich im sogenannten »unipolaren Moment« der USA auch die strategische Polarität für den europäischen Westen. Bis in die 1980er Jahre sah sich Westeuropa als potentieller Schauplatz eines dritten Weltkriegs. Die europäischen NATO-Mitglieder sollten einen Angriff der Sowjetunion und ihrer Alliierten abschrecken und notfalls abwehren können. Priorität war die Verteidigung von Westeuropa. Spätestens mit den Eskala­tionen auf dem Balkan rückten dann Krisenmanagement-Einsätze außerhalb des NATO-Gebiets in den sicherheitspolitischen Fokus des Westens. Auch in der EU stand nun militärische Zusammenarbeit beim Krisenmanagement prominent auf der Agenda. Tatsächlich wurden dann auch in der EU neue Strukturen und Fähigkeiten für diesen Bereich geschaffen1 (ebenso wie im Bereich des zivilen Krisenmanagements). Allerdings zeigt bereits „ein kursorischer Blick auf die europäischen militärischen Kriseninterventionen […], dass die EU ihrer selbst definierten Verantwortung in diesem Bereich seit der ersten Operation Artemis im Osten Kongos 2003 eher langsamer und zurückhaltender nachkommt (Dembinski und Peters 2018, S. 5).

Interventions-Ernüchterung und die Suche nach Exit-Strategien

Insgesamt ist die Bilanz westlicher militärischer Interventionen durchwachsen. Von Afghanistan (2001) über den Irak (2003) und Libyen (2011) bis nach Mali (2013) folgte auf militärische Erfolge des Westens langanhaltende Instabilität. Zu oft endete militärisches Engagement in der Suche nach gesichtswahrenden Exit-Strategien. Es gab zwar auch militärische Einsätze mit positiverer Bilanz, so beispielsweise die NATO-Einsätze IFOR und SFOR in Bosnien und Herzegowina. Auch die EU konnte in mehreren Fällen effektive operative Beiträge im internationalen Krisenmanagement leisten; militärisch beispielsweise in Form der Anti-­Piraterie-Operation »Atalanta«. Insgesamt aber blieb in vielen Konflikten der Eindruck zurück, dass der Westen bzw. die EU nicht in der Lage waren, Frieden und Demokratie dauerhaft zu sichern oder zumindest Stabilität zu schaffen. Hierbei darf man zwar nicht vergessen, dass dieser Politikbereich für die EU völlig neu war und angesichts des rasanten politischen Wandels (deutsche Wiedervereinigung, Transformation der Staaten Mittelosteuropas und die Erweiterungsrunden der EU) mit anderen politischen Prioritäten konkurrierte. Aber selbst wenn die EU in diesem Feld heute schneller zu mehr Entscheidungen käme und über mehr militärische Fähigkeiten verfügte, ist es fraglich, ob sie tatsächlich mehr erreichen könnte. Die Erfahrungen der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs bieten wenig Grund für Optimismus. Sicher ist hingegen, dass die EU an solch einem Punkt bisher nicht angekommen ist. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob die EU und ihre Mitgliedstaaten das »interventions-optimistische« Weltbild der 1990er Jahre nicht ablegen und die eigene Rolle bescheidener (und damit realistischer) konzipieren sollten.

Die Rückkehr der Bündnisverteidigung

Mit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine kam die Frage nach der kollektiven Verteidigung des Bündnisgebiets wieder mit Nachdruck zurück auf die sicherheitspolitische Agenda – insbesondere in der NATO. Die EU hingegen blieb bei einem Modell der Verteidigungsintegration in Form der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), das zum Weltbild der 1990er Jahre passt. Dabei hat sie auf dem Papier durchaus der neuen Entwicklung Rechnung getragen: So wurde in der EU-Globalstrategie von 2016 der Sicherheit der EU (im Sinne von Verteidigung) explizit hohe Bedeutung beigemessen. Seit dem Vertrag von Lissabon verfügt die Union zudem mit Artikel 42(7) EUV zwar über eine explizite Beistandsklausel, praktisch aber zielen die Anstrengungen der EU weiterhin primär auf militärische Zusammenarbeit und Integration im Bereich Intervention bzw. Krisenmanagement.

Vision einer defensiv gedachten Verteidigungsintegration der EU

Ausgehend vom historischen Rückblick werden im Folgenden zwei Thesen zur verteidigungspolitischen Integration im Rahmen der EU und ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) formuliert und zu einer Vision für ihre Weiterentwicklung verdichtet.

Weniger Fixierung auf Krisenmanagement-Einsätze

  • These 1: Europäische Verteidigungsintegration sollte sich von der Fixierung auf Krisenmanagement-Einsätze lösen.

Der Westen insgesamt und die EU im Besonderen sollten den Rufen nach mehr militärischen Interventionen mit pragmatischer – aber nicht dogmatischer – Zurückhaltung begegnen. Die vergangenen dreißig Jahre haben gezeigt, dass westliche Interventionen schon unter wesentlich besseren globalen Rahmenbedingungen als heute vielleicht zunächst militärisch erfolgreich, politisch aber oft nicht nachhaltig waren (s.o.). Der ehemalige Botschafter Singapurs bei den Vereinten Nationen, Kishore Mahbubani, fürchtet, dass die Welt vor einer „besorgniserregenden Zukunft steht, wenn der Westen seine interventionistischen Impulse nicht abschütteln kann“ (Mahbubani 2018, S. 92).

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind zudem meist nicht hauptverantwortlich für die akuten Kriege und gewalttätigen Konflikte in ihrer Nachbarschaft (auch wenn mit Blick auf die strukturellen Konfliktursachen und historischen Entwicklungen der Einfluss Europas nicht ausgeblendet werden darf). Sie lassen auch kein »Vakuum« entstehen2, wenn sie nicht militärisch intervenieren. Gleichwohl darf das prekäre Instrument der militärischen Intervention auch nicht für jeden Fall kategorisch ausgeschlossen werden: Das Versagen der Europäer in Srebrenica gebietet es, diese Diskussionen in jedem Einzelfall wieder neu, ernsthaft und ehrlich zu führen. In den Fällen aber, in denen sich Europa zur Intervention entschieden hat, wird es die damit zusammenhängende Verantwortung nicht so schnell wieder los. Sowohl diese Verantwortung als auch die Glaubwürdigkeit der EU stehen auf dem Spiel, wenn ihr als intervenierender Dritter frühzeitig der Atem ausgeht – etwas das der EU gerade auf dem Balkan nicht passieren darf. Auch dieser Aspekt der Durchhaltefähigkeit des Engagements ist ein klares Argument für weniger anstatt mehr militärische Interventionen.

Andererseits kann die EU die sicherheitspolitischen Probleme in der Nachbarschaft auch nicht ignorieren. Sie ist durchaus von diesen selbst betroffen. Daher ist es wichtig, die zivilen und militärischen Fähigkeiten der EU zu stärken, mit denen sie im Rahmen von UN und OSZE operative Beiträge zu Krisenmanagement und Konfliktbewältigung leisten kann. Vor allem aber das politische und diplomatische Gewicht gilt es, noch stärker als bisher, gemeinsam in die Waagschale zu werfen, gerade auch im Rahmen von UN und OSZE. So könnten sich die EU-Mitgliedstaaten beispielsweise darauf einigen, ihre jeweiligen nicht-ständigen Sitze im UN-Sicherheitsrat in eine Art »virtuellen ständigen Sitz für die EU« zu überführen. Der europäische auswärtige Dienst (EEAS) könnte dann ein gemeinsames ständiges Sicherheitsratssekretariat für die Mitgliedstaaten und die Union betreiben.

Unabhängig von der Art des Engagements sollten die eigenen Erwartungen den Rahmenbedingungen angepasst werden. Die aktuelle Praxis, den Handlungsdruck einerseits regelmäßig in schrillen Tönen zu beschwören, nur um dann die vermeintlich fehlende Handlungsfähigkeit händeringend zu beklagen, ist kontraproduktiv und demoralisierend. Die EU ist nun einmal kein machtvoller souveräner Staat, sondern erhält Souveränität lediglich im begrenzten Umfang von ihren Mitgliedern. Dies wird auf absehbare Zeit so bleiben. Selbst wenn die Voraussetzungen für Mehrheitsentscheidungen in diesem sensiblen Politikfeld geschaffen wären, sollte man die damit verbundenen Effekte nicht überschätzen, denn „[q]ualifizierte bzw. Mehrheitsentscheidungen zur Beschlussfassung von zivilen Missionen aber auch von militärischen Operationen würden weder das Problem der Personalrekrutierung noch die demokratiepolitischen Vorbehalte in der EU beheben.“ (Bendieck 2020, S. 9) Tatsächlich ist der Rahmen für die GSVP zwar kontinuierlich ausgeweitet worden, die demokratische Kontrolle durch das europäische Parlament blieb hingegen unterentwickelt.3

All dies bedeutet nicht, dass die militärische Integration von Krisenmanagementfähigkeiten zurückgedreht werden sollte. Wie wir in den vergangenen 30 Jahren gesehen haben, führt diese Inte­gration nicht automatisch zu einer Militarisierung des auswärtigen Handelns der EU. Die unterschiedlichen nationalen Interessen führen auf absehbare Zeit eher zu einer Zurückhaltung der EU bei robusten militärischen Einsätzen. Hinzu kommt die innenpolitische Kombination aus pazifistischen politischen Strömungen einerseits und der Scheu anderer politischer Kräfte vor den hohen Kosten und Risiken solcher Einsätze andererseits. Sie bildet in vielen Mitgliedstaaten eine demokratische Sicherung vor allzu leichtfertigen militärischen Interventionen. Die eigentliche Herausforderung scheint eher darin zu bestehen, die Urteilskraft zu entwickeln und den politischen Willen zu generieren, um in den wenigen Fällen, in denen der robuste Einsatz von Militär tatsächlich geboten sein könnte, schnelles Handeln zu ermöglichen.

Defensive EU-Verteidigung

  • These 2: Eine stärkere militärische Integration im EU-Rahmen sollte zukünftig vor allem auf die defensiven Funktionen der Landes- und Bündnisverteidigung fokussiert werden.

