Wie hybrid ist Europa?

Wie hybrid ist Europa?

von Jürgen Scheffran

Die knappe Wahl der früheren deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission war ein Signal für die militärische Ausrichtung Europas. Vergessen sind die Skandale wegen überteuerter Beraterverträge oder dysfunktionaler Rüstungsprojekte. Für die europäischen Staatschefs war dies kein Hindernis, und Europas Rüstungslobby sah die Chance, die militärische Zusammenarbeit in der Europäischen Verteidigungsunion voranzutreiben. Die neue deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer versucht, den militärischen Fußabdruck ihrer
Vorgängerin noch auszuweiten, indem sie eine erhebliche Steigerung des Rüstungsetats forciert. Nachdem bereits ein Anstieg von 32,4 Mrd. € 2014 auf knapp 43 Mrd. € 2019 erfolgte, fordert sie nicht nur den Zuwachs auf 1,5 % des Bruttosozialprodukts (ca. 60 Mrd. € bis 2024), sondern eine weitere Zunahme auf das 2 %-Ziel der NATO, was mehr als 80 Mrd. € jährlich entspricht, mehr als Russland für Militär ausgibt.

Ein starker Mittelzuwachs führt nicht zu mehr Effizienz und Funktionsfähigkeit, eher zu Verschwendung, Schlampigkeit und Bestechung. Sicher mangelt es nicht an Ideen für milliardenschwere Rüstungsprojekte, wie das Mehrzweckkampfschiff MKS180 oder das Taktische Luftverteidigungssystem. Weiter gibt es Vorschläge für ein deutsch-französisches Kampfflugzeug (Future Combat Air System) nebst einem Flugzeugträger. Dass die Kosten hier leicht hundert Mrd. € überschreiten können ist absehbar, ebenso weitere Rüstungsexporte in die Krisenherde der Welt. Die USA sind trotz enormer Rüstungsausgaben
nicht in der Lage, diese Krisenherde zu befrieden. Die Militärinterventionen vom Irak über Kosovo bis nach Afghanistan haben gezeigt, dass Hightech-Kriege die Probleme nicht lösen, im Gegenteil. In den Konflikten in Syrien, Jemen, Nordkorea, der Ukraine, mit dem Iran oder in Afrika hat den USA ihre militärische Dominanz nicht viel genutzt. Es wird nicht besser, wenn die EU dies dupliziert.

Da kommen die »hybriden Kriege« gerade recht – so bezeichnen Militärs die Verschmelzung ziviler und militärischer Kampfformen in der Grauzone zwischen Krieg und Frieden. Der Ukraine-Konflikt wurde zum Brandbeschleuniger für die hybride Kriegführung, wobei Russland vor allem Mittel einsetzte, die die USA schon lange verwenden. Dies reicht von der Beeinflussung der Bevölkerung durch Radio Free Europe im Kalten Krieg über die Unterstützung von Contragruppen in Lateinamerika bis zum Einsatz irregulärer Spezialkräfte und Informationskriege in jüngeren Krisen (auch in der Ukraine). Neben
USA und Russland haben auch China und andere Mächte ihr hybrides Repertoire erweitert, das Drohnenangriffe, Cyberkriege, Attacken auf zivile Infrastrukturen ebenso umfasst wie Meinungsmache durch Fake News und Hate Speech in sozialen Medien, oder die Unterstützung von Oppositionsgruppen.

Der Westen erlebt, dass die mit der Globalisierung verbreiteten Mittel und Technologien auf ihn zurückfallen und dabei die Verwundbarkeit der Industrie- und Kommunikationsgesellschaft offenkundig wird. Fast scheint es, als rüste der Westen sich für eine durch Chinas Seidenstraßen und Landinvestitionen zunehmend vernetzte Welt, in der er nur noch knapp ein Zehntel der Weltbevölkerung ausmacht. EU und NATO bauen ihre Zusammenarbeit gegen hybride Bedrohungen aus. In Finnland gibt es ein EU-NATO-Exzellenz-Zentrum zur Abwehr hybrider Bedrohungen. Auch die Hybridisierung der Bundeswehr schreitet
voran, z.B. durch die Zusammenarbeit mit Privatfirmen, Übungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen oder beim Umgang mit Migration. Angesichts der Vielfalt und Beliebigkeit hybrider Kriege scheinen Strategieplaner ein Thema gefunden zu habe, das dem zivil-militärischen gesellschaftlich-industriellen Komplex eine dauerhafte Förderung garantiert. Eine so legitimierte Bundeswehr kann auch im zivilen Raum präsentiert werden, in öffentlichen Gelöbnissen, zur Terrorabwehr, zur Verteidigung digitaler Mobilfunknetze oder zum Schutz europäischer Handelswege im Persischen Golf.

So wird es möglich, hybride Kriege ohne räumliche und zeitliche Begrenzung, mit allen Mitteln und gegen jede(n) zu führen. Alle könnten potentielle »Täter« und »Opfer« werden und die ganze Gesellschaft zum Schlachtfeld vernetzter Kriege. Statt reguläre Kriege zurückzudrängen, könnten hybride Kriege zum Türöffner werden für eine neue Gewaltspirale. Hier zeigt sich der Januskopf eines permanenten und totalen »Krieges aller gegen alle« (frei nach Hobbes), der selbst Clausewitz überrascht hätte.

Dabei sind Auswege eines vernetzten Friedens erkennbar, bedürfen aber der Mobilisierung. Während die Regierung danach strebt, das 1,5- bzw. 2 %-Ziel zu erreichen, droht sie die Klimaziele von 1,5 bis 2 Grad zu verpassen, wie »­Fridays for Future« deutlich macht. Mit den enormen Rüstungsausgauben fehlen Mittel für die Klimawende. So werden in doppelter Weise Krisen angeheizt: Klimawandel und andere globale Probleme erzeugen weltweit neue Konfliktherde, während mit der Aufrüstung noch Öl ins Feuer gegossen wird. Ein Europa des Friedens könnte dem entgegenwirken.

Ihr Jürgen Scheffran

NATO-Russland-Beziehungen


NATO-Russland-Beziehungen

Wege aus der Konfrontation?

von Nadja Douglas

Vieles deutet daraufhin, dass die baltische Region einschließlich des angrenzenden Ostseeraumes in den kommenden Jahren entscheidend sein wird für die Beziehungen zwischen Ost und West. Wie in einem Brennglas zeigt sich, dass sowohl die NATO als auch Russland im Begriff sind, hier enormes Vertrauen zu verspielen, das an anderer Stelle gerade wieder aufgebaut werden soll. In den NATO-Russland-Beziehungen geht es heute mehr denn je um die gegenseitige Wahrnehmung und die Interpretation von Handlungsabsichten. Das Potenzial für Fehleinschätzungen ist immens.

Realistische Erklärungsansätze in den internationalen Beziehungen haben vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Zustands der Konfrontation wieder Konjunktur. Dies manifestiert sich besonders in der baltischen Region, wo sich zwei hochgerüstete Militärbündnisse gegenüberstehen: die transatlantische Militärallianz NATO auf der einen sowie Russland und seine Verbündeten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit1 auf der anderen Seite. Für die beteiligten Staaten gibt es aus spieltheoretischer Sicht nur zwei Optionen: Aufrüsten oder Abrüsten. Momentan stehen die Zeichen auf Aufrüsten. Die als defensiv charakterisierten Aktionen der einen Seite werden von der anderen Seite als offensiv interpretiert und ebenso beantwortet.

Zu keiner Zeit in der Geschichte der Ost-West-Beziehungen wurde so wenig miteinander geredet wie heute. Freilich stehen sich heute keine Panzerarmeen mehr gegenüber, und militärische Übungen, obwohl auf beiden Seiten in der letzten Zeit ausgeweitet, erreichen nicht die damaligen Dimensionen. Da Russland sich heute nicht mehr als Teil einer von der NATO dominierten europäischen Sicherheitsordnung fühlt, sieht es sich auch nicht mehr an aus russischer Sicht überkommene Abkommen gebunden. Moskau plant vorrangig, die 2008 begonnene Modernisierung der Streitkräfte bis 2020 abzuschließen, bevor es aus einer Position der Stärke heraus bereit ist für neue Gespräche. Die Trump-Administration zeigt ebenfalls wenig Interesse: Anstatt neue Akzente zu setzen, fordert sie von Russland weiterhin vor allem die Einhaltung bestehender Rüstungskontrollverpflichtungen. Die Europäische Union wiederum ist gespalten. Während die einen an bestehenden Abkommen und Prinzipien festhalten (Stichworte Charta von Paris, Budapester Memorandum, NATO-Russland-Grundakte etc.), sind andere der Auffassung, dass diese Abkommen aufgrund der veränderten Sicherheitslage und Russlands Bilanz an Verfehlungen in den letzten Jahren hinfällig seien.2

Im Hinblick auf atomare Fähigkeiten kündigten jüngst zunächst die USA und dann Russland an, die Beteiligung am INF-Vertrag über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen auszusetzen. Die NATO-Mitgliedsstaaten hatten Russland erstmals geschlossen vorgeworfen, mit seinen neuen Marschflugkörpern3 gegen die Vorgaben des Vertrags zu verstoßen, was Russland zurückweist.4 Es gilt eine sechsmonatige Kündigungsfrist, und insbesondere deutsche Politiker setzen nun alles daran, das Abkommen noch zu retten.5 Es ist unstrittig, dass schon seit vielen Jahren gegenseitige Kontrollen fehlen und somit in der Vergangenheit die Vertragstreue keiner Seite vollständig verifiziert werden konnte. Ob dies nun gelingt, erscheint mehr als fraglich.

Bestandsaufnahme bestehender Verhandlungsformate

Sämtliche Verhandlungen, die Rüstungskontrolle bzw. militärische Transparenz (von Abrüstung spricht man schon lange nicht mehr) in Europa betreffen, verzeichnen seit längerer Zeit keinen Fortschritt bzw. wurden gänzlich aufgegeben. Während an der einen Stelle durch Militärstrategen sowie öffentliches verbales Aufrüsten Vertrauen zerstört wird, soll es an anderer Stelle in den noch bestehenden Verhandlungsformaten zwischen NATO und Russland bzw. unter der Ägide der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wieder aufgebaut werden.

Obwohl der NATO-Russland-Rat nach wie vor existiert, ist die Bilanz dieses seit 2002 existierenden Konsultationsgremiums, das im Sinne der NATO-Russland-Grundakte von 1997 eine zentrale Rolle in den NATO-Russland-Beziehungen spielen soll, eher bescheiden. Ursprünglich sollte der Rat zweimal jährlich auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsminister*innen sowie monatlich auf der Ebene der Botschafter*innen bzw. Ständigen Vertreter*innen beim NATO-Rat tagen. Auch militärische Vertreter*innen sollten monatlich zusammenkommen. Die Realität zeigt hingegen, dass über die Jahre kein regelmäßiger Sitzungszyklus zustande kam. Auch hat sich der NATO-Russland-Rat nie von einem reinen Konsultationsgremium zu einem beschlussfähigen Organ entwickelt. Die Arbeit im Rat wurde darüber hinaus mehrfach über längere Zeit ausgesetzt. Zuletzt herrschte zwei Jahre lang Schweigen infolge der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim (Douglas 2017).

Diese Praxis widerspricht dem beabsichtigten Zweck des Gremiums, denn der NATO-Russland-Rat sollte „das wichtigste Forum für Konsultationen zwischen der NATO und Russland in Krisenzeiten oder in Bezug auf jede andere Situation bilden, die den Frieden und die Stabilität berührt“ (NATO 1997, Kapitel II). Das Gegenteil ist heute der Fall: Befinden sich die NATO-Russland-Beziehungen in einer Krise, wird auch die Arbeit im Rat beeinträchtigt bzw. unterbrochen. Seit 2016 kam der Rat sporadisch acht Mal zusammen. Obgleich es auf beiden Seiten vereinzelt Bemühungen um einen konstruktiven Informationsaustausch gab, waren die letzten Sitzungen vor allem durch heftige Schlagabtausche und gegenseitige Vorwürfe geprägt.

Neben dem NATO-Russland-Rat gibt es derzeit nur noch ein weiteres Verhandlungsformat, in dessen Rahmen nach wie vor Wege aus der Krise der konventionellen Rüstungskontrolle gesucht sowie andere für die europäische Sicherheit relevante Fragestellungen thematisiert werden. Der von der Bundesrepublik während des OSZE-Vorsitzes 2016 initiierte »Strukturierte Dialog« ist ein informelles Dialogformat, das alle OSZE-Staaten einschließt und hochrangige Vertreter*innen aus den nationalen Außen- und Verteidigungsministerien der teilnehmenden Staaten zusammenbringt. Der Dialog versteht sich als Plattform für die Sondierung von Vorfragen im Hinblick auf mögliche neue Rüstungskontrollverhandlungen. 2018 wurden vom belgischen Dialog-Vorsitz insbesondere die Themen Bedrohungswahrnehmung und Risikominimierung auf die Agenda gesetzt. 2017 wurden Experten-Workshops zu Militärdoktrinen und militärischen Streitkräfte-Dispositiven sowie zu Übungen durchgeführt (OSCE 2018).

Das Forum dient vornehmlich der Bildung von Vertrauen, das an anderer Stelle (Rüstungsspirale in der baltischen Region) derzeit verspielt wird. Beispielhaft sollen neue Obergrenzen für Waffensysteme, Quoten für eine effektivere Beobachtung und Verifikation von militärischen Aktivitäten sowie Transparenzmaßnahmen, insbesondere in Bezug auf neue militärische Fähigkeiten und Waffengattungen, mehr Sicherheit und Stabilität schaffen. Auch Gebiete mit strittigem territorialem Status sollen nicht länger von der Rüstungskon­trolle ausgeklammert bleiben (Schmidt 2017). Bislang wurden sieben informelle Arbeitsgruppentreffen sowie drei Experten-Workshops abgehalten. Auch 2019 unter slowakischem OSZE-Vorsitz soll der Dialog fortgeführt werden. Unter anderem wird es um die Analyse von Handlungsabsichten sowie von »best practices« bei der Beantwortung von Fragebögen im Zusammenhang mit dem jährlichen militärischen Informationsaustausch gehen.

Gegenseitige Wahrnehmung und Provokation

Während für die Europäische Union und die USA die Krimannexion und die russische Intervention in der Ostukraine zu Recht eine Zäsur in den Beziehungen zu Russland darstellten, fand diese Zäsur in Russland selbst bereits Jahre zuvor statt. Nachdem »der Westen« seine damaligen Zugeständnisse nicht eingehalten hatte, eine Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen, die auf gleicher und unteilbarer Sicherheit basiert, stellte für Russland die NATO-Osterweiterung sowie die von den USA forcierte Stationierung einer Raketenabwehr in sensiblen Regionen, einen weiteren Einschnitt dar.

Auf beiden Seiten ist militärische Abschreckung wieder das Gebot der Stunde. Die transatlantische Allianz arbeitet an der Funktionalität der NATO-»Speerspitze« (Very High Readiness Joint Task Force). Man spricht davon, dass die Hauptfunktion der »Speerspitze«, neben der Rückversicherung der östlichen Bündnispartner, die einer »mobilen Stolperfalle« sei, die ein Durchmarschieren im Falle eines russischen Angriffes auf einen der östlichen Mitgliedsstaaten verhindern solle (Zapfe 2016, S. 2). Seit 2014 baut Russland ebenfalls gezielt seine militärischen Fähigkeiten im Westlichen Militärbezirk aus.6 Zudem hat Russland in Kaliningrad Radaranlagen sowie das S-400-Raketenabwehrsystem stationiert und seit spätestens 2016 Iskander-M-Kurzstreckenraketen, die auch nukleare Sprengköpfe tragen können. Immer offensichtlicher ist jedoch, dass es schwierig wird, den in der NATO-Russland-Grundakte postulierten Grundsatz der wechselseitigen Zurückhaltung einzuhalten. Aus russischer Sicht ist der NATO-Truppenaufbau an der Grenze zu Russland keine Rückversicherungsmaßnahme für die baltischen Staaten, sondern Teil einer größeren Strategie der Konfrontation. Der russische Präsident erklärte in der Vergangenheit wiederholt, dass Russland die Stationierung neuer NATO-Militärbasen und -Infrastruktur an der Grenze Russlands als direkte Bedrohung wahrnimmt und in angemessener Weise auf solche aggressiven Schritte reagieren werde (Kremlin 2018).

Auch wenn die baltische Region langfristig das größte Risiko für weitere Konfrontation birgt, gibt es weitere kritische Orte, an denen militärische Zwischenfälle provoziert werden. Der jüngste Zwischenfall in der Straße von Kertsch zeigt zum einen, dass die Ukraine im Eskalationsfall in ihren militärischen Beziehungen zu Russland ohne externe Unterstützung vollkommen unterlegen wäre. Russland auf der anderen Seite reagiert zunehmend nervös und räumt sich einseitig einen breiten Spielraum bei der Interpretation des geltenden Seerechts und der bilateralen Verträge mit der Ukraine ein. Die Ukraine wird seit 2014 als eine Art trojanisches Pferd »des Westens« gesehen. Die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Poroschenko angekündigt hatte, einen Marinestützpunkt in Berdyansk im Asowschen Meer einzurichten, beunruhigt Moskau bereits seit geraumer Zeit. Die russische Regierung befürchtet, dass an dieser Stelle in nicht allzu weiter Zukunft NATO-Schiffe patrouillieren werden (Felgenhauer 2018). Tatsächlich rief Poroschenko als Reaktion auf den Zwischenfall nicht nur das Kriegsrecht aus, sondern appellierte an sämtliche NATO-Staaten, Schiffe zur Unterstützung der Ukraine in das Asowsche Meer zu schicken. Wie Russland auf einen solch hypothetischen Fall reagieren würde, lässt sich nur erahnen.7

Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen

Die Anzahl der vorhandenen Stellschrauben zur Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen hat in den letzten vier Jahren eher ab- als zugenommen. Zu Zeiten der Blockkonfrontation dienten Rüstungskontrollverhandlungen als kleinster gemeinsamer Nenner der Vertrauensbildung. Es muss also auch heute an jenen Stellschrauben gedreht werden, die zentral sind für die sicherheitspolitische Agenda beider Seiten. Um Wege aus der Konfrontation zu finden und das Minimalziel der »friedlichen Koexistenz« aufrecht zu erhalten, bedarf es künftig vor allem mehr Empathie für die Sicherheits- und Bedrohungswahrnehmung der jeweils anderen Seite.

Im Folgenden werden exemplarisch drei Bereiche skizziert, die dringend einer konsensuellen Regelung bedürfen. Darunter fallen die Vermeidung bzw. zunächst einmal die Definition von militärischen Zwischenfällen, die Erhöhung von militärischer Transparenz und Vertrauensbildung in kritischen Regionen sowie ein Modus Vivendi und gemeinsame Regeln im Umgang mit Staaten, die derzeit zwischen den euro-atlantischen und eurasischen Sicherheits- und Wertegemeinschaften stehen.

Vermeidung von militärischen Zwischenfällen

Im gesamten euro-atlantischen Raum, aber insbesondere in und über der Ostsee, kommt es verstärkt zu gefährlichen Zwischenfällen, bei denen zivile und militärische Schiffe und Flugzeuge Russlands, von NATO-Mitgliedsstaaten und von Dritten beteiligt sind. Allein zwischen 2014 und 2015 zählte das European Leadership Network (ELN) über 60 solcher Ereignisse (Kulesa et al. 2016, S. 7). Dabei handelte es sich vornehmlich um Luftraumverletzungen sowie Nahbegegnungen zwischen amerikanischen Kriegsschiffen und russischen Kampfflugzeugen. Trotz zahlreicher bilateraler, noch zu Sowjetzeiten abgeschlossener, Abkommen zwischen Russland und einzelnen Staaten besteht ein zentrales Problem fort: das Fehlen eines allgemeingültigen Abkommens, das die Wahrscheinlichkeit solcher Zwischenfälle minimiert bzw. regelt, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, falls sie dennoch stattfinden (siehe auch Kulesa et al. 2016). Da solch ein Abkommen derzeit und in naher Zukunft nicht greifbar ist, sollten Risiken für militärische Zwischen- bzw. Unfälle, wenn schon nicht minimiert, dann zumindest definiert werden.8

Neue regional ausgerichtete vertrauens- und sicherheitsbildende Initiativen

Das Risiko von nicht intendierten Zwischenfällen bzw. Provokationen in der baltischen Region wird verschärft durch den Mangel an überprüfbarer Zurückhaltung, eingeschränkter militärischer Transparenz und die Abwesenheit von direkter militärischer Zusammenarbeit und Kontakten in der Region. All das trägt unmittelbar zu einer erhöhten Bedrohungswahrnehmung und folglich zu einem erhöhten Risiko von Fehleinschätzungen bei.

