Maggie’s Weltmachtträume

Maggie's Weltmachtträume

von Jerry Sommer

Ost-West-Beziehungen haben nicht etwa eine Relativierung des britischen Atomwaffen-Credos, sondern im Gegenteil seine um so intensivere Verkündigung bewirkt.

Der Glaube an die nukleare Abschreckungsstrategie der NATO gehört zur Politik der gegenwärtigen britischen Regierung wie das Amen zur Kirche. „Nuklearwaffen sind die beste Verteidigung gegen einen Krieg, die es jemals gegeben hat“ – Premierministerin Margret Thatcher wird nicht müde, dieses Bekenntnis ständig zu wiederholen. Ein nuklearwaffenfreies Europa lehnt sie als Ziel ebenso ab wie eine nuklearwaffenfreie Welt. „Eine Welt ohne nukleare Waffen wäre wenig stabil und gefährlicher für uns alle“, erklärte sie in Moskau im Frühjahr 19871. Die britische Regierung begrüßte zwar überschwenglich das INF-Abkommen zur Eliminierung aller sowjetischen und amerikanischen landgestützten Mittelstreckenraketen über 500 Kilometer in Europa. Sie befürwortet auch ein START-Abkommen über die circa 50 prozentige Reduzierung der strategischen Atomwaffen der USA und der Sowjetunion. Doch diese Abrüstungsabkommen und die damit verbundene Entspannung der Ost-West-Beziehungen haben nicht etwa eine Relativierung des britischen Atomwaffen-Credos, sondern im Gegenteil seine um so intensivere Verkündung bewirkt.

Thatcher`s Akzente liegen dabei auf zweierlei: der politisch-ideologischen Aufrechterhaltung des Prinzips »nukleare Abschreckung« und der praktischen Durchsetzung einer »Modernisierung« der in Europa befindlichen Atomwaffen: „Wir müssen für die öffentliche Unterstützung der nuklearen Abschreckung Sorge tragen und daran denken, daß veraltete Waffen nicht abschrecken. Daher besteht die Notwendigkeit zur Modernisierung“, erklärte sie zum Beispiel jüngst in Brügge2. Die »Modernisierung« des eigenen Nuklearpotentials liegt der britischen Regierung verständlicherweise besonders am Herzen. Gegenwärtig besitzt Großbritannien vermutlich – die britischen Regierungen haben noch nie ihr Arsenal offengelegt – insgesamt circa 500 atomare Sprengköpfe3. Noch bilden 64 Polaris-Raketen den Kern der sogenannten »unabhängigen Abschreckungsmacht« Großbritanniens. Diese U-Boot-gestützten Potentiale gelten als »strategische« Atomwaffen, da sie Ziele in der Sowjetunion treffen können. Sie haben eine Reichweite von 2500 Kilometern und sind mit wahrscheinlich je zwei Anfang der 80er Jahre in Dienst gestellten Chevaline-Sprengköpfen bestückt. Die Sprengköpfe sind nicht einzeln steuerbar, so daß die 128 Bomben also nur 64 Zielgebiete erreichen können. Außerdem sind sie wegen ihrer Ungenauigkeit nicht zur Zerstörung gehärteter Ziele (Raketensilos, Kommandozentralen) in der Lage4. Die Polaris-Raketen sollen ab 1993/94 durch die modernsten, im Moment noch in der Entwicklung befindlichen amerikanischen Trident-D5-Raketen ersetzt werden. Diesen Beschluß faßte die Thatcher-Regierung 1982, also in den Hochzeiten des Reaganschen Aufrüstungs- und Kreuzzugkurses gegen die Sowjetunion5. An dem Programm – Kostenpunkt: circa 33 Milliarden DM – hält sie trotz der veränderten internationalen Rahmenbedingungen und der laut Umfragen mehrheitlichen Ablehnung der britischen Bevölkerung stur fest. Schließlich würde ja auch die Sowjetunion »modernisieren«. Wie jedoch aus anderen Waffen-Debatten bekannt, geht es bei dem Trident-Programm um weit mehr als eine schlichte »Modernisierung«. Laut den Regierungsplänen würde Großbritannien Ende der 90er Jahre über 512 einzeln steuerbare Sprengköpfe auf 64 U-Boot-gestützten Trident D5-Raketen (Reichweite 5000 Kilometer) verfügen.

Während die Sowjetunion und die USA über die Halbierung ihrer strategischen Atompotentiale verhandeln – und weitere Reduzierungen (START II) schon in der Diskussion sind – plant Großbritannien, die Anzahl seiner strategischen Atomsprengköpfe zu vervierfachen, die Anzahl der zu erreichenden Ziele in der Sowjetunion sogar zu verachtfachen. US-Wissenschaftler haben errechnet, daß ein britischer Nuklearangriff auf die Sowjetunion heute drei bis acht Millionen Menschen töten und rund 5 Prozent der sowjetischen Produktionskapazitäten zerstören würde. Nach der »Modernisierung« betrüge das britische Vernichtungspotential: Tod von 24 bis 28 Millionen Sowjetbürgern, Zerstörung der industriellen Basis der Sowjetunion bis zu 50 Prozent6. Doch Trident bedeutet nicht nur neue Quantitäten, sondern vor allem neue militärische Qualitäten der britischen Atomstreitmacht. Die Trident-D5 werden, so der britische Militärexperte Paul Rogers, weltweit „die bei weitem genauesten U-Boot-gestützten Raketen sein, die in diesem Jahrhundert in Dienst gestellt werden“ 7. Sie sind ebenso schnell wie die Pershing II und ähnlich zielgenau. Sie sind als Erstschlagswaffen zur Zerstörung von verbunkerten sowjetischen Raketensilos und Kommandozentralen geeignet. Die britischen Atomwaffen sind fester Bestandteil der NATO-Zielplanung. Zudem operieren die USA (wie auch die NATO) seit einigen Jahren entsprechend einer neuen, aggressiven maritimen Strategie der »Vorwärtsverteidigung«. Die Aufgabe der alliierten Seestreitkräfte besteht danach vor allem darin, zu Beginn eines Krieges die sowjetische Flotte noch in ihren Heimathäfen und -gewässern zu zerstören sowie die sowjetischen, mit strategischen Atomwaffen bestückten U-Boote „innerhalb der ersten fünf Minuten des Krieges“ zu zerstören, wie es der ehemalige US-Marineminister Lehman auf den Begriff brachte8. Es versteht sich von selbst, daß die britischen Trident-Raketen für eine maritime und nukleare Erstschlagstrategie der NATO eine erheblich größere Rolle spielen würden als die Polaris-Systeme. Zum britischen Atompotential gehören ebenfalls 200 bis 400 Nuklearsprengköpfe vom Typ WE 1779. Dieses sind Freie-Fall-Bomben mit einer Zerstörungskraft von bis zu 200 Kilotonnen – etwa zehnmal soviel wie die Bombe, die Nagasaki zerstörte. Sie sind für den Einsatz gegen Schiffe und U-Boote sowie gegen Ziele auf dem Land bestimmt. 148 bis 200 Sprengköpfe sind für den Abwurf von Tornado-Flugzeugen, die eine Reichweite von 1400 Kilometer haben und zum Teil in der Bundesrepublik stationiert sind, bestimmt… Die britische Regierung prüft seit längerer Zeit, auch im Rahmen der Modernisierungsbeschlüsse der NATO, eine Ersetzung der über 20 Jahre alten WE-177. Nach dem erneuten Wahlsieg der Konservativen im Juni letzten Jahres und nach dem Abschluß des INF-Abkommens hat die britische Regierung laut undementierten Zeitungsberichten formell den Beschluß gefaßt, als Nachfolgesystem eine luftgestützte Cruise Missile-Atomrakete ins Auge zu fassen10. Die Kosten werden auf etwa sieben bis zehn Milliarden DM veranschlagt. Sie soll Ende der 90er Jahr gefechtsbereit sein und nach Anforderungen der Royal AirForce eine Reichweite von 300 bis 450 Kilometern haben. In der Diskussion ist ebenfalls, sie mit der sogenannten »Stealth«-Technologie auszustatten, so daß sie von Radaren nicht geortet werden kann. Die ursprüngliche Überlegung, ob eine solche Rakete nicht zusammen mit Frankreich entwickelt werden könnte, scheint inzwischen ad acta gelegt worden zu sein. Andere Anforderungsprofile an das gewünschte System wie die Sorge vor einer Entfremdung Großbritanniens von den USA waren dafür ausschlaggebend. Nun wird eine gemeinsame Produktion mit den USA angestrebt11. Auch diese »Modernisierung« würde neue militärische Optionen – gezielte Atomschläge aus mittleren Entfernungen, eventuell bis knapp vor Moskau – ermöglichen. Einen konkreten Beschluß für ein bestimmtes System hat die britische Regierung jedoch bisher nicht getroffen. Die prinzipielle Entscheidung geht jedoch einher mit der generellen Befürwortung der »Modernisierung« der nach dem INF-Vertrag in Europa verbleibenden US-Atomwaffensysteme, speziell der Lance-Raketen. Das spezifisch britische Interesse daran dürfte auch daraus resultieren, daß 14 Lance-Trägersysteme zum Arsenal der britischen Rheinarmee zählen12. Die dazugehörigen taktischen Atombomben sind im Gewahrsam der USA. In Kriegszeiten geht die Verfügungsgewalt jedoch auf die Briten über. Darüberhinaus hat sich Margret Thatcher auch prinzipiell bereiterklärt, weitere US-Atomwaffen in Großbritannien zu stationieren, um die »Verluste« der landgestützten Cruise Missiles und Pershing II mittlerer Reichweite auszugleichen. Dafür sind eine Reihe von Optionen – luft- und seegestützte Cruise Missiles z.B. – in der NATO in der Diskussion. Auf der Tagung der Nuklearen Planungsgruppe der NATO im Mai letzten Jahres haben britische Offizielle schon ihre Bereitschaft bekundet, weitere US-Bomber vom Typ F-111 oder F-111A in Großbritannien zu stationieren. Im Juni dieses Jahres hat der US-Luftwaffenchef in Europa, General William Kirk, öffentlich erklärt, daß 50 F-111-Bomber Anfang der 90er Jahre ins Königreich gebracht werden würden. Der britische Verteidigungsminister George Younger hat zwar ausgeschlossen, daß diese oder andere neue US-Flugzeuge wie die F-15E-Bomber mit den gegenwärtig von den USA benutzten strategischen Cruise Missiles ausgestattet würden. Aber neue Cruise Missiles – Typen mit darunterliegenden Reichweiten – sind in den USA schon in der Entwicklung13. Die Sicherung dieses atomaren Aufrüstungsprogramms beeinflußt bzw. bestimmt auch die Haltung der britischen Regierung zur Frage weiterer nuklearer Abrüstungsmaßnahmen. Sie ist bestrebt, die britischen Kernwaffen so lange wie möglich aus dem Prozeß der Reduzierung der Atomarsenale auszuklammern. In bezug auf die strategischen Atomwaffen hat Thatcher noch im Frühjahr letzten Jahres bei ihrem Besuch in Moskau als Zeitpunkt eines potentiellen britischen Einstiegs in den atomaren Abrüstungsprozeß angegeben: wenn USA und UdSSR „mindestens eine Reduzierung der Interkontinentalraketen um 50 Prozent erreicht haben“14. Als ein halbes jahr später der INF-Vertrag unter Dach und Fach war und ein START- Abkommen in greifbare Nähe rückte, sattelte sie drauf: Erst wenn die USA und die Sowjetunion ihr strategisches Arsenal „weit mehr als 50 Prozent reduziert“ hätten, würde sich Großbritannien mit an den Verhandlungstisch setzen15. Keinerlei Aussagen der britischen Regierung liegen darüber vor, ob sie überhaupt einer Reduzierung der strategischen Arsenale der USA und der Sowjetunion über das geplante START-Abkommen hinaus positiv gegenübersteht. Sprecher des britischen Verteidigungsministeriums unterstreichen, daß auch im Beschluß der NATO vom März dieses Jahres nun die 50 prozentige Reduzierung der strategischen Nuklearpotentiale begrüßt und über weitergehende Abrüstungsmaßnahmen auf diesem Gebiet kein Wort verloren wird. Verhandlungen über weitere nukleare Abrüstung in Europa möchte Thatcher ebenfalls auf die lange Bank schieben: „Wir möchten, daß die konventionellen Streitkräfte auf eine Parität heruntergesetzt und die chemischen Waffen eliminiert sind, bevor jegliche weiteren Verhandlungen über Nuklearwaffen stattfinden“16.

Welche Gründe bewegen die Thatcher-Regierung zu solch einem prononcierten Atomwaffen-Aufrüstungskurs? Grundlage ist sicherlich, daß die Sowjetunion trotz Gorbatschow nach wie vor als potentieller militärischer Gegner angesehen wird und daß »Sicherheit« weiterhin vor allem militärisch definiert wird. Entsprechend dieser »Logik« müssen, soweit finanziell tragbar, immer die modernsten Waffensysteme in den Dienst gestellt werden. Der Wahnsinn des Wettrüstens angesichts der wachsenden globalen Probleme wie auch die durch die neuen Technologien bedingte Gefahr, daß die Hochrüstung nicht mehr kontrollierbar wird, sind nicht im Blick. Die Hoffnung, mit militärischer Überlegenheit (der NATO) politische und militärische Zugeständnisse der Sowjetunion erreichen zu können, dürften ebenso eine Rolle spielen wie die Interessen der – kleinen – britischen Kernwaffenlobby sowie des britischen Rüstungskapitals überhaupt. Die besondere »Liebe« der britischen Konservativen zu ihren Atomwaffen – und die laufenden » Modernisierungskampagnen« – dürften jedoch vor allem durch die Hoffnung bedingt sein, damit das politische Gewicht Londons in der Welt generell wie gegenüber den NATO-Verbündeten speziell erhöhen zu können. Die britische Bombe galt schon immer als entscheidendes Statussymbol, das einst weltbeherrschende Königreich vor dem Abstieg zu einer drittklassigen Mittelmacht zu retten.

