Hightech-Aufstandsbekämpfung mit Infanteristen

Hightech-Aufstandsbekämpfung mit Infanteristen

von Lühr Henken

Die zunehmende Technisierung der Kriegsführung hat für die Ausstattung der Bundeswehr Konsequenzen. Herkömmliches Großgerät wie Flugzeuge und Panzer werden ergänzt um modernste Mittel für die Kommunikation und Aufklärung, unbemannte Flugkörper, so genannte intelligente Munition und das, was Lühr Henken als »Hightech im Kampfanzug« bezeichnet. Thema seines Beitrags ist der »Infanterist der Zukunft«.

Für die Infanteristen der Bundeswehr ist Häuser-, Straßen- und Stadtkampf in der Ausbildung auf der Ortskampfanlage im unterfränkischen Hammelburg und auf der Stadtkampfanlage im brandenburgischen Lehnin seit langem Alltag. Dort wird jeweils in Kompaniestärke das Vorgehen gegen Aufständische trainiert.

Grundlage für die moderne infanteristische Ausbildung der Bundeswehr ist der vom US-General der Marineinfanterie Charles Krulak Ende der 90 Jahre entwickelte Begriff »Three Block War«. Der besagt, dass die moderne Infanterie im Prinzip drei Einsätze gleichzeitig durchführen müsse. Zugespitzt heiße das: In einem Häuserblock Aufständische bekämpfen, im anderen humanitäre Hilfe leisten und im dritten »Peacekeeping« zu betreiben. Dies erfordere eine flexible, schnelle, vielseitige Reaktionsfähigkeit in einem multinationalen Ansatz und einer »vernetzten Operationsführung«. Die Bundeswehr habe es dabei mit »irregulären Kräften« zu tun. Damit sind Terroristen, Partisanen, Guerillas und Milizen gemeint, die »asymmetrisch« kämpften. Dem System »Infanterist der Zukunft« wird in solchen Kampfeinsätzen der Bundeswehr künftig eine Schlüsselfunktion zugedacht.

Infanterie der Bundeswehr

Aktuelle Aufgaben der Infanterie sind neben dem urbanen Kampf, feindliche Infanterie und deren gepanzerte Fahrzeuge zu bekämpfen, schnelle Anfangsoperationen zu ermöglichen, und – in Zusammenarbeit mit dem Kommando Spezialkräfte (KSK) – Evakuierungen vorzunehmen und Objekte zu schützen. „Nur durch infanteristischen Einsatz können Wälder, Ortschaften, Gebirge gehalten oder genommen, kontrolliert und überwacht werden,“ schrieb Brigadegeneral Wolf-Dieter Löser, damaliger Kommandeur der Infanterieschule, in der Militär-Monatszeitschrift »Soldat und Technik« in Heft 1/2000.

Der Infanterie werden auch nach dem Ende der aktuell geplanten Umstrukturierung der Bundeswehr folgende Verbände zugeordnet:

vier Fallschirmjägerbataillone mit jeweils 570 Soldaten, zwei in Seedorf (Niedersachen), zwei in Lebach und Zweibrücken;

drei Gebirgsjägerbataillone mit jeweils 880 Soldaten in Bad Reichenhall, Bischofswiesen und Mittenwald (alle in Bayern);

ein Jägerbataillon mit 670 Soldaten in Donaueschingen (Baden-Württemberg) als Teil der deutsch-französischen Brigade;

ein luftbewegliches Infanterieregiment mit Teilen in Schwarzenborn (Hessen) und drei Kompanien in Hammelburg (Bayern) mit insgesamt 1.800 Soldaten als Element der Luftbeweglichen Brigade 1;

sechs Panzergrenadierbataillone, die nur im abgesessenen Zustand (außerhalb der gepanzerten Fahrzeuge im Freien) der Infanterie zugerechnet werden, jeweils mit zwischen 480 und 625 Soldaten;

dazu kommen noch Marineschutzkräfte und spezialisierte Einsatzkräfte der Marine in Eckernförde und ein infanteristischer Objektschutz der Luftwaffe.

Die vier Fallschirmjägerbataillone als Bestandteile der Luftlandebrigaden in Saarlouis und Oldenburg sind der Division Spezielle Operationen (DSO) in Stadtallendorf (Hessen) unterstellt. Der Schlachtruf der DSO ist Programm: „einsatzbereit – jederzeit – weltweit“.

Die drei Gebirgsjägerbataillone werden auf Einsätze in schwierigstem und gebirgigem Gelände, aber auch in Wüsten und Dschungelgebieten unter schwierigsten Wetter- und Klimabedingungen ausgebildet. Das Jägerbataillon soll luftgestützt den Stadt- und Waldkampf führen.

Das Jägerregiment ist als Teil der Division Luftbewegliche Operationen (DLO) ein Infanterieverband mit ABC-Kampfabwehrmitteln, Flugabwehr und Pionierfähigkeiten, der luftgestützt eingesetzt wird, also im Verbund mit Transport- und Kampfhubschraubern operiert. Dieses luftbewegliche Infanterieregiment ist mit 77 Kleinpanzern Wiesel und 188 geschützten Transportfahrzeugen Mungo ausgerüstet. Die Aufgaben des Jägerregiment 1 sind: „Nehmen und Halten von Geländeabschnitten, urbane Operationen, permanente Präsenz in Stabilisierungsoperationen, hohe Beweglichkeit und schnell verfügbare Infanteriereserve“ (Brigadegeneral Reinhard Wolski, Strategie und Technik, August 2006, S.14).

Das Jägerregiment ist organischer Bestandteil der neuen Luftbeweglichen Brigade 1 in Fritzlar, deren zentrale Ausrüstung 64 Kampfhubschrauber Tiger und 32 Transporthubschrauber NH-90 sein werden. Der Tiger ist „das modernste Waffensystem seiner Art. Er ist mit seiner Agilität und der Ausstattung in den Bereichen Sensorik, Schutz und Bewaffnung das herausragende Mittel für alle Einsätze, insbesondere im »Three-Block-Operations-Szenario«“ (ebd.). Ab 2014 soll die »volle Einsatzbereitschaft« der Luftbeweglichen Brigade hergestellt sein. Diese Kampftruppe wird aus dem Stand einsetzbar sein und steht nach Bundeswehrselbstzeugnis „damit qualitativ auch international an der Spitze“ (Oberstleutnant Hans-Jörg Voll, Strategie und Technik, März 2005, S.22). Insgesamt sollen 80 Tiger angeschafft werden, die inklusive Bewaffnung 5,3 Mrd. Euro verschlingen. Im Zusammenwirken mit den Verbänden der Luftbeweglichen Brigade 1 ist das Jägerregiment auf »Operationen in der Tiefe« ausgerichtet.

Eine Infanteriegruppe besteht aus zehn Soldaten, denen verschiedene Gruppenfahrzeuge zur Verfügung stehen. Im Jägerregiment, im Jägerbataillon sowie in einem der drei Gebirgsjägerbataillone wird der GTK Boxer zum »Mutterschiff« der Infanteriegruppe. Vom 32 Tonnen schweren, achträdrigen und mehr als 100 Stundenkilometer schnellen Gepanzerten Transportkraftfahrzeug (GTK) Boxer sind 272 Stück bestellt worden. Die sechs Panzergrenadierbataillone erhalten jeweils 44 Schützenpanzer Puma. Bis 2020 sollen insgesamt 410 Puma zum Preis von 3,9 Mrd. Euro beschafft werden. Sechs Grenadiere haben in einem Puma Platz. Der je nach Panzerung zwischen 31,5 und 41 Tonnen schwere Puma zeichnet sich durch hohe Beweglichkeit, Feuerkraft und starke Panzerung aus und ist im urbanen Kampf das ideale Kampffahrzeug. Besonders perfide: Die »Air Burst Munition« der Maschinenkanone ist eine rechnergestützte »intelligente Munition«, die die Granate je nach Wunsch kurz vor dem Aufprall in 135 Subprojektile zerlegen kann, was speziell gegen Menschen gerichtet ist. Dies „verschafft dem neuen Schützenpanzer eine hohe Durchsetzungsfähigkeit auch in bebautem Gelände“, stellen Oberstleutnant Gerd Engel und Oberstleutnant i.G. Jürgen Obstmayer in »Strategie und Technik« (Januar 2006) fest.

Für die schnelle »strategische Verlegefähigkeit« werden 53 Airbusse A400M (Kosten 9,2 Mrd. Euro) eigens so konstruiert, dass einer entweder zwei Tiger-Kampfhubschrauber oder einen Transporthubschrauber NH-90 oder einen Puma oder einen Boxer oder 116 Soldaten mit Ausrüstung weltweit transportieren kann. Fallschirmspringer und Lasten können während des Fluges abgesetzt werden.

Insgesamt umfassen die infanteristischen Kräfte der Bundeswehr etwa 11.000 hoch ausgerüstete und schnell weltweit verlegbare Kampfsoldaten, die alle mit dem System Infanterist der Zukunft (IdZ) qualitativ aufgerüstet werden sollen.

Hightech im Kampfanzug

Ende der 1980er Jahre startete die NATO ein »Soldatenmodernisierungsprogramm«, das vor allem zum Ziel hat, die hohe Gewichtsbelastung eines Infanteristen zu reduzieren und seine Leistungsfähigkeit (Durchsetzungs-, Überlebens-, Führungs-, Durchhaltefähigkeit und Beweglichkeit) zu steigern. Von 1997 bis 1999 wurde ein Experimentalprogramm durchgeführt, in dem vor allem Anforderungen an das Orientieren, Navigieren, Zielaufklären und Bewegen bei Tag und Nacht, Tarnung gegen Wärmebildaufklärung, Kommunikation in der Infanteriegruppe, Helmdisplay, Sprachbedienung der Software »Digitale Karte« und der ABC-, Laser- und Splitterschutz ermittelt wurden.

In den Taschen eines modularen Tragesystems eines Infanteristen lassen sich offensichtlich viele Dinge unterbringen, denn in der Bundeswehr führten die Entwicklungen zu einem »Basissystem«, zu dem im Wesentlichen folgende Ausrüstung zählt: ein UHF-Gruppenfunkgerät (Reichweite 700 Meter in bebautem und mehr als 1.300 Meter in freiem Gelände) und ein Navi-Pad, dessen Software mittels GPS eine sichere Orientierung ermöglicht. Das Display zeigt Karten des Einsatzlandes. Texte und Grafiken können erstellt, bearbeitet und drahtlos über das Funkgerät versandt werden. Das Navi-Pad ist mit einem Messfernglas über eine Bluetooth-Schnittstelle verkoppelt, so dass Zielmeldungen des Laserentfernungsmessers in die Karte eingeblendet und verarbeitet werden können. Der Infanterist verfügt über einen Restlichtverstärker in Brille und Fernrohr. Das Zielgerät auf der Waffe lässt mit Hilfe von Wärmebildgeräten die Identifizierung von Fahrzeugen auf 1.500 Meter und Personen auf 500 Meter Entfernung zu.

Die Infanteriegruppe ist zu 100 Prozent nachtkampffähig. Sie ist modular mit vier verschiedenen Waffen ausgestattet: Maschinenpistole MP7 (Reichweite 200 Meter), Sturmgewehr G-36 (Reichweite 300 Meter), Maschinengewehre MG3 und MG4 (Reichweite 1.200 bzw. 600 Meter) und Gewehr G82 mit einer Reichweite von 1.800 Meter.

Einsatzerfahrungen ergaben, dass die Infanteriegruppe zukünftig in zwei identische, in sich differenziert ausgerüstete Vierertrupps unterteilt werden soll. Zurück bleiben Fahrer und Waffenbediener im GTK Boxer, dem „Mutterschiff“ der Infanteriegruppe. Der Boxer ist Truppentransporter, Waffen- und Materialträger und Aufladestation für die Akkus der Infanteriegruppe. Seit Ende 2004 wurden insgesamt 217 Basissysteme IdZ (d. h. für 2.170 Soldaten zum Stückpreis von zirka 35.000 Euro pro Soldat) an die Bundeswehr ausgeliefert. Zum Einsatz kommen die Systeme bei den Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, bei der deutschen Truppe in der NATO Response Force und in den Fallschirmjägerbataillonen, und sie wurden bereits 2006 im Kongoeinsatz genutzt. Die Systemführerschaft für das Basissystem liegt bei EADS.

IdZ-ES

Ab 2012 sollen rund 900 »Erweiterte Systeme« (IdZ-ES) für 9.000 Soldaten beschafft werden, die der Infanterie, den Panzergrenadieren und der Luftwaffen- und der Marinesicherung angehören.

Insbesondere um die Infanteriegruppe in das System der Vernetzten Operationsführung einzubinden und auch eine weitere Leistungssteigerung zu erzielen, ist Rheinmetall Defence Electronics (RDE) in Bremen als gesamtverantwortliche Firma seit August 2006 gemeinsam mit Unterauftragnehmern damit befasst, ein technisches Gesamtkonzept des Erweiterten Systems IdZ-ES zu entwickeln.

Im IdZ-ES soll der Soldat auf seinem Helmdisplay Informationen über die Lage und Position seiner Gruppe und der Nachbargruppe sowie seinen Auftrag und Warnmeldungen mit hoher Auflösung dargestellt bekommen. Auf dem Helmdisplay sollen auch Videoaufnahmen oder Aufnahmen von Wärmebildbeobachtungsgeräten möglichst echtzeitnah eingespielt werden können. Umgekehrt soll der Infanterist selbst neben Daten und Sprache auch Bilder und kurze Videosequenzen digital an seine Gruppe versenden können. Der Gruppenführer und sein Stellvertreter sind mit der übergeordneten Führungsebene abhörsicher verbunden und können über die Karte, die Lage, die Planung und den Status mit der Gruppe und der Führung kommunizieren.

Von zentraler Bedeutung ist es, die Infanteriegruppen über die Digitalisierung von Sprache, Daten und Video an das »Führungsinformationssystem Heer« anzubinden. So ist über die GPS-Integration die Darstellung eines digitalen Lagebildes in Echtzeit auf jeder Führungsebene möglich. Eben dies wird mit der Vernetzten Operationsführung nicht nur auf nationaler Ebene, sondern im multinationalen NATO- und EU-Rahmen angestrebt. Aufgerüstet wird die IDZ-ES-Gruppe mit Panzerfaust-3 und Splittergranaten.

Vernetzte Operationsführung

Die Vernetzte Operationsführung wird in der Bundeswehr als „Kernelement ihrer Transformation“ (Weißbuch der Bundeswehr, 2006, S.92) begriffen, der die »Eingreifkräfte« der Bundeswehr unterliegen. Vernetzte Operationsführung bedeutet, man schafft „einen alle Führungsebenen übergreifenden und interoperablen Informations- und Kommunikationsverbund. Dieser verbindet alle relevanten Personen, Truppenteile, Einrichtungen, Aufklärungs- und Waffensysteme.“ Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass jeder auf seinem Display dasselbe Lagebild hat. Der militärische Vorteil: „Nicht mehr die klassische Duellsituation auf dem Gefechtsfeld steht künftig im Vordergrund, sondern das Ziel, auf der Basis eines gemeinsamen Lageverständnisses Informations- und Führungsüberlegenheit zu erlangen und diese in Wirkung umzusetzen. Ziel ist dabei neben dem Erfolg auf dem Gefechtsfeld auch die Einwirkung auf die Willensbildung des Gegners. Damit wird militärisches Handeln im gesamten Aufgabenspektrum schneller, effizienter und effektiver“ (ebd.).

Zweck der Sache: die Beschleunigung der Entscheidungsfindung, was den entscheidenden Vorteil im Krieg bringen soll. Wie wird das technisch umgesetzt? Für weltweite Einsätze der NATO Response Force entwickelt eine Firmengruppe ein C4ISR-System (Command, Control, Communications, Computers, Intelligence, Surveillance und Reconnaissance – Kommando, Kontrolle, Kommunikation, Computer, Geheimdienst, Überwachung und Aufklärung), das sich Alliance Ground Surveillance (AGS) nennt. Die EU kann auf diese NATO-Ressource zugreifen.

Das zentrale Element von AGS ist der unbemannte Flugkörper (Drohne) Global Hawk. Der mit einem Radarsystem ausgestattete Global Hawk kann binnen 24 Stunden ein Gebiet von der Größe Nordkoreas ausspionieren – und dies 5.500 Kilometer von seinem Startplatz entfernt. Die Bundeswehr plant, sechs Global Hawk zu kaufen, um diese mit der NATO-AGS zu verknüpfen. Unbemannte Flugkörper werden in der Bundeswehr als „Kristallisationspunkt für die Transformation in Bundeswehr und Luftwaffe“ gesehen, so Oberstleutnant i.G. Michael Trautermann in »Strategie und Technik« (November 2005, S.41). Als Weiterentwicklung des Global Hawk soll der Euro Hawk fungieren, von dem bis 2014 vier Stück hergestellt sein sollen.

Insbesondere vom Verbund mit dem Drohnensystem Kleinfluggerät Zielortung (KZO) von Rheinmetall Defence Electronics erwartet man sich Wunder bezüglich der Anbindung des IdZ-ES an die Vernetzte Operationsführung. Das KZO, als fliegendes (Infrarotlicht-) Auge über dem Gefechtsfeld für die präzise Zielbestimmung und Wirkaufklärung von Artilleriebeschuss konstruiert, kann Videolivebilder von überflogenem Gebiet aus mehr als 50 Kilometer Entfernung übertragen. Bilder können sowohl der IdZ-ES-Truppe als auch jeder Führungszentrale live zugänglich gemacht werden, und das KZO wäre durch die Infanteriegruppe selbst steuerbar. So zumindest die als machbar bezeichnete Zukunftsvision von RDE. Das Heer verfügt bereits heute über sechs KZO-Systeme. Da jedes System zehn wieder verwendbare Drohnen beinhaltet, handelt es sich um insgesamt 60 Drohnen. 15 davon sind in Afghanistan im Einsatz.

Die durch Aufklärung gewonnenen Daten sollen über einen Verbund von Führungsinformationssystemen der Streitkräfte insgesamt mit dem Führungsinformationssystem des Heeres und insbesondere mit dem Führungs- und Waffeneinsatzsystem für landbasierte Operationen in Waffenwirkung umgesetzt werden. Zum Aufbau der weltweiten Führungsfähigkeit der Bundeswehr gehören darüber hinaus mindestens ein Dutzend weiterer Systeme. Die weltweite Führung soll über die zweite Stufe des Satellitenkommunikationssystem SATCOMBw, das ab Ende 2011 seinen vollen Betrieb aufnehmen soll, abgesichert werden. SATCOMBw ist für die Vernetzte Operationsführung unerlässlich.

Den diesen aggressiven Vorhaben zugrunde liegenden Zweck offenbarte das Weißbuch der Bundeswehr aus dem Jahr 2006 (S.19). Es müsse „die Sicherung der Energieinfrastruktur gewährleistet werden“. Um die Konkretisierung dessen sorgte sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in ihrer »Sicherheitsstrategie für Deutschland« vom Mai 2008. Dort heißt es: „Die Herstellung von Energiesicherheit und Rohstoffversorgung kann auch den Einsatz militärischer Mittel notwendig machen, zum Beispiel zur Sicherung von anfälligen Seehandelswegen oder von Infrastruktur wie Häfen, Pipelines, Förderanlagen etc.“ Offensichtlich wollen diese Herrschaften die Bundeswehr zur Führung grundgesetzwidriger weltweiter Rohstoff- und Wirtschaftskriege aufrüsten. Es wird höchste Zeit, dem einen Riegel vorzuschieben.

Lühr Henken ist im Vorstand des Hamburger Forums für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung e.V. und einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, außerdem Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Bomben, Chips und Algorithmen

Bomben, Chips und Algorithmen

Informationstechnik zwischen Krieg und Frieden

von Jürgen Altmann

Informationstechnik war seit ihrem Beginn durch Kriegsbedürfnisse geprägt. Das letzte Jahrhundert liefert wichtige Beispiele. Im Zweiten Weltkrieg gelang es Großbritannien, die mit der Enigma-Maschine verschlüsselten deutschen Funksprüche zu entschlüsseln, was entscheidend für die Schlacht im Atlantik und den Nachschub der Alliierten war. Nach 1945 wurden die ersten Großrechner für ballistische Rechnungen und die Modellierung der Prozesse in Kernwaffen entwickelt. Wie es im Computer-Archiv des US-Army Research Laboratory heißt: „The Purpose of This Archive: To help the public remember that it was the U. S. Army which initiated the computer revolution … all modern computers are descended from ENIAC, EDVAC, ORDVAC, and BRLESC – all of which were conceived of and built to address pressing Army needs.“ (ftp.arl.mil/~mike/comphist/).

Über Jahrzehnte war dann das Militär der Hauptfinanzier der Entwicklung von Computern, Software, Netzwerken usw. Die jeweils stärksten Supercomputer (in den USA ab 1948 UNIVAC, 1964 CDC 6600, 1977 Cray-1 usw.) wurden für Entwicklung neuer Atomwaffen eingesetzt, für Aerodynamik, Raketen und vieles andere mehr.1 Kleinere Rechner wurden für die Echtzeitsteuerung von Waffensystemen entwickelt. In den USA wurde Robotikforschung an Universitäten seit etwa 1960 vom Militär finanziert. Das ARPAnet wurde für die sichere Datenübertragung unter Atomkriegsbedingungen entwickelt und wurde dann zum Vorläufer des heutigen Internet. Integrierte Schaltkreise und Mikrocomputer wurden zwar im zivilen Bereich entwickelt, aber auf der Basis von vorangegangener intensiver militärischer Halbleiterforschung. Damit wurde der PC möglich, und ein Massenmarkt für Computer und Informationstechnik entwickelte sich, in dem dann mehr Geld in Forschung und Entwicklung floss, so dass sich nun im zivilen Bereich der technische Fortschritt schneller vollzog als im militärischen.

Aktuelle Entwicklungen und Trends

Auch wenn bei den Massenprodukten die technische Dynamik inzwischen vom zivilen Bereich ausgeht (und die Streitkräfte immer mehr zivile IT-Produkte einsetzen müssen), lässt das Militär weiterhin in sehr großem Umfang Forschung und Entwicklung für Aufnahme, Verarbeitung und Übertragung von Informationen betreiben – gegenwärtig heißt eines der zentralen Ziele Informationsdominanz. Da die USA am aktivsten sind, kommen die folgenden Beispiele von dort, aber andere Länder folgen in der Regel zügig nach.

Ein Bereich ist die stetige Erhöhung der Zielgenauigkeit. War es mit Hilfe der Trägheitsnavigation gelungen, die mittlere Zielabweichung bei Interkontinentalraketen bei 10.000 km Reichweite auf unter 100 m zu verringern, wurde zur Driftkorrektur bei Marschflugkörpern zunächst der Geländehöhen- und dann der Szenenvergleich entwickelt. Dann kamen die hochgenauen Satellitennavigationssysteme (GPS der USA, GLONASS der Sowjetunion/Russlands). Heute wird an automatischer Zielerkennung gearbeitet. Bei allen diesen Verfahren spielen digitale Daten und mathematische oder Mustererkennungs-Algorithmen eine zentrale Rolle.

Das aktuelle Leitbild moderner Streitkräfte heißt »Netzwerk-zentrierte Kriegführung«. Die eigene Truppe soll so vernetzt werden, dass aufgenommene Informationen breit verteilt werden bzw. abgerufen werden können. Dadurch soll sich ein gemeinsames Lagebewusstsein herausbilden, das durch Selbst-Synchronisierung erheblich stärkere Wirksamkeit im Kampf ergeben soll. Als zentrales System soll das »Global Information Grid« aufgebaut werden, das Netz, das alle Waffenplattformen, Sensoren und Führungszentren vereinigt, in gewisser Weise wie das öffentliche Internet. Allerdings ergeben sich hier erhebliche Probleme: Wie kann die notwendige Übertragungsbandbreite – etwa für Echtzeit-Videodaten von Aufklärungsdrohnen – zur Verfügung gestellt werden? Wie lässt sich eine sichere Übertragung gewährleisten, die auch noch gegen feindliches Mitlesen oder Stören geschützt ist? Wie lässt sich vermeiden, dass die beteiligten Menschen und Systeme nicht durch zu viel Information überlastet werden?