Die bisherige Zurückhaltung der EU hinsichtlich einer stärkeren militärischen Integration im Bereich der Landes- und Bündnisverteidigung erscheint unbegründet. Diese muss keineswegs automatisch in Konkurrenz zur NATO stehen; selbst dann nicht, wenn das Ziel eine europäische Armee sein sollte. Genau dies war in den 1950er Jahren in Form der EVG der Plan A für Europa, unterstützt durch die USA. Die EVG versprach einerseits Fähigkeiten zur Verteidigung Europas zu bündeln und andererseits zur Einigung des Kontinents und der dauerhaften Beilegung alter Feindschaften beizutragen. Ein derart integriertes europäisches Militär war als essentieller Bestandteil der NATO-Verteidigung gedacht.

Warum etwas wie die EVG – gegebenenfalls mit Sonderklauseln für die neutralen Staaten ebenso wie für Dänemark – heute nicht einmal mehr denkbar sein sollte, ist nicht einleuchtend. Ein Fokus auf eine militärisch integrierte EU-Territorial- und Bündnisverteidigung könnte sogar deutlich mehr Sinn ergeben als eine Vergemeinschaftung der Interventions­kapazitäten, die bisher im Zentrum neuer Initiativen steht. Bei Entscheidungen über »Out-of-Area«-Einsätze können nationale Einschätzungen und Interessen durchaus stark variieren. Im Falle einer direkten territorialen Bedrohung hingegen – und erst recht im sehr unwahrscheinlichen Fall eines militärischen Angriffs auf einen Mitgliedsstaat – ist es relativ klar, dass es einer kollektiven Antwort der EU bedarf.

Zudem liegen gerade bei den klassischen Fähigkeiten für die Landes- und Bündnisverteidigung die verteidigungsökonomischen Vorteile weiterer Integration auf der Hand. Teure und hochkomplexe Waffensysteme in einer relevanten Stückzahl einsatzbereit zu halten, stellt viele – wenn nicht alle – EU-Mitgliedstaaten vor enorme Probleme. Daher gibt es bereits eine Reihe von bilateralen Integrationsvorhaben zwischen NATO- und EU-Mitgliedern, wie z.B. zwischen Deutschland und den Niederlanden. Würden die EU-Staaten nach einem solchen Muster nicht punktuell bilateral, sondern strukturell EU-weit ansetzen, könnten sie enorme Ressourceneinsparungen erreichen.

Aber auch sicherheitspolitisch könnten mit einer defensiven militärischen Integration im EU-Rahmen wichtige Ziele verfolgt werden: Integrierte Streitkräfte zur Verteidigung könnten gerade für die Staaten, die an der Solidarität ihrer europäischen Nachbarn für den Fall einer unmittelbaren Bedrohung oder eines Angriffs zweifeln, ein starkes Signal der Rückversicherung sein. Darüber hinaus könnte eine leistungsfähigere und gleichzeitig schlankere europäische Säule der NATO ein positives Signal in Richtung Washington und Moskau senden:

  • Nach Washington, dass die Europäer ihre Verteidigung stärker selbst in die Hand nehmen und perspektivisch weniger konventionelle amerikanische Kräfte in Europa stationiert sein müssten.
  • Nach Moskau, dass sowohl der nominelle Umfang der EU-Streitkräfte als auch der konventionelle Fußabdruck der USA in Europa mittelfristig deutlich reduziert werden könnten.

Mit einer solchen Perspektive könnte auch ein Neuanlauf der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa ­angestoßen werden. Dieser wiederum wäre eine wichtige Voraussetzung dafür, endlich auch den Abzug aller taktischen Nuklearwaffen aus Europa vorzubereiten.

Eine konkrete/alternative Vision

Einerseits bedarf es für eine solche Vision der defensiveren Verteidigungsintegration vermutlich der Bereitschaft zu grundsätzlichen Änderungen an den EU-Verträgen. Dies war lange ein großes Tabu, gerade für Frankreich. Präsident Macron hat aber bereits deutlich gemacht, dass er generell bereit wäre, dieses Tabu hinter sich zu lassen (vgl. Macron 2019), um grundsätzlichen Reformbedarf der EU anzugehen; trotz der Erfahrung, dass wichtige europäische Verträge bereits zweimal am »Nein« Frankreichs scheiterten (beim EVG Vertrag 1954 und beim Verfassungsvertrag 2005). Die zweite notwendige Voraussetzung wäre ein deutliches Signal aus den USA, dass eine defensive Verteidigungsintegration innerhalb der EU die NATO nicht schwächt, sondern im Gegenteil von den USA unterstützt wird. Hieran fehlte es in der Vergangenheit. Wenn nun US-Präsident Biden tatsächlich, wie Max Bergmann unlängst im Magazin »Foreign Affairs« gefordert hat, an Stelle des nationalen 2 %-Ziels für Verteidigungsausgaben eine stärkere europäische Verteidigungsintegration unterstützen würde (Bergmann 2021), könnte dies den nötigen Paradigmenwandel in der EU anstoßen.

Militärische Interventionen hingegen gehören stärker als bisher auf den Prüfstand. Eingebettet in entsprechende völkerrechtliche Prozesse und Institutionen, allen voran in der UN und der OSZE, macht es auch zukünftig Sinn, europäisches Militär für Krisenmanagement vorzuhalten und einzusetzen. Als EU-Instrument zur Machtprojektion und zur militärischen Durchsetzung von Interessen außerhalb der genannten völkerrechtlichen Rahmen bleiben militärische Einsätze hingegen höchst fragwürdig. Die Hemmschwelle hierfür ist zu Recht extrem hoch; nicht zuletzt aufgrund der ambivalenten Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte.

Die hier skizzierte Vision für eine militärisch defensivere Vision der Verteidigungsintegration der EU könnte zum Kern eines sicherheitspolitischen »New Deals« in der transatlantischen Verteidigungspolitik werden. Einem »New Deal« der – entgegen der wenig progressiven Skizze von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer4 – auch friedenspolitisch überzeugt.

Anmerkungen

1) Nach der Etablierung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dem Vertrag von Maastricht (1993), u.a. in Form des »European Headline Goals« (1999), der Einrichtung des Politischen- und Sicherheitskommittees, des EU Militärausschußes und des EU Militärstabs (2000), den »EU Battle Groups« (2005) sowie dem militärischen Planungs- und Durchführungsstab (MPCC) 2017. Einen hervorragenden Überblick dazu bietet ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages (2018, S. 9f.).

2) So schrieb bspw. Judy Dempsey mit Blick auf die Frage nach einer Intervention in Syrien: „Das Vakuum, das die USA und Europa hinterlassen haben, indem sie sich nicht am Krieg beteiligt haben, zumindest formell, ist grundsätzlich von Iran und Russland gefüllt worden.“ (Dempsey 2018)

3) Siehe bspw. Fisahn und Ocak (2010, S. 17). Tatsächlich gibt es bspw. schon länger die Idee der Einrichtung eines eigenständigen Verteidigungsausschusses im europäischen Parlament, die z.B. von Kiesewetter und Nietan (2015) aufgegriffen wurde.

4) In einer Rede an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg am 17. November 2020 beschrieb die Verteidigungsministerin drei Eckpunkte für einen solchen »New Deal« aus Ihrer Perspektive: 1.) Ausbau der Verteidigungshaushalte auch in Corona-Zeiten, 2.) ein deutsches Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe, 3.) Zusammenarbeit beim Thema China, wo es mit deutschen Interessen zusammenpasst (vgl. Kramp-Karrenbauer 2020, S. 10).

Literatur

Bendieck, A. (2020): Stellungnahme. Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages zur Mitteilung der Kommission »Mehr Gewicht auf der internationalen Bühne: eine effizientere Beschlussfassung für die GASP«, Ausschussdrucksache 19(21)122, 23.11.2020.

Bergmann, M. (2021): The EU is the military ally the US needs. Foreigen Affairs, 06.01.2021.

Dembinski, M.; Peters, D. (2018): Eine Armee für die Europäische Union? Europapolitische Konzeptionen und verteidigungspolitischen Strukturen. PRIF Report 1/2018, Frankfurt am Main.

Dempsey, J. (2018): Germany’s No-Go Foreign Policy. Carnegie Europe, 17.04.2018.

Fisahn, A.; Ocak, O. (2010): Mit dem Lissaboner Vertrag wurde die EU zur militärischen Macht. In: Becker, P; Braun, R.; Deiseroth, D. (Hrsg): Frieden durch Recht?, Berlin: BWV, S. 122-135. Seitenzahlen im Text gemäß Online-PDF Dokument.

Kiesewetter, R.; Nietan, D. (2015): Verteidigung europäisch gestalten. Deutschland ist der Schlüssel bei der Stärkung kollektiver Sicherheit in Europa. Positionspapier, Europa-Union, 09.03.2015.

Kramp-Karrenbauer, A.(2020): Zweite Grundsatzrede der Verteidigungsministerin. Rede an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr, Hamburg, 17. November 2020. Zitiert gemäß dem veröffentlichten Rede-Manuskript, BMVg.

Macron, E. (2019): Für einen Neubeginn in Europa, Gastbeitrag vom 4. März 2019. Erschienen in 28 europäischen Tageszeitungen.

Mahbubani, K. (2018): Has the West lost it? A provocation. London: Penguin Books.

Schwabe, K. (2016): Jean Monnet. Frankreich, die Deutschen und die Einigung Europas. Baden-Baden: Nomos.

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (2018): Sachstand. Die europäische Armee 1948–2018. Konzepte und Ideen zur Vertiefung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und zur Erhöhung des Grades der Streitkräfteintegration. WD 2-3000-126/18, 18.10.2018.

Marius Müller-Hennig ist Referent für Europäische Außen- und Sicherheitspolitik bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Zuvor war er als Projektleiter der FES in Bosnien- und Herzegowina tätig.