Die »Modernisierung« dieses Statussymbols kommt nun zu einer Zeit, in der laut Aussage des Wahlprogramms der Torys 1987 Großbritannien, „wieder führend in die Weltpolitik eingreift“ und Margret Thatcher formuliert: „Großbritanniens Rolle und Ansehen in der Welt ist unermeßlich gewachsen, seit wir erfolgreich unsere häuslichen Probleme gelöst haben. Jetzt sind wir wieder in der Lage, die Führungsrolle und den Einfluß auszuüben, welche wir in der Geschichte immer innehatten“17. Mit dem Trident-Programm erhofft sich London, sein militärisches Gewicht gegenüber den USA – erst recht in Kombination mit einem Start-Abkommen – zu erhöhen. Gleichzeitig könnte es Großbritannien bei der Formulierung westeuropäischer NATO- und EG-Politik – besonders in der Außen- und Militärpolitik – einen Einfluß verleihen, den es sich anders gegenüber der zum Beispiel ökonomisch wie in bezug auf die konventionelle Armee weit stärkeren Bundesrepublik nicht zu gewinnen zutraut.

Die Pläne zur Entwicklung einer Kurzstrecken-Cruise-Missile dürften ebenfalls von britischen Überlegungen über die Zukunft der NATO gespeist sein. In ihrer Grundsatzrede zur Europa-Politik hat Margret Thatcher am 21. September 1988 deutlich gemacht, daß sie, in vorauseilendem Gehorsam, generell eine veränderte Verteilung der militärischen Lasten zwischen den USA und den westeuropäischen NATO-Mitgliedern für dringlich hält, um den US-Beitrag zur westeuropäischen Verteidigung beizubehalten. Mit der Entscheidung für eine Abstandsrakete möchte sie wohl mit gutem Beispiel in diese Richtung vorangehen. Damit könne die „europäische Bereitschaft demonstriert werden, nukleare Verantwortlichkeiten zu übernehmen und auf allen Ebenen zur flexible response beizutragen“ – so der britische, dem IISS angehörende Wissenschaftler Lawrence Freedman18. All diese Gründe für Thatcher`s rasanten atomaren »Modernisierungskurs« sagen nichts über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit aus, ihn zu verändern. Sie weisen jedoch auf die Schwierigkeit der Aufgabe hin, zumal in Großbritannien zwar der nationale Konsens über die britische Nuklearpolitik zerbrochen ist, Friedensbewegung und politische Opposition jedoch gegenwärtig keine Durchschlagskraft haben.

Anmerkungen

1 Zit. nach »Newsweek« v. 13.04.87 Zurück

2 Margret Thatcher am 20.09.88 in Brügge, zit. in The Guardian v. 21.09.88 Zurück

3 William Arkin: The Nuclear Arms Race at Sea, Washington 1987, laut: The Independent v. 28.10.88 Zurück

4 Vgl. Paul Rogers: A Guide to Britain`s Nuclear Weapons, London 1985, S. 13-15; derselbe: Trident becomes Mrs Thatcher`s surprice ace, in: New Statesman (London) v. 4.12.88. Die Polaris Raketen können drei Atomsprengköpfe tragen, allerdings gehen Experten davon aus, daß der dritte Platz mit Attrappen gefüllt ist; vgl. Arkin, Anmerkung 2). Zurück

51980 beschloß die britische Regierung schon, die Polaris-Systeme durch die Trident-C4-Raketen zu ersetzen. 1982 entschied sie sich dann für die modernste Trident Variante, obwohl deren Kosten etwa doppelt so hoch liegen dürften. Zurück

6 John Prados u.a.: Die strategischen Kernwaffen Großbritanniens und Frankreichs, in: Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1986, S.54 Zurück

7 Paul Rogers, in: New Statesman, 4.12.87 Zurück

8 Lehmann, zit. nach Jeremy Leggett: The next (nuclear) war happens at sea; in: New Statesman, 6.11.87, S.11 Zurück

9 Das Institut for Strategic Studies geht in seinem Jahrbuch »The Military Balance 1987-88«, London, 1987, S. 205, von 206 Sprengköpfen aus. Arkin (Anmerkung 2) kommt auf insgesamt 385 Sprengköpfe. Zurück

10 The Guardian, 29.02. 88 Zurück

11 The Sunday Times, 7.08.88 Zurück

12 Anzahl der Systeme laut IISS-Military Balance 1987-88, S. 204. Ebenfalls besitzen die Briten danach in der Bundesrepublik M-109- und M-110-Trägersysteme für atomare Gefechtsfeldwaffen. Vgl. auch Paul Rogers, A Guide to…, S. 19/20 (Anmerkung 3) Zurück

13 vgl. Paul Rogers: New Bombs for old, in: Sanity (London) 9/88, S. 21 Zurück

14 zit. nach Newsweek v. 13.04.88 Zurück

15 Thatcher am 7.12.87, zit. nach: The Independent v. 8.12.87 Zurück

16 Thatcher auf einer Pressekonferenz in Brüssel am 3.03.88, Transskript der britischen Regierung, S. 9. Zurück

17 Thatcher-Rede am 13.01.88 vor der Foreign Press Association, London, Transskript. S. 10 Zurück

18 Lawrence Freedman: Britain`s other nuclear forces; in: The Independent v. 21.01.88 Zurück

Jerry Sommer ist freier Journalist in London

Mit Zuckerbrot und Peitsche

Mit Zuckerbrot und Peitsche

Die NATO in den 90er Jahren

von Gregor Witt

Im November dieses Jahres werden in Hamburg ParlamentarierInnen aus den 16 NATO-Staaten im Rahmen der Nordatlantischen Versammlung (NAV) über die Zukunft der Militärallianz diskutieren. Ein eigens zum Thema »Die NATO in den 90er Jahren« eingerichteter Ausschuß unter Leitung des US-Senators William Roth hat mit einem Sonderbericht mit gleichem Titel bereits wichtige Eckpfosten für die Strategiedebatte in der NAV eingeschlagen.

Der im Mai 1988 veröffentlichte Bericht geht vor allem der Frage nach, wie angesichts des »grundlegenden Wandels« in den Beziehungen zwischen USA und Westeuropa die Zukunft der NATO aussehen soll. Ausgangspunkt sind die veränderten bündnisinternen Kräfteverhältnisse, die sich in der „Erhöhung der relativen Wirtschaftskraft und der politischen Möglichkeiten der westeuropäischen Bündnismitglieder widerspiegeln“. Auf diesem Hintergrund meinen Roth und Bundesgenossen, Westeuropa solle zukünftig mehr Verantwortung übernehmen und zugleich wirksamer an der Führung der NATO beteiligt werden. Sie schlagen vor, zu Beginn der Amtszeit des neuen US-Präsidenten eine Zusammenkunft hochstehender Vertreter der NATO-Staaten einzuberufen, die das politische Mandat der Militärallianz dahingehend neu beschließen sollen.

Zweiter NATO-Pfeiler

Genau zu der Frage, wie die NATO mit den veränderten bündnisinternen Kräfteverhältnissen umgehen kann, wollen Roth u.a. eine Antwort geben. Sie lautet: neben die beiden bisherigen Grundziele des Harmel-Berichtes („starke Verteidigung“ und „Dialog und Zusammenarbeit mit dem Osten“) soll ein drittes treten, nämlich die „Entwicklung hin zu einem echten westeuropäischen Pfeiler des Bündnisses“. Damit soll eine neue Qualität der transatlantischen Arbeitsteilung erreicht werden. Dafür, daß die Westeuropäer koordiniert ihre Rüstungsanstrengungen erhöhen, sollen die USA im Sinne der sogenannten erweiterten Abschreckung ihre Nuklearstreitkräfte in Europa beibehalten. Im Ergebnis soll es möglich sein, zu einer Harmonisierung der Verteidigungsplanung und Rüstungskontrolle in der NATO zu gelangen.

Damit ein echter zweiter NATO-Pfeiler aufgebaut wird, fordern Roth u.a. die Nutzung von bereits vorhandenen »Bausteinen«, die jedoch weiterentwickelt werden sollen, und einige neue:

  • eine jährliche gemeinsame Sicherheitsanalyse
  • eine Untersuchung der institutionellen Voraussetzungen für den Pfeiler sowie der Rolle, die die Westeuropäische Union (WEU) und die Europäische Gemeinschaft (EG) spielen können
  • die Bildung einer westeuropäischen Division als »schnelle Eingreiftruppe«
  • eine intensive Zusammenarbeit der militärischen Einrichtungen z.B. durch regelmäßige Kontakte zwischen den Militärstäben
  • die Schaffung eines westeuropäischen Rüstungsmarktes
  • eine arbeitsteilige Spezialisierung bei der Aufrüstung.

Am meisten Sorgen bereitet dem Ausschuß die Zeit des Übergangs zum zweiten NATO-Pfeiler. Denn neben einer denkbaren Eigendynamik der westeuropäischen Rüstungskooperation, die zu Konflikten mit den USA führen könnte, befürchtet er, daß in den USA isolationalistische Kräfte die Zeit für ein Disengagement in Europa für gegeben halten sowie »bestimmte Kreise in Europa« ihre Angriffe auf die USA und deren Politik verstärken könnten.

Hinzu kommt, daß in der öffentlichen Meinung des Westens die Bedrohung nicht als so akut angesehen wird, wie zur Rechtfertigung anhaltend starker Rüstungsanstrengungen erforderlich wäre. Eine Funktion der oben genannten Sicherheitsanalyse soll deshalb sein, die NATO-Rüstung zu legitimieren, weshalb sie den WählerInnen in »glaubwürdiger Form« dargeboten werden soll.

An atomarer Abschreckung festhalten

Die politischen Eckpunkte des Harmel-Berichtes sollen zwar erweitert werden, die strategischen Grundsätze aber im wesentlichen unverändert bleiben. Das bedeutet: die atomare Abschreckung wird für die absehbare Zukunft für unverzichtbar angesehen, an ihr soll festgehalten werden. Und dies unabhängig von allen Fortschritten bei der atomaren oder konventionellen Abrüstung. Bemerkenswert ist, daß der Bericht als »große Tugend« der flexiblen Antwort deren Kompromißcharakter hervorhebt. Er mache es möglich, „die verschiedensten, voneinander abweichenden Auffassungen bezüglich der Ansprüche an Abschreckung und Verteidigung unter einen Hut zu bringen“.

Mit dieser eleganten Formulierung gehen die Autoren der laufenden Debatte über das Strategiepapier „Discriminate Deterrence“, das von namhaften US-Autoren wie Kissinger, Brzezinski, Wohlstetter und Iklé erstellt wurde, aus dem Wege. Dabei hat das Dokument gerade unter Unionspolitikern in der Bundesrepublik grundsätzliche Zweifel in die US-amerikanischen Sicherheitsgarantien verursacht. So schreibt Volker Rühe in dem von ihm herausgegebenen Band „Herausforderung Außenpolitik“ (Herford 1988, Seite 16): „Die Empfehlung dieser Studie, das NATO-Atomwaffenpotential in Europa militärisch wieder brauchbarer zu machen, bedeutet im Kern den Ausstieg aus der das Bündnis einenden Philosophie des Risikoverbundes NATO, daß es im Bündnis keine Zonen minderer Sicherheit geben darf.“ Damit verbindet sich für Rühe die Befürchtung, Kissinger u.a. würden jene Kräfte in Westeuropa stärken, die wegen der vermeintlichen Führbarkeit eines auf Europa begrenzten Atomkrieges einer Denuklearisierung das Wort redeten.

Tatsächlich ist die NATO-Atomstrategie so schwammig formuliert, daß sich die westeuropäischen Militärexperten die Illusion bewahren können, die USA würden in einem Krieg in Europa zu einem frühzeitigen atomaren Schlagabtausch mit der Sowjetunion bereit sein. Und sie läßt zugleich den USA die Möglichkeit offen, mit Konzepten wie AirLand Battle einen auf Europa begrenzten Atomkrieg zu planen und vorzubereiten. Diesen Konflikt suchen Roth u.a. rein pragmatisch zu lösen, indem sie einerseits nachdrücklich auf eine Atomwaffenmodernisierung drängen, andererseits aber vorschlagen, sich nicht auf diesem Feld aufzureiben, sondern die von ihnen vermutete größere Übereinstimmung in Fragen konventioneller Rüstung zur Grundlage für gemeinsame Aufrüstungsmaßnahmen zu machen.

In ihrer Fixiertheit auf die Beibehaltung der Abschreckungsstrategie der NATO und der Vermeidung einer Denuklearisierung Westeuropas stellen sich Roth u.a. gar nicht erst die Frage, ob und wie angesichts der bekannten Fakten über Atomkriegsfolgen eine politische Strategie aussehen kann und muß, die zur Überwindung der atomaren Abschreckung führt. Das zeigen die von ihnen aufgestellten Richtlinien für Entscheidungen über Modernisierungen und Stationierungen:

  1. Umstrukturierung der Atombewaffnung zugunsten von Systemen längerer Reichweite und weg von Gefechtsfeldsystemen kürzerer Reichweite
  2. Verringerung der Gesamtzahl an Atomwaffen in Europa durch Rüstungskontrolle und konventionelle Rüstung, aber nur, soweit es mit der heutigen NATO-Strategie vereinbar ist
  3. die atomare Schwelle soll angehoben, nicht gesenkt werden
  4. Atomwaffen sollen Verbesserungen der konventionellen Rüstung ergänzen
  5. „… die militärische Logik von Stationierungen sollte eindeutig schwerer wiegen als die potentiellen politischen Kosten, wenn Stationierungen erfolgen sollen.

Für den Verzicht auf die Modernisierung der Atomraketen kurzer Reichweite nennen Roth u.a. zwei Bedingungen: entweder eine Rüstungskontrollvereinbarung, mit der die »Vorteile« der WVO bei Panzern verringert werden, oder ein technologischer Durchbruch bei der nicht-nuklearen Panzerabwehr. Bis es dazu kommt, soll die NATO mögliche Optionen zur Modernisierung des Lance-Raketensystems prüfen.

Höhere Priorität hat im Bericht der Vorschlag, die „Stationierung einer begrenzten Zahl luftgestützter Marschflugkörper an Bord von Kampfbombern in Europa“ zu prüfen. Das betrifft genau jene atomaren Systeme, die nach einem Abzug der Pershing II und Cruise Missiles diesen Systemen vergleichbare militärische Aufgaben erfüllen könnten, womit der Ausschuß für eine den INF-Vertrag unterlaufende Ersatzaufrüstung plädiert. Dem entspricht, daß als wichtigster Leitsatz der NATO für Rüstungskontrolle gelten soll, daß sie die Stationierungs- und Modernisierungsziele im Sinne einer »Komplementarität« ergänzt.