Konkrete Empfehlungen zur Deeskalation reichen von Vorschlägen über ein baltisches Sicherheitssymposium (Kulesa 2018) bis hin zu Rüstungskontrollvereinbarungen auf der sub-regionalen Ebene (Richter 2016). Tatsächlich gibt es in der baltischen Region keine rechtlich bindende Vereinbarung über eine Begrenzung der dort stationierten Streitkräfte, weder aufseiten der baltischen Staaten noch aufseiten der Russischen Föderation. Das Informations- und Verifikationsregime des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) findet hier keine Anwendung, da Russland seine Teilnahme 2015 faktisch aufgekündigt hat und die baltischen Staaten das adaptierte Regime nie ratifiziert haben. Allerdings bietet das Wiener Dokument der OSZE, das einzig verbliebene Instrument für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, unter Kapitel X, »Regionale Maßnahmen«, die Möglichkeit von gegenseitigen Verpflichtungen der militärischen Zurückhaltung (ähnlich wie jene in der NATO-Russland Grundakte). Es ermutigt teilnehmende Staaten, sich auf zusätzliche bilaterale und regionale vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu einigen, um Spannungen zu deeskalieren. Der Fokus liegt dabei gerade auf Grenzregionen (Richter 2016, S. 9-11).

Gespaltene Gesellschaften als Sicherheitsrisiko

Häufig marginalisiert in der Konfrontation zwischen NATO und Russland, aber dennoch relevant, sind diejenigen Staaten, die zwischen einer transatlantischen Orientierung und der von Russland dominierten östlichen Interessensphäre schwanken. Die so genannten »Staaten dazwischen« wurden dadurch in der Vergangenheit wiederholt zum Spielball geopolitischer Auseinandersetzungen.9 Dieses Tauziehen wirkt sich negativ auf den inneren Zusammenhalt dieser Staaten und Gesellschaften aus und macht sie anfällig für innere Unruhen und Spaltungsprozesse (Babayan 2016).

Während die Aussicht auf einen Beitritt in die NATO und/oder die Europäische Union einst Garant für Sicherheit und Wohlstand der mittel- und osteuropäischen Staaten war, ist es inzwischen eine Quelle der Instabilität für die Länder weiter im Osten (wie gerade die Beispiele Georgien 2008 und Ukraine 2014 zeigen) (Charap et al. 2018, S. 6). Das trifft im Grunde auch auf die anderen Konflikte in der Region zu: Solange es keine Einigung über die regionale Ordnung gibt, werden weder Russland noch »der Westen« in der Lage sein, diese Konflikte vernünftig zu lösen, geschweige denn werden die lokalen Akteure dies erreichen. Auch offizielle oder informelle Verhandlungen über die europäische Sicherheitsarchitektur enden meist unweigerlich in einer Sackgasse, wenn es um die Frage der regionalen Ordnung ging (die innerhalb der OSZE initiierten Korfu- und Helsinki+40-Prozesse sind dafür gute Beispiele).

Lösungsvorschläge, die derzeit diskutiert werden (siehe z.B. Charap et al. 2018), zielen nicht darauf ab, die »Staaten dazwischen« wie gehabt nach dem Vorbild der Staaten Mittel- und Osteuropas zu transformieren. Aber auch Russland soll keine uneingeschränkte Einflusssphäre gewährt werden. Weder die NATO noch Russland sollten ihre Ambitionen uneingeschränkt weiterverfolgen können, um ihre jeweiligen Bündnisse zu erweitern. Stattdessen könnte ein weiteres regionales Integrationsformat zielführend sein, das offen und anwendbar wäre für die »Staaten dazwischen«, die weder einem westlichen noch einem östlichen Bündnis angehören möchten.10 Diese Option könnte einen Rahmen bieten für eine souveräne außen- und sicherheitspolitische Orientierung dieser Staaten sowie Verhaltensregeln aufstellen, wie die NATO und Russland mit ihnen umzugehen haben.

Anmerkungen

1) Die OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) ist das von Russland geführte Militärbündnis, dem einschließlich Russland sechs postsowjetische Staaten ange­hören.

2) Zu der ersten Gruppe gehören Staaten, die sich vor allem der OSZE nach wie vor verbunden fühlen, wie die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, die Schweiz und Finnland; zu der zweiten Gruppe östliche EU-Staaten, wie Polen und die baltischen Staaten.

3) Hier geht es vor allem um den landgestützten Marschflugkörper 9M729, siehe dazu Goncharenko 2018.

4) Das russische Verteidigungsministerium und Generalstabschef Walerij Gerasimow werfen umgekehrt den Amerikanern vor, durch das in Osteuropa (Rumänien und zukünftig Polen) stationierte Aegis-Raketenabwehrsystem gegen den INF-Vertrag zu verstoßen: Dessen Abschussrampen könnten auch offensiv genutzt werden und atomar bestückte Marsch­flugkörper mittlerer Reichweite abfeuern (siehe ?????? ??????? ?? ????????? ??? ???????? ?????; interfax-russia.ru, 5.12.2018).
Siehe dazu auch Katarzyna Kubiak, NATO-Raketenabwehr – Stand und Herausforderungen, auf S. 21 dieser W&F-Ausgabe.

5) Außenpolitiker von CDU/CSU und SPD schlugen vor, Russland solle die umstrittenen Marschflugkörper so weit nach Osten verlegen, dass sie Europa nicht mehr erreichen könnten. Im Gegenzug sollen die USA ihre Raketenabwehrsysteme in Rumänien und die geplanten in Polen für russische Kontrollen öffnen (Mit diesem Vorschlag wollen deutsche Politiker den INF-Vertrag retten; welt.de, 3.2.2018).

6) Zudem führt Russland periodisch sogenannte Übungen zur Einsatzbereitschaft (snap exercises) im Westlichen Militärbezirk durch, um kurzfristig die Kampfbereitschaft zu testen (ohne 42 Tage Ankündigungsvorlauf, wie vom Wiener Dokument der OSZE über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011 vorgesehen). Allein 2017 wurden mehr als hundert solcher Übungen registriert.

7) Siehe Antwort des Pressesprechers von Präsident Wladimir Putin, Dmitrij Peskow, während einer Pressekonferenz am 29. November 2018: ?????? ???????????????? ?????? ????????? ????????? ??????? ???? ? ????; interfax-russia.ru.

8) So wird nirgendwo aufgeschlüsselt bzw. definiert, was für Ereignisse genau unter gefährliche Zwischenfälle militärischer Art“ fallen, wie sie zum Beispiel in Paragraph 17 des Wiener Dokuments Erwähnung finden. Kulesa et al. 2018 (S. 3) führen Zwischenfälle auf, wie z. B. gefährliche Verletzungen fremden Luftraums, Beinahekollisionen zwischen zivilen und militärischen Flugzeugen, Sucheinsätze von U-Booten in fremden Hoheitsgewässern, Abfangeinsätze im internationalen Luftraum u.a.

9) Die drei kaukasischen Staaten (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) sowie die Ukraine, die Republik Moldau und Belarus sind mittlerweile Teil der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union.

10) Umfragen zufolge trifft das auf die Mehrheit der Gesellschaften in Georgien, Armenien und der Republik Moldau zu. Lediglich Ukrainer und Weißrussen sprechen sich mehrheitlich für einen Anschluss an NATO respektive OVKS aus (siehe Umfragedaten von 2017 in Charap et al. 2018, S. 26).

Literatur

Babayan, N. (2016): The In-Betweeners – The ­Eastern Partnership Countries and the Russia-West Conflict. Transatlantic Academy Paper Series 4/2016.

Charap, S.; Shapiro, J.; Demus, A. (2018): Rethinking the Regional Order for Post-Soviet Europe and Eurasia. Santa Monica, CA: RAND Corporation.

Douglas, N. (2017): Ist die NATO-Russland-Grundakte noch relevant? ZOiS Spotlight 11/2017, 24.5.2017, zois-berlin.de.

Felgenhauer, P. (2018): Russia’s Attack of Ukrainian Naval Ships in Black Sea- First Shots of Possible Winter War? Eurasia Daily Monitor, Vol. 15, Nr. 168.

Goncharenko, R. (2018): Ein nicht so geheimes Geheimnis – die russische Raketen 9M729. Deutsche Welle, 5.12.2018; dw.com.

Kremlin/ Presidential Executive Office (2018): Meeting of ambassadors and permanent representatives of Russia; en.kremlin.ru, 19.7.2018.

Kulesa, L.; Frear, T.; Raynova, D. (2016): Managing Hazardous Incidents in the Euro-Atlantic Area: A New Plan of Action, European Leader­ship Network, Policy Brief, November 2016.

Kulesa, L.; Raynova, D. (2018): Russia-West Incidents in the Air and at Sea 2016-2017 – Out of the Danger Zone? European Leadership Network, Euro-Atlantic Security Report, October 2018.

Kulesa, L. (2018): Challenges and opportunities for deterrence and arms control in the Baltic Sea area. European Leadership Network, Commentary, 1 October 2018.

OSCE (2018): The OSCE Structured Dialogue. 9.10.2018; osce.org.

NATO (1997): Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation vom 27. Mai 1997.

Richter, W. (2016): Sub-regional arms control for the Baltics – What is desirable? What is feasible? Deep Cuts Working Paper, No. 8, July 2016; deepcuts.org.

Schmidt, H.-J. (2017): Hoffnungsvoller Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle? Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, PRIF Blog, 10. Juli 2017; blog.prif.org.

Zapfe, M. (2016): »Hybrid« threats and NATO’s Forward Presence – The Alliance’s Enhanced Forward Presence in the Baltics and Poland could face serious challenges in »sub-conven­tional« scenarios. Center for Security Studies at ETH Zurich, Policy Perspectives, Vol. 4, Nr. 7, September 2016.

Dr. phil. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS) in Berlin. Sie befasst sich mit sicherheitspolitischen Fragestellungen im postsowjetischen Raum sowie in ihrem derzeitigen Forschungsprojekt mit der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Machtstrukturen.

Die NATO im Norden

Die NATO im Norden

Militarisierung des Nordens und des Ostseeraums

von Agneta Norberg

Selbst in den Ländern des (Hohen) Nordens und des Ostseeraums weiß die Öffentlichkeit nicht viel über die anhaltende Militarisierung ihrer Region. Dabei ist die NATO dort immer stärker präsent, selbst in Ländern, die dem Bündnis gar nicht angehören. Die Nähe der nordischen und baltischen Staaten zu Russland und die fortgesetzten Aktivitäten, um Russland als Feindbild aufzubauen, verschaffen dem Thema eine hohe Brisanz. Die Friedensbewegung sollte sich dringend mit den Fakten beschäftigen.

Thorvald Stoltenberg – Vater des aktuellen NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg – war in den späten1980er und frühen 1990er Jahren zwei Mal norwegischer Außenminister. Vor zehn Jahren verfasste er einen Vorschlag für eine »Nordische Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik« (Stoltenberg 2009), den er den nordischen Außenministern im Februar 2009 in Oslo vorstellte. Aus seinen vielfältigen Vorabgesprächen für den Bericht ergab sich für ihn ein wichtiger Kernpunkt: „Es besteht weitgehend Übereinstimmung, dass die nordischen Länder aufgrund ihrer geographischen Nähe viele außen- und sicherheitspolitischen Interessen teilen, obgleich sie sich in ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Union und zur NATO unterscheiden.“ (ibid., S. 5)

Knapp zwei Jahre später lud der britische Premierminister David Cameron zum ersten »Nordic Baltic Summit« nach London, um ein »Bündnis der gemeinsamen Interessen« zu schmieden. Zu dem Gipfeltreffen reisten die Regierungschefs sämtlicher nordischen und baltischen Länder an: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden sowie Estland, Lettland und Litauen. Besprochen wurden vor allem die Empfehlungen in Stoltenbergs Bericht.

Seit der Annahme des Berichts haben sich die skandinavischen und baltischen Länder sowie der Ostseeraum zum Truppenübungsplatz und zum Testgelände für neue Waffenentwicklungen der NATO entwickelt. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie die Länder des Hohen Nordens damit zur »Startrampe« eines Krieges der USA und der NATO gegen Russland werden könnten.

Schweden

Schweden trat der Europäischen Union erst 1995, also nach dem Kalten Krieg, bei, gehört jedoch weiterhin nicht der NATO an und ist formell neutral. Die Realität allerdings ist deprimierend und alarmierend. Ursprünglich stark im Sinne einer Friedenspolitik engagiert, werden seit etwa zehn Jahren sowohl Süd- als auch Nordschweden als ausgedehnte Kampfübungsplätze genutzt.

Ein Beispiel ist das »North European Aerospace Test Range« (NEAT). Das Test- und Übungsgelände umfasst zwei Kerngebiete in der nordschwedischen Provinz Norbotten: Das eine, Vidsel Test Range, wird vom schwedischen Amt für Rüstung und Wehrtechnik betrieben und ermöglicht u.a. Tests von ballistischen Raketen. Das andere, Esrange Space Center, wird für zivile und militärische Höhenforschungs- und Raketentests genutzt, beherbergt aber auch etliche Satelliten-Bodenstationen. Zu Test- und Trainingszwecken können die beiden 7.200 km2 und 6.600 km2 großen Gebiete durch einen östlichen und einen westlichen »Brückenkorridor« miteinander verbunden werden. Insgesamt steht dann für Militärübungen und zur Erprobung von Waffen ein Areal von der Größe Belgiens zur Verfügung.

Im Jahr 2004 stimmte das schwedische Parlament zu, NEAT gegen Entgelt zur Nutzung durch ausländische Truppen und Rüstungsunternehmen freizugeben. Dem Gesetz lag das von dem sozialdemokratischen Berater Karl Leifland verfasste Dokument »Snö, mörker och kyla – Utländska militörövningar i Sverige« (Schnee, Dunkelheit und Kälte – Ausländische Militärmanöver in Schweden) zugrunde (Leifland 2004).

Seither haben auf dem Testgelände NEAT zahlreiche Trainings und Waffentests stattgefunden. Hier wurde z.B. die Tarnkappen-Kampfdrohne NEURON getestet, die der Erprobung unterschiedlichster Technologien dient. NEURON ist ein Gemeinschaftsprojekt der Unternehmen Alenia (Italien), Dassault Aviation (Frankreich), EADS CASA (Spanien), HAI (Griechenland), SaabAero (Schweden) und RUAG Aviation (Schweiz). Ebenfalls auf NEAT getestet wurden verschiedene Varianten der Luftabwehrrakete AMRAAM. AMRAAM steht für »Advanced Medium-Range Air-to-Air Missile« (Luft-Luft-Lenkflugkörper mittlerer Reichweite) und ist für den Abschuss von Flugzeugen, Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen ausgelegt. Die radargelenkte Waffe findet ihr Ziel auch ohne Sichtkontakt, also unabhängig von den Wetter- und Lichtverhältnissen. Sie wurde bisher an 37 Ländern verkauft, darunter Kuwait, Israel, Südkorea, aber auch Schweden (für den SAAB-39 Gripen) und Deutschland (für die F-4 Phantom II).

NEAT wird von der NATO häufig für seine »Kriegsspiele« genutzt. Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Litauen, Norwegen, die USA, das Vereinigte Königreich und andere testen hier ihre Waffen und führen große NATO-Manöver durch. Die schwedische Regierung behauptet, NEAT sei unbewohnt und eigne sich daher ideal für solche Zwecke, und ignoriert die Proteste z.B. der Samen, deren Rentiere diese Gebiete durchwandern.

Im Hohen Norden findet alle zwei Jahre das Großmanöver »Cold Response« (Kalte Antwort) statt, in das die Nicht-NATO-Mitglieder Finnland und Schweden eingebunden sind. Bis zu 16.000 Soldat*innen sind jeweils beteiligt. Der Bevölkerung in anderen Landesteilen bleibt normalerweise verborgen, dass solche Manöver stattfinden. Im Jahr 2012 allerdings kam es zu einem Unfall, als ein Transportflugzeug der norwegischen Luftwaffe auf dem Weg nach Kiruna in den Berg Kebnekaise krachte und die fünf Insassen ums Leben kamen; darüber wurde in den Medien breit berichtet.

Ein anderes regelmäßig stattfindendes Großmanöver ist »Arctic Challenge« (Arktische Herausforderung), das in den Jahren zwischen »Cold Response« durchgeführt wird. Im Juni 2015 fand das NATO-Manöver in den schwedischen Provinzen Västerbotten und Norbotten statt. Mittelpunkt des Geschehens war Kallax, der Flughafen von Luleå am nördlichen Rand des Bottnischen Meerbusens. An der Übung waren 115 Militärflugzeuge aus 13 Ländern beteiligt. Zeitweise waren bis zu 95 Maschinen gleichzeitig in der Luft, und die Übungszone erstreckte sich über eine Fläche von der Größe Deutschlands. An dem Manöver nahmen auch zwei AWACS-Flugzeuge teil. Die Abkürzung steht für Airborne Early Warning and Control System (Luftgestütztes Frühwarn- und Einsatzleitsystem). Die AWACS bieten dem Bündnis eine unmittelbar verfügbare luftgestützte Fähigkeit für Kommando- und Kontrolle, Luft- und Seeüberwachung und Schlachtfeldmanagement“ (NATO 2018) und werden oft bündig als »fliegende Gefechtsstände« bezeichnet. Hauptstützpunkt der AWACS ist die NATO-Luftwaffenbasis in Geilenkirchen (Nordrhein-Westfalen); dort sind 17 Maschinen stationiert.

Allerdings gibt es gegen diese Manöver vor Ort auch Protest. Als das letzte »Arctic Challenge«-Manöver begann, schnitt eine Gruppe schwedischer Frauen den Zaun zum Fliegerhorst durch und rannte auf das Flugfeld; dabei trugen die Frauen ein Transparent, auf dem stand „Genug ist genug!“. Sie wurden von der Militärpolizei festgenommen und vom Gericht in Luleå zu einer Geldstrafe verurteilt.

Norwegen und Dänemark

Norwegen ist Gründungsmitglied der NATO, trat diesem Bündnis also nur vier Jahre nach der Befreiung des Landes von den Nazi-Truppen durch die Sowjetunion bei. Damals verloren Tausende sowjetischer Soldaten ihr Leben, und die Sowjetunion war bei der Bevölkerung in den nördlichen Landesteilen sehr beliebt. Im Süden war das anders, vor allem bei den Politikern in Oslo. Zahlreiche norwegische Politiker waren während der Besetzung im Exil in London und schmiedeten dort Pläne für die Zukunft ihres Landes. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Norwegen von der Arbeiderpartiet (Arbeiterpartei) geführt, die auch die absolute Mehrheit im Parlament stellte. Tryggve Lie, der in der Londoner Exilregierung als Außenminister fungierte und von 1946 bis 1952 der erste Generalsekretär der Vereinten Nationen war, spielte hinter den Kulissen eine Schlüsselrolle bei den Plänen, Norwegen in die NATO zu führen.

Die USA machten schon damals Pläne, die Sowjetunion einzukreisen, einzudämmen und zu verteufeln. Aufgrund seiner gemeinsamen Grenze mit Russland spielte Norwegen eine Schlüsselrolle in den Plänen der USA. Hochrangige US-Militärs reisten schon bald durch das Land und drängten ihre norwegischen Konterparts, die Militärpolitik und -organisation im Sinne der USA auszurichten. Der NATO-Beitritt war die logische Konsequenz.

Am nordöstlichsten Zipfel Norwegens, nur 50 Kilometer vom russischen Festland entfernt, liegt die kleine Insel Vardøya (deutsch: Vardö). Schon während des Kalten Kriegs waren hier mächtige »radomes« aufgebaut, hinter derer Kuppeln sich Radarsysteme der NATO verbergen. Die Insel ist ideal gelegen, um weite Teile des Nordpolarmeers zu überwachen, und beherbergt seit 1998 ein leistungsfähiges X-Band-Radar als Teil des US-Raketenabwehrsystems.

