Defensive Verteidigung

Defensive Verteidigung

Orientierungshilfen aus den 1980ern

von Lukas Mengelkamp

Ideen und Konzepte über defensive Verteidigung aus den 1980er Jahren könnten heute Orientierung bieten, wie insbesondere die territoriale Integrität der ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten zu garantieren ist, ohne dabei das bestehende Sicherheitsdilemma mit Russland noch weiter zu verschärfen, die Rolle von Nuklearwaffen aufzuwerten und das Wettrüsten auf Dauer zu stellen. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über den Entstehungskontext, die Genese und Aktualität dieser militärischen Konzepte.

Als in den 1980ern der Streit um die »Nachrüstung« tobte, wurde den Gegner*innen der Stationierung von US-amerikanischen Pershing-II Mittelstreckenraketen und landgestützten Marschflugkörpern häufig vorgehalten, ihre Alternativvorschläge seien illusionär, naiv und utopisch. Unilaterale Abrüstung oder »soziale Verteidigung«, das heißt gewaltfreier Widerstand, würden die Abschreckung untergraben und Westeuropa der Sowjetunion ausliefern. Dem wurde aus den Friedensbewegungen entgegengehalten, dass die Rüstung der NATO ebenso wenig in der Lage sei, den Konflikt mit der Sowjetunion langfristig einzuhegen oder gar zu lösen. Die heutige Debatte scheint entlang ähnlicher Gegensätze zu verlaufen: Aufrüstung gegen Abrüstung. Betrachtet man die Debatten der 1980er Jahre über Alternativen zur NATO-Strategie jedoch genauer, fällt auf, dass diese weitaus differenzierter waren als in Rückblicken häufig dargestellt. So standen sich nicht schlicht »Aufrüster*innen« und »Abrüster*innen« gegenüber. Das Feld der Unterstützer*innen des NATO-Doppelbeschlusses war vielmehr aufgeteilt in jene, die darin tatsächlich eine Erweiterung der Fähigkeiten zur nuklearen Kriegsführung sahen, und jene, deren Anliegen die Sicherung der Abschreckung in Europa war. Auf Seiten der Kritiker*innen des Doppelbeschlusses befanden sich neben Befürworter*innen von allgemeiner Abrüstung auch prinzipielle Unterstützer*innen der Abschreckung, die jedoch die Nachrüstung für unnötig oder gar gefährlich hielten. Hinzu kamen Friedensforscher*innen und Militäranalyst*innen, die sich für militärisch defensive konventionelle Alternativen stark machten.1

Die NATO-Strategie der »Flexible Response«

Im Jahr 1967 löste innerhalb der NATO die Strategie der »Flexible Response« (Flexible Antwort) die noch aus den 1950er Jahren stammende »Massive Retaliation«-Doktrin (Massive Vergeltung) ab, die auch auf rein konventionelle Angriffe des Warschauer Paktes mit einem massiven nuklearen Angriff auf die Sowjetunion geantwortet hätte. Da der Warschauer Pakt in Europa zumindest zahlenmäßig auf der konventionellen Ebene überlegen war und die Sowjetunion im Laufe der 1960er Jahre die Fähigkeit erworben hatte, auch das US-amerikanische Festland mit Interkontinentalraketen anzugreifen, schien die Androhung eines allgemeinen Nuklearschlages im Falle eines Krieges in Europa nicht mehr glaubwürdig. Für die NATO ergab sich daraus ein Dilemma: Während die europäischen NATO-Mitglieder sicherstellen wollten, dass jeder Krieg auf die strategische nukleare Ebene eskalieren würde, so dass keine Partei jemals ein Interesse daran entwickeln könnte, schien es aus US-amerikanischer Sicht geboten, einen Krieg nach Möglichkeit auf Europa zu begrenzen. Dies erforderte zum einen die Stärkung des konventionellen Elements der NATO-Verteidigung und zum anderen flexiblere und auf Europa »begrenzte« nukleare Optionen, wobei hier die Bandbreite von reiner Demonstration des Willens zum Einsatz von Nuklearwaffen bis hin zur vollständigen Integration »taktischer« Nuklearwaffen in die reguläre Kriegsführung reichte. Aus europäischer Sicht war die Unterscheidung zwischen dem globalen und »begrenzten« Nuklearkrieg jedoch Makulatur, würden beide doch zur vollständigen Zerstörung Europas führen.

Die Strategie der Flexible Response war ein politisch-militärischer Kompromiss, welcher diesen amerikanisch-europäischen Gegensatz überbrücken sollte. Die Strategie war offen genug formuliert, so dass beide Seiten ihre jeweiligen Präferenzen in sie hineininterpretieren konnten. Während dieser Kompromiss auf der politischen Ebene bis in die 1980er Jahre relativ gut funktionierte, ergaben sich auf der militärischen Ebene große Probleme bei der Umsetzung, die letztlich auch wieder auf die politische Ebene durchschlagen sollten. Die konkrete Umsetzung der Flexible Response musste allein aufgrund ihres Kompromisscharakters schwerfallen, denn was auf politischer Ebene Spielraum für die unterschiedlichen Interessen beiderseits des Atlantiks erkaufte, erschwerte Planungs- und Anschaffungsprozesse auf militärischer Ebene. So konnte sich die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der NATO erst im Oktober 1986 – nach fast 20 Jahren Beratungen – auf Richtlinien für die Planung des Nuklearwaffeneinsatzes im Rahmen der Flexible Response einigen. Bereits Anfang der 1970er Jahre hatte innerhalb der NATO eine Diskussion da­rüber begonnen, ob die Flexible Response eine Modernisierung der so genannten »Theater Nuclear Forces« (TNF), der nuklearen Gefechtsfeldwaffen, erforderlich machen würde. Ein Großteil der ca. 7.000 in Westeuropa stationierten taktischen Nuklearwaffen stammte noch aus den 1950er Jahren und damit aus der Ära der Massiven Vergeltung. Darunter fand sich eine Vielzahl an nuklearer Munition für Artillerie und Kurzstreckenraketen. In der Debatte über die Modernisierung der TNF bildete sich eine widersprüchliche transatlantische Koalition aus Experten*innen heraus, die für die Einführung moderner Mittelstreckenwaffen warben, insbesondere die damals noch in Entwicklung befindlichen Marschflugkörper. Während in der Argumentation von US-Experten wie Albert Wohlstetter Überlegungen über die Begrenzbarkeit und Führbarkeit eines Nuklearkrieges Pate standen, ging es aus westeuropäischer und deutscher Sicht insbesondere darum, jene Waffen zu ersetzen, die aufgrund ihrer kurzen Reichweite nur Ziele auf dem Territorium der Bundesrepublik, der DDR oder der Tschechoslowakei angreifen konnten. Zudem war damit auch die Hoffnung verbunden, dass Mittelstreckenwaffen Europa an das strategische Arsenal der USA »koppeln« würden. Mit ihrer Hilfe konnte man von Europa aus die Sowjetunion bedrohen. Damit war auch automatisch die interkontinentale Dimension der Abschreckung berührt. Mit der Aufstellung der SS-20 Mittelstreckenraketen in der Sowjetunion ab Ende der 1970er Jahre intensivierte sich die Debatte über die TNF-Modernisierung schließlich massiv und kam mit dem NATO-Doppelbeschluss 1979 auch in der breiteren Öffentlichkeit an. Die Widersprüchlichkeit der nuklearen Abschreckung im Allgemeinen und der Flexible Response im Besonderen rückte so ins Scheinwerferlicht. Die Vielzahl an unterschiedlichen politischen Deutungsangeboten zur Flexible Response geriet jetzt von einem politischen Vor- zu einem Nachteil. Zum ersten Mal verlangten Bürger*innen millionenfach Auskunft darüber, wann und wie die NATO denn gedenke, die Nuklearwaffen einzusetzen – also genau den Punkt, über den man sich bis dahin selbst innerhalb der NATO gerade nicht einig war. Angesichts der massiven Kritik an der nuklearen Komponente der geltenden Strategie wuchs allenthalben das Interesse an konventionellen Alternativen.

Die Suche nach konventionellen Alternativen

In historischen Rückblicken auf die 1980er Jahre wird das Thema konventioneller Alternativen häufig auf die »AirLand Battle«-Doktrin der US Army und das NATO-Konzept des »Deep Strike« (Tiefer Schlag) reduziert. Die AirLand Battle-Doktrin war Ausdruck der »Wiederentdeckung« der operativen Ebene in der US Army im Laufe der 1970er Jahre. Erstmals fanden hier NATO-Streitkräftestruktur und -Doktrin zueinander: Die großen und schweren Panzerverbände sollten nicht nur wie bisher im Rahmen der Vorneverteidigung eine grenznahe Linie so lang wie möglich gegen die Streitkräfte des Warschauer Paktes halten, sondern Bewegungskrieg führen. Vorgesehen waren Gegenstöße bis auf das Territorium der DDR und der Tschechoslowakei, um die zahlenmäßig überlegenen gegnerischen Streitkräfte an ihren verletzlichen Flanken und im rückwärtigen Raum bedrohen zu können. Während die erste Welle des Warschauer Paktes so besiegt werden sollte, würden tiefe präzise Schläge mit konventioneller Langstreckenmunition auf die Verkehrsadern in Ostmitteleuropa es der zweiten Welle unmöglich machen, rechtzeitig das Schlachtfeld zu erreichen. Doch die angedachte Konventionalisierung der Verteidigung, die die in der Bevölkerung unbeliebte nukleare Komponente zurückdrängen sollte, stieß auf bereits bekannte Probleme und Widerstände. Gleich stand wieder die Kritik im Raum, die Strategie würde einen Krieg in Europa nicht abschrecken, sondern vielmehr wahrscheinlicher machen, da er wieder als führbar gelten könne. Der angedachte Bewegungskrieg würde die NATO-Mitglieder dazu nötigen, ihre konventionellen Streitkräfte massiv auszubauen. Vielen Beobachter*innen erschien dies aus politischen, wirtschaftlichen und auch demographischen Gründen kaum durchführbar. Nicht zuletzt wurde dem Konzept vorgehalten, dass auch begrenzte Vorstöße auf das Territorium des Warschauer Paktes in Moskau als Beginn einer großangelegten strategischen Gegenoffensive wahrgenommen werden und damit der Einsatz von Nuklearwaffen ausgelöst werden könnte. Darüber hinaus schien es fraglich, ob konventionelle Waffen tatsächlich in der Lage sein würden, die Verkehrsadern in ganz Ostmitteleuropa lahm zu legen. So lange nicht massive Vorräte an präzisen Bomben, Raketen und Marsch­flugkörpern angelegt würden – mit entsprechenden Kosten – würde man zur Blockierung der zweiten Welle im Zweifel doch wieder auf nukleare Mittelstreckensysteme angewiesen sein (Unterseher 1987).

Den Konzepten von AirLand Battle und Deep Strike, die man auch als offensive Varianten der Konventionalisierung bezeichnen könnte, setzten einige Kritiker*innen defensive Alternativen entgegen. Bereits 1970 hatte Carl Friedrich von Weizsäcker die Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« veröffentlicht, die erstmals die katastrophalen Folgen auch eines »begrenzten« Einsatzes von Nuklearwaffen in Europa wissenschaftlich aufarbeitete (Weizsäcker 1971). In Reaktion darauf begann Horst Afheldt, ein Mitarbeiter Weizsäckers am »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, rein konventionelle und defensive Verteidigungsmodelle zu entwickeln (Afheldt 1976).

Diese zielten darauf ab einerseits die sowjetischen Panzerverbände aufzuhalten und gleichzeitig keine lukrativen Ziele für taktische Nuklearwaffen zu bieten. Konkret schlug Afheldt dazu den Aufbau eines Netzwerks aus »Technokommandos« vor, kleinen Infanterieeinheiten, die mit modernen Panzerabwehrwaffen ausgestattet, aus vorbereiteten versteckten Stellungen sowjetische Verbände angreifen sollten. Außerdem sollten diese Infanterieeinheiten zusätzlich durch Artillerie unterstützt werden. In den 1980er Jahren nahm die »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« (SAS), die maßgeblich vom Soziologen Lutz Unterseher geleitet und inhaltlich geprägt wurde, die Netzwerkidee auf. Sie reagierte aber auch auf die bestehende Kritik an Afheldts Konzept, dem man vorhielt, »monokulturell« und durch den kombinierten Einsatz von Infanterie, Panzern und Luftstreitkräften überwindbar zu sein. In Untersehers Vorstellung sollte das »Netz« aus Infanterie und Artillerie durch vergleichsweise kleine mobile gepanzerte Kräfte ergänzt werden. Sie sollten an den Orten unterstützend eingreifen, wo das Netz allein einen Angreifer nicht hätte aufhalten können. Entscheidend war jedoch, dass die mobilen Kräfte über keinen großen eigenen logistischen Apparat verfügen würden und stattdessen zur Versorgung auf das Netz angewiesen blieben. Die mobilen Kräfte sollten wie eine „Spinne in ihrem Netz“ agieren können, außerhalb davon aber nicht in der Lage sein zu manövrieren (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989, S. 153ff.). Insgesamt würde das Konzept, so die Hoffnung, ein unilaterales »Ausklinken« aus dem Wettrüsten ermöglichen, ohne dabei Abstriche an der eigenen Sicherheit machen zu müssen. Unterseher führte dazu den Begriff »Vertrauensbildende Verteidigung« ein: Einerseits Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Verteidigung ohne Nuklearwaffen, da diese zerstören würden, was man hoffte zu verteidigen. Andererseits die Herstellung von Zuversicht auf der Gegenseite, dass keine Absicht bestand, selbst offensive Operationen durchzuführen, da man dazu auch kaum in der Lage war (Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik 1989).

»Differenzierende Abschreckung« oder defensive Verteidigung?

Das Dilemma der Flexible Response, ein politischer Kompromiss zu sein, der sich militärisch nicht umsetzen ließ, führte bereits unter Zeitgenossen dazu, sie als Mythos zu bezeichnen. Da dies im allgemeinen politischen Bewusstsein in Westeuropa und insbesondere in der Bundesrepublik immer offensichtlicher wurde, begann sich Interesse an defensiven Alternativen bis in die Bundesregierung und Bundeswehr zu bilden.

Die Unterzeichnung des INF-Vertrages 1987 ließ die westeuropäischen Regierungen zum Teil ratlos und verärgert zurück: Die »Nachrüstung«, für die sie jahrelang gegen massiven Widerstand in den eigenen Bevölkerungen gekämpft hatten, wurde rückgängig gemacht, ohne dass das konventionelle Ungleichgewicht in Europa adressiert worden wäre. Gleichzeitig ließ die Debatte in den USA über die Militärstrategie der Zukunft auch in etablierten sicherheitspolitischen Kreisen immer stärkere Zweifel an der Flexible Response aufkommen. Im Januar 1988 wurde ein von der US-Regierung in Auftrag gegebener Expert*innenbericht veröffentlicht, der unter dem Titel »Discriminate Deterrence« (Differenzierende Abschreckung) für eine Konventionalisierung der NATO-Strategie eintrat (Iklé und Wohlstetter 1988). Die Nuklearwaffen in Westeuropa sollten weitestgehend abgezogen werden, die verbleibenden modernisiert und wie »normale« Waffen in die Verteidigungsplanung integriert werden. Der Bericht rief in ganz Westeuropa und über das gesamte politische Spektrum hinweg Ablehnung und sogar Empörung hervor. Argumente, die vor kurzem eher aus den Friedensbewegungen zu hören gewesen waren, wurden nun auch von Befürworter*innen der »Nachrüstung« aufgegriffen. Der Verteidigungsexperte der FAZ, Karl Feldmeyer, interpretierte den Bericht als eine Absage an die Flexible Response. An die Stelle der Abschreckungs- würde eine Kriegsführungsstrategie treten. Der erzkonservative Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, geißelte den Bericht bei einem Besuch in Washington als Versuch, einen Krieg auf Europa zu begrenzen und die USA von Westeuropa sicherheitspolitisch abzukoppeln. Gleicher Ansicht waren auch Verteidigungsminister Manfred Wörner und sein Staatssekretär Lothar Rühl, die beide öffentlich Stellung gegen den Bericht bezogen (vgl. zu den Stellungnahmen: Armes 1988, S. 252ff.). Auch wenn sich die neue US-Regierung unter George H. W. Bush angesichts der massiven Kritik aus Westeuropa von dem Bericht distanzierte, legte die Kontroverse doch offen, wie wenig die Strategie der Flexible Response noch in der Lage war, die unterschiedlichen Interessen, Verteidigungskonzeptionen und Wahrnehmungen der internationalen Lage im Bündnis zu integrieren.

Der Rezeptionsprozess der defensiven Alternativen begann sich nun auch in der Sache auf beiden Seiten des Atlantiks zu intensivieren. Die Weißbücher des Verteidigungsministeriums von 1983 und 1985 wie auch der Verteidigungsausschuss des Bundestags hatten diese lediglich zur Kenntnis genommen und auch dies war wohl eher dem öffentlichen Druck als genuinem Interesse geschuldet. Am Ende des Jahrzehnts setzte sich in der Bundesrepublik mit General a.D. Gerd Schmückle aber ein Schwergewicht des sicherheitspolitischen Establishments öffentlich für defensive Alternativen ein. Zusammen mit Albrecht von Müller, einem Mitarbeiter Horst Afheldts, legte Schmückle im Mai 1988 der Bundesregierung ein Abrüstungsprogramm vor, das die defensive Restrukturierung der Streitkräfte in Ost und West forderte. Im Januar 1989 veranstaltete das der US-amerikanischen Friedensbewegung nahestehende »Institute for Defense and Disarmament Studies« (IDDS) zusammen mit der Pentagon-nahen RAND Corporation einen Workshop zur defensiven Neustrukturierung der NATO-Verteidigung in Europa, auf dem Lutz Unterseher die Ideen der »Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik« vorstellte. Mit RAND war die Debatte über defensive Alternativen nun selbst im intellektuellen Geburtsort der Nuklearstrategie angekommen. Durch den Mauerfall 1989 und den anschließenden Zerfall der Sowjetunion entfiel jedoch das nukleare Dilemma der NATO. Dadurch endete auch die breite Debatte über verteidigungspolitische Alternativen, die in den frühen 1980er Jahren maßgeblich unter dem Druck der Friedensbewegungen begonnen hatte.

Defensive Verteidigung – ein Modell mit Zukunft?

Die heutige Debatte über die zukünftige Verteidigungspolitik in der Bundesrepublik erscheint oft als prinzipieller Gegensatz zwischen jenen, die für das Sondervermögen und eine dauerhafte Erhöhung des Wehretats eintreten, und jenen, die darin lediglich eine Verschwendung von Kapital sehen, welches besser für die Bekämpfung des Klimawandels und den Erhalt des Sozialstaats eingesetzt werden sollte (siehe bspw. »Der Appell« von 2022). Relativ selten wird allerdings die Frage nach dem »wie« der Verteidigung gestellt und wenn, bleibt es häufig bei einer im Allgemeinen verharrenden Gegenüberstellung von Abschreckung und Diplomatie. So heißt es bspw. in dem Aufruf »Der Appell« vom März 2022: „Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfflugzeugen und bewaffnungsfähigen Drohnen als Abschreckung unter atomaren Militärblöcken ist sinnlos.“ (Dieren u.a. 2022) Vor dem Hintergrund der dargestellten Debatten über die Nuklearstrategie der NATO im Ost-West-Konflikt könnte man diesen Satz durchaus als ein Eintreten für eine Strategie der Massiven Vergeltung lesen. Mindestens aber scheint hier ein dichotomes Denken auf, das nur die Alternativen von nuklearer Abschreckung, mit ihren bekannten Paradoxien und Gefahren, und allgemeiner Abrüstung kennt. Umgekehrt haben Befürworter*innen des Sondervermögens und eines langfristig gesteigerten Verteidigungshaushalts bisher selbst keine konkreten Konzepte vorgelegt, wie sie sich die zukünftige Verteidigung etwa des Baltikums vorstellen.

Die zukünftige Verteidigung muss zwei Anforderungen gerecht werden: Sie muss Krisenstabilität gewährleisten, also nicht zur (unbeabsichtigten) Eskalation beitragen und gleichzeitig glaubwürdig in der Lage sein, einen gezielten Angriff, vergleichbar dem auf die Ukraine, abwehren zu können. Für die erste Anforderung stellt sich jedoch unter anderem im Baltikum ein Dilemma: Der begrenzte Raum, die geografische Lage und die Siedlungsdichte schließen eine Rückkehr zu überkommenen, panzerlastigen Konzepten konventioneller Verteidigung aus. Diese würden zu hohen Truppenkonzentrationen auf engem Raum führen, die sich als Ziele für taktische Nuklearwaffen geradezu anbieten. Schweren Verbänden bliebe, um den Raum zu gewinnen, der nötig ist, um ihre militärischen Stärken auszuspielen, nur der Ausbruch in Richtung Belarus und Russland selbst. Auch muss dahingestellt bleiben, ob »tiefe Schläge« im Sinne von »Deep Strike«-Konzepten, selbst wenn sie nur konventionell durchgeführt würden, nicht auch Kommando- und Kontroll-Einrichtungen der russländischen Nuklearstreitkräfte beeinträchtigen würden. Eine Eskalation auf die nukleare Ebene wäre nicht auszuschließen. Im Falle einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland würde damit auf beiden Seiten massiver Druck herrschen, als erster anzugreifen (Präemption), um einem tatsächlichen oder nur vermuteten Angriff des Gegners zuvorzukommen.

Defensive Verteidigungskonzepte nach dem Prinzip der »Spinne im Netz« könnten hier einen Ausweg weisen. Durch die Netzstruktur würden lohnende Ziele für Nuklearwaffen vermieden werden. Mobile gepanzerte Elemente könnten auf Größen begrenzt bleiben, die den geographischen Bedingungen im Baltikum Rechnung tragen. Ebenso würde die Notwendigkeit für präemptive tiefe Schläge ins Hinterland entfallen. Die Anforderung der Krisenstabilität würde also erfüllt werden. Gleichzeitig aber bliebe die zweite zentrale Anforderung durch eine Spezialisierung auf defensive Kräfte erfüllt: Die erfolgreiche Abwehr eines gezielten Angriffs. Unter diesen Bedingungen könnte ein solches Konzept dann langfristig auch Rüstungskontrolle ermöglichen.

Anmerkung

1) Ebenso existente nicht-militärische Verteidigungskonzepte sollen mit diesem Beitrag nicht absichtlich übersehen werden. Der Schwerpunkt liegt mithin aufgrund der gebotenen Kürze des Beitrags auf der Erörterung militärischer Konzepte. Eine Darstellung der »Sozialen Verteidigung« u.a. Konzepte muss an anderer Stelle erfolgen.

Literatur

Afheldt, H. (1976): Verteidigung und Frieden – Politik mit militärischen Mitteln. München: Hanser.

Armes, K. (1988): Discriminate deterrence: Western European comment. The Atlantic Community Quarterly, 26(3), S. 247-269.

Dieren, J. u.a. (2022): Der Appell – HET BONHE – Nein zum Krieg! – Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz! Veröffentlicht als Homepage, März 2022.