Qualitativen Rüstungsvorsprung halten

Mit einem pragmatischen Vorgehen bezüglich der konventionellen Aufrüstung will der Ausschuß erreichen, daß durch Einführung neuer Rüstungstechnologien der qualitative Vorsprung der NATO gegenüber der WVO gehalten(!) wird. Auch hier wird die Rüstungskontrolle der Aufrüstungspolitik untergeordnet: sie soll erreichen, daß die WVO-Streitkräfte durch radikale asymmetrische Verringerungen auf eine „ungefähre Parität“ mit der NATO abgebaut werden. Da Roth u.a. wissen, daß ihre Forderung nach einseitiger Abrüstung keine großen Realisierungschancen hat, schlagen sie kleinere Schritte wie die Diskussion über die jeweiligen Doktrinen und die Einrichtung eines Zentrums zur Vermeidung von Krisen vor. In diesem Zusammenhang ist das Minderheitenvotum von Budtz besonders bemerkenswert, der die behaupteten Überlegenheiten des Warschauer Vertrages grundsätzlich anzweifelt.

Gerade mit Blick auf die konventionelle Rüstung sieht der Bericht die NATO jedoch vor gravierende Probleme gestellt, weil zur heutigen Realität „… ein abgeschwächtes Bewußtsein um die Bedrohung, ein geringeres Rekrutenpotential in zahlreichen NATO-Staaten sowie Kürzungen bei den Rüstungsausgaben …“ gehören. Daraus ziehen Roth u.a. aber nicht den Schluß, umso aktiver auf Abrüstung zu drängen, sondern sie begründen damit die Forderung nach „effizientester Nutzung der verfügbaren Ressourcen“.

Zwei besondere Herausforderungen

Dem Bericht zufolge sind zwei der großen Herausforderungen für die NATO die öffentliche Meinung und – eng damit verbunden – die sowjetische Abrüstungsdiplomatie. Sorgen bereitet dem Ausschuß die öffentliche Meinung, weil sich das Bewußtsein zu Fragen der Sicherheitspolitik geschärft habe und diese aktiver erörtert würden. Hier stellt sich die Frage, welchem Demokratieverständnis diese sogenannten Volksvertreter folgen, wenn sie das gewachsene öffentliche Bewußtsein als Gefahr für ihre Politik statt als Anlaß zum Überdenken sehen und zugleich jede Alternative von vornherein für undenkbar erklärt wird.

Im Verhältnis zu den sozialistischen Ländern sieht der Ausschuß den Westen in dem Dilemma, einerseits der diplomatischen Herausforderung der Sowjetunion gerecht zu werden, andererseits die eigene »Verteidigungsposition« aufrecht erhalten zu wollen. Aus seiner Sicht kommt erschwerend hinzu, daß die sowjetische Zielsetzung der Denuklearisierung Europas an die im Westen bestehende „öffentliche Unruhe aufgrund der Atomwaffen“ anknüpfen kann. Zwar will auch der Ausschuß die Beziehungen mit dem Osten verbessern, er warnt aber zugleich davor, „so intensiv nach verbesserten Ost-West-Beziehungen zu suchen, daß dabei die fundamentalen Sicherheitsbedürfnisse außer Acht gelassen werden“.

Als fundamentales Bündnisinteresse gilt dem Ausschuß das Ziel der „Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands“. Das soll die NATO weiterhin mit „oberster Priorität“ anstreben. Mittel dafür soll eine „Politik auf der Grundlage von »ausdrücklichem« Zuckerbrot und »impliziter« Peitsche“ sein. Das Zuckerbrot soll in wirtschaftlichen Vorteilen bestehen, die die sozialistischen Länder je nach Bereitschaft zur „Öffnung ihrer Systeme“ mehr oder weniger oder gar nicht erhalten sollen. Also wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht zum gegenseitigen Vorteil und zur Lösung gemeinsamer Aufgaben, sondern als Instrument zur „friedlichen“ Beseitigung des Sozialismus. Dabei läßt der Bericht (bewußt?) offen, welche Rolle die angestrebte militärische Stärke spielen soll, wenn der „friedliche Wandel“ nicht durchsetzbar ist.

Zwar erkennen die Ausschußmitglieder, daß im Wettbewerb zwischen Ost und West „der Erfolg oder Mißerfolg in Friedenszeiten weitestgehend an der Lebensqualität gemessen wird“. Dennoch scheuen sie sich, daraus die Konsequenz zu ziehen, und eine eigene Abrüstungspolitik zu entwickeln, die Spielräume für die Erfüllung drängender ziviler Aufgaben wie Überwindung der Arbeitslosigkeit, Umweltschutz, soziale Beherrschung der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und Hilfe für die »3. Welt« schaffen könnte.

Während viele Menschen angesichts der globalen Probleme nach neuen, friedlichen Formen weltweiter Zusammenarbeit suchen, schlägt der Ausschuß die Bildung einer „Westlichen Arbeitsgruppe über globale Sicherheitsfragen“ vor, die die internationalen Beziehungen weiter zu militarisieren droht. Die Gruppe soll unter Einbeziehung von Japan und anderen westlichen Staaten, die nicht der NATO angehören, vor allem das Vorgehen gegenüber Ländern der »3. Welt« koordinieren. Roth u.a. denken dabei an sich ergänzende nationale und bilaterale Eingreifformen einschließlich militärischer Interventionen einzelner westlicher Staaten.

Der NAV-Bericht setzt allen Erkenntnissen über die Notwendigkeit politischer Friedenssicherung und gleichberechtigter Zusammenarbeit zum Trotz das alte militärisch fixierte Schmalspurdenken fort. Alternative Konzepte wie die sozialdemokratischen Vorschläge für „gemeinsame Sicherheit“ und „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ werden keiner ernsthaften Auseinandersetzung für würdig befunden. Die offensive sowjetische Abrüstungsdiplomatie wird nicht als Möglichkeit für veränderte, entmilitarisierte Ost-West-Beziehungen begriffen, sondern als Gefahr, der mit einer Betonung westlicher Werte und der NATO als „Wertegemeinschaft“ begegnet werden soll.

Der Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Demokratie, Freiheit des Einzelnen und Herrschaft des Rechts und der Realität der NATO-Staaten wird jedoch von vielen BürgerInnen wahrgenommen. Das gilt insbesondere für die im Roth-Bericht bekundete Unfähigkeit bestimmter NATO-Kreise, die für ein Europa als Friedens- und Sicherheitsgemeinschaft notwendige Politik zu entwickeln. Bisher fehlen aber auch aus der Friedensbewegung noch konkrete Vorstellungen für einen Umbau Europas. Umso wichtiger ist, daß im Rahmen ihrer Aktionen aus Anlaß der NATO-ParlamentarierInnen-Versammlung in Hamburg mit einem Kongreß die Diskussion über »Alternativen zur NATO-Politik« vertieft werden soll.

Gregor Witt ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK)

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Dokumentation

1. Was ist die Nordatlantische Versammlung (NAV)?

Die NAV wurde 1955 gegründet und setzt sich aus ParlamentarierInnen der NATO-Staaten zusammen. Sie treffen sich ein- oder zweimal im Jahr in Plenartagungen (die nächste ist vom 14. – 19. November 1988 in Hamburg), um über die Allianzpolitik zu debattieren. Die NATO-Informationsabteilung nennt im NATO-Handbuch als Hauptaufgaben der 184 Mitglieder und ihrer StellvertreterInnen, „den Regierungen bei der Einbringung von Gesetzesentwürfen den Standpunkt des Bündnisses nahezubringen und in den nationalen Parlamenten das gemeinsame Gefühl der atlantischen Solidarität zu stärken“. Die NAV hat fünf ständige Ausschüsse, für bestimmte Fragen werden Unterausschüsse oder Arbeitsgruppen gebildet.

Ein solcher Unterausschuß unter Leitung des US-Amerikaners William Roth hat den Bericht über die NATO der 90'er Jahre vorgelegt. Aus der Bundesrepublik waren im Ausschuß Manfred Abelein (CDU), Peter Corterier (SPD) in seiner Funktion als Generalsekretär der NAV sowie als Experten Karl Kaiser (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) und Michael Stürmer (Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen). Außerdem z.B. der einflußreiche US-Senator Sam Nunn und der dänische Sozialdemokrat Lasse Budtz.

2. Aus dem Minderheitenvotum von Lasse Budtz, Sozialdemokratisches Mitglied des Folketing, Dänemark:

“(…) Zum Beispiel konzentriert sich der Bericht nicht genug auf die Möglichkeiten für Abrüstung und gibt Abrüstung und Entspannung nicht die höchste Priorität. Mehr oder weniger wird vorausgesetzt, daß der Westen unter allen Umständen Nuklearwaffen für viele weitere Jahre brauchen wird. Aber Nuklearwaffen garantieren nicht notwendig die Sicherheit. Sie können auch eine Bedrohung der Sicherheit sein. (…)

Der Bericht akzeptiert mehr oder weniger automatisch auch die Theorie, daß wir erst auf allen Gebieten und vor allem auf dem Gebiet der konventionellen Waffen aufrüsten müssen, um Abrüstung zu erreichen. Aber wenn es möglich ist, eine Vereinbarung über asymmetrische Verringerungen unter strikter Kontrolle zu erreichen, ist das weit eher vorzuziehen, als eine Vereinbarung über neue Strategien, die auf nichtbedrohlichen defensiven Systemen beruhen. (…)

Jede Modernisierung von Nuklearsystemen auf der Linie des sogenannten Montebello-Beschlusses kann den Aussichten für weitere Abrüstung in Europa schaden. Und die Notwendigkeit solcher Modernisierungen ist schwer zu verstehen, wenn es zweifelhaft ist, daß der Osten Überlegenheit bei allen Kategorien konventioneller Waffen hat, und solange wir nicht wirklich die Möglichkeiten für asymmetrische Reduzierungen der konventionellen Kräfte ausgeforscht haben.“

(Übersetzung von G.W.)

Doktrin der Verhütung eines Krieges

Doktrin der Verhütung eines Krieges

von Juri Lebedew

Unter den gegenwärtigen Bedingungen bedeutet die Sicherheit im globalen Maßstab ein solches Niveau der internationalen Beziehungen, bei dem es nicht nur keine größeren Kriege und Konflikte gibt, sondern auch ein stabiler Prozeß der Abschwächung der militärischen Konfrontation und der Beschränkung der militärischen Aktivitäten erfolgt sowie die Zuversicht und bestimmte Garantien dafür bestehen, daß ein Krieg, aus welchem Grund auch immer, nicht entfesselt werden wird.

Die Erkenntnis dessen findet ihre konkrete Widerspiegelung nicht nur in unserer Außenpolitik, sondern auch in den Schritten, die in den letzten Jahren auf dem militärpolitischen Gebiet unternommen worden sind. Ein Beispiel dafür liefert das neue Dokument der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags über die Militärdoktrin, das auf der Tagung des politischen beratenden Ausschusses im Mai dieses Jahres in Berlin angenommen worden ist. „Die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages hat ausschließlich Verteidigungscharakter. Sie geht davon aus, daß unter den heutigen Bedingungen die Regelung von Streitfragen mit militärischen Mitteln in keinem Fall zulässig ist“, heißt es darin.

Gerade die Erkenntnis der Gefahr, die über die Menschheit heraufgezogen ist, wurde zu jenem Ausgangspunkt, zu jener Grundursache, die dem neuen politischen und militärischen Denken einen Auftrieb gab. Mit anderen Worten trat im neuen Denken jenes Verantwortungsbewußtsein für das Schicksal der Menschheit, die mit dem Problem des Oberlebens konfrontiert ist, zutage, das der sozialistischen Gesellschaftsordnung eigen ist.

Es sei daran erinnert, daß die Militärdoktrin unter dem unmittelbaren Einfluß materieller Faktoren geformt wird: der militärökonomischen Möglichkeiten des Staates, des Erscheinens neuer Arten von Waffen und Kriegstechnik sowie der damit zusammenhängenden Veränderungen an der Organisationsstruktur der Streitkräfte und den Mitteln der Führung eines bewaffneten Kampfes. Im noch stärkeren, ja im entscheidenden Maße wird die Militärdoktrin unter den Einfluß des sozialen Inhalts der Politik geformt, die bestimmt, zu welchem Zweck, in welcher Richtung und in welchem Ausmaß die Streitkräfte zu entwickeln sind. Das in Berlin angenommene Dokument „über die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags“ bringt eindeutig den Verteidigungscharakter der Militärstrategie des Sozialismus zum Ausdruck, dient der Entwicklung des Dialogs zwischen den Warschauer Vertragsstaaten und der NATO wie auch der Verstärkung des Vertrauens in Europa.

Die wichtigste Besonderheit der Militärdoktrin des Warschauer Vertrags besteht darin, daß sie, ebenso wie auch die eines jeden seiner Teilnehmer, der Lösung der Kardinalaufgabe untergeordnet ist: der Aufgabe, weder einen nuklearen, noch einen konventionellen Krieg zuzulassen. Es ist nicht nur (und sogar nicht so sehr) zu bestimmen, wie die Vorbereitung des Staates und seiner Streitkräfte für einen bewaffneten Kampf durchzuführen ist, sondern vielmehr – wie die Vorbereitung des Staates und seiner Streitkräfte durchzuführen ist, damit ein Krieg nicht entfesselt werden kann. Mit anderen Worten gründet sich die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags ihrem militärpolitischen Wesen nach auf die Verhütung eines Krieges, nicht aber auf die Vorbereitung darauf.