Von besonderem strategischen Interesse ist auch die zu Norwegen gehörende Inselgruppe Svalbard (Spitzbergen) zwischen der Barentssee und dem Nordpolarmeer. Durch seine Nähe zum Nordpol eignet sich der Archipel besonders als Bodenstation für Satelliten mit einer polaren Umlaufbahn, und die Militärs nutzen diesen Vorteil gerne, obwohl der Spitzbergenvertrag von 1920 die Inseln als entmilitarisierte Zone ausweist (Wormdal 2013).

Dänemark ist für die USA und die NATO aus einem ganz ähnlichen Grund interessant. Grönland liegt im Nordpolarmeer zwar dicht an Kanada, gehört politisch aber als autonomes Gebiet zu Dänemark. Schon 1951 begannen die USA auf Grönland mit dem Bau des Luftwaffenstützpunktes Thule Air Base. Thule diente der US Air Force im Kalten Krieg zunächst als Stützpunkt für das US Strategic Command und seine strategischen Atombomber, von der B-29 über die B-36 und B-47 bis hin zur B-52. Die Atombomber sind zwar verschwunden, dafür beherbergt die Insel heute wichtige Satellitenstationen und Radarsysteme für die US-Raketenabwehr und die Weltraumkriegsführung.

Zudem haben Dänemark und Schweden vereinbart, in einem Kriegsfall den Øresund, die Meerenge zwischen den beiden Ländern, zu schließen und russischen Schiffen die Durchfahrt zu verweigern.

Finnland

Finnland und Russland teilen sich eine 1.300 Kilometer lange Grenze. Im Dezember 2017 feierte Finnland 100 Jahre Unabhängigkeit von Russland. Jahrhundertelang war Finnalnd von Schweden regiert worden und fiel nach dem Russisch-Schwedischen Krieg von 1808-1809 als Großfürstentum an das russische Zarenreich. Nach der Oktoberrevolution von 1917 erklärte das finnische Parlament seine Unabhängigkeit, die noch im Dezember von Sowjetrussland anerkannt und von Wladimir Iljich Lenin unterzeichnet wurde.

1948 schlossen Finnland und die Sowjetunion den »Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand«, der über Jahrzehnte die finnische Außenpolitik mitprägte und Finnlands besonderes Geschick im diplomatischen Umgang mit seinem großen Nachbarn erklärt. Folglich hielt Finnland zur NATO und zu westlichen Streitkräften während des gesamten Kalten Krieges Distanz. „In Fragen von Krieg und Frieden sind wir immer für den Frieden. In internationalen Konflikten streben wir eher die Rolle des Arztes als die des Richters an“, sagte Urho Kekkonen einmal, von 1956 bis 1982 Präsident der Republik.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verließen die finnischen Politiker*innen zunehmend den friedens­politischen Weg. 1992 kaufte das finnische Militär Mehrzweck-Kampfflugzeuge des Typs F/A-18 Hornet der US-Firma Boeing und arbeitete enger mit den USA zusammen. Finnland wurde 1994 Mitglied des neu aufgesetzten NATO-Programms »Partnerschaft für den Frieden«, einer Art Vorzimmer der NATO. 1995 trat das Land der Europäischen Union bei, und seit 2011 ist es an den eingangs erwähnten »Nordic Baltic Summits« beteiligt, einer Art nordischer Mini-­NATO.

Seit der Annäherung an die NATO nimmt Finnland an allen militärischen Aktivitäten und Manövern teil, die das Bündnis im Hohen Norden durchführt. Einige Beispiele:

  • Jährlich finden die »Nordic Air Meet« (Nordischer Flugtreff) genannten multinationalen Trainings statt, bei denen sich NATO- und Nicht-NATO-Staaten über neue Kampftaktiken austauschen und diese einüben.
  • 2009 wurde die Kombatübung »Loyal Arrow« (Loyaler Pfeil) aufgesetzt, das bis dato größte Manöver im Norden. Die mehr als 50 Jets, Hubschrauber, Tankflugzeuge und AWACS nutzten die Flughäfen Bodø (Norwegen), Luleå und Vidsel (Schweden) sowie Oulu (Finnland); die Einsatzzentrale war in Ramstein (Deutschland).
  • Das Wintermanöver »Cold Response« (Kalte Antwort) findet jeweils im Winter in Norwegen statt, 2012 mit mehr als 16.000 Teilnehmer*innen.
  • In den Jahren 2013, 2015 und 2017 beteiligten sich finnische Truppen an »Artic Challenge«-Manövern (Arktische Herausforderung).
  • Im Juni 2016 führte die NATO mehrere Großmanöver im Ostseeraum durch. 40.000 Soldat*innen waren an parallelen Übungen zur See und in der Luft beteiligt, so an der jährlich stattfindenden Seeübung »Baltops« (Baltic Operations/Unternehmen Ostsee, 6.000 Teilnehmer*innen) und an dem zweijährlich organisierten polnischen Manöver »Anakonda« (Würgeschlange, mehr als 31.000 Teilnehmer*innen aus 24 NATO- und Partnerländern, Szenario: ein Angriff Russlands auf Polen).

Interoperabilität, d.h. die militärische Zusammenarbeit ohne Reibungsverluste, hat sich in jüngerer Zeit zu einem wichtigen Schlagwort entwickelt. Im September 2014 unterzeichnete der Kommandeur der finnischen Streitkräfte dafür ein »Host Nation Support«-Abkommen1 mit der NATO.

Die finnische Bevölkerung lehnt einen NATO-Beitritt mit hoher Mehrheit ab. Die Mitwirkung an Manövern, die Teilnahme an der »Partnerschaft für den Frieden« und ähnliche Angebote der NATO sind eine Möglichkeit, sich dem Bündnis dennoch anzunähern, und zwar unter Umgehung des finnischen Parlaments, wo das Thema nur selten öffentlich diskutiert wird.

Die baltischen Staaten

Die ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen sind kleine Anrainerstaaten der Ostsee bzw. des Finnischen Meerbusens mit Grenzen zu Russland bzw. Weißrussland. Sie traten am 1. Mai 2004 gemeinsam sowohl der NATO als auch der EU bei.

Auch die baltischen Staaten sind regelmäßig Schauplatz großer Militärmanöver unter Beteiligung der USA und der NATO. Seit 2014 beherbergt der estnische Luftwaffenstützpunkt Ämari die NATO Baltic Enhanced Air Policing Mission (NATO-Mission zur Überwachung und zum Schutz des baltischen Luftraumes), die den kompletten baltischen Luftraum überwacht. Ämari wird von Luftwaffen der USA und anderer Länder genutzt. Auch die Luftwaffenstützpunkte Lielvarde unweit der lettischen Hauptstadt Riga und Šiauliai in Litauen dienen im Rahmen von »Baltic Air Policing« als Stützpunkte unterschiedlicher Jagdgeschwader der NATO-Partner.

Und selbstverständlich beteiligen sich die drei baltischen Staaten an den bereits erwähnten »Baltops«-Seemanövern der NATO, die in den Gewässern der Ostsee und des Finnischen Meerbusens stattfinden.

Drei der NATO-Exzellenzzentren (siehe dazu den Artikel von Christopher Schwitanski auf S. 24) sind in baltischen Staaten angesiedelt: für »Cooperative Cyber Defence« (Gemeinsame Cyberverteidigung; Tallinn, Estland), »Energy Security« (Energiesicherheit; Vilnius, Litauen) und »Strategic Communications« (Strategische Kommunikation; Riga, Lettland). Das NATO STRATCOM COE – so das offizielle Kürzel – wurde 2014 durch ein »Memorandum of Understanding« zwischen Deutschland, Estland, Italien, Lettland, Litauen, Polen, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten gegründet und nahm die Arbeit noch im selben Jahr auf. Es beschäftigt sich mit „der koordinierten und angemessenen Nutzung von Kommunikationsaktivitäten und -fähigkeiten der NATO zur Unterstützung der Strategien, Einsätze und Aktivitäten des Bündnisses, um die Ziele der NATO zu fördern“ (stratcomcoe.org) – mit anderen Worten: mit der Informationskriegsführung und der Propaganda gegen Russland in sozialen Medien.

Und nun?

Die Friedensbewegung muss sich mehr dafür interessieren, welche Rolle der (Hohe) Norden und der Ostseeraum in der heutigen Kriegsplanung der NATO spielen. Dafür sind außer den dort stationierten Truppen und den zahlreichen Manövern die Satellitenstationen und Raketenabwehrsysteme von Thule, Svalbard, Esrange und Vardøya von größter Bedeutung. Wir müssen lernen, diese Zusammenhänge besser zu verstehen, denn nur dann können wir etwas dagegen unternehmen.

Anmerkung

1) Das Kommando Streitkräftebasis der Bundeswehr definiert Host Nation Support auf Deutschland bezogen wie folgt: „Militärische und zivile Unterstützungsleistungen, die Deutschland als Aufnahmestaat (Host Nation) in Frieden, Krise oder Krieg für verbündete Streitkräfte erbringt, die sich auf deutschem Hoheitsgebiet oder im Transit durch Deutschland befinden. Quelle: streitkraeftebasis.de. [die Übersetzerin]

Literatur

Leifland, K. (2004): Snö, mörker och kyla – Utländska militörövningar I Sverige. 30.6.2004; regeringen.se.

NATO Allied Air Command – Ramstein ­Germany (2018): NATO Airborne Early Warning; ac.nato.int.

Stoltenberg, T. (2009): Nordic Cooperation on Foreign and Security Policy – Proposals presented to the extraordinary meeting of Nordic foreign ministers in Oslo on 9 February 2009; regjeringen.no.

Wormdal, B. (2013): The Satellite War. San Bernadino, CA: Eigenverlag.

Agneta Norberg ist Vorsitzende des ­Schwedischen Friedensrates.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

NATO-Raketenabwehr


NATO-Raketenabwehr

Stand und Herausforderungen

von Katarzyna Kubiak

Einst eine heftig umstrittene Idee innerhalb der NATO, wurde Raketenabwehr mittlerweile zu einer Kernaufgabe der kollektiven Bündnisverteidigung. Aufgrund missgelungener Kooperationsversuche strapaziert sie jedoch weiterhin die ohnehin bröckelnden Beziehungen der USA und der NATO zu Russland. Daneben veranschaulicht das erste wirklich gemeinsame NATO-übergreifende Projekt auch allianzinterne Divergenzen. Nicht zuletzt fordert die NATO-Raketenabwehr die traditionelle Rüstungskontrolle heraus.

Die NATO beschloss 2010, eine strategische Fähigkeit aufzubauen, um das gesamte europäische Bündnisgebiet und die Bevölkerungen der europäischen Bündnisstaaten vor Angriffen mit ballistischen Raketen zu schützen. Die NATO-Raketenabwehr (Ballistic Missile Defence) in Europa ist neben der taktischen Raketenabwehr (zum punktuellen Schutz von Truppen und Anlagen), der Marschflugkörperabwehr, der Flugabwehr (Air Defence) und dem Air Policing (Luftraumüberwachung und Luftraumschutz) eine Teilkomponente der integrierten Luftverteidigung und Raketenabwehr der NATO.

Die USA, treibender Akteur beim Aufbau des Systems, stellen mit ihren see- und landgestützten Raketenabwehrsystemen in Europa bisher den Löwenanteil der NATO-Raketenabwehrfähigkeiten. Die NATO finanziert ein gemeinsames Kontroll- und Führungszentrum in Ramstein, welchem die US-amerikanischen Raketenabwehrsysteme in Rumänien untergeordnet sind. Zudem sollen in Krisenzeiten die vier raketenabwehrfähigen Aegis-Zerstörer der USA im Mittelmeer unter die operative Kontrolle der NATO gestellt werden.

Darüberhinaus entscheiden einzelne Mitgliedstaaten auf Grundlage ihrer eigenen Gefahrenanalyse, welche Sensoren (Radare, Satelliten) oder Abfang­raketen sie in das System einbringen. Allerdings beteiligt sich bisher nur eine Handvoll Verbündeter: Deutschland, Polen, Rumänien, Spanien und die Türkei stellen ihr Territorium für Elemente des NATO-Systems zur Verfügung. Deutschland, die Niederlande und Spanien steuern außerdem Patriot-Flugabwehrsysteme bei; Polen und Rumänien planen das für die Zukunft. Zudem wollen Frankreich und Großbritannien in landgestützte Radarsysteme investieren und Deutschland, Dänemark sowie die Niederlande einige ihrer Fregatten mit neuen Radarsystemen ausstatten, während Belgien eine Abfangfähigkeit als Option offenhält. Zusätzlich werden Kooperationsmodelle mit Nicht-Mitgliedstaaten erwogen, die beabsichtigen, in taktische Raketenabwehrfähigkeiten zu investieren.

Eine entscheidende Hürde für die europäische Beteiligung besteht darin, dass bislang kein europäisches Land eigenständig ein komplettes Raketenabwehrsystem bauen kann. Dies bedeutet entweder eine langfristige technologische Abhängigkeit von den USA oder die Notwendigkeit, massiv in die Entwicklung nationaler oder gemeinsamer Systeme zu investieren. Alle bisherigen Versuche, transatlantische Systeme aufzubauen, sind gescheitert, weil sich die USA aus entsprechenden Projekten wieder zurückzogen, und eine Zusammenarbeit bei der Entwicklung europäischer Lösungen gibt es kaum. Beide Optionen sind außerdem mit sehr hohen Kosten verbunden.

Einen flächendeckenden Schutz rund um die Uhr bietet die NATO-Raketenabwehrfähigkeit – zumindest in ihrer jetzigen Form – nicht. Dies ist vor allem auf die wenigen zur Verfügung stehenden Interzeptoren (Abwehrraketen mit Abfangflugkörper) zurückzuführen. Die im Mittelmeer stationierten Aegis-Zerstörer können zudem aus ihrer regulären Position Teile Osteuropas, der Türkei, Grönlands, der Azoren oder der Kanarischen Inseln nicht abdecken.

Die Europäer scheinen vor allem aus Gründen bündnispolitischer Solidarität in Raketenabwehrsysteme zu investieren, denn eine verlässliche Bedrohungsanalyse wurde bisher weder seitens der NATO noch der einzelnen europäischen Regierungen öffentlich vorgelegt. Von allen Staaten, die Raketenfähigkeiten entwickeln und von der NATO als potentielle Gegner eingestuft werden, kommen lediglich Syrien, Russland und Iran in Frage. Da Syrien nur über Kurzstreckenraketen verfügt (wofür eine strategische Raketenabwehr nichts bringt) und das NATO-Raketenabwehrsystem nach offiziellen Aussagen nicht gegen Russland gerichtet ist, ist der Iran der unausgesprochene Grund.

Allerdings hat das System neben der Schutzwirkung noch einen weiteren symbolischen Wert: Es ist das erste groß angelegte NATO-Projekt, an welchem sich alle Mitgliedstaaten gleichermaßen beteiligen können.

Russland und die NATO-Raketenabwehr

Die russische Regierung sieht die NATO-Raketenabwehr als Teil eines welt­umspan­nen­den, von den USA gesteuerten und ständig wachsenden Raketenabwehrnetzes,1 welches das zentrale Merkmal des Verhältnisses zwischen beiden Mächten – die strategische Stabilität – langfristig unterminieren wird. Den Austritt der USA aus dem ABM-Vertrag (Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion über die beiderseitige Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) im Jahr 2002, welcher dieses Prinzip institutionalisiert hatte, sieht Russland als Kehrwende mit gravierenden Folgen für die gegenseitigen Beziehungen.

Entgegen den Beteuerungen, die NATO-Raketenabwehr stelle für Russland keine Bedrohung dar, befürchtet der Kreml genau das Gegenteil. Als Reaktion entwickelte Moskau eine Haltung der Abwehr und Konfrontation. Die Modernisierung russischer Nuklearwaffenarsenale, die Verlagerung offensiver Fähigkeiten in unmittelbare Nähe zum NATO-Gebiet sowie die Entwicklung von Marschflugkörpern, welche im Rahmen des INF-Vertrages (Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion zur Eliminierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen) umstrittenen sind, wurden mit dem Aufbau der US-amerikanischen Raketenabwehrfähigkeiten in Europa begründet. Begleitet wurden diese Maßnahmen von einer aggressiven Rhetorik des Kremls gegenüber den NATO-Verbündeten Polen und Dänemark, welche sich an der NATO-Raketenabwehr beteiligen oder dies in der Zukunft beabsichtigen.

Um einem Sicherheitsdilemma vorzubeugen, hatte sich die NATO anlässlich der Entscheidung zum Aufbau ihres Raketenabwehrsystems für eine Zusammenarbeit mit Russland ausgesprochen. Ungeachtet mehrerer Kooperationsvorschläge aus Washington, Moskau und Brüssel konnten sich die Gesprächspartner jedoch nicht auf eine praktische Kooperation einigen. Dies lag u.a. an unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie eine solche Zusammenarbeit aussehen sollte.

Die NATO wollte ihre Maßnahmen zum Abfangen gegnerischer Raketen mit jenen Russlands koordinieren. Weil die Verbündeten jedoch größtenteils politisch, operationell und technologisch von den USA abhängig geblieben wären, war das Gesprächsangebot der NATO, mit Russland in Sachen Raketenabwehr zusammenzuarbeiten, weiterhin vornehmlich von den bilateralen Gesprächen zwischen Washington und Moskau abhängig.

Washington bemühte sich jedoch vor allem durch transparenz- und vertrauensbildende Maßnahmen darum, die russischen Sorgen auszuräumen. Eine echte Integration der eigenen Raketenabwehrfähigkeiten mit den Fähigkeiten Russlands strebte Washington nie an – weil es dies aus politischen Gründen nicht wollte und aus technologischen Gründen nicht nötig hatte.

Die russische Regierung, welche Raketenabwehr als ein geostrategisches Problem betrachtet, versuchte Washington zunächst davon zu überzeugen, die Stationierung von Raketenabwehrfähigkeiten in Mittel- und Osteuropa aufzugeben. Diese Bedenken spiegelten sich auch in dem darauf folgenden Vorschlag einer so genannten »sektoralen« Raketenabwehr wider. Demnach wollte Moskau für das Abfangen gegnerischer Raketen über einem gesonderten Teil des europäischen NATO-Gebiets (Baltikum, Norwegen, Polen) zuständig sein. Als beide Vorschläge abgelehnt wurden, forderte Moskau rechtsverbindliche Garantien, dass das NATO-Raketenabwehrsystem nicht gegen Russland gerichtet wird. Die USA waren aber nicht bereit, die eigenen Fähigkeiten zu beschränken, womit sie die russischen Befürchtungen zusätzlich bestärkten. Offen blieb, ob Russland tatsächlich an einer echten Zusammeanrbeit gelegen war.

Im Oktober 2013 setzte Russland die Gespräche zur Raketenabwehr im NATO-Russland-Rat aus. Im April 2014 brach die NATO ihrerseits als Reaktion auf die Annexion der Krim alle Kontakte auf Arbeitsebene mit Russland ab. Zwar bekräftigte die Allianz in den darauffolgenden Gipfelerklärungen ihre Bereitschaft zum Dialog über Raketenabwehr mit Russland, faktisch fehlt es jedoch an substanziellen Ideen. Zudem bemühen sich die Alliierten derzeit, auf gar keinen Fall den Eindruck zu wecken, mit Moskau wieder »business as usual« zu betreiben. Jegliches Angebot, über die Raketenabwehr zu sprechen, könnte als Überschreiten dieser roten Linie gedeutet werden.