Iklé, F.; Wohlstetter, A. (1988): Discriminate deterrence. Report of the commission on integrated long-term strategy. Washington, DC.: Department of Defense.

Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (Hrsg.) (1989): Vertrauensbildende Verteidigung – Reform deutscher Sicherheitspolitik. Gerlingen: Bleicher Verlag.

Unterseher, L. (1987): Bewegung, Bewegung! Zur Kritik eingefahrener Vorstellungen vom Krieg. Sicherheit und Frieden 5(2), S. 90-97.

Weizsäcker, C. F. v. (Hrsg.) (1971): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung. München: Hanser.

Lukas Mengelkamp, M.A., wohnhaft in Darmstadt, ist Historiker und promoviert an der Universität Marburg über die Geschichte der Kritik nuklearer Abschreckung in den 1970er und 1980er Jahren.

Bilanz eines Desasters

Bilanz eines Desasters

Zum Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan

von Matin Baraki

Trotz 20 Jahren Krieg ist es den USA und ihren NATO-Verbündeten nicht gelungen, die Taliban zu besiegen. Die USA mussten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren. Damit ist auch die Greater Middle East-Strategie der Neokonservativen an den Bergen des Hindukusch sprichwörtlich zerschellt. Der Autor zieht Bilanz und wirft einen vorsichtigen Blick auf das, was kommt.

Trotz 20 Jahren Krieg ist es den USA und ihren NATO-Verbündeten nicht gelungen, selbst unter Einsatz von bis zu 150.000 Soldat­*innen, die Taliban zu besiegen. Die USA mussten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren. Damit ist auch die Greater Middle East-Strategie der Neokonservativen an den Bergen des Hindukusch sprichwörtlich zerschellt. Erst unter dieser Einsicht haben die USA jahrelang geheim und zwei Jahre offiziös mit den Taliban in Doha, Katar, verhandelt und im ­Februar 2020 ein Abkommen unterzeichnet. Darin verpflichteten sich die USA, ihre Soldat*innen bis Ende April 2021 aus Afghanistan abzuziehen. Damit zogen die Taliban die USA buchstäblich diplomatisch über den Tisch und deren Kapitulation wurde vertraglich besiegelt. Als Trost haben die Taliban
„in einem geheimen Anhang des US-Taliban-Abkommens vom Februar 2020 [zugesagt], die ausländischen Militärbasen vor Angriffen anderer militanter Gruppen schützen“1 zu wollen, wozu sie kaum in der Lage sind. Dennoch wollte der Verhandlungsführer der Taliban, Sher Mohammad Abbas Stanikzai, im Januar 2021den Eindruck erwecken, „einer ausländischen Invasorentruppe freies Geleit“2 zu gewähren.

Abgang einer Großmacht

Der neue US-Präsident Joe Biden hatte zunächst den vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump festgelegten Rückzug bis Ende April 2021 in Frage gestellt und kurz nach seiner Amtsübernahme eine Prüfung des Abkommens angeordnet.

Die Taliban bestanden aber darauf, dass die USA sich an das Abkommen vom Februar 2020 zu halten haben. Der Sprecher der Islamisten meldete per Twitter, wenn sich die Biden-Administration nicht an das geschlossene Abkommen hielte, würden „die Probleme dadurch gewiss verstärkt, und diejenigen, die sich nicht an das Abkommen gehalten haben, werden dafür zur Verantwortung gezogen“.3 Wie jedes Jahr haben die Taliban ihre Frühjahrsoffensive angekündigt, um damit in diesem Jahr die USA und die NATO zum Rückzug zu zwingen. Das wäre eine faktische Vertreibung der Weltmacht vom Hindukusch, und ein geordneter Rückzug der US- und NATO-Einheiten aus Afghanistan wäre kaum noch möglich. Es drohe, mehr nach Flucht auszusehen“4, sagte die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Genau dieses Szenario wollen die USA auf jeden Fall vermeiden. Ein zweites Saigon darf es nicht geben.

US-Präsident Biden musste nolens volens einsehen, dass die USA in Afgha­nistan keine Perspektive mehr haben und gab am 13. April 2021 den Rückzug seiner Soldat*innen für September 2021 bekannt, wie die Washington Post meldete. Bis zum 11. September müssen alle US-Einheiten bedingungslos5 und ohne eine Gegenleistung seitens der Taliban vom Hindukusch abgezogen sein. „Es ist an der Zeit, den längsten Krieg Amerikas zu beenden. Es ist Zeit, dass die amerikanischen Soldaten nach Hause kommen“6, hob Präsident Biden hervor. Er wies darauf hin, dass er der vierte Präsident sei, in dessen Amtszeit die US-Einheiten in Afghanistan Krieg führen. „Ich werde diese Verantwortung nicht an einen fünften übergeben.“7 Es sei kaum möglich, betonte Biden, den Kriegseinsatz in die Länge zu ziehen, „in der Hoffnung, dass irgendwann die Umstände für einen idealen Rückzug vorliegen.8 Dafür werde es niemals ideale Bedingungen geben. So kann auch ein Verlierer seine Niederlage tröstlich artikulieren. „Die Niederlage des Westens ist so umfassend, dass sich die Taliban nicht einmal zum Schein an Friedensgesprächen beteiligen müssen. Die ausländischen Streitkräfte ziehen nun nahezu Hals über Kopf ab.9 Eine Abschiedszeremonie für die 10.000 NATO- und davon 1.100 Bundeswehrsoldat*innen war nicht vorgesehen.10 Ab dem 1. Mai 2021 begann offiziell der Rückzug der NATO-Einheiten aus Afghanistan. Was passiert mit den ausländischen Söldner*innen, die im Auftrage des US-Geheimdienstes CIA und anderer Geheimdienste der NATO-Länder in Afghanistan im Einsatz sind? Assadullah Walwalgi, ein Experte für Militärfragen in Kabul, ging 2010 von rund 40.000 Söldner*innen aus, die bei etwa 50 verschiedenen, überwiegend US-Militärfirmen unter Vertrag standen,11 die die „Drecksarbeiten erledigen“.12 Von deren Ab- und Rückzug ist bis jetzt keine Rede.

Abzug des deutschen Bündnispartners

Auch für deutsche Truppen ist der Einsatz zu Ende: „Wir dürfen auch nicht vergessen: es war nicht zuletzt Deutschland, das 2002 die NATO gedrängt hat, Afghanistan zu einer NATO-Operation zu machen. Das ist die Regierung Schröder/Fischer gewesen“13, erklärte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann. Das militärische »Engagement« Deutschlands am Hindukusch war der Türöffner für künftige weltweite Operationen der Bundeswehr. Die Bundesrepublik Deutschland hatte in ihrem 20 Jahre andauernden militärischen »Engagement« am Hindukusch insgesamt 160.000, zuletzt 1.100 Soldaten im Kampfeinsatz. Das haben 59 Soldat*innen mit ihrem Leben bezahlt.14 Dieser Bundeswehreinsatz hat seit 2001 mehr als 12 Mrd. € gekostet.

Trotz der finanziellen und menschlichen Verluste ist der jetzige Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) der Ansicht: „Es ist nicht umsonst gewesen“15 und kündigte ein weiteres politisches und finanzielles Engagement Deutschlands am Hindukusch an. „Der Friedensprozess braucht einen neuen diplomatischen Push“16, meinte Maas. Für das laufende Jahr hat die BRD 430 Mio. € „und für die Jahre bis 2024 die gleiche Summe in Aussicht gestellt.“17 Aber die Auszahlung wird davon abhängig gemacht, wie sich der »Friedensprozess« zwischen den Vertreter*innen der Kabuler Administration und der Taliban entwickeln werde. Ob die Bundesregierung auch mit einer Taliban-Regierung zusammenarbeiten würde, wird nicht eindeutig erklärt.

Geopolitische Verschiebungen

Mittlerweile ist ersichtlich, dass es der US-Imperialmacht in Afghanistan von Anfang an weder um Frauen- noch um Menschenrechte, geschweige denn um Afghanistan an sich gegangen, sondern es steht zu vermuten, dass es ihr nur um ihre strategischen Interessen in der Region, um die Umzingelung der Russischen Föderation und um einen Regimewechsel in Iran ging. Das Land am Hindukusch wurde von den USA für zwanzig Jahre zu ihrem »unsinkbaren Flugzeugträger« gemacht. Mittlerweile haben sich aber die Rahmenbedingungen geändert und damit die geopolitischen Prioritäten der US-Strategie. In absehbarer Zeit wird die VR China mit den USA ökonomisch, aber auch militärisch mindestens gleichziehen können. Ende 2017 wurde die VR China in der »Nationalen Sicherheitsstrategie« der USA als
„strategischer Rivale“ eingestuft.18 Die USA werden versuchen, die VR China militärisch zu umzingeln und den Aufstieg des Landes zu einer künftigen Weltmacht mindestens zu verzögern. Schon der ehemalige US-Präsident Barack Obama und dessen Vize Joe Biden hatten im November 2011 das Pazifische Jahrhundert unter Führung der Vereinigten Staaten ausgerufen. Diese Strategie ist eindeutig gegen die VR China gerichtet. Für die Realisierung dieser Option haben die USA bereits regionale Militärbündnisse mit Japan, Südkorea, Australien, Philippinen, Thailand, Singapur, Vietnam, Malaysia, Indonesien und der Atommacht Indien geschmiedet. Der regionale Konflikt um das Südchinesische Meer, von dem die VR China 80 % für sich beansprucht und sogar schon einzelne Inseln besetzt hat, wobei sie sich auf bis zweitausend Jahre zurückreichende historische Argumente beruft, könnte von den USA als Hebel für einen größeren Konflikt mit China instrumentalisiert werden. Afgha­nistan ist vorläufig abgeschrieben. Die USA wollen ihre Kräfte auf die künftig wichtige geostrategische Region konzentrieren und das ist die Region des pazifischen Ozeans.

Bilanz eines Desasters

Zwanzig Jahre US- und NATO-Krieg haben in Afghanistan Verheerungen angerichtet. „Die hehren Ansprüche von einst, die Stabilisierung und Demokratisierung des Landes, sind vergessen. Und die Bilanz ist eine Schmach für die Supermacht, die gewiss nachwirken wird: Mehr als 2.000 Amerikaner haben am Hindukusch ihr Leben verloren. Hinzu kommen mindestens 100.000 tote afghanische Zivilisten.“19 Nach Zählungen der afgha­nischen und der US-Regierung sowie der UNO sollen seit 2001 ca. 160.000 Menschen ums Leben gekommen sein.20 Darüber hinaus wurden „66.000 afghanische Sicherheitskräfte, viertausend internationale Soldaten und 80.000 Islamisten“21 getötet. Hinzu kommt noch, dass durch die Zusammenarbeit und direkte Unterstützung der Warlords durch die NATO-Länder, Korruption, Vetternwirtschaft, ethnische Fragmentierung, Drogenanbau und -handel sowie Machtdemonstrationen bis hin zu Entführungen an der Tagesordnung waren.

Der gesamte Staatsapparat, von der Judikative über die Exekutive bis hin zur Legislative, sowie die Sicherheitsorgane sind von Korruption durchdrungen. Natürlich konnten Mädchen in den letzten Jahren die Schule besuchen, aber die Absolventinnen finden kaum eine Arbeit. Die Elite hat längst ihre Dollars auf Banken in Dubai transferiert und sitzt nun auf gepackten Koffern. Wer kann, verlässt das Land. Schon 2020 haben „mehr als dreihundert Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben oder ganz das Land verlassen.22

Es bleibt das traurige Ergebnis: „Das Risiko ist groß, dass die Taliban nach dem Abzug der USA wieder die Macht in Af­ghanistan an sich reißen wollen. Die USA tragen eine große Verantwortung für diese Entwicklung. Die Invasion vor 20 Jahren basierte auf falschen Erwartungen. Ein stabiles und demokratisches Afghanistan bleibt vermutlich eine Utopie“23, wie die schwedische Zeitung Skånska Dagbladet konstatierte.

Was wird aus Afghanistan?

Anfang 2021 warnten vom US-Kongress eingesetzte Expert*innen der Afghanistan Study Group, dass ein unüberlegter Abzug zum ‚Kollaps‘ in Afghanistan führen“24 würde. Eine solche „Perspektive ist ein Desaster für die USA und ihre Verbündeten in Berlin, London und Paris.“25 Das Rückzugsdatum der US- und NATO-Einheiten steht nun fest. Wozu sollten die Taliban überhaupt noch mit der Kabuler Seite verhandeln? Sie „müssen nur ein paar Monate warten, ehe sie zum Sturm auf Kabul blasen“.26 Das ist ein faktischer Beleg für „das Scheiterns des Westens in diesem Krieg“27 am Hindukusch.

Doch was sind die Optionen für Af­ghanistan nach dem Abzug der Truppen? Vermutlich bieten sich folgende Szenarien an:

  • Alleinherrschaft: Unmittelbar nach dem Rückzug der NATO-Einheiten könnte die politische und militärische Elite Afghanistans die Flucht ergreifen, lieber ein ruhiges und schönes Leben im Exil bevorzugen, als sich auf einen erneuten Krieg mit den Taliban einzulassen; dann wären die Taliban die alleinigen Herrscher des Landes, wie schon ab 1996.
  • Transformation: Würde es der US-­Administration gelingen, mit vielseitigen finanziellen und entwicklungspolitischen Angeboten die Taliban für eine Koalitionsregierung mit der Kabuler Administration zu gewinnen, könnte eine für ­afghanische Verhältnisse relativ reibungslose Transformation stattfinden.
  • Bürgerkrieg: Gelingt dies nicht, würde es sehr wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg wie 1992 kommen, als Kabul weitgehend zerstört wurde und über 50.000 Menschen ums Leben kamen.

Angesichts der drohenden Umstände wäre meines Erachtens unbedingt der Einsatz einer UN-Blauhelmtruppe notwendig, bestehend aus den Blockfreien Staaten und der Organisation der Islamischen Staaten, die die NATO-Einheiten ablösen und ausnahmsweise mit einem robusten Mandat ausgestattet werden sollte, um für eine Übergangsphase bis zu einer Stabilisierung der innerafghanischen Verhältnisse dafür zu sorgen, dass die Gewalt nicht überhand nimmt.

Anmerkungen

1) Meier, C. (2021): Die NATO zieht ab, die Taliban greifen an. FAZ, 3.5.2021, S. 5.

2) Meier, C. (2021): Was wollen die Taliban?, in: FAZ, 30.4.2021, S. 3.

3) Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

4) Früherer Afghanistan-Abzug?, in: FAZ; 22.4.2021, S. 5.

5) Vgl. Gutschker, Th. (2021): Bedingungsloser Abzug, in: FAZ, 16.4.2021, S. 1.

6) Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

7) Brössler, D.l/Kolb, M. (2021): Wenn einer geht, gehen alle, in: SZ, 15.4.2021, S. 7.

8) Ebd.

9) Carstens, P. (2021): Eine Abschiedsfeier ist nicht geplant, in: FAZ, 24.4.2021, S. 8; Die USA hatten die Taliban für den 24. April 2021 zu einer Friedenskonferenz nach Istanbul eingeladen. Die Islamisten hatten daran kein Interesse und lehnten eine Beteiligung ab.

10) Vgl. Carstens (2021); Rückkehr im Juli statt September, in: SZ, 22.4.2021, S. 5.

11) Vgl. Gerner, M. (2010): Das Geschäft mit der Sicherheit, in: Der Tagesspiegel, 28.10.2010; Michelis, H. (2010): Afghanistan – Krieg der Söldner: in, Rheinische Post, 18.11.2010.:

12) Heilig, R. (2021): Von Lügen getragen, in: Neues Deutschland (ND), 17./18.4.2021, S. 4.

13) Naumann, K., Deutschlandfunk-Interview, 2.7.2009 (Typoskript).

14) Vgl. Brössler, D. (2021): „Es ist nicht umsonst gewesen“, in: SZ, 30.4.-2.5.2021, S. 10.

15) Ebd.

16) Maas sichert Afghanistan weitere Hilfe zu, in: FAZ, 30.4.2021, S. 1.

17) Brössler (2021)

18) US Department of Defense (2017): Summary of the 2018 National Defense Strategy of the United States of America: Sharpening the American Military’s Competitive Edge. S. 1.

19) Gutschker, Th., et al (2021): Augen zu und raus, in: FAZ, 15.4.2021, S. 3.

20) Vgl. Matern, T. (2021a): Die Truppen gehen, die Angst bleibt, in: SZ, 19.4.2021, S. 7.

21) Wiele, J.: Ein Trauerfall, in: FAZ, 17.4.2021, S. 11.

22) Ebd.

23) Skånska Dagbladet, Malmö, Schweden, 10.5.2021.

24) Brössler/Kolb (2021)

25) Matern, T. (2021b): Der Krieg bleibt, in: SZ, 15.4.2021, S. 4.

26) Frankenberger, K. (2021): Nach zwanzig Jahren, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

27) Matern, T. (2021c): Schadensbegrenzung, in: SZ, 30.3.2021, S. 4.

Dr. phil Matin Baraki ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung der ­Philipps-Universität Marburg.

Dieser Artikel ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen als: „L’Afghanistan deviendra-t-il le Vietnam version 2?“ In: Horizons et débats 14, 2021, S. 6-8.

Europas Hinterhof?


Europas Hinterhof?

»Ertüchtigung« und Militarisierung der Sahel-Region

von Christoph Marischka

Die EU betreibt die systematische Militarisierung der Sahel-Region. Bereits die ersten eigenständigen Schritte einer militärisch gestützten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ohne Rückgriff auf NATO-Strukturen erfolgten auf dem afrikanischen Kontinent – 2003 in der DR Kongo. Aktuell ist die EU mit diversen Missionen in der erweiterten Sahel-Region aktiv. Das sind die EU-Trainingsmissionen (EUTM) in Somalia und Mali, die Mission zum Kapazitätsaufbau (EUCAP) in Somalia, die EUCAP-SAHEL-Missionen ebenfalls in Mali und dem benachbarten Niger sowie eine Mission zur militärischen Beratung in der Zentralafrikanischen Republik. Eine weitere Mission zur Unterstützung der Grenzsicherung (EUBAM) in Libyen ist von Tunesien aus aktiv.

Die deutlich erkennbare Fokussierung der Europäischen Sicherheitspolitik auf den afrikanischen Kontinent lässt sich neben der relativen geografischen Nähe auch auf andere Gründe zurückführen. Zum einen sind hier die Einflussgebiete der international führenden Mächte nicht so klar abgesteckt und zugleich hart umkämpft, wie etwa im Mittleren Osten oder dem Kaukasus.

Zum anderen entsprechen viele postkoloniale afrikanische Staaten ziemlich exakt dem Szenario, welches die EU in ihrer 2003 verabschiedeten Sicherheitsstrategie unter dem Titel »Ein sicheres Europa in einer besseren Welt« als Rahmenbedingung für eigenständiges militärisches Handeln entworfen hat. Auch hier stehen nicht geopolitische Konkurrenten und die möglicherweise notwendige »Verteidigung« gegen einen etwa gleichwertigen militärischen Gegner im Mittelpunkt, sondern sogenannte »scheiternde Staatlichkeit«, unter der nicht nur die jeweils ansässige ­Bevölkerung zu leiden hätte, sondern die auch die Grundlage für verschiedene Bedrohungen wie Terrorismus, Kriminalität, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und – oft in einem Atemzug damit genannt – (illegale) Migration bildet, die hier ihren Ausgang nähmen und auch Europa beträfen.

Zuletzt zeigt auch die räumliche Verteilung europäischer Missionen auf dem Kontinent, dass dabei ein Fokus auf den ehemaligen französischen Kolonien liegt. Viele der frühen EU-Missionen wären nicht nur ohne die postkoloniale französische Militärpräsenz und Infrastruktur, sondern auch ohne die damit verbundenen diplomatischen Kontakte und entsprechenden außenpolitischen Wissensbestände kaum denkbar gewesen. Vergleichbare Strukturen bildeten sich in der Europäischen Verwaltung erst ab 1999 ansatzweise und weitgehend ad hoc und wurden erst ab 2010 mit der Einrichtung des »Europäischen Auswärtigen Dienstes« (EEAS) zunehmend systematisiert aufgebaut, z.B. durch Abteilungen mit regionalen Schwerpunkten.

Nachträglich könnte man durchaus mutmaßen, dass zumindest die frühen EU-Missionen auf dem afrikanischen Kontinent weniger den im jeweiligen Mandat festgelegten (humanitären) Zielen im Einsatzland dienten, sondern dem neuen außenpolitischen Akteur EU nicht nur eine gewisse Sichtbarkeit, sondern v.a. auch Erfahrungswerte liefern sollten.

Hinterhof-Politik

Die aktuelle Konzentration europäischer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die Sahel-Region allerdings erscheint weniger experimentell als viel mehr strategisch. Seit etwa 2005 formieren sich im entstehenden diplomatischen Apparat der EU Personengruppen und Strukturen, die in den Beziehungen zu den Staaten Mauretanien, Mali und Niger vonseiten der EU einen länderübergreifenden Ansatz propagieren. Problematisiert werden dabei von diesen Staaten ausgehende Bedrohungen wie Organisierte Kriminalität, Drogenhandel und zunehmend auch Terrorismus. Befördert wurde diese Tendenz durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex und andere EU-Programme, die »illegale Migration« weit jenseits der eigenen Außengrenzen in den Herkunfts- und Transitstaaten untersuchten, problematisierten und als »Ströme« konzipierten, die es bereits hier aufzuhalten gelte. In der Konsequenz wurde die Region politisch als »Hinterhof Europas« verstanden, vom damaligen deutschen Entwicklungsminister Dirk Niebel gar ganz Afrika als Europas »Vorgarten« bezeichnet. Ganz in diesem Sinne erfuhr die Region zeitgleich mit der sicherheitspolitischen Problematisierung auch eine wachsende Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer ökonomischen Potentiale. Beispielhaft dafür ist die 2009 v.a. mit deutschem Kapital gegründete Desertec Industrial Initiative (Dii) GmbH, welche die Versorgung europäischer Energiemärkte mit »Wüstenstrom« aus der Sahara propagierte und vorantrieb.

Kurz nachdem der EEAS Ende 2010 seine Arbeit aufgenommen hatte, veröffentlichte er im März 2011 mit der »Strategie für Sicherheit und Entwicklung im Sahel« seine erste Regionalstrategie überhaupt. Als Ziele werden benannt, das Potential dortiger Terrorgruppen, Anschläge in Europa zu verüben, zu verringern, „Drogenschmuggel und anderen kriminellen Handel nach Europa einzudämmen, legale Handels- und Kommunikationswege durch den Sahel (Straßen, Pipelines) zu sichern, […] bestehende ökonomische Interessen zu schützen und die Basis für Handel und Investitionen aus der EU zu schaffen“ (EEAS 2011, S. 4). Die Strategie basierte u.a. auf vier Fact-Finding Missionen, welche die EU bereits zwischen Juli 2009 und Juli 2010 in Mauretanien, Mali, Niger und Algerien durchgeführt hatte und die in den drei erstgenannten Staaten „mangelnde operationale und strategische Kapazitäten“ im gesamten Sicherheitssektor offenbart hätten, woraus u.a. eine ungenügende „Kontrolle des Territoriums“, Rechtsdurchsetzung und ein ineffizientes Grenzmanagement resultieren würden (Ebd., S. 3). Die Bemühungen der EU fokussieren sich seitdem darauf, diese Kapazitäten aufzubauen.