Die Pompeo-Doktrin


Die Pompeo-Doktrin

Oder: Warum Trump Grönland kaufen wollte

von Michael T. Klare

Bei Betrachtungen der aktuellen US-Politik steht häufig Präsident Trump im Fokus. Sein Handeln orientiert sich oft an persönlichen Interessen oder Wünschen und an der Maßgabe eines »guten Deals«. Dabei wirken im Weißen Haus zahlreiche andere Akteure, die oft kompromisslos die »nationalen Interessen« der USA verfolgen. Ein Beispiel beschreibt Michael T. Klare im folgenden Text aus Le Monde diplomatique vom 10.10.2019. Dabei geht es um die Vorstellungen von Außenminister Pompeo, wie die USA die Klimaveränderungen in der Arktis (vermeintlich) zu ihrem Vorteil nutzen könnten.

Donald Trump hat mal wieder Schlagzeilen gemacht, als er im August [2019] sein Interesse am Kauf von Grönland signalisierte. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Hier sprach nicht Trump, der Immobilienkrösus. Die Idee entspringt vielmehr einer Strategie, die wir ab jetzt als Pompeo-Doktrin bezeichnen sollten.

Denn Trumps Außenminister Mike Pompeo hat in der geopolitischen Region der Arktis noch viel mehr vor als nur den Kauf von Grönland. Als der US-Präsident die Welt mit der Idee überraschte, den Dänen das halbautonome Gebiet abzuschwatzen, sahen die meisten Kommentatoren darin nur einen weiteren von Trumps zunehmend bizarren Auftritten.

So ging es offenbar auch der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Die Sozialdemokratin bezeichnete den bloßen Gedanken an ein solches Geschäft als absurd“. Woraufhin Trump ihre Bemerkung „widerlich“ nannte und seinen lange geplanten Staatsbesuch in Kopenhagen absagte.

Betrachtet man diese Episode etwas näher und liest sie im Kontext mit anderen Aktionen der Trump-Regierung, drängt sich eine ganz andere Interpretation auf. Und wir alle sollten begreifen, dass es sich hier um eine Frage handelt, die für die ganze Welt, ja für die gesamte menschliche Zivilisation von immenser Bedeutung ist.

Die Arktis wird heute im Weißen Haus, ganz im Sinne Pompeos, zunehmend als eine weltpolitische Arena gesehen, in der sich der Konkurrenzkampf der Großmächte entscheidet. Und der ultimative Gewinn ist ein außergewöhnliches Reservoir an Bodenschätzen: von Erdöl und Erdgas über Uran, Zink, Eisenerz, Gold und Diamanten bis hin zu den berühmten Metallen der seltenen Erden.

Es kommt ein weiterer Faktor hinzu, den niemand in Trumps Umgebung benennt, weil Begriffe wie »Klimawandel« oder »Klimakrise« im Weißen Haus verboten sind: Den Startschuss für den Wettlauf um die Schätze Grönlands hat die globale Erwärmung gegeben – was man in Washington natürlich nur zu genau weiß.

Die Großmächte haben schon seit Längerem ihr Auge auf die Arktis geworfen. Während des Kalten Kriegs war die Region um den Nordpol von großer strategischer Bedeutung. Damals planten sowohl die USA als auch die Sowjetunion, ihre mit Atomwaffen bestückten Raketen und Bomber am Rand der Arktis zu stationieren, von wo aus sie Ziele auch auf der anderen Seite der nördlichen Halbkugel erreichen konnten.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs war das Interesse an der Region allerdings weitgehend erloschen. Eisige Temperaturen, häufige Stürme und die massive Eisdecke machten einen normalen Luft- und Seeverkehr unmöglich. Wer würde dort schon Wagnisse eingehen, abgesehen von der indigenen Bevölkerung, die ihre Lebensweise seit Langem den arktischen Bedingungen angepasst hatte?

Doch der Klimawandel hat die Situation dramatisch verändert. Die Temperaturen steigen in der Arktis schneller als irgendwo sonst auf der Welt. Mit der Folge, dass die polare Eisdecke teilweise abschmilzt und zuvor unzugängliche Wasserflächen und Inseln freilegt, was eine kommerzielle Ausbeutung ermöglicht. Zum Beispiel wurden in Offshore-Gebieten, die früher den größten Teil des Jahres unter Eis lagen, inzwischen Öl- und Gasvorkommen entdeckt.

Neue Möglichkeiten, wichtige Bodenschätze zu erschließen, ergeben sich auch – richtig! – in Grönland. Angesichts dessen ist die Trump-Regierung besorgt, andere Länder, wie China und Russland, könnten die durch den Klimawandel freigelegten Chancen für sich nutzen. Deshalb hat sie eine umfassende Kampagne gestartet, um die Dominanz der USA in dieser Region zu sichern, wobei sie auch das Risiko künftiger Konflikte und Zusammenstöße in Kauf nimmt.

Pompeos Doktrin für die Arktis

Der Wettlauf um die arktischen Ressourcen startete zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Damals nahmen die weltweit größten Energiekonzerne – westliche Multis wie BP, ExxonMobil und Shell ebenso wie die russischen Giganten Gazprom und Rosneft – die Suche nach Öl- und Gasvorkommen auf, die durch den Rückzug des Packeises erschließbar geworden waren.

Diese Explorationen erhielten 2008 neuen Rückenwind, als der United States Geological Survey (USGS) den Report »Circum-Arctic Resources« veröffentlichte, der aufzeigte, dass bis zu einem Drittel der unentdeckten weltweiten Öl- und Gasreserven innerhalb des nördlichen Polarkreises lagern.

Laut Einschätzung der Autoren des Reports liegt ein Großteil der noch nicht erschlossenen fossilen Brennstoffe unter den arktischen Gewässern, die an die Hoheitszonen der USA (Alaska), von Kanada, Dänemark (Grönland), Norwegen und Russland grenzen. Diese Länder werden auch als »The Arctic Five« bezeichnet.

Gemäß dem geltenden Völkerrecht, das im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) von 1992 kodifiziert ist, darf jeder Anrainerstaat die Ressourcen auf und unter dem Meeresboden bis zu einer Entfernung von mindestens 200 Seemeilen (370,4 Kilometern) von seiner Küstenlinie ausbeuten. Diese sogenannte ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) kann sich auch über die 200-Meilen-Grenze hinaus erstrecken, wenn der geologische Festlandsockel in der betreffenden Gegend über die 200 Meilen hinausreicht.

Eine AWZ beanspruchen alle Arctic Five, einschließlich den USA, obwohl Washington das UNCLOS nicht ratifiziert hat. Die meisten bekannten Öl- und Gasvorräte liegen innerhalb der jeweiligen AWZ, allerdings befinden sich auch einige in Gebieten jenseits der 200-Meilen-Grenze, in denen sich AWZs überlappen oder die zwischen den Parteien umstritten sind.

Die Arctic Five haben im Prinzip vereinbart, alle Konflikte, die auf konkurrierende Ansprüche zurückgehen, auf friedliche Weise beizulegen. Auf diesem Grundsatz beruht auch der 1996 gegründete Arktische Rat: ein zwischenstaatliches Forum aller Staaten, die über Territorium innerhalb des arktischen Polarkreises verfügen. Das sind neben den Arctic Five noch Finnland, Island und Schweden.

Der Arktische Rat tritt alle zwei Jahre zusammen. Er bietet den Regierungen dieser Länder und den im arktischen Raum lebenden indigenen Völkern– zumindest theoretisch – die Gelegenheit, Themen von gemeinsamem Interesse zu besprechen und nach kooperativen Lösungen zu suchen.

Tatsächlich hat der Rat dazu beigetragen, die Spannungen in der Region zu dämpfen. Allerdings wurde es in den vergangenen Jahren immer schwieriger, ein Übergreifen anderer Konflikte auf die Arktis zu verhindern. Das gilt etwa für die wachsende Feindseligkeit der USA (und der NATO) gegenüber Russland und China oder für die Konkurrenz um essenziell wichtige Rohstoffvorkommen. Das jüngste Treffen des Rats fand im Mai 2019 in der finnischen Stadt Rovaniemi statt, die nur wenige Kilometer südlich des Polarkreises liegt. Dabei traten die Rivalitäten und der Drang nach vom Eis befreiten Ressourcen bereits offen zutage.

Normalerweise werden vor dem Arktischen Rat nichtssagende Bekenntnisse zur internationalen Zusammenarbeit und zum gewissenhaften Umweltschutz abgegeben. Aber dieses Mal hielt US-Außenminister Pompeo eine offen kriegerische und provokative Rede, die im Rückblick sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie damals erzielte.

Seine Worte sollten wir etwas genauer ansehen, denn mit ihnen proklamierte Trumps Außenminister eine womöglich historische neue Doktrin für den Fernen Norden. Zu Beginn schlug er noch milde Töne an: „In den ersten zwei Jahrzehnten hatte der Arktische Rat den Luxus, sich fast ausschließlich auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit, auf kulturelle Fragen, auf die Erforschung der Umweltprobleme zu konzentrieren. Das alles seien interessante und sehr wichtige Themen, die man weiter im Auge behalten müsse – aber diese luxuriösen Verhältnisse seien nun nicht mehr gegeben.

Schätze unter dem schmelzenden Eis

Damit kam Pompeo zur Sache: „Wir treten in ein neues Zeitalter des strategischen Engagements in der Arktis ein, und das bringt neue Bedrohungen der arktischen Region und seiner Besitztümer [wörtlich: »real estate«, ganz im Geiste seines Präsidenten] und aller unserer Interessen in dieser Region.

In dieser extremen Hardliner-Rede kam der Begriff »Klimawandel« natürlich nicht vor. Und doch wissen alle, dass genau dieser Klimawandel die Möglichkeiten verbessert hat, die riesigen Rohstoffvorräte der Region auszubeuten. Das Wettrennen um die Kontrolle dieser Reichtümer hat bereits begonnen, und zwar von Anfang an als geopolitische Konfrontation zwischen den USA, Russland und China.

Was die Ausbeutung der Ressourcen betrifft, so konnte Pompeo in Rovaniemi seine Begeisterung kaum zügeln. Er erinnerte an den Kauf von Alaska im Jahr 1857, für den der damalige US-Außenminister William Seward von allen Seiten verhöhnt worden war. Heute sei die Arktisregion keineswegs das unwirtliche Hinterland, als das sie zu Sewards Zeiten gesehen wurde, sondern die vorderste Kampflinie der unbegrenzten Möglichkeiten: „Hier lagern 13 Prozent der noch nicht erschlossenen globalen Öl- und 30 Prozent der Gasreserven; dazu Unmengen an Uran und seltenen Erden, an Gold und Diamanten und Millionen Quadratmeilen von unangetasteten Ressourcen.