Herausforderungen der NATO Raketenabwehr

Auch wenn nach langem Ringen die Entscheidung für eine NATO-Raketenabwehr gefallen und das Projekt mittlerweile weit vorangeschritten ist, bedeutet dies nicht das Ende von Problemen. Im Gegenteil. Die NATO-Raketenabwehr bringt eine Reihe neuer Fragen und Herausforderungen mit sich, denen sich die Allianz stellen muss – in Bezug auf die Allianzsolidarität, das Verhältnis zu Russland sowie die Zukunft von Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Neue Fähigkeiten, neue Bedrohungen

Die NATO-Raketenabwehr ist auf die Bekämpfung ballistischer Raketen ausgelegt. Um Raketenabwehrsysteme zu umgehen, entwickeln etliche Staaten, darunter auch Russland, neue Fähigkeiten, u.a. Marsch- und/oder Hyperschallflugkörper. Die Warnung zahlreicher Friedensforscher*innen, die auf die Gefahr eines durch Raketenabwehr ausgelösten Wettrüstens hinwiesen, hat sich damit bestätigt.2 Falls Washington der Absichtserklärung von US-Präsident Trump von Anfang Dezember 2018 folgt und den INF-Vertrag aufkündigt – was eine Erneuerung der europäischen Rüstungskontrollarchitektur deutlich erschwert –, könnte die NATO sich gedrängt sehen, zusätzliche Mittel in den Ausbau der Marschflugkörperabwehr einzukalkulieren.

Doch gegen Russland?

Solange die NATO-Raketenabwehr im Kern ein US-Programm bleibt, werden die europäischen Verbündeten auf dessen Ausrichtung nur begrenzten Einfluss nehmen können. Aus diesem Grund ist die Raketenabwehrpolitik der Allianz nah an die der USA angekoppelt. Während Letztere jahrelang auf die Bekämpfung begrenzter Bedrohungen (vor allem aus Nordkorea und Iran) ausgerichtet war, hat sich dies 2017 mit einem Beschluss des US-Kongresses geändert. Zukünftig soll das Raketenabwehrsystem der USA gegen „sich entwickelnde und komplexer werdende Bedrohungen“ schützen, womit auch die chinesischen und russischen Interkontinentalraketen gemeint sind. Dies hat sich bisher nicht auf die Raketenabwehrpolitik der NATO ausgewirkt.

Allerdings haben mittlerweile auch die Verbündeten die Zusage, ihre Raketenabwehrpotentiale nicht gegen Russland zu richten, relativiert. Sie erklärten auf ihrem Gipfel in Warschau im Jahr 2016, gewährleisten zu wollen, dass die Allianz sich gegen „die gesamte Bandbreite an Bedrohungen […], die sich dem Bündnis aus allen Richtungen entgegenstellen könnten“, verteidigen könne. Direkt übertragen schließt dies die Bereitschaft ein, auch russische Raketen abzufangen. Auch wenn es sich hier primär um eine Antwort auf die in Kaliningrad aufgestellten Iskander Raketen handelt und die bisher in Europa stationierten Abfangraketen aus technischen Gründen russische Interkontinentalraketen kaum abfangen können, verstärkt es die lang anhaltende russische Besorgnis, dass die diesbezügliche Allianzpolitik keinesfalls im Stein gemeißelt ist.

Gemeinsam oder doch eigenständig?

Die Türkei teilte mit, sie habe mit Moskau den Erwerb russischer S-400 Triumf – eines mobilen bodengebundenen Flugabwehrsystems, das auch Kurzstreckenraketen abfangen kann – vereinbart. Die NATO, allen voran die USA, kritisiert diesen Kauf aus industrie- und sicherheitspolitischen Gründen heftig. Zukünftig sollen die Fähigkeiten der strategischen und taktischen Raketenabwehr von einem gemeinsamen Kommando- und Kontrollzentrum koordiniert werden. Da man befürchtet, dass Russland bei der Anbindung eines S-400-Systems an dieses Zentrum Zugang zu geheimen Informationen erhalten könnte, verweigert die Allianz Ankara, die S-400-Systeme zukünftig an die gemeinsame Anlage anzukoppeln. Der Streit bezeugt jedoch eine tiefere Spaltung im Bündnis, da manche NATO-Staaten die Machtposition der USA innerhalb der Allianz infragestellen und mehr europäische Autonomie fordern.

Auswirkung für Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die NATO-Verhandlungen zur Raketenabwehr liefen parallel zu Überlegungen über die Rolle von Nuklearwaffen in der Verteidigungs- und Abschreckungspolitik der Allianz. Einzelne Mitgliedstaaten argumentierten, dass Raketenabwehr gegebenenfalls zur nuklearen Abrüstung innerhalb der NATO führen könnte, da an die Stelle der Abschreckung durch Vergeltung (mit Nuklearwaffen) die Abschreckung durch die Verweigerung von Erfolgsaussichten (mit Raketenabwehr) treten könnte. Diese Sichtweise hat sich in der Allianz nicht durchgesetzt. So einigten sich die Alliierten, dass die NATO-Raketenabwehr die Abschreckungsrolle von Nuklearwaffen lediglich vervollständigen, nicht aber ersetzen kann. Damit führt die NATO-Raketenabwehr nicht zur Entwertung oder gar zur Abrüstung von Nuklearwaffen der Mitgliedstaaten.

Daneben ist die NATO-Raketenabwehr Teil des Streits um den INF-Vertrag. Als Antwort auf die US-Vorwürfe, Russland würde mit einem neuen Marsch­flugkörper das Abkommen verletzen, entgegnet Moskau, dass die USA im Rahmen der NATO-Raketenabwehr landgestütze Mehrzweck-Abschussrampen in Rumänien (und ab ca. 2020 in Polen) stationieren, welche zum Abfeuern von Marschflugkörpern innerhalb der INF-Reichweite genutzt werden können und somit den Vertrag brechen. Washington behauptet, auf alle russischen Vorwürfe umfassend eingegangen zu sein. Die NATO ihrerseits stellt sich bedingungslos hinter die USA, ohne Forderung, die russischen Anschuldigungen durch Verifikation zu klären. Zudem wurde ist laut russischem Außenministerium das russische Angebot gegenseitiger Transparenzmaßnahmen von Washington „kategorisch abgelehnt“.

Mittlerweile ist Raketenabwehr Realität geworden, die für einige Staaten – u.a. Russland oder China – schwierig hinzunehmen, aber unumkehrbar ist. Auch wenn sich Russland mit der Raketenabwehr noch nicht abgefunden haben mag, scheint der Kreml zumindest an strategischer Rüstungskontrolle mit den USA weiterhin Interesse zu haben. Der Dialog zwischen beiden Nuklearmächten ist – wenngleich stockend und visionslos – noch nicht zum Stillstand gekommen. Selbst wenn sich Moskau und Washington auf die Verlängerung des New-START-Abkommens zur Verringerung strategischer Nuklearwaffen einigen sollten (das andernfalls im Februar 2021 ausläuft) – Raketenabwehr ist zweifelslos ein wesentlicher Stolperstein für zukünftige Rüstungskontrollverträge.

Anmerkungen

1) Neben Radarsystemen und Abfangraketen auf dem eigenen Territorium und auf ca. 33 Schiffen weltweit, betreiben die USA Raketenabwehrfähigkeiten auf dem Gebiet anderer Verbündeter und Partnerländer (Grönland/Dänemark, Großbritannien, Japan, Südkorea) sowie Guam. Zudem planen einige US-Verbündete strategische Raketenabwehrfähigkeiten US-amerikanischer Herstellung zu beschaffen oder existierende auszubauen (Japan, Vereinigte Arabische Emirate).

2) Allerdings ist schwer abzuschätzen, inwiefern diese Fähigkeiten auch ohne den Auslöser Raketenabwehr, vielleicht nur langsamer, entwickelt worden wären und inwiefern die Raketenabwehr lediglich zur Legitimierung ­dieser Entwicklung beiträgt.

Dr. Katarzyna Kubiak ist Policy Fellow am European Leadership Network (ELN) in London, wo sie zu Nuklear- und Rüstungskontrollpolitik arbeitet.

Vorwärts, aber wohin?


Vorwärts, aber wohin?

von Jürgen Nieth

Deutschland und Frankreich haben genau 56 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags am 22. Januar in Aachen einen Freundschaftsvertrag unterzeichnet. „Das Abkommen sei eine Antwort auf Populismus und Nationalismus, sagte die Bundeskanzlerin; der französische Präsident sprach pathetisch von einem »Schutzschild unserer Völker gegen die neuen Stürme in der Welt«.“ „Geht es nicht eine Nummer kleiner?“, fragt Nikolas Busse in der FAZ (23.1.19, S. 1). Auch das ND (23.1.19, S. 19) titelt: „Viel Pathos gegen Populismus“. Die Schweizer NZZ (23.1.19, S. 3) setzt als Headline „Ein Zeichen gegen den Zeitgeist“. Sie sieht den Vertrag als Gegenmodell zu »Mein Land First« und „gewissermaßen als Gegen-Brexit inszeniert“.

Andere reagieren fast euphorisch. Für Nils Minkmar ist „der Vertrag von Aachen ein Wunder, […] ein Frühlingsversprechen, eine erfrischende Geste politischen Übermuts“ (Spiegel 26.1.19, S. 111). Daniel Brössler schreibt in der Süddeutschen Zeitung (23.1.19, S. 4): „Sie haben sich zur Verantwortung Frankreichs und Deutschlands bekannt für ein Europa, das bedroht von außen wie von innen in existenzieller Gefahr schwebt.“ Und für Rudolf Balmer (taz 23.1.19, S. 12) ist der Vertrag „im Kontext der gegenwärtigen EU im wörtlichen Sinne richtungsweisend – und darum trotz kleiner Fortschritte geradezu mutig“.

Auszüge aus dem Vertragstext

Artikel 3
„Beide Staaten vertiefen ihre Zusammenarbeit in
Angelegenheiten der Außenpolitik, der Verteidigung, der äußeren und inneren Sicherheit und der Entwicklung und wirken zugleich auf die Stärkung der Fähigkeit Europas hin, eigenständig zu handeln […]“

Artikel 4
(3) Beide
Staaten […] intensivieren die Erarbeitung gemeinsamer Verteidigungsprogramme und deren Ausweitung auf Partner. Hierdurch beabsichtigen sie, die Wettbewerbsfähigkeit und Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern. Sie unterstützen die engstmögliche Zusammenarbeit zwischen ihren Verteidigungsindustrien… Beide Staaten werden bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte entwickeln.“

Zweifel an der Realisierbarkeit

Für Sascha Lehnartz (Welt 22.1.19, S. 8) sind die oben zitierten Zielvorstellungen nur „schwer unter einen Hut zu bringen […] Frankreich ist eine Atommacht mit einem Präsidenten als Oberbefehlshaber, der sein Parlament im Nachhinein über seine Entscheidung informieren kann. Als ehemalige Kolonialmacht hat Frankreich nach wie vor wenig Hemmungen nationale Interessen […] bei Bedarf militärisch zu schützen […] Deutschland hat eine Parlamentsarmee […] und militärische Einsätze müssen zuallererst moralisch legitimiert werden. Der Primat der Moral gilt erst recht für Rüstungsexporte.“

Auch für die Berliner Zeitung (23.1.19, S. 4) liegen „Wunsch und Wirklichkeitin dem Aachener Vertrag „noch weit auseinander“.

Bei Nikolas Busse (FAZ 23.1.19, S. 1) liest sich das so: „Die tief ins Grundsätzliche reichende Uneinigkeit in Fragen der Verteidigung und der Rüstung, die in dem Abkommen nur mühsam überkleistert wurde, bleibt eines der großen Hindernisse für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.“ Wohin die Reise gehen soll, wird im Abschlusssatz seines Kommentars deutlich: „Hier hat vor allem die deutsche Politik die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt.“ Soll wohl heißen: mehr Bereitschaft zu Militäreinsätzen, weniger Schranken für Rüstungsexporte.

Mehr Interventionen und Rüstungsexporte?

Die Reden von Macron und Merkel in Aachen lassen hier aufhorchen.

„Künftig sollen die Streitkräfte beider Länder ihre Rüstungsgüter aus europäischer oder deutsch-französischer Produktion beziehen. Macron sagt zur Begründung, auf diese Weise könnten die Amerikaner nicht sagen, dass ihre Waffen bei einem bestimmten Militäreinsatz nicht verwendet werden dürften.“ Angela Merkel „stimmt zu, es sei Unfug, wenn die Europäer selbst »um die Welt rennen« um zwei verschiedene Kampfflugzeuge […] zu verkaufen“. Und weiter: Beim Waffenexport dürfen wir uns nicht über den Export jeder Schraube in die Haare geraten“ (Johannes Leithäuser und Michaela Wiegel in FAZ 23.1.19, S. 2).

Hans-Georg Ehrhart, Senior Fellow am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik/IFSH, schreibt dazu in einem Gastkommentar für den Freitag (24.1.19, S. 9): „Paris darf hoffen, dass Berlin künftig der interventionsfreudigeren französischen Politik folgt […] [Es] besteht die Gefahr, dass nun konservative Abgeordnete ihren Versuch wiederholen, den Parlamentsvorbehalt aufzuweichen.“

Vorwärts, aber wohin?

„Nach dem Austritt Großbritanniens wächst das Gewicht dieses Duos [FR und D] in einem Maße, das andere EU-Staaten nicht gleichgültig lassen wird […] [und] für die Entwicklung der EU so gefährlich werden [kann], wie es das Desinteresse der beiden größten Länder des Bündnisses wäre“, schreibt Gerd Appenzeller im Tagesspiegel (22.1.19, S. 1).

Kritik auch von René Heilig (ND 23.1.19, S. 1): Wer die Union retten will, kann das nicht im Duo tun. Und schon gar nicht mit einem Vertrag, in dem gemeinsame akzeptable Sozialstandards für jene, die den relativen Wohlstand in den Vertragsnationen schaffen, nicht einmal als Vision vorkommen. Dass man dafür aber viel über Militärkooperation, Rüstungsexport und Migrationsabwehr findet, macht den gemeinsamen Weg in die Zukunft wahrlich höchst suspekt.“

Die Berliner Zeitung (23.1.19, S. 4) zitiert dazu Sevim Dagdelen (MdB Die Linke): „Statt Europa als Kontinent des Friedens zu einen, vertiefen Kanzlerin Merkel und Präsident Macron mit dem binationalen Deal zur weiteren Militarisierung die Spaltung der EU.“

Ein Fragezeichen setzt Hans Georg Ehrhart vom IFSH: „Beide wollen ein Zeichen setzten für mehr Europa. Die entscheidende Frage ist aber: Soll diese sicherheitspolitisch autonome EU als Großmacht im klassischen Sinne handeln oder als Friedensmacht, die auf friedlichen Wandel und die Stärke des Rechts setzt?“ (Freitag, s. o.)

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine, Freitag, ND – Neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Spiegel, SZ – Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, Welt.

Das hybride Bündnis


Das hybride Bündnis

NATO-Osterweiterung zwischen Integration und Konfrontation

von August Pradetto

2008 war die NATO in der Frage gespalten, ob der Ukraine und Georgien ein Membership Action Plan angeboten werden und damit der Beitrittsprozess zum Bündnis eingeleitet werden soll. Das vor allem von den USA betriebene Vorhaben fand zumal in Paris und Berlin keine Zustimmung. Gleichzeitig wurde beiden Ländern aber erneut versichert, dass sie der Allianz eines Tages beitreten könnten. Da nicht abzusehen ist, dass Moskau eine ukrainische Mitgliedschaft akzeptiert, bleiben die Spannungen zwischen dem Bündnis und Russland auf der Tagesordnung – und damit die Debatte darüber, welche Funktion und welchen Stellenwert die NATO-Osterweiterung bei der Gestaltung der post-bipolaren Weltordnung einnimmt.

Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4.4.1949 sieht vor, „dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere [der Vertragsparteien] in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird“. Darauf bezogen ist die NATO eine wirksame Organisation. Sie bildet ein kollektives Verteidigungssystem, das seine Mitglieder vor äußeren Angriffen schützt. Und sie stellt ein kollektives Sicherheitssystem dar, das zwischen seinen Mitgliedern Frieden gewährleistet. Damit ist sie auch unter Kostenaspekten reizvoll: In der NATO zu sein bedeutet nicht nur mehr (oder überhaupt) Sicherheit, sondern spart prinzipiell auch Verteidigungsausgaben, weil sowohl nach außen wie nach innen Vertrauen in die kollektive Sicherheitsproduktion der Organisation besteht.

Die NATO ist aber zugleich ein Militärbündnis, das ein Sicherheitsdilemma erzeugt. Die massive Aufrüstung im Kalten Krieg war für ein historisch präzedenzloses Wettrüsten mitverantwortlich. De facto wirkte und wirkt das Bündnis auch als militärische Absicherung für eine imperiale oder expansive Politik einzelner Mitglieder, vor allem der USA, Frankreichs und Großbritanniens.

Die Bewertung der NATO-Osterweiterung, die seit dem Ende des Kalten Krieges erfolgte, bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Zwei Fragen stehen im Folgenden im Mittelpunkt: 1. Welche Rolle spielte die Aufnahme neuer Mitglieder in diesem ambivalenten Kontext? Und 2. Gibt es benennbare Parameter, die die friedenspolitische Funktion der NATO gegenüber der spannungsverstärkenden Dimension stärken können?

Diese Fragen werden vor dem Hintergrund eines pragmatischen Befunds gestellt: Ein von relevanten Kräften getragenes Interesse an der Auflösung der Organisation ist so wenig sichtbar wie der Wille oder die Fähigkeit, eine alternative Sicherheitsstruktur im europäischen oder globalen Maßstab zu etablieren.

Osterweiterung und »realistische« Logik

Die Osterweiterung der NATO nach dem 1991 erfolgten Kollaps von Warschauer Pakt und Sowjetunion hatte für die beteiligten Akteure vorrangig drei miteinander verbundene Dimensionen. Die erste bestand in der »realistischen« Interessenpolitik der Allianzmitglieder in militärischer, politischer und ökonomischer Hinsicht. Es ging um die Ausweitung des strategischen Raums und neuer ökonomischer und politischer Einflusssphären.

Die zweite Dimension betraf die andere Seite derselben Medaille: die Transformation der vom Kommunismus befreiten Systeme, also die post-kommunistische Schaffung von Identität. Die zuvor unter sowjetischer Herrschaft stehenden Länder in Mitteleuropa wurden in ein institutionelles System einbezogen, das den Rahmen für eine gewünschte sicherheitspolitische, wirtschaftliche und politische Entwicklung vorgab und absicherte. Solcherart kreierten die neuen Eliten dieser Länder im Zusammenspiel mit westlichen Akteuren eine neue Identität und ein neues Rollenverhalten.

Die dritte Dimension bezog sich auf die Beziehung des erweiterten Raums zur Umwelt. Diesbezüglich gab es vor allem in sicherheitspolitisch-militärischer Hinsicht weniger Übereinstimmung als bei den beiden vorgenannten Aspekten. Dies betraf abweichende Wahrnehmungen sowohl zwischen westlichen und integrationswilligen östlichen Akteuren als auch zwischen den östlichen neuen Eliten untereinander. Für die polnischen, aus der Oppositionsbewegung »Solidarnosc« hervorgegangenen Führungspersönlichkeiten und Parteien beispielsweise hatte das Motiv der Abgrenzung gegenüber der Sowjetunion bzw. Russland und einer militärischen Position der Stärke gegenüber dem weiter im Osten gelegenen Nachbarn von Anfang an Priorität. Andere post-kommunistische Eliten und vor allem westliche Akteure hatten, zumal nach der Auflösung der Sowjetunion und der Liberalisierung und Demokratisierung Russlands infolge der Politik des Generalsekretärs bzw. Staatspräsidenten Michail Gorbatschow, ein anderes Bild von Russland wie von den künftigen Beziehungen zu Moskau.

Zwischen diesen Polen spielte sich ein wesentlicher Teil des Diskurses über das Verhältnis von NATO-Osterweiterung und den Beziehungen der NATO zu Russland ab. Um es kurz zu machen: Der abgrenzende »Realismus« setzte sich gegenüber der Politik eines inklusiven Institutionalismus in dem Maße durch, wie die Aufnahme neuer Mitglieder im Osten voranschritt. Die damit verbundene Entfremdung zwischen der NATO und Russland wurde durch zwei Entwicklungen intensiviert: einerseits die nach den Terrorattentaten vom 11.9.2001 (»9/11«) zunehmend »pro-aktive«, interventionistische Politik westlicher Mitglieder der NATO, andererseits die nach dem Gewinn der Präsidentschaftswahl durch Wladimir Putin (2000) immer stärker auf die Wiedererringung einer internationalen Machtposition orientierte Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik Moskaus.