Zwischen der Veröffentlichung der Sahel-Strategie und ihrer Umsetzung in den Missionen EUCAP Sahel Niger (Aug. 2013), EUTM Mali (März 2013) und EUCAP Sahel Mali (April 2014) lagen allerdings zwei – miteinander in Verbindung stehende – Ereignisse, welche die Lage in der Region grundsätzlich veränderten: Mit der NATO-Intervention »Unified Protector« wurde Libyen als Regionalmacht ausgeschaltet, das Land in einen bis heute anhaltenden Bürgerkrieg gestürzt und eine große Zahl von Waffen und Kämpfer*innen mobilisiert. Der darauf folgende Aufstand im Norden Malis, der einen Putsch im Süden des Landes auslöste, führte Anfang 2013 zu einer massiven französischen Militär­intervention und zur Stationierung von über 10.000 Soldat*innen, vorwiegend aus afrikanischen Staaten, die zunächst unter dem Dach der Afrikanischen Union (AU-Mission AFISMA), bald aber unter UN-Führung (MINUSMA) standen, was auch eine umfangreiche deutsche Beteiligung (bis zu 1.100 Kräfte) ermöglichte.

»Ertüchtigung« in der Sahel-Region

MINUSMA bildet seitdem die militärische Grundlage für eine Vielzahl von Ausbildungs- und Ausrüstungsinitiativen. Im Rahmen der EUTM-Mission wurden bislang laut EU-Außenbeauftragtem Borrell „90 % der malischen Armee“ (EEAS 2020) fortgebildet, deren Gesamtumfang auf knapp 20.000 Soldat*innen geschätzt wird. Das EUTM-Mandat wurde schrittweise auf die Nachbarstaaten ausgeweitet, damit auch weitere Angehörige der »Force Conjointe du G5 Sahel« ausgebildet werden können – gemeinsame Eingreifkräfte der Armeen Mauretaniens, Malis, Nigers, Burkina Fasos und des Tschad, für deren Aufbau Deutschland und Frankreich im Februar 2018 mehr als 400 Mio. € mobilisiert hatten1 und die vor allem in den Grenzregionen aktiv sind. Ende Mai 2020 wurde auch die Ausbildung nigrischer Soldaten durch Kampfschwimmer*innen der Bundeswehr – zuvor ohne Mandat als »Operation Gazelle« durchgeführt – in das deutsche Mandat der EUTM aufgenommen. Neben den deutschen Kampfschwimmer*innen und einem deutsch-französischen Logistikdrehkreuz in Niamey sind im Niger auch geschätzte 800 US-Soldat*innen, überwiegend Spezialkräfte, und die französische Operation »Barkhane« aktiv. Sie führen gemeinsame Anti-Terror-Operationen mit lokalen Einheiten durch, die ebenfalls häufig als Ausbildungsunterstützung dargestellt werden. Wie viele andere Staaten liefert Deutschland im Rahmen seiner »Ertüchtigungsinitiative« militärisches Material – von gepanzerten Fahrzeugen bis zu Helmen und Schutzwesten – nach Mali und Niger und baut vor Ort militärische Infrastruktur, Werkstätten und Munitionsdepots auf. Im Rahmen der EUCAP-Missionen in beiden Staaten werden darüber hinaus Grenzschutz-, Gendarmerie- und Polizeikräfte aufgebaut. Zuletzt wurden zudem immer wieder Gerüchte kolportiert, dass auch Russland zunehmend in Mali aktiv sei und u.a. zwei Kampfhubschrauber geliefert hätte (Muvunyi 2020), was wiederum in der EU als Argument dafür genannt wird, die eigenen Anstrengungen zu intensivieren.

Angesichts des gewaltigen Umfangs dieser internationalen Aufrüstung ist es kein Wunder, dass sowohl bei der Niederschlagung der Proteste gegen den ehemaligen malischen Präsidenten Keïta als auch bei dessen Sturz durch das Militär am 18. August 2020 jeweils von der EU ausgebildete »Sicherheitskräfte« beteiligt waren. Auch die Tatsache, dass nur einen Monat zuvor der malischen Armee in jener Basis, von welcher der Putsch ausgegangen war, im Beisein des deutschen Botschafters feierlich Fahrzeuge und Ausrüstung übergeben wurde, verdeutlicht eher die Alltäglichkeit solcher Zeremonien als irgendeine heimliche Komplizenschaft. Beispielhaft für den völligen Kontrollverlust im Zuge der militärisch gestützten »Stabilisierung« sind sie allemal.

Fragilitäts-Dilemma

Die Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) spricht im Hinblick auf die Region von einer »Counter-Terrorism Governance« die sich dort als neue Staatsräson etabliert habe, aber nur „in Verbindung mit ausländischer Militärpräsenz“ funktioniere. Darin zeige sich das sogenannte »Fragilitäts-Dilemma«: „Je mehr Militär dort hingeschickt wird, je mehr das Sahel-Militär aufgerüstet wird, desto schwächer werden dort die Staaten [und andere gesellschaftliche Machtstrukturen], desto abhängiger werden [sie] von der EU und den USA“ (FFM 2020). Das lässt sich auch rein monetär abbilden: Die Kosten einer flächendeckenden militärisch-polizeilichen Präsenz, wie sie v.a. den EU-Strateg*innen vorschwebt, würde die Gesamthaushalte der betreffenden Staaten um ein Vielfaches übersteigen. Die von außen zuströmenden Mittel entwickeln und versorgen vor Ort (und in Paris, Brüssel, Calw, …) korrupte, militaristische Strukturen, die keinerlei Interesse an einer Lösung und Demilitarisierung der Konflikte haben. Der Krieg ernährt sich selbst und hält die Sahel-­Region im Status eines unruhigen Hinterhofs. Höchste Zeit, diese »Ertüchtigung« zu beenden.

Anmerkung

1) Die Gelder stammten von der EU und ihren Mitgliedsstaaten, den USA, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien.

Literatur

EEAS (2011): Strategy for Security and Development in the Sahel.

EEAS (2020): Informal meeting of EU Defence Ministers: Remarks by the High Representative/Vice-President Josep Borrell at the press conference. Berlin, 26.8.2020.

Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) (2020): Aufstandsbekämpfung im Sahel. Beitrag der FFM zum Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 21.11.2020, nachzuhören unter: https://www.wueste-welle.de/mp3/77954_Panel4_FFM-MP3.mp3.

Muvunyi, F.; Cascais, A. (2020): Putsch in Mali – Welche Rolle spielt Russland? Deutsche Welle, 28.8.2020.

Christoph Marischka ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung und arbeitet dort zu den Schwerpunkten der EU-Afrikapolitik und der Technologiepolitik.

Zwischen Intervention und Verteidigung


Zwischen Intervention und Verteidigung

Zeit für eine neue Balance?

von Marius Müller-Hennig

Die Diskussion um Europäische Außen- und Sicherheitspolitik erscheint oft reflexhaft: Einerseits ertönt häufig die Klage über mangelnde politische und militärische Handlungsfähigkeit der EU in beliebigen internationalen Krisen. Andererseits werden weitergehende Souveränitätstransfers nach Brüssel und vertiefte militärische Integration von verschiedenen Seiten skeptisch gesehen bzw. abgelehnt. Bei diesen Diskussionen kommt die Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der Pfadabhängigkeiten oft zu kurz. Die Maßstäbe, die in der politischen Bewertung von Erfolg und Misserfolg angelegt werden, erscheinen zudem oft ahistorisch und daher in weiten Teilen unrealistisch.

Im Folgenden werden für den Zweck einer realistischeren Debatte über die Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf Basis eines knappen historischen Rückblicks zwei Thesen formuliert. Diese werden dann zu einer alternativen Vision für die Zukunft der militärischen Inte­gration der EU verdichtet: Einer defensiveren und realistischeren Verteidigungsintegration der EU. Einer Integration, die das »interventions-optimistische« Weltbild der 1990er Jahre hinter sich lässt, die Frage nach einer gemeinsamen Verteidigung für die EU in den Vordergrund stellt und die globale Friedenspolitik primär als politisch-diplomatisches und nicht militärisches Projekt begreift.

Historischer Rückblick: Von der Verteidigung zur Intervention

Die Geschichte der europäischen Inte­gra­tion ist hinreichend bekannt: von der EGKS, über EURATOM und EWG zur EG und weiter zur EU. Oftmals übersehen wird, dass bereits zu Beginn dieses Prozesses auch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) auf der Agenda stand. Sie hatte sogar schon die meisten politischen Hürden genommen, bevor sie 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Ziel des Projektes war es, neue deutsche Truppenkontingente in eine gemeinsame europäische Verteidigung Westeuropas zu integrieren. Die EVG wäre wiederum strategisch der NATO unterstellt gewesen (vgl. Schwabe 2016, S. 231); wenn man so möchte, eine Art europäischer Pfeiler in der NATO. Die Initiative für die EVG kam aus Frankreich und wurde von den USA nachdrücklich unterstützt. Als sie scheiterte, erfolgte die Wiederbewaffnung Deutschlands stattdessen direkt fest integriert in die NATO. Letztere sollte Westeuropa vor einer vermeintlichen sowjetischen Expansion beschützen und gleichzeitig dafür sorgen, dass sich das deutsche Militär nicht wieder zu einer Bedrohung seiner westeuropäischen Nachbarn entwickelte. So leistete die NATO einen indirekten, aber wichtigen Beitrag zur europäischen Einigung: Verteidigung nach außen und Vertrauensbildung nach innen.

Paradigmenwechsel in den 1990er Jahren: Von der Verteidigung zum Krisenmanagement

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts änderte sich im sogenannten »unipolaren Moment« der USA auch die strategische Polarität für den europäischen Westen. Bis in die 1980er Jahre sah sich Westeuropa als potentieller Schauplatz eines dritten Weltkriegs. Die europäischen NATO-Mitglieder sollten einen Angriff der Sowjetunion und ihrer Alliierten abschrecken und notfalls abwehren können. Priorität war die Verteidigung von Westeuropa. Spätestens mit den Eskala­tionen auf dem Balkan rückten dann Krisenmanagement-Einsätze außerhalb des NATO-Gebiets in den sicherheitspolitischen Fokus des Westens. Auch in der EU stand nun militärische Zusammenarbeit beim Krisenmanagement prominent auf der Agenda. Tatsächlich wurden dann auch in der EU neue Strukturen und Fähigkeiten für diesen Bereich geschaffen1 (ebenso wie im Bereich des zivilen Krisenmanagements). Allerdings zeigt bereits „ein kursorischer Blick auf die europäischen militärischen Kriseninterventionen […], dass die EU ihrer selbst definierten Verantwortung in diesem Bereich seit der ersten Operation Artemis im Osten Kongos 2003 eher langsamer und zurückhaltender nachkommt (Dembinski und Peters 2018, S. 5).

Interventions-Ernüchterung und die Suche nach Exit-Strategien

Insgesamt ist die Bilanz westlicher militärischer Interventionen durchwachsen. Von Afghanistan (2001) über den Irak (2003) und Libyen (2011) bis nach Mali (2013) folgte auf militärische Erfolge des Westens langanhaltende Instabilität. Zu oft endete militärisches Engagement in der Suche nach gesichtswahrenden Exit-Strategien. Es gab zwar auch militärische Einsätze mit positiverer Bilanz, so beispielsweise die NATO-Einsätze IFOR und SFOR in Bosnien und Herzegowina. Auch die EU konnte in mehreren Fällen effektive operative Beiträge im internationalen Krisenmanagement leisten; militärisch beispielsweise in Form der Anti-­Piraterie-Operation »Atalanta«. Insgesamt aber blieb in vielen Konflikten der Eindruck zurück, dass der Westen bzw. die EU nicht in der Lage waren, Frieden und Demokratie dauerhaft zu sichern oder zumindest Stabilität zu schaffen. Hierbei darf man zwar nicht vergessen, dass dieser Politikbereich für die EU völlig neu war und angesichts des rasanten politischen Wandels (deutsche Wiedervereinigung, Transformation der Staaten Mittelosteuropas und die Erweiterungsrunden der EU) mit anderen politischen Prioritäten konkurrierte. Aber selbst wenn die EU in diesem Feld heute schneller zu mehr Entscheidungen käme und über mehr militärische Fähigkeiten verfügte, ist es fraglich, ob sie tatsächlich mehr erreichen könnte. Die Erfahrungen der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs bieten wenig Grund für Optimismus. Sicher ist hingegen, dass die EU an solch einem Punkt bisher nicht angekommen ist. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob die EU und ihre Mitgliedstaaten das »interventions-optimistische« Weltbild der 1990er Jahre nicht ablegen und die eigene Rolle bescheidener (und damit realistischer) konzipieren sollten.

Die Rückkehr der Bündnisverteidigung

Mit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine kam die Frage nach der kollektiven Verteidigung des Bündnisgebiets wieder mit Nachdruck zurück auf die sicherheitspolitische Agenda – insbesondere in der NATO. Die EU hingegen blieb bei einem Modell der Verteidigungsintegration in Form der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), das zum Weltbild der 1990er Jahre passt. Dabei hat sie auf dem Papier durchaus der neuen Entwicklung Rechnung getragen: So wurde in der EU-Globalstrategie von 2016 der Sicherheit der EU (im Sinne von Verteidigung) explizit hohe Bedeutung beigemessen. Seit dem Vertrag von Lissabon verfügt die Union zudem mit Artikel 42(7) EUV zwar über eine explizite Beistandsklausel, praktisch aber zielen die Anstrengungen der EU weiterhin primär auf militärische Zusammenarbeit und Integration im Bereich Intervention bzw. Krisenmanagement.

Vision einer defensiv gedachten Verteidigungsintegration der EU

Ausgehend vom historischen Rückblick werden im Folgenden zwei Thesen zur verteidigungspolitischen Integration im Rahmen der EU und ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) formuliert und zu einer Vision für ihre Weiterentwicklung verdichtet.

Weniger Fixierung auf Krisenmanagement-Einsätze

  • These 1: Europäische Verteidigungsintegration sollte sich von der Fixierung auf Krisenmanagement-Einsätze lösen.

Der Westen insgesamt und die EU im Besonderen sollten den Rufen nach mehr militärischen Interventionen mit pragmatischer – aber nicht dogmatischer – Zurückhaltung begegnen. Die vergangenen dreißig Jahre haben gezeigt, dass westliche Interventionen schon unter wesentlich besseren globalen Rahmenbedingungen als heute vielleicht zunächst militärisch erfolgreich, politisch aber oft nicht nachhaltig waren (s.o.). Der ehemalige Botschafter Singapurs bei den Vereinten Nationen, Kishore Mahbubani, fürchtet, dass die Welt vor einer „besorgniserregenden Zukunft steht, wenn der Westen seine interventionistischen Impulse nicht abschütteln kann“ (Mahbubani 2018, S. 92).

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind zudem meist nicht hauptverantwortlich für die akuten Kriege und gewalttätigen Konflikte in ihrer Nachbarschaft (auch wenn mit Blick auf die strukturellen Konfliktursachen und historischen Entwicklungen der Einfluss Europas nicht ausgeblendet werden darf). Sie lassen auch kein »Vakuum« entstehen2, wenn sie nicht militärisch intervenieren. Gleichwohl darf das prekäre Instrument der militärischen Intervention auch nicht für jeden Fall kategorisch ausgeschlossen werden: Das Versagen der Europäer in Srebrenica gebietet es, diese Diskussionen in jedem Einzelfall wieder neu, ernsthaft und ehrlich zu führen. In den Fällen aber, in denen sich Europa zur Intervention entschieden hat, wird es die damit zusammenhängende Verantwortung nicht so schnell wieder los. Sowohl diese Verantwortung als auch die Glaubwürdigkeit der EU stehen auf dem Spiel, wenn ihr als intervenierender Dritter frühzeitig der Atem ausgeht – etwas das der EU gerade auf dem Balkan nicht passieren darf. Auch dieser Aspekt der Durchhaltefähigkeit des Engagements ist ein klares Argument für weniger anstatt mehr militärische Interventionen.

Andererseits kann die EU die sicherheitspolitischen Probleme in der Nachbarschaft auch nicht ignorieren. Sie ist durchaus von diesen selbst betroffen. Daher ist es wichtig, die zivilen und militärischen Fähigkeiten der EU zu stärken, mit denen sie im Rahmen von UN und OSZE operative Beiträge zu Krisenmanagement und Konfliktbewältigung leisten kann. Vor allem aber das politische und diplomatische Gewicht gilt es, noch stärker als bisher, gemeinsam in die Waagschale zu werfen, gerade auch im Rahmen von UN und OSZE. So könnten sich die EU-Mitgliedstaaten beispielsweise darauf einigen, ihre jeweiligen nicht-ständigen Sitze im UN-Sicherheitsrat in eine Art »virtuellen ständigen Sitz für die EU« zu überführen. Der europäische auswärtige Dienst (EEAS) könnte dann ein gemeinsames ständiges Sicherheitsratssekretariat für die Mitgliedstaaten und die Union betreiben.

Unabhängig von der Art des Engagements sollten die eigenen Erwartungen den Rahmenbedingungen angepasst werden. Die aktuelle Praxis, den Handlungsdruck einerseits regelmäßig in schrillen Tönen zu beschwören, nur um dann die vermeintlich fehlende Handlungsfähigkeit händeringend zu beklagen, ist kontraproduktiv und demoralisierend. Die EU ist nun einmal kein machtvoller souveräner Staat, sondern erhält Souveränität lediglich im begrenzten Umfang von ihren Mitgliedern. Dies wird auf absehbare Zeit so bleiben. Selbst wenn die Voraussetzungen für Mehrheitsentscheidungen in diesem sensiblen Politikfeld geschaffen wären, sollte man die damit verbundenen Effekte nicht überschätzen, denn „[q]ualifizierte bzw. Mehrheitsentscheidungen zur Beschlussfassung von zivilen Missionen aber auch von militärischen Operationen würden weder das Problem der Personalrekrutierung noch die demokratiepolitischen Vorbehalte in der EU beheben.“ (Bendieck 2020, S. 9) Tatsächlich ist der Rahmen für die GSVP zwar kontinuierlich ausgeweitet worden, die demokratische Kontrolle durch das europäische Parlament blieb hingegen unterentwickelt.3

All dies bedeutet nicht, dass die militärische Integration von Krisenmanagementfähigkeiten zurückgedreht werden sollte. Wie wir in den vergangenen 30 Jahren gesehen haben, führt diese Inte­gration nicht automatisch zu einer Militarisierung des auswärtigen Handelns der EU. Die unterschiedlichen nationalen Interessen führen auf absehbare Zeit eher zu einer Zurückhaltung der EU bei robusten militärischen Einsätzen. Hinzu kommt die innenpolitische Kombination aus pazifistischen politischen Strömungen einerseits und der Scheu anderer politischer Kräfte vor den hohen Kosten und Risiken solcher Einsätze andererseits. Sie bildet in vielen Mitgliedstaaten eine demokratische Sicherung vor allzu leichtfertigen militärischen Interventionen. Die eigentliche Herausforderung scheint eher darin zu bestehen, die Urteilskraft zu entwickeln und den politischen Willen zu generieren, um in den wenigen Fällen, in denen der robuste Einsatz von Militär tatsächlich geboten sein könnte, schnelles Handeln zu ermöglichen.

Defensive EU-Verteidigung

  • These 2: Eine stärkere militärische Integration im EU-Rahmen sollte zukünftig vor allem auf die defensiven Funktionen der Landes- und Bündnisverteidigung fokussiert werden.

Die bisherige Zurückhaltung der EU hinsichtlich einer stärkeren militärischen Integration im Bereich der Landes- und Bündnisverteidigung erscheint unbegründet. Diese muss keineswegs automatisch in Konkurrenz zur NATO stehen; selbst dann nicht, wenn das Ziel eine europäische Armee sein sollte. Genau dies war in den 1950er Jahren in Form der EVG der Plan A für Europa, unterstützt durch die USA. Die EVG versprach einerseits Fähigkeiten zur Verteidigung Europas zu bündeln und andererseits zur Einigung des Kontinents und der dauerhaften Beilegung alter Feindschaften beizutragen. Ein derart integriertes europäisches Militär war als essentieller Bestandteil der NATO-Verteidigung gedacht.

Warum etwas wie die EVG – gegebenenfalls mit Sonderklauseln für die neutralen Staaten ebenso wie für Dänemark – heute nicht einmal mehr denkbar sein sollte, ist nicht einleuchtend. Ein Fokus auf eine militärisch integrierte EU-Territorial- und Bündnisverteidigung könnte sogar deutlich mehr Sinn ergeben als eine Vergemeinschaftung der Interventions­kapazitäten, die bisher im Zentrum neuer Initiativen steht. Bei Entscheidungen über »Out-of-Area«-Einsätze können nationale Einschätzungen und Interessen durchaus stark variieren. Im Falle einer direkten territorialen Bedrohung hingegen – und erst recht im sehr unwahrscheinlichen Fall eines militärischen Angriffs auf einen Mitgliedsstaat – ist es relativ klar, dass es einer kollektiven Antwort der EU bedarf.

Zudem liegen gerade bei den klassischen Fähigkeiten für die Landes- und Bündnisverteidigung die verteidigungsökonomischen Vorteile weiterer Integration auf der Hand. Teure und hochkomplexe Waffensysteme in einer relevanten Stückzahl einsatzbereit zu halten, stellt viele – wenn nicht alle – EU-Mitgliedstaaten vor enorme Probleme. Daher gibt es bereits eine Reihe von bilateralen Integrationsvorhaben zwischen NATO- und EU-Mitgliedern, wie z.B. zwischen Deutschland und den Niederlanden. Würden die EU-Staaten nach einem solchen Muster nicht punktuell bilateral, sondern strukturell EU-weit ansetzen, könnten sie enorme Ressourceneinsparungen erreichen.

Aber auch sicherheitspolitisch könnten mit einer defensiven militärischen Integration im EU-Rahmen wichtige Ziele verfolgt werden: Integrierte Streitkräfte zur Verteidigung könnten gerade für die Staaten, die an der Solidarität ihrer europäischen Nachbarn für den Fall einer unmittelbaren Bedrohung oder eines Angriffs zweifeln, ein starkes Signal der Rückversicherung sein. Darüber hinaus könnte eine leistungsfähigere und gleichzeitig schlankere europäische Säule der NATO ein positives Signal in Richtung Washington und Moskau senden:

  • Nach Washington, dass die Europäer ihre Verteidigung stärker selbst in die Hand nehmen und perspektivisch weniger konventionelle amerikanische Kräfte in Europa stationiert sein müssten.
  • Nach Moskau, dass sowohl der nominelle Umfang der EU-Streitkräfte als auch der konventionelle Fußabdruck der USA in Europa mittelfristig deutlich reduziert werden könnten.

Mit einer solchen Perspektive könnte auch ein Neuanlauf der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa ­angestoßen werden. Dieser wiederum wäre eine wichtige Voraussetzung dafür, endlich auch den Abzug aller taktischen Nuklearwaffen aus Europa vorzubereiten.