Natürlich kann diese Orientierung der Militärdoktrin nicht nur auf dem Wunsch und der Bereitschaft zum Handeln einer Seite – im vorliegenden Fall der Teilnehmerstaaten der Organisation des Warschauer Vertrags – fußen. Es bedarf dazu auch entsprechender Anstrengungen der Mitgliedsländer der NATO. Heute kann man aber einen mehr oder weniger objektiven Beobachter schwer davon überzeugen, daß die Militärdoktrinen der USA und der NATO friedliebenden Charakter haben, daß sie auf die Verteidigung und die Verhütung eines Krieges abzielen. Die USA und die NATO verzichten nicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen, eskalieren enorm ihr strategisches Offensivpotential und streben militärische Überlegenheit an. Darum sind die sozialistischen Staaten gezwungen, neben den Maßnahmen zur Herabsetzung des Niveaus der militärischen Konfrontation, die das Kernstück der Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags bilden, auch streng dosierte Schritte zur Aufrechterhaltung des militärischen Kräftegleichgewichts zu unternehmen. Wie der Verteidigungsminister der UdSSR, Armeegeneral Dmitri Jasow betont hat, „verfolgen wir aufmerksam die militärischen Vorbereitungen der USA und der NATO, sehen die in diesem Prozeß erscheinenden gefährlichen Tendenzen und schätzen sie gebührend ein, sowie sorgen in diesem Zusammenhang dafür, daß sich unser Verteidigungspotential entsprechend entwickelt.“ Die Aufrechterhaltung des annähereden militärstrategischen Gleichgewichts ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Gewährleistung der Sicherheit unseres Landes und unserer Verbündeten. Die heute bestehende militärstrategische Parität ist nach wie vor der entscheidende Faktor der Nichtzulassung eines Krieges. Das Streben, die Parität aufrechtzuerhalten, ist für den Sozialismus jedoch kein Selbstzweck. Wir sind uns völlig darüber im klaren, daß ein immer höheres Niveau der Parität, dessen Zeugen wir in den letzten Jahren gewesen sind, unter den Bedingungen der sich beschleunigenden wissenschaftlich-technischen Revolution kein Mehr an Sicherheit bringt. Darum ist in der Militärdoktrin eindeutig die Aufgabe formuliert, nicht einfach das militärstrategische Gleichgewicht zu wahren, sondern auf einem immer niedrigeren und folglich auch weniger gefährlichen Niveau bis hin auf ein vernünftig hinreichendes Maß. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Dieser und andere Aspekte der Militärdoktrin der sozialistischen Länder sind mit ihren politischen Zielsetzungen untrennbar verbunden, die auf der Berliner Tagung des politischen beratenden Ausschusses formuliert wurden. Konkret geht es darum, daß die Aufgabe der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags darin besteht, ihre Streitkräfte in einem solchen Zustand und auf einem solchen Niveau zu unterhalten, die ihnen eine zuverlässige Verteidigung sichern und es ihnen ermöglichen, eine vernichtende Abfuhr zu erteilen, nicht aber einen Angriff zu unternehmen. Darum werden für die Streitkräfte und Rüstungen der sozialistischen Länder solche Grenzen festgelegt, die genau der Verteidigungsaufgabe des Warschauer Vertrags entsprechen – „das für die Verteidigung hinreichende Maß“. Die Erreichung dieses Maßes wurde als eine der wichtigsten Ziele der Militärdoktrin der sozialistischen Staaten bestimmt.

Bei ihren Vorschlägen, die nuklearen und anderen Arten von Massenvernichtungswaffen zu beseitigen, gehen die Sowjetunion und ihre Verbündeten davon aus, daß diese gefährlichsten Waffenarten nicht nur völlig beseitigt werden können, sondern auch müssen, um das für die Verteidigung hinreichende Maß zu gewährleisten. Aber nicht nur das. Es gilt, die nichtnuklearen Rüstungen und Streitkräfte zu reduzieren, und darüber hinaus – was recht wichtig ist – die Schaffung von qualitativ neuen Waffenarten und -systemen nicht zuzulassen, darunter auch Massenvernichtungswaffen, die auf neuen physikalischen Prinzipien beruhen.

Natürlich setzt eine solche Reduzierung und die Vernichtung ganzer Klassen und Arten von Waffen voraus, daß diese Maßnahmen durch politische, diplomatische und militärische Schritte ergänzt werden, die auf die Minderung der Konfrontation und die Festigung des gegenseitigen Vertrauens gerichtet sind. Zu diesen Maßnahmen können zum Beispiel gehören: die Bildung von kernwaffen- und chemiewaffenfreien Zonen sowie von Zonen der verringerten Konzentration von Streitkräften und erhöhten Vertrauens, die Beseitigung oder eine wesentliche Reduzierung der gefährlichsten Angriffsmittel usw. Im Komplex haben alle diese Schritte zum Ziel, solche Bedingungen, ein solches militärpolitisches Klima und eine solche Situation in der Welt und in Europa zu schaffen, bei denen keine der Seiten über Mittel und Kräfte für einen Überraschungsangriff sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügen würde.

Offensichtlich kommt in der Reihe dieser Maßnahmen eine große Rolle Schritten zu, die dabei behilflich sein würden, die Vorstellungen vom Charakter der Militärdoktrinen der einander gegenüberstehenden militärpolitischen Bündnisse zu präzisieren, den gegenseitigen Argwohn und das Mißtrauen gegen die Absichten des anderen, die sich im Laufe vieler Jahre angehäuft haben, abzubauen. Das ist ein wichtiger Bereich der militärischen Entspannung, dessen Bedeutung zu unterschätzen heute gefährlich wäre. Kurzum besteht das Ziel hierbei darin, die Militärdokrinen, Konzeptionen und Pläne zum operativen Einsatz der Streitkräfte so zu gestalten, daß sie auf streng defensiven Prinzipien beruhen. Darum richteten die Teilnehmerländer des Warschauer Vertrags an die Mitgliedsstaaten der NATO den Vorschlag, den unter den gegenwärtigen Bedingungen äußerst wichtigen Prozeß einzuleiten, nämlich die öffentliche Erörterung der militärischen Aktivitäten beider militärpolitischer Bündnisse.

Selbstverständlich könnte man im Verlaufe einer offenen Erörterung der Militärdoktrinen dieser Bündnisse und des Charakters des militärischen Aufbaus zwischen Vertretern der NATO und der OWV auch solche Fragen behandeln, wie den Umfang und den Gegenstand der Reduzierung der Rüstungen und Streitkräfte, die bestehenden Asymmetrien in ihrer Struktur, wie auch, welche Rüstungen für Verteidigungszwecke belassen werden können. Heute schon ist es unverkennbar, daß die Frage über die Nichtzulassung der Stationierung und über die Beseitigung der gefährlichsten Arten von nichtnuklearen Waffen, deren Charakter keinen Zweifel daran bestehen läßt, zu welchen Zwecken sie eingesetzt werden können, akut wird. Es handelt sich hierbei zum Beispiel um Marschflugkörper und ballistische Raketen, die mit nichtnuklearen Gefechtsköpfen versehen sind, um Aufklärungsangriffskomplexe, Salvenfeuersysteme und andere Arten von Angriffswaffen, wie auch um Panzer, Amphibienfahrzeug- und Landungseinheiten sowie um Einsatzgruppen. Ihre wesentliche Reduzierung und Beseitigung würde die Realisierung der Pläne von Angriffskriegen wesentlich erschweren. Im veröffentlichten Dokument über die Militärdoktrin heißt es diesbezüglich mit voller Bestimmtheit: „Die Vermehrung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa auf ein Niveau, auf dem jede Seite bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt.“

Es liegt auch etwas anderes auf der Hand. Eine solche Reduzierung der Streitkräfte und Rüstungen auf das hinreichende Maß, die Verwirklichung anderer militärpolitischer Maßnahmen, zu den die Länder des Warschauer Vertrags aufrufen, werden unvermeidlich ernste Organisationsmaßnahmen, Veränderungen an der Truppengliederung, an den Arbeitsvorschriften für die Stäbe der Truppen, der politischen und Gefechtsausbildung erfordern sowie radikale Veränderungen am gesamten System der Gefechtsführung und des militärischen Aufbaus vornehmen lassen. Denn das Dokument über die Militärdoktrin des Warschauer Vertrags ist keine Deklaration, sondern das Aktionsprogramm, das alle Gebiete der Kriegskunst und des militärischen Aufbaus umfaßt und dessen Grundprinzip das Verteidigungsprinzip ist.

Selbstverständlich werden konkrete Veränderungen an der Organisationsstruktur, an der Gliederung der Teilstreitkräfte in erster Linie von praktischen Schritten zur Herabsetzung des Niveaus der militärischen Konfrontation und davon abhängen, welches Niveau der gegenseitigen Reduzierungen es zu erreichen gelingt. Schließlich nicht zuletzt davon, inwieweit das allgemeinpolitische Klima in der Welt verbessert, die Atmosphäre des Vertrauens in den Beziehungen zwischen Staaten und militärpolitischen Bündnissen gefestigt wird. Die sowjetische Militärdoktrin – ich wiederhole – ist kein Dogma. Ihre Entwicklung ist in vieler Hinsicht vom Charakter der militärischen Vorbereitungen der USA und anderer NATO-Länder bedingt. Darum werden viele ihrer Festlegungen, die Ausrichtung der militärischen Ausbildung und des militärischen Aufbaus präzisiert und vervollkommnet werden in Anwendung an die Veränderungen der militärstrategischen Situation in der Welt. Zugleich sind die von den Teilnehmerstaaten der OWV ausgearbeiteten Festlegungen der Militärdoktrin – und das muß unbedingt betont werden – zu einem Pflichtteil der Kriegskunst und des Aufbaus der Streitkräfte der UdSSR und ihrer Verbündeten geworden. Das bezieht sich in vollem Maße auch auf die Fragen der Verteidigungsplanung, die Vorbereitung der Führungsorgane wie auch auf die Mittel zur Führung des bewaffneten Kampfes. Keine leere Deklaration ist zum Beispiel die Verpflichtung der UdSSR über den Nichtersteinsatz von Kernwaffen. Diese Verpflichtungen werden aufs Unmittelbarste berücksichtigt. Mehr noch, sie sind zielsetzend beim Aufbau und bei der Ausbildung der Verbündetenarmeen, einschließlich solcher „rein“ militärischen Fragen, wie der strategischen Planung, der Vorbereitung der Führungsorgane und

Systeme, der Ausbildung der Truppen und Stäbe, der Ausarbeitung von Methoden zur Führung eines bewaffneten Kampfes.

Es läßt sich ohne weiteres behaupten, daß kein einziger Staat, kein einziges Militärbündnis in der gesamten Geschichte der menschlichen Zivilisation ein derart umfassendes Programm von Sofortmaßnahmen zur Minderung der militärischen Konfrontation als grundsätzliche Festlegungen ihrer Militärdoktrinen formuliert haben. Noch nie in der Geschichte der Menschheit wurde die Verhütung, die Nichtzulassung eines nuklearen oder konventionellen Krieges als die Hauptaufgabe der Streitkräfte gestellt. Noch nie wurden diese Ziele in den Militärdoktrinen oder in der Militärstrategie von Staaten in einem solchen Umfang und mit derartiger Eindeutigkeit formuliert. Schließlich wurde noch nie zuvor die Rüstungsreduzierung, mehr noch, die Vernichtung einiger Waffenarten als Hauptziel der Militärdoktrin eines Staates gestellt. Das betrifft auch die Auflösung der militärpolitischen Bündnisse, für die sich die Teilnehmerstaaten der OWV einsetzen.

In diesem Zusammenhang muß gesagt werden, daß Maßnahmen zur Minderung der Kriegsgefahr heute von den herrschenden Kreisen des Westens im Gegensatz zur Militärdoktrin der sozialistischen Staaten, die die Rüstungsreduzierung als ihren vorrangigsten Bestandteil betrachtet, bestenfalls als eine Art „Anhängsel“ ihrer Militärdoktrin, als eine zweitrangige Ergänzung oder auch als ein Mittel einschätzt, der UdSSR und ihren Verbündeten ungleichberechtigte Vereinbarungen aufzuzwingen, sowie – es koste, was es wolle – militärstrategische Überlegenheit zu erlangen. Daraus resultiert das Bestreben Washingtons und einer Reihe seiner Verbündeten, der Sowjetunion solche Übereinkünfte aufzuzwingen, die ihre Sicherheit untergraben würden. Daraus resultiert die Negierung des Rechtes der UdSSR auf die Gleichheit und gleiche Sicherheit durch die Vereinigten Staaten, die Abkehr von den bereits geschlossenen Verträgen und Abkommen, die Aufstellung immer neuer und neuer Bedingungen, Linkages, Vorbehalte, die Verschleppungstaktik bei den Verhandlungen, die Versuche, sie zu Zwecken auszunutzen, die mit der Zügelung des Wettrüstens nichts gemein haben.

Die faktische Negierung des Prinzips der Gleichheit und der gleichen Sicherheit in der politischen Praxis durch die NATO unterwandert selbst die Grundlage der Umgestaltung der militärpolitischen Beziehungen in der Welt, weil man im vorliegenden Fall sich nicht mit der Anerkennung des Rechtes jeder Seite auf die gleiche Sicherheit „beinahe“ einverstanden oder nicht einverstanden erklären darf. Ohne die Anerkennung und faktische Einhaltung dieses Prinzips kann von keiner internationalen Sicherheit die Rede sein.

Die herrschenden Kreise der USA und der NATO, die der UdSSR und dem Warschauer Vertrag das Recht auf Gleichheit auf dem Gebiet der Sicherheit absprechen, weigern sich dadurch in Wirklichkeit, auch das militärstrategische Gleichgewicht zu wahren, setzen offen auf die Erlangung militärischer Überlegenheit. Die Gewährleistung der „absoluten“ Sicherheit nur für sich selbst bedeutet unter den gegenwärtigen Bedingungen – und darauf muß geradeheraus verwiesen werden – nichts anderes als Bestreben, eine Situation der „absoluten“ Unsicherheit für andere zu schaffen. Die absolute Sicherheit für sich selbst kann nur durch die Gewährleistung der gleichen Sicherheit für andere erreicht werden. Etwas anderes kann es im nuklear-kosmischen Zeitalter nicht geben.

Wir schlagen dem Westen vor, militärische Formen des Kampfes aus der sozialpolitischen Rivalität für immer auszuschließen, das Streben aufzugeben, die eigenen nationalen Interessen mit militärischen Mitteln zu gewährleisten, die Versuche, die eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten als überlebt zu verwerfen.

„Die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags werden niemals und unter keinen Umständen militärische Handlungen gegen einen beliebigen Staat oder ein Staatenbündnis beginnen, wenn sie nicht selbst einem bewaffneten Überfall ausgesetzt sind“, wird im Dokument über die Militärdoktrin unterstrichen. „Sie werden nie als erste Kernwaffen einsetzen. Sie erheben keinerlei territoriale Ansprüche, weder gegenüber einem europäischen noch außereuropäischen Staat. Sie betrachten keinen Staat und kein Volk als ihren Feind, sie sind hingegen bereit, mit ausnahmslos allen Ländern der Welt die Beziehungen auf der Grundlage der gegenseitigen Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen und der friedlichen Koexistenz zu gestalten.“

General Lew Besymenski (UdSSR) über das Neue Denken

Das neue Denken – es ist da, aber es muß noch gelernt werden. Das macht oft Mühe und Not, und es ist mit Fehlern behaftet, die auch wir begangen haben. Aber wir befinden uns in einem Lernprozeß, wobei wir auch von den Friedensbewegungen lernen müssen, nicht nur von den Regierungen. Was meine ich damit? Folgendes:

ERSTENS. Wir haben gelernt, daß für eine effektive Abrüstung das sogenannte Erbsenzählen nicht taugt. Erinnern wir uns an die Zeit der Stationierungsdebatte. Wieviel Zeit haben wir alle, auch die Sowjetunion, durch das Zahlenspiel verloren und nichts dabei gewonnen. Die Lehre daraus: Nur einfache und allen verständliche Beschlüsse gelten und taugen etwas, zum Beispiel ganze Raketenklassen, zumindest die Hälfte, aber nicht Prozentteile zu verschrotten. Wie wir sehen, hat das zu einem Resultat geführt.