Polen, Tschechien und Ungarn traten der NATO zum 50. Gründungsjubiläum des Bündnisses im April 1999 bei. Die im darauf folgenden Jahr in den USA gewählte Administration G.W. Bush jun. schlug 2002 vor, in einem »big bang« eine ganze Reihe weiterer ehemaliger Warschauer-Pakt-Mitglieder in die NATO zu integrieren. Im Diskurs in den Vereinigten Staaten spielten die Erweiterung der eigenen Machtbasis in Europa und die Einschränkung realer und möglicher außenpolitischer und militärischer Spielräume Moskaus eine wesentliche Rolle. Moskau hatte nicht nur die Intervention in Jugoslawien 1999 strikt abgelehnt, sondern auch den seit Frühjahr 2002 vorbereiteten Krieg gegen Irak. Dagegen signalisierten die meisten osteuropäischen Allianzmitglieder und Aufnahmekandidaten Zustimmung und unterstützten die Intervention auch militärisch.

In diesem Umfeld war der weiteren Osterweiterung die Tendenz zu konfrontativem Denken und Handeln inhärent. Die Integration in die NATO bedeutete die Modernisierung der Armeen der neuen Mitglieder und ihre Einbeziehung in militärische Strukturen, die Russland geografisch zugleich näher rückten. Der Kern der NATO, die kollektive Verteidigung nach Artikel 5 des Vertrags, war nur glaubhaft, wenn die Neumitglieder im Fall des Falles auch verteidigt werden konnten. Zwar gab es Beteuerungen, dies alles richte sich nicht gegen Russland, und den Versuch, Moskau durch eine »eigenständige« institutionelle Verklammerung, den NATO-Russland-Rat, zu beruhigen und einzubinden. Es wurde aber schnell deutlich, dass diese Einbindung im Falle gegensätzlicher Auffassungen – wie von westlicher Seite immer wieder betont – »Moskau kein Vetorecht einräumt«.

Außerdem stellte sich die Frage, gegen wen, wenn nicht gegen Russland, insbesondere die an der russischen Grenze liegenden Staaten gegebenenfalls glaubhaft verteidigt werden sollten. Die Frage der Glaubhaftigkeit wurde umso virulenter, je stärker die teilweise großen russischen Minderheiten in diesen Ländern als ein Instrument möglicher Destabilisierung erschienen.

Als Washington 2008 die Ukraine (und Georgien) zur Aufnahme in die NATO vorschlug, verhärteten sich die Fronten. Die Westgrenze der Ukraine und von Belarus wurden und werden in Moskau als »rote Linie« erachtet. Unter völkerrechtsbezogenen Souveränitätsaspekten ist diese Haltung inakzeptabel, unter dem Aspekt politischer und sicherheitspolitischer Sensibilität ist sie westlicherseits in Rechnung zu stellen. Dieser neue Vorstoß bis an die russischen Grenzen (nach der Aufnahme der baltischen Staaten sowie der Slowakei, Sloweniens, Bulgariens und Rumäniens im Jahre 2004, Kroatiens und Albaniens 2009)1 spielte bis 2013 nur eine hypothetische Rolle, weil es weder in der NATO (vor allem Berlin und Paris waren dagegen) noch in der Ukraine eine Mehrheit für einen Beitritt gab.

Das änderte sich, als im Herbst 2013 nach der Nichtunterzeichnung des geplanten Assoziationsabkommens mit der EU durch die ukrainische Führung eine politische Krise ausbrach und im Februar 2014 die Opposition die Macht ergriff. Diese suchte westliche Unterstützung nicht zuletzt mit der Forderung nach einer Aufnahme in die NATO, und westliche – vor allem US-amerikanische und polnische – Politiker sahen eine Chance, die Ukraine aus dem Einfluss Moskaus zu lösen und ins westliche Bündnis zu ziehen.

Die weiteren Ereignisse und die Eskalation der rhetorischen, diplomatischen, politischen, ökonomischen und auch militärischen Auseinandersetzungen sind bekannt: völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Moskau, Stellvertreterkrieg im Südosten der Ukraine um die von Russland unterstützten Separatistengebiete Luhansk und Donezk bis hin zu Zusammenstößen zwischen ukrainischen und russischen Marineschiffen in der Straße von Kertsch im November 2018.

Die Osterweiterung im Kontext

Sieht man die Bemühungen um eine Einbeziehung der Ukraine in die NATO als logische Folge vorhergehender Schritte, dann erscheint die Osterweiterung der Allianz insgesamt problematisch. Eine solche Sichtweise lässt allerdings außer Acht, dass nicht abstrakte Strukturen oder Gesetzmäßigkeiten eine solche Entwicklung determinierten. Vielmehr trafen verantwortliche Politiker an jedem Punkt des Verlaufs Entscheidungen, die auf ein Mehr an Kooperation oder ein Mehr an Konfrontation hinausliefen. Die Forderung nach Aufnahme der Ukraine in die NATO war umstritten: Washington und Warschau dafür, Berlin und Paris dagegen. Ohne die Krise in der Ukraine 2013/14 hätte es also auf absehbare Zeit keine Konfrontation in dieser Frage gegeben, weil keine Mehrheit für die Aufnahme existierte und damit auch keine Aggression Moskaus gegen die Ukraine.

Die Annexion der Krim war ebenso eine bewusste politische Entscheidung. Das gleiche gilt für die Entscheidung Moskaus nach der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991, trotz der Bemühungen vieler Krim-Bewohner um eine Reintegration und Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland die Souveränität der Ukraine nicht anzutasten, was bis 2013 galt.

Anfangs trug also die Einbeziehung post-kommunistischer Staaten in das westliche Verteidigungssystem, wie in die EU, durchaus zur Stabilisierung der Verhältnisse sowohl in den respektiven Ländern als auch in ganz Europa bei. Die Integration in funktionierende Institutionen konsolidierte die durch den Kollaps des Kommunismus und der internationalen Ordnung ausgelösten Transformationsprozesse. Das gilt auch mit Blick auf Teile russischer Eliten, die nach der Auflösung der Sowjetunion mit der Figur eines »nahen Auslands« und einer »natürlichen Einflusszone« spielten und entsprechende Befürchtungen weckten.

Die Osterweiterung wurde richtigerweise flankiert von Bemühungen, auch Russland institutionell einzubinden. Die mit Blick auf Sicherheit, Wohlfahrt und Demokratie in Europa positiven Wirkungen wurden allerdings – bezogen nun auf das Verhältnis zwischen der NATO und Russland, aber auch gegenüber anderen Akteuren in der internationalen Sphäre, ebenso wie NATO-intern – zunehmend konterkariert durch konfrontative Entscheidungen.

Dazu gehörten neben den schon genannten Maßnahmen u.a. die Instrumentalisierung terroristischer Anschläge für eine Politik der Aufrüstung und eine aggressive Interventionspolitik gegen islamische Staaten bei gleichzeitiger massiver politischer wie militärischer Unterstützung extremistisch-gewalttätiger islamistischer Oppositionsgruppen; die faktische Außerkraftsetzung von Rüstungskontrolle und Abrüstung; die sinnlose und kontraproduktive Überreizung der NATO-Osterweiterungspolitik mit der Ukraine und Georgien; die kontraproduktive Unterstützung einer ukrainischen Opposition, die ihrerseits eine Konfrontations- und Eskalationsstrategie verfolgte, um an die Macht zu kommen, und dieses Interesse vor die Interessen und die Sicherheit des eigenen Landes stellte.

Es gab keinen Automatismus, sondern einen Mechanismus der Eskalation, der von den beteiligten Seiten bedient wurde. Und diese Eskalation verdichtete sich zu jenem Trend, der seit Ende der 1990er Jahre um sich griff: die Erosion des Rechts im Kontext konfrontativer Politik.

Das zentrale Problem bestand darin, dass die notwendige Bedingung für eine positive Gestaltung des Erweiterungsprozesses, nämlich eine weitergehende sicherheitspolitische Kooperation zwischen dem Westen und Russland, immer weniger erfüllt wurde. US-Präsident G.W. Bush sen. hatte im Ende des Kalten Krieges keinen Anlass zu Triumphgeheul gesehen, keine willkommene Gelegenheit, um »auf der Mauer zu tanzen«. Ähnlich Bill Clinton. Danach aber gingen Respekt, Sensibilität und die Berücksichtigung der Wahrnehmungen Moskaus ziemlich schnell verloren, wie auch umgekehrt die Sensibilität Moskaus gegenüber den Wahrnehmungen ehemaliger »Satelliten«. Washingtons Radikalität hinsichtlich einer auf wenige Jahre terminierte Transformation des Nahen und Mittleren Ostens, die mit den Kriegen in Afghanistan und Irak in die Wege geleitet werden sollte, entsprach die Rücksichtslosigkeit, mit der Moskauer Einwände beiseite gewischt wurden, und das Tempo, mit der die NATO-Osterweiterung vorangetrieben wurde.

Die NATO wird sich im April als das erfolgreichste Militärbündnis der Weltgeschichte feiern. Dass dies auch intern nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt, zeigen die seit Jahrzehnten andauernden Anstrengungen, eigenständigere europäische Verteidigungs- und Sicherheitsstrukturen zu schaffen. Seit Donald Trump US-Präsident ist, populistische Kräfte in Europa stärker werden und in diversen Fragen gegensätzliche Auffassungen zwischen Allianz-Mitgliedern hervortreten, schwellen diese Stimmen wieder an. Insofern kann der Ruf nach »Europäisierung« auch als Abgesang auf die NATO interpretiert werden.

Selbst wenn Politiker wie Trump, Salvini, Kaczynski und Orban scheitern, abgewählt und durch »normale« Politiker ersetzt werden sollten: Gewissheiten wie noch vor einigen Jahren wird es nicht mehr geben. Und diese fehlende Gewissheit lässt auch eine Einigung Europas in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen noch schwieriger werden. Gemeinsame Streitkräfte sind eine Vertrauensinvestition in die Zukunft, nämlich dass man auch morgen gemeinsame Werte, Überzeugungen und Interessen teilt und verteidigt. Darauf wird nur mehr bedingt gesetzt.

Eine Paradoxie besteht darin, dass unter diesen Umständen nicht die Europäische Union bzw. die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) oder die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU gestärkt wird, sondern die NATO jene Klammer bleibt, die als kollektive Verteidigungsorganisation nach außen und als kollektive Sicherheitsorganisation nach innen in einem bestimmten Maße wirksam ist – wenn auch weniger als früher. Ohne NATO wäre es aber um die Lage in Europa noch schlechter bestellt.

Fazit: Was ist zu tun?

Weitgehende Einigkeit besteht in der Zielsetzung, dass die Rückkehr zu einem regelbasierten Verhalten der Akteure die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Verhältnisse im internationalen Raum ist. Wie soll die Abkehr von konfrontativer Gewaltpolitik und die Beachtung von allgemein verbindlichen Rechtsgrundsätzen bewerkstelligt werden? Aufforderungen an andere, sich an Regeln zu halten, die NATO-Mitglieder selbst nicht achten, nützen nichts. Nur wer Rechtsgrundsätze glaubhaft vertritt, kann legitim und mit Erfolgsaussichten ihre Einhaltung von anderen verlangen.

Hierfür tragen die machtvollsten Akteure auch die größte Verantwortung. Die programmatische Grundlage der NATO ist nach wie vor der Nordatlantikvertrag, und die darin festgelegten Prinzipien sind simultan die Basis für das Handeln einer »verantwortungsbewussten Macht«. Die NATO wird sich nicht neu erfinden. Aber die 70-Jahr-Feier im April 2019 könnte wenigstens von einigen Mitgliedern genutzt werden, um diese Grundsätze als Selbstverpflichtung zu bekräftigen.

Vier Prinzipien des Nordatlantikvertrags sind entscheidend:

1. Die Vorrangigkeit der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen: Die Parteien dieses Vertrags bekräftigen erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben.“ (Präambel)

2. Die Vorrangigkeit friedlicher Konfliktschlichtung und die Absage an Gewaltandrohung und -ausübung: „Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewalt­androhung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.“ (Art. 1)

3. Kollektive militärische Maßnahmen im Verteidigungsfall nur gemäß Art. 51 der VN-Charta: Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ (Art. 5)

4. Und schließlich die vorrangige Zuständigkeit des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen für die Erhaltung des Friedens: „Dieser Vertrag berührt weder die Rechte und Pflichten, welche sich für die Parteien, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, aus deren Satzung ergeben, oder die in erster Linie bestehende Verantwortlichkeit des Sicherheitsrats für die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit, noch kann er in solcher Weise ausgelegt werden.“ (Art. 7)

Es wäre illusionär zu glauben, dass sich die NATO oder einzelne ihrer Mitglieder einer tiefgreifenden Selbstkritik unterziehen. Für die anderen Akteure im internationalen Raum kommt es auch weniger auf vergangenes als auf gegenwärtiges Denken und Handeln an. Es wäre auch illusionär zu glauben, mit einer solchen Bekräftigung würden Alleingänge einzelner Mitglieder nicht mehr stattfinden. Worum es geht, ist ein kontinuierliches Bemühen um eine Stärkung des Rechtsbewusstseins und eines regelbasierten Agierens im internationalen Raum und um ein Höhersetzen der mentalen Schwellen für nicht regelkonformes Verhalten.

Nach den negativen Erfahrungen mit Gewaltentwicklungen, Rechtsbrüchen und ihren Folgen in den vergangenen zwei Jahrzehnten sowie mit der Unberechenbarkeit einzelner Führungspersönlichkeiten ist ein verstärktes Interesse diverser NATO-Mitglieder erkennbar, in diese Richtung zu gehen. Das Eigeninteresse an einer Stabilisierung der Lage in verschiedenen Regionen der Welt – für die Europäer vor allem im Mittleren und Nahen Osten sowie in Nordafrika – gibt dieser Tendenz Auftrieb.

Was also kann die deutsche Politik tun? Eine kontinuierliche Debatte über die Einhaltung des Rechts in der Außenpolitik, eine ständige Arbeit an der Verbreiterung institutioneller Strukturen für ein multilaterales Konfliktmanagement, Bemühungen um die Ausweitung internationaler Gerichtsbarkeit sowie eine Verbesserung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Welt, um Konfliktursachen einzudämmen, sind ein wesentliches Element verantwortungsbewusster Außen- und Sicherheitspolitik. Ein anderer vorrangiger Aspekt, ohne den ein großer Teil der vorgenannten Anstrengungen ins Leere laufen, ist die Eindämmung des Auf- und Wettrüstens, das eingesetzt hat. Das betrifft nicht zuletzt die NATO.

Hypothetisch könnte die Allianz einen wesentlichen friedenspolitischen Beitrag leisten, würde sie sich, wie ausgeführt, in ihrer eigenen Politik auf ihre Grundsätze besinnen und diese Prinzipien gemeinsam gegenüber anderen vertreten. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre ein Vorstoß in Richtung globale Sicherheitspolitik anlässlich ihres 70-jährigen Bestehens, nämlich eine Einladung an China, Russland und weitere Akteure, in einem fixierten und auf Dauer angelegten Format die Probleme zu erörtern, die die Sicherheit auf regionaler und globaler Ebene betreffen.

Als Ziel einer solchen Bemühung könnte formuliert werden, dass die NATO, China und Russland mit anderen dazu beitragen wollen, Vertrauensbildung zu betreiben, gemeinsam Sicherheitskonzepte zu entwickeln und ihre Ressourcen für mehr Frieden und Sicherheit in der Welt zu bündeln. Die NATO könnte sich sogar auf Donald Trump berufen. Dieser hatte im Dezember 2018 vorgeschlagen, mit China und Russland Rüstungskontrollgespräche zu führen, weil es, wie der Präsident völlig richtig feststellte, „verrückt“ ist, dass die USA in 2018 716 Mrd. Dollar (und, kann hinzugefügt werden, die NATO weit mehr als 1.000 Mrd. Dollar) für Verteidigung ausgaben.

Anmerkung

1) 2017 kam Montenegro dazu.

August Pradetto ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Big Data und Militär


Big Data und Militär

Der Kampf gegen den Zufall

von Daniel Leisegang

Big Data soll ein effektiveres und wirkungsvolleres Handeln des Militärs ermöglichen. Allerdings drohen Kriege damit nicht nur automatisiert, sondern zugleich zum Mittel erster Wahl zu werden. Die Folgen sind dramatisch – auch und gerade für die Demokratie.

In Gefechtssituationen herrscht der „Nebel des Krieges“, wie es einst der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz ausdrückte (1834, S. 23). Demnach ist der Krieg „das Gebiet der Ungewißheit; drei Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewißheit“. Das Schlachtfeld gerate damit zu einem „Gebiet des Zufalls“.

Um diesen Nebel zu lichten, stößt das Thema Big Data längst nicht nur bei kommerziellen Unternehmen, sondern auch bei Militär und Geheimdiensten auf großes Interesse. Sie erhoffen sich durch die Erfassung und Auswertung großer Datenmengen genauere Prognosen und damit strategische Vorteile – weit über das Schlachtfeld hinaus.

Als Big Data bezeichnet man gemeinhin „Datensätze, deren Größe die Fähigkeit herkömmlicher Datenbankwerkzeuge zur Erfassung, Speicherung, Verwaltung und Analyse übersteigt” (McKinsey 2011, S. 1). Insbesondere drei V’s charakterisieren diese: volume, variety und velocity – zu Deutsch: Volumen, Vielfalt und Geschwindigkeit. Demzufolge sind die Daten so umfangreich, dass Menschen sie ohne technische Hilfe nicht mehr analysieren können (volume). Darüber hinaus unterscheiden sie sich sowohl in ihrer Art – etwa ob sie in Form von Tabellen, E-Mails, Fotos, PDF-Dateien, Videos oder Audio bereitstehen – als auch darin, ob sie strukturiert oder unstrukturiert vorliegen (variety). Und nicht zuletzt wächst die Geschwindigkeit stetig an, mit der Maschinen und Menschen weitere digitale Daten erzeugen (velocity). Schätzungen zufolge werden wir 2025 rund zehn Mal so viele digitale Daten generieren wie im Jahr 2016 (Statista 2018).

Den »Nebel des Krieges« lichten: Wie das Militär Big Data entdeckt

Bereits 2013 äußerte die Führung der US-Armee die Sorge, dass „es massive Folgen nach sich zieht, wenn Big Data und die damit verbundenen Technologien […] ignoriert werden, einschließlich des Verlustes von Menschenleben und dem Scheitern von Missionen“ (Couch/Robins 2013, S. 3). In den vergangen Jahren konzentrierte sie sich daher darauf, Waffensysteme mit neuen Computern auszustatten, Akteure auf dem Gefechtsfeld zu vernetzen sowie digitale Führungsinformationssysteme einzuführen und zu optimieren (Teufel 2016, S. 50). Unterstützt wird die Armee dabei von der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), einer Forschungsbehörde des US-Verteidigungsministeriums, deren Aufgabe es ist, die technische Überlegenheit des Militärs aufrechtzuerhalten. Die Behörde verfügt über ein Jahresbudget von rund drei Mrd. US-Dollar.

DARPAs Know-how benötigt die US-Armee dringend, gerade mit Blick auf Big Data sind die technischen Herausforderungen immens. Die Daten entspringen zumeist gänzlich unterschiedlichen Quellen: Maschinendaten entstammen etwa den Bewegungen von Schiffen, Flugzeugen, Panzern und Satelliten, Sensoren am Kriegsschauplatz und Radarstationen. Menschliche Daten hingegen werden in sozialen Netzwerken wie Facebook, YouTube oder Twitter generiert. Es ist somit erforderlich, die Daten zu sammeln, zu säubern, durchsuchbar zu machen, um sie schließlich mittels aufwändiger Algorithmen auszuwerten.

Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse nutzen Armeen beispielsweise dazu, ihr Personalwesen und ihre Logistik zu optimieren. So wertet die israelische Armee die persönlichen Angaben ihrer Rekrut*innen mit Rechnerhilfe aus, um diese automatisch an die für sie geeigneten Positionen innerhalb der Armee zu versetzen. Und die Bundeswehr arbeitet mit Hilfe der SAP-Software »SAP Analytics« an einer vorausschauenden Wartung (predictive maintance), um ihre Materialprobleme in den Griff zu bekommen.