Eine konkrete/alternative Vision

Einerseits bedarf es für eine solche Vision der defensiveren Verteidigungsintegration vermutlich der Bereitschaft zu grundsätzlichen Änderungen an den EU-Verträgen. Dies war lange ein großes Tabu, gerade für Frankreich. Präsident Macron hat aber bereits deutlich gemacht, dass er generell bereit wäre, dieses Tabu hinter sich zu lassen (vgl. Macron 2019), um grundsätzlichen Reformbedarf der EU anzugehen; trotz der Erfahrung, dass wichtige europäische Verträge bereits zweimal am »Nein« Frankreichs scheiterten (beim EVG Vertrag 1954 und beim Verfassungsvertrag 2005). Die zweite notwendige Voraussetzung wäre ein deutliches Signal aus den USA, dass eine defensive Verteidigungsintegration innerhalb der EU die NATO nicht schwächt, sondern im Gegenteil von den USA unterstützt wird. Hieran fehlte es in der Vergangenheit. Wenn nun US-Präsident Biden tatsächlich, wie Max Bergmann unlängst im Magazin »Foreign Affairs« gefordert hat, an Stelle des nationalen 2 %-Ziels für Verteidigungsausgaben eine stärkere europäische Verteidigungsintegration unterstützen würde (Bergmann 2021), könnte dies den nötigen Paradigmenwandel in der EU anstoßen.

Militärische Interventionen hingegen gehören stärker als bisher auf den Prüfstand. Eingebettet in entsprechende völkerrechtliche Prozesse und Institutionen, allen voran in der UN und der OSZE, macht es auch zukünftig Sinn, europäisches Militär für Krisenmanagement vorzuhalten und einzusetzen. Als EU-Instrument zur Machtprojektion und zur militärischen Durchsetzung von Interessen außerhalb der genannten völkerrechtlichen Rahmen bleiben militärische Einsätze hingegen höchst fragwürdig. Die Hemmschwelle hierfür ist zu Recht extrem hoch; nicht zuletzt aufgrund der ambivalenten Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte.

Die hier skizzierte Vision für eine militärisch defensivere Vision der Verteidigungsintegration der EU könnte zum Kern eines sicherheitspolitischen »New Deals« in der transatlantischen Verteidigungspolitik werden. Einem »New Deal« der – entgegen der wenig progressiven Skizze von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer4 – auch friedenspolitisch überzeugt.

Anmerkungen

1) Nach der Etablierung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dem Vertrag von Maastricht (1993), u.a. in Form des »European Headline Goals« (1999), der Einrichtung des Politischen- und Sicherheitskommittees, des EU Militärausschußes und des EU Militärstabs (2000), den »EU Battle Groups« (2005) sowie dem militärischen Planungs- und Durchführungsstab (MPCC) 2017. Einen hervorragenden Überblick dazu bietet ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages (2018, S. 9f.).

2) So schrieb bspw. Judy Dempsey mit Blick auf die Frage nach einer Intervention in Syrien: „Das Vakuum, das die USA und Europa hinterlassen haben, indem sie sich nicht am Krieg beteiligt haben, zumindest formell, ist grundsätzlich von Iran und Russland gefüllt worden.“ (Dempsey 2018)

3) Siehe bspw. Fisahn und Ocak (2010, S. 17). Tatsächlich gibt es bspw. schon länger die Idee der Einrichtung eines eigenständigen Verteidigungsausschusses im europäischen Parlament, die z.B. von Kiesewetter und Nietan (2015) aufgegriffen wurde.

4) In einer Rede an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg am 17. November 2020 beschrieb die Verteidigungsministerin drei Eckpunkte für einen solchen »New Deal« aus Ihrer Perspektive: 1.) Ausbau der Verteidigungshaushalte auch in Corona-Zeiten, 2.) ein deutsches Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe, 3.) Zusammenarbeit beim Thema China, wo es mit deutschen Interessen zusammenpasst (vgl. Kramp-Karrenbauer 2020, S. 10).

Literatur

Bendieck, A. (2020): Stellungnahme. Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages zur Mitteilung der Kommission »Mehr Gewicht auf der internationalen Bühne: eine effizientere Beschlussfassung für die GASP«, Ausschussdrucksache 19(21)122, 23.11.2020.

Bergmann, M. (2021): The EU is the military ally the US needs. Foreigen Affairs, 06.01.2021.

Dembinski, M.; Peters, D. (2018): Eine Armee für die Europäische Union? Europapolitische Konzeptionen und verteidigungspolitischen Strukturen. PRIF Report 1/2018, Frankfurt am Main.

Dempsey, J. (2018): Germany’s No-Go Foreign Policy. Carnegie Europe, 17.04.2018.

Fisahn, A.; Ocak, O. (2010): Mit dem Lissaboner Vertrag wurde die EU zur militärischen Macht. In: Becker, P; Braun, R.; Deiseroth, D. (Hrsg): Frieden durch Recht?, Berlin: BWV, S. 122-135. Seitenzahlen im Text gemäß Online-PDF Dokument.

Kiesewetter, R.; Nietan, D. (2015): Verteidigung europäisch gestalten. Deutschland ist der Schlüssel bei der Stärkung kollektiver Sicherheit in Europa. Positionspapier, Europa-Union, 09.03.2015.

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Marius Müller-Hennig ist Referent für Europäische Außen- und Sicherheitspolitik bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Zuvor war er als Projektleiter der FES in Bosnien- und Herzegowina tätig.

Die Pompeo-Doktrin


Die Pompeo-Doktrin

Oder: Warum Trump Grönland kaufen wollte

von Michael T. Klare

Bei Betrachtungen der aktuellen US-Politik steht häufig Präsident Trump im Fokus. Sein Handeln orientiert sich oft an persönlichen Interessen oder Wünschen und an der Maßgabe eines »guten Deals«. Dabei wirken im Weißen Haus zahlreiche andere Akteure, die oft kompromisslos die »nationalen Interessen« der USA verfolgen. Ein Beispiel beschreibt Michael T. Klare im folgenden Text aus Le Monde diplomatique vom 10.10.2019. Dabei geht es um die Vorstellungen von Außenminister Pompeo, wie die USA die Klimaveränderungen in der Arktis (vermeintlich) zu ihrem Vorteil nutzen könnten.

Donald Trump hat mal wieder Schlagzeilen gemacht, als er im August [2019] sein Interesse am Kauf von Grönland signalisierte. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Hier sprach nicht Trump, der Immobilienkrösus. Die Idee entspringt vielmehr einer Strategie, die wir ab jetzt als Pompeo-Doktrin bezeichnen sollten.

Denn Trumps Außenminister Mike Pompeo hat in der geopolitischen Region der Arktis noch viel mehr vor als nur den Kauf von Grönland. Als der US-Präsident die Welt mit der Idee überraschte, den Dänen das halbautonome Gebiet abzuschwatzen, sahen die meisten Kommentatoren darin nur einen weiteren von Trumps zunehmend bizarren Auftritten.

So ging es offenbar auch der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Die Sozialdemokratin bezeichnete den bloßen Gedanken an ein solches Geschäft als absurd“. Woraufhin Trump ihre Bemerkung „widerlich“ nannte und seinen lange geplanten Staatsbesuch in Kopenhagen absagte.

Betrachtet man diese Episode etwas näher und liest sie im Kontext mit anderen Aktionen der Trump-Regierung, drängt sich eine ganz andere Interpretation auf. Und wir alle sollten begreifen, dass es sich hier um eine Frage handelt, die für die ganze Welt, ja für die gesamte menschliche Zivilisation von immenser Bedeutung ist.

Die Arktis wird heute im Weißen Haus, ganz im Sinne Pompeos, zunehmend als eine weltpolitische Arena gesehen, in der sich der Konkurrenzkampf der Großmächte entscheidet. Und der ultimative Gewinn ist ein außergewöhnliches Reservoir an Bodenschätzen: von Erdöl und Erdgas über Uran, Zink, Eisenerz, Gold und Diamanten bis hin zu den berühmten Metallen der seltenen Erden.

Es kommt ein weiterer Faktor hinzu, den niemand in Trumps Umgebung benennt, weil Begriffe wie »Klimawandel« oder »Klimakrise« im Weißen Haus verboten sind: Den Startschuss für den Wettlauf um die Schätze Grönlands hat die globale Erwärmung gegeben – was man in Washington natürlich nur zu genau weiß.

Die Großmächte haben schon seit Längerem ihr Auge auf die Arktis geworfen. Während des Kalten Kriegs war die Region um den Nordpol von großer strategischer Bedeutung. Damals planten sowohl die USA als auch die Sowjetunion, ihre mit Atomwaffen bestückten Raketen und Bomber am Rand der Arktis zu stationieren, von wo aus sie Ziele auch auf der anderen Seite der nördlichen Halbkugel erreichen konnten.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs war das Interesse an der Region allerdings weitgehend erloschen. Eisige Temperaturen, häufige Stürme und die massive Eisdecke machten einen normalen Luft- und Seeverkehr unmöglich. Wer würde dort schon Wagnisse eingehen, abgesehen von der indigenen Bevölkerung, die ihre Lebensweise seit Langem den arktischen Bedingungen angepasst hatte?

Doch der Klimawandel hat die Situation dramatisch verändert. Die Temperaturen steigen in der Arktis schneller als irgendwo sonst auf der Welt. Mit der Folge, dass die polare Eisdecke teilweise abschmilzt und zuvor unzugängliche Wasserflächen und Inseln freilegt, was eine kommerzielle Ausbeutung ermöglicht. Zum Beispiel wurden in Offshore-Gebieten, die früher den größten Teil des Jahres unter Eis lagen, inzwischen Öl- und Gasvorkommen entdeckt.

Neue Möglichkeiten, wichtige Bodenschätze zu erschließen, ergeben sich auch – richtig! – in Grönland. Angesichts dessen ist die Trump-Regierung besorgt, andere Länder, wie China und Russland, könnten die durch den Klimawandel freigelegten Chancen für sich nutzen. Deshalb hat sie eine umfassende Kampagne gestartet, um die Dominanz der USA in dieser Region zu sichern, wobei sie auch das Risiko künftiger Konflikte und Zusammenstöße in Kauf nimmt.

Pompeos Doktrin für die Arktis

Der Wettlauf um die arktischen Ressourcen startete zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Damals nahmen die weltweit größten Energiekonzerne – westliche Multis wie BP, ExxonMobil und Shell ebenso wie die russischen Giganten Gazprom und Rosneft – die Suche nach Öl- und Gasvorkommen auf, die durch den Rückzug des Packeises erschließbar geworden waren.

Diese Explorationen erhielten 2008 neuen Rückenwind, als der United States Geological Survey (USGS) den Report »Circum-Arctic Resources« veröffentlichte, der aufzeigte, dass bis zu einem Drittel der unentdeckten weltweiten Öl- und Gasreserven innerhalb des nördlichen Polarkreises lagern.

Laut Einschätzung der Autoren des Reports liegt ein Großteil der noch nicht erschlossenen fossilen Brennstoffe unter den arktischen Gewässern, die an die Hoheitszonen der USA (Alaska), von Kanada, Dänemark (Grönland), Norwegen und Russland grenzen. Diese Länder werden auch als »The Arctic Five« bezeichnet.

Gemäß dem geltenden Völkerrecht, das im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) von 1992 kodifiziert ist, darf jeder Anrainerstaat die Ressourcen auf und unter dem Meeresboden bis zu einer Entfernung von mindestens 200 Seemeilen (370,4 Kilometern) von seiner Küstenlinie ausbeuten. Diese sogenannte ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) kann sich auch über die 200-Meilen-Grenze hinaus erstrecken, wenn der geologische Festlandsockel in der betreffenden Gegend über die 200 Meilen hinausreicht.

Eine AWZ beanspruchen alle Arctic Five, einschließlich den USA, obwohl Washington das UNCLOS nicht ratifiziert hat. Die meisten bekannten Öl- und Gasvorräte liegen innerhalb der jeweiligen AWZ, allerdings befinden sich auch einige in Gebieten jenseits der 200-Meilen-Grenze, in denen sich AWZs überlappen oder die zwischen den Parteien umstritten sind.

Die Arctic Five haben im Prinzip vereinbart, alle Konflikte, die auf konkurrierende Ansprüche zurückgehen, auf friedliche Weise beizulegen. Auf diesem Grundsatz beruht auch der 1996 gegründete Arktische Rat: ein zwischenstaatliches Forum aller Staaten, die über Territorium innerhalb des arktischen Polarkreises verfügen. Das sind neben den Arctic Five noch Finnland, Island und Schweden.

Der Arktische Rat tritt alle zwei Jahre zusammen. Er bietet den Regierungen dieser Länder und den im arktischen Raum lebenden indigenen Völkern– zumindest theoretisch – die Gelegenheit, Themen von gemeinsamem Interesse zu besprechen und nach kooperativen Lösungen zu suchen.

Tatsächlich hat der Rat dazu beigetragen, die Spannungen in der Region zu dämpfen. Allerdings wurde es in den vergangenen Jahren immer schwieriger, ein Übergreifen anderer Konflikte auf die Arktis zu verhindern. Das gilt etwa für die wachsende Feindseligkeit der USA (und der NATO) gegenüber Russland und China oder für die Konkurrenz um essenziell wichtige Rohstoffvorkommen. Das jüngste Treffen des Rats fand im Mai 2019 in der finnischen Stadt Rovaniemi statt, die nur wenige Kilometer südlich des Polarkreises liegt. Dabei traten die Rivalitäten und der Drang nach vom Eis befreiten Ressourcen bereits offen zutage.

Normalerweise werden vor dem Arktischen Rat nichtssagende Bekenntnisse zur internationalen Zusammenarbeit und zum gewissenhaften Umweltschutz abgegeben. Aber dieses Mal hielt US-Außenminister Pompeo eine offen kriegerische und provokative Rede, die im Rückblick sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie damals erzielte.

Seine Worte sollten wir etwas genauer ansehen, denn mit ihnen proklamierte Trumps Außenminister eine womöglich historische neue Doktrin für den Fernen Norden. Zu Beginn schlug er noch milde Töne an: „In den ersten zwei Jahrzehnten hatte der Arktische Rat den Luxus, sich fast ausschließlich auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit, auf kulturelle Fragen, auf die Erforschung der Umweltprobleme zu konzentrieren. Das alles seien interessante und sehr wichtige Themen, die man weiter im Auge behalten müsse – aber diese luxuriösen Verhältnisse seien nun nicht mehr gegeben.

Schätze unter dem schmelzenden Eis

Damit kam Pompeo zur Sache: „Wir treten in ein neues Zeitalter des strategischen Engagements in der Arktis ein, und das bringt neue Bedrohungen der arktischen Region und seiner Besitztümer [wörtlich: »real estate«, ganz im Geiste seines Präsidenten] und aller unserer Interessen in dieser Region.

In dieser extremen Hardliner-Rede kam der Begriff »Klimawandel« natürlich nicht vor. Und doch wissen alle, dass genau dieser Klimawandel die Möglichkeiten verbessert hat, die riesigen Rohstoffvorräte der Region auszubeuten. Das Wettrennen um die Kontrolle dieser Reichtümer hat bereits begonnen, und zwar von Anfang an als geopolitische Konfrontation zwischen den USA, Russland und China.

Was die Ausbeutung der Ressourcen betrifft, so konnte Pompeo in Rovaniemi seine Begeisterung kaum zügeln. Er erinnerte an den Kauf von Alaska im Jahr 1857, für den der damalige US-Außenminister William Seward von allen Seiten verhöhnt worden war. Heute sei die Arktisregion keineswegs das unwirtliche Hinterland, als das sie zu Sewards Zeiten gesehen wurde, sondern die vorderste Kampflinie der unbegrenzten Möglichkeiten: „Hier lagern 13 Prozent der noch nicht erschlossenen globalen Öl- und 30 Prozent der Gasreserven; dazu Unmengen an Uran und seltenen Erden, an Gold und Diamanten und Millionen Quadratmeilen von unangetasteten Ressourcen.

Gleichermaßen begeistert sprach Trumps Außenminister von einer gewaltigen Expansion des maritimen Verkehrs durch die Eröffnung des neuen transarktischen Schifffahrtswegs zwischen dem euroatlantischen Raum und Asien: „Dank der ständigen Rückbildung der Eisdecke öffnen sich neue Seepassagen und neue Chancen für den Handel. Damit würde sich die Reisezeit zwischen Asien und dem Westen potenziell um bis zu 20 Tage verkürzen. Laut Pompeo könnten die „arktischen Seerouten zum Suez- und Panamakanal des 21. Jahrhunderts“ werden.

Dass die „ständige Rückbildung der Eisdecke“ einzig und allein auf den Klimawandel zurückgeht, fand ebenso wenig Erwähnung wie eine weitere Tatsache: Sollte die arktische Passage einmal tatsächlich zum Suez- oder Panamakanal des Nordens geworden sein, dürften sich zugleich weite Teile des globalen Südens in unbewohnbare Wüstenzonen verwandelt haben.

Sobald sich diese »neuen Chancen« ergeben, wollen die Vereinigten Staaten die Ersten sein, die sie zu nutzen wissen. In Finnland spuckte Pompeo große Töne über die tollen Fortschritte, die seine Regierung bereits gemacht habe, etwa mit den großzügigen Lizenzen für Öl- und Gasbohrungen in küstennahen Gewässern, aber auch mit der Erlaubnis zur „Erkundung von Energiequellen“ im Arctic National Wildlife Refuge (ANWR).

Dieses Naturschutzgebiet im äußersten Nordosten Alaskas wird von Umweltaktivisten vor allem als Überlebensraum für die umherziehenden Karibus und andere gefährdete Tierarten geschätzt. Das hinderte Pompeo nicht, weitere Aktivitäten zur Ausbeutung der Bodenschätze anzukündigen.

Um seine Zuhörer zu beruhigen, erklärte der US-Außenminister, dass die Konkurrenz um die arktischen Ressourcen „im Idealfall“ durchaus geordnet und friedlich ablaufen würde. Sein Land glaube an „den freien und fairen und offenen Wettbewerb nach rechtsstaatlichen Prinzipien“.

Aber dann folgte gleich die Drohung: Andere Länder und insbesondere China und Russland würden sich zumeist nicht an diese Regeln halten, deshalb müssten sie einer genauen Aufsicht unterliegen und nötigenfalls auch bestraft werden.

Pompeo ging dann speziell auf China ein. Peking sei längst dabei, in der arktischen Region neue Handelswege zu erschließen und Wirtschaftsbeziehungen mit den Anliegerstaaten zu entwickeln. Allerdings würden die Chinesen ihre angeblich nur ökonomischen Aktivitäten hinterrücks auch zu militärischen Zwecken nutzen – behauptete der Außenminister jenes Landes, das in der Arktis bereits diverse Militäreinrichtungen unterhält, darunter die Luftwaffenbasis Thule im Norden von Grönland.1

Unverschämterweise, so Pompeo, spionierten die Chinesen den mit Interkontinentalraketen bestückten US-amerikanischen U-Booten nach, die im arktischen Raum operieren und für die nukleare Abschreckungsstrategie seines Landes unentbehrlich sind. Er verwies insbesondere auf die Vorgänge im Südchinesischen Meer. Dort hat China in der Tat auf ein paar winzigen unbewohnten Inseln Militäranlagen, wie Flugplätze und Raketenstellungen, errichtet, worauf die USA mit der Entsendung von Kriegsschiffen in die umliegenden Gewässer reagiert haben.

Der Hinweis diente ersichtlich als Warnung, dass eine ähnliche militärische Konfrontation und potenzielle Zusammenstöße künftig auch in der Arktis denkbar sind: „Wir sollten uns fragen, ob wir wollen, dass der Arktische Ozean zu einem neuen Südchinesischen Meer wird, belastet durch Militarisierung und konkurrierende territoriale Ansprüche.

Wobei Pompeo anschließend noch stärkere Worte gegen Russland fand, dem er „ein aggressives Vorgehen in der Arktis“ vorwarf: Moskau habe in der Region hunderte neue Stützpunkte errichtet, neue Häfen gebaut und sein Flugabwehrsystem erneuert. Diese Bedrohung könne nicht ignoriert werden: „Russland hinterlässt bereits Spuren im Schnee – in der Form von Militärstiefeln. Die Arktis sei zwar eine Art Wildnis, „doch das heißt nicht, dass dort Gesetzlosigkeit herrschen sollte […] Und wir bereiten uns darauf vor, sicherzustellen, dass es nicht so weit kommt.

Das also ist der Kern der Botschaft: Die Vereinigten Staaten müssen selbstredend »reagieren«, indem sie ihre eigene militärische Präsenz in der Arktis verstärken – mit den einzigen Ziel, ihre Interessen zu verteidigen und das Vordringen der Chinesen und der Russen zu kontern.

Solche Töne sind keineswegs nur Zukunftsmusik: „Unter Präsident Trump verstärken wir die Sicherheit und die diplomatische Präsenz der USA in dieser Region. Zur Stärkung unserer Sicherheit – die zum Teil als Reaktion auf die destabilisierenden Aktivitäten Russlands erfolgt – veranstalten wir Militärmanöver, verstärken unsere Truppenpräsenz, bauen unsere Eisbrecherflotte wieder auf und erhöhen die Ausgaben für unsere Küstenwache“, listete Pompeo auf.

Zudem werde „innerhalb unseres Militärs eine neue Stabsstelle für arktische Angelegenheiten“ eingerichtet, fügte der US-Außenminister hinzu.

Zum Beweis, dass Washington es ernst meint, pries Pompeo stolz die größten Militärübungen der USA und der NATO, die seit dem Ende des Kalten Kriegs im arktischen Raum stattgefunden haben. Dieses multinationale Manöver mit 50.000 Soldaten (unter dem Codenamen »Trident Juncture 18«) wurde vom 25. Oktober bis zum 23. November 2018 auf norwegischem Territorium abgehalten.2 Nach dem offiziellen Szenario für »Trident Juncture 18« war der Gegner ein nicht namentlich genannter »Angreifer«, aber für alle Militärbeobachter war eindeutig klar, dass die NATO-Truppen eine hypothetische russische Invasion in Norwegen zurückzuschlagen hatten.

So wird in groben Konturen die Pompeo-Doktrin erkennbar, der eine Kern­annahme zugrunde liegt, die innerhalb der Trump-Administration eigentlich verboten ist: dass die Klimakrise tatsächlich existiert. Diese überaus aggressive Doktrin geht für die arktische Region von einer permanenten Konkurrenz und von anhaltenden Konflikten aus, die sich infolge der Erderwärmung und des Abschmelzens der polaren Eiskappen immer weiter zuspitzen.

Die Auffassung, dass sich die USA im Fernen Norden mit den Russen und Chinesen ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, hat sich in Washington – speziell im Pentagon und im Nationalen Sicherheitsrat – über einen längeren Zeitraum herausgebildet. Im August 2019 ist sie offenbar auch im Weißen Haus so geläufig geworden, dass sie Trump darauf gebracht hat, Grönland kaufen zu wollen.