Mit der wachsenden Bedeutung von Rechnernetzen steigt das Interesse an Cyber-Kriegführung. Man möchte in gegnerischen Netzen spionieren, sie ggf. blockieren und infiltrieren. Dabei lässt sich – anders als bei den meisten Angriffen in der realen Welt – die Herkunft verschleiern, so dass der Verursacher seine Beteiligung abstreiten kann. Das eröffnet viele Möglichkeiten für Manipulation, wenn eine Macht z.B. zwei andere gegeneinander aufhetzen möchte. Weil militärische IT-Systeme erheblich besser gegen Fremdeinwirkung geschützt sind, ist abzusehen, dass Cyber-Kriegführung sich zum großen Teil gegen zivile Netze wenden wird.

Ein ganz anderer Bereich ist biologisch inspirierte Informationstechnik. Projekte in den USA widmen sich z.B. dem Nachbilden biologischer Sensoren, der Verarbeitung von Sinnesdaten ähnlich wie in den Nervensystemen von Lebewesen oder dem Lernen aus Erfahrungen

Ein Haupttrend der nächsten Jahrzehnte ist der zu besatzungslosen bzw. robotischen Kampfsystemen. Schon 2001 hat der US-Kongress beschlossen, die Streitkräfte sollen die Fernsteuerungstechnik so entwickeln, das 2010 ein Drittel der Angriffsflugzeuge und 2015 ein Drittel der Land-Kampffahrzeuge ohne Besatzung fliegen bzw. fahren. Aufbauend auf Jahrzehnten militärischer Roboterforschung und -entwicklung sowie Tausenden von Einsätzen von Aufklärungsdrohnen bemüht sich das US-Verteidigungsministerium nun um die Teilstreitkräfte übergreifende Vereinheitlichung; auch an besatzungslosen Land-, Überwasser- und Unterwasserfahrzeugen wird intensiv gearbeitet. Der Fahrplan sieht breite Nutzung vor, mit vielen Stufen wachsender Fähigkeiten.2 Die kompliziertesten Aufgaben – das verbundene Gefecht auf Land, die U-Boot-Bekämpfung auf und unter Wasser sowie der Luftkampf – sollen ab etwa 2020 möglich werden. Auch kleine Roboter werden erforscht; während sie schon heute zum Entschärfen von Sprengkörpern eingesetzt werden (aus einigen 10 m Abstand ferngesteuert), gibt es auch Ideen, sie große Entfernungen zurücklegen zu lassen, etwa beim US-Scorpion-Projekt, das beim deutschen Fraunhofer-Institut für Autonome Intelligente Systeme bearbeitet wurde. Kleinstflugzeuge sollen unbemerkt aufklären oder Zielpersonen bekämpfen – hier zeigen sich aber auch Grenzen bei der Höchstgeschwindigkeit (einige 10 km/h) und der Betriebsdauer (bisher einige 10 Minuten). Ein Spezialgebiet der Forschung ist die Schwarm-Intelligenz.

Die USA haben ihr besatzungsloses Aufklärungsflugzeug »Predator« (Länge 8 m) nachträglich mit Hellfire-Flugkörpern ausgestattet und im sog. Krieg gegen den Terrorismus seit 2002 eingesetzt. Inzwischen gibt es mit dem »Reaper« (Länge 11 m) ein besonders für den Kampf konstruiertes Flugzeug mit 1.100 kg Waffennutzlast. Diese Typen werden von einer Basisstation in den USA aus gesteuert. Insbesondere über den Waffeneinsatz muss immer noch ein menschlicher Bediener entscheiden. Angedacht wird aber auch die »autonome Entscheidung« durch die Computer an Bord; insbesondere wenn es zukünftig auch gegnerische besatzungslose Fahr- und Flugzeuge geben wird, wird es einen Druck geben, schneller zu entscheiden, als die Satellitenverbindung und menschliche Reaktionszeit am anderen Ende der Übertragungsstrecke es erlauben. Es gibt in der Robotik Forschungsprojekte zum Töten durch autonome Systeme – ein Forscher argumentiert, man könne robotischen Systemen die Regeln des Kriegsvölkerrechts (z.B. Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten) einprogrammieren, und sie würden sie sogar genauer einhalten, da Überreaktionen, wie bei menschlichen Soldaten, vermieden würden. Ein Konzept für ein »künstliches Gewissen« sieht sogar die Möglichkeit der Befehlsverweigerung vor, wenn ein dem Völkerrecht widersprechender Auftrag gegeben wird.3 Ob autonome Kampfsysteme tatsächlich mit dieser Fähigkeit ausgestattet würden, kann man bezweifeln. Wichtiger ist die Frage, ob die absehbare »Intelligenz« von KI-Systemen ausreicht, um eine Situationsbeurteilung und Aktionsentscheidung mindestens auf der Höhe menschlicher Fähigkeiten zu gewährleisten.

Wie schwierig die Umsetzung von Konzepten für netzwerkzentrierte Kriegführung mit besatzungslosen Fahrzeugen sein kann, zeigt das Future Combat System (FCS) der US Army. Seit 2000 wurde das Konzept entwickelt, 2002 wurden die Firmen Boeing und Sciende Applications International als führende Systemintegratoren verpflichtet, seit 2003 läuft die Systementwicklung. Neben Bodensensoren, einem Flugkörperstartsystem und »intelligenter Munition« sollte das FCS vier Klassen besatzungsloser Flugzeuge und drei Typen besatzungsloser Bodenfahrzeuge umfassen, neben fünf Arten mit Personen besetzter Fahrzeuge. Die 18 verschiedenen Systeme sollten mit einem Netzwerk verbunden werden. 2005 hat der Rechnungshof des US-Kongresses erhebliche Verzögerungen festgestellt, die Kosten waren von 80 auf 108 Milliarden US-$ gestiegen. Daraufhin verlangt der Kongress seit 2006 jährlich einen Bericht. Im Jahr 2007 wurden drei besatzungslose Systeme gestrichen, dadurch konnten die Kosten auf 161 Milliarden US-$ begrenzt werden. In seinen Berichten von 2008 stellte der Rechnungshof fest:

Nach fast fünf Jahren Entwicklung sei unklar, ob das Informationsnetzwerk, der Kern des FCS, entwickelt, gebaut und demonstriert werden kann.

Die in Entwicklung befindliche Software für Netzwerk und Plattformen umfasse 95 Millionen Kodezeilen, fast dreimal so viele wie 2003 vorgesehen und viermal so viele wie die nächsten beiden Software-intensiven Militärprogramme.

Es sei unklar, wann oder wie demonstriert werden könne, dass die FCS-Software funktioniert.

Die Army werde den Entscheidungsträgern 2013 wahrscheinlich ein teilweise entwickeltes und weitgehend nicht demonstriertes System zur Produktion präsentieren.

Der Meilenstein 2009 sei entscheidend, er könne die letzte Gelegenheit zur Kursändrung bieten.4

Auch das breite Feld von Nanotechnik und konvergenten Techniken soll intensiv militärisch genutzt werden.5 Bei Nanotechnik geht es um die Untersuchung und Gestaltung von Systemen auf der Ebene von Nanometern (10-9 m), mit Strukturgrößen etwa zwischen 0,1nm (Atom) und einigen 100nm (großes Molekül). Auf dieser Ebene verschwimmen die Grenzen zwischen den Disziplinen – Nanotechnik, Biotechnik, Informationstechnik, Kognitionswissenschaft und andere Felder konvergieren. Diese Techniken sollen die nächste industrielle Revolution bringen, mit weit reichenden Konsequenzen in allen Lebensbereichen. In den USA wird von einer „neuen Renaissance“ gesprochen, die „Weltfrieden, universellen Wohlstand, … einen höheren Grad von Mitgefühl und Erfüllung“ bringen werde. Im Bereich „nationale Sicherheit“ wird jedoch betont, dass „militärische Überlegenheit“ der USA unerlässlich sei.6

Nanotechnik soll dafür sorgen, dass das »Mooresche Gesetz« der exponentiell wachsenden Rechnerleistung auch dann noch weiter gilt, wenn die Lithographie auf Halbleiteroberflächen ihre Grenzen erreicht hat, etwa mittels Kohlenstoff-Nanoröhren oder Molekülen als Speicher- und Schaltelemente. Mutige KI-Forscher extrapolieren, dass 1.000-Dollar-Computer in 15 Jahren die rohe Rechenleistung des menschlichen Gehirns erreichen werden. Kleine und kleinste Rechner würden in alle militärischen Systeme integriert. Durch fähigere Steuerungen, festere Materialien usw. wird Nanotechnik neue kleine Waffen ermöglichen, etwa Flugkörper zur Flugabwehr, die vielleicht 30cm lang sind und 3kg Masse haben, somit viel leichtere Möglichkeiten für Terrorangriffe bieten als die bisherigen Schulter getragenen Flugabwehrsysteme (MANPADS) mit 1,5m und 30kg. Auch kleinste Satelliten zum Andocken und Manipulieren anderer werden möglich werden.

In der medizinischen Nanobiotechnik wird intensiv an Kapseln für den sicheren Einschluss und die verzögerte Abgabe von Agentien gearbeitet, mittels aktiver Gruppen sollen sie sich an spezifische Ziele in Organen und Zellen binden. Erforscht werden Mechanismen zum leichteren Eintritt in Körper oder Zellen, insbesondere durch die Blut-Hirn-Schranke, Mechanismen zur selektiven Reaktion mit speziellen Genmustern oder Eiweißen sowie zur Überwindung der Immunreaktion des Zielorganismus. Alles dies könnte auch für feindliche Zwecke verwendet werden, wobei man das Risiko durch Begrenzung der Haltbarkeit, programmierte Selbstzerstörung, Aktivierung oder Deaktivierung durch zweites Agens oder zuverlässige Impfung für die eigene Seite verringern könnte. Somit kann es möglich werden, die Wirkung auf besondere Gruppen oder gar ein einzelnes Individuum einzugrenzen. Nanotechnik wird aber auch schnellere, billigere, empfindlichere und selektivere Sensoren für chemische oder biologische Kampfstoffe erlauben, bessere Filtermaterialien und effektivere Dekontamination.

Damit Nanotechnik schneller in die Armee eingeführt werden kann, finanziert die US Army das »Institute for Soldier Nanotechnologies«, das 2002 am Massachusetts Institute of Technology gegründet wurde. Hier arbeiten über 170 Personen in fünf multidisziplinären Forschungsfeldern an einem schützenden Kampfanzug, Sensoren für den Körperzustand und medizinischen Techniken. Nach Bedarf sollen Wirkstoffe verabreicht und Wundkompressen gebildet werden.

Im Bereich Hirn-Maschine-Schnittstelle gelang es, mit Multielektroden auf der motorischen Hirnrinde eines Affen die Signale für Armbewegungen zu erkennen, so dass schließlich der Affe einen Roboterarm wie seinen eigenen steuern konnte. Andersherum konnte eine Ratte mittels implantierter Hirnelektroden über beliebige Kurse gesteuert werden.

In den USA ist die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) für weit in die Zukunft reichende Forschung zuständig.7 Sie hat fünf fachliche Abteilungen; Informationstechnik-Fragen werden vor allem im Information Processing Techniques Office bearbeitet. Dort gibt es sechs Schwerpunktbereiche; Tabelle 1 gibt einen Eindruck von den darin bearbeiteten Programmen.

Schwerpunktbereich Anzahl Programme Beispielprogramm
Cognitive Systems 15 Learning Applied to Ground Robots
Command & Control 8 Urban Leader Tactical Response, Awareness & Visualization
High Productivity Computing 3 Disruptive Manufacturing Technology, Software
Producibility
Language Processing 3 Spoken Language Communication and Translation System for
Tactical Use
Sensors & Processing 14 Camouflaged Long Endurance Nano Sensors
Emerging Technologies 3 Information Theory for Mobile Ad-Hoc Networks
Tabelle 1:
Schwerpunktbereiche des Information Processing Techniques Office der US-DARPA mit je einem willkürlich ausgewählten Programm
(Quelle: www.darpa.mil/ipto/thrust_areas/thrust_areas.asp)

Die DARPA hat, wie erwähnt, auch das Future Combat System mitkonzipiert, vielleicht wegen des Herangehens: „And please, please tell us that something simply cannot be done – it's science fiction. That is the challenge we cannot resist.“8

Zwei kurze Schlaglichter auf die EU und Deutschland sollen folgen. Die Europäische Verteidigungsagentur (EDA) der Europäischen Union hat ein Defence R&T Joint Investment Programme on Innovative Concepts and Emerging Technologies. Dort spielen Informationstechnik und Nanotechnik eine herausragende Rolle; Tabelle 2 zeigt die Themenbereiche der ersten beiden Ausschreibungen.

First Call Second Call
Non Linear Control Design Remote Detection of Hidden Items
Integrated Navigation Architecture Nanostructures – Electro-Optical and Other
Nanotechnologies Radar Technologies – Processing
Structural Health Monitoring Radar Technologies – Components
Tabelle 2
Themenbereiche der ersten zwei Projektausschreibungen der Europäischen Verteidigungsagentur für innovative Konzepte und aufkommende Technologien
(Quelle: www.eda.europa.eu/genericitem.aspx?id=368)

Für Deutschland wird zunächst auf das European Land-Robot Trial (ELROB) verwiesen, einen Wettbewerb für besatzungslose Landfahrzeuge, den die Bundeswehr – nach dem Muster der DARPA Grand Challenges – seit 2006 jährlich durchführt, im Wechsel militärisch und zivil. Von den 14 deutschen Teams, die am militärischen ELROB 2008 teilnahmen, kamen 4 aus Informatik-/Robotik-Gruppen deutscher ziviler Universitäten.9

Das zweite Beispiel betrifft die Entwicklung besatzungsloser Kampfflugzeuge (unmanned combat air vehicle, UCAV). EADS entwickelt das »Barracuda« mit 8m Länge, über 7m Spannweite und etwa 3t Startmasse. Es flog im April 2006 zum ersten Mal, stürzte dann aber weniger Monate später ins Meer.

Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt untersucht Technologien für die Entwicklung von besatzungslosen Kampfflugzeugen, für die ab 2020 ein möglicher Bedarf zur Bekämpfung mobiler Ziele zu Lande, in der Luft gesehen wird (siehe Tabelle 1).

Probleme und Auswege

Beim Nachdenken über Frieden und internationale Sicherheit muss ein Grundproblem berücksichtigt werden. Im gegenwärtigen internationalen System gibt es – anders als im Inneren von Staaten – keine übergeordnete Autorität mit einem Monopol legitimer Gewalt, die die Einhaltung von Regeln durchsetzen und vor allem Staaten vor Angriffen schützen kann. Jeder Staat versucht, die eigene Sicherheit durch die Drohung mit seinen Streitkräften zu gewährleisten. Dabei erhöht er aber gerade auch die Bedrohung für andere, so dass sich in der Summe die Sicherheit aller verringert.

Ein Ausweg aus diesem so genannten Sicherheitsdilemma ist die freiwillige wechselseitige Begrenzung der Streitkräfte, also Rüstungskontrolle oder gar Abrüstung (allerdings gibt es Widersprüche mit dem Ziel des Sieges, sollte dennoch Krieg ausbrechen). Rüstungsbegrenzung ist nur verlässlich, wenn die Staaten überprüfen können, ob die Vertragspartner die Vereinbarungen auch einhalten. Diese Verifikation braucht eine ausgewogene Mischung zwischen Offenheit und Geheimhaltung und wird umso schwieriger, je kleiner, billiger oder häufiger die nachzuweisenden Objekte werden.

Für neue militärische Technologien ist präventive Rüstungskontrolle relevant – also ein Verbot oder eine Beschränkung einer militärisch nutzbaren Technologie oder von Waffensystemen, die wirken, bevor die neuen Systeme beschafft werden. Für solche vorbeugenden Beschränkungen gibt es eine Reihe von Präzedenzfällen. Die Teststoppverträge (partiell 1963, vollständig 1996) verbieten nukleare Testexplosionen. Der Raketenabwehrvertrag (1972-2002) verbot Abwehrsysteme, die luft-, see- und beweglich landgestützt sind. Sowohl das Biologische-Waffen-Übereinkommen (1972) als auch das Chemiewaffen-Übereinkommen (1993) verbieten nicht nur die Herstellung, sondern schon Entwicklung und Erprobung solcher Waffen.

Präventive Rüstungskontrolle braucht die folgenden Schritte: Zunächst müssen die technischen Eigenschaften und die mögliche militärische Nutzung vorausschauend analysiert werden. Die Ergebnisse müssen dann unter Kriterien bewertet werden. Schließlich sind dann mögliche Beschränkungen und Verifikationsmethoden zu entwerfen. Die Kriterien lassen sich in drei Gruppen einteilen. Bei der ersten geht es um die Einhaltung und Weiterentwicklung von Rüstungskontrolle, Abrüstung und Völkerrecht. Die zweite betrachtet die militärische Stabilität einschließlich der Weiterverbreitung. Die dritte Gruppe hat den Schutz von Mensch, Umwelt und Gesellschaft zum Inhalt.

Am Beispiel der Nanotechnik hat sich gezeigt, dass von 21 möglichen militärischen Anwendungen 8 besonders gefährlich sind und präventiv verboten werden sollten, darunter metallfreie Schusswaffen, kleine Flugkörper und kleine Roboter. U.a. damit die Verifikation nicht zu aufdringlich wird, sollten die Verbote nicht an der Verwendung von Nanotechnik festgemacht werden, sondern an militärischen Systemen oder Aufgaben, unabhängig von der im Innern verwendeten Technik. Die Regelungen sollten in die allgemeine Rüstungsbegrenzung und Abrüstung integriert werden, z.B. sollten kleine Satelliten als Antisatellitenwaffe im Rahmen eines allgemeinen Verbots von Weltraumwaffen erfasst werden. Neue biologisch-chemische Waffen sind schon verboten, aber das Biologische-Waffen-Übereinkommen sollte durch ein System für Einhaltung und Verifikation ergänzt werden, wie es beim Chemiewaffen-Übereinkommen schon existiert (siehe Tabellle 2).

Informationswissenschaft und -technik für Abrüstung und Frieden

Informationswissenschaft und -technik kann auf verschiedene Weise direkt für Abrüstung und Frieden eingesetzt werden. Eine Art ist die kritische Begleitung militärischer Forschung und Entwicklung. Können große militärische Softwaresysteme funktionieren, oder sind sie zu komplex, nicht durchschaubar, nicht verifizierbar und nicht validierbar? Zum Beispiel ist der Softwaretechnik-Pionier David Parnas 1985 aus dem »Panel on Computing in Support of Battle Management« des US-Raketenabwehrprogramms »Strategic Defense Initiative« ausgetreten, weil die Aufgaben der Gefechtsmanagement-Software nicht erfüllbar waren: Sie sollte feindliche Raketen erkennen ohne Wissen über deren genaue Eigenschaften. Sie werde – als auf viele Satelliten und andere Knoten verteiltes System – unzuverlässig arbeiten und könne die Echtzeitanforderungen nicht erfüllen.

Für die in Entwicklung befindlichen ferngesteuerten Waffensysteme sind folgende Fragen zu bearbeiten: Kann eine sichere Datenverbindung – auch unter Feindeinwirkung – gewährleistet werden? Ist die per Videokamera verfügbare Information ausreichend, um kriegsrechtskonforme Entscheidungen zu treffen, ob ein bestimmtes Ziel angegriffen werden darf? Ist die Bedienerschnittstelle für die tödliche Entscheidung angemessen gestaltet? Gibt es bei Fernsteuerung eine größere Enthemmung durch die extreme Trennung vom Ort des Kampfes, die Ähnlichkeit mit einem Videospiel?

Weitere wichtige Forschungsfragen sind:

Kann künstliche Intelligenz gewährleisten, dass autonome Kampfsysteme das Kriegsvölkerrecht einhalten?

Wenn Krieg immer mehr automatische Entscheidungen umfasst – welche Folgen wird das für den Frieden oder für die militärische Stabilität zwischen potentiellen Gegnern haben?

Welche Wechselwirkungen können sich ergeben zwischen Cyber-Angriffen durch Hacker und militärischen Aktionen und Reaktionen?

Kann man einen Schutz für kritische Informationsinfrastruktur im Kriegsvölkerrecht verankern?

Ist es möglich, Vorbereitungen auf den Cyber-Krieg durch Rüstungskontrolle zu beschränken?

Kann man die Informationstechnik, die für legitime UN-Einsätze gebraucht wird, von der für einen großen Krieg trennen?10

Im Bereich Verifikation ist Forschung nötig für die automatisierte Verarbeitung von Satelliten- oder Luftbildern sowie von Daten von Vor-Ort-Sensoren. Ein wenig problematisch und ambivalent ist die Frage, ob man mittels data mining Indikatoren für heimliche bzw. illegale Aktivitäten finden kann, etwa in Bezug auf die Weiterverbreitung beschränkter Technologien.

Verantwortung für Frieden in der Informationstechnik

Es gibt verschiedene Arten, wie man die Verantwortung, die man für die friedliche Nutzung der eigenen Wissenschaft/Technik hat, wahrnehmen kann. Einige wenige können die eigene Forschung oder Entwicklung direkt der Abrüstung widmen. Die vielen anderen, die »normale« zivile Forschungs- oder Softwareprojekte bearbeiten, können wachsam sein und militärische Forschung und Entwicklung im eigenen Feld verfolgen. Insbesondere in den USA, wo die Militärförderung von Universitäten eine starke Tradition hat, können die Computerwissenschaftler/innen überlegen, ob sie solche Finanzierung annehmen wollen.

Ein Beispiel für die bewusste Ablehnung gibt Benjamin Kuipers von der University of Texas, Austin.11 Problematische militärische Anwendungen können in der Fachgemeinschaft zur Diskussion und in Frage gestellt werden, wie es Noel Sharkey macht.

Ich denke, dass zur Wahrnehmung der Verantwortung für den Frieden auch Grundkenntnisse in Abrüstung gehören, einschließlich der entsprechenden Verträge sowie der Methoden, wie die Einhaltung überprüft wird. Auch elementares Wissen über das Völkerrecht sollte vorhanden sein. Verantwortung beginnt in der Lehre: Dort sollten Abrüstungsthemen mit Bezug zu Informationstechnik und Informatik einbezogen werden, z.B. bei Lehrveranstaltungen zu »Informatik und Gesellschaft«. Sehr hilfreich wäre die Entwicklung entsprechender Lehreinheiten, auch für die Schule. Zur Information der Öffentlichkeit kann man Vorträge halten oder Gespräche mit Medienvertretern führen.

Das »Forum Informatiker/innen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung« spielt für Initiativen in diese Richtung eine wichtige Rolle, daher sollte es gestärkt werden.

Quellen und Anmerkungen

Der Beitrag von Jürgen Altmann erschien erstmalig in der Zeitschrift FIfF-Kommunikation 1/2009. Das Themenheft dokumentiert die Beiträge der Tagung »Krieg und Frieden – digital« in Aachen und kann bestellt werden beim Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) e.V., Goetheplatz 4, 28203 Bremen, fiff@fiff.de.

1) Vgl. z.B. Computer History Museum, www.computerhistory.org.

2) UMS Roadmap 2007-2032, Washington DC: US Department of Defense, 2007.