Eine weitaus bedeutendere Rolle nehmen Big-Data-Analysen jedoch im Bereich der Überwachung in Krisenregionen und unmittelbar auf dem Gefechtsfeld ein. Gerade hier fallen ungemein große Datenmengen an, die möglichst in Echtzeit bereitgestellt und ausgewertet werden müssen.

So nutzt die US-Armee bereits seit einigen Jahren das hochauflösende Videoüberwachungssystem ARGUS-IS, das – an Drohnen angebracht – aus einer Höhe von bis zu 5.000 Metern ein Gebiet von bis zu 35 Quadratkilometern überwachen kann. Bei seinem Einsatz fallen jedoch pro Sekunde rund 40 Gigabytes an Daten an, rund 6.000 Terabyte am Tag. Zum Vergleich: Eine handelsübliche Festplatte verfügt etwa über ein bis zwei Terabytes an Speicherplatz.

Schulter an Schulter: das Pentagon und das Silicon Valley

Diese Daten auszuwerten, stellt ein überaus ressourcen- und zeitaufwändiges Unterfangen dar. Beharrlich spricht sich daher seit Jahren unter anderem der Stabschef der US-Luftwaffe, General David Goldfein, dafür aus, dass die mächtigste Armee der Welt mit den mächtigsten Digitalkonzernen kooperieren müsse (Erwin 2017). Beim ehemaligen Google-Vorstandsvorsitzenden Eric Schmidt rannte er damit offene Türen ein. Dieser hatte bereits 2013 in seinem Buch »Die Vernetzung der Welt« prognostiziert: „Was der Rüstungskonzern Lockheed Martin im 20. Jahrhundert war, werden Technologie- und Cybersicherheitsunternehmen im 21. Jahrhundert sein.“ (Schmidt/Cohen 2013) Inzwischen betreibt Schmidt höchstpersönlich und an vorderster Front den Aufbau des cyber-militärischen Komplexes mit: Er steht heute nicht mehr Google, sondern dem 2016 gegründeten Defense Innovation Board vor. Dieses hat die Aufgabe, die technologischen Innovationen des Silicon Valley in die US-Armee einfließen zu lassen (Leisegang 2015).

Allerdings musste das Vorhaben jüngst einen herben Rückschlag hinnehmen. Ausgerechnet Schmidts ehemaliger Arbeitgeber Google entschied, die Zusammenarbeit mit dem Pentagon einzustellen. Konkret ging es in dem »Project Maven« darum, Drohnenaufnahmen, wie jene des ARGUS-IS, anhand von insgesamt 38 Kategorien automatisch auszuwerten. Auf diese Weise sollen Rechner in die Lage versetzt werden, eigenständig Menschen von Gebäuden, Fahrzeugen und Waffen zu unterscheiden. Google verfügt hierfür nicht nur über die erforderlichen KI-Expert*innen, sondern auch über einen umfangreichen Datenschatz, der für das so genannte Maschinenlernen unentbehrlich ist. Der Direktor des Projekts, Generalleutnant John Shanahan, sieht sein Projekt darüber hinaus als den Funken, an dem sich „die Flammenfront der Künstlichen Intelligenz“ im gesamten Verteidigungsministerium entzünden solle. Nach Informationen des Wall Street Journal gab das Pentagon im vergangenen Jahr rund 7,4 Mrd. US-Dollar im Zusammenhang mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz aus (Barnes/Chin 2018).

Rund ein Dutzend Google-Angestellte kündigten indes aus Protest gegen die Zusammenarbeit; mehrere Tausend Mitarbeiter*innen unterschrieben eine Petition, der zufolge Google „nichts im Kriegsgeschäft verloren hat“.1 Letztendlich verzichtete der Konzern darauf, den Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu verlängern. Er läuft Ende des Jahres aus. Googles Platz wird nun voraussichtlich Amazon einnehmen. Der führende Cloudanbieter ist ebenfalls an den Vorarbeiten zum »Project Maven« beteiligt und arbeitet seit Jahren unter anderem eng mit der CIA zusammen.

Damit steigen zugleich Amazons Chancen, einen weitaus lukrativeren Großauftrag an Land zu ziehen, um den derzeit viele der großen US-amerikanischen IT-Unternehmen ringen: den Aufbau der »Joint Enterprise Defense Infrastructure« (Jedi) – ein gigantisches Speichersystem samt Datenanalyse mit künstlicher Intelligenz. Die smarte Cloud soll nicht nur sämtliche Armeeeinheiten, Basen und Kriegseinsatzgeräte der USA miteinander vernetzen, sondern obendrein deren Bestände an Munition, Reparaturteilen und Kraftstoffen erfassen, um die Logistik auf dem Schlachtfeld zu optimieren. Rund zehn Mrd. US-Dollar stellt das Verteidigungsministerium dafür bereit.

Der Krieg der Roboter

Big-Data-Analysen sollen allerdings nicht nur die Logistik optimieren, sondern auch den Waffeneinsatz und damit das Töten effektiver gestalten. Die militärische Fachzeitschrift »Defense One« vermeldete, dass die Arbeit des »Project Maven« auch die Treffergenauigkeit von »Killerdrohnen«, wie Reaper und Predator, erhöhen soll – und bestätigte damit die Befürchtungen der Google-Mitarbeiter (Weisgerber 2017).

Geht es nach dem Pentagon, sollen Killerroboter die dritte Revolution der Kriegsführung einleiten – nach Schießpulver und Nuklearwaffen. Bereits heute verfügt die US-Armee über Drohnen, die eigenständig über den Waffeneinsatz entscheiden können. Laut Stabschef General Mark Milley will sie ab dem Jahr 2021 Prototypen für bemannte, unbemannte und hybride Gefechtsfahrzeuge auf dem Schlachtfeld testen. Ab 2031 sollen autonome Waffen- und Aufklärungssysteme dann fester Bestandteil der US-Heeresformationen sein (Lezzi 2018).

Die US-Armee ist nicht die einzige, die ihre Kriegsführung automatisieren will: Auch die russische Armee plant derzeit die Anschaffung weitgehend autonom agierender Roboterpanzer. Und ausgerechnet an der »heißen« Grenze zwischen Nord- und Südkorea wachen bereits seit Jahren mit Maschinengewehren ausgestattete»Sicherheitsroboter« der Firma Samsung.

Der Einsatz von autonom agierenden Waffensystemen droht jedoch den Weg dafür zu ebnen, bewaffnete Konflikte in nie gekanntem Ausmaß zu führen und schneller, als Menschen sie begreifen können“, wie mehrere hundert Fachleute für Künstliche Intelligenz in einem offenen Brief warnen (Krüger 2018). Dessen ungeachtet steht eine internationale Regulierung der Killerroboter nach wie vor aus. Zwar verhandelten Ende August unter dem Dach der Vereinten Nationen in New York mehr als 75 Staaten über die Regulierung (teil-) autonomer Waffensysteme. Allerdings verhinderten allen voran die USA und Russland eine verbindliche Vereinbarung. Die Abrüstungschefin der Vereinten Nationen, Izumi Nakamitsu, warnt eindringlich, „dass die technologische Innovation der zivilen Kontrolle entgleitet“; ein Missbrauch der KI aber habe potenziell katastrophale Konsequenzen“ (Nakamitsu 2018).

Die Krisen von Morgen bekämpfen

Die Konsequenzen werden sich nicht nur auf das Schlachtfeld beschränken – ganz im Gegenteil, denn die Armeen wollen weitaus mehr als nur den »Nebel des Krieges« lüften: Big-Data-Analysen sollen es ihnen obendrein ermöglichen, einen Blick in die Zukunft zu werfen.

Schon heute nutzen zahlreiche Armeen Big-Data-Analysen, um zurückliegende Ereignisse und ihre Folgen zu analysieren und auszuwerten (descriptive analytics). Dadurch erhoffen sie zum einen Lerneffekte, zum anderen sollen die gewonnenen Informationen auch den Ausgang künftiger Szenarien oder Ereignisse vorhersagen (predictive analytics). Am Ende sollen Rechner in die Lage versetzt werden, Armeen mittels Datenanalyse entsprechende Handlungsoptionen vorzugeben (prescriptive analystics).

Besonders interessiert zeigen sich die Armeen an der Vorhersage drohender politischer und militärischer Krisen- und Bedrohungslagen, wie die Ukraine-Krise oder den Arabischen Frühling. Beide Ereignisse hatten weder die westlichen Geheimdienste noch die militärischen Führungen vorhergesehen (SPIEGEL ONLINE 2014; Miller 2015).

Um auch hierzulande besser gewappnet zu sein, erstellt das Bundesverteidigungsministerium derzeit gemeinsam mit IBM die Studie »IT-Unterstützung Krisenfrüherkennung«. Sie verfolgt das Ziel, eine softwarebasierte Lösung zu entwickeln, die mithilfe von Big-Data-Analysen Krisen vorhersagen soll. Die Auswertung strukturierter und unstrukturierter Daten aus öffentlichen, offenen und als geheim eingestuften Quellen soll dem IBM-Programm Watson einen »Prognosehorizont« von sechs bis 18 Monaten ermöglichen (BMVg 2016).

Ähnliche Funktionen bietet IBM bereits seit längerem mit seinem System »Blue Crush« an, das Straftaten voraussagt und auch in mehreren Bundesländern zum Einsatz kam (Biermann 2015). Nun will IBM ein System schaffen, dass die gesamte Welt observiert. Das Bundesverteidigungsministerium schließt nicht aus, dass Watsons Prognosen auch militärische Konsequenzen nach sich ziehen könnten.

Somit wollen die Armeen dieser Welt nicht nur den »Nebel des Krieges«, sondern auch den Nebel der Politik lichten. Drohende Volksaufstände werden dabei offenkundig ebenso als Sicherheitsrisiko verstanden wie ein grenzüberschreitender Kriegsausbruch. In beiden Fällen kann das Militär dann frühzeitig eingreifen, um das eine wie das andere zu verhindern.

Dies aber hat zwei dramatische Folgen: Zum einen gilt der Einsatz kriegerischer Mittel noch immer als Ultima Ratio – als letztes Mittel, wenn vorangegangene politische Interventionen nicht zur Lösung eines Konflikts beigetragen haben. Sagen jedoch künftig Computersysteme Krisen voraus, könnte sich dieses Verhältnis umkehren. Damit könnten kriegerische Mittel weitaus früher zum Einsatz kommen als bisher – durch militärische Drohgebärden, Präemptivschläge oder gar dem Einmarsch in ein anderes Land.

Zum anderen gefährdet das prädiktive Vorgehen des Militärs das Wesen demokratischer Politik in ihrem Kern. Wenn Big-Data-Analyse nicht nur dem Krieg, sondern auch der Politik »Ungewißheit« und »Zufall« austreiben soll, setzt dies ein bestimmtes Verständnis sozialer und politischer Prozesse voraus: Diese werden als quasi mechanische Vorgänge begriffen, die sich mittels Rechenkraft analysieren und bewerten lassen. Auf drohende gesellschaftliche Problemlagen reagiert dann nicht länger eine Politik der Aushandlung und des Kompromisses, sondern eine mathematisch hergeleitete Sozialphysik, die, um Sicherheit und Stabilität zu sichern, kühl ihre Lösungsparameter vorgibt. Dass dies eine überaus bedrohliche Entwicklung ist, kann man sich bereits heute ausrechnen – auch ohne aufwändige Big-Data-Analyse.

Anmerkung

1) Die Petition steht unter static01.nyt.com/files/2018/technology/googleletter.pdf.

Literatur

Barnes, J.E.; Chin, J. (2018): The New Arms Race in AI. Wall Street Jorunal, 2.3.2018.

Biermann K. (2015): Noch hat niemand bewiesen, dass Data Mining der Polizei hilft. zeit.de, 29.3.2015.

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Daniel Leisegang ist Politikwissenschaftler und Redakteur bei der Monatszeitschrift »Blätter für deutsche und internationale Politik« (blaetter.de).

Hybrides Kommando


Hybrides Kommando

Das neue Komando »Cyber- und Informationsraum« der Bundeswehr

von Christoph Marischka

Cyber-Themen sind längst auf allen Ebenen angekommen, auch in der Außen- und Verteidigungspolitik. Die Bundesregierung verabschiedete 2016 eine »Cyber-Sicherheitsstrategie«, damit „[d]ie Handlungsfähigkeit und Souveränität Deutschlands […] auch im Zeitalter der Digitalisierung gewährleistet“ bleibt. Ein wichtiges Element dieser Strategie ist die „Positionierung Deutschlands in der europäischen und internationalen Cyber-Sicherheitspolitik“. Dazu will die Regierung z.B. „[d]ie Cyber-Verteidigungspolitik der NATO weiterentwickeln“ (Zitate von auswärtiges-amt.de). Keineswegs beschränkt sich die Regierung aber auf eine »Cyber-Außenpolitik«, vielmehr hat das Arbeitsfeld auch bei der Bundeswehr hohe Priorität.

Ein Denkmal hat sich die in der zweiten Legislaturperiode amtierende Verteidigungsministerin von der Leyen auf jeden Fall gesetzt: Mit der Abteilung Cyber- und Informationsraum (CIR) im Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) und einem identisch benannten Kommando in Bonn wurde de facto eine neue »Teilstreitkraft« der Bundeswehr ins Leben gerufen, auch wenn dieser Begriff im deutschen Diskurs gerne gemieden wird. Mit einem eigenen Inspekteur, der dem Kommando vorsteht, ist dieser Organisationsbereich den Teilstreitkräften Heer, Marine und Luftwaffe sowie der Streitkräftebasis und dem Sanitätsdienst gleichgestellt. Entsprechend erklärte von der Leyen den „Cyber- und Informationsraum“ anlässlich der Aufstellung des neuen Kommandos „neben Land, Luft, See und Weltraum“ nicht nur zur „sicherheitspolitische[n] Domäne“, sondern auch zum neuen „Operationsraum für die Bundeswehr“.1 Mit einer Zielgröße von 15.000 militärischen und zivilen Dienstposten liegt die neue Teilstreitkraft auch im Umfang nur knapp hinter dem der Deutschen Marine.

Dabei handelte es sich in einem ersten Schritt vor allem um eine Umstrukturierung. Im Tagesbefehl vom 17. September 2015, mit dem ein Aufbaustab für das neue Kommando ins Leben gerufen wurde, schrieb von der Leyen: „Die Bundeswehr hat bereits gute Fähigkeiten im Cyber-Raum und in der Informationstechnologie (IT) – diese sind aber organisatorisch verstreut.“ Die etwa 13.700 Dienstposten, die dem neuen Kommando zum 30. Juni 2017 unterstellt wurden, setzten sich fast ausschließlich aus den bereits bestehenden Truppengattungen Fernmeldetruppen, elektronische Kampfführung (EloKa), Geoinformationswesen und Operative Kommunikation zusammen. Entsprechend wurden dem Kommando etwa 5.500 Dienstposten aus dem Bereich Militärisches Nachrichtenwesen, 5.500 aus der IT-Cybersecurity, 650 vom Zentrum für Geoinformationswesen der Bundeswehr und 850 Dienstposten für Operative Kommunikation zugeordnet.2 Das Kommando selbst besteht zunächst aus 260 Dienstposten, bis spätestens 2023 sollen es jedoch 700-800 werden.

Eine Besonderheit des Organisationsbereiches CIR besteht darin, dass der entsprechenden Abteilung im BMVg (nicht aber dem Kommando CIR) auch die unternehmerische Steuerung der BWI GmbH mit 3.500 bis 4.000 Mitarbeiter*innen obliegt. Die BWI GmbH wurde 2006 von der Bundeswehr gemeinsam mit den Firmen Siemens und IBM gegründet und führte als Öffentlich-Private Partnerschaft die Modernisierung und Vereinheitlichung der »nicht-militärischen« Informationstechnologie der Bundeswehr durch. Seit 2016 befindet sie sich im alleinigen Besitz des Bundes und ist für den Betrieb der »weißen« (»nicht-militärischen« in Abgrenzung zur »grünen«) IT der Bundeswehr zuständig. Laut Wikipedia betreut sie bundesweit rund 1.200 Liegenschaften der Bundeswehr und betreibt u.a. drei zentrale Rechenzentren und 25 Servicecenter. An etwa 90 Standorten der Bundeswehr ist die GmbH dauerhaft präsent, an zentralen Liegenschaften des Organisationsbereichs CIR sogar sehr umfangreich, in Rheinbach etwa mit 200 Mitarbeiter*innen. „Eine Tendenz zur Hybridisierung der Verteidigung – im Verständnis zivil/militärisch – ist“ für die Bundesregierung dennoch „nicht erkennbar“.3

Die Aufgaben des Kommandos CIR

Dem Kommando CIR unterstehen das Kommando Informationstechnik, das Kommando Strategische Aufklärung sowie das Zentrum für Geoinformationswesen der Bundeswehr.

Das Kommando Informationstechnik führt vor allem die recht gleichmäßig über die Bundesrepublik verteilten Informationstechnikbataillone, die für den Betrieb sicherer Kommunikationsverbindungen in Deutschland, in den Einsatzländern und zwischen den hiesigen Stäben und den Kräften im Einsatz zuständig sind (militärisch werden diese Aufgaben auch als »Führungsunterstützung« bezeichnet). Während die Kommunikation der Bundeswehr in der Vergangenheit überwiegend auf Kabel- und Richtfunknetzen basierte, haben mit der »Einsatzorientierung« wesentlich verwundbarere und angreifbarere Satellitenverbindungen an Bedeutung gewonnen. „Von Kabelbaukräften zu IT-Spezialisten“ übertitelte kreisbote.de sein Portrait des Informationstechnikbataillons 293 in Murnau im Grunde recht treffend.

In dem Artikel wird auch deutlich, dass gerade diese Truppengattung – wenn auch meist mit kleineren Kontingenten – umfangreich an Auslandseinsätzen beteiligt ist. So heißt es alleine zum Murnauer Bataillon im bereits angesprochenen Portrait vom April 2018: „Die Abstellung von zirka 80 Soldaten nach Bosnien-Herzegowina bildete 1999 den Auftakt für die in den folgenden Jahren anstehenden, größeren Auslandseinsätze des Bataillons. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt leisten Murnauer Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst in Mali, im Irak, Afghanistan, Kosovo und Litauen.“4

Neben den Informationstechnikbataillonen unterstehen dem Kommando Informationstechnik auch mehrere Dienstposten, die aus dem ehemaligen Beschaffungsamt der Bundeswehr herausgelöst wurden, das zuvor bereits in »Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr« umbenannt wurde.

Deutlich vielfältiger sind die Aufgaben des Kommandos Strategische Aufklärung, das wesentliche Komponenten des militärischen Nachrichtenwesens umfasst und einen klaren räumlichen Schwerpunkt südlich von Bonn aufweist. Der Standort des Kommandos befindet sich recht versteckt in einem Industriegebiet bei Gelsdorf, südlich des Autobahnkreuzes Meckenheim. Hier befand sich bis 2007 das Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr – eine rein militärische Parallelstruktur zum BND –, das mit seinem Bekanntwerden aufgelöst bzw. in das Kommando Strategische Aufklärung umgewandelt wurde.

Das Kommando führt u.a. die Bataillone für Elektronische Kampfführung. Diese haben die Aufgabe, gegnerische Kommunikationsnetze aufzuklären, abzuhören und zu stören.

Auch das Zentrum Cyberoperationen in Rheinbach untersteht dem Kommando Strategische Aufklärung und erfüllt auf der Ebene der Software ähnliche Funktionen wie die elektronische Kampfführung auf der Ebene der Hardware, stützt sich dabei jedoch stärker auf zivile Infrastruktur und Technologie. In Rheinbach befindet sich eine Einheit mit etwa 80 Kräften, die am ehesten dem Bild einer Hacker-Truppe entspricht und tatsächlich auch schon mit offensiven Cyber-Operationen beauftragt wurde – bekannt wurde ein Angriff auf das afghanische Mobilfunknetz zum Zwecke der Informationsgewinnung. Potentiell bestehen dort jedoch auch Kapazitäten und Fähigkeiten, um »gegnerische« IT-Systeme zu stören oder für Angriffe zu nutzen.