ZWEITENS. Wir haben gelernt, daß wir nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn, Rakete um Rakete zurückzahlen müssen. Es gab eine Zeit, da haben wir auf jede Rüstungsbewegung der USA mit einer gleichen Bewegung geantwortet. So schraubte sich die Rüstungsspirale immer höher. Das muß aber nicht sein, so haben wir zum Beispiel ganz offen gesagt, daß wir auf die amerikanische SDI nicht mit der gleichen sowjetischen SDI antworten werden, sondern mit anderen – nebenbei gesagt: billigeren – Optionen.

DRITTENS. Wir haben gelernt, den Mut für einseitige Beschlüsse aufzubringen. Das sowjetische Atomtestmoratorium hat eine große Bedeutung gewonnen, und jetzt scheint aus der einseitigen eine beidseitige Entscheidung zu werden.

VIERTENS. Wir haben gelernt, daß auf dem Gebiet der Abrüstung Transparenz nicht unbedingt eine kapitalistische, sondern auch eine sozialistische Forderung sein kann. Wir müssen uns zur Leninschen Idee der offenen, direkten Diplomatie bekennen.

Das sind Elemente des neuen Denkens, die wir heute zur Lösung der Abrüstung anzuwenden versuchen.

Generalmajor Juri Lebedew, stellvertretender Leiter einer Verwaltung des Generalstabs der Streitkräfte der UdSSR.

Deutsch-französische Liaison

Deutsch-französische Liaison

von Johannes M. Becker

Viele Dinge scheinen in Bewegung im Bereich der (west-) deutsch-französischen Sicherheitspartnerschaft:

  • da wurden mit der Amtsübernahme der konservativen Regierung Kohl die deutsch-französischen Kontakte, das heißt die Kontakte mit den sozialistisch sich titulierenden Regierungen Mitterand/Mauroy bzw. Mitterand/Fabius, später mit der Cohabitations-Regierung Mitterand/Chirac, spürbar intensiviert;
  • da begann eine neue Hausse im Ringen um rüstungspolitische Großprojekte; nach dem Scheitern eines gemeinsamen Panzerprojektes versuchten sich Bonn und Paris mit dem „Kampfflugzeug der 90er Jahre“, nach dessen Scheitern mit dem Panzerabwehrhubschrauber für die 90er Jahre;
  • da nahmen Francois Mitterand und Helmut Kohl dankend eine Anregung Helmut Schmidts auf, und keine deutsch-französische Begegnung verging ohne ein Glaubensbekenntnis zur „deutsch-französischen Brigade“ (für Nichtfachleute: es handelt sich um ein etwa 2000–4000 Mann starkes Truppenkontingent, das in der Regel aus drei Bataillonen besteht; eine Brigade macht etwa ein Drittel einer Division aus, von der die Bundeswehr zwölf unterhält);
  • da machten Pierre Messmer, Ex-Premierminister und einer der „Barone“ der neogaullistischen RPR, und der Rechtssozialist und ehemalige Verteidigungsminister Charles Hernu den Vorschlag, französische Neutronenbomben, würden sie dereinst nach dem einsamen Beschluß des Staatspräsidenten gebaut (die erforderlichen Plutoniumsmengen werden – unter westdeutscher Kapitalbeteiligung – im Schnellen Brüter Superphönix von Malville bereits produziert), auf dem Boden der Bundesrepublik zu stationieren;
  • da hielten Bonn und Paris mit ihren auf der einen Seite vollständig in die NATO integrierten, auf der anderen Seite seit dem Eklat in der zweiten Hälfte der 60er Jahre aus der militärischen Integration der NATO rückstandslos zurückgezogenen Truppen ein gemeinsames Manöver ab – mit knapp 80.000 Soldaten übten hier („Kecker Spatz“) mehr Truppen die Kooperation als beim zeitgleich stattfindenden NATO-Manöver „Certain Strike“, und die 23.000 Franzosen stammten aus allen Bestandteilen der von den Sozialisten konzipierten „Force d´Action Rapide“, der hochmobilen „Schnellen Eingreiftruppe“ des Neokoloniallandes Frankreich;
  • da raisonnierten – ebenfalls Ende September 1987 – die Fachleute der staatlichen französischen Rüstungskonzerne über der Notwendigkeit eines „EUREKA militaire“, eines militärischen Adäquatums zum zivilen Versuch Westeuropas, der forschungs- und technologiepolitischen Herausforderung der USA und Japans zu entgegnen – mit deutsch-französischem Kern selbstverständlich.

Was steckt hinter dieser so breit angelegten Renaissance der sicherheitspolitischen deutsch-französischen Kooperation? Handelt es sich um mehr als um Ablenkungsmanöver von den unbewältigten sozialpolitischen Problemen in beiden Ländern, um mehr als um Wahlkampfränke für die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich und um Kompensationsversuche für die Kette der Wahlniederlagen der Christdemokraten in der BRD? Sind da Zusammenhänge zu konstatieren zu den derzeitigen Verhandlungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle?

Die Erklärungen müssen auf ein filigranes und nicht widerspruchsfreies Netz von Einzelfaktoren zurückgreifen. Die Hauptfaktoren seien als Leitgedanken aufgeführt:

  1. Frankreich will nach wie vor, und sein moderierter NATO-Austritt vor zwei Jahrzehnten ist nur der sicherste Hinweis hierauf, ein politisch und militärisch eigenständiges Westeuropa aufbauen. Vertreter nahezu jedweder politischer Couleur jenseits des Rheins halten die Protektionspolitik der USA in der Ökonomie für ebensowenig mit der gestiegenen Kraft Westeuropas vereinbar wie die Politik der von den USA aufoktroyierten Embargos. Das Röhrenembargo vom Beginn der 50er Jahre beispielsweise ist in Paris ebensowenig vergessen wie die fortwährenden Versuche Washingtons, mithilfe der COCOM-Liste die Bewegungsfreiheit der europäischen hochindustrialisierten Staaten (und Japans) in Richtung Kooperation mit den sozialistischen Ländern einzuengen. Immer wieder aktualisierte Restriktionen im Fluß von Forschungsergebnissen zwischen den USA und Westeuropa tun ein übriges.
    Ein stärkeres Westeuropa, in dem das nuklearbewaffnete Frankreich eine dominante Rolle spielen würde, ist jedoch nur in der Kooperation mit der Bundesrepublik zu erreichen.
  2. Die wirtschaftliche Krise unseres Nachbarlandes hat nun auch unmittelbar Einzug gehalten in den sicherheitspolitischen Bereich: Frankreichs Rüstungsexport, der nach gewaltigen Steigerungsraten unter Giscard d´Estaing und Mitterand in der Mitte der 80er Jahre 1,2 Millionen Menschen direkt und indirekt beschäftigte (davon 250.000 Ingenieure und Wissenschaftler) und mehr als fünf Prozent des französischen Exportes ausmachte, ist seit 1986 in einer gravierenden Krise: die Hauptwaffenkunden Frankreichs, die Länder des Nahen und Mittleren Ostens (die ab 1979 etwa 66 % der gesamten Waffenexporte abnahmen), sind durch die Ölpreis- und Dollarbaisse und durch den Golfkrieg in ihrer Zahlungsfähigkeit erheblich eingeschränkt; die mächtigen Rüstungskonzerne müssen erstmals in der Nachkriegszeit Arbeiter entlassen, und der internationale Konkurrenzdruck mit den neuen Konkurrenten aus der Dritten Welt (z.B. Brasilien, Israel) schmälert die Erträge überdies.
    Großbritannien mit seiner (wohlweislich) differenzierter angelegten Klientel hat Frankreich 1986 erstmals den weltweit dritten Rang unter den Waffenexporteuren abgelaufen; Frankreichs Weltmarktanteil von stark zehn Prozent droht acht Prozent geschmälert zu werden. Die BRD ist – nach dem Fortfall der letzten WEU-Hindernisse – ebenfalls auf dem Vormarsch im Weltwaffenhandel.
    Ein Faktor ist bei alledem für Frankreich besonders schmerzlich: das Rüstungsexportverhältnis Frankreich – USA hat sich vom Zeitraum 1965-1974 von einem erträglichen Verhältnis 1:2,8 zu einer katastrophalen Relation von 1:34 für die Jahre 1978-1982 entwickelt. (Großbritannien hat mit den Relationen 1:3,1 und 1:3,5 seine Stellung in etwa gehalten; die Bundesrepublik hat sich von 1:21 auf 1 :9,5 verbessert.*)
    Die Regierung Mitterand/Chirac scheint nun die deutsch-französische Kooperation beleben zu wollen, um im Verbund mit der ökonomisch und (waffen-)technologisch hochgeschätzten BRD – wenngleich nicht unter Aufhebung aller Konkurrenzlogen – den Anschluß an das Waffenexportgeschäft zu halten. (Den werbewirksamen Auftritten diverser Kabinettsmitglieder beiderseits des Rheins zum Trotze ist übrigens seit dem Beginn der 70er Jahre kein großes deutsch-französisches Kooperationsgeschäft mehr zustande gekommen.)
  3. Frankreich bringt in eine engere Waffenkooperation eine wertvolle Qualität ein: seine formelle Bündnisfreiheit. Diese erleichtert den Waffenverkauf an viele ungebundene Entwicklungsländer sowie in Krisengebiete erheblich.
  4. Die Konsequenzen aus dem Desaster der Waffenexportlage für das sensible Thema der hauseigenen, nach französischem Anspruch: national souveränen Rüstung sind im übrigen evident: Fällt der Waffenexport schwächer aus, müssen die Stückzahlen in der Produktion gesenkt werden, und die Einzelprodukte werden kostspieliger.
  5. Das Kapitel deutsch-französische Brigade scheint in erster Linie als politisches Instrumentarium geeignet, die jeweilige Bündnisnähe bzw. Bündnisferne zur NATO auszutesten – militärisch ist eine solche Brigade schlicht sinnlos. Allein in den Planspielen tun sich hier erhebliche Probleme auf: Frankreich fordert von der Bundesrepublik die vollständige Herauslösung dieser Brigade aus dem nordatlantischen Zusammenhang – alles andere ist in Frankreich nicht mehrheitsfähig. Hiermit verbunden ist die grundsätzliche Frage der französischen Strategen an die westdeutschen Partner, wie ernst es diesen mit Überlegungen einer stärkeren Eigenständigkeit gegenüber der US-Politik ist. Ein solcher Schritt ist wiederum für den atlantischen Musterknaben BRD nicht denkbar und würde wohl auch in Kreisen der NATO auf größtes Unverständnis stoßen.
    Wie sensibel das Thema NATO in diesem Zusammenhang ist, wurde im übrigen darin deutlich, daß auf französischen Druck hin der neue NATO-Oberkommandierende General Galvin und der deutsche Oberbefehlshaber Europa-Mitte, General Altenburg, von einer Manöverinspektion despektierlich ausgeladen wurden, was im NATO-Hauptquartier treffend als überaus unfreundliche Geste interpretiert wurde.
  6. Die NATO wiederum ist an fortwährenden Kontakten zu Frankreich interessiert; eine ausgleichende weltpolitische Sonderrolle dieses Landes erscheint vor allem den USA trotz der eklatanten Schwäche der dortigen Kommunisten und dem konstatierbaren Rechtstrend der Sozialisten als potentiell destabilisierend. Die Bundesrepublik bietet sich nun als Kontaktinstrument naheliegend an.
  7. Die Rolle der „Force d´Action Rapide“ (FAR) ist besonders zu behandeln:

    • Ihr Aufbau sollte zum einen den Anspruch Frankreichs auf seine globale Präsenz unterstreichen und hierzu die erforderlichen Mittel gewährleisten: ob es sich um Neukaledonien mit seinen Boden- und Meeresbodenschätzen handelt, um den Südpazifik mit den Atomtestgebieten oder um Französisch Guayana mit dem ESA-Startgelände für die profitträchtige Ariane-Rakete;
    • der Einstieg der „Schnellen Eingreiftruppe
    • beim Manöver „Kecker Spatz“ sollte zum anderen die Bereitschaft zur Teilnahme an der „Westeuropäisierung der Militärpolitik“ der Westeuropäer dokumentieren – Frankreich übte eine Ausweitung seines Sanktuariums.
  8. Die Diskussionen um die Neutronenbombe sowie um die Modernisierung der „Pluto“-Raketen zu den weiterreichenden „Hades“-Raketen sollen zum einen das internationale Territorium ausloten bezüglich dieser Ausweitung der französischen Einsatzräume, sie bedeuten des weiteren aber auch ein Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen offiziellen Militärstrategie Frankreichs, die da lautete, ein jeder Angriff auf französisches Territorium werde nach einer kurzen sondierenden Warnung mit den strategischen Atomwaffen beantwortet. Es geht also um die Glaubwürdigkeit der Nuklearwaffen als Ganzem.
  9. Zusammenhänge zwischen den aufgezeigten französisch-deutschen Aktivitäten und den derzeitigen Abrüstungsverhandlungen um die in Europa stationierten Mittelstreckenraketen scheinen evident – Staatspräsident Mitterand hatte die Verhandlungen begrüßt, hatte auch das bundesdeutsche Pershing Ia-Manöver für untauglich erklärt. Frankreichs Mittelstreckenwaffen wären im Falle einer Verschrottung von Pershing II und SS-20 die einzig auf dem Festland verbleibenden, die zudem den Vorteil besäßen, daß die USA keinerlei Zugriff auf sie besäßen.

Und daß in der Bundesrepublik nach wie vor ein Interesse an einem wie auch immer geformten „Mitspracherecht“ beim Einsatz von Atomwaffen besteht, äußerte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im deutschen Bundestag, Dregger, unlängst erneut.

Frankreich wird mittel- und langfristig weder in den militärischen Verbund der NATO zurückkehren, noch wird es seine Atomwaffen aus der Hand geben. Es wird jedoch seine Trümpfe weiterhin nutzen, um seine politischen Spielräume zu erhalten und ökonomische Problemlagen zu überstehen. Ein stabilisierendes Element ist jedoch im gesamten Agglomerat der deutsch-französischen Aktivitäten nicht zu verzeichnen.