3) Arkin, R. C. (2007): Governing Lethal Behavior: Embedding Ethics in a Hybrid Deliberative/Reactive Robot Architecture, Technical Report GIT-GVU-07-11, College of Computing, Georgia Institute of Technology. www.cc.gatech.edu/ai/robot-lab/online-publications/formalizationv35.pdf

4) Government Accountability Office (2009): Is a Critical Juncture for the Army's Future Combat System, GAO-08-408, Washington DC: U.S. Government Printing Office, 2008, www.gao.gov/new.items/d08408.pdf; 2008: Defense Acquisitions – Significant Challenges Ahead in Developing and Demonstrating Future Combat System's Network and Software, GAO-08-409, 2008, www.gao.gov/new.items/d08409.pdf

5) J. Altmann (2006): Military Nanotechnology: Potential Applications and Preventive Arms Control, Abingdon/New York: Routledge. Vgl. auch www.bundesstiftung-friedensforschung.de/pdf-docs/berichtaltmann.pdf.

6) M. C. Roco, W. S. Bainbridge (eds.) (2003): Converging Technologies for Improving Human Performance – Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science, Boston MA: Kluwer. Vgl. auch in: www.wtec.org/ConvergingTechnologies/1/NBIC_report.pdf). Das europäische Konzept für konvergierende Techniken ist deutlich anders: Vgl. High Level Expert Group Foresighting the New Technology Wave (2004): Converging Technologies – Shaping the Future of European Societies, A. Nordmann (Rapporteur), Brussels: European Communities.

7) www.darpa.mil.

8) B. Giroir (2007): Ideas Begin Here, Teleprompter Script, presented at DARPATech, DARPA's 25th Systems and Technology Symposium, August 7, 2007, Anaheim CA, www.darpa.mil/DARPATech2007/proceedings/dt07-dso-giroir-ideas.pdf

9) Institute for Systems Engineering (ISE) Leibniz-Universität Hannover; FB 12, Universität Siegen; FB Informatik, Univ. Kaiserslautern; Jacobs University Bremen, www.elrob.org/Teams_Exhibitors.38.0.html

10) Wer interessiert ist, solche Forschung zu beginnen, kann sich gern an den Autor wenden.

11) B. Kuipers, Why don't I take military funding?, www.cs.utexas.edu/~kuipers/opinions/no-military-funding.html.

PD Dr. Jürgen Altmann ist Physiker und Friedensforscher. Seit 1985 macht er Abrüstungs-orientierte Forschung. Schwerpunkte sind kooperative Verifikation von Abrüstungs- und Friedensabkommen mit akustischen, seismischen und magnetischen Sensoren sowie Militär-Technikfolgenabschätzung und präventive Rüstungskontrolle. Er ist Mitgründer des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit FONAS und ein stellvertretender Sprecher des Arbeitskreises Physik und Abrüstung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft DPG. (altmann@e3.physik.tu-dortmund.de)

Militärische Geographie

Militärische Geographie

von Rachel Woodward

Dass der Durchsetzung militärischer Macht durch die Ausübung bewaffneter Gewalt hinsichtlich ihrer Ursachen und Auswirkungen von sich aus geographische Aspekte inhärent sind, ist eine weit verbreitete Vorstellung. Militärische Aktivitäten finden im Raum statt und drehen sich immer um die Kontrolle von Raum. Sie haben stets Auswirkungen auf die Umwelt und geben heutigen Landschaften ihr Gepräge – dabei auch Spuren für die Zukunft hinterlassend. Bewaffnete Konflikte sind, wie auch immer sie stattfinden, räumliche Prozesse.

In der geographischen Forschung besteht weitgehend Übereinstimmung, dass die Erforschung der Räumlichkeit bewaffneter Konflikte nur eine Facette eines umfassenderen Sets militärischer Geographien ist, die sowohl konflikthafte als auch nicht-konflikthafte Aktivitäten umfassen und zu einem Verständnis der vielfältigen Möglichkeiten beitragen, durch die militärische Aktivitäten und Militarismus geographisch konstituiert werden und geographisch zum Ausdruck kommen. Militärische Aktivitäten (die Tätigkeiten und das Leistungsvermögen der militärischen Einheiten selbst) und Militarismus (die Ausweitung des militärischen Einflusses auf die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Arenen des zivilen Lebens) sind gewöhnlich am sichtbarsten in Zeiten und an Orten bewaffneter Konflikte. Beide existieren als machtvolle Faktoren, die die Räume, Örtlichkeiten und das Umfeld über die Unmittelbarkeit des Schlachtfeldes hinaus prägen. Beide arbeiten kontinuierlich daran, die militärische Kontrolle über den Raum und die sozialen Beziehungen auszudehnen. Dieser Beitrag befasst sich mit einigen Überlegungen, wie diese Kontrolle konzeptualisiert werden kann, damit unser Verständnis ihres Ausmaßes und ihrer Wirkungen erweitert wird.

Als akademische Disziplin, die sowohl die physischen Charakteristika der Erde als auch die Gestaltung sozialer Beziehungen im Raum zu verstehen versucht, hat die Geographie immer mit militärischen Institutionen, ihren Aktivitäten und ihren Wirkungen zu tun gehabt. Das Streben nach geographischem Wissen als ein Hilfsmittel zur Ausübung militärischer Gewalt über ein Territorium ist so alt wie die Disziplin selbst. Darstellungen der Disziplin im 19. und 20. Jahrhundert in Europa und Nordamerika, aber auch in früheren Epochen und auf anderen Kontinenten verzeichnen die Generierung und den Gebrauch geographischen Wissens und geographischer Methoden explizit für den Zweck der Ausübung militärischer Macht. Dieses Erbe prägt noch immer die Richtung verschiedener Stränge der gegenwärtigen geographischen Forschung. Eine traditionelle und politisch konservative Militärgeographie verfügt – sich selbst als Subdisziplin kenntlichmachend – über eine institutionalisierte Form (zum Beispiel in Gestalt der gleichnamigen Fachgruppe innerhalb der Association of American Geographers) und über curriculare Verankerung in der Militärausbildung einiger Militärakademien. Im traditionellen Verständnis von Militärgeographie hat diese einen praktischen Schwerpunkt im Sinne der Anwendung geographischer Werkzeuge und Verfahren zur Lösung militärischer Probleme. Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung geographischer Informationssysteme und ihre Anwendungen mit engem Bezug zu militärischen Erfordernissen und militärischer Finanzierung. Darüber hinaus existiert eine lange Tradition und fortgesetzter Enthusiasmus für eine historische Militärgeographie, für Analysen des Geländes und des taktischen Vorgehens sowie für geographisch informierte Interpretationen der Militärgeschichte.

Weniger eng mit militärischen Institutionen – insbesondere angesichts ihres aktuell kritischen Profils – beschäftigen sich die gegenwärtige politische Geographie und die Geopolitik auch weiterhin besonders mit der Rolle bewaffneter Konflikte und militärischer Macht für die Entstehung von Staaten, Grenzen und Territorien. So ist die Beschäftigung der Disziplin mit Militarismus und militärischen Aktivitäten mannigfaltig und Veränderungen unterworfen.

In diesem Beitrag, der sich auf meine bisherigen Arbeiten zur Geographie des Militarismus und militärischer Aktivitäten stützt, mache ich zwei Vorschläge, wie diese Perspektive entfaltet werden kann. Zunächst trete ich dafür ein, den scheinbar unbedeutenden, scheinbar alltäglichen, scheinbar prosaischen Aktivitäten militärischer Institutionen und Kräfte größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Nicht ohne gute Gründe schenken wir den größeren dramatischen Ereignissen häufig unser Augenmerk und verfolgen den bewaffneten Konflikt selbst und seine Auswirkungen territorialer Art und hinsichtlich der sozialen Beziehungen. Allerdings gibt es ein Argument dafür, den nicht-konflikthaften Situationen und den geographischen Begebenheiten mehr Aufmerksamkeit zu widmen, die durch jene militärischen Aktivitäten und Prioritäten konstituiert und ausgedrückt werden, die alltägliche Praxen konstituieren, die erst die Voraussetzungen für den bewaffneten Konflikt schaffen. Deren vordergründig undramatische Wirkung mag der Betrachtung so verborgen sein wie die Steine am Fuße der Pyramide. Sich jedoch ausschließlich auf die Spitze der Pyramide zu konzentrieren, kann dazu verleiten, die Beschaffenheit der Struktur nicht zu verstehen, die diese Struktur erst möglich macht. Dementsprechend sind Aspekte wie die Entscheidung zur Errichtung von Kasernen, die Politik der Ausweisung von Gelände zum Zwecke von Truppenübungen, die Konversion von Militäranlagen, soziale Beziehungen in militärischen Wohnanlagen, ökologische Auswirkungen des alltäglichen Übungsbetriebes oder die Entstehung von militärischem Landschaftsraum als Stätten der Erinnerung, der Trauer und des Triumphes alle Teil desselben Sets von Praktiken, die militärische Aktivitäten und Militarismus in ihrer Prägewirkung auf soziale Beziehungen und auf Räume betrachten.

Zweitens kann durch die Erforschung dieser prosaischen, scheinbar unbedeutenden Aktivitäten besser verstanden werden wie militärische Kontrolle über Räume und Örtlichkeiten, über Landschaft und Umgebung in der Praxis funktioniert. Ich bin besonders daran interessiert Erklärungsansätze zu finden, die sich auf beobachtbare empirische Kontexte stützen können und die versuchen, diese Ergebnisse im Rahmen eines Verständnisses davon zu konzeptualisieren wie militärische Macht funktioniert. Dabei berücksichtige ich besonders vier Bereiche: die Steuerung, die bereits durch militärische Präsenz ausgeübt wird; die Steuerung, die sich aus der Verfügbarkeit und der Nutzung von Informationen und Daten ergibt; die Steuerung, die durch Regierungspraktiken jenseits militärischer Institutionen ausgeübt wird; und die Steuerung, die durch die Rhetorik und den Diskurs über Sicherheitsdefinitionen ausgeübt wird.

Die Steuerung durch physische Präsenz

Wir können mit der beinahe lapidaren Tatsache militärischer Präsenz beginnen. Die militärische Kontrolle von Raum ist vermutlich in Konfliktsituationen am sichtbarsten – durch die Anwesenheit von Truppen und die durch Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichten Erkenntnisse über die unsichtbaren Einflussnahmen auf dem Schlachtfeld. In nicht-konflikthaften Situationen ist die militärische Kontrolle über den Raum möglicherweise weniger sichtbar bzw. offensichtlich, obwohl sie im Falle der militärischen Nutzung des Gebietes anderer souveräner Nationalstaaten nicht weniger umstritten ist. Betrachten wir jedoch hier die militärische Nutzung von Raum im eigenen Land. Militärische Einheiten benötigen, um tödliche Gewalt ausüben zu können und die Kompetenz für bewaffnete Gewalt zu entwickeln, Örtlichkeiten und Raum, in denen diese Fähigkeiten entstehen können, entwickelt und mit entsprechender Ausrüstung trainiert werden. Eine Reihe von Vorgängen und Wirkungen sind mit der Tatsache der Anwesenheit solcher einheimischer militärischer Liegenschaften – welcher Größe und Funktion auch immer – verbunden.

Militärische Stützpunkte beeinflussen die örtlichen ökonomischen Strukturen und Versorgungsketten und prägen regionale bzw. lokale Produktionskapazitäten bzw. Distributionsnetzwerke. Zugleich tun sie dies nicht: Argumente zugunsten der Existenz von Militärstützpunkten verweisen häufig auf den ökonomischen Nutzen für den Ort und die Region aufgrund der Militärausgaben und der Folgeaktivitäten. Tatsächlich ist die Forschung zu den ökonomischen Auswirkungen militärischer Liegenschaften hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile uneindeutig. Den Nutzen bzw. den Beitrag für lokale oder regionale Arbeitsmärkte bzw. zu Lieferketten in ökonomischen Kennziffern zu quantifizieren, ist offenkundig schwierig, variieren diese doch erheblich mit dem Umfang, der Funktion und der Beschaffenheit der jeweiligen militärischen Anlage sowie mit der Struktur der gegebenen örtlichen zivilen Wirtschaft. Out-sourcing und Lieferketten können sich über Kontinente erstrecken. Außerdem können informelle, unregulierte und illegale ökonomische Aktivitäten nicht mit der nötigen Genauigkeit quantifiziert werden. In manchen Fällen können die ökonomischen Auswirkungen militärischer Anlagen mit einer gewissen Genauigkeit erst nach deren Schließung festgestellt werden. Die Erforschung der feinkörnigen politischen Ökonomien militärischer Aktivitäten ist daher notwendigerweise eine empirische Aufgabe.

Die Steuerung, die durch die physische Präsenz militärischer Einrichtungen ausgeübt wird, umfasst auch die sozialen Einflüsse solcher Anlagen. Militärische Stützpunkte haben Auswirkungen auf die örtlichen sozialen Beziehungen. Schlagzeilen produzierendes Verhalten von fehlgeleitetem Militärpersonal, das Gewalttaten gegen die örtliche Zivilbevölkerung begeht, stellt eine Extremform des breiten Spektrums an sozialen Beziehungen und Interaktionen zwischen Militärpersonal und den zivilen Gemeinden dar. Diese Beziehungen können nicht zwangsläufig in einer direkten Art und Weise als Macht- und Dominanzbeziehungen verstanden werden. Sie enthalten auch diese Aspekte, allerdings ist die ganze Bandbreite von Ausbeutung und Solidarität, Abneigung und Liebe, Antipathie und Unterstützung anzutreffen. Verbunden mit einer Politik des Nationalismus, Patriotismus und Lokalismus und einem wechselnden Verhältnis der zivilen und militärischen Bevölkerung als distanziert und verleugnend oder als stolz gefeiert, findet sich erneut ein große Vielfalt von Erfahrungen bei den sozialen Beziehungen militärischer Anlagen, die nähere Untersuchung verdienen, um zu entdecken, wie genau einzelne Orte über die Elemente Zaun und Wachhäuschen hinaus militarisiert werden.

Militärische Präsenz bringt notwendig die Kontrolle über die physikalische Umgebung mit sich – sowohl hinsichtlich der Einwirkung auf die Umwelt durch militärische Aktivitäten als auch bezüglich der hierfür gelieferten Erklärungen. Nicht-konfliktbezogene militärische Aktivitäten sind der Umwelt abträglich und beinhalten den Abfall militärischer Aktivitäten, Veränderungen der Umwelt (einschließlich der Modifizierung von Lebensräumen) und die Verpestung durch Kohlenwasserstoffe und andere giftige Verbindungen, die beim alltäglichen Betrieb von Fahrzeugen und Waffen anfallen. Auch dies ist jedoch keine simple Geschichte. In vielen entwickelten kapitalistischen Nationalstaaten verhindern militärische Nutzungen, die selbst umweltschädlich sein können, andere Aktivitäten, die selbst zerstörerisch oder giftig sein können. Quer zu diesen Nutzungs- und Wirkungsmustern gibt es aus verschiedenen politischen Richtungen Kontroversen über die – häufig als nutzbringend bezeichneten – Auswirkungen dieser Blockaden. Zu den gefeierten Beispielen gehören die Naturschutzrefugien auf Truppenübungsplätzen. Auch hier wäre empirisch zu untersuchen, wie und warum Militär seine Ansprüche auf Raumnutzung mit ökologischen Argumenten stützt und wie diese dazu beitragen, die Kontrolle über die Örtlichkeiten zu festigen.

Es sollte zudem berücksichtigt werden, wie die Anwesenheit von Militär Landschaften gestaltet. Die Morphologie von Orten wird getränkt mit Ideen, Argumenten, Gefühlen, Politik und Emotionen, die die Interpretation eines Ortes gegenüber einer anderen betonen. Am sichtbarsten sind Landschaften offenkundiger und lang andauernder bewaffneter Gewalt; Friedhöfe, die die Toten des Krieges aufnehmen, sind gesättigt mit spezifischen Ausdrucksformen von Trauer und Verlust auch noch lange nach dem Ende des Konflikts. Weniger unmittelbar sichtbar sind die Art und Weisen, in denen gewöhnlichere, weniger dramatische militärische Einsatzorte ihre eigenen Lesarten der jeweiligen Landschaften fördern. Die Geographie militärischer Aktivitäten befasst sich auch mit diesen Aspekten.

Die Steuerung von Information

Um zu verstehen wie militärische Aktivitäten und Militarismus sowohl geographisch konstituiert werden als auch in der Geographie ihren Ausdruck finden, bedarf es des Verständnisses insbesondere des Wesens solcher Aktivitäten und Prozesse. Dies wiederum erfordert Informationen und Daten über die jeweils untersuchte Thematik, den Prozess oder die materiellen Objekte. Militärische Macht ist – das ist seit langem anerkannt – abhängig von der Kontrolle von Informationen. Ich vertrete die Ansicht, dass die Steuerung von Information anhand einiger ganz grundlegender Aktivitäten beobachtet werden kann und dass auch diese Aufmerksamkeit verdienen, wenn wir verstehen wollen, wie militärische Macht im Raum operiert.

Im Zentrum dieser Frage steht der Aspekt der Verlässlichkeit von Informationen. Militärische Organisationen mögen verlässliche statistische Daten oder Information über eine Vielzahl von Aktivitäten sammeln oder auch nicht – von den Hektarflächen militärischer Liegenschaften und den jeweiligen Verwendungszwecken über die Ausgaben für Ausrüstung und Beschaffung bis hin zu Aufstellungen über die Dislozierung und die Charakteristika des militärischen Personals. Diese Informationen können innerhalb oder außerhalb der jeweiligen Organisation verfügbar sein oder nicht. Dabei mögen Anforderungen an Sicherheit, Geheimhaltung oder Vertraulichkeit (k)eine Rolle spielen oder das niedrige Kompetenz- oder Sorgfaltsniveau der jeweiligen Organisation spielt eine Rolle. Was auch immer der Grund ist – aus dem Fehlen von Information ergeben sich Auswirkungen für die militärische Kontrolle des Raumes. Materielle Dinge werden durch statistische und faktische Information Teil unserer Betrachtung; eine Sache muss zunächst beschrieben werden, damit sie verstanden werden kann. Im Falle des Fehlens von Information werden Macht und Kontrolle über Aktivitäten und Prozesse durch solche Aktivitäten und Prozesse ausgeübt, die unsichtbar oder sogar unbeschreibbar geleistet werden. Sie sind nicht deshalb unbeschreibbar, weil sie jenseits unseres Begriffsvermögens liegen, sondern weil uns die Bezeichnungen und Daten für ihre Beschreibung fehlen.

Ein entsprechendes Beispiel wäre das Begreifen von militärischen ökonomischen Geographien – das Verstehen der Netzwerke ökonomischer Beziehungen, welche militärische Aktivitäten unterstützen und mittels derer militärischer Einfluss ausgeübt wird. Die Vorstellung eines militärisch-industriellen Komplexes – eine weit verbreitete Art, mit der wir die Beziehungen zwischen dem Militär und der Ökonomie, welche dieses stützt, konzeptualisieren – wird in der Öffentlichkeit durch Informationen gestützt, die die Verbindungen zwischen den Streitkräften und der Ausstattung bereitstellenden Industrie aufzeigen. Wir nehmen an, dass wir – gestützt auf die öffentlich zugänglichen Informationen – wissen wie dieses komplexe Netzwerk arbeitet. Was jedoch schwieriger zu entwirren ist, sind die ökonomischen Netzwerke, die Einrichtungen wie Militärbasen oder Kasernen in den lokalen Kontext einbinden. Wie bestimmen wir etwa mit einem hinreichenden Maß an Genauigkeit das Ausmaß, das Wesen und die Auswirkungen des Beitrages eines militärischen Stützpunktes in einem Ort? Es könnte sich als unmöglich erweisen, aussagekräftige Statistiken über die örtliche (zivile) Beschäftigung zu bekommen. Dies ist keine unbedeutende Frage. Ob im eigenen Land oder in Übersee – militärische Basen egal welcher Größe generieren Vermutungen und Spekulationen über ihre positiven wie negativen Auswirkungen. Wenn verlässliche Informationen nicht vorliegen, treten bezüglich der Stützpunktpolitik Spekulationen an die Stelle von Argumentation. Manchmal entsteht auch erst im Zuge eines Konversionsprozesses von militärischer zu ziviler Nutzung ein vollständigeres Bild des Wesens der lokalen ökonomischen Netzwerke und Beziehungen; erst das Verschwinden macht das, was untersucht wird, plötzlich sichtbar.

Ein weiteres Beispiel für militärische Kontrolle über Raum, die mit dem Vorhandensein bzw. Fehlen von Daten und Informationen zusammenhängt, ist die Frage nach den genauen Eigenschaften und Effekten militärischer Aktivitäten hinsichtlich der physikalischen Umwelt. Dabei geht es um mehr als nur um den präzisen Nachweis und das Messen der Umweltvergiftung und -veränderung. Selbstverständlich spielt auch dies eine Rolle, denn die Geschichte der Militärstützpunkte in Europa ist die Geschichte der nicht gemessenen und ungeprüften Immissionsereignisse. Obwohl in der Zeit nach dem Kalten Krieg umfangreiche Informationen über die Auswirkungen militärischer Aktivitäten der USA, Großbritanniens und der Sowjet-Union auf den Lebensraum und die Umwelt Zentraleuropa bekannt geworden sind, ist dies wegen der Geheimhaltung und – noch banaler – der Unangemessenheit der Verwaltung der Unterlagen zugleich eine Geschichte der Unsicherheit. Außerdem gibt es im militärischen Kontext Aspekte, die hinsichtlich ihrer ökologischen Auswirkungen in unterschiedliche Typen von Information übersetzt werden und dementsprechend unterschiedliches Gewicht haben. Informationen über Umweltauswirkungen, die mit Methoden erhoben wurden, die den offiziellen Techniken der Quantifizierung und Qualifizierung zuwiderlaufen, werden als unwissenschaftlich abgestempelt. Einige Arten von Informationen gelten als legitim, andere nicht. Obwohl wir zur Kenntnis nehmen sollten, dass es in militärischen Einrichtungen wachsende Aufmerksamkeit für ökologische Belange selbst der alltäglichsten militärischen Aktivitäten gibt, sollten wir doch auch alarmiert sein bezüglich der Repräsentationstechniken, mit denen »offizielle« Informationen und Daten zu einem Bezugssystem beitragen, durch das bestimmte Formen ökologischer Auswirkungen als legitim und akzeptabel angesehen werden.

Die Steuerung des Regierens

Ein dritter Bereich, der uns alarmieren sollte, wenn wir uns damit befassen, wie militärische Aktivitäten und Militarismus Kontrolle über Räume und Orte ausüben, ist die Art wie das Regieren – die Verfahren und Praktiken staatlicher Gesetzgebung – in Verbindung gebracht wird mit Kontrolle jenseits der Gesetze, die von militärischen Institutionen selbst ausgeht. Es ist axiomatisch, dass militärische Einrichtungen und Praktiken durch den Staat mit Legitimtät versehen werden. Tatsächlich entstehen reguläre Militärkräfte in Nationalstaaten unmittelbar aufgrund der Legitimität, die ihnen und nur ihnen zuteil wird bezüglich der Ausübung tödlicher Gewalt auf staatlichen Geheiß hin. Aber es ist aufschlussreich, diese Überlegung weiterzuführen und ein umfassenderes Set von Mechanismen in die Betrachtung einzubeziehen, durch das militärische Raumkontrolle weniger direkt durch militärische Einheiten in Form von Mechanismen des Regierens ausgeübt werden.

Diese können verschiedene Gestalt annehmen. Am direktsten zu beobachten ist die Bevorzugung militärischer Richtwerte gegenüber zivilen in der Gesetzgebung und die Ausnahmeregelungen, die militärischen Institutionen in Gesetzen gegenüber der zivilen Sphäre zugebilligt werden. Hier wären beispielsweise Gesetzgebungs- und Regierungspraktiken bezüglich der Landnutzung oder der Beschäftigung militärischen Personals zu nennen. In beiden Fällen beeinflusst die auf nationaler und supra-nationaler Ebene beschlossene Gesetzgebung Verfahren jenseits der Territorien der Nationalstaaten und der sozialen Beziehungen, die innerhalb dieser Räume wirksam werden. In beiden Fällen können wir unzählige Beispiele dafür finden, wie nationale Regierungen handeln (oder das Handlungspotential demonstrieren), um hinsichtlich der Anforderungen solcher öffentlicher Gesetzgebung gegenüber militärischen Institutionen Beschränkungen oder Ausnahmen zu machen. Staatlich sanktionierte Nicht-Einhaltung, für die gewöhnlich das Argument der »nationalen Sicherheit« herhalten muss, stellt dennoch eine Ausnahmeregelung dar und beeinflusst daher die Art, in der militärische Aktivitäten auf Räume, Orte, Umgebungen und Landschaften Einfluss nehmen.