Dabei ist diese Idee angesichts der grönländischen Ressourcen und möglicher künftiger Auseinandersetzungen keineswegs irre oder skurril. Denn auf der größten Insel der Erde gibt es sowohl eine Menge Bodenschätze als eben auch die Militärbasis von Thule – ein Relikt des Kalten Kriegs, das heute vornehmlich als Radarstation dient. Die Anlage wurde bereits für 300 Millionen Dollar modernisiert, um russische Raketentests besser überwachen zu können. Aus der Sicht Washingtons ist Grönland von unschätzbarem Wert in dem geopolitischen Gerangel, das Pompeo in Rovaniemi dargestellt hat.

Bei den neuen strategischen Überlegungen im State Department und im Pentagon spielen auch Island und Norwegen eine wichtige Rolle. So hat die US-Marine ihren alten Stützpunkt im isländischen Keflavík wieder besetzt – eine weitere Hinterlassenschaft des Kalten Kriegs – und integriert diesen nun in ihre Strategie der U-Boot-Bekämpfung. Und auf einer Basis in der Nähe der norwegischen Stadt Trondheim sind gegenwärtig mehrere hundert der berühmten »Marines« stationiert. Dabei handelt es sich um den ersten Daueraufenthalt ausländischer Soldaten auf norwegischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. 2018 hat das Pentagon sogar die außer Dienst gestellte Zweite US-Flotte wieder reaktiviert und mit der Aufgabe betraut, den Nordatlantik und die Seewege in Richtung Arktis zu beschützen, was die Gewässer um Grönland, Island und Norwegen einschließt.

Wir gehen also offensichtlich heißen Zeiten entgegen, wobei die umfassenden Investitionen, die dem US-amerikanischen Militär das Agieren im Fernen Norden ermöglichen sollen, erst an ihrem Anfang stehen. Während »Trident Juncture 18« operierte der Flugzeugträger »Harry S. Truman« und seine Begleitflotte in norwegischen Gewässern – und zwar erstmals seit der Implosion der Sowjetunion im Jahr 1991 auch nördlich des Polarkreises.

Seitdem hat Marineminister Richard Spencer angekündigt, das Pentagon werde in der Sommersaison Überwasserschiffe der U.S. Navy die gesamte Arktis durchqueren lassen,3 was bislang nur unterhalb der Eisdecke, also für Atom-U-Boote möglich war.

Der Plan wurde diesen Sommer nicht realisiert.4 Aber in allerjüngster Zeit haben Einheiten der US-Marine und der Marineinfanterie an der Küste von Alaska ein großes amphibisches Landungsunternehmen durchgeführt. An der Übung im Rahmen des Militärmanövers »Arctic Expeditionary Capabilities Exercise (AECE) 2019«, des größten seiner Art seit Jahren, waren rund 3.000 Einsatzkräfte beteiligt. Sie sollte dazu dienen, die Fähigkeit des US-Militärs zu offensiven Landungsoperationen in der umkämpften arktischen Region zu verbessern.

Obwohl der US-Außenminister und seine Redenschreiber den Begriff »Klimawandel« niemals verwenden, ist jeder Aspekt der neuen Pompeo-Doktrin durch die Auswirkungen dieses Phänomens bestimmt. Weil die Temperaturen mit dem erhöhten Ausstoß von Treibhausgasen immer weiter ansteigen, wird die Eisdecke der Arktis immer schneller schrumpfen.

Damit wird die Ausbeutung der arktischen Energievorkommen zunehmend einfacher, was eine erhöhte Produktion fossiler Brennstoffe bedeutet, die wiederum den Teufelskreis der Erderwärmung und des beschleunigten Abschmelzens des Polareises weiter antreibt. Mit einem Satz: Die Pompeo-Doktrin weist den sicheren Weg in die Katastrophe.

Dabei kommt noch ein Aspekt ins Spiel: Die steigenden Temperaturen und die Zunahme extremer Stürme werden die Öl- und Gasförderung in anderen Weltregionen wahrscheinlich stark beeinträchtigen. So gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass die Menschen im Nahen und Mittleren Osten bis 2050 im Sommer mit durchschnittlich knapp 50 Grad Celsius rechnen müssen. Solche mörderische Hitze macht das Arbeiten im Freien unmöglich.

Im Golf von Mexiko – und in klimatisch vergleichbaren Regionen – könnten Hurrikane wegen der steigenden Wassertemperaturen immer extremer werden und die kontinuierliche Förderung auf den Ölbohrplattformen behindern. Sollte die Menschheit bis 2050 nicht die komplette Umstellung auf alternative Energien geschafft haben, wird die Arktis in der Mitte dieses Jahrhunderts zur wichtigsten Lieferregion von Gas und Erdöl geworden sein. Das wird den Kampf um die Kontrolle dieser fossilen Ressourcen nur noch erbitterter machen – der teuflischste Aspekt der Reaktion der Menschen auf die Klimakrise.

Je mehr fossile Energie wir verbrauchen, umso schneller wird sich die Ökologie der Arktis verändern. Und wenn die auf fossilen Brennstoff beruhende Extraktionsökonomie in anderen Regionen aus klimatischen Gründen zum Erliegen kommt, ohne dass wir die Abhängigkeit von Öl und Gas überwunden haben, wird das Schicksal des Fernen Nordens besiegelt sein. Dann wird die ehemals unberührte Weltregion, wie von der Pompeo-Doktrin vorausgesehen, zum Schauplatz heftiger Konflikte werden – und zu einer Katastrophe für die gesamte Zivilisation.

Anmerkungen

1) Die US-Basis Thule existiert bereits seit 1951 und hat eine drei Kilometer lange Landebahn. Während des Kalten Kriegs diente sie als Operationsbasis des Strategic Air Command, also der mit Atomwaffen bestückten Langstreckenbomberflotte der U.S. Air Force (B-36, B-47 und B-52). Die Basis beherbergt heute auch die größte und nördlichste Satellitenbodenstation der U.S. Air Force. Gegenwärtig halten sich dort permanent etwa 600 Armeeangehörige und Zivilisten auf.

2) Dabei handelte es sich um das größte NATO-Manöver seit der Auflösung der Sowjet­union. Parallel dazu fand das ebenfalls multinationale Seemanöver »Northern Coasts 2018« in der Ostsee vor Finnland statt. An beiden Manövern war die Bundeswehr mit starken Kontingenten beteiligt.

3) Siehe Wall Street Journal, 12. Januar 2019.

4) Das Vorhaben wurde auch in Fachkreisen kritisch gesehen, denn es hätte nicht nur U.S.-Navy-Schiffe (durch Eisgang) gefährdet, sondern auch zu Konflikten mit Russland und Kanada geführt. Siehe Rebecca Pinkus, »Rushing Navy Ships into the Arctic for a FONOP is Danger­ous«, in: RealClear Defense, 1. Februar 2019.

Michael T. Klare ist Professor em. für Friedens- und globale Sicherheitsstudien und schreibt regelmäßig für die Website TomDispatch, auf der auch dieser Text erschienen ist. Sein neues Buch »All Hell Breaking Loose – the Pentagon’s Perspective on Climate Change« erschien im November 2019 bei Metropolitan Books.

Aus dem Englischen übersetzt von Niels Kadritzke.
© Michael Klare; für die deutsche Übersetzung: LMd, Berlin

W&F dankt »Le Monde diplomatique« für die Nachdruckrechte. Der Artikel erschien unter der Überschrift »Warum Trump Grönland kaufen wollte« in der Ausgabe vom 10.10.2019.

Hybride Kriegführung


Hybride Kriegführung

Die Diffusion eines Begriffs

von Wolfgang Schreiber

»Hybride Kriegführung« (hybrid warfare) ist kein theoretisch feststehender Begriff, sondern vielmehr eine Wortschöpfung, die in den letzten Jahren zur Beschreibung sehr unterschiedlicher Kriegsphänomene genutzt wurde. Dennoch lassen sich Merkmale der hybriden Kriegführung herausfiltern. Die Bandbreite lässt sich anhand historischer und aktueller Beispiele veranschaulichen.

Erstmalig explizit genutzt wurde »Hybride Kriegführung« 2002 in einer Arbeit über den Krieg in Tschetschenien (Nemeth 2002).1 Dabei stellte Nemeth fest, dass die Rebellen sowohl moderne Technologie als auch moderne Mobilisierungsmethoden (ebd., S. 29) und – je nach Lage – konventionelle oder Guerilla-Taktiken einsetzten (ebd., S. 61). Durch eine Analyse des Libanonkrieges von 2006, die für die Kriegführung der Hisbollah gegen Israel ähnliches herausstellte (Hoffman 2007), fand der Begriff weitere Verbreitung. Eine hybride Kriegführung wurde also zunächst nichtstaatlichen Akteuren zugeschrieben, von denen man eine Kombination aus konventionellen und Guerilla-Taktiken so nicht erwartet hatte, sodass eine neue Begrifflichkeit notwendig erschien.2

Eine Erweiterung erfuhr der Begriff spätestens 2010, als innerhalb der NATO von »hybriden Bedrohungen« gesprochen wurde (Asmussen et al. 2015, S. 10, 123). Damit gemeint war die Einbeziehung nicht originär militärischer Bedrohungen, wie Gewalt durch Nachrichtendienste, Cybergewalt, privatisierte Gewalt, diplomatische Macht, realwirtschaftliche Macht, finanzwirtschaftliche Macht, wissenschaftliche und technologische Macht, Medienmacht (Dengg und Schurian 2015, S. 60-63). Durch die Kombination dieser und ggf. militärischer Mittel ergeben sich logischerweise ganz unterschiedliche hybride Bedrohungsszenarien.

Die Sinnhaftigkeit des Begriffs wurde gleich aus mehreren Richtungen kritisiert. Einerseits führten Kritiker für die Kombination verschiedener militärischer Taktiken durch Kriegsakteure eine ganze Reihe von Beispielen an, die nahelegen, dass diese Art der Kriegführung auch historisch gesehen eher die Regel als die Ausnahme war (Murray und Mansoor 2012). Wird andererseits die Mischung von militärischen und nicht-militärischen Elementen als wesentliches Charakteristikum hybrider Kriegführung betont, so erscheint der Begriff noch weniger sinnvoll. Kriegführende Parteien bedienten sich zur Unterstützung ihrer Kriegführung immer auch nicht-militärischer Mittel: Diplomatie soll z.B. verhindern, dass der Gegner Bündnispartner findet; Wirtschaftssanktionen bis hin zu Blockaden sollen dessen Versorgung infrage stellen; Propaganda soll die Unterstützung der eigenen Bevölkerung sicherstellen und die des Gegners untergraben usw. Das Führen eines Krieges ist damit grundsätzlich hybrid (Schmid 2016, S. 119).

Für die Diskussion über hybride Kriegführung kommt dabei aus den Bedrohungsszenarien der Einzelkomponente des Cyberangriffs eine besondere Bedeutung zu. 2007 wurden estnische Einrichtungen Ziel eines Cyberangriffs (Asmussen et al. 2015, S. 6); 2010 waren vor allem Computer im Iran betroffen vom Computerwurm Stuxnet (Dengg und Schurian 2015, S. 27). In beiden Fällen konnte über die Urheber der Cyberattacken nur spekuliert werden: 2007 wurden russische Urheber vermutet; 2010 richtete sich der Verdacht gegen die USA und Israel. Bei Cyberangriffen geht es jedoch zumeist weniger um Angriffe mit Zerstörungspotenzial als um Spionage. Zu nennen ist hier vor allem das weltweite Überwachungsprogramm der US-amerikanischen National Security Agency (NSA), die auch vor dem Abhören befreundeter Staats- und Regierungschefs nicht haltmachte. Ein weiteres Beispiel ist die Veröffentlichung des Mailverkehrs der Demokratischen Partei in den USA, die die Einflussnahme der Parteispitze zugunsten Hillary Clintons und gegen Bernie Sanders im Nominierungswahlkampf vor der Präsidentschaftswahl 2016 deutlich machte. Im Fall der NSA blieben diese Aktivitäten bis zur Veröffentlichung durch Edward Snowden unbekannt; im zweiten Fall wird über Urheber in Russland spekuliert.

Diffusion des Begriffs

Wird in der aktuellen Diskussion von hybrider Kriegführung gesprochen, ist damit vor allem das russische Vorgehen in der Ukraine gemeint (Bilban et al. 2019, S. 22-25; Ehrhart 2014). Dabei werden folgende Hauptmerkmale der russischen Kriegführung genannt, welche die Bezeichnung »hybrid« rechtfertigen sollen: Da die russische Seite behauptet, die Rebellen lediglich zu unterstützen, bleibt im Unklaren, wer der treibende Akteur ist. Direkte russische Interventionen werden, so bei der Besetzung der Krim, allenfalls im Nachhinein zugegeben. Somit weist bereits die im engeren Sinne militärische Komponente einen hybriden Charakter auf. Diese Unklarheit über das militärische Agieren wird von einer Informationspolitik begleitet, die einerseits auf klassische Medien, wie den Fernsehsender RT, zurückgreift, andererseits auch auf sozialen Medien beruht, wo Urheberschaft und Einflussnahme staatlicher Stellen bewusst im Unklaren bleiben.

Die Möglichkeit, eine Verantwortung für bestimmte Aktionen oder sogar eine Kriegsbeteiligung mit einiger Plausibilität abstreiten zu können (Erhart 2016, S. 99; Schmid 2016, S. 115), wird hier zu einem Hauptmerkmal dieser Art der Kriegführung. Dies wird unterstützt durch die Verbreitung von Informationen und Desinformationen im Internet, die es erschweren, Fakten, Wahrnehmungen und Unwahrheiten voneinander zu unterscheiden, weil sich für jede Sichtweise vielfältige »Belege« finden lassen. Sofern eine Kriegsbeteiligung insgesamt bestritten wird, bedeutet dies eine Aufhebung der Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden (Koch 2016, S. 110).

Mit diesen Zuordnungen hat sich der Begriff »hybrider Krieg« von den ersten, eingangs beschriebenen Definitionsversuchen doch ein Stück weit entfernt. Nicht die Vermischung regulärer und irregulärer Kriegführung macht hier den eigentlichen Charakter des Hybriden aus, sondern ein Vorgehen, dass die Zuschreibung einzelner Gewalthandlungen und Beiträge zur Kriegführung eher im Unklaren lässt. Statt von hybrider ließe sich treffender von verdeckter Kriegführung sprechen. Dabei kann der Grad der Verdeckung unterschiedlich sein: Es kann jegliche Beteiligung entweder verschwiegen oder geleugnet werden. Durch das Handeln mehrerer Akteure – meist eines staatlichen und mindestens eines nichtstaatlichen – wird es schwierig, die jeweils maßgebliche Kraft zu identifizieren. Oder es kommt zum Einsatz von Truppen, der Begriff »Krieg« wird für diese Einsätze aber trotz der Verwicklung in Kampfhandlungen vermieden. Auch dadurch entsteht eine Grauzone zwischen Krieg und Frieden, wie sie für die hybride Kriegführung konstatiert wird.

Dieses Vorgehen ist allerdings nicht neu. Immer wieder gab es Interventionen, in denen eine Kriegsbeteiligung nicht offen stattfand. So unterstützten US-amerikanische Kampfflugzeuge 1954 in Guatemala und 1958 in Indonesien aufständische Truppen. Am zwischenstaatlichen Koreakrieg beteiligte sich die Sowjetunion auf Seiten Nordkoreas mit Kampfflugzeugen, die von chinesischen Stützpunkten aus eingesetzt wurden. Offiziell beteiligte sich Moskau nicht an diesem Krieg. Auch in jüngerer Zeit wurden Einsätze, wie der durch französische und britische Spezialkräfte zugunsten der libyschen Opposition 2011, nicht von vornherein offengelegt (Ehrhart 2014).

Für eine besondere Art der verdeckten Intervention steht der Einsatz von Söldnern. In Guatemala 1954 und Kuba 1961 wurden Exilkräfte bei ihren Umsturzversuchen jeweils durch Söldner unterstützt, die mit der CIA in Verbindung standen. In afrikanischen Konflikten stieß man häufig auf den Söldner Bob Denard, der bis in die 1980er Jahre mehr oder weniger offen französische Interessen vertrat. Zu überlegen ist auch, wie die Aktivitäten privater Sicherheitsfirmen, z.B. im Irakkrieg, hier zugeordnet werden können.

Eine weitere Art verdeckter Kriegsbeteiligung ist die vorgeblich neutrale Intervention zur Beendigung eines Krieges. Die USA bedienten sich dieses Szenarios 1965 in der Dominikanischen Republik und agierten dabei formal als Teil der durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) entsandten Truppen. Mitte der 1990er Jahre wurde die von der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS entsandte Eingreiftruppe ein Akteur im Bürgerkrieg in Liberia, als sie unter nigerianischer Führung vor allem gegen die Rebellen unter Charles Taylor vorging. Auch Russland engagierte sich in mehreren derartigen Interventionstruppen. Zur Überwachung von Waffenstillständen wurden Einheiten unter dem Dach der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in verschiedene Nachfolgestaaten der Sowjet­union entsandt, u.a. nach Moldawien und Georgien. De facto unterstützten diese von Russland dominierten Truppen jedoch jeweils eine der Konfliktparteien. 2008 führte dies im Falle der Region Südossetien zum offenen Krieg zwischen Georgien und Russland.

Weiterhin gibt es zahlreiche Beispiel innerstaatlicher Kriege, in denen die staatliche Seite mehr oder weniger eng mit nichtstaatlichen Akteuren zusammenarbeitet. In diesen Fällen können insbesondere Kriegsverbrechen und grobe Menschenrechtsverstöße vom Staat geleugnet bzw. ihrem nicht immer kontrollierbaren Verbündeten zugeschrieben werden. Bekannte Beispiele hierfür sind die paramilitärischen »Selbstverteidigungsgruppen«, die in Kolumbien bei der Bekämpfung der verschiedenen linksgerichteten Rebellengruppen mitwirkten, sowie die so genannten Dschandschawid-Milizen, die im sudanesischen Darfurkrieg zum Einsatz kamen.

Eine letzte Form verdeckter Kriegführung ist die Beteiligung an Kriegen, die von den betreffenden Staaten nicht als Krieg deklariert werden. Zu erinnern ist hier an die Debatte in Deutschland, ob die Bundeswehr in Afghanistan an einem Krieg beteiligt ist. Dabei wurde offiziell lange die Interpretation als Nachkriegs- und Stabilisierungsmission im Rahmen der ISAF aufrechterhalten, obwohl nach der Reorganisation der Taliban bereits ab 2003 wieder ein offener Krieg zu beobachten war. Es handelt sich aber nicht nur um ein deutsches Phänomen: Als der französische Präsident nach den IS-Anschlägen in Paris am 13.11.2015 diese als »Kriegserklärung« bezeichnete, stellte sich durchaus die Frage, wie die in den Monaten zuvor im Irak und Syrien geführten französischen Luftangriffe gegen den IS im offiziellen Sprachgebrauch bezeichnet wurden.

Fazit: ein unklarer Begriff für vielfältige Phänomen

So vielfältig die Bedrohungsszenarien hybrider Kriegführung, so vielfältig sind die Phänomene, die als hybride Kriege bezeichnet werden können. Die Mischung konventioneller und unkonventioneller Arten der Kriegführung dürfte historischen Untersuchungen zufolge wohl eher die Regel als die Ausnahme im Kriegsgeschehen darstellen. Auch die Mischung des Einsatzes von militärischen und zivilen Mitteln, wie Diplomatie, Propaganda/Information/Desinformation, Spionage oder Wirtschaftssanktionen, kennzeichnen eher Kriege im Allgemeinen als hybride Kriege im Besonderen. Ob die Nutzung des Internets oder des Cyberraums einen neuen Kriegsbegriff erforderlich macht, kann an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise diskutiert werden, zumal auch der Begriff des Cyberwar eher umstritten ist (Rid 2018). Auch die Verdeckung von Verantwortlichkeiten im Kriegsgeschehen – bis hin zur Infragestellung des Kriegszustandes selbst – sind weder neue Phänomene noch wird durch sie ein neuer Begriff zu begründen sein.

Anmerkungen

1) Nemeth nimmt dabei aber an keiner Stelle in Anspruch, diesen Begriff erfunden zu haben. Er ordnet ihn in eine seit den 1980er Jahren geführte Debatte um die Kriegführung der 4. Generation (Fourth Generation Warfare) innerhalb des US-Militärs ein (S. 3) und bezeichnet hybride Kriegführung ohne weitere Erläuterung als zeitgenössische Form der Guerilla-Kriegführung (S. 29).

2) Im Gegensatz zu Nemeth war Hoffman bestrebt, hybride Kriegführung in Abgrenzung von anderen militärischen Begrifflichkeiten, wie Forth Generation Warfare, als eigenständiges Konzept zu definieren (Hoffman 2007, S. 18-23).

Literatur:

Asmussen, J.; Hansen, S.; Meiser, J. (2015): Hybride Kriegsführung – eine neue Herausforderung? Kiel: Universität Kiel, Institut für Sicherheitspolitik, Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 43.

Bilban, C.; Grininger, H.; Steppan, C. (2019): Gerasimov – Ikone einer tief verwurzelten Denktradition. In: Bilban, C.; Grininger, H. (Hrsg.): Mythos »Gerasimov-Doktrin« – Ansichten des russischen Militärs oder Grundlage hybrider Kriegsführung? Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 15-55.

Dengg, A.; Schurian, M. (2015): Zum Begriff der Hybriden Bedrohungen. In: dies. (Hrsg.): Vernetzte Unsicherheit – Hybride Bedrohungen im 21. Jahrhundert. Wien: Landesverteidigungsakademie, S. 23-75.

Erhart, H.-G. (2014): Russlands unkonventioneller Krieg in der Ukraine – Zum Wandel kollektiver Gewalt. Aus Politik und Zeitgeschichte, 11.11.2014.

Erhart, H.-G. (2016): Postmoderne Kriegführung – In der Grauzone zwischen Begrenzung und Entgrenzung kollektiver Gewalt. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 97-103.

Hoffman, F.G. (2007): Conflict in the 21st Century – The Rise of Hybrid Wars, Arlington: Potomac Institute for Policy Studies.

Koch, B. (2016): Tertium datur – Neue Konfliktformen wie sogenannte »hybride Kriege« bringen alte Legitimationsmuster unter Druck. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 109-113.

Murray, W.; Mansoor, P.R. (2012) (eds.): Hybrid Warfare – Fighting Complex Opponents from the Ancient World to the Present. Cambridge: Cambridge University Press.

Nemeth, W.J. (2002): Future War and Chechnya – A Case for Hybrid Warfare. Monterey: Naval Postgraduate School.

Rid, Thomas (2018): Mythos Cyberwar – Über digitale Spionage, Sabotage und andere Gefahren. Hamburg: Edition Koerber.

Schmid, J. (2016): Hybride Kriegführung und das »Center of Gravity« der Entscheidung. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 114-120.

Wassermann, F. (2016): Chimäre statt Chamäleon – Probleme der begrifflichen Zähmung des hybriden Krieges. Sicherheit und Frieden, Vol. 34, Nr. 2, S. 104-108

Wolfgang Schreiber, geb. 1961, ist Dipl.-Mathematiker, Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.

Hybrider Krieg


Hybrider Krieg

Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts

von Ina Kraft

Dieser Beitrag befasst sich mit der Verwendung des Konzepts des hybriden Krieges in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte. Er kommt zu dem Ergebnis, dass politische Akteure das noch immer vage Konzept nutzen, um konkrete Vorhaben der Bundeswehr sowie Änderungen in der sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung zu legitimieren.