Gleichermaßen begeistert sprach Trumps Außenminister von einer gewaltigen Expansion des maritimen Verkehrs durch die Eröffnung des neuen transarktischen Schifffahrtswegs zwischen dem euroatlantischen Raum und Asien: „Dank der ständigen Rückbildung der Eisdecke öffnen sich neue Seepassagen und neue Chancen für den Handel. Damit würde sich die Reisezeit zwischen Asien und dem Westen potenziell um bis zu 20 Tage verkürzen. Laut Pompeo könnten die „arktischen Seerouten zum Suez- und Panamakanal des 21. Jahrhunderts“ werden.

Dass die „ständige Rückbildung der Eisdecke“ einzig und allein auf den Klimawandel zurückgeht, fand ebenso wenig Erwähnung wie eine weitere Tatsache: Sollte die arktische Passage einmal tatsächlich zum Suez- oder Panamakanal des Nordens geworden sein, dürften sich zugleich weite Teile des globalen Südens in unbewohnbare Wüstenzonen verwandelt haben.

Sobald sich diese »neuen Chancen« ergeben, wollen die Vereinigten Staaten die Ersten sein, die sie zu nutzen wissen. In Finnland spuckte Pompeo große Töne über die tollen Fortschritte, die seine Regierung bereits gemacht habe, etwa mit den großzügigen Lizenzen für Öl- und Gasbohrungen in küstennahen Gewässern, aber auch mit der Erlaubnis zur „Erkundung von Energiequellen“ im Arctic National Wildlife Refuge (ANWR).

Dieses Naturschutzgebiet im äußersten Nordosten Alaskas wird von Umweltaktivisten vor allem als Überlebensraum für die umherziehenden Karibus und andere gefährdete Tierarten geschätzt. Das hinderte Pompeo nicht, weitere Aktivitäten zur Ausbeutung der Bodenschätze anzukündigen.

Um seine Zuhörer zu beruhigen, erklärte der US-Außenminister, dass die Konkurrenz um die arktischen Ressourcen „im Idealfall“ durchaus geordnet und friedlich ablaufen würde. Sein Land glaube an „den freien und fairen und offenen Wettbewerb nach rechtsstaatlichen Prinzipien“.

Aber dann folgte gleich die Drohung: Andere Länder und insbesondere China und Russland würden sich zumeist nicht an diese Regeln halten, deshalb müssten sie einer genauen Aufsicht unterliegen und nötigenfalls auch bestraft werden.

Pompeo ging dann speziell auf China ein. Peking sei längst dabei, in der arktischen Region neue Handelswege zu erschließen und Wirtschaftsbeziehungen mit den Anliegerstaaten zu entwickeln. Allerdings würden die Chinesen ihre angeblich nur ökonomischen Aktivitäten hinterrücks auch zu militärischen Zwecken nutzen – behauptete der Außenminister jenes Landes, das in der Arktis bereits diverse Militäreinrichtungen unterhält, darunter die Luftwaffenbasis Thule im Norden von Grönland.1

Unverschämterweise, so Pompeo, spionierten die Chinesen den mit Interkontinentalraketen bestückten US-amerikanischen U-Booten nach, die im arktischen Raum operieren und für die nukleare Abschreckungsstrategie seines Landes unentbehrlich sind. Er verwies insbesondere auf die Vorgänge im Südchinesischen Meer. Dort hat China in der Tat auf ein paar winzigen unbewohnten Inseln Militäranlagen, wie Flugplätze und Raketenstellungen, errichtet, worauf die USA mit der Entsendung von Kriegsschiffen in die umliegenden Gewässer reagiert haben.

Der Hinweis diente ersichtlich als Warnung, dass eine ähnliche militärische Konfrontation und potenzielle Zusammenstöße künftig auch in der Arktis denkbar sind: „Wir sollten uns fragen, ob wir wollen, dass der Arktische Ozean zu einem neuen Südchinesischen Meer wird, belastet durch Militarisierung und konkurrierende territoriale Ansprüche.

Wobei Pompeo anschließend noch stärkere Worte gegen Russland fand, dem er „ein aggressives Vorgehen in der Arktis“ vorwarf: Moskau habe in der Region hunderte neue Stützpunkte errichtet, neue Häfen gebaut und sein Flugabwehrsystem erneuert. Diese Bedrohung könne nicht ignoriert werden: „Russland hinterlässt bereits Spuren im Schnee – in der Form von Militärstiefeln. Die Arktis sei zwar eine Art Wildnis, „doch das heißt nicht, dass dort Gesetzlosigkeit herrschen sollte […] Und wir bereiten uns darauf vor, sicherzustellen, dass es nicht so weit kommt.

Das also ist der Kern der Botschaft: Die Vereinigten Staaten müssen selbstredend »reagieren«, indem sie ihre eigene militärische Präsenz in der Arktis verstärken – mit den einzigen Ziel, ihre Interessen zu verteidigen und das Vordringen der Chinesen und der Russen zu kontern.

Solche Töne sind keineswegs nur Zukunftsmusik: „Unter Präsident Trump verstärken wir die Sicherheit und die diplomatische Präsenz der USA in dieser Region. Zur Stärkung unserer Sicherheit – die zum Teil als Reaktion auf die destabilisierenden Aktivitäten Russlands erfolgt – veranstalten wir Militärmanöver, verstärken unsere Truppenpräsenz, bauen unsere Eisbrecherflotte wieder auf und erhöhen die Ausgaben für unsere Küstenwache“, listete Pompeo auf.

Zudem werde „innerhalb unseres Militärs eine neue Stabsstelle für arktische Angelegenheiten“ eingerichtet, fügte der US-Außenminister hinzu.

Zum Beweis, dass Washington es ernst meint, pries Pompeo stolz die größten Militärübungen der USA und der NATO, die seit dem Ende des Kalten Kriegs im arktischen Raum stattgefunden haben. Dieses multinationale Manöver mit 50.000 Soldaten (unter dem Codenamen »Trident Juncture 18«) wurde vom 25. Oktober bis zum 23. November 2018 auf norwegischem Territorium abgehalten.2 Nach dem offiziellen Szenario für »Trident Juncture 18« war der Gegner ein nicht namentlich genannter »Angreifer«, aber für alle Militärbeobachter war eindeutig klar, dass die NATO-Truppen eine hypothetische russische Invasion in Norwegen zurückzuschlagen hatten.

So wird in groben Konturen die Pompeo-Doktrin erkennbar, der eine Kern­annahme zugrunde liegt, die innerhalb der Trump-Administration eigentlich verboten ist: dass die Klimakrise tatsächlich existiert. Diese überaus aggressive Doktrin geht für die arktische Region von einer permanenten Konkurrenz und von anhaltenden Konflikten aus, die sich infolge der Erderwärmung und des Abschmelzens der polaren Eiskappen immer weiter zuspitzen.

Die Auffassung, dass sich die USA im Fernen Norden mit den Russen und Chinesen ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, hat sich in Washington – speziell im Pentagon und im Nationalen Sicherheitsrat – über einen längeren Zeitraum herausgebildet. Im August 2019 ist sie offenbar auch im Weißen Haus so geläufig geworden, dass sie Trump darauf gebracht hat, Grönland kaufen zu wollen.

Dabei ist diese Idee angesichts der grönländischen Ressourcen und möglicher künftiger Auseinandersetzungen keineswegs irre oder skurril. Denn auf der größten Insel der Erde gibt es sowohl eine Menge Bodenschätze als eben auch die Militärbasis von Thule – ein Relikt des Kalten Kriegs, das heute vornehmlich als Radarstation dient. Die Anlage wurde bereits für 300 Millionen Dollar modernisiert, um russische Raketentests besser überwachen zu können. Aus der Sicht Washingtons ist Grönland von unschätzbarem Wert in dem geopolitischen Gerangel, das Pompeo in Rovaniemi dargestellt hat.

Bei den neuen strategischen Überlegungen im State Department und im Pentagon spielen auch Island und Norwegen eine wichtige Rolle. So hat die US-Marine ihren alten Stützpunkt im isländischen Keflavík wieder besetzt – eine weitere Hinterlassenschaft des Kalten Kriegs – und integriert diesen nun in ihre Strategie der U-Boot-Bekämpfung. Und auf einer Basis in der Nähe der norwegischen Stadt Trondheim sind gegenwärtig mehrere hundert der berühmten »Marines« stationiert. Dabei handelt es sich um den ersten Daueraufenthalt ausländischer Soldaten auf norwegischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. 2018 hat das Pentagon sogar die außer Dienst gestellte Zweite US-Flotte wieder reaktiviert und mit der Aufgabe betraut, den Nordatlantik und die Seewege in Richtung Arktis zu beschützen, was die Gewässer um Grönland, Island und Norwegen einschließt.

Wir gehen also offensichtlich heißen Zeiten entgegen, wobei die umfassenden Investitionen, die dem US-amerikanischen Militär das Agieren im Fernen Norden ermöglichen sollen, erst an ihrem Anfang stehen. Während »Trident Juncture 18« operierte der Flugzeugträger »Harry S. Truman« und seine Begleitflotte in norwegischen Gewässern – und zwar erstmals seit der Implosion der Sowjetunion im Jahr 1991 auch nördlich des Polarkreises.

Seitdem hat Marineminister Richard Spencer angekündigt, das Pentagon werde in der Sommersaison Überwasserschiffe der U.S. Navy die gesamte Arktis durchqueren lassen,3 was bislang nur unterhalb der Eisdecke, also für Atom-U-Boote möglich war.