Auf den ersten Blick irritierend, wird auch das Zentrum für Operative Kommunikation in Mayen vom Kommando für Strategische Aufklärung geführt. Dessen Aufgaben bestehen in dem, was landläufig als »Propaganda« bezeichnet wird und von der Bundeswehr selbst in der Vergangenheit »Psychologische Kampfführung« genannt wurde. Zwar wird immer wieder behauptet, die gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung mit wissenschaftlichen (oft aber auch sehr banalen) Methoden sei auf gegnerische Kräfte und die Bevölkerung in den Einsatzgebieten beschränkt, in der Praxis jedoch erweisen sich die Übergänge als fließend: So gehört zur Operativen Kommunikation auch der Betrieb des eigens für die Truppe bestehenden »Radio Andernach« sowie des Fernsehsenders BwTV. Die Aufnahmen der Einsatzkameratrupps des Zentrums für Operative Kommunikation sind formal für die militärische Führungsebene bestimmt, finden in der Praxis jedoch – nach vorangegangener Freigabe – immer wieder ihren Weg in Publikationen des BMVg und auch in Produktionen öffentlicher und privater Sendeanstalten.

Das Zentrum für Geoinformationswesen in Euskirchen wiederum untersteht direkt dem Kommando CIR. Hier werden u.a. Satellitenaufnahmen aufbereitet und für die Führungs- und Einsatzkräften bereitgestellt. Die Bezeichnung der Einrichtung lässt eine historische Fixierung des Militärs auf Karten und die Abbildende Aufklärung vermuten, tatsächlich werden hier allerdings viele Daten verarbeitet, die aus anderen Quellen stammen. U.a. beschäftigt das Zentrum für Geoinformationswesen Ethnolog*innen, die zuvor als Interkulturelle Einsatzberater*innen oder im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Ausland im Einsatz waren. In seiner Selbstdarstellung zitiert das Zentrum Majorin Eva Kaufung, eine Geografin, mit der Aussage: „natürlich [sind] auch Informationen wichtig, wie stark die Gegend besiedelt ist, welche Ethnien sind im Land beheimatet oder welche Gesundheitsgefährdungen durch Krankheiten oder Tiere existieren“.5 Entsprechend wird von der Einrichtung gemeinsam mit zivilen Wissenschaftler*innen und Hochschulen stets an der verbesserten Aufarbeitung und Darstellung von Daten auf zunehmend interaktiven Karten gearbeitet.

Weitere Komponenten: Marktsichtung, Aus- und Fortbildung

Neben den operativen Aufgaben hat der Organisationsbereich weitere Komponenten, die sich insbesondere mit Strategie und Planung, Personalgewinnung, Aus- und Fortbildung sowie technologischen Innovationen beschäftigen und überwiegend von der Abteilung CIR im BMVg erbracht werden.

Zu deren Aufgaben gehört es, beständig den Markt für innovative Dienstleistungen und Technologien zu beobachten und diese auf ihre militärische Relevanz zu überprüfen sowie selbst entsprechende Forschung anzustoßen. Hierzu wurde u.a. ein »Cyber Innovation Hub« der Bundeswehr geschaffen, der als „Schnittstelle zwischen Startup-Szene und Bundeswehr“ fungieren soll.6 „Wir warten nicht, bis sich ein Start-up bei uns meldet. Wir suchen ganz aktiv die neuen disruptiven Technologien“, so von der Leyen anlässlich der Indienststellung des Kommandos CIR.7

Ende August 2018 gab die Bundesregierung darüber hinaus die Gründung zweier Forschungsagenturen bekannt: einer »Agentur für Innovation in der Cybersicherheit« unter gemeinsamer Steuerung des Verteidigungs- und des Bundesinnenministeriums sowie eine »Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen«. Als Vorbild für beide Agenturen gilt die Forschungsbehörde DARPA des US-Verteidigungsministeriums, wofür auch die Begründung spricht, die von der Leyen für deren „flexible Struktur“ abgibt: „[W]ir müssen viel schneller sein, wir müssen rausgehen, wir müssen die Startups suchen, die spannende Technologien entwickeln, von denen wir noch nicht wissen, ob sie erfolgreich sein werden[,] und dann werden wir die, die wir interessant finden[,] fördern, wissend, dass ein Großteil vielleicht nicht funktioniert und dann in den Sand gesetzt wird, aber es braucht nur ein goldenes Ei, also eine Technologie, die dann wirklich bahnbrechend ist, dann hat man schon die Investition wieder raus.“8

Eigene Forschungsprojekte im Bereich der Informationstechnik gab und gibt das BMVg u.a. am Deutsch-Französischen Forschungsinstitut Saint-Louis (ISL), dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und bei verschiedenen Fraunhofer-Instituten in Auftrag, insbesondere bei den Fraunhofer-Instituten FHR und FKIE auf dem Wachtberg bei Bonn, die an das Netz der Bundeswehr angeschlossen sind und über eine „aktive Daten-Direkt-Verbindung“ nach Euskirchen verfügen, die als „Anbindung des Fraunhofer-Instituts FKIE an die Simulations- und Testumgebung der Bundeswehr“ dient.9

Als besondere »Herausforderung« für den neuen Organisationsbereich galt von Anbeginn der Planung die Gewinnung und Ausbildung des geeigneten Personals. Als Ziel wurde ausgegeben, »Spitzenkräfte« bzw. die »klügsten Köpfe“ zu gewinnen, was jedoch durch die starren Karrierestrukturen und Besoldungsstufen bei der Bundeswehr erschwert sei, da man mit den hohen Löhnen in der freien Wirtschaft schwer konkurrieren könne. Zur Ausbildung eigenen Personals wurde u.a. ein Studiengang »Cyber-Sicherheit« an der Universität der Bundeswehr in München mit elf neuen Professuren und mehreren Laboren in einem eigens errichteten Hochsicherheitsgebäude geschaffen, das ab 2018 jährlich 70 Absolvent*innen hervorbringen soll. Außerdem hat die Bundeswehr u.a. mit den Hochschulen Bremen und Bonn-Rhein-Sieg Kooperationsabkommen geschlossen, die in den jeweiligen Studiengängen (Frauenstudiengang Informatik bzw. Dualer Studiengang Informatik mit Schwerpunkt Informationssicherheit) ein Kontingent an Plätzen für die Bundeswehr reservieren.

Unter dem Arbeitstitel Cyber-Reserve“ ist außerdem vorgesehen, „Freiwillige, Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger sowie bislang Ungediente aus der gewerblichen IT-Wirtschaft, einschlägigen MINT-Berufen oder ähnlichen Professionen […], die über Spezialisten-Ausbildungen oder herausragende Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen in einschlägigen IT-Bereichen bzw. IT-Funktionen verfügen“, zu integrieren.10 Neben Aufträgen an Unternehmen und Start-ups wolle die Bundeswehr „die richtig harten Nerds, die sich in den Tiefen der Internet-Protokolle auskennen, mit Beraterverträgen an die Bundeswehr binden“. Die „Stars der Branche“ sollten „nicht Soldat werden müssen, um für die Cybertruppe zu arbeiten“, so das ZDF Ende August 2018. Weiter heißt es in dem Bericht: „Ungefähr 8.000 IT-Fachkräfte muss die Bundeswehr innerhalb der nächsten Zeit am freien Markt einkaufen.“11 Diese Zahl erscheint angesichts einer Zielgröße des CIR von 15.000 Dienstposten, von denen über 13.000 bereits besetzt sind, bemerkenswert hoch. So oder so ist davon auszugehen, dass die Cybertruppe weit mehr als die anderen Teilstreitkräfte auf privatwirtschaftliche Kooperationen und private Angestellte setzen wird.

Hybride Strukturen für einen hybriden Raum

Während man bei den Richtfunknetzen der Bundeswehr womöglich noch von einer rein militärischen Kommunikationsinfrastruktur sprechen kann, stützt sich bereits die kabelgebundene Kommunikation der Bundeswehr überwiegend auf zivile Infrastruktur. Als Ergänzung zur Satellitenkommunika­tion über das System SATCOMBw, das teilweise von privaten Angestellten des DLR betrieben wird, kauft das BMVg zusätzliche Bandbreite bei zivilen Anbietern, deren Satelliten damit (wie etwa auch die Trans­atlantikkabel) zu einer zentralen militärischen Infrastruktur und im Kriegsfalle somit auch zu Zielen werden. Die »Verteidigung« der Kommunikationsstruktur der Bundeswehr lässt sich deshalb auch im Friedensfall nicht auf rein militärische Komponenten beschränken, sondern zielt zwangsläufig auf den gesamten »Cyberraum«.

Völlig undurchsichtig und offenbar nicht geklärt ist entsprechend die Aufgabenteilung zwischen zivilen Institutionen der Cybersicherheit und der Cyber-Truppe der Bundeswehr. Tatsächlich lassen sich Cyberkriminalität und Cyberkriegführung in der Praxis kaum unterscheiden – was auch daran liegt, dass (auch) anderen Staaten zumindest unterstellt wird, für Cyber-Angriffe auf privatwirtschaftliche Netzwerke und Unternehmen zurückzugreifen. Bei vielen dieser »Angriffe«, die häufig in unfassbar hohen Zahlen angegeben werden (z.B. „Bundeswehr zählt zwei Millionen Hackerangriffe [im Jahr 2017]“; waz-online.de vom 23.3.2018) handelt es sich tatsächlich um jenes »Abtasten«, also Suchen nach Schwachstellen, das künftig auch die Bundeswehr vornehmen muss, um sich – wie im »Weißbuch« der Bundeswehr von 2016 vorgesehen – auch auf offensive Cyber-Operationen vorzubereiten. Wie wir sehen, verschwimmen im Cyber- und Informationsraum also zunehmend die Grenzen zwischen Frieden, Krieg und Verteidigungsfall.12

Dies gilt umso mehr, als u.a. mit dem Zentrum für Operative Kommunikation auch Komponenten in den Organisationsbereich CIR aufgenommen wurden, die den öffentlichen Diskurs betreffen. Eine klare Abgrenzung zum »Informationsraum« findet hier ebenfalls nicht statt, wodurch selbst die veröffentlichte Meinung zum „Operationsraum der Bundeswehr“ wird.13 In dieser Domäne wähnt sich zumindest die EU bereits im Krieg. So forderte das Europäische Parlament in einer Entschließung vom 23. November 2016, die „Anerkennung und Enthüllung des russischen Desinformations- und Propagandakriegs“ als „integrale[n] Bestandteil der hybriden Kriegsführung“. Als Konsequenz wurden die Mitgliedsstaaten u.a. aufgefordert, feindliche Informationsmaßnahmen, die in ihrem Hoheitsgebiet durchgeführt werden oder darauf abzielen, ihre Interessen zu untergraben, aktiv, vorbeugend und gemeinsam zu bekämpfen“.14

Angesichts dieser hybriden Auffassung des Informationsraums zwischen ziviler und militärischer Infrastruktur, zwischen Kriminalität, Angriff und Verteidigung(sfall), zwischen Elektronischer Kampfführung, militärischem Nachrichtenwesen und öffentlicher Meinung überrascht es wenig, dass auch die für diesen »Operationsraum« geschaffene Struktur des BMVg mit der Einbindung ziviler Hochschulen, Forschungsinstitute und -agenturen, mit der engen Zusammenarbeit mit Unternehmen und einer auf Beraterverträgen basierenden »Cyber-Reserve« einen sehr hybriden Charakter aufweist. Ob und wann auch zivile Einzelpersonen und z.B. Organisationen der Friedensforschung Gegenstand der Operationsführung des Kommandos CIR werden, ist gegenwärtig nicht absehbar, aber keineswegs auszuschließen.

Anmerkungen

1) Aufstellung Kommando Cyber- und Informationsraum – KdoCIR – der Bundeswehr. Europäische Sicherheit und Technik, 5.4.2017; esut.de. Die Formulierung der Ministerin lässt offen, ob sie den Weltraum ebenfalls nur als eine »sicherheitspolitische Domäne« oder auch als einen »Operationsraum der Bundeswehr« versteht.

2) Ebd.

3) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Christine Buchholz, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE »Strukturen des Organisationsbereichs Cyber- und Informationsraum der Bundeswehr in Nordrhein-Westfalen«. BT-Drucksache 18/12277 vom 9.5.2017.

4) Max-Joseph Kronenbitter: Das Informationstechnikbataillon 293 in Murnau feiert den 60. Geburtstag. kreisbote.de, 17.4.2018.

5) Meldung »Geofaktoren analysieren, beschreiben und bewerten« auf cir.bundeswehr.de, 28.3.2018.

6) Seite »Cyber Innovation Hub« auf bmvg.de; ohne Datum.

7) Meldung »Aufstellung Kommando CIR: Ein Meilenstein deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik« auf bmvg.de, 5.4.2017.

8) Sendung »Streitkräfte und Strategien« des NDR, 28.7.2018 (Sendungsmanuskript).

9) BT-Drucksache 18/12277, op.cit.

10) BMVg (2017): Abschlussbericht Aufbaustab Cyber- und Informationsraum. April 2017.

11) Peter Welchering: Cyber-Nerds verändern die Armee. zdf.de, 30.8.2018.

12) Siehe dazu ausführlich Ingo Ruhmann (2018): Wachsendes Ungleichgewicht – Cyberrüstung und zivile IT-Sicherheit. W&F-Dossier 86, Mai 2018.

13) So erläuterte die damals verantwortliche Staatssekretärin Karin Suder 2015 die „Rolle von Cyber“ in Hinblick auf die geplante Aufstellung des neuen Organisationsbereichs CIR anhand der Aktivitäten des „Islamischen Staates, der sich [sic!] unter anderem mit Hilfe modernster Kommunikationsmittel, Netzwerke, soziale Medien, junge Menschen rekrutiert, informiert, aktiviert und damit eine Terrorherrschaft auch aufgrund dieser modernen Kommunikationsmittel bisher unbekannten Ausmaßes etablieren konnte“ (Sendung »Streitkräfte und Strategien« des NDR, 17.10.2015, Sendungsmanuskript). Damit wurde deutlich, dass zumindest potentiell durch das Kommando CIR auch der Zugang von Akteuren zu zivilen Medien und zum allgemeinen Diskurs reguliert werden soll.

14) Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. November 2016 zum Thema »Strategische Kommunikation der EU, um gegen sie gerichteter Propaganda von Dritten entgegenzuwirken«. Dokument 2016/2030(INI).

Christoph Marischka ist Politikwissenschaftler und Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind u.a. die Forschungs- und Technologiepolitik der Bundeswehr.

Lebensadern des Cyberkriegs


Lebensadern des Cyberkriegs

von Ingo Ruhmann und Ute Bernhardt

Die Manipulation unserer IT-Infrastrukturen aus Hardware, Software und Netzwerken durch Militärs, Geheimdienste und deren Söldner ist zum Element des digitalen Alltags geworden. Für die Betroffenen ist es völlig egal, ob wir dies als Cyberkrieg bezeichnen oder diplomatischer als transnationale staatliche Computereingriffe (intrusion) „ohne Einwilligung betroffener Staaten zu Zwecken der Überwachung, Spionage oder Cyberoperationen in Zeiten des Friedens oder der Spannungen“.1 Für den Alltag wichtig ist die Frage, wie sich diese Eingriffe eindämmen und möglichst verhindern lassen. Wer dies als Ziel verfolgt, muss zuerst klären, womit wir es zu tun haben – und das nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auf der Ebene der Infrastrukturen, der Lebensadern des Cyberwar.

Computermanipulationen werden im Allgemeinen primär auf der Wissens- und Handlungsebene betrachtet. Für Angreifer wie Betroffene hat das Handlungswissen eine wesentliche Rolle, als Infrastruktur werden nur Computer und Internetverbindungen betrachtet. Dabei sind im Sinne der IT-Sicherheit die operativen Elemente der Cyberkriegsführung zu unterscheiden vom Hacken. Die Cyberkriegsführung verfolgt spezifische Ziele gemäß einer definierten Doktrin, die Akteure verfügen über spezifische Ressourcen, und die Cyberkriegsführung verbleibt nicht im Digitalen, sondern geht auch mit physischen Operationsformen einher. Sowohl die Ziele als auch die exorbitanten personellen und vor allem materiellen Ressourcen, die für die Cyberkriegsführung heute aufgewandt werden,2 lassen sich an Infrastrukturen – »Lebensadern« – festmachen. Aus diesen Lebensadern ergeben sich Ansatzpunkte für Gegenstrategien, was schon elementarste Ebenen zeigen.

Kritische Infrastrukturen der Zivilgesellschaft

Beginnen wollen wir mit dem Offensichtlichen: den zivilen Infrastrukturen. In den 1990er Jahren wurde aufgearbeitet, welche Eingriffe in zivile Netzwerke zu »kritischen« Ausfällen lebenswichtiger Versorgungssysteme der Zivilgesellschaft führen würden. Diese Versorgungssysteme betreffen die Sektoren Energie, Wasser, Telekommunikation, Gesundheit, Ernährung, Logistik und das Finanzsystem, aber auch die staatliche Verwaltung. Ihre »Kritischen Informationstechnischen Systeme« (KRITIS) gelten als primäre Ziele von Cyberangriffen und sind in besonderer Weise zu schützen. Nach über 20 Jahren der Diskussion in Deutschland regelt das IT-Sicherheitsgesetz nun technische Vorgaben und Meldepflichten.

Schon diese Sicht auf physische, logische und organisatorische Infrastrukturen, ihre Spezifika und die entsprechende Risikoanalyse ermöglicht Handlungs- und Schutzstrategien sowie rechtliche Vorgaben. Wären die Infrastrukturen des Cyberkrieges bekannt, ließen sich ebenfalls Reaktionsstrategien entwickeln. Der Schutz kritischer Infrastrukturen ist jedoch allein auf zivile Infrastrukturen gerichtet. Systematisch ausgeblendet werden damit jene militärischen und geheimdienstlichen IT-Infrastrukturen, die das Hochwert-Ziel jedes Angreifers darstellen. Genauso wie KRITIS für die Zivilgesellschaft, gibt es für militärische und geheimdienstliche Akteure schützenwerte Infrastrukturen, die der militärischen Operationsführung dienen. Besonders interessant sind die Infrastrukturen für offensive und defensive Cyber-Operationen.

Nervenbahnen für Kommando und Kontrolle – militärische Infrastrukturen

Ein Ziel der elektronischen Kriegsführung – in der Bundeswehrsprache: Fernmelde- und Elektronischer Kampf (Eloka)3 – ist es, die Kommunikationsinfrastrukturen potentieller Gegner lückenlos zu erfassen. Viele Werkzeuge werden seit Jahrzehnten rund um die Uhr eingesetzt und sind ein operativer Teil der heutigen Cyberkriegs-Infrastruktur. Sichtbar ist das bei jenen militärischen Anlagen, die als Antennen-Installationen in Sperrgebieten aus der Umgebung und selbst auf Satellitenbildern gängiger Suchmaschinen unübersehbar sind, wie das monströse Rechenzentrum des US-Spionagegeheimdienstes NSA mit fast zehntausend Quadratmetern Fläche nur für die IT plus achtzigtausend Quadratmetern für Kühlung und Energieversorgung.

Telekommunikationsunternehmen sind ebenfalls in diese Infrastrukturen eingebunden. Das Post- und Telekommunikationssicherstellungsgesetz schrieb ihnen bis vor wenigen Jahren sogar noch bauliche Maßnahmen, wie das Verbunkern, vor „zum Schutz von Anlagen zur Aufrechterhaltung des Betriebes auch während unmittelbarer Kampfeinwirkungen“.4 Mit dem Projekt HERKULES verfügt die Bundeswehr nun wie andere Armeen über ein Weitverkehrs-Datennetz unter eigener Kontrolle.5

Diese Infrastrukturen sind die Nervenbahnen militärischer Kommandoausübung. Sie unbrauchbar zu machen, bedeutet das Ende koordinierter Militäroperationen. Daher gehört zu den sensibelsten Teilen der Infrastruktur einerseits der Schutz der physischen Infra­struktur internationaler Datennetze, andererseits deren Überwachung. Im britischen Menwith Hill,6 im bayerischen Bad Aibling7 oder im baden-württembergischen Rheinhausen8 wird die Überwachung der Satellitenkommunikation sichtbar. Weniger sichtbar ist, dass seit der Jahrtausendwende U-Boote der USA auch an den unterseeisch verlegten Glasfaserkabeln horchen;9 russische Boote haben nachgezogen.10

Verborgene Lebensadern

Neben diesen Lebensadern des Cyberkrieges existieren digitale Infrastrukturen, die schwerer zu identifizieren und bei denen die physische Existenz und logische Funktion nur mit größerem Aufwand zu ermitteln sind.