Weniger unmittelbar zu beobachten, aber ebenso wichtig, ist die Totalität von Regierungspraktiken jenseits der unmittelbaren Gesetzgebung, durch die die soziale Akzeptanz und Legitimität von militärischen Aktivitäten und Anstrengungen gefördert wird. Während in modernen fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratien diese Prozesse, durch die die zivile Akzeptanz hergestellt wird, in relativ gutgemeinter Absicht oder als Spiegelung historischer Prioritäten und Glaubensbekenntnisse stattfinden mögen, bleibt zu betonen, dass die Priorisierung militärischer Angelegenheiten innerhalb ziviler Bereiche ständige Akte der Verfestigung der Vorstellung ihrer Legitimität erfordern. Dieses sind Handlungen des Staates jenseits der Gesetzesebene. Hierzu zählen etwa die Formen, in denen der Staat das Gedenken und die Erinnerung an die Opfer vergangener Konflikte rahmt und organisiert, oder die Praxis der Behandlung ehemaligen Militärpersonals und ihrer Familien. Solche Praktiken und Effekte eines erweiterten Regierens bei militärischen Angelegenheiten zu ignorieren, würde ein unvollständiges Bild der Formen ergeben, in denen militärische Aktivitäten und Militarismus ständig ausgehandelt werden.

Die Steuerung der Rhetorik und des Diskurses über Sicherheit

Der letzte Bereich ist das eher abstrakte Gebiet der Rhetorik und des Diskurses über Sicherheit, durch das militärischem Dasein und seinen Praktiken Bedeutung verliehen wird. Dabei beziehe ich mich sowohl auf die Sprachen, in denen militärische Kontrolle und militärische Macht diskutiert wird, als auch auf die Ideensysteme, durch die diese Steuerung zusammengeführt wird. Die materiellen Ergebnisse militärischer Strategien zur Landnutzung beispielsweise werden untermauert durch begriffliche Praktiken, die Argumente bezüglich der Legitimität solcher Landnutzung und seiner Auswirkung sowie hinsichtlich der Priorisierung militärischer Praktiken gegenüber anderen Raumansprüchen hervorbringt. Die analytische Aufgabe besteht dabei darin zu prüfen, wie die Rhetorik und die Diskurse, durch die militärische Fertigkeiten gerahmt werden, sich in Praktiken umsetzen, d.h. in die Gestaltung sozialer Beziehungen in Räumen und in materielle Manifestationen militärischer Macht vor Ort.

Dies ist ein Aspekt, bei dem nationale Besonderheiten herausragen. Streitkräfte sind zu aller erst nationales Militär, das hinsichtlich seiner Existenz von der Legitimation des Nationalstaates abhängig ist. Die Bedeutungen, die militärischer Macht zugeschrieben werden, erhalten ihren Stellenwert im Rahmen von Argumenten und Interpretationen, die vor allem der staatlichen Ebene entspringen. Letztlich leiten die Bedeutungen, die den nationalen Streitkräften gegeben werden und die Mechanismen, durch die das geschieht, die Argumentationen, die bezüglich der Legitimität der Praktiken dieser Streitkräfte gemacht werden, wenn es um die Raumnutzung für Basen und Training, die Werturteile hinsichtlich der ökonomischen Auswirkungen des Militärs auf lokale, regionale und nationale Ökonomien oder um die moralische Erörterung über die Akzeptabilität von ökologischen und landschaftlichen Auswirkungen militärischer Aktivitäten geht. Die Abdrücke auf der Erde, die diese Aktivitäten hervorrufen, und die Lebenswege, die sie gestalten und bewegen, umgeben uns. Militärische Geographien beinhalten nicht nur die materiellen Effekte militärischer Aktivitäten in konflikthaften und nicht-konflikthaften Situationen, sondern auch das System von Vorstellungen, das diesen Bedeutung zuweist und auf diese Weise stark daran beteiligt ist, diese aufrecht zu erhalten.

Literatur

Woodward, R. (2004): Military Geographies. Oxford: Blackwell.

Woodward, R. (2005): From Military Geography to militarism’s geographies: disciplinary engagements with the geographies of militarism and military activities. Progress in Human Geography 29:6, 718-740.

Dr. Rachel Woodward lehrt an der School of Geography and Sociology der Newcastle University.
Übersetzung: Fabian Virchow

Kurs Südost?

Kurs Südost?

Nato-Erweiterung zieht neue Kreise

von Hans J. Gießmann

Wer beim Anziehen einer Jacke am Anfang den falschen Knopf erwischt, muss am Ende von vorn beginnen, egal wie gewissenhaft seine Bemühungen zwischenzeitlich auch sind. Das Fatale an der Sache ist, dass man selbst den Irrtum nicht sofort bemerkt. Ähnliches scheint im Zuge der NATO-Erweiterung zu passieren. Im April 1999 wurde in Washington der Abschluss der ersten Aufnahmerunde mit den neuen Mitgliedern Polen, Tschechien und Ungarn mediengerecht zelebriert. Der auf den ersten Blick gelungene Spagat zwischen der Ausdehnung der Allianz und ihrer Hinwendung zur Rolle einer Wächterin über Menschenrechte und Demokratie hat sich seither wie Mehltau über den einst kritischen Diskurs um die Zukunft der NATO gelegt. Das Bündnis wiegt sich in der Hochstimmung des als Sieg interpretierten Waffenstillstandes im Kosovokrieg. Gelegentlich aus Moskau zu vernehmende Misstöne werden mit kaum verhüllter Arroganz abgetan. Dass der für die NATO glückliche Ausgang ihrer militärisch alles auf eine Karte setzenden Strategie letztlich ohne russische Zurückhaltung und Vermittlung kaum erreicht worden wäre, zählt in Washington und Brüssel weniger als die Überzeugung, endgültig unter Beweis gestellt zu haben, wer nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa das Sagen hat. Immerhin verursachte – anders als noch vor zwei Jahren – die fast beiläufige Ankündigung der Allianz, die Tür zum Beitritt für weitere Staaten zu öffnen, selbst in Moskau wenig Aufregung. Nachdem die Frage des »Ob« entschieden ist, geht es für das Bündnis und für das ungefähre Dutzend weiterer Beitrittskandidaten – letztlich wohl auch für Russland – lediglich noch um das »Wer« und das »Wann«. Dass aber bereits der erste Schritt ein Fehler gewesen sein könnte, kommt kaum jemandem mehr in den Sinn, am wenigsten den Mitgliedern der NATO selbst. Falls dies jedoch zutrifft, wofür einiges spricht, fällt spätestens hier das eingangs gewählte Bild auseinander. Die harmlose Peinlichkeit einer falsch zugeknöpften Jacke ist folgenlos zu beheben. Die Erweiterung der NATO bietet diese Chance nicht. Verfehlt sie das Ziel, muss nach anderen Auswegen gesucht werden.

Am Ende des Ost-West-Konflikts waren sich die Allianzmitglieder einig, nicht aufzugeben was sich aus ihrer Sicht über vier Jahrzehnte als Bollwerk des europäischen Abschreckungsfriedens bewährt hatte. Zwar wurde insbesondere in Bonn frühzeitig der Wunsch geäußert, durch die Aufnahme der unmittelbaren Nachbarn in das Bündnis die deutsche Einheit nach Osten abzuschirmen. Die meisten NATO-Mitglieder nahmen die Interessen an einer Bündniserweiterung wohlwollend, jedoch zurückhaltend, zur Kenntnis. Anpassung vor Erweiterung hieß zunächst die Devise. Außerdem sollte eine offene Konfrontation mit Russland vermieden werden, über dessen Bereitschaft zum Widerstand gegen die schwelenden Erweiterungspläne zu diesem Zeitpunkt noch Ungewissheit herrschte. Bis Mitte der neunziger Jahre drängten vornehmlich die Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa zu rascheren und verbindlicheren Schritten. Die erste Reaktion der Allianz auf die Beitrittsgesuche – eine ambivalente Mixtur aus Angeboten zur Zusammenarbeit und hinhaltendem Taktieren – vermochte nicht zu verhindern, dass der Druck auf eine zügige Erweiterung beständig zunahm. Letztlich wurden in Washington und Brüssel, hauptsächlich um den immer schnelleren Lauf der Dinge unter politische Kontrolle zu bringen, erst im Herbst 1995 die Wegweiser eindeutig auf die Erweiterung der NATO gestellt. Ohne sich damals auf bestimmte Staaten festzulegen, wurden erstmals Bedingungen genannt, deren Erfüllung eventuelle Beitrittskandidaten für eine engere Auswahl qualifizieren sollten:

  • Ihre Verpflichtung, die Normen und Prinzipien der OSZE anzuerkennen, insbesondere die Beilegung ethnischer und territorialer Konflikte, einschließlich irredentistischer Ansprüche oder innerer Rechtsangelegenheiten mit friedlichen Mitteln;
  • ihre Verpflichtung, durch wirtschaftlichen Liberalismus, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung Stabilität und Wohlfahrt zu fördern;
  • die Einführung einer angemessenen demokratischen und zivilen Kontrolle der Streitkräfte und
  • die Verpflichtung, mit ihren verfügbaren Ressourcen zu den Zielen und Aufgaben der NATO beizutragen.1

Die vorläufige Festlegung auf diese allgemeinen Kriterien machte dreierlei deutlich: Erstens sollte nur jenen Staaten das Privileg einer Mitgliedschaft eingeräumt werden, die unbeeinträchtigt durch innere oder äußere Konflikte keine potenzielle Gefahr für den durch unterschiedlich interpretierte Anpassungszwänge belasteten Bündniskonsens darstellten. Zweitens sollten sämtliche Verpflichtungen für die neuen Mitglieder ohne Einschränkung gelten, d.h. keinerlei Sonderrechte in Anspruch genommen werden dürfen. Beide Maßstäbe waren strenger als für die bereits in der Allianz vertretenen Mitglieder – um nur die Türkei für den einen, Norwegen und Frankreich für den anderen Fall zu nennen. Hinzu kam, drittens, dass die NATO sich das alleinige Recht vorbehielt unabhängig von der Erfüllung der Kriterien darüber zu entscheiden, wer Aufnahme in das Bündnis finden sollte – und wer nicht.

Bis zum 24. März 1999 schien auf diese Weise der Fahrplan der Bündniserweiterung klar umrissen. Die erste – von Moskau widerwillig tolerierte – Aufnahmerunde stand unmittelbar vor dem Abschluss. Slowenien und Rumänien, mit ungewisseren Vorzeichen die Slowakei und die baltischen Staaten, galten als aussichtsreichste Anwärter auf künftigen Zuschlag. Gleichwohl vor allem auch Bulgarien, die Ukraine, Makedonien, Kroatien und Albanien auf Berücksichtigung hoffen, fehlten sie bisher auf der heimlichen Liste der erklärten Favoriten. Dies könnte sich nach den jüngsten Entwicklungen ändern, vielleicht viel schneller als von der NATO erwartet.

Erweiterungspolitik unter veränderten Vorzeichen

Das Neue Strategische Konzept der NATO, im April in Washington beschlossen, hat ex post facto sanktioniert, was die Allianz vier Wochen zuvor bereits begonnen hatte: die offensive Anwendung militärischer Gewalt zur Durchsetzung kollektiver Interessen ohne ausdrückliche Rückendeckung durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Der Alleingang zielte auf eine Demonstration der uneingeschränkten Handlungsfähigkeit der »neuen NATO« jenseits ihrer traditionellen kollektiven Verteidigungsfunktion. Er signalisierte zugleich das neue Selbstbewusstsein der Allianz, internationales Recht nach eigenen Vorstellungen auszulegen, falls dies – wie US-Verteidigungsminister William Cohen formulierte – der „Verteidigung eigener Interessen“ dient. Zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikt wähnt sich die NATO imstande, einen offenen Konflikt mit jedem Staat dieser Welt, selbst mit Russland und China, zu riskieren.

Nachdem keines der ursprünglichen Ziele der NATO im Kosovo-Krieg durch die Luftschläge wirklich erreicht worden ist, bleibt diese Demonstration das eigentliche Ergebnis des gewählten Vorgehens. Ihren Nachschlag fand sie in der arroganten Anmaßung, über den konkreten Beitrag Russlands zur KFOR-Friedenstruppe zu bestimmen. Es besteht wenig Zweifel: Die NATO hat das Zepter der Ordnungsmacht auf dem Balkan übernommen und sie wird es nach eigenen Aussagen für lange Zeit nicht aus der Hand geben. Nicht von der UNO und der OSZE, schon gar nicht von Russland wird sie sich diese Rolle streitig machen lassen.

Für die mittel- und osteuropäischen Staaten haben sich durch die jüngsten Entwicklungen eigene Hoffnungen und Erwartungen einmal mehr bestätigt. Deutlicher als zuvor dürften sie zu dem Schluss gelangt sein, dass nicht ein auf die OSZE gestütztes System regionaler kollektiver Sicherheit die Zukunft Europas prägen wird, sondern vielmehr die NATO als Bündnis der Stärksten, fähig zum Schutz seiner Mitglieder und zugleich entschlossen, deren Interessen notfalls auch gegen den Widerstand anderer durchzusetzen. Das Bestreben, selbst ein Teil dieses Machtkartells zu werden, ist nach dem Krieg nicht geringer geworden, wohl aber das Interesse an jeglichen Alternativen zu einer Vollmitgliedschaft in der NATO. Dieses vorrangige Ziel hinterlässt bereits seine Spuren in konkreten Entscheidungen. Die auf direktes Drängen der NATO – nicht der UNO – in der ersten Juliwoche von Rumänien verfügte Verweigerung von Überflugrechten für das russische KFOR-Kontingent liefert hierfür ein präzedensloses Beispiel.

Während allerdings die meisten beitrittswilligen Staaten an der Türschwelle zur NATO gewöhnlich als Bittsteller auftreten, ließen jetzt mit Albanien und Makedonien ausgerechnet zwei Länder durch die Forderung nach unverzüglicher NATO-Mitgliedschaft aufhorchen, denen nach den Maßstäben der NATO auf absehbare Zeit eigentlich kaum Chancen eingeräumt wurden. Beide sind durch ethnische Konflikte und Irredenta betroffen, von einer funktionierenden Marktwirtschaft weit entfernt und viel zu schwach, um durch eigene Ressourcen die kollektive Verteidigung der NATO zu stärken. Zumindest in Albanien bestehen darüber hinaus berechtigte Zweifel an der tatsächlichen zivilen und demokratischen Kontrolle der Streitkräfte. Das politische Kalkül beider Länder, nach dem Ende des Krieges dennoch bevorzugt behandelt zu werden, erscheint trotzdem nicht völlig abwegig. Die NATO hat sich ohne Not in eine Lage manövriert, die jetzt ihr gesamtes Erweiterungskonzept über den Haufen zu werfen droht.

Anders als bei den übrigen Beitrittskandidaten ist das Bündnis um der ureigenen Glaubwürdigkeit als Ordnungsmacht willen auf die direkte Unterstützung der Regierungen in Tirana und Skopje angewiesen. Beide Staaten haben erhebliche logistische Hilfe für den Aufmarsch der NATO-Truppen und die Bewältigung des Flüchtlingsstromes geleistet. Vor allem aber halten sie den Schlüssel für dauerhafte Stabilität im Umfeld des Kosovo in ihren Händen. Gerieten ausgerechnet hier die ethnischen Konflikte erneut außer Kontrolle, wäre die nächste Katastrophe vorprogrammiert, mit allerdings dem wesentlichen Unterschied einer wahrscheinlichen Verwicklung von NATO-Truppen in bewaffnete Kämpfe am Boden. Die vormalige NATO-Strategie des geringsten Risikos – die Anwendung von luft- und seegestützten Abstandswaffen – ist mit der Stationierung der KFOR-Truppen obsolet geworden. In Brüssel dürfte Klarheit darüber bestehen, dass ein stabiles Umfeld unverzichtbare Bedingung für das Ausbleiben neuer Kampfhandlungen ist und bleibt. Dies setzt allerdings voraus, dass in der Bevölkerung der beiden Länder – und natürlich im Kosovo selbst – der Anreiz, den Frieden zwischen den Volksgruppen zu erhalten, auf Dauer stärker wiegt als jener, politische Konflikte untereinander gewaltsam zu regeln. Von der gesicherten Anwesenheit dieser Voraussetzung ist aber nicht ohne weiteres auszugehen. Stützte sich die Hoffnung auf Frieden durch Stärke allein auf einen sich ausbreitenden Flickenteppich militärischer Schutzzonen zwischen verfeindeten Volksgruppen, könnte sich der Gewinn an Prestige für die NATO rasch verbrauchen.

Stabilitätstransfer durch politische und wirtschaftliche Strukturbildung

Das Dilemma für die NATO ist offenkundig: Sie hat ihr stärkstes Pulver bereits verschossen. Ihre Glaubwürdigkeit als wichtigster Sicherheitsanker Europas ist jetzt an den unbedingten Erfolg der Friedenserhaltung geknüpft. Die Fähigkeit, dies zu garantieren, wird aber durch ihre Mittel beschränkt. Weder ist sie strukturell und funktional berufen, innergesellschaftliche Konfliktursachen zu beseitigen, noch etwa ist ihr Erfolg vom künftigen Verhalten der beteiligten Konfliktparteien unabhängig. Die Eigendynamik der Spannungen auf dem Balkan existiert unbeeinflusst davon dass es die NATO gibt und kaum berührt durch deren Präsenz. In der erkennbaren Zwangslage zwischen politischem Anspruch und der Dysfunktionalität verfügbarer Mittel könnten sich die einst sorgsam bedachten NATO-Kriterien einer kontrollierten Erweiterungspolitik verflüchtigen. Tatsächlich stünden unter solchen Vorzeichen die Chancen einer vorgezogenen Aufnahme Rumäniens, Makedoniens und Albaniens nicht schlecht. Die scheinbar positiven Erfahrungen mit der NATO-Mitgliedschaft der Türkei und Griechenlands scheinen dies sogar zu bekräftigen. Allerdings spricht zum einen dagegen, dass die Konflikte zwischen diesen beiden Staaten bisher nicht durch die NATO, sondern stets durch direkte politische Intervention Washingtons eingedämmt wurden. Zum anderen zeigt gerade das Beispiel der Türkei, dass Mitgliedschaft in einem Militärbündnis weder vor ethnischer Repression im Innern des Landes feit, noch von grenzüberschreitenden Aggressionsakten abhält. So gesehen – und im Lichte der komplizierten sicherheitspolitischen Lage – verspricht die Aufnahme der Balkanstaaten in das Bündnis mehr als sie zu halten imstande ist.

Aus der Sicht der betreffenden Länder geht es allerdings auch um mehr als militärische Teilhabe und verlässlichere Sicherheitsgarantien. Die Balkanstaaten erhoffen sich vor allem die Hilfe des Westens für ihre eigene wirtschaftliche und soziale Entwicklung als Fundament stabilerer politischer Verhältnisse. Zwar kann genau dies die NATO nicht leisten, doch der Glaube in den Reformländern ist unerschütterlich, dass sich für Mitglieder der Allianz die Füllhörner westlicher Investoren eher öffnen als dies bei Außenstehenden der Fall ist. Ihr vehementes Drängen in die NATO entpuppt sich insofern vor allem als Reflex auf die zögerliche Stabilisierungspolitik der Europäischen Union und die stark unterentwickelte regionalwirtschaftliche Zusammenarbeit in Mittel- und Südosteuropa. Der anvisierte Stabilitätspakt für den Balkan setzt deshalb zwar ein richtiges Signal – allerdings viel zu spät und aller Voraussicht nach nicht ausreichend. Frieden und Stabilität werden auf dem Balkan erst reifen wenn hierfür der politische, wirtschaftliche und soziale Humus vorhanden ist. Wird dies nicht durch gezielte Strukturbildung gefördert, wird die Neigung zur gewaltsamen Durchsetzung von Interessen innerhalb und zwischen den schwachen Demokratien früher oder später erneut die Oberhand gewinnen.

Der erhoffte Stabilitätstransfer durch die schrittweise Erweiterung eines Militärbündnisses ist und bleibt ein Trugbild. Die Konfliktrisiken auf dem Balkan sind durch militärische Präsenz, so stark sie auch sein mag, letztlich nicht einzudämmen. Je eher dies erkannt und durch geeignetere Konzepte ersetzt wird, um so günstiger wären die Aussichten auf Frieden.

Anmerkungen

Anmerkung

1) Study on NATO Enlargement, September 1995, S. 25, Par. B 72.

PD Dr. Hans-Joachim Gießmann arbeitet am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH).

Neue NATO – Neue Strategie?

Neue NATO – Neue Strategie?

von Otfried Nassauer

Ein großer und feierlicher Gipfel sollte es werden: 50 Jahre nach ihrer Gründung wollte die NATO vom 23.-25. April in Washington auf ihre Erfolge zurückschauen und die Weichen für eine ebenso erfolgreiche Zukunft stellen. Drei neue Mitglieder sollten erstmals bei einem Gipfel dabei sein. Die Aufnahme weiterer Staaten sollte durch einen Aktionsplan vorbereitet werden. Eine Vision für die NATO des 21. Jahrhunderts sollte verabschiedet, eine neue Strategie beschlossen werden. Der Washingtoner Gipfel: Ein Signal für den Aufbruch der erweiterten Allianz ins 21. Jahrhundert mit erweiterter Aufgabenstellung, erweiterten Funktionen und neuer Legitimation. Der Washingtoner Gipfel: Ein Zeichen dafür, dass die europäische Sicherheitsarchitektur der Zukunft auf dem Fundament der NATO ruhen und die Srategie der Allianz zugleich der Kern einer solchen Struktur sein werde.

So war es geplant. Es kam anders, ganz anders. Der Jubiläumsgipfel der NATO wurde ein Krisengipfel. Erstmals seit der Gründung befand sich das Bündnis im Krieg, zudem in einem nicht erklärten und durch die internationale Staatengemeinschaft nicht legitimierten Krieg. In einem Krieg, in dem es für die NATO und ihre künftige Rolle in Europa um sehr viel geht, namentlich um die Glaubwürdigkeit der Allianz, um ihre künftigen Aufgaben, ihre künftige Strategie und um ihre Rolle in der künftigen Sicherheitsarchitektur Europas. Der Krieg um das Kosovo war das alles beherrschende Thema. Ein anderes, kaum weniger wichtiges fand dagegen kaum Beachtung: Der wichtigste Partnerstaat der NATO – Russland – hatte seine Teilnahme vollständig abgesagt, aus Protest gegen die Angriffe der NATO auf das ehemalige Jugoslawien. Schnell wurde klar: Die NATO steckt in einer tiefen Krise und die Struktur europäischer Sicherheit steht vor wesentlichen Weichenstellungen.

Eine neue Strategie?

Das Vorhaben, die Strategie der NATO zu überarbeiten, geht auf die Grundlagenakte zwischen der NATO und Russland zurück, die im Mai 1997 in Paris unterzeichnet wurde. Dort heißt es: „Die NATO-Staaten haben beschlossen, das Strategische Konzept der NATO zu überprüfen, um sicherzustellen, dass es in voller Übereinstimmung mit der neuen Sicherheitssituation Europas und mit den neuen Herausforderungen steht.“ Dieses Versprechen zielte darauf, Russland Kooperationsbereitschaft zu signalisieren und die Pläne der NATO-Osterweiterung akzeptabler erscheinen zu lassen. Es akzeptierte, dass die bislang gültige NATO-Strategie, die noch von der Existenz der Sowjetunion ausgeht, einer Revision bedurfte. Der NATO-Gipfel in Madrid bestätigte das Vorhaben.