Der Plan wurde diesen Sommer nicht realisiert.4 Aber in allerjüngster Zeit haben Einheiten der US-Marine und der Marineinfanterie an der Küste von Alaska ein großes amphibisches Landungsunternehmen durchgeführt. An der Übung im Rahmen des Militärmanövers »Arctic Expeditionary Capabilities Exercise (AECE) 2019«, des größten seiner Art seit Jahren, waren rund 3.000 Einsatzkräfte beteiligt. Sie sollte dazu dienen, die Fähigkeit des US-Militärs zu offensiven Landungsoperationen in der umkämpften arktischen Region zu verbessern.

Obwohl der US-Außenminister und seine Redenschreiber den Begriff »Klimawandel« niemals verwenden, ist jeder Aspekt der neuen Pompeo-Doktrin durch die Auswirkungen dieses Phänomens bestimmt. Weil die Temperaturen mit dem erhöhten Ausstoß von Treibhausgasen immer weiter ansteigen, wird die Eisdecke der Arktis immer schneller schrumpfen.

Damit wird die Ausbeutung der arktischen Energievorkommen zunehmend einfacher, was eine erhöhte Produktion fossiler Brennstoffe bedeutet, die wiederum den Teufelskreis der Erderwärmung und des beschleunigten Abschmelzens des Polareises weiter antreibt. Mit einem Satz: Die Pompeo-Doktrin weist den sicheren Weg in die Katastrophe.

Dabei kommt noch ein Aspekt ins Spiel: Die steigenden Temperaturen und die Zunahme extremer Stürme werden die Öl- und Gasförderung in anderen Weltregionen wahrscheinlich stark beeinträchtigen. So gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass die Menschen im Nahen und Mittleren Osten bis 2050 im Sommer mit durchschnittlich knapp 50 Grad Celsius rechnen müssen. Solche mörderische Hitze macht das Arbeiten im Freien unmöglich.

Im Golf von Mexiko – und in klimatisch vergleichbaren Regionen – könnten Hurrikane wegen der steigenden Wassertemperaturen immer extremer werden und die kontinuierliche Förderung auf den Ölbohrplattformen behindern. Sollte die Menschheit bis 2050 nicht die komplette Umstellung auf alternative Energien geschafft haben, wird die Arktis in der Mitte dieses Jahrhunderts zur wichtigsten Lieferregion von Gas und Erdöl geworden sein. Das wird den Kampf um die Kontrolle dieser fossilen Ressourcen nur noch erbitterter machen – der teuflischste Aspekt der Reaktion der Menschen auf die Klimakrise.

Je mehr fossile Energie wir verbrauchen, umso schneller wird sich die Ökologie der Arktis verändern. Und wenn die auf fossilen Brennstoff beruhende Extraktionsökonomie in anderen Regionen aus klimatischen Gründen zum Erliegen kommt, ohne dass wir die Abhängigkeit von Öl und Gas überwunden haben, wird das Schicksal des Fernen Nordens besiegelt sein. Dann wird die ehemals unberührte Weltregion, wie von der Pompeo-Doktrin vorausgesehen, zum Schauplatz heftiger Konflikte werden – und zu einer Katastrophe für die gesamte Zivilisation.

Anmerkungen

1) Die US-Basis Thule existiert bereits seit 1951 und hat eine drei Kilometer lange Landebahn. Während des Kalten Kriegs diente sie als Operationsbasis des Strategic Air Command, also der mit Atomwaffen bestückten Langstreckenbomberflotte der U.S. Air Force (B-36, B-47 und B-52). Die Basis beherbergt heute auch die größte und nördlichste Satellitenbodenstation der U.S. Air Force. Gegenwärtig halten sich dort permanent etwa 600 Armeeangehörige und Zivilisten auf.

2) Dabei handelte es sich um das größte NATO-Manöver seit der Auflösung der Sowjet­union. Parallel dazu fand das ebenfalls multinationale Seemanöver »Northern Coasts 2018« in der Ostsee vor Finnland statt. An beiden Manövern war die Bundeswehr mit starken Kontingenten beteiligt.

3) Siehe Wall Street Journal, 12. Januar 2019.

4) Das Vorhaben wurde auch in Fachkreisen kritisch gesehen, denn es hätte nicht nur U.S.-Navy-Schiffe (durch Eisgang) gefährdet, sondern auch zu Konflikten mit Russland und Kanada geführt. Siehe Rebecca Pinkus, »Rushing Navy Ships into the Arctic for a FONOP is Danger­ous«, in: RealClear Defense, 1. Februar 2019.

Michael T. Klare ist Professor em. für Friedens- und globale Sicherheitsstudien und schreibt regelmäßig für die Website TomDispatch, auf der auch dieser Text erschienen ist. Sein neues Buch »All Hell Breaking Loose – the Pentagon’s Perspective on Climate Change« erschien im November 2019 bei Metropolitan Books.

Aus dem Englischen übersetzt von Niels Kadritzke.
© Michael Klare; für die deutsche Übersetzung: LMd, Berlin

W&F dankt »Le Monde diplomatique« für die Nachdruckrechte. Der Artikel erschien unter der Überschrift »Warum Trump Grönland kaufen wollte« in der Ausgabe vom 10.10.2019.

Hybride Kriegführung


Hybride Kriegführung

Die Diffusion eines Begriffs

von Wolfgang Schreiber

»Hybride Kriegführung« (hybrid warfare) ist kein theoretisch feststehender Begriff, sondern vielmehr eine Wortschöpfung, die in den letzten Jahren zur Beschreibung sehr unterschiedlicher Kriegsphänomene genutzt wurde. Dennoch lassen sich Merkmale der hybriden Kriegführung herausfiltern. Die Bandbreite lässt sich anhand historischer und aktueller Beispiele veranschaulichen.

Erstmalig explizit genutzt wurde »Hybride Kriegführung« 2002 in einer Arbeit über den Krieg in Tschetschenien (Nemeth 2002).1 Dabei stellte Nemeth fest, dass die Rebellen sowohl moderne Technologie als auch moderne Mobilisierungsmethoden (ebd., S. 29) und – je nach Lage – konventionelle oder Guerilla-Taktiken einsetzten (ebd., S. 61). Durch eine Analyse des Libanonkrieges von 2006, die für die Kriegführung der Hisbollah gegen Israel ähnliches herausstellte (Hoffman 2007), fand der Begriff weitere Verbreitung. Eine hybride Kriegführung wurde also zunächst nichtstaatlichen Akteuren zugeschrieben, von denen man eine Kombination aus konventionellen und Guerilla-Taktiken so nicht erwartet hatte, sodass eine neue Begrifflichkeit notwendig erschien.2

Eine Erweiterung erfuhr der Begriff spätestens 2010, als innerhalb der NATO von »hybriden Bedrohungen« gesprochen wurde (Asmussen et al. 2015, S. 10, 123). Damit gemeint war die Einbeziehung nicht originär militärischer Bedrohungen, wie Gewalt durch Nachrichtendienste, Cybergewalt, privatisierte Gewalt, diplomatische Macht, realwirtschaftliche Macht, finanzwirtschaftliche Macht, wissenschaftliche und technologische Macht, Medienmacht (Dengg und Schurian 2015, S. 60-63). Durch die Kombination dieser und ggf. militärischer Mittel ergeben sich logischerweise ganz unterschiedliche hybride Bedrohungsszenarien.

Die Sinnhaftigkeit des Begriffs wurde gleich aus mehreren Richtungen kritisiert. Einerseits führten Kritiker für die Kombination verschiedener militärischer Taktiken durch Kriegsakteure eine ganze Reihe von Beispielen an, die nahelegen, dass diese Art der Kriegführung auch historisch gesehen eher die Regel als die Ausnahme war (Murray und Mansoor 2012). Wird andererseits die Mischung von militärischen und nicht-militärischen Elementen als wesentliches Charakteristikum hybrider Kriegführung betont, so erscheint der Begriff noch weniger sinnvoll. Kriegführende Parteien bedienten sich zur Unterstützung ihrer Kriegführung immer auch nicht-militärischer Mittel: Diplomatie soll z.B. verhindern, dass der Gegner Bündnispartner findet; Wirtschaftssanktionen bis hin zu Blockaden sollen dessen Versorgung infrage stellen; Propaganda soll die Unterstützung der eigenen Bevölkerung sicherstellen und die des Gegners untergraben usw. Das Führen eines Krieges ist damit grundsätzlich hybrid (Schmid 2016, S. 119).

Für die Diskussion über hybride Kriegführung kommt dabei aus den Bedrohungsszenarien der Einzelkomponente des Cyberangriffs eine besondere Bedeutung zu. 2007 wurden estnische Einrichtungen Ziel eines Cyberangriffs (Asmussen et al. 2015, S. 6); 2010 waren vor allem Computer im Iran betroffen vom Computerwurm Stuxnet (Dengg und Schurian 2015, S. 27). In beiden Fällen konnte über die Urheber der Cyberattacken nur spekuliert werden: 2007 wurden russische Urheber vermutet; 2010 richtete sich der Verdacht gegen die USA und Israel. Bei Cyberangriffen geht es jedoch zumeist weniger um Angriffe mit Zerstörungspotenzial als um Spionage. Zu nennen ist hier vor allem das weltweite Überwachungsprogramm der US-amerikanischen National Security Agency (NSA), die auch vor dem Abhören befreundeter Staats- und Regierungschefs nicht haltmachte. Ein weiteres Beispiel ist die Veröffentlichung des Mailverkehrs der Demokratischen Partei in den USA, die die Einflussnahme der Parteispitze zugunsten Hillary Clintons und gegen Bernie Sanders im Nominierungswahlkampf vor der Präsidentschaftswahl 2016 deutlich machte. Im Fall der NSA blieben diese Aktivitäten bis zur Veröffentlichung durch Edward Snowden unbekannt; im zweiten Fall wird über Urheber in Russland spekuliert.