Im Winter 1987/88 wird für den Gesamtzusammenhang meine umfassende Studie zu „Frankreichs Militär und Sicherheitspoetik unter Francois Mitterand im Spannungsfeld von nationaler Souveränität, NATO- und Westeuropaorientierung“ erscheinen (Schriftenreihe des Arbeitskreises Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung, Bd. 6, ca. 300 S., 20,00 DM; Bestelladr.: Neuhöfe 7, 3550 Marburg).

Johannes M. Becker, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Friedens- und Abrüstungsforschung an der Universität Marburg.

Europäische Verteidigungsinitiative

Europäische Verteidigungsinitiative

von Redaktion

Seit geraumer Zeit tun sich führende Unionspolitiker damit hervor, einen speziellen europäischen Beitrag zum amerikanischen SDI-Programm zu fordern. EUREKA soll v.a. dazu dienen, die neuen Waffensysteme im west- europäischen Verbund zu entwickeln. Der Leiter das Planungsstabes im Auswärtigen Amt, Konrad Seitz, hat jüngst ähnliche Gedanken geäußert: EUREKA richtet sich auf zivile Projekte. Daneben sollten europäische Projekte in der Rüstungskooperation stehen. … Auch hier gilt es endlich, nationale Egoismen zu überwinden und sich – im Rahmen der NATO-Strategie – auf eine Europäische Verteidigungsinitiative zu einigen (…)“ 1

In Bonn hat sich die Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Fraktion für den Einstieg in eine eigenständige europäische Verteidigungsinitiative ausgesprochen. Ihr Sprecher, Willy Wimmer, forderte eine „schutzorientierte Waffentechnik“! 2

Hinter den Kulissen stimmt sich das militärpolitische Management längst auf EVI ein. Da veranstaltet ein „European Institute For Security“ in Verbindung mit einer Initiative namens „High Frontier Europe“ am 21./22.6. in Rotterdam ein Seminar über die Konsequenzen von SDI für Westeuropa. Einer der Hauptredner: Kai Uwe von Hassel, Europapolitiker der CDU.

Das Institut für Raumfahrttechnik der Universität der Bundeswehr in München lädt ein zu einem – inzwischen aus Termingründen verschobenen – Seminar über das Thema „Initiative zur Verteidigung Europas“. Vorgesehene Referate der ursprünglich für den 27.9. angesetzten Tagung: „Bedrohung Westeuropas durch Kurz- und Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper“, Oberst K. M. Hoffmann, Carl Cranz Gesellschaft.

„Laser- Technologie“, Dr. G. Born, MBB. „Zielerfassung und Zielverfolgung für Hochenergielaser“, Dr. F. W. Linder, Fa. Diehl (Nürnberg).

„Ökonomische, politische und strategische Randbedingungen für die Europäische taktische Verteidigungsinitiative“, H. Horeis, .Geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift „Fusion“.

Dieser Heinz Horeis hat zusammen mit Michael Liebig einen Aufsatz unter der Überschrift „Strahlenwaffen für Europa „Initiative zur taktischen Verteidigung““ in Fusion 2. Mai 1985 verfaßt. Die Zeitschrift wird von einer Fusion Energy Foundation herausgebracht, die eng mit der sog. „Europäischen Arbeiterpartei“ (EAP) liiert ist. Mit wem die EAP verbunden ist wissen wir nicht. Immerhin sind diese obskuren Vereinigungen geeignet, Hauptreferenten bei solchen Seminaren zu stellen.

Im übrigen lädt auch die Carl-Cranz-Gesellschaft Ingenieure und Naturwissenschaftler aus Industrie, Behörden und Forschung bereits zu Lehrgängen in ihr Zentrum in Oberpfaffenhofen über Strahlenwaffen/Directed Energy Weapons ein. Die Vortragenden kommen von MBB, Fa. Diehl, DFVLR, Battelle- Institut, Fa. Heraues etc.

Es ist also höchste Wachsamkeit geboten, daß sich SDI nicht unter der Hand hierzulande durchsetzt. Die Friedensbewegung wird für Transparenz dieser Vorgänge zu sorgen haben.

Anmerkungen

1 Konrad Seitz, SDI – technologische Herausforderung für Europa, in: Europa-Archiv, Folge 13/1985, S. 389 Zurück

2 Frankfurter Rundschau v. 3. 9. 1985, S. 3 Zurück

Navigationssatelliten und Atomkriegsstrategien

Navigationssatelliten und Atomkriegsstrategien

von Kai Lorenzen

Seit zwanzig Jahren werden militärische Satelliten zur Positionsbestimmung und Navigation genutzt. Die technische Entwicklung auf diesem Sektor wird in den nächsten Jahren erheblich dazu beitragen, einen Atomkrieg führbar und gewinnbar erscheinen zu lassen.

Um die Bahn des ersten künstlichen Satelliten Sputnik 1 zu bestimmen, bedienten sich amerikanische Wissenschaftler des Doppler-Effekts: Die Senderfrequenz des Satelliten wird – abhängig von seiner Geschwindigkeit zur Bodenstation verschoben empfangen. Messungen dieser Frequenzverschiebung durch mehrere Stationen erlauben die Bahnbestimmung des Satelliten. Bald entstand die Idee, das Verfahren umzukehren und bei bekannter Satellitenbahn die Empfängerposition durch Dopplermessungen zu ermitteln. Aus geometrischen Gründen können so allerdings nur zwei Koordinaten des Empfängers bestimmt werden, die dritte Koordinate (in der Regel die Höhe) muß dazu bekannt sein.

Die amerikanische Furcht vor der Raketenlücke, eine politische Folge des Sputnik, resultierte unter anderem in der Entwicklung U-Boot-gestützter Nuklearraketen (POLARIS). Bedingung für deren Einsatzbereitschaft ist ein globales Navigationssystem, das mit ausreichender Genauigkeit nur durch Satelliten realisiert werden kann. Ein entsprechendes Konzept war bereits vorhanden, und so begann die Navy 1958 mit der Entwicklung des TRANSIT Satellitennavigationssystems 1, das 1964 der POLARIS-Flotte zur Verfügung stand. TRANSIT besteht aus fünf Satelliten in polaren Bahnen, die während ihrer 105-minütigen Umläufe etwa 18 Minuten lang von einem Standort aus beobachtet werden können. Während eines solchen „Durchgangs“ wird die Frequenzverschiebung gemessen und unter Verwendung vom Satelliten gesendeter Bahndaten die Position des Empfängers bestimmt. Da die Höhe auf See bekannt ist, stellt die Beschränkung des Verfahrens auf zwei Koordinaten kein Problem dar.

Die Satellitenbahnen werden aus Messungen von vier festen Bodenstationen bestimmt. Dabei entsteht gewissermaßen als Abfallprodukt ein Modell des Erdschwerefeldes, das militärisch außerordentlich wichtig ist. Nur wenn alle Unregelmäßigkeiten des Schwerefeldes bekannt sind, kann die Flugbahn ballistischer Raketen genau vorausberechnet werden. Somit ist TRANSIT in doppelter Hinsicht von großer militärischer Bedeutung.

Ein Nachteil des Systems ist, daß zwischen zwei Durchgängen Zeiträume bis zu mehreren Stunden liegen können. Trotz hochentwickelter Trägheitsnavigationsverfahren nimmt die Genauigkeit der Schiffsposition dann von etwa 50 m auf einige 100 m ab. Angriffe auf Punktziele sind so nicht möglich. Daher konnte Abschreckung in den sechziger Jahren nur auf Basis der mutual assured destruction glaubwürdig sein, McNamaras Konzept der Zerstörung militärischer Kommandozentralen und Raketenbasen (Counterforce-Doktrin) mußte als unrealistisch verworfen werden.

Die Sowjetunion hat wahrscheinlich 1968, gleichzeitig mit ihren ersten seegestützten Nuklearraketen, eigene Navigationssatelliten eingeführt. Sichere Hinweise auf dieses System, das sich nur unwesentlich von TRANSIT unterscheidet, sind seit 1972 veröffentlicht 2. Die UdSSR selbst hat jedoch erst 1978 den Start eines Navigationssatelliten bekanntgegeben. Deutlich wird daraus einerseits, wie die sowjetische Nachrichtenpolitik eine realistische Information der Öffentlichkeit über ihren Rüstungsstand erschwert. Andererseits ist aber sicher, daß die UdSSR wesentlich später als die USA mit der Entwicklung ihres Systems begonnen und das amerikanische Konzept weitgehend übernommen hat.

Aufgrund zunehmenden Drucks von industrieller Seite wurde TRANSIT 1968 für die zivile Nutzung freigegeben. Die Navy betrieb unterdessen ein Programm zur TRANSIT-Weiterentwicklung unter der Bezeichnung TIMATION. Gleichzeitig plante die Air Force ihr SYSTEM 6218 für kontinuierlich dreidimensionale Positionsbestimmung.

Beide Projekte wurden 1973 durch ein Memorandum des DoD vereinigt, das sowohl Folge eingetretener technischer Entwicklungen als auch ein direkter Schritt zur Schaffung der militärischen Grundlagen der Counterforce-Doktrin war. So entstand das Konzept des „Global Positioning System“ NAVSTAR 3. Ein gemeinsames Programmbüro wurde gegründet, in dem neben den Teilstreitkräften und der Defense Mapping Agency auch die NASA, die US-Luftfahrtbehörde und das US-Verkehrsministerium vertreten sind. Diese Behörden vertreten die zivilen Nutzer von NAVSTAR, haben aber kaum Einfluß auf die Systemplanung. Dafür spielen sie eine umso größere Rolle, wenn es um die Durchsetzung des 8-Mrd-Dollar-Projekts im Kongreß geht. Seit 1978 ist auch die Bundesrepublik zusammen mit acht weiteren NATO-Staaten durch einen gemeinsamen Vertreter im Programmbüro präsent 4. Nach derzeitigem Stand 5 soll NAVSTAR aus 18 Satelliten (Raumsegment) und neun Bodenstationen (Kontrollsegment) bestehen. Die Satelliten werden in sechs 12-Stunden-Bahnen so angeordnet, daß jederzeit und an jedem Ort mindestens vier von ihnen beobachtbar sind. Alle Satelliten sind mit synchronisierten Atomuhren ausgerüstet und senden ihre Bahndaten in zwei verschiedenen, zeitlich extrem genau definierten Codes. Die Empfängerposition wird aus den Laufzeitdifferenzen der zeitlich zusammengehörigen Codesegmente aller vier Satelliten bestimmt. Je höher die zeitliche Auflösung des Codes, desto genauer ist die Position, umso schwieriger ist aber auch die Identifikation der zusammengehörigen Codesegmente. Daher senden die NAVSTAR-Satelliten zwei verschiedene Codes, einen mit vergleichsweise geringer zeitlicher Auflösung (C/A Code) und einen mit zehnfach höherer Auflösung (P-Code). Nachdem der Nutzer seinen Standort näherungsweise mit dem C/A Code ermittelt hat, kann er die P-Code Segmente zuordnen und seine Positionsgenauigkeit um eine Größenordnung verbessern.

Das Kontrollsegment besteht aus 5 Tracking-, 3 Upload- und einer Masterstation, die im atomsicheren militärischen Weltraumzentrum bei Colorado Springs untergebracht werden soll. Ferner wird ein vollständiges mobiles Kontrollsegment entwickelt. Sollte auch dies in einem Nuklearkrieg zerstört werden, so können die Satelliten aufgrund ihrer Bahnkonfiguration immer noch etwa eine Woche lang ohne Genauigkeitseinbuße genutzt werden. Empfänger läßt das DoD für Luft-, Land- und Seefahrzeuge aller Art entwickeln und testen. Mobile Empfangsseinheiten soll es außerdem für das „Integrated Operational Nuclear Detection System“ eine Zusatzeinrichtung von NAVSTAR, geben. Alle Satelliten sind mit einem Detektor ausgerüstet, der elektromagnetische Pulse von Kernwaffenexplosionen registriert. Aus diesen Informationen lassen sich Ort und Zeitpunkt der Explosionen sehr genau ermitteln.

Seit 1977 werden Prototypen der Satelliten und Empfänger erprobt. Auch extrem schnell fliegende Kampfflugzeuge konnten dabei ihre Position kontinuierlich auf 30 m (C/A-Code) bzw. 3-5m (P-Code) genau bestimmen. Diese Ergebnisse waren selbst für das DoD überraschend und lösten wegen der möglichen Mitbenutzung von NAVSTAR durch die UdSSR Besorgnis aus. Der Nationale Sicherheitsrat beschloß kurz darauf, die Bahndaten des P-Codes aufwendig zu verschlüsseln und den C/A-Code absichtlich so zu degradieren, daß die Genauigkeit für nichtautorisierte Nutzer bestenfalls 100 m erreicht. Die betroffenen zivilen Anwender protestierten zwar leise, unterstützten aber weiterhin die politische Durchsetzung des Projekts. Hier ist anzumerken, daß ein ziviles Navigationssystem ähnlicher Genauigkeit nur einen Bruchteil der Kosten von NAVSTAR verursachen würde, da auf die teuren Maßnahmen zur Sicherstellung der Überlebensfähigkeit des Systems im Nuklearkrieg verzichtet werden könnte.

Es ist fast müßig, auf die Bedeutung von NAVSTAR in den neuen strategischen Konzepten der NATO hinzuweisen. Seit Carters Direktive 59 ist „counterforce“ auf dem Wege, ein realistisches Konzept zu werden. Dazu trägt NAVSTAR wie kaum ein anderes Rüstungsprojekt der letzten Jahre bei.

Die Sowjetunion beantragte 1982 bei der internationalen Fernmeldeunion Frequenzen für ein Navigationssystem unter der Bezeichnung GLONASS 6. Noch im gleichen Jahr brachte sie drei Satelliten in eine Umlaufbahn, die – soweit bisher bekannt den NAVSTAR-Satelliten weitgehend gleichen. Sechs Satelliten sind im letzten Jahr hinzugekommen, was die Vermutung nahelegt, daß es sich nicht um Prototypen, sondern bereits um einen Teil des Gesamtsystems handelt. Anscheinend hat die UdSSR auf eine ausgedehnte Testphase verzichtet und der baldigen vollen Verfügbarkeit des Systems höchste Priorität eingeräumt.

Offiziell wird GLONASS als zivil bezeichnet, was wohl bedeutet, daß auch der präzise Code frei verfügbar sein soll. Dessen Verschlüsselung wäre angesichts von NAVSTAR ohnehin überflüssig und kann als politische Geste gegenüber den zivilen Nutzern unterbleiben. Wenn die heutigen Informationen zutreffen, ist GLONASS jedoch für die UdSSR von ähnlicher militärischer Bedeutung wie NAVSTAR für die USA.