Im Dezember 1997 beschloss der NATO-Rat die politischen Vorgaben für die Strategieüberarbeitung. Seit Anfang 1998 befasst sich eine hochrangige politische Beratungsgruppe mit der Aufgabe. Im Frühherbst des Jahres legte sie – wenige Tage vor dem NATO-Verteidigungsministertreffen im portugiesischen Villamura – ihren ersten Entwurf vor. Nach anfänglichen Versuchen, diesen als weitgehenden Konsens zu präsentieren, wurde klar: Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit. Bei der Herbstsitzung der NATO konnten die versammelten Minister zwar »Fortschritte« begrüßen, zugleich aber wurde deutlich, dass Richtungsentscheidungen zu treffen sein würden.

Wenig später wurde der Konflikt um den Kosovo von Militärs und Politikern der NATO und vor allem der USA zum Musterbeispiel für die künftigen Aufgaben und die künftige Strategie des Bündnisses erklärt. Danach müsse die Allianz bei Völkermord und groben Menschenrechtsverletzungen eingreifen; notfalls auch ohne UN-Mandat, wenn z.B. der UNO-Sicherheitsrat durch einzelne Vetomächte blockiert sei. Die Eskalation des Konfliktes um das Kosovo begleitete und dominierte von nun an die weitere Entwicklung des neuen Strategischen Konzeptes. Zugleich überlagerte die Entwicklung des Konfliktes die Richtungsentscheidungen, die die NATO mit ihrem neuen Konzept treffen musste.

Im Kern ging es um die folgenden Fragen:

  • Soll die NATO künftig weiterhin vorrangig das Territorium ihrer Mitgliedsstaaten sichern, unabhängig davon ob dessen Bedrohung wahrscheinlich ist? Oder soll sie auch die Interessen der Mitgliedsstaaten durchsetzen?
  • Für welchen geographischen Raum soll sich die Allianz zuständig erklären? Für das Staatsgebiet der eigenen Mitglieder, für das Gebiet der Mitglieder und der Staaten der Partnerschaft für den Frieden? Soll es überhaupt eine geographische Begrenzung der militärischen Aktivitäten der NATO geben?
  • Versteht sich die Allianz vorrangig als politische Organisation, deren Aufgabe es ist, nach vollzogener Selbsttransformation den Aufbau eines Systems kooperativer und kollektiver Sicherheit in Europa voranzutreiben und die dafür erforderlichen stabilen Rahmenbedingungen abzusichern? Soll sie Sicherheit mit oder gegen Russland gestalten?
  • Soll die Allianz militärische Einsätze, die nicht der Selbstverteidigung dienen, grundsätzlich von einem Mandat der internationalen Staatengemeinschaft, also der UNO oder der OSZE, abhängig machen oder soll sie sich das Recht vorbehalten auch dann militärisch zu intervenieren, wenn ein solches Mandat nicht vorliegt?
  • Soll die Rolle nuklearer Waffen in der Allianzstrategie weiter reduziert werden oder sollen diesen Waffen neue Aufgaben und damit eine neue Legitimation zugewiesen werden? Wie hält das Bündnis es künftig mit nuklearer Abrüstung und – angesichts der Nuklearwaffentests Indiens und Pakistans – mit einem eigenen Beitrag zur Absicherung des Nichtverbreitungsvertrages für die Zukunft?
  • Wieviel und welche Vorgaben soll die neue Allianzstrategie den Mitgliedsstaaten mit Blick auf deren künftige Verteidigungsausgaben, Streitkräftestrukturen und die technologischen Fähigkeiten ihrer Streitkräfte machen?
  • Und schließlich warf die unilateralistische Politik der USA, die immer offensichtlicher die eigenen nationalen Interessen in den Mittelpunkt stellt, die Frage nach dem Kräfteverhältnis innerhalb des Bündnisses auf: Sollen die europäischen NATO-Staaten längerfristig auf eigene militärische Handlungsfähigkeit zielen oder soll diese Fähigkeit vorrangig im Rahmen und unter Kontrolle der USA in der NATO implementiert werden?

Out of Area or Out of Business

Vor Jahren bereits stellte der US-Senator Richard Lugar mit diesen Worten die Leitfrage für die heutige Diskussion. Washington drängt seine europäischen Verbündeten, die NATO künftig als Bündnis zur Durchsetzung von Interessen zu verstehen. Die Allianz soll möglichst ohne geographische Begrenzung militärisch handlungsfähig werden. Die erst 1994 geschaffene Möglichkeit, von der UNO oder der OSZE autorisierte, »friedensunterstützende« militärische Interventionen durchzuführen, soll von der zwingenden Voraussetzung eines Mandates der internationalen Völkergemeinschaft entkoppelt werden. Ein Beschluss der NATO-Staaten soll künftig ausreichen, um einen militärischen Einsatz außerhalb des Bündnisgebietes auszulösen. Auch diese Überlegung gab Washington seinen Bündnispartnern früh zu bedenken. Bereits 1993 formulierte ein brisantes Papier aus der US-Botschaft bei der NATO: „With the UN whenever possible, without it whenever necessary.“

Die meisten europäischen Staaten sehen im Gegensatz zu den USA in der NATO allenfalls ein regionales Ordnungs- und Interventionsinstrument, nicht aber einen globalen Akteur. Zugleich – dies machte die Haltung der europäischen Regierungen im Fall Kosovo deutlich – gibt es keine klare und eindeutige Position der europäischen Staaten zu nicht-mandatierten NATO-Einsätzen. Sie sind bereit, solche Einsätze mit zu tragen. Ein Mandat soll in der Regel die Voraussetzung darstellen – von Fall zu Fall soll es aber auch Ausnahmen geben. Dies aber riskiert, dass die Ausnahme die Regel wird und trägt zur Aushöhlung der Autorität der Vereinten Nationen bei.

Das neue Strategische Konzept der NATO erweitert das Aufgabenfeld sowie den politischen und geographischen Handlungsspielraum der Allianz erheblich. Zwar bleibt die kollektive Verteidigung die Kernaufgabe der NATO. Jedoch ist klar, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass diese Aufgabe auch militärisch wahrgenommen werden muss und zu einem Militäreinsatz führt. Ganz anders bei den »neuen Aufgaben« der Allianz: Krisenmanagement, Stabilitätsprojektion und »friedensunterstützende« Maßnahmen. Diese Aufgaben führen zu militärischen Einsätzen und – das Beispiel Kosovo zeigt es – zu Krieg. Dafür hält die NATO künftig nicht zwingend ein Mandat der UNO erforderlich, auch wenn die Rolle der UNO und der OSZE im neuen Konzept auf europäischen Wunsch hin hervorgehoben wurde: „Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trägt die primäre Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und leistet in dieser Eigenschaft einen entscheidenden Beitrag zu Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum“, sagt das neue Strategische Konzept. Die Wortwahl „primäre Verantwortung“ lässt aber zu, dass die NATO eine letzte Verantwortung bei sich selbst sieht und „ein entscheidender Beitrag“ ist nicht »der« entscheidende Beitrag. Die NATO hat sich die Option gesichert, Vorrang vor den Vereinten Nationen zu reklamieren, auch wenn sie im Regelfall bereit sein sollte, Krisenmanagement „unter der Autorität des UN-Sicherheitsrates oder der Verantwortung der OSZE“ zu praktizieren. Die NATO reklamiert das Recht, auch außerhalb des NATO-Gebietes zu intervenieren, z.B. um einen drohenden Völkermord zu verhindern. Nicht grundsätzlich als Weltpolizist, sondern – so die neue NATO-Strategie – vorrangig im „euro-atlantischen Raum“, jenem Gebiet, das den Sicherheitsraum aller 44 Staaten der Partnerschaft für den Frieden umfasst. Hinzukommen dürften nach dem Selbstverständnis der NATO Nordafrika und einige andere Mittelmeeranrainerstaaten. Aber auch ein militärisches Agieren darüber hinaus wird nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Dies wird deutlich, wo die Strategie über die sicherheitspolitischen Risiken der Zukunft spricht: Bedrohungen, z.B. durch Massenvernichtungswaffen in den Händen von Staaten im Mittleren Osten, in Nordafrika oder gar im Besitz nichtstaatlicher Akteure, lassen – so die Allianz – eine fixe Begrenzung des Aktionsradius nicht zu. Dies gelte erst recht für den Bereich der Informationskriegführung, des Information Warfare. Geographische Grenzen verlören in diesen Bereichen an Bedeutung. Die Welt werde zum globalen Dorf.

Dass solche Überlegungen nicht abstrus sind zeigen die jüngsten Entwicklungen vor allem der nationalen US-amerikanischen Militärstrategie. Globales Agieren im Bereich der Informationskriegführung ist hier ebenso zu einem selbstverständlichen Bestandteil geworden wie die Tatsache, dass militärische Schläge gegen nicht-staatliche Akteure – Terroristen, radikale, religiöse Gemeinschaften oder transnationale Konzerne – Element nationalen militärischen Handelns der USA geworden sind. Sogar der Einsatz von Nuklearwaffen, z.B. gegen Terroristen, die man im Besitz biologischer oder chemischer Waffen wähnt, wird dabei nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Ein Mandat der internationalen Staatengemeinschaft – so das Argument – sei hier kaum denkbar und liege außerhalb jener völkerrechtlichen Überlegungen, die beim Aufbau des heutigen Systems internationalen Rechtes zugrunde gelegt worden seien.

Künftige
militärische Fähigkeiten

»Mind the Gap« – überschrieben Autoren der US-Denkfabrik Rand Corporation im vergangenen Jahr eine Studie, in der sie für eine erhebliche Modernisierung vor allem der konventionellen Streitkräfte der großen europäischen NATO-Staaten plädieren. Diese sollen vor allem die Fähigkeit zu militärischen Interventionen weit jenseits der Grenzen des NATO-Gebietes stärken. Die Studie kann als Leitfaden für die Entwicklung US-amerikanischer Forderungen verstanden werden, die neue NATO-Strategie solle Aussagen über die künftigen militärisch-technologischen Fähigkeiten der Allianz machen. Mit der sogenannten »Defense Capabilities Initiative« hat der Washingtoner Gipfel auf dieses Ansinnen reagiert.

Der Kern des militärischen Potenzials des Bündnisses soll zu einem schlagkräftigen, flexiblen, über große Entfernungen verlegbaren und großräumig einsetzbaren Interventionsinstrument umgestaltet werden. Die militärischen Kräfte sollen so bemessen sein, dass ein Regionalkrieg – Beispiel Golfkrieg 1991 – sowie eine »friedensunterstützende« Maßnahme parallel und über eine längere Dauer durchgeführt werden können. Ein militärischer Grundschutz des NATO-Territoriums soll gleichzeitig gesichert bleiben. Trotzdem seien deutliche Reduzierungen der Streitkräftestärken möglich – die Größe des Bundeswehrheeres z.B. veranschlagen die Autoren der Rand-Studie auf künftig drei hochmoderne Divisionen. Aus Sicht der USA stehen die europäischen NATO-Staaten deshalb vor der Aufgabe, die technologische Modernisierung ihrer Streitkräfte nachzuholen und in erheblichem Umfang zu investieren. Dies gilt vor allem für die Bereiche Kommunikation, Kontrolle, Aufklärung, Überwachung und Langstreckentransportwesen. Das Stichwort in den USA heißt »Revolution in Military Affairs«.

Die begrenztere europäische Vision von den künftigen Aufgaben der NATO drückt sich natürlich auch in geringeren Forderungen an die Leistungsfähigkeit der NATO-Streitkräfte aus. Die europäischen Staaten wollen zwar den Zug der technologischen Revolution im Militärischen nicht verpassen – zugleich aber gibt es Widerstände gegen den dann notwendigen Übergang zu Berufsstreitkräften sowie gegen die amerikanischen Bemühungen, über die Ausstattung der Streitkräfte deren Funktion mitzubestimmen. Hinzu kommt, dass in Europa die US-Forderungen auch als Marketinginitiative für Rüstungsstechnologie der USA verstanden werden.

Die Beschlüsse des Washingtoner NATO-Gipfels bestätigen zwar im Grundsatz die politisch-militärischen Vorstellungen der USA, gießen diese aber nicht in bindende Investitionsverpflichtungen für die europäischen NATO-Partner. Ungeklärt bleibt vor allem, ob die Modernisierung der europäischen Streitkräfte vor allem im Kontext der NATO oder im Kontext der Europäischen Union realisiert werden wird.

Wieviel Europa erlauben die Transatlantischen Beziehungen?

Seit Jahren einig sind sich die Regierungen Europas und der USA, dass Europa eine größere und zugleich eigenständigere Rolle militärischer und sicherheitspolitischer Art spielen soll. In der NATO hat sich dafür der Begriff der »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität« (ESVI) herausgebildet. Deklariertes Ziel ist es, die europäischen NATO-Staaten zu befähigen, auch ohne die USA »friedensunterstützende« militärische Maßnahmen durchzuführen; dies schließt »friedenserzwingende« Maßnahmen mit ein. Dies soll greifen, wenn die USA sich nicht militärisch engagieren wollen. Seit Jahren werden zwischen der WEU und der NATO jene Bedingungen und Formen der Zusammenarbeit diskutiert, die es der WEU erlauben würden, bei der NATO technische und personelle Kapazitäten sowie Aufklärungsdaten auszuleihen, die die WEU nicht besitzt. Combined Joint Task Forces, deren Hauptquartiere auf Kernzellen der NATO-Hauptquartiere aufbauen sollen, sowie gemeinsam beschaffte Infrastruktur der NATO, z.B. AWACS-Flugzeuge, sollen in solchen Fällen zum Einsatz kommen und den europäischen NATO-Mitgliedern ermöglichen, was sie alleine nicht können. WEU-Einsätze sollen zuvor im NATO-Rat gebilligt werden, bleiben also letztlich durch die NATO kontrollierbar.

Dieses Arrangement – und die bereits erwähnte Kritik der europäischen NATO-Staaten am Unilateralismus der USA – rief Besorgnisse hervor: Sollte die NATO die Dauer eines WEU-Einsatzes beeinflussen, ja bestimmen können? Sollte sie bei solchen Einsätzen ein Mitentscheidungsrecht haben? Ja, sogar gegebenenfalls entscheidenden Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg? Viele WEU-Staaten erinnerten sich, dass die USA darauf bestanden haben, die der WEU unterstellbaren, europäischen militärischen Formationen wie das Eurokorps rechtlich verbindlich an die NATO zu koppeln und somit eine volle Eigenständigkeit der WEU zu verhindern. Mit Sorge sahen sie nun, dass die USA eine rechtlich verbindliche Pflicht der NATO, die WEU zu unterstützen, zu vermeiden suchten. Von vielen wird die US-Politik so verstanden, dass Washington die Kontrolle über das militärische Handeln der europäischen Staaten auch dann erlangen will, wenn es selber sich an der betreffenden Militäroperation nicht beteiligt.

Der Ruf nach Alternativen wurde lauter und seit Dezember 1998 wird deutlich: die bislang zivile Europäische Union soll sicherheitspolitisch handlungsfähig gemacht werden. Die neuen außen- und sicherheitspolitischen Möglichkeiten der EU, die aus dem im Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag abgeleitet werden können, wurden als Ansatzpunkte genommen. Europa soll über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) hinaus eine europäische Verteidigungspolitik und eine europäische Verteidigung entwickeln. Die WEU soll in die EU integriert werden – was eine Aufgabe der rechtlichen Bindungen der WEU an die NATO, z.B. das Verbot des Aufbaus militärischer Parallelstrukturen, zur Folge haben könnte. Mit Vehemenz hat die deutsche EU-Präsidentschaft begonnen, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Außenminister Fischer schlug vor, ein und dieselbe Person solle die GASP und die WEU leiten; Bundeskanzler Schröder forderte eigenständige militärische Entscheidungsstrukturen der EU. Forderungen, teure militärische Infrastruktur wie sie die USA neu bei der NATO ansiedeln wollen stattdessen bei der EU anzusiedeln, werden folgen – die geplante Entwicklung einer europäischen Verteidigungspolitik und die notwendige Konsolidierug der europäischen Rüstungsindustrie könnten hier einen erheblichen Anreiz durch indirekte Subventionierung erhalten.

Der neuen NATO-Strategie und dem Kommunique des Washingtoner Gipfels liegen je eines dieser beiden unterschiedlichen Konzepte für die Stärkung des europäischen Beitrags zur militärischen Sicherheit und Stabilität zugrunde. Sie stehen damit in einem deutlichen Widerspruch zueinander. Die Strategie reflektiert die Entwicklung der letzten Jahre – europäisches Handeln im Rahmen der WEU unter Billigung und Mithilfe der NATO. Das Kommunique reflektiert dagegen die Entwicklung der letzten Monate: Europa handelt militärisch als Europäische Union mit oder ohne die Billigung und Mithilfe der NATO; die WEU wird eng an die EU angebunden und ihre militärischen Fähigkeiten werden in diese überführt. Bis zum Jahr 2000, so die Vorstellung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, soll die EU eine erste eigene militärische Handlungsfähigkeit gewinnen. Die bislang zivile Europäische Union wagt den Einstieg in gemeinsame militärische Aufgaben. Diese sollen zunächst auf das Krisenmanagement, die sogenannten Petersberg-Aufgaben, z.B. bei einer künftigen Friedenstruppe im Kosovo beschränkt bleiben. Die Aufgabe der kollektiven Verteidigung verbleibt bei der NATO. Bereits beim EU-Gipfel in Köln Anfang Juni sollen erste Pflöcke eingeschlagen werden, die dann anlässlich der nächsten Sitzung des NATO-Rates im Juni für die Weiterentwicklung der Allianz Berücksichtigung finden können.

Atomarer Spaltpilz

Umstritten ist auch die künftige Rolle nuklearer Waffen im Bündnis. Gereizt bis scharf reagierte die Clinton-Administration als Bundesaußenminister Fischer die Frage aufwarf, ob die NATO künftig auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes nuklearer Waffen verzichten solle. US-Verteidigungsminister Cohen ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass Washington in dieser Option ein unverzichtbares Mittel sieht. Er machte deutlich, dass die USA von den anderen NATO-Mitgliedern erwarten, die nukleare Abschreckung und gegebenenfalls auch den Einsatz der atomaren Waffen gegen die Besitzer atomarer, biologischer und chemischer Waffen als Aufgabe der NATO anzusehen, auch wenn das in der bisherigen NATO-Strategie nicht vorgesehen ist. Hinzu kommt, dass ähnlich wie im Bereich der konventionellen Streitkräfte eine Ausweitung des Aufgabenspektrums der NATO auf potenzielle Gegner aus dem Süden erfolgt.

Die meisten nicht-nuklearen europäischen Staaten schauen dagegen besorgt auf die Perspektiven nuklearer Abrüstung und nuklearer Nichtverbreitung. Sie glauben, dass die Rolle nuklearer Waffen in der NATO weiter reduziert werden kann. Diese Waffen werden als letztes Mittel der Abschreckung erachtet; vielleicht gar in jenem Sinne und Kontext, den der Internationale Gerichtshof allein nicht als illegal bezeichnen wollte: Den Fall einer existenziellen Bedrohung eines Staates. Diese veränderte Haltung der europäischen NATO-Staaten spiegelte sich sowohl in ihrem Abstimmungsverhalten zur Resolution der New Agenda Coalition in den Vereinten Nationen als auch jüngst in einem Vorschlag von fünf europäischen Staaten bei der Genfer Abrüstungskonferenz. Für sie kommt eine Funktion nuklearer Waffen im Rahmen offensiver Counterproliferation nicht in Frage. Das gleiche gilt für US-amerikanische Überlegungen, sich den Nuklearwaffeneinsatz auch gegenüber nicht-staatlichen Akteuren offenzuhalten.

Das neue Strategische Konzept der NATO hält unverändert an der bisherigen umstrittenen Nuklearstrategie fest. Die Veränderungen sind minimal – der Streit wurde vertagt. Eine Überprüfung der nuklearen Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungspolitik der Allianz soll sich an den Gipfel anschließen und erste Ergebnisse sollen bis zur Herbstsitzung des NATO-Rates vorgelegt werden. Manche NATO-Staaten – so vor allem die Nuklearmächte – betonen, dabei gehe es vorrangig um die rüstungskontrollpolitischen Aspekte; andere – so die Bundesrepublik und Kanada – sehen die gesamte Nuklearstrategie auf dem Prüfstand. Das Ergebnis bleibt abzuwarten.

Wo endet Europa?

Die Probleme, die der Allianz aus dem Verhältnis USA-Europa erwachsen, werden weiter verschärft durch zwei entscheidende Fragen, auf die der NATO-Gipfel im April erneut keine Antwort gab. Erstens die Frage nach der Zukunft der Osterweiterungen des Bündnisses und zweitens die Frage nach dem sicherheitspolitischen Charakter der Allianz.

Auch die Befürworter der NATO-Osterweiterung können nicht sagen, welche Staaten dem Bündnis in Zukunft endgültig angehören sollen. Sie sind tief gespalten. Manche – vor allem jene, die in der NATO ein kollektives Verteidigungssystem sehen – sind der festen Überzeugung, dass die Allianz nicht mehr substanziell erweitert werden dürfe. Andere, die die NATO auf dem Wege der Transformation zu einem europäischen kooperativen und kollektiven Sicherheitssystem sehen, wollen auch den Beitritt Russlands zur NATO nicht auf alle Zeiten ausschließen.

Das Ergebnis könnte hochbrisant sein: Die von den USA gewünschte weltweit militärisch aktive NATO wird parallel zu einer NATO entwickelt, die Russland zwar nicht aktiv ausgrenzt, Sicherheit aber doch eher gegen als mit Russland gestaltet und Moskau zur Wahl einer neuen Politik der Selbstisolation und eingeschränkten Konfrontation veranlasst. Das aber hatten die Autoren der NATO-Russland-Gründungsakte wohl kaum im Sinn als sie die Überarbeitung des Strategischen Konzeptes der NATO ins Auge fassten.

Zugleich werden im Kontext des Kosovo-Krieges neue Fakten geschaffen: Von den territorialen Sicherheitsgarantien für die Nachbarn des ehemaligen Jugoslawiens für die Zeit des Krieges kann die Allianz nach dem Krieg kaum zurücktreten. Damit rückt ein NATO-Beitritt dieser Staaten näher. Dies wird in der neuen NATO-Strategie in keiner Weise reflektiert.

Schließlich das Verhältnis zu Russland: Die neue NATO-Strategie schreibt das Verhältnis NATO-Russland aus der Zeit vor dem Kosovo-Krieg fort. Dies ist realitätsfremd. Erfolg oder Misserfolg der russischen Vermittlung im Kosovo-Konflikt sowie der Ausgang des Krieges haben unmittelbaren und gravierenden Einfluss auf die Beziehungen zwischen Russland und der NATO. Kooperation oder erneute Konfrontation, so lautet die Alternative und es kann keinesfalls als gesichert gelten, dass Russland nach Ende des Krieges zum »business as usual« zurückkehrt. Die Frage bleibt, ob Sicherheit in Europa mit oder gegen Russland geschaffen werden soll.

Schlussbemerkungen

Zwischen den politische Zielen und dem politischen Willen zum Einsatz militärischer Mittel klafft eine Lücke. Die Allianz hat gerade die entscheidenden Fragen über den künftigen Charakter des Bündnisses bisher nicht beantwortet. Die Beschlüsse des Washingtoner NATO-Gipfels, insbesondere das neue Strategische Konzept der NATO, orientierten sich an der Allianzdiskussion der Jahre 1991 bis 1998. Sie enthalten keine Vision für das 21. Jahrhundert. Das geplante Signal von Washington – die NATO ist fit für das 21. Jahrhundert – ist ausgefallen.