Diffusion des Begriffs

Wird in der aktuellen Diskussion von hybrider Kriegführung gesprochen, ist damit vor allem das russische Vorgehen in der Ukraine gemeint (Bilban et al. 2019, S. 22-25; Ehrhart 2014). Dabei werden folgende Hauptmerkmale der russischen Kriegführung genannt, welche die Bezeichnung »hybrid« rechtfertigen sollen: Da die russische Seite behauptet, die Rebellen lediglich zu unterstützen, bleibt im Unklaren, wer der treibende Akteur ist. Direkte russische Interventionen werden, so bei der Besetzung der Krim, allenfalls im Nachhinein zugegeben. Somit weist bereits die im engeren Sinne militärische Komponente einen hybriden Charakter auf. Diese Unklarheit über das militärische Agieren wird von einer Informationspolitik begleitet, die einerseits auf klassische Medien, wie den Fernsehsender RT, zurückgreift, andererseits auch auf sozialen Medien beruht, wo Urheberschaft und Einflussnahme staatlicher Stellen bewusst im Unklaren bleiben.

Die Möglichkeit, eine Verantwortung für bestimmte Aktionen oder sogar eine Kriegsbeteiligung mit einiger Plausibilität abstreiten zu können (Erhart 2016, S. 99; Schmid 2016, S. 115), wird hier zu einem Hauptmerkmal dieser Art der Kriegführung. Dies wird unterstützt durch die Verbreitung von Informationen und Desinformationen im Internet, die es erschweren, Fakten, Wahrnehmungen und Unwahrheiten voneinander zu unterscheiden, weil sich für jede Sichtweise vielfältige »Belege« finden lassen. Sofern eine Kriegsbeteiligung insgesamt bestritten wird, bedeutet dies eine Aufhebung der Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden (Koch 2016, S. 110).

Mit diesen Zuordnungen hat sich der Begriff »hybrider Krieg« von den ersten, eingangs beschriebenen Definitionsversuchen doch ein Stück weit entfernt. Nicht die Vermischung regulärer und irregulärer Kriegführung macht hier den eigentlichen Charakter des Hybriden aus, sondern ein Vorgehen, dass die Zuschreibung einzelner Gewalthandlungen und Beiträge zur Kriegführung eher im Unklaren lässt. Statt von hybrider ließe sich treffender von verdeckter Kriegführung sprechen. Dabei kann der Grad der Verdeckung unterschiedlich sein: Es kann jegliche Beteiligung entweder verschwiegen oder geleugnet werden. Durch das Handeln mehrerer Akteure – meist eines staatlichen und mindestens eines nichtstaatlichen – wird es schwierig, die jeweils maßgebliche Kraft zu identifizieren. Oder es kommt zum Einsatz von Truppen, der Begriff »Krieg« wird für diese Einsätze aber trotz der Verwicklung in Kampfhandlungen vermieden. Auch dadurch entsteht eine Grauzone zwischen Krieg und Frieden, wie sie für die hybride Kriegführung konstatiert wird.

Dieses Vorgehen ist allerdings nicht neu. Immer wieder gab es Interventionen, in denen eine Kriegsbeteiligung nicht offen stattfand. So unterstützten US-amerikanische Kampfflugzeuge 1954 in Guatemala und 1958 in Indonesien aufständische Truppen. Am zwischenstaatlichen Koreakrieg beteiligte sich die Sowjetunion auf Seiten Nordkoreas mit Kampfflugzeugen, die von chinesischen Stützpunkten aus eingesetzt wurden. Offiziell beteiligte sich Moskau nicht an diesem Krieg. Auch in jüngerer Zeit wurden Einsätze, wie der durch französische und britische Spezialkräfte zugunsten der libyschen Opposition 2011, nicht von vornherein offengelegt (Ehrhart 2014).

Für eine besondere Art der verdeckten Intervention steht der Einsatz von Söldnern. In Guatemala 1954 und Kuba 1961 wurden Exilkräfte bei ihren Umsturzversuchen jeweils durch Söldner unterstützt, die mit der CIA in Verbindung standen. In afrikanischen Konflikten stieß man häufig auf den Söldner Bob Denard, der bis in die 1980er Jahre mehr oder weniger offen französische Interessen vertrat. Zu überlegen ist auch, wie die Aktivitäten privater Sicherheitsfirmen, z.B. im Irakkrieg, hier zugeordnet werden können.

Eine weitere Art verdeckter Kriegsbeteiligung ist die vorgeblich neutrale Intervention zur Beendigung eines Krieges. Die USA bedienten sich dieses Szenarios 1965 in der Dominikanischen Republik und agierten dabei formal als Teil der durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) entsandten Truppen. Mitte der 1990er Jahre wurde die von der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS entsandte Eingreiftruppe ein Akteur im Bürgerkrieg in Liberia, als sie unter nigerianischer Führung vor allem gegen die Rebellen unter Charles Taylor vorging. Auch Russland engagierte sich in mehreren derartigen Interventionstruppen. Zur Überwachung von Waffenstillständen wurden Einheiten unter dem Dach der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in verschiedene Nachfolgestaaten der Sowjet­union entsandt, u.a. nach Moldawien und Georgien. De facto unterstützten diese von Russland dominierten Truppen jedoch jeweils eine der Konfliktparteien. 2008 führte dies im Falle der Region Südossetien zum offenen Krieg zwischen Georgien und Russland.

Weiterhin gibt es zahlreiche Beispiel innerstaatlicher Kriege, in denen die staatliche Seite mehr oder weniger eng mit nichtstaatlichen Akteuren zusammenarbeitet. In diesen Fällen können insbesondere Kriegsverbrechen und grobe Menschenrechtsverstöße vom Staat geleugnet bzw. ihrem nicht immer kontrollierbaren Verbündeten zugeschrieben werden. Bekannte Beispiele hierfür sind die paramilitärischen »Selbstverteidigungsgruppen«, die in Kolumbien bei der Bekämpfung der verschiedenen linksgerichteten Rebellengruppen mitwirkten, sowie die so genannten Dschandschawid-Milizen, die im sudanesischen Darfurkrieg zum Einsatz kamen.

Eine letzte Form verdeckter Kriegführung ist die Beteiligung an Kriegen, die von den betreffenden Staaten nicht als Krieg deklariert werden. Zu erinnern ist hier an die Debatte in Deutschland, ob die Bundeswehr in Afghanistan an einem Krieg beteiligt ist. Dabei wurde offiziell lange die Interpretation als Nachkriegs- und Stabilisierungsmission im Rahmen der ISAF aufrechterhalten, obwohl nach der Reorganisation der Taliban bereits ab 2003 wieder ein offener Krieg zu beobachten war. Es handelt sich aber nicht nur um ein deutsches Phänomen: Als der französische Präsident nach den IS-Anschlägen in Paris am 13.11.2015 diese als »Kriegserklärung« bezeichnete, stellte sich durchaus die Frage, wie die in den Monaten zuvor im Irak und Syrien geführten französischen Luftangriffe gegen den IS im offiziellen Sprachgebrauch bezeichnet wurden.

Fazit: ein unklarer Begriff für vielfältige Phänomen

So vielfältig die Bedrohungsszenarien hybrider Kriegführung, so vielfältig sind die Phänomene, die als hybride Kriege bezeichnet werden können. Die Mischung konventioneller und unkonventioneller Arten der Kriegführung dürfte historischen Untersuchungen zufolge wohl eher die Regel als die Ausnahme im Kriegsgeschehen darstellen. Auch die Mischung des Einsatzes von militärischen und zivilen Mitteln, wie Diplomatie, Propaganda/Information/Desinformation, Spionage oder Wirtschaftssanktionen, kennzeichnen eher Kriege im Allgemeinen als hybride Kriege im Besonderen. Ob die Nutzung des Internets oder des Cyberraums einen neuen Kriegsbegriff erforderlich macht, kann an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise diskutiert werden, zumal auch der Begriff des Cyberwar eher umstritten ist (Rid 2018). Auch die Verdeckung von Verantwortlichkeiten im Kriegsgeschehen – bis hin zur Infragestellung des Kriegszustandes selbst – sind weder neue Phänomene noch wird durch sie ein neuer Begriff zu begründen sein.

Anmerkungen

1) Nemeth nimmt dabei aber an keiner Stelle in Anspruch, diesen Begriff erfunden zu haben. Er ordnet ihn in eine seit den 1980er Jahren geführte Debatte um die Kriegführung der 4. Generation (Fourth Generation Warfare) innerhalb des US-Militärs ein (S. 3) und bezeichnet hybride Kriegführung ohne weitere Erläuterung als zeitgenössische Form der Guerilla-Kriegführung (S. 29).

2) Im Gegensatz zu Nemeth war Hoffman bestrebt, hybride Kriegführung in Abgrenzung von anderen militärischen Begrifflichkeiten, wie Forth Generation Warfare, als eigenständiges Konzept zu definieren (Hoffman 2007, S. 18-23).

Literatur:

Asmussen, J.; Hansen, S.; Meiser, J. (2015): Hybride Kriegsführung – eine neue Herausforderung? Kiel: Universität Kiel, Institut für Sicherheitspolitik, Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 43.

Bilban, C.; Grininger, H.; Steppan, C. (2019): Gerasimov – Ikone einer tief verwurzelten Denktradition. In: Bilban, C.; Grininger, H. (Hrsg.): Mythos »Gerasimov-Doktrin« – Ansichten des russischen Militärs oder Grundlage hybrider Kriegsführung? Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 15-55.

Dengg, A.; Schurian, M. (2015): Zum Begriff der Hybriden Bedrohungen. In: dies. (Hrsg.): Vernetzte Unsicherheit – Hybride Bedrohungen im 21. Jahrhundert. Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 23-75.

Erhart, H.-G. (2014): Russlands unkonventioneller Krieg in der Ukraine – Zum Wandel kollektiver Gewalt. Aus Politik und Zeitgeschichte, 11.11.2014.

Erhart, H.-G. (2016): Postmoderne Kriegführung – In der Grauzone zwischen Begrenzung und Entgrenzung kollektiver Gewalt. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 97-103.

Hoffman, F.G. (2007): Conflict in the 21st Century – The Rise of Hybrid Wars, Arlington: Potomac Institute for Policy Studies.

Koch, B. (2016): Tertium datur – Neue Konfliktformen wie sogenannte »hybride Kriege« bringen alte Legitimationsmuster unter Druck. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 109-113.

Murray, W.; Mansoor, P.R. (2012) (eds.): Hybrid Warfare – Fighting Complex Opponents from the Ancient World to the Present. Cambridge: Cambridge University Press.