Hybride Kriegführung steht im Fokus einer Reihe von allgemeinen Abhandlungen sowie konkreten militärtheoretischen Ansätzen in den beiden letzten Jahrzehnten, wie beispielsweise »cyberwar« (Arquilla und Ronfeldt), »new wars« (Kaldor) oder »asymmetric war« (Thornton). In den USA erlangt das Konzept der Hybriden Kriegführung durch die Veröffentlichungen von Frank G. Hoffman ab 2006 Aufmerksamkeit in akademischen und militärstrategischen Fachdebatten (Hoffmann 2007). In der US-amerikanischen Debatte wird »hybrid war« bis 2010 theoretisch als eine neue Art des Krieges und zumeist mit Blick auf Akteure im Nahen und Mittleren Osten (Fälle: Hisbollah, Taliban, islamistischer Terrorismus) thematisiert. Das Konzept beschreibt die Vorgehensweise zumeist nichtstaatlicher militärischer Gruppen, die sich konventioneller und irregulärer Methoden der Operationsführung bedienen, um technologisch übermächtige Gegner zu bekämpfen. Allerdings folgen in den USA zunächst keine weiteren sicherheitspolitischen Konsequenzen aus der Konzeptualisierung.

Nutzbarmachung in der deutschen Debatte

Wird das Hybridkriegskonzept in Deutschland bis 2011 im Vergleich zu den USA kaum rezipiert, erlangt es danach hohe und vor allem auch politische Aufmerksamkeit. Im September 2014 verwendet Bundesverteidigungsministerin von der Leyen den Begriff in einer Plenardebatte im Deutschen Bundestag. Der damalige Bundesaußenminister Steinmeier erwähnt den Terminus in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2015. Sicherheitspolitische Berater*innen benutzen den Begriff ebenso wie Referent*innen im Bundesverteidigungsministerium und Journalist*innen.

Auch in dem im Juli 2016 veröffentlichten »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« ist der Begriff prominent vertreten. Im Vorwort weist die Bundesministerin der Verteidigung auf die hybride Kriegführung als eine der gegenwärtigen Herausforderungen hin, die eine Ausstattung der Bundeswehr mit bestem Material und eine nachhaltige Finanzierung notwendig mache. Dabei tritt eine deutliche Bedeutungsverschiebung zum ursprünglich durch Hoffman formulierten Konzept zutage. Durch die Nennung von Cyberangriffen und Propaganda sowie der verdeckten Beteiligung von Soldat*innen als Merkmal einer hybriden Kriegführung ist das Konzept im deutschen sicherheitspolitischen Verständnis stark auf den Fall Russland/Ukraine zugeschnitten.

Auch in der NATO und in der EU ist das Thema hybride Bedrohungen präsent. Wenige Monate nach den russischen Handlungen in der Ukraine im Juni 2014 erklären die Staats- und Regierungschefs auf dem Treffen des Nordatlantikrats in Wales, sie würden sicherstellen, „dass die NATO in der Lage ist, effektiv den besonderen Herausforderungen einer Bedrohung durch einen Hybridkrieg zu begegnen“. Im Dezember 2015 verabschiedet das Bündnis die »Strategy on NATO‘s role in countering hybrid warfare«. Im April 2016 zieht die EU mit dem »Gemeinsamen Rahmen für die Abwehr hybrider Bedrohungen« nach. Darin wird unter anderem die Einrichtung einer »Hybrid Fusion Cell« im EU Intelligence Analysis Centre beim Europäischen Auswärtigen Dienst vorgeschlagen. Auch in der NATO werden institutionelle Strukturen geschaffen: Im April 2017 legt sie mit der Gründung des European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats institutionelle Strukturen fest.

Politische Funktionen des Konzepts

In der deutschen Debatte sind nicht nur ein deutlicher Zeitverzug in der Adaption des Konzepts sowie eine Bedeutungsverschiebung auszumachen. Es finden sich auch kaum Bezüge zu irregulären Gegner*innen und deren (auch konventionellen) Taktiken, wie sie in der US-amerikanischen Debatte konzipiert werden. Stattdessen bezieht sich der Begriff fast ausschließlich auf die teils irregulären Taktiken des staatlichen Akteurs Russland. So thematisieren die deutschen Beiträge verstärkt Propaganda, die Zerstörung Kritischer Infrastrukturen sowie Handlungen im so genannten Informationsraum als Elemente hybrider Kriegführung. Die verspätete Rezeption und der Bedeutungswandel deuten darauf hin, dass in der deutschen Debatte das US-amerikanische Hybridkriegskonzept benutzt wurde, um den Ereignissen, die sich 2014 in der Ukraine abspielten, einen Namen zu geben. So wird einerseits das Konzept in seiner Bedeutungszuschreibung verändert, andererseits aber das konfliktträchtige Verhalten Russlands zum Beispiel in Syrien nicht mit dem Konzept gefasst.

Diese Nutzung bereits vorhandener Lösungen (hier: das Konzept Hybride Kriegführung) für neu auftretende Probleme (hier: Benennung des Verhaltens Russlands in der Ukraine) ist ein Phänomen, das bei kollektiven Entscheidungen auftritt und bereits in den 1970er Jahren unter dem Schlagwort »garbage can theory« in den Sozialwissenschaften diskutiert wird. Mit Blick auf dessen Konjunktur und Dynamik scheint das 2006 entwickelte Hybridkriegskonzept eine ebensolche Lösung zu sein, die 2014 schließlich ein Problem fand. Im Besonderen erfüllt das Konzept drei Funktionen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs: Komplexitätsreduktion durch Vereinfachung und Interpretation, Generierung von Aufmerksamkeit sowie Inanspruchnahme von Legitimität für eigene Anliegen.

Vereinfachung und Interpretation

Begriffe und Konzepte reduzieren komplexe Realitäten. Das komplexe Verhalten Russlands wird mit dem Begriff »Hybrider Krieg« beschrieben. Das erlaubt eine effektivere sicherheitspolitische Kommunikation, hat aber auch den Effekt, dass der Begriff durch die Diskursteilnehmer*innen bald selbst als Realität begriffen wird. Begriffsbildung und -verwendung ist soziales Handeln, bei dem die Sozialisation der Handelnden ebenso wie ihre Interessen eine entscheidende Rolle spielen. Komplexitätsreduktion ist also kein wertfreies rationales Produkt und hybride Kriegführung daher auch keine bloße wertneutrale Vereinfachung. In seiner inhärenten Interpretation der Realität spiegelt der Begriff bereits die Interessen und die Sozialisation der Teilnehmer*innen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs wider.

Aufmerksamkeit

Die Verwendung des Hybridkriegsbegriffes schafft zudem in einem selbstverstärkenden Prozess Aufmerksamkeit. Je häufiger der Begriff diskutiert wird, umso attraktiver scheint es für Diskursteilnehmer*innen, selbst zu dem Konzept beizutragen. Damit leisten sie der Popularität des Begriffs weiteren Vorschub. Eine Analyse von Artikeln der sicherheitspolitischen Fachzeitschrift »Europäische Sicherheit und Technik« zeigt, dass viele Autoren hybride Kriegführung im ersten Absatz nennen, ohne jedoch im weiteren Verlauf auf den Begriff oder seine Bedeutung einzugehen. Hybride Kriegführung wird hier vergleichbar mit der Nennung von bekannten Persönlichkeiten in Texten (name dropping) verwendet, um Aufmerksamkeit zu generieren und um die Anschlussfähigkeit des Beitrags zum aktuellen Hybridkriegsdiskurs zu signalisieren. Die Kenntnis des Konzepts signalisiert darüber hinaus die Zugehörigkeit des Autors oder der Autorin zum sicherheitspolitischen Expert*innen- und damit auch zum Elitenkreis.

Legitimierung von Vorhaben der Bundeswehr

Die Generierung von Aufmerksamkeit hat zum Ziel, die Diskursteilnehmer*innen für ein Thema zu interessieren. Die Generierung von Legitimität verfolgt darüber hinaus die Absicht, die eigene Position angemessen erscheinen zu lassen. Legitimität soll hier nicht konstitutionell-normativ, sondern vielmehr soziologisch verstanden sein. Aus dieser Perspektive müssen soziale Akteure nicht bloß materielle Ressourcen generieren, um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern. Sie müssen gleichsam Erwartungen erfüllen, die von anderen Akteuren an sie herangetragen werden. Denn nur legitim(iert)e Forderungen können zur Mobilisierung institutioneller und budgetärer Ressourcen eingesetzt werden. Beispiele für die Doppelanforderungen von Effizienz und Angemessenheit sind gerade im Kontext der Sicherheitspolitik mannigfaltig – man denke an die taktische Effizienz des Einsatzes von bewaffneten Drohnen auf der einen und dessen rechtliche und ethische Grenzen auf der anderen Seite.

Die Nutzung des Hybridkriegsbegriffs in der deutschen sicherheitspolitischen Debatte dient aus dieser Perspektive dem Ziel, politische Forderungen zu legitimieren. Der durch Komplexitätsreduzierung und eine hohe Aufmerksamkeit institutionalisierte Mythos der hybriden Kriegführung wirkt dabei auf zwei Arten: Zum einen wird der Begriff des Hybridkriegs genutzt, um eigene Anliegen zu rechtfertigen, die jedoch kaum in den Definitionsrahmen für hybride Kriegführung oder deren Gegenmaßnahmen fallen. So argumentiert zum Beispiel der damalige Amtschef des Amts für Heeresentwicklung mit dem Phänomen der hybriden Bedrohungen, um für eine veränderte Heeresstruktur zu werben (Köpke 2015, S. 28). Über die bloße Nennung hinaus wird hierbei ein begründeter Zusammenhang zwischen Forderung und Hybridkriegskonzept allerdings nicht aufgezeigt. Der Inspekteur der Luftwaffe, General Karl Müllner, argumentiert in ähnlicher Weise für eine Ausstattung der Luftwaffe mit Drohnen (Müllner 2015). Nun ist der Bedarf der Teilstreitkräfte nach mehr Mobilität oder modernem Gerät keine direkte Folge der hybriden Bedrohungen. Dennoch werden sie in der Argumentation genutzt, um den »ewigen« Forderungen der Teilstreitkräfte nach mehr Ressourcen Nachdruck zu verleihen.

Legitimierung erweiterter Einflusssphären

Darüber hinaus dient das Konzept auch als Begründung für mögliche sicherheitspolitische Maßnahmen, die Einflusssphären sicherheitspolitischer Akteure in gesellschaftliche Räume hinein erweitern oder sicherheitspolitische Entscheidungen erleichtern. In der deutschen sicherheitspolitischen Debatte werden mit Blick auf hybride Bedrohungen folgende Maßnahmen diskutiert: erstens, eine stärkere sicherheitspolitische Kooperation und Vernetzung. Diese betrifft einerseits die ressortübergreifende Arbeit auf der nationalen Ebene (Alamir 2015). Andererseits sollen der Informationsaustausch sowie abgestimmte Vorgehensweisen auch zwischen NATO und EU vereinfacht werden (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 69-70). Im Zusammenhang mit dem Hybridkriegskonzept hat, zweitens, der Begriff der gesamtstaatlichen Resilienz als Gegenstrategie ebenfalls Prominenz erlangt (ebenda, S. 49). Resilienz bezeichnet die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft. Im Weißbuch 2016 erlangt der Begriff eine große Bedeutung für die Abwendung hybrider Bedrohungen: „Erfolgreiche Prävention gegen hybride Gefährdungen erfordert staatliche und gesamtgesellschaftliche Resilienz – und damit umfassende Verteidigungsfähigkeit.“ (ebenda, S. 39) In der sicherheitspolitischen Debatte werden Resilienz-Maßnahmen in den Bereichen Energiesicherheit, Bildung, Handel und Wirtschaft, öffentliche Meinung und Kommunikation diskutiert.

Legitimierung der Änderung politischer Konstanten

Es gibt eine Reihe von Debattenbeiträgen, die die Angemessenheit der derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund hybrider Bedrohungen hinterfragen. Da geht es um die Vereinfachung sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, aber auch um die Frage, ob die in Deutschland verfassungsrechtlich verankerte Trennung von innerer und äußerer Sicherheit aufrechterhalten werden sollte (Deutsche Bundesregierung 2016; Deutscher Bundestag 2016).

Es finden sich in der Debatte auch Hinweise auf mögliche Implikationen hybrider Kriegführung für das internationale Völkerrecht. So heißt es im Weißbuch 2016: „Das Merkmal hybrider Kriegführung, die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden, stellt […] besondere Herausforderungen an die Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des NATO-Vertrags.“ (Deutsche Bundesregierung 2016, S. 65) Das wurde zuvor bereits im Zusammenhang mit dem vermuteten russischen Cyberangriff auf Estland 2007 diskutiert. Bisher allerdings herrschte unter den NATO-Staaten Zurückhaltung, Cyberangriffe als Angriff im Sinne des Völkerrechts zu werten. Auch auf EU-Ebene wird diskutiert, ob bei einem hybriden Angriff die Solidaritätsklausel nach Art. 222 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder sogar die Beistandspflicht des Art. 42 des Vertrags über die Europäische Union greife (Europäische Kommission 2016, S. 19).

Resümierend ist festzuhalten, dass im Zusammenhang mit oder mit Verweis auf hybride Bedrohungen im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs eine Ausweitung der sicherheitspolitischen Kooperation und Kompetenzen von NATO und EU debattiert wird. Außerdem wird in diesem Kontext die Ausweitung staatlicher Ordnungsfunktionen zur Herstellung einer gesellschaftlichen Resilienz sowie die stärkere Zusammenarbeit staatlicher Institutionen diskutiert. Darüber hinaus werden in der Debatte etablierte rechtliche Charakteristika deutscher Sicherheitspolitik mit einem Fragezeichen versehen: die Regeln sicherheitspolitischer Entscheidungsfindung, die Trennung innerer von äußerer Sicherheit sowie die völkerrechtlichen Bewertungen eines Angriffs. Das Hybridkriegskonzept dient hierbei als Legitimation für die Vorschläge jener Maßnahmen.

Neue Begründungslogik für Verteidigung

Die Verwendung des Hybridkriegskonzepts im sicherheitspolitischen Diskurs dient möglicherweise der Versicherheitlichung gesellschaftlicher Bereiche (Buzan et al. 1998). Die Interpretation, Kommunikation und gesellschaftlich geteilte Wahrnehmung hybrider Bedrohungen als existenzielle Gefährdungen könnte demnach ganz real dazu führen, dass sicherheitspolitischen Akteuren mehr Handlungsmöglichkeiten zugesprochen werden. Ein Konzept entfaltet so reale Wirkung.

Mit Blick auf den strategischen Diskurs kann zudem konstatiert werden, dass die Konzentration auf hybride Kriegführung in der deutschen und trans­atlantischen Verteidigungsplanung einen Wandel in der Begründungslogik verteidigungspolitischer Grundpositionen darstellt. War die Verteidigungsplanung zu Zeiten des Ost-West-Konflikts von einem bedrohungsbasierten Ansatz (threat-based approach) geprägt, wurde dieser mit dem Wegfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes als Gegner von einem fähigkeitsbasierten Ansatz (capabilities-based approach) abgelöst. Dieser richtet Streitkräfte nicht mehr nach einem konkreten Bedrohungssze­nario aus, sondern in Bezug auf die operativen Fähigkeiten, die in zukünftigen Einsätzen am wahrscheinlichsten gebraucht werden.

Mit dem Hybridkriegskonzept tritt nun nach der bedrohungsbasierten und der fähigkeitsbasierten eine phänomenbasierte Begründung für die Verteidigungsplanung auf. Diese fokussiert argumentativ weder auf einen konkreten Gegner noch auf die Wahl der Mittel, sondern auf die Art der Bedrohung, auf das Phänomen.

Dieser Wandel mag verschiedene Gründe haben. Zum einen gilt nach den Erfahrungen der USA und der NATO in den Kriegen im Irak und in Afghanistan der fähigkeitsbasierte Ansatz als gescheitert, da Gegner Wege finden, westlichen Truppen trotz deren überlegener Militärtechnik empfindliche Verluste zuzufügen. Ein weiterer möglicher Grund, gerade in Deutschland, ist die rhetorische Ausweichbewegung, die der Begriff hybride Kriegführung erlaubt: Der Hybridkriegsbegriff ermöglicht es – anders als ein bedrohungsbasierter Ansatz, der Russland direkt nennt –, sicherheitspolitische Maßnahmen gegen befürchtete russische Handlungen zu ergreifen und zugleich Dialog- und Kooperationsbereitschaft zu signalisieren.

Letztlich ist auch denkbar, dass eine phänomenbasierte statt einer konkret bedrohungsbasierten Begründung eine gewollte Ambiguität darstellt, denn trotz seiner beeindruckenden politischen Karriere verbleibt der Begriff des hybri­den Krieges noch immer im Vagen. So antwortet die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag: „Auch wenn die Begriffe »hybride Kriegführung«, »hybride Konflikte« und »hybride Bedrohungen« seit mehreren Jahren Teil des sicherheitspolitischen Diskurses sind, entziehen sich diese Begriffe einfachen und abschließenden Definitionen.“ (Deutscher Bundestag 2016) Diese »semantische Ratlosigkeit« mag im allgemeinen Diskurs, bei dem die Teilnehmer*innen schon wissen werden, was gemeint ist, hinnehmbar sein. Diese Ambiguität, die im Übrigen auch bei dem Begriff der Resilienz zutage tritt, muss vor dem Hintergrund sehr realer sicherheitspolitischer Maßnahmen, die derzeit diskutiert werden, jedoch kritisch betrachtet werden.

Literatur

Alamir, F.M. (2015): »Hybride Kriegführung« – ein möglicher Trigger für Vernetzungsfortschritte? Ethik und Militär – Kontroversen der Militärethik & Sicherheitskultur 2/2015, S. 3-7.

Buzan, B.; Waever, O.; de Wilde, J. (1998): Secur­ity – A new framework for analysis. Boulder, London: Lynne Rienner.

Deutsche Bundesregierung (2016): Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Bonn, Berlin: BMVg.

Deutscher Bundestag (2016): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Einsatzmöglichkeiten von Militär und Geheimdiensten gegen sogenannte hybride Bedrohungen. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8631 vom 1.6.2016.

Europäische Kommission (2016): Gemeinsamer Rahmen für die Abwehr Hybrider Bedrohungen. Europäische Kommission, Drucksache Join(2016) 18 vom 6.4.2016.

Hoffman, F. G. (2007): Conflict in the 21st century – The rise of hybrid wars. Arlington: Potomac Institute for Policy Studies.

Köpke, W. (2015): Heeresentwicklung – Ganzheitlich, systembasiert und zukunftsorientiert. Europäische Sicherheit und Technik 4/2015, S. 26-30.

Müllner, K. (2015): Luftwaffe – auf klarem Kurs. Europäische Sicherheit und Technik 6/2015, S. 32-36.

Ina Kraft ist Wissenschaftlerin am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autorin wieder.

Bei diesem Text handelt sich um eine gekürzte und leicht bearbeitete Fassung des folgenden Beitrags: Kraft, Ina (2018): Hybrider Krieg – Zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Vol. 11, Nr. 3, S. 305-23.

Wie hybrid ist Europa?

Wie hybrid ist Europa?

von Jürgen Scheffran

Die knappe Wahl der früheren deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission war ein Signal für die militärische Ausrichtung Europas. Vergessen sind die Skandale wegen überteuerter Beraterverträge oder dysfunktionaler Rüstungsprojekte. Für die europäischen Staatschefs war dies kein Hindernis, und Europas Rüstungslobby sah die Chance, die militärische Zusammenarbeit in der Europäischen Verteidigungsunion voranzutreiben. Die neue deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer versucht, den militärischen Fußabdruck ihrer
Vorgängerin noch auszuweiten, indem sie eine erhebliche Steigerung des Rüstungsetats forciert. Nachdem bereits ein Anstieg von 32,4 Mrd. € 2014 auf knapp 43 Mrd. € 2019 erfolgte, fordert sie nicht nur den Zuwachs auf 1,5 % des Bruttosozialprodukts (ca. 60 Mrd. € bis 2024), sondern eine weitere Zunahme auf das 2 %-Ziel der NATO, was mehr als 80 Mrd. € jährlich entspricht, mehr als Russland für Militär ausgibt.

Ein starker Mittelzuwachs führt nicht zu mehr Effizienz und Funktionsfähigkeit, eher zu Verschwendung, Schlampigkeit und Bestechung. Sicher mangelt es nicht an Ideen für milliardenschwere Rüstungsprojekte, wie das Mehrzweckkampfschiff MKS180 oder das Taktische Luftverteidigungssystem. Weiter gibt es Vorschläge für ein deutsch-französisches Kampfflugzeug (Future Combat Air System) nebst einem Flugzeugträger. Dass die Kosten hier leicht hundert Mrd. € überschreiten können ist absehbar, ebenso weitere Rüstungsexporte in die Krisenherde der Welt. Die USA sind trotz enormer Rüstungsausgaben
nicht in der Lage, diese Krisenherde zu befrieden. Die Militärinterventionen vom Irak über Kosovo bis nach Afghanistan haben gezeigt, dass Hightech-Kriege die Probleme nicht lösen, im Gegenteil. In den Konflikten in Syrien, Jemen, Nordkorea, der Ukraine, mit dem Iran oder in Afrika hat den USA ihre militärische Dominanz nicht viel genutzt. Es wird nicht besser, wenn die EU dies dupliziert.

Da kommen die »hybriden Kriege« gerade recht – so bezeichnen Militärs die Verschmelzung ziviler und militärischer Kampfformen in der Grauzone zwischen Krieg und Frieden. Der Ukraine-Konflikt wurde zum Brandbeschleuniger für die hybride Kriegführung, wobei Russland vor allem Mittel einsetzte, die die USA schon lange verwenden. Dies reicht von der Beeinflussung der Bevölkerung durch Radio Free Europe im Kalten Krieg über die Unterstützung von Contragruppen in Lateinamerika bis zum Einsatz irregulärer Spezialkräfte und Informationskriege in jüngeren Krisen (auch in der Ukraine). Neben
USA und Russland haben auch China und andere Mächte ihr hybrides Repertoire erweitert, das Drohnenangriffe, Cyberkriege, Attacken auf zivile Infrastrukturen ebenso umfasst wie Meinungsmache durch Fake News und Hate Speech in sozialen Medien, oder die Unterstützung von Oppositionsgruppen.