Die Allianz wollte mit ihrem neuen Strategischen Konzept eine Grundlage dafür legen, das Bündnis auf mittlere Sicht, also für einen Zeitraum von 10-15 Jahren, als Fundament und Kern der künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur fest zu schreiben. Doch es scheint so, dass das in Washington verabschiedete Konzept in Kernbereichen eine politische Halbwertzeit hat, die eher in Monaten denn in Jahren bemessen werden kann.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Er untersucht u.a. die Beziehungen der NATO zu Russland in einem Projekt das von der Ford-Stiftung finanziert wird.

Die Konsens-Kommission oder das Wagnis der Militärreform

Die Konsens-Kommission oder das Wagnis der Militärreform

von Detlef Bald

„Was wir beginnen, wird die Bundeswehr nachhaltig und voraussichtlich für einen Zeitraum von länger als einem Jahrzehnt prägen.“ Mit diesen Worten leitete Verteidigungsminister Rudolf Scharping am 3. Mai die Arbeit der Kommission ein, die er vor einem halben Jahr bei seiner Ernennung angekündigt hatte. Damit erfüllte er eine alte Forderung der SPD, die nach dem Ende des Kalten Krieges die gesamte Planung der Bundeswehr auf den Prüfstand stellen wollte. Doch worum geht es, wenn im September 2000 das Gutachten zur »Gemeinsamen Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« vorgelegt wird?

Greifen wir den ersten Teil, den Schwerpunkt »Gemeinsame Sicherheit«, heraus. Der Begriff stand am Ende des Kalten Krieges für Entspannung, Verständigung und Vertrauensbildung. Es ging um Kooperation über die feindbildgeprägte Perzeption der Blöcke hinweg zu einer Sicherheit in wechselseitiger Akzeptanz, es ging um eine europäische Friedensordnung. Der friedenspolitische Akzent lag in der Stärkung der Rolle von UNO und OSZE. Dazu gehörte die Anbindung eines Militärseinsatzes an das Mandat der Völkergemeinschaft und es schien auf den ersten Blick so, dass dem auch der »politische« Charakter der im Sommer 1990 umgewandelten NATO entsprach.

Tatsächlich aber hat die NATO ihr militärisches Einsatzkonzept, im Unterschied zu diesem Verständnis der »Gemeinsamen Sicherheit«, seit 1991 systematisch weiterentwickelt. Bereits im damaligen »Neuen Strategischen Konzept« wurden Krisen-Reaktionskräfte als zukünftig das Militär bestimmender Typ definiert. Die »Bedrohung« wurde durch »Instabilität« ersetzt. Europa war mit einem Male von einem „Gürtel von Instabilitäten“ umzogen. Die „Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses“, heißt es im »Strategischen Konzept« der NATO vom April 1999, bedrohe die Sicherheit im atlantisch-europäischen Raum. Mit diesen Festlegungen wurde vorerst ein beinahe zehnjähriger Politikwandel der NATO abgeschlossen. Sie haben zur Folge, dass erstens der neue Typ des mobilen, interventionsfähigen Militärs weiter entwickelt wird, dass zweitens dieses Militär im Bündnisrahmen „für alle Herausforderungen“ außerhalb des Bündnisgebietes gewappnet sein muss, und dass drittens Einsatzszenarien ohne Mandatierung durch die UNO Realität werden können.

Diesem Konzept der Interventionsstrategie hat die rot-grüne-Bundesregierung im April zugestimmt. Die Kontinuität, die seit einem halben Jahr in der Sicherheits- und Außenpolitik geradezu dramatisch beschworen wird, steht in einer Linie mit der Politik, die nicht nur die sozialdemokratischen Verteidigungsexperten – mindestens seit 1994 – im Konsens mit Kanzler Kohl und Minister Rühe betrieben haben. Für große Teile der SPD und der Öffentlichkeit enthält diese neue NATO- und USA-bezogene Militärpolitik aber (noch) viele Fragezeichen. Diese Klärungsarbeit möchte Scharping der Kommission übertragen. Sie soll dabei Unvereinbares miteinander in Einklang bringen: „Die Grundlagen ihrer Arbeit sind die Einbindung Deutschlands in die NATO, die Verstärkung der außen- und sicherheitspolitischen Fähigkeiten der europäischen Union und die Unterstützung der Vereinten Nationen, der OSZE und der Programme für Partnerschaft und Kooperation durch Deutschland.“

Schaut man genauer auf diese Ausführungen Scharpings, wird die immanente Priorität des Auftrags für die Kommission deutlich. Die NATO bildet die Grundlage, die UNO wird unterstützt. Daher die Leitlinie der Politik: „Die Reform muss der veränderten geopolitischen und strategischen Lage Deutschlands, dem neuen strategischen Konzept der Allianz und den aus der sicherheits- und verteidigungspolitischen Integration Europas abzuleitenden Aufgaben Rechnung tragen.“ Also: Neue NATO plus neue WEU gleich Militärkonzept 2.000.

Das Muster, dem Scharping folgt, ist plausibel: Er sieht, dass die von der SPD-Führung seit langem mitgetragene Militärpolitik vor großen Akzeptanzproblemen steht, sowohl in der Bevölkerung wie auch in den kritischen Teilen der politischen Parteien, von der CDU über die Sozialdemokratie bis hin zu Bündnis 90/Grünen. Es wäre verhängnisvoll für die Regierung, würde sich aus der Akzeptanz- eine Legitimitätskrise bilden. Die Potenziale dafür sind vorhanden. Folglich ist die erste Aufgabe der Kommission in der Öffentlichkeitswirkung zu sehen. Sie soll die Spannung erträglich machen, damit Moral und Macht der Politik angenommen werden können.

Die Tagesordnung der Kommission ist recht eindeutig vorgegeben und die Zielsetzung steht so gut wie fest. Sie hat nicht den prinzipiellen Freiraum, beliebige Sicherheitsmodelle zu entwerfen. Die deutsche Politik ist dafür viel zu sehr multilateral verzahnt und eingebunden. Das Engagement der USA in den Jahren 1989/90 wird als neue Phase der Westintegration bezeichnet, aber von der Bevölkerung bisher nicht als solche angenommen. Die in den fünfziger Jahren von Kanzler Adenauer unter dem Besatzungsstatut durchgesetzte Westintegration fand in den neunziger Jahren unter Kanzler Kohl im Bewusstsein der Souveränität des Landes ihre Bestätigung. Kanzler Schröder will diese Phase der verstärkten Rolle Deutschlands im Bündnis vorerst zum Abschluss bringen.

Hier hat die Kommission ihre sinnstiftende Aufgabe: Sie soll einen gesellschaftlichen Konsens herstellen. Daraus folgt die repräsentative Auswahl der altehrwürdigen Mitglieder. Die Instanz der moralischen Konnotation eint diese Gruppe, die eine höhere Staatsräson, das allgemein Gute oder das anerkannte Gemeinwohl vermitteln soll. Es geht allerdings ums Militär, wo die Stärke des Rechts nicht der Macht des Stärkeren geopfert werden darf. Die Kommission soll den Frieden im Lande sichern – den inneren Frieden der Berliner Republik.

Daneben, aber keineswegs unwichtig, sind praktische Aufgaben für die »Zukunft der Bundeswehr« zu erledigen. Die Stichworte sind Wehrpflicht, Zivildienst, Standorte, Freiwilligenarmee, Berufsheer, Militärumfang, Finanzierung. Das ist der Platz der Lobbyisten und Militärexperten; da wird es demnächst rund gehen. Hier zeigt sich die Raffinesse der Konstruktion der Kommission. In ihr sind nur wenige Fachleute, die die Strukturen und Probleme der Bundeswehr kennen. Alleine die ehemaligen Generäle stehen für diese Expertise, einer gilt als liberal, einer als knackig, der dritte als knochenkonservativ. Was sie verbindet und wohl geeignet gemacht hat, war ihre frühere Tätigkeit, in der sie die Umwandlung der Bundeswehr des Kalten Krieges hin zu einer Armee der Interventionsfähigkeit betrieben haben. Dieses Provisorium des Übergangs in den neunziger Jahren soll nun verschlankt werden. Es geht um Effizienz und Modernisierung.

In diesen Fragen, sie werden von Scharping »sicherheitspolitische Beratungsfelder« genannt, kann die Kommission „ohne Denkverbote“ aktiv werden. Es soll Anhörungen von Experten geben; es wird zu Arbeitsseminaren eingeladen, es werden Gutachten vergeben werden. Die Spinne im Netz dieser Organisation ist das Sekretariat der Kommission; dort wird koodiniert, organisiert, selektiert. Hier schlägt das Herz dessen, was als »Reform« bezeichnet wird. Eine verdeckte Arbeit im Ministerium; oder wie sollte sich jemand wie Ignatz Bubis, Knut Ipsen oder Jürgen Schmude – um ganz willkürlich drei Mitglieder der Kommission beim Namen zu nennen – um Ausbildungsfragen an Unteroffiziersschulen, um Beteiligungsrechte oder um die Bewaffnung von Hubschraubern, um Befehlskompetenzen und Ähnliches mehr kümmern und auch noch fachkundig entscheiden?

Die Kommission unter Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker soll mit ihrem Renommé die Vorschläge machen, damit die Regionen der Republik, die Mehrheitsparteien der Politik, die Fraktionen innerhalb der Bundeswehr, die Macher in den Medien und schließlich die Öffentlichkeit ohne Konfrontation das Beschlusspaket akzeptieren. Allein so einfach ist das nicht.

In der Geschichte der Bundeswehr hat sich manches zwiespältig entwickelt. Das Konzept der Demokratisierung des Militärs, wie es von Wolf Graf von Baudissin mit dem Begriff des »Staatsbürgers in Uniform« oder synonym der »Inneren Führung« entworfen worden war, sollte ein permanenter Auftrag an die politisch Verantwortlichen sein. In diesem umfangreichen Feld der inneren Konstitution des Militärs haben sich aber nicht nur Defizite des Alltags eingeschlichen, sondern hier wurde auch mit restaurativen Intentionen die »military mind« organisiert. Tendenzen der Abkapselung von der Gesellschaft, der Einseitigkeit und der Rechtslastigkeit sind in der Bundeswehr Realität geworden. Schon ein flüchtiger Blick in die Berichte aus dem Amt des Wehrbeauftragten bestätigt, in welchem Desaster sich die Bundeswehr – vom Rekruten bis zur Generalität – befindet.

Dieser Komplex kann die Achillesferse werden, wenn die Unkenrufe der politischen Reaktion zutreffen, die bereits bei der Vorstellung der Kommission laut wurden. In der Welt vom 04.05.99 klang es lapidar an: „Das Zeitalter des Bürgers in Uniform… ist vorbei.“

Am Ende der Bonner Republik soll das aufgegeben werden was die Normalität dieser Republik ausgezeichnet hatte: Die Zivilisierung der Macht. »Staatsbürger in Uniform« bedeutet die Gesellschaftsverträglichkeit des Militärs in der Demokratie oder anders formuliert die Gültigkeit der Werte und Normen des Grundgesetzes in der Bundeswehr und für die Bundeswehr. Nur dann, wenn sich die Strukturkommission auf eine Stärkung dieser Werte konzentrieren würde, hätte sie den Namen einer Reformkommission verdient.

Mitglieder der Kommission
»Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr«

  • Dr. Richard Freiherr von Weizsäcker, Bundespräsident a.D. (Vorsitzender der Kommission);
  • Prof. Dr. Christian Bernzen, Vizepräsident des ZK der Deutschen Katholiken;
  • Dr. Christoph Bertram, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik;
  • Ignatz Bubis, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland;
  • Peter-Heinrich Carstens, General a.D.;
  • Dr. Eckhard Cordes, Mitglied des Vorstands der Daiumler-Chrysler AG;
  • Manfred Eisele, Generalmajor a.D.;
  • Prof. Dr. Helga Haftendorn, Politikwissenschaftlerin;
  • Helge Hansen, General a.D.;
  • Agnes Hürland-Büning, Parlamentarische Staatssekretärin a.D.;
  • Prof. Dr. Knut Ipsen, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes;
  • Dr. Walter Kromm, M.S.P., Arzt für Allgemeinmedizin;
  • Hermann Lutz, ehem. Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei;
  • Dr. Arno Mahlert, Mitglied der Geschäftsführung der Verlagsgruppe G. v. Holtzbrinck GmbH;
  • Lothar de Maizière, Ministerpräsident a.D.;
  • Dr. Harald Müller, Geschäftsführendes Mitglied der HSFK;
  • Dr. Jürgen Schmude, Präsident der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland;
  • Waltraud Schoppe, ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages, Ministerin a.D.;
  • Prof. Dr. Richard Schröder, Philosoph und Theologe;
  • Dr. Theo Sommer, Herausgeber Die Zeit;
  • Prof. Dr. Peter Steinbach, Politikwissenschaftler und Historiker

Dr. Detlef Bald war bis 1996 Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor.

Zur aktuellen Diskussion um die neue Nuklear-Strategie der NATO

Zur aktuellen Diskussion um die neue Nuklear-Strategie der NATO

Memorandum der IALANA vom 26. November 1998

von IALANA

In ihrer Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 haben sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik u.a. auf zwei Ziele festgelegt:

Vollständige Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen: „Die neue Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest und wird sich in Zusammenarbeit mit den Partnern und Verbündeten Deutschlands an Initiativen zur Umsetzung dieses Ziels beteiligen.“ (Kapitel XI, Ziff. 6, Absatz 2)

Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen: „Zur Umsetzung der Verpflichtungen zur atomaren Abrüstung aus dem Atomwaffensperrvertrag wird sich die neue Bundesregierung für die Absenkung des Alarmstatus der Atomwaffen sowie für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen.“ (Kapitel XI, Ziff. 6, Absatz 2)

Erste »Mutprobe«: Die Abstimmung im Ersten Ausschuss der UN-Generalversammlung

Bereits bei der ersten Bewährungsprobe, nämlich bei der Abstimmung am 13. November 1998 im Ersten Ausschuss der UN-Generalversammlung über die u.a. von Brasilien, Irland, Ägypten, Schweden und Mexiko eingebrachten Resolution L.48 (Towards a Nuclear Weapon Free World: The Need For A New Agenda), konnte sich die neue Bundesregierung erst in letzter Minute zu einer Stimmenthaltung entschließen. Andere NATO-Staaten wie Kanada waren da mutiger und wären zu einem »Ja« bereit gewesen, wenn die deutsche Bundesregierung mitgezogen hätte.

Immerhin: Die UN-Resolution, über die dann im Dezember im Plenum der UN-Generalversammlung abgestimmt werden wird, fand – gegen die 19 Nein-Stimmen der Atomwaffenmächte Großbritannien, Frankreich, USA, Russland sowie anderer Staaten – mit 97 Ja-Stimmen eine große Zustimmung. Die 12 NATO-Staaten Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Italien, Island, Luxemburg, Kanada, Niederlande, Norwegen, Portugal und Spanien enthielten sich der Stimme.

Dieses Abstimmungsverhalten – von den deutschen Massenmedien ganz überwiegend nicht einmal für berichtenswert gehalten – und ein SPIEGEL-Interview von Außenminister Fischer vom 23. November 1998 führten zwischenzeitlich dennoch zu erstem besorgten »Stirnrunzeln« der US-Regierung. Verteidigungsminister Rudolf Scharping sah sich daraufhin sofort zu Dementis und ersten Distanzierungsversuchen in Washington genötigt (vgl. u.a. FAZ vom 25.11.1998, S. 1).

Die erste Bewährungsprobe: NATO-Rats-Tagung im Dezember 1998

Bei der nächsten NATO-Rats-Tagung am 6./7. Dezember 1998 werden die Weichen für die neue NATO-Strategie gestellt, die dann auf der Frühjahrs-Tagung Anfang April 1999 in Washington zum 50. Jahrestag der NATO-Gründung beschlossen werden soll.

Hier wird die neue Bundesregierung »Farbe bekennen« müssen, wie ernst sie es mit dem meint, was beide Koalitionsfraktionen in der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 niedergelegt haben.

Es geht dabei vor allem um folgende Punkte:

  • Soll die NATO, die nach dem geltenden NATO-Vertrag ein kollektives Verteidigungsbündnis im Sinne von Art. 51 UN-Charta ist, die Befugnis zu weltweiten militärischen Einsätzen auch ohne UN-Mandat erhalten?
  • Soll die NATO an ihrer erklärten Bereitschaft zum nuklearen Ersteinsatz (First Use) festhalten?
  • Soll die NATO (bzw. ihre drei Atomwaffenmächte) den Einsatz von Atomwaffen künftig nicht nur für den Fall eines militärischen Angriffs auf einen NATO-Verbündeten, sondern auch gegen sogenannte Schurkenstaaten androhen (»Terrorismusabwehr«, »Counter-Proliferation«, »Verhinderung der Produktion von Massenvernichtungswaffen«)?
  • Wird die NATO künftig weiterhin alle Verhandlungen über eine Nuklearwaffen-Konvention, durch die – nach den B- und C-Waffen – auch alle A-Waffen geächtet und vernichtet werden sollen, ablehnen?

Es geht nicht nur um die Glaubwürdigkeit der neuen Bundesregierung; es geht auch um Recht.

These 1: Die geltende NATO-Nuklearstrategie ist mit dem geltenden Völkerrecht nicht vereinbar.

  • Der Richterspruch des Internationalen Gerichtshofs (IGH):
    Am 8.7.1996 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag auf der Grundlage von Art. 96 der UN-Charta der UN-Generalversammlung ein Rechtsgutachten erstattet, das die ihm vorgelegte Rechtsfrage nach der Völkerrechtsmäßigkeit der Androhung oder des Einsatzes von Atomwaffen dahin beantwortet, „dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich (“generally“) gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts.“
    Der Gerichtshof sah sich (in seiner »Präsidentenmehrheit«) allerdings nicht in der Lage, positiv oder negativ definitiv festzustellen, ob der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen in einer für einen Staat existenzgefährdenden extremen Notwehrsituation – ausnahmsweise – rechtmäßig oder rechtswidrig wäre. Im Wortlaut: „Allerdings kann der Gerichtshof angesichts der gegenwärtigen Lage des Völkerrechts und angesichts des ihm zur Verfügung stehenden Faktenmaterials nicht definitiv die Frage entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssitutation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre.“
  • Ist die geltende NATO-Nukleardoktrin mit der IGH-Entscheidung vereinbar?
    Die alte Bundesregierung hat in einer 1996 veröffentlichten Antwort auf eine parlamentarische Anfrage im Deutschen Bundestag erklärt: „Die Bundesregierung sieht sich durch das Gutachten in ihrer Auffassung bestärkt, dass bei Androhung des Einsatzes oder Einsatz von Nuklearwaffen Art. 2 Abs.4 und Art. 51 der UN-Charta – die Regeln der Verhältnismäßigkeit sowie die auf alle Waffen anwendbaren Regeln des Humanitären Völkerrechts – zu beachten sind. Das Gutachten zeigt auch, dass der Gerichtshof zur Kenntnis nimmt, dass die Staatenpraxis noch nicht zu einem generellen Verbot von Nuklearwaffen gelangt ist. Es bezeichnet folgerichtig den Besitz von Nuklearwaffen durch die Kernwaffenstaaten und die zugrundeliegende Abschreckungstrategie nicht als völkerrechtswidrig.
    Die geltende Verteidigungsstrategie des Nordatlantischen Bündnisses bleibt daher – auch im Lichte des IGH-Gutachtens – mit dem Völkerrecht vereinbar“
    (Bundestags-Drucksache 13/5906).

Ergänzend hatte die alte Bundesregierung gesagt, sie teile „die Auffassung des IGH, das gegenwärtige Völkerrecht kenne kein Verbot der Androhung oder des Einsatzes von Nuklearwaffen in einem extremen Fall der Selbstverteidigung, in dem die Existenz des Staates auf dem Spiel steht.“ (ebd.).

Auf der Tagung des NATO-Rates 1996 in Brüssel ist mit Zustimmung des deutschen Verteidigungsministers beschlossen worden: „Wir bekräftigen, dass die nuklearen Kräfte der Bündnispartner weiterhin eine einzigartige und essentielle Rolle in der Allianzstrategie der Kriegsverhinderung spielen. Von neuen Mitgliedern, die in jeder Beziehung Vollmitglieder der Allianz sein werden, wird erwartet, dass sie das Konzept der Abschreckung sowie die essentielle Rolle unterstützen, die die Nuklearwaffen in der Allianzstrategie spielen. Die Erweiterung der Allianz wird keine Änderung im gegenwärtigen Nukleardispositiv der NATO erforderlich machen, und daher haben die NATO-Länder nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, noch sehen sie die Notwendigkeit, das NATO-Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik in irgendeinem Punkt zu verändern – und sehen wir dazu auch in Zukunft keine Notwendigkeit“ (abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 105 vom 20.12.1996, S. 1136).

Die geltende NATO-Nukleardoktrin hat die alte deutsche Bundesregierung wie folgt beschrieben: Die „eurogestützten Nuklearwaffen haben weiterhin eine wesentliche Rolle in der friedenssichernden Gesamtstrategie des Bündnisses… Deshalb wird die Bundesregierung … nicht für einen Verzicht auf die Option der Allianz eintreten, ggf. Nuklearwaffen als erste einzusetzen. … Die Erklärung des Verzichts auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis würde die Kriegsverhütungsstrategie aushöhlen“ (vgl. BT-Drucksache 12/4766).

Die NATO

  • beharrt somit bisher in ihrer Nukleardoktrin auch für die Zukunft auf der Notwendigkeit von Atomwaffen und weist diesen auf unabsehbare Zeit eine »wesentliche Rolle« in der Gesamtstrategie des Bündnisses zu,
  • lehnt jeden Verzicht auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen in einem militärischen Konflikt strikt ab und
  • behält sich sogar den möglichen atomaren Ersteinsatz von Atomwaffen vor.

NATO und Bundesregierung können sich nicht auf die zitierte sogenannte »Notwehr-Klausel« im IGH-Rechtsgutachten berufen.

Völkerrechtlich »sicher« und »geklärt« ist die grundsätzliche (generally) Völkerrechtswidrigkeit eines Einsatzes und die Androhung eines Einsatzes von Atomwaffen. Ein »generally no« ist eben ein »grundsätzliches Nein«, nicht aber ein »grundsätzliches Ja«.

Nuklearwaffeneinsätze sind, wie der IGH festgestellt hat, nach dem geltenden Völkerrecht allenfalls insoweit noch nicht verboten, als es um eine „extreme Selbstverteidigungssitutation (geht), in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde.“ In der geltenden und von der Bundesregierung mitgetragenen NATO-Nukleardoktrin ist von einer solchen Beschränkung auf den Fall „einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde“, nirgendwo die Rede. Die NATO droht den Einsatz von Atomwaffen nach wie vor nicht »nur« für den Fall an, dass das Überleben eines ihrer Atomwaffenstaaten (oder Mitgliedstaaten) »auf dem Spiele« steht. Vielmehr sieht die NATO-Nukleardoktrin (wie oben zitiert) weiterhin sogar die „Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis“ vor.

Jedenfalls soweit die NATO-Nukleardoktrin die Androhung und den Einsatz von Nuklearwaffen nicht auf den Fall der „extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde“, beschränkt, verstößt sie gegen den Richterspruch des IGH.

Rechtliche Verbindlichkeit des IGH-Richterspruchs

Die frühere Bundesregierung hat in ihrer bereits zitierten Stellungnahme gegenüber dem Deutschen Bundestag die Auffassung vertreten:

Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs sind weder nach der UN-Charta und dem IGH-Statut noch nach allgemeinem Völkerrecht rechtlich verbindlich“ (Bundestags-Drucksache 13/5906).

Der vom Internationalen Gerichtshof 1996 verkündete Richterspruch ist zwar nicht in der Form eines Beschlusses oder eines Urteils ergangen. Es handelt sich jedoch um ein nach Art. 96 UN-Charta erstattetes Rechtsgutachten (»advisory opinion«).