Nemeth, W.J. (2002): Future War and Chechnya – A Case for Hybrid Warfare. Monterey: Naval Postgraduate School.

Rid, Thomas (2018): Mythos Cyberwar – Über digitale Spionage, Sabotage und andere Gefahren. Hamburg: Edition Koerber.

Schmid, J. (2016): Hybride Kriegführung und das »Center of Gravity« der Entscheidung. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 114-120.

Wassermann, F. (2016): Chimäre statt Chamäleon – Probleme der begrifflichen Zähmung des hybriden Krieges. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 104-108

Wolfgang Schreiber, geb. 1961, ist Dipl.-Mathematiker, Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.

Hybrider Krieg


Hybrider Krieg

Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts

von Ina Kraft

Dieser Beitrag befasst sich mit der Verwendung des Konzepts des hybriden Krieges in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte. Er kommt zu dem Ergebnis, dass politische Akteure das noch immer vage Konzept nutzen, um konkrete Vorhaben der Bundeswehr sowie Änderungen in der sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung zu legitimieren.

Hybride Kriegführung steht im Fokus einer Reihe von allgemeinen Abhandlungen sowie konkreten militärtheoretischen Ansätzen in den beiden letzten Jahrzehnten, wie beispielsweise »cyberwar« (Arquilla und Ronfeldt), »new wars« (Kaldor) oder »asymmetric war« (Thornton). In den USA erlangt das Konzept der Hybriden Kriegführung durch die Veröffentlichungen von Frank G. Hoffman ab 2006 Aufmerksamkeit in akademischen und militärstrategischen Fachdebatten (Hoffmann 2007). In der US-amerikanischen Debatte wird »hybrid war« bis 2010 theoretisch als eine neue Art des Krieges und zumeist mit Blick auf Akteure im Nahen und Mittleren Osten (Fälle: Hisbollah, Taliban, islamistischer Terrorismus) thematisiert. Das Konzept beschreibt die Vorgehensweise zumeist nichtstaatlicher militärischer Gruppen, die sich konventioneller und irregulärer Methoden der Operationsführung bedienen, um technologisch übermächtige Gegner zu bekämpfen. Allerdings folgen in den USA zunächst keine weiteren sicherheitspolitischen Konsequenzen aus der Konzeptualisierung.

Nutzbarmachung in der deutschen Debatte

Wird das Hybridkriegskonzept in Deutschland bis 2011 im Vergleich zu den USA kaum rezipiert, erlangt es danach hohe und vor allem auch politische Aufmerksamkeit. Im September 2014 verwendet Bundesverteidigungsministerin von der Leyen den Begriff in einer Plenardebatte im Deutschen Bundestag. Der damalige Bundesaußenminister Steinmeier erwähnt den Terminus in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2015. Sicherheitspolitische Berater*innen benutzen den Begriff ebenso wie Referent*innen im Bundesverteidigungsministerium und Journalist*innen.

Auch in dem im Juli 2016 veröffentlichten »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« ist der Begriff prominent vertreten. Im Vorwort weist die Bundesministerin der Verteidigung auf die hybride Kriegführung als eine der gegenwärtigen Herausforderungen hin, die eine Ausstattung der Bundeswehr mit bestem Material und eine nachhaltige Finanzierung notwendig mache. Dabei tritt eine deutliche Bedeutungsverschiebung zum ursprünglich durch Hoffman formulierten Konzept zutage. Durch die Nennung von Cyberangriffen und Propaganda sowie der verdeckten Beteiligung von Soldat*innen als Merkmal einer hybriden Kriegführung ist das Konzept im deutschen sicherheitspolitischen Verständnis stark auf den Fall Russland/Ukraine zugeschnitten.

Auch in der NATO und in der EU ist das Thema hybride Bedrohungen präsent. Wenige Monate nach den russischen Handlungen in der Ukraine im Juni 2014 erklären die Staats- und Regierungschefs auf dem Treffen des Nordatlantikrats in Wales, sie würden sicherstellen, „dass die NATO in der Lage ist, effektiv den besonderen Herausforderungen einer Bedrohung durch einen Hybridkrieg zu begegnen“. Im Dezember 2015 verabschiedet das Bündnis die »Strategy on NATO‘s role in countering hybrid warfare«. Im April 2016 zieht die EU mit dem »Gemeinsamen Rahmen für die Abwehr hybrider Bedrohungen« nach. Darin wird unter anderem die Einrichtung einer »Hybrid Fusion Cell« im EU Intelligence Analysis Centre beim Europäischen Auswärtigen Dienst vorgeschlagen. Auch in der NATO werden institutionelle Strukturen geschaffen: Im April 2017 legt sie mit der Gründung des European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats institutionelle Strukturen fest.

Politische Funktionen des Konzepts

In der deutschen Debatte sind nicht nur ein deutlicher Zeitverzug in der Adaption des Konzepts sowie eine Bedeutungsverschiebung auszumachen. Es finden sich auch kaum Bezüge zu irregulären Gegner*innen und deren (auch konventionellen) Taktiken, wie sie in der US-amerikanischen Debatte konzipiert werden. Stattdessen bezieht sich der Begriff fast ausschließlich auf die teils irregulären Taktiken des staatlichen Akteurs Russland. So thematisieren die deutschen Beiträge verstärkt Propaganda, die Zerstörung Kritischer Infrastrukturen sowie Handlungen im so genannten Informationsraum als Elemente hybrider Kriegführung. Die verspätete Rezeption und der Bedeutungswandel deuten darauf hin, dass in der deutschen Debatte das US-amerikanische Hybridkriegskonzept benutzt wurde, um den Ereignissen, die sich 2014 in der Ukraine abspielten, einen Namen zu geben. So wird einerseits das Konzept in seiner Bedeutungszuschreibung verändert, andererseits aber das konfliktträchtige Verhalten Russlands zum Beispiel in Syrien nicht mit dem Konzept gefasst.

Diese Nutzung bereits vorhandener Lösungen (hier: das Konzept Hybride Kriegführung) für neu auftretende Probleme (hier: Benennung des Verhaltens Russlands in der Ukraine) ist ein Phänomen, das bei kollektiven Entscheidungen auftritt und bereits in den 1970er Jahren unter dem Schlagwort »garbage can theory« in den Sozialwissenschaften diskutiert wird. Mit Blick auf dessen Konjunktur und Dynamik scheint das 2006 entwickelte Hybridkriegskonzept eine ebensolche Lösung zu sein, die 2014 schließlich ein Problem fand. Im Besonderen erfüllt das Konzept drei Funktionen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs: Komplexitätsreduktion durch Vereinfachung und Interpretation, Generierung von Aufmerksamkeit sowie Inanspruchnahme von Legitimität für eigene Anliegen.

Vereinfachung und Interpretation

Begriffe und Konzepte reduzieren komplexe Realitäten. Das komplexe Verhalten Russlands wird mit dem Begriff »Hybrider Krieg« beschrieben. Das erlaubt eine effektivere sicherheitspolitische Kommunikation, hat aber auch den Effekt, dass der Begriff durch die Diskursteilnehmer*innen bald selbst als Realität begriffen wird. Begriffsbildung und -verwendung ist soziales Handeln, bei dem die Sozialisation der Handelnden ebenso wie ihre Interessen eine entscheidende Rolle spielen. Komplexitätsreduktion ist also kein wertfreies rationales Produkt und hybride Kriegführung daher auch keine bloße wertneutrale Vereinfachung. In seiner inhärenten Interpretation der Realität spiegelt der Begriff bereits die Interessen und die Sozialisation der Teilnehmer*innen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs wider.

Aufmerksamkeit

Die Verwendung des Hybridkriegsbegriffes schafft zudem in einem selbstverstärkenden Prozess Aufmerksamkeit. Je häufiger der Begriff diskutiert wird, umso attraktiver scheint es für Diskursteilnehmer*innen, selbst zu dem Konzept beizutragen. Damit leisten sie der Popularität des Begriffs weiteren Vorschub. Eine Analyse von Artikeln der sicherheitspolitischen Fachzeitschrift »Europäische Sicherheit und Technik« zeigt, dass viele Autoren hybride Kriegführung im ersten Absatz nennen, ohne jedoch im weiteren Verlauf auf den Begriff oder seine Bedeutung einzugehen. Hybride Kriegführung wird hier vergleichbar mit der Nennung von bekannten Persönlichkeiten in Texten (name dropping) verwendet, um Aufmerksamkeit zu generieren und um die Anschlussfähigkeit des Beitrags zum aktuellen Hybridkriegsdiskurs zu signalisieren. Die Kenntnis des Konzepts signalisiert darüber hinaus die Zugehörigkeit des Autors oder der Autorin zum sicherheitspolitischen Expert*innen- und damit auch zum Elitenkreis.

Legitimierung von Vorhaben der Bundeswehr

Die Generierung von Aufmerksamkeit hat zum Ziel, die Diskursteilnehmer*innen für ein Thema zu interessieren. Die Generierung von Legitimität verfolgt darüber hinaus die Absicht, die eigene Position angemessen erscheinen zu lassen. Legitimität soll hier nicht konstitutionell-normativ, sondern vielmehr soziologisch verstanden sein. Aus dieser Perspektive müssen soziale Akteure nicht bloß materielle Ressourcen generieren, um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern. Sie müssen gleichsam Erwartungen erfüllen, die von anderen Akteuren an sie herangetragen werden. Denn nur legitim(iert)e Forderungen können zur Mobilisierung institutioneller und budgetärer Ressourcen eingesetzt werden. Beispiele für die Doppelanforderungen von Effizienz und Angemessenheit sind gerade im Kontext der Sicherheitspolitik mannigfaltig – man denke an die taktische Effizienz des Einsatzes von bewaffneten Drohnen auf der einen und dessen rechtliche und ethische Grenzen auf der anderen Seite.