Glasfasernetze haben auch die Infrastruktur der Überwachung verändert. Der Deutsche Central Internet Exchange De-CIX in Frankfurt ist der weltweit größte Internetknoten zur Übergabe von Daten zwischen verschiedenen Providern. Der Bundesnachrichtendienst (BND) und zuvor die NSA haben sich dort Anschluss verschafft, die Klage des Betreibers dagegen blieb 2018 erfolglos.11 Vergleichbare Einrichtungen zur Überwachung und Ableitung des durch die USA laufenden Datenverkehrs sind bekannt. Seit 2003 hat die NSA Verträge mit Providern geschlossen.12 Für die Filterung der enormen Datenmengen aus der Überwachung des Datenverkehrs werden Rechenkapazitäten vor Ort benötigt. Unterlagen der NSA zufolge besteht diese heimliche Infrastruktur aus trutzigen Gebäude inmitten jener acht Städte in den USA, in denen es einen direkten Zugang zu den großen Internet-Backbones gibt.13 Von dort aus wird der gefilterte Datenverkehr zu Rechenzentren der NSA geleitet.

Auch andere Infrastrukturen sind sichtbar, ihre Bedeutung aber schwer zu erkennen. Seit Jahren war für IT-Fachleute rätselhaft, welch riesigen Datenmengen über bestimmte Datenleitungen im Stuttgarter Raum abgewickelt wurden, obwohl nur eine kleine Signals-Intelligence-Einheit der U.S. Army angeschlossen war. Durch die Snowden-Enthüllungen wurde klar, dass Stuttgart-Vaihingen einer von weltweit nur drei Übergangsknoten für das NSA-Programm TRANSGRESSION ist.14 Das auffällige Datenvolumen resultiert daraus, dass sich die NSA bei ihren gegnerischen Cyberkriegs-Akteuren einhackt, deren Werkzeuge und Zugänge zu Infrastrukturen in andern Ländern stiehlt und die erbeuteten Daten über Vaihingen in die USA übermittelt. So operiert nicht nur die NSA. Sie erbeutet bei diesen Raubzügen auch Daten, die von den Gegnern von dritter und vierter Seite gesammelt wurden. Solche Operationen machen klar, welch detaillierte Kenntnisse die großen Cyberkriegs-Akteure in West, Ost und Fernost von ihren jeweiligen Gegnern und ihren Infrastrukturen haben.

Der Lebenssaft in den Lebensadern: Software

Zu den bisher skizzierten Lebensadern des Cyberkrieges kommt der »Lebenssaft« in diesen Adern: die Software. Cyberkriegs-Akteure profitieren von den sich trotz aller Veränderungen immer wieder herausbildenden Software-Monokulturen. Das sind vor allem dominante Betriebssysteme und die gängigste darauf laufende Anwendungssoftware. Die noch unveröffentlichten Sicherheitslücken darin – »zero-day exploits« – sind Einfallstore für Angriffe. Dafür hat sich ein Millionenmarkt etabliert, den Cyberkriegs-Akteure anfachen, statt dafür zu sorgen, dass die Sicherheitslücken bekannt und geschlossen werden. Die NSA sammelt seit den 1980er Jahren in weltweit verteilten Datenbanken alle ihr bekannt werdenden Schwachstellen möglichst vieler IT-Systeme, um mit diesem Wissen mit den heutigen Cyberkriegs-Werkzeugen, wie XkeyScore, beliebige Computer automatisiert und ohne Fachkenntnisse der Bearbeiter anzugreifen und zu übernehmen.15

Software-Monokulturen und die Detailkenntnis physischer Infrastrukturen erlauben unmöglich scheinende Angriffsformen. Im »Quantum«-Programm haben US-Dienste Werkzeuge entwickelt, um die von nur wenigen Herstellern produzierten Telekommunikationsknoten mit »Implantaten« zu versehen und sie unter eigene Kontrolle zu bringen. Ziel ist es bei diesem Programm nicht, das Netz abzuschalten, sondern die Kommunikation von Angriffsopfern selektiv zu manipulieren. Das Implantat auf dem gekaperten Netzknoten fängt automatisiert den Datenverkehr zum Zielsystem ab und ersetzt ihn durch manipulierte Datenpakete. Die Reaktionsgeschwindigkeit in Sekundenbruchteilen setzt voraus, Netzknoten nahe am Operationsziel zu kapern.16 Damit gelang der NSA der Angriff auf die Rechner der EU-Kommission über deren Provider Belgacom.

In Lebensadern denken: Was sind die Infrastrukturen des Cyberkrieges?

Es liegt in der Logik der Sache, dass die Cyberkriegs-Akteure die zivilen und militärischen Infrastrukturen ihrer Gegner ausspionieren und manipulieren. Das TRANSGRESSION-Programm der NSA und die gegenseitigen Raubzüge der Cyberkrieger zeigen, wie gut die Akteure sich gegenseitig und ihre Infrastrukturen kennen. Schon dies widerlegt den Irrglauben, gegen Cyberkrieg sei nichts auszurichten, weil die Akteure und ihre Infrastrukturen unbekannt seien. Sie kennen auch unsere zivilen Infra­strukturen. Wir aber nicht ihre. Das ist fahrlässig. Denn wer als Provider weiß, dass spezifische Datenleitungen einen zentralen NSA-Übergabeknoten anbinden und damit primäres Cyberkriegs-Ziel sind, wird für seine zivilen Kunden nach Alternativen suchen.

Es geht aber um mehr: Cyberkriegs-Akteure aus Russland, der Volksrepublik China und den USA gehen davon aus, dass die jeweils andere Seite »Implantate« in den kritischen Infrastrukturen installiert hat, um diese bei Bedarf zusammenbrechen zu lassen. Für die US-Seite sei der Erhalt solcher Implantate in anderen Staaten Vorbedingung zum IT-Sicherheits-Abkommen mit China gewesen.17 Die Friedensbewegung hat in der Vergangenheit Atomwaffenlager als militärische Infrastruktur oder Sprengkammern in Brückenbauwerken zur Zerstörung ziviler Infrastruktur zur Kenntnis gebracht. Heute geht es darum, die Infrastrukturen des Cyberkriegs aufzuklären und die Risiken durch eine Vernetzung militärischer mit zivilen IT-Infrastrukturen zu reduzieren.

Es geht letztlich darum, Cyberkrieg für die Rüstungskontrolle und internationale Kooperation fassbar zu machen. Es reicht nicht mehr aus, dass das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI Truppenstärken, Atomwaffenarsenale und Ausgaben für die konventionelle Rüstung ermittelt. Wir haben aufgezeigt, dass sich die materiellen und personellen Ressourcen der Cyberkriegs-Akteure ermitteln lassen.18

Die Infrastrukturen des Cyberkriegs sind ein Gegenstand für Rüstungskon­trolle. Die Kenntnis der Infrastrukturen ist auch ein Ansatzpunkt für internationale Kooperation als Gegenmodell zum heutigen Cyberkrieg – jeder gegen jeden. Wir sollten lernen, die Lebensadern des Cyberkriegs zu erkennen und systematisch zu erheben. Dieses Wissen lässt sich nutzen, um die Folgen des Cyberkrieges abzumildern oder Cyberkonflikte zu verhindern. Für diese Aufgabe liegen genügend Daten vor.

Anmerkungen

1) Militärische Definition von »Intrusion« in: U.S. Vice Chairman of the Joint Chiefs of Staff (2010): Joint Terminology for Cyberspace Operations. Washington.

2) Vgl. Ruhmann, I. (2018): Aufrüstung im Cyberspace – Staatliche Hacker und zivile IT-Sicherheit im Ungleichgewicht. W&F-Dossier Nr. 79, S. 12-16.
Ders. (2015): Wachsendes Ungleichgewicht – Cyberrüstung und zivile IT-Sicherheit. W&F-Dossier Nr. 86.

3) Siehe die gute Aufbereitung in: Piper, G. (2014): EloKa – die Abhörtruppe der Bundeswehr. telepolis, 9.8.2014.

4) Post- und Telekommunikationssicherstellungsgesetz §9, BGBl. I, vom 14. September 1994, S. 2325, 2378.

5) BWI GmbH (2010): Bundeswehr-Sondernetze jetzt in das neue Weitverkehrsnetz integriert. Pressemeldung vom 28.9.2010.

6) Gallagher, R. (2016): Inside Menwith Hill. The Intercept, 6.9.2016.

7) Meister, A (2016): Geheimer Prüfbericht – Der BND bricht dutzendfach Gesetz und Verfassung – allein in Bad Aibling. netzpolitik.org, 1.9.2016.

8) SIR/dpa (2014): BND lüftet Geheimnis um Abhöranlage. Stuttgarter Nachrichten, 6.6.2014.

9) Meister, A. (2013): Glasfaserkabel und Spio­nage-U-Boote – Wie die NSA die Nervenzentren der Internet-Kommunikation anzapft. ­Netzpolitik.org, 20.6.2013.

10) Michael Birnbaum (2017): Russian submarines are prowling around vital undersea cables – It’s making NATO nervous. Washington Post, 22.12.2017.

11) Pressemitteilung Nr. 38 des Bundesverwaltungsgerichts vom 31.5.2018.

12) Timberg, C.; Nakashima, E. (2013): Agreements with private companies protect U.S. access to cables’ data for surveillance. The ­Washington Post, 6.7.2013.

13) Gallagher, R.; Moltke, H. (2018): The Wiretap Rooms – The NSA’s Hidden Spy Hubs in Eight U.S. Cities. The Intercept, 25.6.2018.

14) So die Angaben aus der NSA-Präsentation in Spiegel Online auf spiegel.de/media/media-35685.pdf , Folie 5.

15) Vgl. Bernhardt, U.; Ruhmann, I. (2014): Information Warfare und Informationsgesellschaft – Zivile und sicherheitspolitische Kosten des Informationskriegs. W&F-Dossier Nr. 78, S. 9f.

16) Appelbaum, J.; Rosenbach, M.; Schindler, J.; Stark, H.; Stöcker, C. (2013): NSA-Programm »Quantumtheory« – Wie der US-Geheimdienst weltweit Rechner knackt. Spiegel Online, 30.12.2013; eigene Auswertung der darin publizierten Dokumente.

17) Sanger, D.E. (2015): U.S. and China Seek Arms Deal for Cyberspace. New York Times, Sept. 19, 2015.

18) Vgl. Ruhmann, I. (2018).

Ingo Ruhmann (Dipl. Inform.) ist wissenschaftlicher Referent und Lehrbeauftragter an der TH Brandenburg. Er ist ehemaliges Vorstandsmitglied des Forum InfomatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.v. ( FifF) und arbeitet zu den Themen IT-Sicherheit, Informatik und Militär sowie Datenschutz im Netzwerk.
Ute Bernhardt (M.A.) ist wissenschaftliche Referentin. Sie ist Gründungs- und ehemaliges Vorstandsvorsitzende des FIfF und arbeitet zu den Themen Bürgerrechte, Informatik und Militär sowie Datenschutz im Netzwerk.

Die alte Weltmilitärordnung


Die alte Weltmilitärordnung

Ein Epilog

von Ekkehart Krippendorff

Im Februar 2018 starb Ekkehart Krippendorff, Politikwissenschaftler und Mitbegründer der westdeutschen Friedensforschung. Vom Bewusstsein einer „nicht abtragbaren Schuld des Nazismus“ geprägt, beharrte er nachdrücklich auf dem Pazifismus als Leitmotiv für sein Leben und Werk und scheute auch nicht davor zurück, sich mit seiner eigenen Zunft, den Internationalen Beziehungen und der Friedens- und Konfliktforschung, anzulegen, denen er Anpassung an die herrschenden Verhältnisse vorwarf.
Anstelle eines Nachrufs soll er hier selbst zu Wort kommen, mit einem Text von 1993, den er nach dem ersten Golfkrieg der USA gegen Irak schrieb.

Die ganze Monstrosität, die sich unter dem neutralen Titel der Internationalen Politik verbirgt, kam in dem Krieg zur Rückeroberung des Scheichtums Kuweit auf ihren wahren Begriff und wurde bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Als Christoph Columbus 1492 mit drei Karavellen Sevilla verließ, um den Seeweg nach Indien zu finden und dabei einen Kontinent entdeckte, den er so für seine Eroberung zugänglich machte, war das auch mehr als das Abenteuer eines Kapitäns: die ganze expansiv-aggressive Energie, die sich in Westeuropa etwa zweihundert Jahre lang aufgestaut hatte, der Drang der europäischen Krieger- und Händlerklassen nach Herrschaft und Profit, gekoppelt mit dem technischen Erfindungsreichtum ihrer Intellektuellen und Ingenieure, der religiöse Eifer einer sich allen anderen Rassen überlegen fühlenden Kultur, die steigende Meisterung der Natur, die vor keinem Widerstand zurückschreckt – all das ging ein in die Expedition. Die Folgen waren absehbar und nicht absehbar zugleich.

Und so dann auch wieder in den Operationen »Wüstenschild« und »Wüstensturm«: Jahrhunderte gelernter soldatischer Disziplin und Akzeptanz der großen Projekte der Führer (»The Commanders« nennt Bob Woodward wie selbstverständlich seine Studie über den engsten Kreis der amerikanischen Politiker-Klasse am Vorabend des Golfkrieges), Jahrhunderte auch der Entwicklung raffiniertester Zerstörungstechnologien, hervorgegangen aus der okzidentalen Naturwissenschaft als Naturunterwerfung, gingen ein in diesen Krieg, tief eingeschliffene Weltbilder als Weltkarten-Bilder in den Köpfen der Außenpolitiker im Spiel um die Macht, um historische Größe und um Nachruhm in der Geschichte (im Kreise der »Commanders« weiß man: »um ein großer Präsident zu sein, brauchst du einen Krieg – und du mußt als der Angegriffene erscheinen«) – das alles gehört zum Hintergrund, der zugleich ein Vordergrund ist, für die geradezu reflexartige Reaktion der westlichen Staatsherren, den vergleichsweise geringfügigen Ambitionen des irakischen Potentaten mit dem massiven Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel entgegenzutreten und ihn in seine Schranken zu verweisen.

Als im 4. vorchristlichen Jahrhundert der Makedonier König Alexander, um der Große zu werden, sich anschickte, Asien zu erobern, wurde er mit dem mythischen Gordischen Knoten konfrontiert: nur der werde Asien beherrschen, der ihn zu lösen verstehe. Alexander nahm sein Schwert und zerhieb das komplizierte Fadengebilde; er hatte einfach nicht die Geduld noch genügend ausgebildete Fähigkeiten, mit intellektuell und kulturell schwierigen Aufgaben umzugehen, geschweige denn fertigzuwerden. Der Schwertstreich schien ihm die einfachere Lösung, der schnellere Weg zu Erfolg und historischem Ruhm. Letzteren hat er bekanntlich gewonnen – ersteren kaum, denn sein Reich zerfiel schneller unter den Diadochen, als es gedauert hatte, es zu erobern. So sehen in der Regel die militärischen, die Gewaltlösungen aus. Den großen Siegen folgen die Probleme, und die Sieger nehmen ihre Erfolge mit ins Grab.

Sie sind – wie Alexander, nur in der Regel noch kleiner – Kämpfer, Krieger und Sieger, weil sie die Fähigkeit zur Vereinfachung von Problemen, d.h. zur Umgehung der Probleme oder auch zur Reduktion von Komplexität auf den primitiven Nenner der Schwertgewalt mitbringen. Damit können sie auch und nicht zuletzt das Publikum hinter sich bringen, das – verständlicherweise – Vereinfachungen liebt: wenn die Herrschenden schon ständig ihre Untertanen – sei es als demokratisch Regierte, sei es als unterdrückt­eingeschüchterte Massen – als Fußvolk ihrer Globalstrategien, bestehend aus Wirtschaftspotentialen, Machtgleichgewichten und zu füllenden Vakua, in Bewegung halten, dann soll das Spektakel wenigstens übersichtlich gestaltet sein. Völker und Kulturen haben, wo sie miteinander in Kontakt treten, immer Reibungsflächen, Konflikte, Spannungsverhältnisse. Aber sofern daraus nicht Herrschaftskonflikte konkurrierender Dynasten (oder ihrer demokratisch legitimierten Nachfolger) werden, entsteht aus eben diesen Berührungen Kultur, Kreativität, Neues. Das ist aufregend, aber auch anstrengend, eine Herausforderung für alle Mitglieder der betreffenden Völker, Rassen und Kulturen. Herrschaft hingegen bietet die Vereinfachung an, reduziert Komplexität, offeriert statt der schwierigen Auseinandersetzung die Versuchung, an der Ausbeutung durch Eroberung teilzunehmen; sie ersetzt den vielstimmigen interkulturellen, inter-nationalen Dialog durch den Monolog der Gewalt, verdinglicht im Schwert, im trainierten Militär, in der Technologie der Waffen. Alexanders Truppen jubelten ihm zu, als er den Knoten auf seine einfache Art löste; die Konquistadoren in der Nachfolge des Columbus gaben sich ebenfalls keine Mühe, die Sprachen und Kulturen der »entdeckten« Völker zu lernen; für die »Commanders« in den elektronischen Schalträumen der US-amerikanischen Politikmaschine in Washington waren und sind die Araber nicht viel mehr als auf strategischen Weltkarten plazierte Spielfiguren, die Region, die sie bewohnen, keine Kulturlandschaft, sondern schlicht »Wüste«. Die britische Zeitschrift »The Middle East«, die daraus ihre Titelseite gestaltete, hat diese Wahrheit besser auf den sinnlich wahrnehmbaren Begriff gebracht, als es eine umständlich argumentierende Politikkritik vermöchte.

Krieg und Weltspiel sind zwei Seiten derselben Medaille der Herrschaft, die Bevölkerungen – Menschen, Kulturen, Gesellschaften – als Objekte betrachtet und einsetzt. Sie sind ihre materialen Mittel der Verwirklichung von Macht, gestern in der Form dynastischer Gefolgschaften, heute im Gehäuse moderner Staaten. In Krieg und Spiel wird gewonnen und verloren – aber die Sieger sind immer dieselben und die Verlierer auch: Es siegen die Herrschenden, und es verlieren die Beherrschten, ganz gleich, wie das Spiel oder der Krieg selbst ausgeht. Saddam Hussein ist bekanntlich immer noch an der Macht, so wie seine Gegenspieler Bush & Co., und auch wenn man auf den angeblichen Saddam­Bruder Hitler verweisen würde, der doch, Herrscher, der er zweifellos war, verlor und von der Bühne verschwand (durch Selbst-Mord, nicht durch Exekution!), so bleibt doch die uns allen nur zu gut bekannte Tatsache, daß die, die mit Hitler in Deutschland das Sagen gehabt hatten, sehr bald wieder auf ihren Kommandostühlen saßen. Im Kriegsspiel geopfert wurden Millionen von Soldaten und kleinen Leuten, auf seiten der Sieger so gut wie auf seiten der Besiegten. Daß es in diesem Golfkrieg auf Siegerseite so wenig Geopferte gab, war ja eher ein Glücksfall: gerechnet hatte man bekanntlich mit bis zu 80 000 eigenen Toten und fand auch diesen Preis nicht zu hoch für den Sieg, als das Signal zur Schlacht gegeben wurde. Dem Besiegten war der Preis seiner »Mutter aller Schlachten« von mehr als 100 000 Toten auch nicht zu hoch für seinen Platz im Pantheon der großen Menschenverächter, er hat sie bekanntlich nicht einmal zu zählen für nötig befunden. Und sein Spiel geht weiter – so wie das der Neuen Weltordnung. Es bleibt, solange wir es uns gefallen lassen, von den Herrschenden regiert, manipuliert und in ihrem Spiel benutzt zu werden, die alte, einfache Weltmilitärordnung, deren Logik der Macht der Gewehrläufe entspricht, denn nur das ist die Sprache, die sie sprechen und gegenseitig verstehen. Eine menschliche Sprache aber ist das nicht.

Textauszug aus: Ekkehart Krippendorff, Militärkritik. S. 128-132. ©Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1993. Alle Rechte bei und vorbehalten durch den Suhrkamp Verlag Berlin. Die Rechtschreibung folgt dem Original.