Das Bundesverfassungsgericht hat durch sein aus seinen beiden Senaten bestehendes »Plenum« bereits in seinem Beschluss vom 8. November 1952 mit 20 zu 2 Stimmen zur Bindungswirkung von ihm (auf der Grundlage des damaligen 97 BVerfGG) erstatteter Rechtsgutachten entschieden: „Wenn ein Gericht durch Gesetz zur Erstattung von Rechtsgutachten berufen wird, so handelt es auch bei dieser Tätigkeit als Gericht. Das Gutachten beruht dann ebenso wie ein Urteil des Gerichts auf Gesetz und Recht; es ist nicht eine bloße Zusammenfassung der Meinungen einzelner Richter, sondern es geht vom Gericht als solchem aus und hat dessen Autorität. … Obwohl also das Gutachten nicht die rechtliche Wirkung eines Urteils hat, ist es doch seinem materiellen Gehalt nach einem Urteil gleichzustellen“ (vgl. BVerfGE 2, S. 79ff, S. 87, S. 89).

Nichts anderes kann für die vom IGH auf der Grundlage von Art. 96 der UN-Charta erstatteten Rechtsgutachten gelten. Mit seinen nach Maßgabe der Verfahrensvorschriften des IGH-Statuts erstatteten Rechtsgutachten beantwortet der IGH als das dafür nach der UN-Charta zuständige Gericht die ihm gestellten Fragen nach dem geltenden Völkerrecht.

Das IGH-Rechtsgutachten und Art. 25 GG

Auf die ihr im Deutschen Bundestag gestellte Frage, ob das Rechtsgutachten des IGH über Art. 25 GG nach ihrer Auffassung innerstaatliche Rechtswirkungen z.B. für die Gestaltung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik entfalte, hat die frühere Bundesregierung in der bereits zitierten Bundestags-Drucksache knapp und eindeutig geantwortet: „Nein“ (BT-Drucksache 13/5906).

In der Bundesrepublik Deutschland sind nach Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes, das vom Gesetzgeber, von der Regierung, der Verwaltung und den Gerichten strikt zu beachten ist (Art. 20 Abs. 3 GG); sie „gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“

Zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG gehört nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit Ausnahme des Völkervertragsrechts, soweit in ihm nicht völkergewohnheitsrechtliche Regeln kodifiziert sind, das gesamte geltende Völkerrecht, insbesondere das Völkergewohnheitsrecht sowie die von den Kulturnationen (»civilized nations«) anerkannten allgemeinen Grundsätze des Rechts (so auch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. u.a. BVerfGE 15, S.34f; E 46, S. 342 ff).

Der IGH hat in seinem Rechtsgutachten darauf hingewiesen, dass jedenfalls die folgenden Regeln des sog. humanitären (Kriegs)-Völkerrechts als geltendes Völkergewohnheitsrecht anzusehen und zu beachten sind, die aber aufgrund der spezifischen Eigenschaften von Nuklearwaffen nicht eingehalten werden könnten:

  • Jeder Einsatz von Waffen muss zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung unterscheiden.
  • Bei jedem Waffeneinsatz müssen unnötige Grausamkeiten und Leiden vermieden werden.
  • Unbeteiligte und neutrale Staaten dürfen bei einem Waffeneinsatz nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Der IGH hat daraus den Schluss gezogen: „Aus den oben … erwähnten Anforderungen ergibt sich, dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts.“

Damit stellen jedenfalls diese Regeln allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG dar.

Angesichts dessen lässt sich kaum daran zweifeln, dass auch diese Feststellung des IGH zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG zu zählen ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind eben die Regeln des Völkergewohnheitsrechts „kraft Art. 25 Satz 1 GG als solche mit ihrer jeweiligen völkerrechtlichen Tragweite Bestandteil des objektiven, im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechts“ (vgl. BVerfGE 46, 403f).

Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind die Träger der deutschen öffentlichen Gewalt gem. Art. 25 GG gehalten, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des GG Wirksamkeit verschafft (vgl. BVerfGE 75, 19). Ferner sind sie gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken (vgl. dazu BVerfG, ebd.). Dies gilt auch für das Verhalten der deutschen Bundesregierung in den Gremien der NATO. Denn die Mitwirkung deutscher Stellen innerhalb der NATO ist nicht von den Bindungen des Grundgesetzes freigestellt (vgl. Art. 20 Abs.3 GG). Mithin ist jede deutsche Bundesregierung innerhalb der NATO-Gremien durch Art. 25 GG gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden „Nuklearpolitik“ mitzuwirken und alles zu unterlassen, was hinsichtlich der NATO-Nuklearpolitik mit den vom IGH herausgearbeiteten allgemeinen Regeln des Völkerrechts unvereinbar ist.

Für ein verfassungskonformes Verhalten der zuständigen deutschen Organe ergibt sich daraus ein großer aktueller Handlungsbedarf.

These 2: Die Bundesregierung darf sich nicht länger der bindenden völkerrechtlichen Verpflichtung aus Art. VI des NV-Vertrages zum effektiven Eintreten für eine baldmöglichste vollständige nukleare Abrüstung (»atomare Nullösung«) entziehen.

Dies gilt sowohl für ihr Verhalten im nationalen Bereich als auch in den Gremien der NATO (NATO-Rat) und in anderen internationalen Organisationen, namentlich auch für ihr Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen.

Sie ist verpflichtet, sich aktiv für das baldmöglichste Zustandekommen von Verhandlungen über eine vollständige nukleare Abrüstung, also eine vollständige atomare Nullösung, sowie für einen erfolgreichen Abschluss dieser Verhandlungen einzusetzen.

Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Richterspruch vom 8. Juli 1996 einstimmig festgestellt: „Es besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung (Entwaffnung) in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“

Dies ergibt sich vornehmlich aus Art. VI des NV-Vertrages und den völkerrechtlichen Vereinbarungen vom Mai 1995 im Zusammenhang mit der unbegrenzten Verlängerung des NV-Vertrages, der in der Bundesrepublik Deutschland als zwingendes innerstaatliches Recht gilt und gemäß Art. 20 Abs. 3 GG alle staatlichen Organe bindet; denn nach Art. 20 Abs. 3 GG ist gerade auch die »vollziehende Gewalt« (also Regierung und Verwaltung einschließlich der Streitkräfte) an Gesetz und Recht gebunden. Diese Bindung der Exekutive an das geltende Gesetz und Recht ist ein Kernelement unseres Rechtsstaates. Wer dies missachtet, stellt die Fundamente des Rechtsstaates in Frage. Diese Verpflichtung trifft, wie der Wortlaut des Art. VI des NV-Vertrages ausweist, nicht nur die Atomwaffenstaaten, sondern alle Parteien des NV-Vertrages. Wer keine Atomwaffen besitzt, muss sich dennoch für das vorgegebene Ziel einsetzen, insbesondere wenn er zu den Verbündeten von Atomwaffenstaaten zählt und wenn im Rahmen des Bündnisses, dem er angehört, nukleare Einsatzkonzepte diskutiert und beschlossen werden.

Dem darf sich eine neue Regierungskoalition nicht entziehen.

Die neue Regierungskoalition und die von ihr gebildete Bundesregierung sollte sich deshalb mit aller Kraft entsprechend dem vom Europäischen Parlament am 13. März 1997 gefassten und an alle EU-Mitgliedsstaaten gerichteten Beschluss dafür einsetzen, „dass … Verhandlungen im Hinblick auf den Abschluss einer Atomwaffenkonvention zur Abschaffung nuklearer Waffen aufgenommen werden.“

Eine solche Atomwaffenkonvention muss insbesondere umfassen:

  • das absolute Verbot, Atomwaffen oder nukleare Waffensysteme zu entwickeln, herzustellen, zu besitzen, zu lagern, einzusetzen oder mit ihrem Einsatz zu drohen,
  • wirksame internationale Kontrollsysteme (einschließlich »Societal Verification«, d.h. hinreichende Schutzgarantien für alle diejenigen, die Verstöße gegen die Konvention den zuständigen nationalen oder internationalen Kontrollinstanzen melden).

These 3: Die sog. nukleare Teilhabe der Bundeswehr muss aufgegeben werden.

Wie sich aus der vom seinerzeitigen Bundesverteidigungsminister Rühe vorgelegten »Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« vom 12.Juli 19941 ergibt, werden im Rahmen der »Krisenreaktionskräfte« der Bundeswehr u.a. „in der Luftwaffe sechs fliegende Staffeln (mit Tornado-Flugzeugen) für … nukleare Teilhabe“ bereitgehalten. Diese Tornado-Flugzeuge sollen im Krisenfalle „als Trägersysteme dem Bündnis zur Verfügung“ gestellt werden. Mit anderen Worten: Die Einsatzplanung sieht vor, dass im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ ggf. deutsche Tornado-Flugzeuge mit (amerikanischen, britischen oder französischen) Atomwaffen beladen und von deutschen Piloten und Besatzungen zu Einsatzorten geflogen werden.

Der neue Bundesverteidigungsminister hat dieser Tage von Washington aus verkündet, er werde „die Geschwader der Luftwaffe, die die Teilhabe Deutschlands an der nuklearen Komponente des Bündnisses gewährleisten, nicht auflösen“ (vgl. FAZ vom 25.11.1998, S. 1).

Damit stellt sich nicht nur die Frage, wie diese »nukleare Teilhabe« mit dem völkerrechtlich wirksamen Verzicht Deutschlands2 auf jede unmittelbare oder mittelbare Verfügungsgewalt über Atomwaffen vereinbar sein kann,3 der sich aus dem Nichtweiterverbreitungsvertrag (Atomwaffensperrvertrag) und dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag ergibt. Nach der IGH-Entscheidung vom 8. Juli 1996 ist darüber hinaus zu fragen, wie eine solche »nukleare Teilhabe« und darauf gerichtete Planungen und Übungen weiter aufrechterhalten werden können, wenn der Einsatz von Nuklearwaffen – wie nun festgestellt – „generell“/ „grundsätzlich“ völkerrechtswidrig ist.

Die neue Bundesregierung sollte deshalb unverzüglich die erforderlichen Schritte dafür einleiten, dass jegliche Form der »nuklearen Teilhabe« von Nicht-Atomwaffenstaaten (darunter u.a. Deutschland, Italien, Niederlande) innerhalb der NATO beendet wird. Dies betrifft insbesondere das Bereithalten von Trägersystemen (Tornado-Flugzeuge) „für … nukleare Teilhabe“, die dem Bündnis für einen A-Waffen-Einsatzfall zur Verfügung gestellt werden sollen.

These 4: Die Entscheidung des IGH muss auch Konsequenzen für die Stationierung und Lagerung von Atomwaffen haben.

Nach der Greenpeace-Studie »The 520 Forgotten Bombs«4 sind in Europa nach wie vor mehrere Hundert atomare Sprengköpfe gelagert, davon ein Großteil in Deutschland an den Standorten Büchel, Spangdahlem, Ramstein, Memmingen und Brüggen. Wenn nach der IGH-Entscheidung die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen „generell“ / „grundsätzlich“ völkerrechtswidrig sind, dürfen dann weiterhin Atomwaffen an den Stationierungsorten für einen Einsatz bereitgehalten werden? Wird dadurch nicht einem Völkerrechtsbruch Vorschub geleistet?

Das IGH-Rechtsgutachtens vom 8. Juli 1996 erklärt den Besitz, das Lagern und das Bereithalten von Atomwaffen zwar nicht ausdrücklich für völkerrechtswidrig. Allerdings müssen sowohl die Nuklearstaaten als auch die Stationierungsländer alles tun, um ihre mit Nuklearwaffen im Zusammenhang stehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen: Neben der Pflicht zur baldmöglichsten Aufnahme von Verhandlungen über eine vollständige nukleare Abrüstung umfassen diese insbesondere gerade auch den Verzicht auf jede Maßnahme oder Planung, die – bis zu einer vollständigen Abschaffung aller Nuklearwaffen – die Androhung und den Einsatz von Atomwaffen außerhalb der vom IGH gezogenen Grenzen vorsehen und beinhalten. Die Bundesregierung ist gehalten, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Einhaltung dieser Grenzen zu gewährleisten. Die beste Gewährleistung besteht darin, auf einen schnellstmöglichen Abzug der in Deutschland verbliebenen Atomwaffen zu dringen.

These 5: Die Ausbildung der Offiziere und Soldaten der Bundeswehr im »humanitären Völkerrecht« (sog. Kriegsvölkerrecht) muss hinsichtlich des A-Waffeneinsatzes auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden; die einschlägigen Dienstvorschriften der Bundeswehr (und der NATO) müssen revidiert werden. Auch die Ausbildung an den Universitäten muss dies zu ihrem Gegenstand machen.

Für den Bereich der Bundeswehr ist spezialgesetzlich in §10 Abs. 4 des deutschen Soldatengesetzes (SG) bestimmt, dass Vorgesetzte „Befehle nur … unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen“ dürfen. Mit anderen Worten: In der Bundeswehr dürfen keine Befehle erteilt werden, die gegen geltendes Völkerrecht verstoßen.

Soldaten der Bundeswehr dürfen nach §11 Abs. 2 SG keinen Befehl befolgen, „wenn dadurch eine Straftat begangen würde.“ Die Tötung oder Verletzung von Menschen, die unter Verstoß gegen geltendes Kriegsvölkerrecht erfolgt, ist strafbar. Erfolgt die Tötung – wie beim Einsatz von Atomwaffen – „grausam“ oder „mit gemeingefährlichen Mitteln“, handelt es sich gar um Mord ( §211 StGB). Auch die Mittäterschaft und die Beihilfe sind strafbar.

Diese rechtliche Situation erfordert: Um die Soldaten und Offizieren der Bundeswehr in die Lage zu versetzen, ihre dargelegten Pflichten sicher erkennen und wahrnehmen zu könnten, müssen die Offiziere und Soldaten der Bundeswehr mit den Regeln des geltenden Völkerrechts in einer Weise vertraut gemacht werden, dass sie diese im Dienst beachten und einhalten können.

Dies muss Konsequenzen haben für die Ausbildung in den Ausbildungsstätten der Bundeswehr und im Bundeswehralltag, aber auch für die Bundeswehrdienstvorschriften.

Auch die Gesellschaft insgesamt, namentlich die Universitäten, müssen sich dieser veränderten Situation stellen. Dies ist nicht nur eine Aufgabe, die der Bundeswehr überlassen bleiben darf.

Literaturhinweise:

Die Friedenswarte (Hrsg. von Knut Ipsen/Volker Rittberger und Christian Tomuschat) (1996): Engl.Text des IGH-Gutachtens und Beiträge von Richard Falk, Michael Bothe, Harald Müller, Camille Grand, Heft 3/1996.

Hilgenberg, Hartmut (1996): Das Gutachten-Verfahren vor dem IGH zur völkerrechtlichen Zulässigkeit von A-Waffen, Saarbrücken.

IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Dokumentation – Analysen – Hintergründe. Mit einem Geleitwort von Bundesverfassungsrichter a.D. Helmut Simon, Münster.

International Review of the Red Cross (Hrsg. vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes) (1997): Engl. Text des IGH-Gutachtens und zahlreiche Einzelbeiträge, Heft 316 Jan./Febr.1997.

Anmerkungen

1) Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 1994, S. 7 f.

2) vgl. dazu u.a. Knut Ipsen, Europaarchiv (EA) 1972, S. 589 ff; Deiseroth, Atomwaffenverzicht der Bundesrepublik – Reichweite und Grenzen der Kontrollsysteme, in: Archiv des Völkerrechts (AVR) 1990, S. 113 ff; Matthias Küntzel, Bonn und die Bombe. Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt, 1992, S. 243 ff.

3) vgl. dazu u.a. Dieter Mahnke, Nukleare Mitwirkung, 1972, S. 239 ff; Deiseroth, Nukleare Teilhabe Deutschlands?, auszugsweise in: Frankf. Rundschau vom 29.1.1996, S. 1

4) vgl. Greenpeace, The 520 Forgotten Bombs. 18. April 1995, S. 5.

Das böse Erwachen kommt noch

Das böse Erwachen kommt noch

Zum 50. Geburtstag der NATO

von Andreas Zumach

Strategiedebatten der NATO sowie tatsächliche Korrekturen ihrer Doktrin wurden in den ersten 40 Jahren ihres Bestehens bis zum Fall der Berliner Mauer immer von den USA ausgelöst. Anlass war jeweils eine oft durch neue waffentechnologische Möglichkeiten bestimmte Veränderung der nationalen Atomwaffendoktrin der Bündnisvormacht. Sie wurde dann immer sehr bald zur gemeinsamen Doktrin der Allianz. Wobei den Bündnispartnern – mit Frankreichs Ausnahme – jeweils die Illusion gelassen wurde, sie hätten tatsächlich mitentschieden. Bekanntestes Beispiel ist der Wechsel von der »massiven Vergeltung« hin zur »flexiblen Antwort« Ende der 60er Jahre. In der Regel fanden die Diskussionen hinter verschlossenen Türen der NATO-Militärs statt; manchmal wurden elitäre Zirkel »sicherheitspolitischer Experten« aus Politik, Wissenschaft und Medien beteiligt. Die Debatte um die Atombewaffnung der Bundeswehr Ende der 50er Jahre und die dem NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 folgende scharfe und lang anhaltende öffentliche Kontroverse um die Stationierung neuer Atomraketen sind die einzigen Fälle, in denen relevante, (über)lebenswichtige Fragen der Sicherheitspolitik in der partizipatorischen Breite und Intensität diskutiert wurden, wie sie für parlamentarische Demokratien eigentlich selbstverständlich sein sollten. Dass die öffentliche Kontroverse der 80er Jahre nicht nur von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, sondern von weiten Teilen der damaligen politischen Eliten in den NATO-Staaten als ärgerlicher Betriebsunfall verarbeitet wurde und die schließliche Durchsetzung der Stationierung von Pershing 2 und Cruise Missiles als »Sieg der Politik über die Straße«, zeugt von einem gefährlichen Demokratiedefizit.

Zehn Jahre später ist die Lage im Grunde wenig verändert. Entgegen allen Voraussagen hat die westliche Militärallianz den Wegfall ihres östlichen Gegenübers und »raison d`etre« bislang prächtig überstanden. In den ersten Jahren nach 89 mit wiederholter Verkündung der »politischen Rolle«, die sie fortan zu spielen gedenke – eine hohle Phrase, die nie mit konkreten Inhalten gefüllt, aber auch in keinem der 16 Mitgliedsstaaten ernsthaft hinterfragt wurde. Es folgte die Diskussion um die Ausdehnung nach Osten – mit all ihren Vorspielformen wie der »Partnerschaft für den Frieden« oder dem NATO-»Kooperationsrat«.

Nachdem sich der Beschluss des Pariser KSZE-Gipfels vom November 1990, die KSZE , das „Herzstück der europäischen Architektur“ (Kohl in seinen Thesen zur deutschen Vereinigung vom Herbst 89) nun zur gemeinsamen, kollektiven Sicherheitsinstitution für das Gebiet vom Atlantik bis zum Ural auszubauen, als leeres Versprechen der NATO-Staaten erwiesen hatte, gab es für die Ostausdehnung auch die »Partner«, auf deren »legitime Sicherheitsbedürfnisse« und Beitrittswünsche sich die NATO berufen konnte.

Schließlich der Krieg in Bosnien: geradezu ein Glücksfall für die Neulegitimierung der NATO, nachdem sich zuvor die EU mit ihrem Anspruch auf eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik blamiert hatte und die UNO insbesondere von NATO-Regierungen zum Sündenbock für ihr eigenes Scheitern in Bosnien gemacht wurde. Wenn bis April nichts Wesentliches mehr schief läuft, kann die Allianz zum 50. Geburtstag in Washington ihre »friedensstiftende Rolle« im Kosovo feieren.

Dann besteht erst Recht die Gefahr, dass die beiden erneut in erster Linie von den USA angestrebten Änderungen der NATO-Strategie auch vollzogen werden – ohne größere Debatte. Obwohl diese Änderungen – einmal ganz abgesehen von ihrer eindeutigen Völkerrechtswidrigkeit – weit gravierender sind als alle Korrekturen der Jahre 1949-89: Die NATO soll zum weltweit einsatzfähigen Interventionsinstrument werden, auch ohne UNO-Mandat; per Atomwaffendrohung der NATO sollen sogenannte »Schurkenstaaten« künftig von der Anschaffung und dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln und ballistischen Raketen abgeschreckt werden.

Das böse Erwachen kommt gewiss. Spätestens wenn es in einigen Jahren nicht mehr um Konflikte in Bosnien oder dem Kosovo geht, wo die NATO-Staaten und Russland – trotz aller öffentlichen Kontroversen – nicht wirklich substanzielle und gegensätzliche Interessen verfolgen. Sondern zum Beispiel, wenn es um Konflikte im Kaukasus geht, einer Region mit riesigen, geostrategisch bedeutsamen Öl- und Gasvorkommen, um deren Ausbeutung der Streit zwischen westlichen und russischen Ölkonzernen bereits voll entbrannt ist.

Andreas Zumach arbeitet als freier Journalist in Genf

»Europäische Sicherheitsidentität« – ein unbezahlbarer Traum?

»Europäische Sicherheitsidentität« – ein unbezahlbarer Traum?

Die deutsch-französische Militärkooperation

von Stefan Gose

Es dauerte etwa 15 Jahre, bis sich Frankreich dem dreimaligen Kriegsgegner Deutschland wieder auf sicherheitspolitischem Gebiet näherte. Noch 1954 scheiterte eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft/EVG mit deutscher Beteiligung an der französischen Nationalversammlung. Die Bundesrepublik wurde 1955 zwar Mitglied der Militärbündnisse NATO und Westeuropäischer Union/WEU, denen auch Frankreich angehört. Doch während die WEU im Schatten der NATO bald bedeutungslos wurde, distanzierte sich Frankreich zunehmend von der NATO. Die US-Dominanz im Kalten Kriegs-Bündnis widersprach dem gaullistischen Selbstverständnis von Frankreich als einer europäischen Hegemonialmacht in einer multipolaren Welt. Die französischen »Fouchet-Pläne« einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ohne die USA scheiterten 1962 an den »Atlantikern« in der EWG. Auch der Abschnitt »II.B Verteidigung« des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages vom 22.1.1963 blieb ohne substantielle Folgen.

Mit dem Austritt aus der militärischen NATO-Integration 1966 und dem ersten französischen Atomtest am 2.6.1966 in der algerischen Sahara unterstrich Charles de Gaulle den Anspruch, Frankreich als eigenständige Weltmacht mit einer weitgehend unabhängigen Rüstungsindustrie auszubauen. Die westdeutsche Sicherheitspolitik orientierte sich zur Wiedererlangung der Souveränität durch Westintegration dagegen weitgehend an der US-dominierten NATO. Deutsch-französische Rüstungskooperationen (Transall, Alpha Jet) dienten der französischen Seite zu Kostensenkung und Einflußerweiterung, während die deutsche Rüstungsindustrie peu à peu Systemkompetenz und Unabhängigkeit gewann.

Von der Isolation zur Kooperation

Doch auch immense französische Rüstungsexporte konnten die Kosten für eine autarke Verteidigungsindustrie langfristig kaum senken. Die hohen Verteidigungslasten der Mittelmacht Frankreich konnten weder verhindern, daß die USA ihre militärpolitische Dominanz ausbauten noch daß die Bundesrepublik zur bestimmenden Wirtschaftsmacht Europas avancierte. Statt eine Hegemonialstellung in Europa zu erlangen, isolierte sich Frankreich von einer erstarkenden NATO und damit von der europäischen Sicherheitspolitik. Dies wurde insbesondere während der innen- und außenpolitisch brisanten Phase des NATO-Doppelbeschlusses (1979-83) deutlich, zumal die nuklearen Offensivstrategien der Ära Reagan (Deep Strike, FOFA, ALB) auch Frankreich getroffen hätten.