Die Nutzung des Hybridkriegsbegriffs in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte dient aus dieser Perspektive dem Ziel, politische Forderungen zu legitimieren. Der durch Komplexitätsreduzierung und eine hohe Aufmerksamkeit institutionalisierte Mythos der hybriden Kriegführung wirkt dabei auf zwei Arten: Zum einen wird der Begriff des Hybridkriegs genutzt, um eigene Anliegen zu rechtfertigen, die jedoch kaum in den Definitionsrahmen für hybride Kriegführung oder deren Gegenmaßnahmen fallen. So argumentiert zum Beispiel der damalige Amtschef des Amts für Heeresentwicklung mit dem Phänomen der hybriden Bedrohungen, um für eine veränderte Heeresstruktur zu werben (Köpke 2015, S. 28). Über die bloße Nennung hinaus wird hierbei ein begründeter Zusammenhang zwischen Forderung und Hybridkriegskonzept allerdings nicht aufgezeigt. Der Inspekteur der Luftwaffe, General Karl Müllner, argumentiert in ähnlicher Weise für eine Ausstattung der Luftwaffe mit Drohnen (Müllner 2015). Nun ist der Bedarf der Teilstreitkräfte nach mehr Mobilität oder modernem Gerät keine direkte Folge der hybriden Bedrohungen. Dennoch werden sie in der Argumentation genutzt, um den »ewigen« Forderungen der Teilstreitkräfte nach mehr Ressourcen Nachdruck zu verleihen.

Legitimierung erweiterter Einflusssphären

Darüber hinaus dient das Konzept auch als Begründung für mögliche sicherheitspolitische Maßnahmen, die Einflusssphären sicherheitspolitischer Akteure in gesellschaftliche Räume hinein erweitern oder sicherheitspolitische Entscheidungen erleichtern. In der deutschen sicherheitspolitischen Debatte werden mit Blick auf hybride Bedrohungen folgende Maßnahmen diskutiert: erstens, eine stärkere sicherheitspolitische Kooperation und Vernetzung. Diese betrifft einerseits die ressortübergreifende Arbeit auf der nationalen Ebene (Alamir 2015). Andererseits sollen der Informationsaustausch sowie abgestimmte Vorgehensweisen auch zwischen NATO und EU vereinfacht werden (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 69-70). Im Zusammenhang mit dem Hybridkriegskonzept hat, zweitens, der Begriff der gesamtstaatlichen Resilienz als Gegenstrategie ebenfalls Prominenz erlangt (ebenda, S. 49). Resilienz bezeichnet die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft. Im Weißbuch 2016 erlangt der Begriff eine große Bedeutung für die Abwendung hybrider Bedrohungen: „Erfolgreiche Prävention gegen hybride Gefährdungen erfordert staatliche und gesamtgesellschaftliche Resilienz – und damit umfassende Verteidigungsfähigkeit.“ (ebenda, S. 39) In der sicherheitspolitischen Debatte werden Resilienz-Maßnahmen in den Bereichen Energiesicherheit, Bildung, Handel und Wirtschaft, öffentliche Meinung und Kommunikation diskutiert.

Legitimierung der Änderung politischer Konstanten

Es gibt eine Reihe von Debattenbeiträgen, die die Angemessenheit der derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund hybrider Bedrohungen hinterfragen. Da geht es um die Vereinfachung sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, aber auch um die Frage, ob die in Deutschland verfassungsrechtlich verankerte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit aufrechterhalten werden sollte (Deutsche Bundesregierung 2016; Deutscher Bundestag 2016).

Es finden sich in der Debatte auch Hinweise auf mögliche Implikationen hybrider Kriegführung für das internationale Völkerrecht. So heißt es im Weißbuch 2016: „Das Merkmal hybrider Kriegführung, die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden, stellt […] besondere Herausforderungen an die Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des NATO-Vertrags.“ (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 65) Das wurde zuvor bereits im Zusammenhang mit dem vermuteten russischen Cyberangriff auf Estland 2007 diskutiert. Bisher allerdings herrschte unter den NATO-Staaten Zurückhaltung, Cyberangriffe als Angriff im Sinne des Völkerrechts zu werten. Auch auf EU-Ebene wird diskutiert, ob bei einem hybriden Angriff die Solidaritätsklausel nach Art. 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder sogar die Beistandspflicht des Art. 42 des Vertrags über die Europäische Union greife (Europäische Kommission 2016, S. 19).

Resümierend ist festzuhalten, dass im Zusammenhang mit oder mit Verweis auf hybride Bedrohungen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs eine Ausweitung der sicherheitspolitischen Kooperation und Kompetenzen von NATO und EU debattiert wird. Außerdem wird in diesem Kontext die Ausweitung staatlicher Ordnungsfunktionen zur Herstellung einer gesellschaftlichen Resilienz sowie die stärkere Zusammenarbeit staatlicher Institutionen diskutiert. Darüber hinaus werden in der Debatte etablierte rechtliche Charakteristika deutscher Sicherheitspolitik mit einem Fragezeichen versehen: die Regeln sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, die Trennung innerer von äußerer Sicherheit sowie die völkerrechtlichen Bewertungen eines Angriffs. Das Hybridkriegskonzept dient hierbei als Legitimation für die Vorschläge jener Maßnahmen.

Neue Begründungslogik für Verteidigung

Die Verwendung des Hybridkriegskonzepts im sicherheitspolitischen Diskurs dient möglicherweise der Versicherheitlichung gesellschaftlicher Bereiche (Buzan et al. 1998). Die Interpretation, Kommunikation und gesellschaftlich geteilte Wahrnehmung hybrider Bedrohungen als existenzielle Gefährdungen könnte demnach ganz real dazu führen, dass sicherheitspolitischen Akteuren mehr Handlungsmöglichkeiten zugesprochen werden. Ein Konzept entfaltet so reale Wirkung.

Mit Blick auf den strategischen Diskurs kann zudem konstatiert werden, dass die Konzentration auf hybride Kriegführung in der deutschen und trans­atlantischen Verteidigungsplanung einen Wandel in der Begründungslogik verteidigungspolitischer Grundpositionen darstellt. War die Verteidigungsplanung zu Zeiten des Ost-West-Konflikts von einem bedrohungsbasierten Ansatz (threat-based approach) geprägt, wurde dieser mit dem Wegfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes als Gegner von einem fähigkeitsbasierten Ansatz (capabilities-based approach) abgelöst. Dieser richtet Streitkräfte nicht mehr nach einem konkreten Bedrohungssze­nario aus, sondern in Bezug auf die operativen Fähigkeiten, die in zukünftigen Einsätzen am wahrscheinlichsten gebraucht werden.

Mit dem Hybridkriegskonzept tritt nun nach der bedrohungsbasierten und der fähigkeitsbasierten eine phänomenbasierte Begründung für die Verteidigungsplanung auf. Diese fokussiert argumentativ weder auf einen konkreten Gegner noch auf die Wahl der Mittel, sondern auf die Art der Bedrohung, auf das Phänomen.

Dieser Wandel mag verschiedene Gründe haben. Zum einen gilt nach den Erfahrungen der USA und der NATO in den Kriegen im Irak und in Afghanistan der fähigkeitsbasierte Ansatz als gescheitert, da Gegner Wege finden, westlichen Truppen trotz deren überlegener Militärtechnik empfindliche Verluste zuzufügen. Ein weiterer möglicher Grund, gerade in Deutschland, ist die rhetorische Ausweichbewegung, die der Begriff hybride Kriegführung erlaubt: Der Hybridkriegsbegriff ermöglicht es – anders als ein bedrohungsbasierter Ansatz, der Russland direkt nennt –, sicherheitspolitische Maßnahmen gegen befürchtete russische Handlungen zu ergreifen und zugleich Dialog- und Kooperationsbereitschaft zu signalisieren.

Letztlich ist auch denkbar, dass eine phänomenbasierte statt einer konkret bedrohungsbasierten Begründung eine gewollte Ambiguität darstellt, denn trotz seiner beeindruckenden politischen Karriere verbleibt der Begriff des hybri­den Krieges noch immer im Vagen. So antwortet die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag: „Auch wenn die Begriffe »hybride Kriegführung«, »hybride Konflikte« und »hybride Bedrohungen« seit mehreren Jahren Teil des sicherheitspolitischen Diskurses sind, entziehen sich diese Begriffe einfachen und abschließenden Definitionen.“ (Deutscher Bundestag 2016) Diese »semantische Ratlosigkeit« mag im allgemeinen Diskurs, bei dem die Teilnehmer*innen schon wissen werden, was gemeint ist, hinnehmbar sein. Diese Ambiguität, die im Übrigen auch bei dem Begriff der Resilienz zutage tritt, muss vor dem Hintergrund sehr realer sicherheitspolitischer Maßnahmen, die derzeit diskutiert werden, jedoch kritisch betrachtet werden.

Literatur

Alamir, F.M. (2015): »Hybride Kriegführung« – ein möglicher Trigger für Vernetzungsfortschritte? Ethik und Militär – Kontroversen der Militärethik & Sicherheitskultur 2/2015, S. 3-7.

Buzan, B.; Waever, O.; de Wilde, J. (1998): Secur­ity – A new framework for analysis. Boulder, London: Lynne Rienner.

Deutsche Bundesregierung (2016): Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Bonn, Berlin: BMVg.

Deutscher Bundestag (2016): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Einsatzmöglichkeiten von Militär und Geheimdiensten gegen sogenannte hybride Bedrohungen. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8631 vom 1.6.2016.

Europäische Kommission (2016): Gemeinsamer Rahmen für die Abwehr Hybrider Bedrohungen. Europäische Kommission, Drucksache Join(2016) 18 vom 6.4.2016.

Hoffman, F. G. (2007): Conflict in the 21st century – The rise of hybrid wars. Arlington: Potomac Institute for Policy Studies.

Köpke, W. (2015): Heeresentwicklung – Ganzheitlich, systembasiert und zukunftsorientiert. Europäische Sicherheit und Technik 4/2015, S. 26-30.

Müllner, K. (2015): Luftwaffe – auf klarem Kurs. Europäische Sicherheit und Technik 6/2015, S. 32-36.

Ina Kraft ist Wissenschaftlerin am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autorin wieder.

Bei diesem Text handelt sich um eine gekürzte und leicht bearbeitete Fassung des folgenden Beitrags: Kraft, Ina (2018): Hybrider Krieg – Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Vol. 11, Nr. 3, S. 305-23.