Der Westen erlebt, dass die mit der Globalisierung verbreiteten Mittel und Technologien auf ihn zurückfallen und dabei die Verwundbarkeit der Industrie- und Kommunikationsgesellschaft offenkundig wird. Fast scheint es, als rüste der Westen sich für eine durch Chinas Seidenstraßen und Landinvestitionen zunehmend vernetzte Welt, in der er nur noch knapp ein Zehntel der Weltbevölkerung ausmacht. EU und NATO bauen ihre Zusammenarbeit gegen hybride Bedrohungen aus. In Finnland gibt es ein EU-NATO-Exzellenz-Zentrum zur Abwehr hybrider Bedrohungen. Auch die Hybridisierung der Bundeswehr schreitet
voran, z.B. durch die Zusammenarbeit mit Privatfirmen, Übungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen oder beim Umgang mit Migration. Angesichts der Vielfalt und Beliebigkeit hybrider Kriege scheinen Strategieplaner ein Thema gefunden zu habe, das dem zivil-militärischen gesellschaftlich-industriellen Komplex eine dauerhafte Förderung garantiert. Eine so legitimierte Bundeswehr kann auch im zivilen Raum präsentiert werden, in öffentlichen Gelöbnissen, zur Terrorabwehr, zur Verteidigung digitaler Mobilfunknetze oder zum Schutz europäischer Handelswege im Persischen Golf.

So wird es möglich, hybride Kriege ohne räumliche und zeitliche Begrenzung, mit allen Mitteln und gegen jede(n) zu führen. Alle könnten potentielle »Täter« und »Opfer« werden und die ganze Gesellschaft zum Schlachtfeld vernetzter Kriege. Statt reguläre Kriege zurückzudrängen, könnten hybride Kriege zum Türöffner werden für eine neue Gewaltspirale. Hier zeigt sich der Januskopf eines permanenten und totalen »Krieges aller gegen alle« (frei nach Hobbes), der selbst Clausewitz überrascht hätte.

Dabei sind Auswege eines vernetzten Friedens erkennbar, bedürfen aber der Mobilisierung. Während die Regierung danach strebt, das 1,5- bzw. 2 %-Ziel zu erreichen, droht sie die Klimaziele von 1,5 bis 2 Grad zu verpassen, wie »­Fridays for Future« deutlich macht. Mit den enormen Rüstungsausgauben fehlen Mittel für die Klimawende. So werden in doppelter Weise Krisen angeheizt: Klimawandel und andere globale Probleme erzeugen weltweit neue Konfliktherde, während mit der Aufrüstung noch Öl ins Feuer gegossen wird. Ein Europa des Friedens könnte dem entgegenwirken.

Ihr Jürgen Scheffran

NATO-Russland-Beziehungen


NATO-Russland-Beziehungen

Wege aus der Konfrontation?

von Nadja Douglas

Vieles deutet daraufhin, dass die baltische Region einschließlich des angrenzenden Ostseeraumes in den kommenden Jahren entscheidend sein wird für die Beziehungen zwischen Ost und West. Wie in einem Brennglas zeigt sich, dass sowohl die NATO als auch Russland im Begriff sind, hier enormes Vertrauen zu verspielen, das an anderer Stelle gerade wieder aufgebaut werden soll. In den NATO-Russland-Beziehungen geht es heute mehr denn je um die gegenseitige Wahrnehmung und die Interpretation von Handlungsabsichten. Das Potenzial für Fehleinschätzungen ist immens.

Realistische Erklärungsansätze in den internationalen Beziehungen haben vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Zustands der Konfrontation wieder Konjunktur. Dies manifestiert sich besonders in der baltischen Region, wo sich zwei hochgerüstete Militärbündnisse gegenüberstehen: die transatlantische Militärallianz NATO auf der einen sowie Russland und seine Verbündeten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit1 auf der anderen Seite. Für die beteiligten Staaten gibt es aus spieltheoretischer Sicht nur zwei Optionen: Aufrüsten oder Abrüsten. Momentan stehen die Zeichen auf Aufrüsten. Die als defensiv charakterisierten Aktionen der einen Seite werden von der anderen Seite als offensiv interpretiert und ebenso beantwortet.

Zu keiner Zeit in der Geschichte der Ost-West-Beziehungen wurde so wenig miteinander geredet wie heute. Freilich stehen sich heute keine Panzerarmeen mehr gegenüber, und militärische Übungen, obwohl auf beiden Seiten in der letzten Zeit ausgeweitet, erreichen nicht die damaligen Dimensionen. Da Russland sich heute nicht mehr als Teil einer von der NATO dominierten europäischen Sicherheitsordnung fühlt, sieht es sich auch nicht mehr an aus russischer Sicht überkommene Abkommen gebunden. Moskau plant vorrangig, die 2008 begonnene Modernisierung der Streitkräfte bis 2020 abzuschließen, bevor es aus einer Position der Stärke heraus bereit ist für neue Gespräche. Die Trump-Administration zeigt ebenfalls wenig Interesse: Anstatt neue Akzente zu setzen, fordert sie von Russland weiterhin vor allem die Einhaltung bestehender Rüstungskontrollverpflichtungen. Die Europäische Union wiederum ist gespalten. Während die einen an bestehenden Abkommen und Prinzipien festhalten (Stichworte Charta von Paris, Budapester Memorandum, NATO-Russland-Grundakte etc.), sind andere der Auffassung, dass diese Abkommen aufgrund der veränderten Sicherheitslage und Russlands Bilanz an Verfehlungen in den letzten Jahren hinfällig seien.2

Im Hinblick auf atomare Fähigkeiten kündigten jüngst zunächst die USA und dann Russland an, die Beteiligung am INF-Vertrag über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen auszusetzen. Die NATO-Mitgliedsstaaten hatten Russland erstmals geschlossen vorgeworfen, mit seinen neuen Marschflugkörpern3 gegen die Vorgaben des Vertrags zu verstoßen, was Russland zurückweist.4 Es gilt eine sechsmonatige Kündigungsfrist, und insbesondere deutsche Politiker setzen nun alles daran, das Abkommen noch zu retten.5 Es ist unstrittig, dass schon seit vielen Jahren gegenseitige Kontrollen fehlen und somit in der Vergangenheit die Vertragstreue keiner Seite vollständig verifiziert werden konnte. Ob dies nun gelingt, erscheint mehr als fraglich.

Bestandsaufnahme bestehender Verhandlungsformate

Sämtliche Verhandlungen, die Rüstungskontrolle bzw. militärische Transparenz (von Abrüstung spricht man schon lange nicht mehr) in Europa betreffen, verzeichnen seit längerer Zeit keinen Fortschritt bzw. wurden gänzlich aufgegeben. Während an der einen Stelle durch Militärstrategen sowie öffentliches verbales Aufrüsten Vertrauen zerstört wird, soll es an anderer Stelle in den noch bestehenden Verhandlungsformaten zwischen NATO und Russland bzw. unter der Ägide der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wieder aufgebaut werden.

Obwohl der NATO-Russland-Rat nach wie vor existiert, ist die Bilanz dieses seit 2002 existierenden Konsultationsgremiums, das im Sinne der NATO-Russland-Grundakte von 1997 eine zentrale Rolle in den NATO-Russland-Beziehungen spielen soll, eher bescheiden. Ursprünglich sollte der Rat zweimal jährlich auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsminister*innen sowie monatlich auf der Ebene der Botschafter*innen bzw. Ständigen Vertreter*innen beim NATO-Rat tagen. Auch militärische Vertreter*innen sollten monatlich zusammenkommen. Die Realität zeigt hingegen, dass über die Jahre kein regelmäßiger Sitzungszyklus zustande kam. Auch hat sich der NATO-Russland-Rat nie von einem reinen Konsultationsgremium zu einem beschlussfähigen Organ entwickelt. Die Arbeit im Rat wurde darüber hinaus mehrfach über längere Zeit ausgesetzt. Zuletzt herrschte zwei Jahre lang Schweigen infolge der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim (Douglas 2017).

Diese Praxis widerspricht dem beabsichtigten Zweck des Gremiums, denn der NATO-Russland-Rat sollte „das wichtigste Forum für Konsultationen zwischen der NATO und Russland in Krisenzeiten oder in Bezug auf jede andere Situation bilden, die den Frieden und die Stabilität berührt“ (NATO 1997, Kapitel II). Das Gegenteil ist heute der Fall: Befinden sich die NATO-Russland-Beziehungen in einer Krise, wird auch die Arbeit im Rat beeinträchtigt bzw. unterbrochen. Seit 2016 kam der Rat sporadisch acht Mal zusammen. Obgleich es auf beiden Seiten vereinzelt Bemühungen um einen konstruktiven Informationsaustausch gab, waren die letzten Sitzungen vor allem durch heftige Schlagabtausche und gegenseitige Vorwürfe geprägt.

Neben dem NATO-Russland-Rat gibt es derzeit nur noch ein weiteres Verhandlungsformat, in dessen Rahmen nach wie vor Wege aus der Krise der konventionellen Rüstungskontrolle gesucht sowie andere für die europäische Sicherheit relevante Fragestellungen thematisiert werden. Der von der Bundesrepublik während des OSZE-Vorsitzes 2016 initiierte »Strukturierte Dialog« ist ein informelles Dialogformat, das alle OSZE-Staaten einschließt und hochrangige Vertreter*innen aus den nationalen Außen- und Verteidigungsministerien der teilnehmenden Staaten zusammenbringt. Der Dialog versteht sich als Plattform für die Sondierung von Vorfragen im Hinblick auf mögliche neue Rüstungskontrollverhandlungen. 2018 wurden vom belgischen Dialog-Vorsitz insbesondere die Themen Bedrohungswahrnehmung und Risikominimierung auf die Agenda gesetzt. 2017 wurden Experten-Workshops zu Militärdoktrinen und militärischen Streitkräfte-Dispositiven sowie zu Übungen durchgeführt (OSCE 2018).

Das Forum dient vornehmlich der Bildung von Vertrauen, das an anderer Stelle (Rüstungsspirale in der baltischen Region) derzeit verspielt wird. Beispielhaft sollen neue Obergrenzen für Waffensysteme, Quoten für eine effektivere Beobachtung und Verifikation von militärischen Aktivitäten sowie Transparenzmaßnahmen, insbesondere in Bezug auf neue militärische Fähigkeiten und Waffengattungen, mehr Sicherheit und Stabilität schaffen. Auch Gebiete mit strittigem territorialem Status sollen nicht länger von der Rüstungskon­trolle ausgeklammert bleiben (Schmidt 2017). Bislang wurden sieben informelle Arbeitsgruppentreffen sowie drei Experten-Workshops abgehalten. Auch 2019 unter slowakischem OSZE-Vorsitz soll der Dialog fortgeführt werden. Unter anderem wird es um die Analyse von Handlungsabsichten sowie von »best practices« bei der Beantwortung von Fragebögen im Zusammenhang mit dem jährlichen militärischen Informationsaustausch gehen.

Gegenseitige Wahrnehmung und Provokation

Während für die Europäische Union und die USA die Krimannexion und die russische Intervention in der Ostukraine zu Recht eine Zäsur in den Beziehungen zu Russland darstellten, fand diese Zäsur in Russland selbst bereits Jahre zuvor statt. Nachdem »der Westen« seine damaligen Zugeständnisse nicht eingehalten hatte, eine Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen, die auf gleicher und unteilbarer Sicherheit basiert, stellte für Russland die NATO-Osterweiterung sowie die von den USA forcierte Stationierung einer Raketenabwehr in sensiblen Regionen, einen weiteren Einschnitt dar.

Auf beiden Seiten ist militärische Abschreckung wieder das Gebot der Stunde. Die transatlantische Allianz arbeitet an der Funktionalität der NATO-»Speerspitze« (Very High Readiness Joint Task Force). Man spricht davon, dass die Hauptfunktion der »Speerspitze«, neben der Rückversicherung der östlichen Bündnispartner, die einer »mobilen Stolperfalle« sei, die ein Durchmarschieren im Falle eines russischen Angriffes auf einen der östlichen Mitgliedsstaaten verhindern solle (Zapfe 2016, S. 2). Seit 2014 baut Russland ebenfalls gezielt seine militärischen Fähigkeiten im Westlichen Militärbezirk aus.6 Zudem hat Russland in Kaliningrad Radaranlagen sowie das S-400-Raketenabwehrsystem stationiert und seit spätestens 2016 Iskander-M-Kurzstreckenraketen, die auch nukleare Sprengköpfe tragen können. Immer offensichtlicher ist jedoch, dass es schwierig wird, den in der NATO-Russland-Grundakte postulierten Grundsatz der wechselseitigen Zurückhaltung einzuhalten. Aus russischer Sicht ist der NATO-Truppenaufbau an der Grenze zu Russland keine Rückversicherungsmaßnahme für die baltischen Staaten, sondern Teil einer größeren Strategie der Konfrontation. Der russische Präsident erklärte in der Vergangenheit wiederholt, dass Russland die Stationierung neuer NATO-Militärbasen und -Infrastruktur an der Grenze Russlands als direkte Bedrohung wahrnimmt und in angemessener Weise auf solche aggressiven Schritte reagieren werde (Kremlin 2018).

Auch wenn die baltische Region langfristig das größte Risiko für weitere Konfrontation birgt, gibt es weitere kritische Orte, an denen militärische Zwischenfälle provoziert werden. Der jüngste Zwischenfall in der Straße von Kertsch zeigt zum einen, dass die Ukraine im Eskalationsfall in ihren militärischen Beziehungen zu Russland ohne externe Unterstützung vollkommen unterlegen wäre. Russland auf der anderen Seite reagiert zunehmend nervös und räumt sich einseitig einen breiten Spielraum bei der Interpretation des geltenden Seerechts und der bilateralen Verträge mit der Ukraine ein. Die Ukraine wird seit 2014 als eine Art trojanisches Pferd »des Westens« gesehen. Die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Poroschenko angekündigt hatte, einen Marinestützpunkt in Berdyansk im Asowschen Meer einzurichten, beunruhigt Moskau bereits seit geraumer Zeit. Die russische Regierung befürchtet, dass an dieser Stelle in nicht allzu weiter Zukunft NATO-Schiffe patrouillieren werden (Felgenhauer 2018). Tatsächlich rief Poroschenko als Reaktion auf den Zwischenfall nicht nur das Kriegsrecht aus, sondern appellierte an sämtliche NATO-Staaten, Schiffe zur Unterstützung der Ukraine in das Asowsche Meer zu schicken. Wie Russland auf einen solch hypothetischen Fall reagieren würde, lässt sich nur erahnen.7

Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen

Die Anzahl der vorhandenen Stellschrauben zur Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen hat in den letzten vier Jahren eher ab- als zugenommen. Zu Zeiten der Blockkonfrontation dienten Rüstungskontrollverhandlungen als kleinster gemeinsamer Nenner der Vertrauensbildung. Es muss also auch heute an jenen Stellschrauben gedreht werden, die zentral sind für die sicherheitspolitische Agenda beider Seiten. Um Wege aus der Konfrontation zu finden und das Minimalziel der »friedlichen Koexistenz« aufrecht zu erhalten, bedarf es künftig vor allem mehr Empathie für die Sicherheits- und Bedrohungswahrnehmung der jeweils anderen Seite.

Im Folgenden werden exemplarisch drei Bereiche skizziert, die dringend einer konsensuellen Regelung bedürfen. Darunter fallen die Vermeidung bzw. zunächst einmal die Definition von militärischen Zwischenfällen, die Erhöhung von militärischer Transparenz und Vertrauensbildung in kritischen Regionen sowie ein Modus Vivendi und gemeinsame Regeln im Umgang mit Staaten, die derzeit zwischen den euro-atlantischen und eurasischen Sicherheits- und Wertegemeinschaften stehen.

Vermeidung von militärischen Zwischenfällen

Im gesamten euro-atlantischen Raum, aber insbesondere in und über der Ostsee, kommt es verstärkt zu gefährlichen Zwischenfällen, bei denen zivile und militärische Schiffe und Flugzeuge Russlands, von NATO-Mitgliedsstaaten und von Dritten beteiligt sind. Allein zwischen 2014 und 2015 zählte das European Leadership Network (ELN) über 60 solcher Ereignisse (Kulesa et al. 2016, S. 7). Dabei handelte es sich vornehmlich um Luftraumverletzungen sowie Nahbegegnungen zwischen amerikanischen Kriegsschiffen und russischen Kampfflugzeugen. Trotz zahlreicher bilateraler, noch zu Sowjetzeiten abgeschlossener, Abkommen zwischen Russland und einzelnen Staaten besteht ein zentrales Problem fort: das Fehlen eines allgemeingültigen Abkommens, das die Wahrscheinlichkeit solcher Zwischenfälle minimiert bzw. regelt, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, falls sie dennoch stattfinden (siehe auch Kulesa et al. 2016). Da solch ein Abkommen derzeit und in naher Zukunft nicht greifbar ist, sollten Risiken für militärische Zwischen- bzw. Unfälle, wenn schon nicht minimiert, dann zumindest definiert werden.8

Neue regional ausgerichtete vertrauens- und sicherheitsbildende Initiativen

Das Risiko von nicht intendierten Zwischenfällen bzw. Provokationen in der baltischen Region wird verschärft durch den Mangel an überprüfbarer Zurückhaltung, eingeschränkter militärischer Transparenz und die Abwesenheit von direkter militärischer Zusammenarbeit und Kontakten in der Region. All das trägt unmittelbar zu einer erhöhten Bedrohungswahrnehmung und folglich zu einem erhöhten Risiko von Fehleinschätzungen bei.

Konkrete Empfehlungen zur Deeskalation reichen von Vorschlägen über ein baltisches Sicherheitssymposium (Kulesa 2018) bis hin zu Rüstungskontrollvereinbarungen auf der sub-regionalen Ebene (Richter 2016). Tatsächlich gibt es in der baltischen Region keine rechtlich bindende Vereinbarung über eine Begrenzung der dort stationierten Streitkräfte, weder aufseiten der baltischen Staaten noch aufseiten der Russischen Föderation. Das Informations- und Verifikationsregime des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) findet hier keine Anwendung, da Russland seine Teilnahme 2015 faktisch aufgekündigt hat und die baltischen Staaten das adaptierte Regime nie ratifiziert haben. Allerdings bietet das Wiener Dokument der OSZE, das einzig verbliebene Instrument für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, unter Kapitel X, »Regionale Maßnahmen«, die Möglichkeit von gegenseitigen Verpflichtungen der militärischen Zurückhaltung (ähnlich wie jene in der NATO-Russland Grundakte). Es ermutigt teilnehmende Staaten, sich auf zusätzliche bilaterale und regionale vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu einigen, um Spannungen zu deeskalieren. Der Fokus liegt dabei gerade auf Grenzregionen (Richter 2016, S. 9-11).

Gespaltene Gesellschaften als Sicherheitsrisiko

Häufig marginalisiert in der Konfrontation zwischen NATO und Russland, aber dennoch relevant, sind diejenigen Staaten, die zwischen einer transatlantischen Orientierung und der von Russland dominierten östlichen Interessensphäre schwanken. Die so genannten »Staaten dazwischen« wurden dadurch in der Vergangenheit wiederholt zum Spielball geopolitischer Auseinandersetzungen.9 Dieses Tauziehen wirkt sich negativ auf den inneren Zusammenhalt dieser Staaten und Gesellschaften aus und macht sie anfällig für innere Unruhen und Spaltungsprozesse (Babayan 2016).

Während die Aussicht auf einen Beitritt in die NATO und/oder die Europäische Union einst Garant für Sicherheit und Wohlstand der mittel- und osteuropäischen Staaten war, ist es inzwischen eine Quelle der Instabilität für die Länder weiter im Osten (wie gerade die Beispiele Georgien 2008 und Ukraine 2014 zeigen) (Charap et al. 2018, S. 6). Das trifft im Grunde auch auf die anderen Konflikte in der Region zu: Solange es keine Einigung über die regionale Ordnung gibt, werden weder Russland noch »der Westen« in der Lage sein, diese Konflikte vernünftig zu lösen, geschweige denn werden die lokalen Akteure dies erreichen. Auch offizielle oder informelle Verhandlungen über die europäische Sicherheitsarchitektur enden meist unweigerlich in einer Sackgasse, wenn es um die Frage der regionalen Ordnung ging (die innerhalb der OSZE initiierten Korfu- und Helsinki+40-Prozesse sind dafür gute Beispiele).

Lösungsvorschläge, die derzeit diskutiert werden (siehe z.B. Charap et al. 2018), zielen nicht darauf ab, die »Staaten dazwischen« wie gehabt nach dem Vorbild der Staaten Mittel- und Osteuropas zu transformieren. Aber auch Russland soll keine uneingeschränkte Einflusssphäre gewährt werden. Weder die NATO noch Russland sollten ihre Ambitionen uneingeschränkt weiterverfolgen können, um ihre jeweiligen Bündnisse zu erweitern. Stattdessen könnte ein weiteres regionales Integrationsformat zielführend sein, das offen und anwendbar wäre für die »Staaten dazwischen«, die weder einem westlichen noch einem östlichen Bündnis angehören möchten.10 Diese Option könnte einen Rahmen bieten für eine souveräne außen- und sicherheitspolitische Orientierung dieser Staaten sowie Verhaltensregeln aufstellen, wie die NATO und Russland mit ihnen umzugehen haben.

Anmerkungen

1) Die OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) ist das von Russland geführte Militärbündnis, dem einschließlich Russland sechs postsowjetische Staaten ange­hören.

2) Zu der ersten Gruppe gehören Staaten, die sich vor allem der OSZE nach wie vor verbunden fühlen, wie die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, die Schweiz und Finnland; zu der zweiten Gruppe östliche EU-Staaten, wie Polen und die baltischen Staaten.

3) Hier geht es vor allem um den landgestützten Marschflugkörper 9M729, siehe dazu Goncharenko 2018.

4) Das russische Verteidigungsministerium und Generalstabschef Walerij Gerasimow werfen umgekehrt den Amerikanern vor, durch das in Osteuropa (Rumänien und zukünftig Polen) stationierte Aegis-Raketenabwehrsystem gegen den INF-Vertrag zu verstoßen: Dessen Abschussrampen könnten auch offensiv genutzt werden und atomar bestückte Marsch­flugkörper mittlerer Reichweite abfeuern (siehe ?????? ??????? ?? ????????? ??? ???????? ?????; interfax-russia.ru, 5.12.2018).
Siehe dazu auch Katarzyna Kubiak, NATO-Raketenabwehr – Stand und Herausforderungen, auf S. 21 dieser W&F-Ausgabe.

5) Außenpolitiker von CDU/CSU und SPD schlugen vor, Russland solle die umstrittenen Marschflugkörper so weit nach Osten verlegen, dass sie Europa nicht mehr erreichen könnten. Im Gegenzug sollen die USA ihre Raketenabwehrsysteme in Rumänien und die geplanten in Polen für russische Kontrollen öffnen (Mit diesem Vorschlag wollen deutsche Politiker den INF-Vertrag retten; welt.de, 3.2.2018).

6) Zudem führt Russland periodisch sogenannte Übungen zur Einsatzbereitschaft (snap exercises) im Westlichen Militärbezirk durch, um kurzfristig die Kampfbereitschaft zu testen (ohne 42 Tage Ankündigungsvorlauf, wie vom Wiener Dokument der OSZE über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011 vorgesehen). Allein 2017 wurden mehr als hundert solcher Übungen registriert.

7) Siehe Antwort des Pressesprechers von Präsident Wladimir Putin, Dmitrij Peskow, während einer Pressekonferenz am 29. November 2018: ?????? ???????????????? ?????? ????????? ????????? ??????? ???? ? ????; interfax-russia.ru.