Im Januar 1984 initiierte daher die französische Regierung eine Wiederbelebung der WEU. In Kanzler Kohl fand Präsident Mitterand einen Verbündeten, der zwar weiterhin die transatlantische Sicherheitsachse beschwor, zugleich aber die Zeit für eine Neugewichtung der Bundesrepublik in Europa gekommen sah. Der Bundesrepublik galt Mitterand als willkommener Partner, weil erstens vom US-getreuen Großbritannien keine Unterstützung für eine französische Hegemonialstellung in Europa zu erwarten war. Zweitens, weil die ökonomische Dominanz der BRD in Westeuropa Frankreich zur Kooperation mit einem Land zwang, das vom Zweiten Weltkrieg diskreditiert, sich keine souveräne Außen- und Sicherheitspolitik leisten konnte. Die »Deutsch-französische Freundschaft« wurde so für die Bundesrepublik zum »Gütesiegel« für internationale Reputation, wofür sich die französische Regierung entsprechendes ökonomisches Entgegenkommen versprach. Die Rolle der Atommacht Frankreich in einem Militärbündnis ohne die USA sah Mitterand als zwangsläufig herausragend. Aber wegen verschiedenseitiger Rücksichtnahmen auf den NATO-Partner USA und mangels NATO-unabhängiger Ressourcen kam die WEU zunächst kaum über das Stadium einer Koordinationsstelle für gemeinsame Rüstungsvorhaben hinaus. Doch die zunehmenden bi- und multilateralen Rüstungskooperationen (Eurocopter, Euromissile, Eurodrohne, Euroflag, Eurotorp) entlasteten weder den französischen Verteidigungshaushalt, noch erhöhten sie die sicherheitspolitische Bedeutung Frankreichs oder Europas.

Zum Verdruß der USA vereinbarten Kohl und Mitterand 1987/88 daher den Aufbau einer deutsch-französischen Brigade, die 1991 in Mulhouse und Baden-Baden als einsatzbereit gemeldet wurde. Diese zum Symbol für Völkerverständigung verharmlosten 5.000 Soldaten waren der Grundstock zum Eurocorps, das Kohl und Mitterand am 22. Mai 1992 in La Rochelle beschlossen. Am 1.10.93 übernahm der heutige Heeresinspekteur Helmut Willmann in Straßburg den Befehl über die 5 Eurocorpsverbände, die bis 1998 zu 60.000 Soldaten aufwachsen sollen.

Das Eurocorps sollte zunächst als leichte, später auch als schwere Eingreiftruppe für NATO, WEU und andere Organisationen zur Verfügung stehen.

Sinnstiftung: Auslandseinsatz

Nach dem Mauerfall sahen Kohl und Mitterand im Abzug amerikanischer und sowjetischer Truppen aus Europa die Chance, die WEU zum militärischen Standbein einer »Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik/GASP« der EU auszubauen und verankerten dies in Art.J4 Abs.2 des Maastricht-Vertrages vom 7.2.1992. Am 19. Juni 1992 machte sich die WEU in ihrer Petersberger Erklärung die gleichen weltweiten Kriseninterventionen zur Aufgabe, wie sie sich die NATO im Oktober 1991 vorgenommen hatte. Der Haken: Weder die Euroverbände noch die WEU verfügen über die nötigen Aufklärungs- und Kommandostrukturen sowie Transportmittel, um eigenständige Auslands-einsätze durchführen zu können. Nachdem sich abzeichnete, daß eine europäische Realisierung entsprechender Transport- (FLA) und Kommandosysteme (Helios II) mittelfristig nicht finanzierbar ist, akzeptierte Mitterand 1994, das Eurocorps künftig unter »operational command« der NATO einzusetzen.

Streitkräftereform

Mit dem »Stoltenberg-Papier« vom Januar 1992 wurde der Umbau der Bundeswehr in Hauptverteidigungskräfte zur Landesverteidigung und Krisenreaktionskräfte für den Auslandseinsatz (Personalstärke 53.000) eingeleitet. Mitterand mußte spätestens im 2. Golfkrieg 1991 erkennen, daß die militärischen Kapazitäten Frankreichs allenfalls zu Kurzinterventionen in Drittweltstaaten ausreichten: Während die britische Berufsarmee von 150.000 Soldaten 35.000 an den Persischen Golf verlegen konnte, waren vom 280.000 Mann starken französischen Wehrpflichtigenheer dazu nur 9.000 Soldaten geeignet. Die französischen Waffen erwiesen sich gegenüber denen der Alliierten als veraltet und unterlegen. Häufig konnten französische Waffen nicht eingesetzt werden, weil die Exportnation Frankreich dem Irak die gleichen Waffen verkauft hatte, so daß die eigene Abwehr Freund und Feind nicht hätte unterscheiden können.

Dreigleisig versuchte Mitterand, die Lücke zwischen geopolitischem Anspruch und militär-technischen Möglichkeiten zu verringern: Erstens suchte Frankreich wieder die Nähe zur NATO, zweitens forcierte Mitterand die nukleare Modernisierung der »Force de Dissuasion« und drittens intensivierte er Rüstungskooperationen. Sein im Mai 1995 gewählter Nachfolger Jaques Chirac ging noch weiter: Im Juni 1995 ließ er seinen Verteidigungsminister Charles Millon eine Strategiekommission einsetzen, deren Vorschläge für eine umfassende Armeereform am 22./23. Februar 1996 veröffentlicht wurden und nun mit dem Militärprogrammgesetz 1997-2002 umgesetzt werden. Die drei Schwerpunkte sind: 1. Abschaffung der Wehrpflicht bis 2001, 2. Verkleinerung der Armee von 500.000 auf 350.000 Soldaten und 3. Straffung der Rüstungsindustrie.

Deutsch-Französisches »Sicherheitskonzept«

Auf der Hardthöhe und bei der deutschen Rüstungsindustrie sorgte die unangekündigte französische Armeereform für Unruhe. Frankreich könne seine Wehrpflicht nur abschaffen, weil die Bundesrepublik das Schutzschild dafür biete, analysierte Ex-Generalinspekteur Naumann.

Doch nicht für alle kam die Reform überraschend: Bereits am 7.12.95 hatten Kohl und Chirac in Baden-Baden eine Generalinventur der Militärkooperationen beschlossen. Damit beauftragt wurden die Rüstungsdirektoren des 1988 mit der deutsch-französischen Brigade gegründeten Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates. Gezielt ließen die hohen Beamten im Verlauf ihrer einjährigen Arbeit einige Streitpunkte durchsickern, die sich aus der Ressourcenverknappung beiderseits des Rheins ergaben: Die französische Seite stellte den Nutzen für den Verbleib französischer Truppen in Deutschland und im Eurocorps in Frage. Deutscher Skepsis über die Finanzierbarkeit des gemeinsamen Spionagesatellitenprogramms Helios II begegnete Frankreich mit der Ausstiegsdrohung aus den Hubschrauberprojekten NH-90 und Tiger. Die Bilanz, das »Gemeinsame Deutsch-Französische Sicherheits- und Verteidigungskonzept« wurde am 9.12.96 in Nürnberg präsentiert. Das Papier ist ein ambitionsloses Patt, nach dem alle bisherigen Kooperationen weiterverfolgt werden sollen, obwohl die Unbezahlbarkeit der Rüstungskooperationen absehbar ist.

Frankreichs NATO-Annäherung

Dennoch gab es Aufregung, als Verteidigungsminister Volker Rühe in einem Tagesthemen-Interview das »Konzept« als »NATOisierung Frankreichs« interpretierte. Außenminister Herve de Charette beeilte sich am 29.1.97 vor der Nationalversammlung zu erklären, das »historische« Positionspapier bedeute nichts Neues für die französische Sicherheitspolitik. Hintergrund ist seit 1995 die parteienübergreifende Skepsis gegenüber der französischen Annäherung an die NATO, was vielfach als eine Abkehr vom Gaullismus interpretiert wurde:

  • Mitterand war 1995 mit seiner Zustimmung zur Einbindung der ehemaligen WVO-Staaten in den Nordatlantischen Kooperationsrat/NACC, in den KSE-Vertrag und beim Partnership for Peace/PfP-Programm von der Linie bilateraler Verträge abgewichen, bei der Überwachung des Adria-Embargos akzeptierte der französische Präsident das NATO(US-)-Kommando ebenso wie beim IFOR-Einsatz in Bosnien.
  • Chirac setzte diese US-freundliche Linie fort, indem er das NATO-operational command für das Eurocorps akzeptierte, seinen Verteidigungsminister wieder regelmäßig in den NATO-Rat schickte und französische Vertreter wieder am NATO-Militärausschuß und nachgeordneten Gremien teilnehmen ließ.
  • Auf der NATO-Ratstagung am 3.6.96 in Berlin stimmte Chirac sowohl der neuen Nuklearstrategie der NATO MC 400/1 zu als auch dem CJTF-Mischtruppenkonzept, wonach – wie bei SFOR in Bosnien – französische Truppen unter fremden Befehl eingesetzt werden können. Ein schwacher Widerstand ist demgegenüber die Forderung nach einem europäischen Vize-SACEUR oder der Anspruch auf das NATO-Südkommando in Neapel.

Deutschlands Nukleare Teilhabe?

Ein zweiter Konflikt über das deutsch-französiche Kooperationspapier entfachte sich an dem Satz „Unsere beiden Länder sind bereit, einen Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung im Kontext der Europäischen Verteidigungspolitik aufzunehmen“. Nichts anderes hatte Präsident Mitterand bereits 1992 aus finanziellen und europapolitischen Erwägungen ohne Resonanz aus Deutschland vorgeschlagen. Denn eine Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik mit nationalen Atomwaffen in Frankreich und Großbritannien ist kaum vorstellbar. Kanzler Kohl kommentierte mögliche deutsche Mitentscheidungswünsche über die französische Bombe am 10.2.97 in der FAZ als „völlig falsch“. Auf eine Kleine Anfrage im Bundestag nach der Unvereinbarkeit einer gemeinsamen nuklearen Verfügungsgewalt mit dem Atomwaffensperrvertrag antwortete die Bundesregierung am 14.3.97 jedoch zum wiederholten Male ausweichend: „Die Feststellung der Bundesregierung, wonach die Entwicklung einer Europäischen Verteidigung im Rahmen der EU derzeit nicht aktuell, sondern eine hypothetische Frage ist, ist weiterhin gültig. Die Frage eventueller Schlußfolgerungen aus den Artikeln I und II NVV [Verbot der Weitergabe von Atomwaffen, d.A.] stellt sich daher nicht.“

Trotz dieses bemerkenswerten nuklearen Hintertürchens der Bundesregierung und erheblichen Finanzierungsproblemen auf der französischen Seite ist eine gemeinsame militärische Nuklearpolitik nicht nur aus rechtlichen Gründen unwahrscheinlich. Ein deutsches Interesse an der Mitverfügung über Atomwaffen konnte zwar noch nie gänzlich ausgeschlossen werden, es wäre jedoch auf absehbare Zeit unbezahlbar. Deshalb hat der angebotene Atomdialog eher Symbolcharakter: Frankreich wirbt durch vermeintliche Offenheit bei der atomkritischen deutschen Öffentlichkeit für eine Legitimation einer anachronistischen Waffengattung.

Seine tatsächliche Atompolitik betreibt Frankreich unabhängig von einem Atomdialog: 1996 wurden die letzten landgestützten Atomraketen S-3 und Hadès verschrottet. Mit jährlich ca. 10 Mrd. DM stehen bis 2002 etwa ein Sechstel des 185 Mrd. FF-Verteidigungshaushaltes für die »Force de Dissuasion« zur Verfügung. Im Jahre 2002 sollen die Atomstreitkräfte noch über 4 nukleargetriebene U-Boote mit M45 und M4/TN71 Atomraketen verfügen. Daneben sollen 3 Schwadronen Mirage 2000N und 2 Super-Entendard-Luftflotten mit nuklearen ASMP-Abstandsraketen ausgerüstet werden. Die beschlossene Aufgabe der südpazifischen Atomtestgelände Muroroa und Fangataufa sowie der Urananreicherungsanlagen von Marcoule und Pierrelatte kann Frankreich durch vorhandenes Spaltmaterial kompensieren. Durch ein Abkommen über know how-Transfer bei Nuklearsimulationen mit den USA von 1995 und den bei Bordeaux im Aufbau befindlichen Laser Megajoule könnte Frankreich künftige Atomwaffen bei entsprechender Finanzlage »am Computer« entwickeln. In militärischen Nuklearfragen bleiben eher die USA oder Großbritannien, mit denen Frankreich seit 1992 nukleare Koordinationsgespräche führt, erste Adresse. Doch selbst der Bau einer französisch-britischen nuklearen Abstandsrakete scheiterte.

Reform der Rüstungsindustrien

Die eigentliche Zielrichtung des deutsch-französischen Sicherheitspapiers erschließt sich beim Blick auf die aktuellen Arbeitsgruppen des Deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates, der den Text verfaßt hat:

  • Strategie und Abrüstung,
  • Militärische Zusammenarbeit,
  • Rüstungskooperation,
  • Raumgestützte Aufklärung,
  • Rüstungspolitik,
  • Finanzielle Perspektiven und
  • Status französicher Truppen in Deutschland und Eurocorps.

Es geht weniger um eine politisch geplante europäische Sicherheitsarchitektur, als um Schadensbegrenzung an Truppen und Material durch Reduzierungen und Rüstungskooperation in Zeiten leerer Kassen.

Die Mehrzahl der französischen Rüstungsunternehmen existieren als Staatsbetriebe von »nationalem Interesse« nur noch durch milliardenschwere Subventionen. Auch die privaten Wehrtechnikbetriebe werden von der Rüstungsbehörde Délégation Générale pour l'Armement/DGA maßgeblich gesteuert. Wie Behörden arbeiteten diese Unternehmen in der Vergangenheit kaum nach betriebswirtschaftlichen Kriterien, verzichteten auf Rationalisierungen und Innovationen, weil der Absatz gesichert schien.

Für etwa 10 Milliarden DM soll die französische Rüstungsindustrie nun von derzeit ca. 300.000 Beschäftigten um knapp ein Drittel reduziert werden. Die etwa 6.000 wehrtechnischen Betriebe, deren Zentren in der Bretagne, der Normandie, um Bordeaux und um Marseille liegen, sollen durch Fusionen und Stillegungen gestrafft werden. Bis 2001 sollen ca. 30 Mrd. DM bei den Verteidigungsausgaben eingespart werden. Neben der Straffung des Heereswaffenlieferanten Groupement Industrièl des Armements Terrèstres/GIAT steht die Privatisierung des milliardenschwer verschuldeten Elektronik- und Raketenkonzerns Thomson CSF, der bankrotten Werft Dirèction des Constructions Navales/DCN (24.000 Beschäftigte) sowie die Zwangsfusion des defizitären staatlichen Flugzeugbauers Aérospatiale mit der gewinnbringenden privaten Dassault im Vordergrund. Die Sanierungsaussichten sind mäßig, da auch im internationalen Umfeld Überkapazitäten bei sinkendem Absatz bestehen und vornehmlich know how gefragt ist. Die Daimler Benz Aerospace/DASA führt gerade Gespräche mit Matra, Thomson CSF und Aérospatiale, um möglicherweise ganze Produktionszweige (Raketen, Satelliten, Flugzeuge) zu bündeln.

Rüstungskooperationen wanken

Die wichtigsten deutsch-französischen Rüstungsprogramme, die die Armeen beiderseits des Rheins zur Auslandstauglichkeit befähigen sollten, stehen zur Disposition:

Aus Kostengründen stieg Frankreich bereits 1995 aus dem europäischen Großraumtransportflugzeug Future Large Aircraft/FLA aus. Bei einem französischen Entwicklungsanteil von 1,8 Mrd. $ sollten die Maschinen für Frankreich insgesamt ca. 12. Mrd. DM kosten. Auch für den teureren deutschen Anteil ist die Finanzierung unklar. Mittlerweile ist eine militärische Variante des künftigen Airbus A-3XX im Gespräch. Der Konflikt über eine französische Reduzierung oder gar den Ausstieg aus den beiden Hubschrauberprogrammen PAH-2/Tiger/Uhu und NH-90 ist noch nicht vom Tisch. Statt der zunächst geplanten 212 Panzerabwehrhubschrauber/PAH-2 für die Bundeswehr (ca. 16 Mrd. DM) und 215 Tiger für die Armée de Terre reduzierte die Hardthöhe 1996 ihren Einkaufszettel auf 138 PAH-2. Charles Millon stellte daraufhin das französische Interesse an beiden Hubschraubern in Frage, zumal die Bundeswehr auch nicht mehr wie geplant 243 NH-90 zum Stückpreis von ca. 50 Mio. DM bezahlen kann.

Wichtiger als die Hubschrauber ist dem französischen Verteidigungsministerium die 1995 beschlossene deutsche Beteiligung am Spionagesatellitenprogramm Helios II als Aufklärungs- und Kommunikationskern für künftige europäische Auslandseinsätze. Verteidigungsminister Rühe stellte 1996 die deutsche Beteiligung am 12. Mrd. DM Programm Helios II für den Fall in Frage, daß sich Frankreich aus den Eurocopter-Programmen verabschieden sollte. Abschließende Entscheidungen sind noch nicht getroffen, so daß beide Länder weiterhin Millionen in Programme investieren, deren grundsätzliche Unbezahlbarbeit bereits heute feststeht.

An »Vorbildern« gescheiterter deutsch-französischer Rüstungskooperationen mangelt es nicht: Neben einer gemeinsamen Fregatte scheiterte insbesondere die Kooperation beim Eurofighter 2000 an nationalen Eigeninteressen. Im Ergebnis fehlt der deutschen Seite bei der Fregatte F-125 nun ein finanzstarker Partner, während sich Frankreich den Kauf des selbst entwickelten Kampfflugzeuges Rafale kaum leisten kann.

Zwar wurde nach endloser Planung am 12. November 1996 eine gemeinsame Rüstungsagentur von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Italien in Bonn gegründet. Doch ihre Hauptaufgabe dürfte künftig in der besseren Koordination von Lücken bestehen.

Europäisierung der NATO?

Das Projekt einer »europäischen Verteidigungsidentität« ist vorerst gescheitert. Neben zahlreichen Interessenkonflikten auch anderer WEU-Mitglieder fehlen den Hauptakteuren in Paris und Bonn die Ressourcen zum Ausbau einer eigenständigen europäischen Sicherheitspolitik. Die Folge ist eine zwangsläufige Rückbesinnung auf die US-dominierte NATO.

Die Reorientierung auf die NATO darf aber nicht als Unterwerfung unter traditionelle transatlantische Sicherheitsstrukturen mißverstanden werden. Denn die gewandelte NATO versteht sich zunehmend als »Leasing-Agentur« für verschiedenste Konflikte weltweit. In Albanien demonstriert gerade Italien, wie NATO-Infrastruktur zur eigenen Interessenpolitik ohne personelle Beteiligung der USA genutzt werden kann. Auch die französische und die Bundesregierung werden in der NATO für ein europäisches Profil ihrer künftigen Militäreinsätze streiten. Daß beide Regierungen daneben weiterhin im geringen Rahmen ihrer Einigungsmöglichkeiten gemeinsame Rüstungsprogramme und WEU-Kooperationen betreiben werden, dient mehr der nationalen Industrie- und Prestigepolitik, als einer ernst zu nehmenden »Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik«.

Stefan Gose, Dipl.Pol., ist Redakteur der Monatszeitschrift antimilitarismus information/ami.

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

Auf dem Trockenen zu sitzen kann unangenehm sein. Einen allzu glücklichen Eindruck machen die Rekruten unseres Titelbildes keineswegs. Sie können trotz Anstrengung nicht vorankommen.

Jenseits interessierter Rhetorik: mit der Rückstufung militärisch-sicherheitspolitischer zugunsten ökonomisch-zivilisatorischer Fragen in Europa erleidet die NATO einen erheblichen Bedeutungsverlust. Das von James Baker bemühte Konzept des new atlanticism im Rahmen der NATO widerspiegelt besondere US-Interessen; für die Europäer sind EG, EFTA, KSZE die wichtigeren Adressen.

Die waffenstarrende Mitte Europas wird freundlicher aussehen: Die Armee des deutschen Einheitsstaates wird begrenzt; nukleare Artillerie wird abgezogen werden; die Todesarsenale werden schrumpfen. Es geht voran.

Betrachten wir die Sache nüchtern: Tatsächlich zeichnet sich ein übergangsweise erträglicherer modus vivendi ab. Schöne Reden können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der NATO ein grundlegender Bruch mit der Vergangenheit noch nicht vollzogen ist. Es geht um Modifikationen der Strategie.

  • Die Doktrin vom Ersteinsatz der Atomwaffen wird nicht ad acta gelegt. Auf einen »frühen Ersteinsatz« will man verzichten. Obwohl die jetzt unumgängliche Abrüstung wichtige Segmente der sog. flexiblen Erwiderung eliminiert, ist an eine Preisgabe selektiver Nuklearkriegführungsoptionen nicht gedacht.
  • Einen Großteil der nuklearen Gefechtsfeldwaffen wird man abziehen. Zugleich ist die Beschaffung von 450 neuartigen Abstandswaffen geplant, von denen 144 Stück in der Bundesrepublik stationiert werden sollen. Mit diesen luftgestützten, atomar bestückten Flugkörpern würde praktisch der INF-Vertrag unterlaufen.
  • Die bisherige Strategie der Vorwärtsverteidigung ist durch die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa nicht in der bisherigen Form haltbar. Da die alte Demarkationslinie abhanden gekommen ist, soll die »Vorneverteidigung« rundum und weiträumig stattfinden. D.h. man braucht kleinere, höchst mobile Einheiten und eine schlagkräftige Luftwaffe. Das bereits im letzten Jahrzehnt eingeleitete Grundmuster einer Rationalisierung der Abschreckungspolitik kann nunmehr beschleunigt umgesetzt werden: Rüstungsreduzierung und Modernisierung.

Hier wäre zugleich ein neues Betätigungsfeld für Rüstungsforschung und Rüstungsindustrie in Sicht. Die fatale Symbiose von Militär & Wissenschaft fand ihre Legitimierung in der Lokomotivrolle, die dem militärisch-industriellen-technologischen Komplex zugedacht wurde. Der Geist des industriellen Expansionismus, der uns die heutige Umweltkrise bescherte, erhielt von dieser Verbindung immer neue Nahrung. Die im Rüstungssektor hervorgebrachten Effizienzkriterien, die mit ökologischer und sozialer Rücksichtslosigkeit einhergehen: haben sie sich nicht auch in die Wissenschaften eingefressen? Wäre es nicht an der Zeit, die vergangenen Jahrzehnte des rapiden »wissenschaftlich-technischen Fortschritts« zu bedenken und genauer zu analysieren? Müßte dieser Diskussionsprozeß nicht in nahezu allen Wissenschaftsdisziplinen jetzt geführt werden?

Daß noch immer Altes Denken waltet, zeigen die in Militärkreisen heute üblichen Andeutungen über neue Bedrohungen. Der lange verdrängte Nord-Süd-Konflikt muß jetzt herhalten, um die latenten Ängste der Menschen vor ungewisser Zukunft für eine neue Sicherheitspolitik der Stärke zu instrumentalisieren. Soll Nachdenken über eine vernünftigere, sozial gerechtere Weltentwicklung von vornherein blockiert werden?

Und vergessen wir nicht die Machtanwandlungen, die einen Teil der Führungseliten hierzulande erfaßt hat. Deutschlands ökonomische Zukunft müsse „im Wettbewerb mit Japanern und Amerikanern“ (A. Baring) gesichert werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion werde Deutschland eine „Vormachtstellung auf dem Kontinent“ zukommen. Zwar heißt es, daß man diesen Einfluß nicht nutzen wolle, um zu herrschen, sondern um »der Welt dienlich zu sein«. Wie lange noch? Braucht die neue Weltmacht nicht doch adäquate Machtmittel, sprich militärische?

Wir sehen: viel Arbeit wartet noch auf uns.

Ihr Paul Schäfer