8) So wird nirgendwo aufgeschlüsselt bzw. definiert, was für Ereignisse genau unter gefährliche Zwischenfälle militärischer Art“ fallen, wie sie zum Beispiel in Paragraph 17 des Wiener Dokuments Erwähnung finden. Kulesa et al. 2018 (S. 3) führen Zwischenfälle auf, wie z. B. gefährliche Verletzungen fremden Luftraums, Beinahekollisionen zwischen zivilen und militärischen Flugzeugen, Sucheinsätze von U-Booten in fremden Hoheitsgewässern, Abfangeinsätze im internationalen Luftraum u.a.

9) Die drei kaukasischen Staaten (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) sowie die Ukraine, die Republik Moldau und Belarus sind mittlerweile Teil der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union.

10) Umfragen zufolge trifft das auf die Mehrheit der Gesellschaften in Georgien, Armenien und der Republik Moldau zu. Lediglich Ukrainer und Weißrussen sprechen sich mehrheitlich für einen Anschluss an NATO respektive OVKS aus (siehe Umfragedaten von 2017 in Charap et al. 2018, S. 26).

Literatur

Babayan, N. (2016): The In-Betweeners – The ­Eastern Partnership Countries and the Russia-West Conflict. Transatlantic Academy Paper Series 4/2016.

Charap, S.; Shapiro, J.; Demus, A. (2018): Rethinking the Regional Order for Post-Soviet Europe and Eurasia. Santa Monica, CA: RAND Corporation.

Douglas, N. (2017): Ist die NATO-Russland-Grundakte noch relevant? ZOiS Spotlight 11/2017, 24.5.2017, zois-berlin.de.

Felgenhauer, P. (2018): Russia’s Attack of Ukrainian Naval Ships in Black Sea- First Shots of Possible Winter War? Eurasia Daily Monitor, Vol. 15, Nr. 168.

Goncharenko, R. (2018): Ein nicht so geheimes Geheimnis – die russische Raketen 9M729. Deutsche Welle, 5.12.2018; dw.com.

Kremlin/ Presidential Executive Office (2018): Meeting of ambassadors and permanent representatives of Russia; en.kremlin.ru, 19.7.2018.

Kulesa, L.; Frear, T.; Raynova, D. (2016): Managing Hazardous Incidents in the Euro-Atlantic Area: A New Plan of Action, European Leader­ship Network, Policy Brief, November 2016.

Kulesa, L.; Raynova, D. (2018): Russia-West Incidents in the Air and at Sea 2016-2017 – Out of the Danger Zone? European Leadership Network, Euro-Atlantic Security Report, October 2018.

Kulesa, L. (2018): Challenges and opportunities for deterrence and arms control in the Baltic Sea area. European Leadership Network, Commentary, 1 October 2018.

OSCE (2018): The OSCE Structured Dialogue. 9.10.2018; osce.org.

NATO (1997): Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation vom 27. Mai 1997.

Richter, W. (2016): Sub-regional arms control for the Baltics – What is desirable? What is feasible? Deep Cuts Working Paper, No. 8, July 2016; deepcuts.org.

Schmidt, H.-J. (2017): Hoffnungsvoller Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle? Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, PRIF Blog, 10. Juli 2017; blog.prif.org.

Zapfe, M. (2016): »Hybrid« threats and NATO’s Forward Presence – The Alliance’s Enhanced Forward Presence in the Baltics and Poland could face serious challenges in »sub-conven­tional« scenarios. Center for Security Studies at ETH Zurich, Policy Perspectives, Vol. 4, Nr. 7, September 2016.

Dr. phil. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS) in Berlin. Sie befasst sich mit sicherheitspolitischen Fragestellungen im postsowjetischen Raum sowie in ihrem derzeitigen Forschungsprojekt mit der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Machtstrukturen.

Die NATO im Norden

Die NATO im Norden

Militarisierung des Nordens und des Ostseeraums

von Agneta Norberg

Selbst in den Ländern des (Hohen) Nordens und des Ostseeraums weiß die Öffentlichkeit nicht viel über die anhaltende Militarisierung ihrer Region. Dabei ist die NATO dort immer stärker präsent, selbst in Ländern, die dem Bündnis gar nicht angehören. Die Nähe der nordischen und baltischen Staaten zu Russland und die fortgesetzten Aktivitäten, um Russland als Feindbild aufzubauen, verschaffen dem Thema eine hohe Brisanz. Die Friedensbewegung sollte sich dringend mit den Fakten beschäftigen.

Thorvald Stoltenberg – Vater des aktuellen NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg – war in den späten1980er und frühen 1990er Jahren zwei Mal norwegischer Außenminister. Vor zehn Jahren verfasste er einen Vorschlag für eine »Nordische Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik« (Stoltenberg 2009), den er den nordischen Außenministern im Februar 2009 in Oslo vorstellte. Aus seinen vielfältigen Vorabgesprächen für den Bericht ergab sich für ihn ein wichtiger Kernpunkt: „Es besteht weitgehend Übereinstimmung, dass die nordischen Länder aufgrund ihrer geographischen Nähe viele außen- und sicherheitspolitischen Interessen teilen, obgleich sie sich in ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Union und zur NATO unterscheiden.“ (ibid., S. 5)

Knapp zwei Jahre später lud der britische Premierminister David Cameron zum ersten »Nordic Baltic Summit« nach London, um ein »Bündnis der gemeinsamen Interessen« zu schmieden. Zu dem Gipfeltreffen reisten die Regierungschefs sämtlicher nordischen und baltischen Länder an: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden sowie Estland, Lettland und Litauen. Besprochen wurden vor allem die Empfehlungen in Stoltenbergs Bericht.

Seit der Annahme des Berichts haben sich die skandinavischen und baltischen Länder sowie der Ostseeraum zum Truppenübungsplatz und zum Testgelände für neue Waffenentwicklungen der NATO entwickelt. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie die Länder des Hohen Nordens damit zur »Startrampe« eines Krieges der USA und der NATO gegen Russland werden könnten.

Schweden

Schweden trat der Europäischen Union erst 1995, also nach dem Kalten Krieg, bei, gehört jedoch weiterhin nicht der NATO an und ist formell neutral. Die Realität allerdings ist deprimierend und alarmierend. Ursprünglich stark im Sinne einer Friedenspolitik engagiert, werden seit etwa zehn Jahren sowohl Süd- als auch Nordschweden als ausgedehnte Kampfübungsplätze genutzt.

Ein Beispiel ist das »North European Aerospace Test Range« (NEAT). Das Test- und Übungsgelände umfasst zwei Kerngebiete in der nordschwedischen Provinz Norbotten: Das eine, Vidsel Test Range, wird vom schwedischen Amt für Rüstung und Wehrtechnik betrieben und ermöglicht u.a. Tests von ballistischen Raketen. Das andere, Esrange Space Center, wird für zivile und militärische Höhenforschungs- und Raketentests genutzt, beherbergt aber auch etliche Satelliten-Bodenstationen. Zu Test- und Trainingszwecken können die beiden 7.200 km2 und 6.600 km2 großen Gebiete durch einen östlichen und einen westlichen »Brückenkorridor« miteinander verbunden werden. Insgesamt steht dann für Militärübungen und zur Erprobung von Waffen ein Areal von der Größe Belgiens zur Verfügung.

Im Jahr 2004 stimmte das schwedische Parlament zu, NEAT gegen Entgelt zur Nutzung durch ausländische Truppen und Rüstungsunternehmen freizugeben. Dem Gesetz lag das von dem sozialdemokratischen Berater Karl Leifland verfasste Dokument »Snö, mörker och kyla – Utländska militörövningar i Sverige« (Schnee, Dunkelheit und Kälte – Ausländische Militärmanöver in Schweden) zugrunde (Leifland 2004).

Seither haben auf dem Testgelände NEAT zahlreiche Trainings und Waffentests stattgefunden. Hier wurde z.B. die Tarnkappen-Kampfdrohne NEURON getestet, die der Erprobung unterschiedlichster Technologien dient. NEURON ist ein Gemeinschaftsprojekt der Unternehmen Alenia (Italien), Dassault Aviation (Frankreich), EADS CASA (Spanien), HAI (Griechenland), SaabAero (Schweden) und RUAG Aviation (Schweiz). Ebenfalls auf NEAT getestet wurden verschiedene Varianten der Luftabwehrrakete AMRAAM. AMRAAM steht für »Advanced Medium-Range Air-to-Air Missile« (Luft-Luft-Lenkflugkörper mittlerer Reichweite) und ist für den Abschuss von Flugzeugen, Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen ausgelegt. Die radargelenkte Waffe findet ihr Ziel auch ohne Sichtkontakt, also unabhängig von den Wetter- und Lichtverhältnissen. Sie wurde bisher an 37 Ländern verkauft, darunter Kuwait, Israel, Südkorea, aber auch Schweden (für den SAAB-39 Gripen) und Deutschland (für die F-4 Phantom II).

NEAT wird von der NATO häufig für seine »Kriegsspiele« genutzt. Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Litauen, Norwegen, die USA, das Vereinigte Königreich und andere testen hier ihre Waffen und führen große NATO-Manöver durch. Die schwedische Regierung behauptet, NEAT sei unbewohnt und eigne sich daher ideal für solche Zwecke, und ignoriert die Proteste z.B. der Samen, deren Rentiere diese Gebiete durchwandern.

Im Hohen Norden findet alle zwei Jahre das Großmanöver »Cold Response« (Kalte Antwort) statt, in das die Nicht-NATO-Mitglieder Finnland und Schweden eingebunden sind. Bis zu 16.000 Soldat*innen sind jeweils beteiligt. Der Bevölkerung in anderen Landesteilen bleibt normalerweise verborgen, dass solche Manöver stattfinden. Im Jahr 2012 allerdings kam es zu einem Unfall, als ein Transportflugzeug der norwegischen Luftwaffe auf dem Weg nach Kiruna in den Berg Kebnekaise krachte und die fünf Insassen ums Leben kamen; darüber wurde in den Medien breit berichtet.

Ein anderes regelmäßig stattfindendes Großmanöver ist »Arctic Challenge« (Arktische Herausforderung), das in den Jahren zwischen »Cold Response« durchgeführt wird. Im Juni 2015 fand das NATO-Manöver in den schwedischen Provinzen Västerbotten und Norbotten statt. Mittelpunkt des Geschehens war Kallax, der Flughafen von Luleå am nördlichen Rand des Bottnischen Meerbusens. An der Übung waren 115 Militärflugzeuge aus 13 Ländern beteiligt. Zeitweise waren bis zu 95 Maschinen gleichzeitig in der Luft, und die Übungszone erstreckte sich über eine Fläche von der Größe Deutschlands. An dem Manöver nahmen auch zwei AWACS-Flugzeuge teil. Die Abkürzung steht für Airborne Early Warning and Control System (Luftgestütztes Frühwarn- und Einsatzleitsystem). Die AWACS bieten dem Bündnis eine unmittelbar verfügbare luftgestützte Fähigkeit für Kommando- und Kontrolle, Luft- und Seeüberwachung und Schlachtfeldmanagement“ (NATO 2018) und werden oft bündig als »fliegende Gefechtsstände« bezeichnet. Hauptstützpunkt der AWACS ist die NATO-Luftwaffenbasis in Geilenkirchen (Nordrhein-Westfalen); dort sind 17 Maschinen stationiert.

Allerdings gibt es gegen diese Manöver vor Ort auch Protest. Als das letzte »Arctic Challenge«-Manöver begann, schnitt eine Gruppe schwedischer Frauen den Zaun zum Fliegerhorst durch und rannte auf das Flugfeld; dabei trugen die Frauen ein Transparent, auf dem stand „Genug ist genug!“. Sie wurden von der Militärpolizei festgenommen und vom Gericht in Luleå zu einer Geldstrafe verurteilt.

Norwegen und Dänemark

Norwegen ist Gründungsmitglied der NATO, trat diesem Bündnis also nur vier Jahre nach der Befreiung des Landes von den Nazi-Truppen durch die Sowjetunion bei. Damals verloren Tausende sowjetischer Soldaten ihr Leben, und die Sowjetunion war bei der Bevölkerung in den nördlichen Landesteilen sehr beliebt. Im Süden war das anders, vor allem bei den Politikern in Oslo. Zahlreiche norwegische Politiker waren während der Besetzung im Exil in London und schmiedeten dort Pläne für die Zukunft ihres Landes. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Norwegen von der Arbeiderpartiet (Arbeiterpartei) geführt, die auch die absolute Mehrheit im Parlament stellte. Tryggve Lie, der in der Londoner Exilregierung als Außenminister fungierte und von 1946 bis 1952 der erste Generalsekretär der Vereinten Nationen war, spielte hinter den Kulissen eine Schlüsselrolle bei den Plänen, Norwegen in die NATO zu führen.

Die USA machten schon damals Pläne, die Sowjetunion einzukreisen, einzudämmen und zu verteufeln. Aufgrund seiner gemeinsamen Grenze mit Russland spielte Norwegen eine Schlüsselrolle in den Plänen der USA. Hochrangige US-Militärs reisten schon bald durch das Land und drängten ihre norwegischen Konterparts, die Militärpolitik und -organisation im Sinne der USA auszurichten. Der NATO-Beitritt war die logische Konsequenz.

Am nordöstlichsten Zipfel Norwegens, nur 50 Kilometer vom russischen Festland entfernt, liegt die kleine Insel Vardøya (deutsch: Vardö). Schon während des Kalten Kriegs waren hier mächtige »radomes« aufgebaut, hinter derer Kuppeln sich Radarsysteme der NATO verbergen. Die Insel ist ideal gelegen, um weite Teile des Nordpolarmeers zu überwachen, und beherbergt seit 1998 ein leistungsfähiges X-Band-Radar als Teil des US-Raketenabwehrsystems.

Von besonderem strategischen Interesse ist auch die zu Norwegen gehörende Inselgruppe Svalbard (Spitzbergen) zwischen der Barentssee und dem Nordpolarmeer. Durch seine Nähe zum Nordpol eignet sich der Archipel besonders als Bodenstation für Satelliten mit einer polaren Umlaufbahn, und die Militärs nutzen diesen Vorteil gerne, obwohl der Spitzbergenvertrag von 1920 die Inseln als entmilitarisierte Zone ausweist (Wormdal 2013).

Dänemark ist für die USA und die NATO aus einem ganz ähnlichen Grund interessant. Grönland liegt im Nordpolarmeer zwar dicht an Kanada, gehört politisch aber als autonomes Gebiet zu Dänemark. Schon 1951 begannen die USA auf Grönland mit dem Bau des Luftwaffenstützpunktes Thule Air Base. Thule diente der US Air Force im Kalten Krieg zunächst als Stützpunkt für das US Strategic Command und seine strategischen Atombomber, von der B-29 über die B-36 und B-47 bis hin zur B-52. Die Atombomber sind zwar verschwunden, dafür beherbergt die Insel heute wichtige Satellitenstationen und Radarsysteme für die US-Raketenabwehr und die Weltraumkriegsführung.

Zudem haben Dänemark und Schweden vereinbart, in einem Kriegsfall den Øresund, die Meerenge zwischen den beiden Ländern, zu schließen und russischen Schiffen die Durchfahrt zu verweigern.

Finnland

Finnland und Russland teilen sich eine 1.300 Kilometer lange Grenze. Im Dezember 2017 feierte Finnland 100 Jahre Unabhängigkeit von Russland. Jahrhundertelang war Finnalnd von Schweden regiert worden und fiel nach dem Russisch-Schwedischen Krieg von 1808-1809 als Großfürstentum an das russische Zarenreich. Nach der Oktoberrevolution von 1917 erklärte das finnische Parlament seine Unabhängigkeit, die noch im Dezember von Sowjetrussland anerkannt und von Wladimir Iljich Lenin unterzeichnet wurde.

1948 schlossen Finnland und die Sowjetunion den »Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand«, der über Jahrzehnte die finnische Außenpolitik mitprägte und Finnlands besonderes Geschick im diplomatischen Umgang mit seinem großen Nachbarn erklärt. Folglich hielt Finnland zur NATO und zu westlichen Streitkräften während des gesamten Kalten Krieges Distanz. „In Fragen von Krieg und Frieden sind wir immer für den Frieden. In internationalen Konflikten streben wir eher die Rolle des Arztes als die des Richters an“, sagte Urho Kekkonen einmal, von 1956 bis 1982 Präsident der Republik.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verließen die finnischen Politiker*innen zunehmend den friedens­politischen Weg. 1992 kaufte das finnische Militär Mehrzweck-Kampfflugzeuge des Typs F/A-18 Hornet der US-Firma Boeing und arbeitete enger mit den USA zusammen. Finnland wurde 1994 Mitglied des neu aufgesetzten NATO-Programms »Partnerschaft für den Frieden«, einer Art Vorzimmer der NATO. 1995 trat das Land der Europäischen Union bei, und seit 2011 ist es an den eingangs erwähnten »Nordic Baltic Summits« beteiligt, einer Art nordischer Mini-­NATO.

Seit der Annäherung an die NATO nimmt Finnland an allen militärischen Aktivitäten und Manövern teil, die das Bündnis im Hohen Norden durchführt. Einige Beispiele:

  • Jährlich finden die »Nordic Air Meet« (Nordischer Flugtreff) genannten multinationalen Trainings statt, bei denen sich NATO- und Nicht-NATO-Staaten über neue Kampftaktiken austauschen und diese einüben.
  • 2009 wurde die Kombatübung »Loyal Arrow« (Loyaler Pfeil) aufgesetzt, das bis dato größte Manöver im Norden. Die mehr als 50 Jets, Hubschrauber, Tankflugzeuge und AWACS nutzten die Flughäfen Bodø (Norwegen), Luleå und Vidsel (Schweden) sowie Oulu (Finnland); die Einsatzzentrale war in Ramstein (Deutschland).
  • Das Wintermanöver »Cold Response« (Kalte Antwort) findet jeweils im Winter in Norwegen statt, 2012 mit mehr als 16.000 Teilnehmer*innen.
  • In den Jahren 2013, 2015 und 2017 beteiligten sich finnische Truppen an »Artic Challenge«-Manövern (Arktische Herausforderung).
  • Im Juni 2016 führte die NATO mehrere Großmanöver im Ostseeraum durch. 40.000 Soldat*innen waren an parallelen Übungen zur See und in der Luft beteiligt, so an der jährlich stattfindenden Seeübung »Baltops« (Baltic Operations/Unternehmen Ostsee, 6.000 Teilnehmer*innen) und an dem zweijährlich organisierten polnischen Manöver »Anakonda« (Würgeschlange, mehr als 31.000 Teilnehmer*innen aus 24 NATO- und Partnerländern, Szenario: ein Angriff Russlands auf Polen).

Interoperabilität, d.h. die militärische Zusammenarbeit ohne Reibungsverluste, hat sich in jüngerer Zeit zu einem wichtigen Schlagwort entwickelt. Im September 2014 unterzeichnete der Kommandeur der finnischen Streitkräfte dafür ein »Host Nation Support«-Abkommen1 mit der NATO.

Die finnische Bevölkerung lehnt einen NATO-Beitritt mit hoher Mehrheit ab. Die Mitwirkung an Manövern, die Teilnahme an der »Partnerschaft für den Frieden« und ähnliche Angebote der NATO sind eine Möglichkeit, sich dem Bündnis dennoch anzunähern, und zwar unter Umgehung des finnischen Parlaments, wo das Thema nur selten öffentlich diskutiert wird.

Die baltischen Staaten

Die ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen sind kleine Anrainerstaaten der Ostsee bzw. des Finnischen Meerbusens mit Grenzen zu Russland bzw. Weißrussland. Sie traten am 1. Mai 2004 gemeinsam sowohl der NATO als auch der EU bei.

Auch die baltischen Staaten sind regelmäßig Schauplatz großer Militärmanöver unter Beteiligung der USA und der NATO. Seit 2014 beherbergt der estnische Luftwaffenstützpunkt Ämari die NATO Baltic Enhanced Air Policing Mission (NATO-Mission zur Überwachung und zum Schutz des baltischen Luftraumes), die den kompletten baltischen Luftraum überwacht. Ämari wird von Luftwaffen der USA und anderer Länder genutzt. Auch die Luftwaffenstützpunkte Lielvarde unweit der lettischen Hauptstadt Riga und Šiauliai in Litauen dienen im Rahmen von »Baltic Air Policing« als Stützpunkte unterschiedlicher Jagdgeschwader der NATO-Partner.

Und selbstverständlich beteiligen sich die drei baltischen Staaten an den bereits erwähnten »Baltops«-Seemanövern der NATO, die in den Gewässern der Ostsee und des Finnischen Meerbusens stattfinden.

Drei der NATO-Exzellenzzentren (siehe dazu den Artikel von Christopher Schwitanski auf S. 24) sind in baltischen Staaten angesiedelt: für »Cooperative Cyber Defence« (Gemeinsame Cyberverteidigung; Tallinn, Estland), »Energy Security« (Energiesicherheit; Vilnius, Litauen) und »Strategic Communications« (Strategische Kommunikation; Riga, Lettland). Das NATO STRATCOM COE – so das offizielle Kürzel – wurde 2014 durch ein »Memorandum of Understanding« zwischen Deutschland, Estland, Italien, Lettland, Litauen, Polen, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten gegründet und nahm die Arbeit noch im selben Jahr auf. Es beschäftigt sich mit „der koordinierten und angemessenen Nutzung von Kommunikationsaktivitäten und -fähigkeiten der NATO zur Unterstützung der Strategien, Einsätze und Aktivitäten des Bündnisses, um die Ziele der NATO zu fördern“ (stratcomcoe.org) – mit anderen Worten: mit der Informationskriegsführung und der Propaganda gegen Russland in sozialen Medien.

Und nun?

Die Friedensbewegung muss sich mehr dafür interessieren, welche Rolle der (Hohe) Norden und der Ostseeraum in der heutigen Kriegsplanung der NATO spielen. Dafür sind außer den dort stationierten Truppen und den zahlreichen Manövern die Satellitenstationen und Raketenabwehrsysteme von Thule, Svalbard, Esrange und Vardøya von größter Bedeutung. Wir müssen lernen, diese Zusammenhänge besser zu verstehen, denn nur dann können wir etwas dagegen unternehmen.

Anmerkung

1) Das Kommando Streitkräftebasis der Bundeswehr definiert Host Nation Support auf Deutschland bezogen wie folgt: „Militärische und zivile Unterstützungsleistungen, die Deutschland als Aufnahmestaat (Host Nation) in Frieden, Krise oder Krieg für verbündete Streitkräfte erbringt, die sich auf deutschem Hoheitsgebiet oder im Transit durch Deutschland befinden. Quelle: streitkraeftebasis.de. [die Übersetzerin]

Literatur

Leifland, K. (2004): Snö, mörker och kyla – Utländska militörövningar I Sverige. 30.6.2004; regeringen.se.

NATO Allied Air Command – Ramstein ­Germany (2018): NATO Airborne Early Warning; ac.nato.int.

Stoltenberg, T. (2009): Nordic Cooperation on Foreign and Security Policy – Proposals presented to the extraordinary meeting of Nordic foreign ministers in Oslo on 9 February 2009; regjeringen.no.

Wormdal, B. (2013): The Satellite War. San Bernadino, CA: Eigenverlag.

Agneta Norberg ist Vorsitzende des ­Schwedischen Friedensrates.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.