Beide Systeme sollen 1986 voll einsatzfähig sein. Damit wird der Atomkrieg für die Militärstrategen beider Großmächte mehr als je zuvor führbar und gewinnbar erscheinen. Ein nicht sehr beruhigendes Gleichgewicht.

Anmerkungen

1 Th. A. Stansell, The TRANSIT Navigation Satellite System Torrance 1978 (Magnavox) Zurück

2 ·C. D. Wood, G. E. Perry, The Russian Satellite Navigation System, in: Satellite Doppler Tracking, RS Discussion, London 1980 Zurück

3 R. E. Dew Review of the NAVSTAR GPS, in: Proc. 2nd int. Symposium on Satellite Doppler Positioning Austin 1979 Zurück

4 J. P. Tjardts NAVSTAR GPS, in: Ortung und Navigation 2/82 Zurück

5 ·B. W. Parkinson, S. W. Gilbert, NAVSTAR: GPS – Ten Years Later, Proc. of the IEEE Vol. 71 No. 10 1983 Zurück

6 Vortrag von Prof. Ya Kuschenkov und Poster der Kettering-Group, Symposium „Global Civil Satellite Navigation Systems“, London 1984 Zurück

Kai Lorenzen, Hamburg

Raketen und die Spaltung Europas:

Raketen und die Spaltung Europas:

Ein neues Wettrüsten bahnt sich an!

von Götz Neuneck

Der Streit um die amerikanischen Raketenabwehrpläne beherrscht nach Jahren relativer Ruhe, aber technischer Entwicklung und kontinuierlicher Finanzierung wieder die Weltpresse. Von einem »unvermeidbaren Wettrüsten« ist die Rede, insbesondere seit der russische Präsident Wladimir Putin im Falle einer Realisierung der amerikanischen Raketenabwehr in Ost-Europa nicht nur mit »Vergeltungsschritten« gedroht hat, sondern auch die »Möglichkeit eines nuklearen Konfliktes« als wahrscheinlicher bezeichnet hat.1

Die US-Administration betrachtet die geplante neue, vorgeschobene Abwehrkomponente für Raketen in Osteuropa (die dritte neben Abfangstellungen in Alaska und Kalifornien) ihres »Ground-based Midcourse Missile Defense Systems« (GMDS, bodengestützte Raketenabwehr für die mittlere Flugphase) als »begrenzte Abwehr«, die insbesondere gegen die ballistischen Raketen der sog. »Schurkenstaaten« wie Nordkorea und Iran, nicht jedoch gegen Russland oder China ausgerichtet sei.2

Russland fühlt sich auch vor dem Hintergrund einer fortschreitenden NATO-Ausdehnung, ungelöster Probleme um den Kosovo und des fortschreitenden Ausbaus der militärtechnischen Überlegenheit der USA (Stichworte sind Weltraumbewaffnung, Global Strike etc.) provoziert. Sogar die Kündigung wichtiger Rüstungskontrollverträge wie des multilateralen Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) oder des US-russischen Intermediate Nuclear Forces-Vertrags (INF) von 1987 über die vollständige Abschaffung von Mittelstreckenraketen wird von russischer Seite in Betracht gezogen.

Vor neuen »Trennlinien« in Europa als Konsequenz einer Stationierung warnte im März der damalige französische Präsident Chirac, und Außenminister Steinmeier befürchtete eine Spaltung des »alten und neuen Europas«. Gerät Europa ein weiteres Mal zwischen die Mühlsteine der USA und Russlands, die auf eine neue nukleare Konfrontation zusteuern? Was ist der Anlass für diese Kontroverse?

Seit Januar 2007 führen Emissäre der Bush-Administration offiziell Verhandlungen mit den Regierungen in Polen und Tschechien, um in den beiden Ländern die Stationierung einer Abwehrstellung mit zehn sog. »Ground-based Interceptors« (GBI, bodengestützten Raketen mit Abfangflugkörpern) bzw. eines hochauflösenden X-Band Radar (FBX) auszuhandeln.3 Die beiden osteuropäischen Regierungen unterstützen diese Pläne vehement. Ihnen geht es dabei weniger um Schutz gegenüber bisher nicht existierenden Raketen aus dem Iran, sondern um eine starke sicherheitspolitische Ankoppelung an die USA. Die Bevölkerung, besonders in Tschechien, lehnt die Pläne hingegen weitgehend ab. Die US-Pläne haben, wenn sie unkoordiniert umgesetzt werden, mehrere Konsequenzen:

  • Sie werden die Weiterverbreitung und den Bau von Raketen in Iran und Russland eher beschleunigen statt verlangsamen.
  • Da die jetzigen Pläne nicht ganz Europa abdecken, werden sie die Stationierung weiterer Abwehrsysteme z.B. im NATO-Kontext, nach sich ziehen.
  • Im Falle eines Abfangvorganges können die dabei entstehenden Trümmer über Russland oder Europa abstürzen und Schaden anrichten.
  • Die begrenzte Einsatzfähigkeit des GMD-Systems wird die Stationierung weiterer Interzeptoren und möglicherweise neuer Abwehrstellungen der USA, z.B. im Kaukasus, nach sich ziehen. Großbritannien, Dänemark und die Ukraine haben ebenfalls bereits Interesse signalisiert.
  • Die nukleare Abrüstung wird begraben werden, da nur der Erhalt des russischen offensiven Abschreckungsarsenals eine begrenzte Abwehr »ausgleichen« kann, wenn man die Abschreckungsidee aufrecht halten möchte, die ja im Wesentlichen auf einer einsetzbaren Zweitschlagsfähigkeit beruht.

Raketenabwehr »sobald technisch möglich«

Eine Kooperation mit Russland hingegen könnte diese Entwicklung in vernünftige Bahnen lenken. Des Weiteren würde die Lösung der Nuklearkrise mit Iran die Abwehr in Osteuropa überflüssig machen. Die US-Pläne wurden im Wesentlichen ohne vorherige umfassende Konsultationen mit den Verbündeten und Russland verfolgt. Nachdem sich Widerstand in Europa abzeichnete, wurde eine Charmeoffensive hochrangiger Beamter aus Washington gestartet. Außenministerin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Robert Gates schrieben in einer Kolumne: »Gerede über ein neues ›Wettrüsten‹ mit Russland ist anachronistisch und wirklichkeitsfremd«.4 Den sichtbaren Gegenbeweis lieferte Russland: Im Mai testete es eine neue mobile Interkontinentalrakete RS-24, die für Mehrfachsprengköpfe zur Überwindung der Raketenabwehr geeignet ist. Auch Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander-N (500 km Reichweite) wurden getestet. Weitere Systeme sind in der Entwicklung.5 Kann ein neues Wettrüsten, in das Europa einbezogen wird, dennoch vermieden werden?

Vor fünf Jahren, am 13. Juni 2002, vollzogen die USA die Kündigung des Raketenabwehrvertrages, um eine begrenzte, aber globale Raketenabwehr aufzubauen und zu stationieren, »sobald dies technologisch möglich ist«.6 Seit 2002 wurden von den USA für Entwicklung und Bau der Raketenabwehr ca. 41 Milliarden US-Dollar aufgewendet, dennoch war in dem Zeitraum nur ein Test am 1. September 2006 erfolgreich.7 Insgesamt hatten von zehn Abfangversuchen seit dem Jahr 2000 lediglich fünf Erfolg. Von einer funktionierenden Abwehr kann deshalb nicht die Rede sein, zumal die Tests nicht unter operativen Bedingungen stattfinden, sondern sorgfältig vorgeplant sind und sich technischer Tricks bedienen, um noch nicht existente Komponenten des Gesamtsystems zu simulieren. Die Achilles-Ferse des GMD-Systems, die Überwindung durch einfach realisierbare Gegenmaßnahmen (Ballone, Attrappen etc., die im Weltraum gemeinsam mit den Sprengkörpern aus der Rakete freigesetzt werden können), ist nach wie vor vorhanden.

Der US-Kongress kürzte die Ausgaben der Missile Defence Agency (MDA, Behörde für Raketenabwehr im US-Verteidigungsministerium) auch für die europäischen Komponenten mit dem Hinweis, die Systeme hätten noch nicht ihre Funktionsfähigkeit gezeigt. Phil Coyle, ehemaliger hoher Pentagon Beamter, und während seiner Amtszeit verantwortlich für die Entwicklung und das Testen von US-Waffensysteme, stellte fest: »Die MDA war bisher noch nicht in der Lage, die effektive Fähigkeit eine idealisierte Bedrohung unter realistischen operativen Bedingungen nachzuweisen«. Diese sehr begrenzte Fähigkeit ist auch den russischen Planern bekannt. Wieso reagiert Putin dennoch so heftig mit dem Hinweis auf eine veränderte strategische Stabilität im Falle der Stationierung von Raketenabwehrkomponenten in Europa?

Raketenrüstung gegen Raketenabwehr

Die russischen Planer gehen zunächst stets vom »best case« aus und nehmen an, die USA werden die genannten technischen Schwierigkeiten überwinden. Für sie ist die GMD-Stellung in Europa nur die Spitze eines Eisbergs. Sie sind überzeugt, dass sukzessive weitere Stellungen und Interzeptoren folgen werden. Natürlich können diese geplanten zehn Anti-Raketen-Raketen zunächst nichts gegen die ca. 493 landgestützte Interkontinentalraketen Russlands ausrichten. Dieses Argument ist zwar zutreffend, lässt aber außer Acht, dass die Zahl der russischen Langstreckenraketen altersbedingt in den nächsten Jahren sinken und die Überlegenheit der US-Systeme weiter steigen wird.

Russische Ängste vor einem Erstschlag werden geschürt, zumal das Radar in Tschechien wichtige Startinformationen von aufsteigenden Raketen aus Russland in Richtung USA an diverse andere Raketenabwehrstellungen in Nordamerika8 melden (oder auch Testflüge von russischen Raketen detailliert beobachten) kann. Insbesondere das Aussetzen der Sprengköpfe und Attrappen kann von Tschechien aus beobachtet werden. Die Einführung umfassender Raketenabwehr und damit die Möglichkeit der USA, einen russischen Zweitschlag abzuwehren, würde die strategische Balance langfristig ändern. Auch die überall kolportierte Aussage des MDA-Direktors General Obering, dass in Polen stationierte Interzeptoren russische Raketen nicht erreichen könnten, trifft nicht zu. Simulationen einer Arbeitsgruppe am Massachusetts Institute for Technology (MIT) widerlegen diese Aussage für die drei westlichen Raketenfelder und die dort stationierten Interkontinentalraketen Russlands – die erheblich näher liegen als der Iran. Ein Ausbau russischer Raketenabwehrsysteme ist in diesem Fall fast unvermeidlich.

Auch die US-Abwehrstellungen in Osteuropa mit russischen Raketen zu bedrohen, ist militärtechnisch »logisch«, trägt aber ebenfalls nicht zur Lösung der Krise bei, denn auf Drohungen reagieren die Osteuropäer mit dem Hinweis, dass ihre Ängste gegenüber Russland offensichtlich doch berechtigt sind. Dass dies als Konsequenz des durch die Raketenabwehr veränderten strategischen Gleichgewichts betrachtet werden muss, wird dann schnell vergessen sein.

Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 schlug Präsident Putin zur Überraschung des Westens vor, statt des FBX-Radars in der tschechischen Republik ein russisches Frühwarnradar in Gabala/Aserbaidschan zu nutzen bzw. den Irak oder die Türkei in die Raketenabwehr einzubeziehen. Der vorgeschlagene Standort in Aserbaidschan hat den Vorteil, dass ein dort positioniertes Radar einen guten Blick auf den Iran bietet, aufgrund der Kaukasus-Berge und der Erdrundung jedoch nicht signifikant in das russische Territorium hineinschauen und russische Raketen verfolgen kann. Die Tatsache, dass Russland das Radar betreiben würde, missfällt dem Pentagon jedoch. Immerhin hat Präsident Bush den Vorschlag als interessant bezeichnet, und es wurde eine amerikanisch-russische Arbeitsgruppe eingesetzt, die Einzelheiten diskutieren soll. Hier wird sich zeigen, ob die USA ihre oft wiederholtes Angebot, mit Russland in Sachen Raketenabwehr zusammenzuarbeiten, auch ernst meinen oder ob der Aufbau der Raketenabwehr letztlich doch auch gegen Russland gerichtet ist. Im Juli werden sich die beiden Präsidenten am Sommersitz der Familie Bush in Kennebunkport treffen. Dann wird sich zeigen, ob eine Einigung möglich ist.

Ginge es den USA und der NATO tatsächlich nur um eine potenzielle iranische Bedrohung, wäre eine Zusammenarbeit mit Russland sowie ein ernsthaftes Bemühen um eine Lösung des Nuklearstreits mit dem Iran die naheliegende Lösung. Gelingt eine Einigung nicht, so ist ein neues Wettrüsten fast unvermeidlich. Leidtragende wären in erster Linie die Europäer und auch die europäischen Rüstungskontrollerfolge wie z.B. der KSE- oder der INF-Vertrag, jahrelang wesentliche Stabilitätsanker in Europa, könnten zusammenbrechen. Die wieder aufflammende Kontroverse um die Raketenabwehr zeigt, dass die beiden großen Nuklearmächte immer noch nicht aus der Falle nuklearer Abschreckung und Überrüstung entkommen sind, die sie selbst im Kalten Krieg aufgebaut haben.

Anmerkungen

1) Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2007, 07:16 [http;77www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/922/116806/].

2) White House: National Policy on Ballistic Missile Defense Fact Sheet, 20. Mai 2003 [http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/05/20030520-15.html].

3) S. Hildreth/C. Ek: Long-Range Ballistic Missile Defense in Europe, 22. Juni 2007, Congressional Research Service Report for Congress, Washington D.C. 22. Juni 2007.

4) Süddeutsche Zeitung 16. April 2006, S.1.

5) Florian Rötzer: Neue russische Raketen gegen US-Raketenabwehrsystem, Telepolis 30.05.2007 [http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=/tp/r4/artikel/25/25391/1.html&words=Putin&T=Putin].

6) National Missile Defense Act of 1999, Public Law 106-38 [http://Thomas.loc.gov/cgi-bin/query/z?c106:S.269:].

7) Wade Boese: Missile Defense Five Years after the IBM-Treaty, Arms Control Today, Juni 2007.

8) Zur Zeit sind ca. 20 Interzeptoren in Alaska und Kalifornien stationiert. Diese Zahl soll ausgebaut werden. Das taktische System THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) zum Abschuss von Sprengkörpern kurz vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre kann sogar über 1.000 Interzeptoren verfügen.

Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am IFSH und Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien

Von deutschem Boden geht Krieg aus

Von deutschem Boden geht Krieg aus

Die Funktion der ausländischen Militärstützpunkte

von Hans-Peter Richter

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 4/2008
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Friedensrat

US-Amerikanische Stützpunkte

Die Funktion der ausländischen Militärstützpunkte

Deutschland führt Krieg. Das hat sich nach den jüngsten »Kollateralschäden« in Afghanistan sogar bis in die deutsche Medienlandschaft hinein herumgesprochen. Aber die deutsche Mitverantwortung für Kriege in aller Welt setzt viel früher ein: Da, wo die Truppen anderer Länder deutsches Staatsgebiet nutzen, um Kriege zu führen. Welche ausländischen Truppen sind in Deutschland stationiert, und was genau machen sie hier? Diesen Fragen widmet sich der vorliegende Text.

In der Bundesrepublik Deutschland sind heute 64.703 US-amerikanische Soldaten und Soldatinnen aus Armee (49.127), Luftwaffe (14.831) und Eingreiftruppen (Marines) stationiert, darunter das europäische Hauptquartier des Marine Corps.1 Das größte Armee-Kontingent ist das V. Corps in Heidelberg mit ca. 33.000 SoldatInnen und bis August 2008 unter dem Kommando von General-Leutnant Ricardo S. Sanchez. Wegen seiner Verwicklung in den Folterskandal im Abu-Ghuraib-Gefängnis wurde Sanchez als Oberbefehlshaber der US-Truppen im Irak abgelöst2, aber er diente weiter als Kommandeur des V. Corps in Deutschland. Seit September 2008 ist General Carter Ham neuer Kommandant.

Nach der Rückkehr der 1. Infanterie-Division von Würzburg3 in die USA ist die 1. Panzerdivision in Wiesbaden4 weiterhin dem V. Corps unterstellt. Zu ihr gehören 16.500 SoldatInnen, 159 M1A1 Abrams Panzer, 173 Panzer M2 Bradley IFV, 36 Haubitzen M109A6 Paladin, 18 Raketenwerfer M270 MLRS und 18 Hubschrauber AH-64 Apache.

Heute nutzt das US-Militär 65 Orte in Deutschland. Die britischen Truppen nutzen 18 Orte und haben 23.000 SoldatInnen in Deutschland stationiert. Für alle SoldatInnen zählt Deutschland als Heimatbasis, aber es sind nie alle hier, da immer einige militärische Einheiten im Krieg sind. In diesem Fall werden sie aus Deutschland zum Kriegsschauplatz transportiert. Nach dem Ende ihres Einsatzes kehren sie mit ihren Waffen nach Deutschland zurück und eine andere Einheit löst sie ab (Rotationsprinzip). So gehen ständig gigantische Militärtransporte auf der Schiene, auf dem Wasser oder in der Luft durch Deutschland. Ab 2007 wird noch mehr rotiert als vorher. Einige Einheiten werden nicht nach Deutschland zurückkommen, sie gehen aber nur in seltenen Fällen in die USA; eher liegt ihr neuer Stützpunkt weiter im Osten, bei den neuen NATO-Mitgliedern.

Nur geringe Truppenreduzierung

Ständig wird ein Abzug von US-SoldatInnen angekündigt, der dann aber nur zu einem Teil durchgeführt wird. So sprach im August 2004 US-Präsident George Bush von einer Reduzierung der im Ausland stationierten Streitkräfte.5 Er wollte Geld sparen für die Modernisierung von Waffen, um damit die schnelle Interventionsfähigkeit der Streitkräfte zu verbessern. Beginnend mit 2006 sollten ungefähr 45.000 GIs aus Europa abgezogen werden. Davon sind aber nur 6.100 SoldatInnen in Deutschland betroffen, zusätzlich 11.000 Familienangehörige, ungefähr 1.000 Zivilbeschäftigte der US-Armee und weitere 1.000 deutsche Zivilbeschäftigte.6 Das US-Verteidigungsministerium (DoD) kündigte am 29. Juli den Abzug seiner Truppen von 11 Stützpunkten in Deutschland im Haushaltsjahr 2007 an. Dieser geplante Abzug ist Teil des Abzugs des Hauptquartiers der 1. Infanterie-Division (1.ID) im Sommer 2006.7 Im August 2008 wurde eine weitere Umgruppierung und Truppenreduzierung angekündigt, aber diese würde nur 360 SoldatInnen betreffen.8

Nun hat US-Verteidigungsminister Gates entschieden, dass zumindest bis 2012/13 nicht drei, sondern fünf Brigaden, also nicht 28.000 sondern etwa 42.000 SoldatInnen der US-Army in Europa bleiben. Die Standorte der US-Airforce und der US-Marines in Deutschland in Ramstein, Spangdahlem und Landstuhl werden weiter ausgebaut. Auch neue Kampfverbände wurden aufgestellt, so z.B in Vilseck bei Grafenwöhr das »2nd Stryker Cavalry Regiment« (Eingreif-Regiment). Da der Transport von schweren Panzern schwierig ist, entwickelte das Pentagon den »Stryker«, einen kleineren Panzer, der einfacher per Flugzeug transportiert werden kann.

Der Ausbau der US-Garnison Kaiserslautern zum zentralen europäischen Logistik-Standort der US-Army wird konsequent fortgesetzt. Auch die für Beschaffung und Vertragsabwicklung mit Privat-Firmen zuständigen Army-Dienststellen werden im kommenden Jahr in die Westpfalz verlegt. (siehe Grafik 1)

armyrebasing.png

Grafik 1: Rebasing

Diese offizielle Grafik der US-Armee (Stand Oktober 2007) zeigt die Veränderungen von der Zeit des kalten Krieges bis heute und in der Zukunft. Sie ist allerdings sehr oberflächlich, weil sie die militärische Präsenz der USA in Deutschland nicht umfassend darstellt. Der Deutsche Friedensrat hat in seiner Analyse von 2006/2007 (nachzulesen auf der Homepage www.deutscher-friedensrat.de unter »Materialien«) recherchiert, dass die USA in Deutschland 63 Orte für militärische Zwecke und 9 Orte für Wohnanlagen nutzten. Davon ist auf der Karte nur ein kleiner Teil zu sehen. Die neueste Liste ist weiter unten zu finden.

Komfortable Unterbringung

Zu einem vollständigen Bild der militärischen Infrastruktur gehört sowohl die Beschreibung aller militärischen Anlagen, die von den USA zur Zeit mit 287 beziffert wird, als auch die aller zivilen Anlagen (Wohnsiedlungen, Einkaufszentren, Kindergärten, Schulen, Erholungszentren, Golfplätze, Burger Kings, eigene Wasserversorgung, eigenes Fernmeldenetz, Sportplätze, Sportgeschäfte, eigene Universität, Tankstellen, Autowaschplätze, Pizzerien, Busverkehr, Flugplätze, Feuerwehr, Kinos, Fitness-Center, Bowlingbahnen etc.). Da der Euro gegenüber dem US-Dollar stark an Wert gewonnen hat, geht es den US-SoldatInnen und ihren Familien ökonomisch bei weitem nicht mehr so gut wie in Zeiten des Kalten Krieges. Die deutschen Mieten können sich viele SoldatInnen und ihre Familien auch nicht mehr leisten. Deshalb geht das DoD immer mehr dazu über, abgeschlossene Wohnsiedlungen mit der ganzen oben beschriebenen Infrastruktur zu errichten, so dass die SoldatInnen und ihre Familienangehörigen das Gebiet nicht verlassen müssen. Eine riesige Anlage dieser Art ist z.B. bei Ansbach/Katterbach/Illeshausen in Bau.

Erst wenn man die vollständige Übersicht hat, wird klar, dass die Bundesländer Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern von Militärstützpunkten und der dazu gehörigen Infrastruktur nur so übersät sind.9 (siehe Tabelle 1)

SoldatInnen Zivilangestellte sonstige
Armee 49.127 8.127 32.778
Luftwaffe 14.831 1.250 2.238
gesamt 63.958 9.377 35.016
Dazu kommen ca. 75.000 Familienmitglieder. Insgesamt gibt es 14 Wohngemeinden.
Tabelle 1:
Anzahl US-SoldatInnen und Zivilangestellte in Deutschland

Die Angaben in Tabelle 1 stammen aus dem aktuellen Base Structure Report des DoD von 2007; sie können inzwischen etwas geringer sein. Grob gerechnet könnte sich in Zukunft eine Verminderung von 20% ergeben. Doch wie schon oben beschrieben läuft dieser Prozess eher langsam und mit weniger Veränderungen als angekündigt. Das liegt auch daran, dass die USA in keinem anderen Land derartig gute Bedingungen geboten bekommen wie in Deutschland. So gut leben viele US-SoldatInnen nicht einmal in den USA selbst. Eine sofortige Rückführung der im Ausland stationierten SoldatInnen in die USA ist gar nicht möglich, weil dort gar nicht genügend Wohnungen zur Verfügung stehen, ganz abgesehen von der komfortablen Infrastruktur. Zu einem großen Teil wird das auch noch von den Ländern bezahlt, in denen sie stationiert sind. Dabei tun sich besonders Japan und Deutschland hervor (siehe unten).

Deutschland spielt eine Schlüsselrolle

Wenn man die US-Militärstützpunkte außerhalb der USA miteinander vergleicht, stellt man fest, dass in Deutschland heute mehr US-Militärstützpunkte und mehr US-SoldatInnen sind als in jedem anderen Land der Welt, ausgenommen in den Kriegseinsätzen im Irak und in Afghanistan. Die US- und die britischen Truppen haben Deutschland nach 1945 nie verlassen. Der Base Structure Report (BSR) des DoD listet alle eigenen und gepachteten Liegenschaften und ihren Wert auf. Im aktuellen BSR heißt es: „Der Bestand an Grundeigentum, der vom DoD verwaltet wird, (…) umfasst sieben US-Territorien und 39 fremde Länder, wovon die Mehrzahl aller Standorte in Deutschland (287), Japan (130) und Süd-Korea (106) sind.“ 10

Die Bundesregierung weiß um die herausragende Rolle, die Deutschland für die Kriegsführung spielt. Als im Jahre 2003 der Irak-Krieg begann und die US-Regierung wollte, dass Deutschland sich auch mit Truppen beteiligt, wurde das von der damaligen Regierung unter Kanzler Schröder abgelehnt. Ansonsten aber unterstützte die Bundesregierung die Kriegsführung intensiv. Um diese Unterstützung zu beweisen, veröffentlichte die Pressestelle der deutschen Botschaft in den USA, das German Information Center, ein »Fact Sheet: American Bases in Germany« unter der Internet-Adresse www.germany.info. (Das Dokument ist leider nicht mehr online, liegt aber dem Autor vor.) Darin gibt es eine Deutschland-Karte, in der die wichtigsten US-Militärstützpunkte eingezeichnet sind. Der englische Text lautet übersetzt:

„Mehr als 100.000 Militärangehörige und ihre Familien sind in Deutschland auf den US-Militärstützpunkten zu Hause in:

Ramstein / Landstuhl / Kaiserslautern Militär-Siedlung: 34.000 Militärangehörige und Familie,

Grafenwöhr / Hohenfels: 24.500 Militärangehörige und ihre Familien,

Heidelberg: 16.000 Militärangehörige und ihre Familien,

Spangdahlem: 12.000 Militärangehörige und ihre Familien,

Schweinfurt: 12.000 Militärangehörige und ihre Familien,

Stuttgart: 10.800 Militärangehörige und ihre Familien,

Wiesbaden: 5.500 Militärangehörige und ihre Familien,

Mannheim (Coleman-Kaserne): 5.000 Militärangehörige und ihre Familien,

Geilenkirchen: 3.000 Militärangehörige und ihre Familien.

Deutschland trägt ungefähr 1 Milliarde $ jährlich an Unterhaltskosten für die US-Militärstützpunkte in Deutschland bei. (CFR 2003) (19) Die Luftwaffenbasis Ramstein, der größte US-Militärstützpunkt in Deutschland, kostet ungefähr 1 Milliarde $ jährlich – soviel wie Deutschlands jährlicher Unterhaltsbeitrag für die US-Militärstützpunkte. (CFR 2003)11

Durchschnittlich kosten die anderen 43 Stützpunkte jeweils ca. 240 Millionen $ – ungefähr soviel wie ein einzelnes Kampfflugzeug F/A-22. (CFR 2003) Mit 34.000 amerikanischen EinwohnerInnen ist Kaiserslautern die größte amerikanische Gemeinde außerhalb der Vereinigten Staaten (Stadt Kaiserslautern, 2003).

Seit 1945 haben ungefähr 17 Millionen AmerikanerInnen ihren Dienst in Deutschland geleistet. Viele von ihnen kommen ab und zu als TouristInnen zurück. (Deutsches Außenministerium 2003).“

Mit diesem Dokument lässt sich schon erahnen, wie wichtig Deutschland für die Kriegsführung der USA /NATO ist. Inzwischen gibt es den oben beschriebenen Umgruppierungsprozess, sodass einige der genannten Zahlen nicht mehr stimmen (siehe oben). Das hat aber nichts daran geändert, dass Deutschland weiterhin der wichtigste Garant in Europa ist für die Kriegsführung im Nahen und Mittleren Osten. Mehr als 60% der US-Truppen in Europa sind in Deutschland stationiert. Ramstein ist der größte US-Luftwaffen-Stützpunkt außerhalb der USA. Grafenwöhr ist der größte US-Truppenübungsplatz außerhalb der USA. Der Krieg gegen den Irak und Afghanistan zeigt erneut die strategische Wichtigkeit der Stützpunkte in Deutschland für die Logistik. Der Nachschub wird von Ramstein in die Kriegsgebiete gebracht. Die Kampfflugzeuge starten von Spangdahlem. Diese beiden Stützpunkte wurden noch vergrößert.

Truppenübungsplatz Grafenwöhr

Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr liegt im Landkreis Neustadt a. d. Waldnaab (Oberpfalz) und zählt mit einer Fläche von 226 km² zu den größten weltweit. Er ist der größte Truppenübungsplatz Europas, auf dem scharf geschossen wird, bezüglich der Fläche wird er auf dem Kontinent nur noch von Bergen-Hohne übertroffen, der 284 km² umfasst. Der Schießplatz besteht seit 1907. In der Nazizeit wurde er riesig erweitert. Dazu wurden Dutzende Orte umgesiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm das US-amerikanische Militär den Truppenübungsplatz und nutzte ihn in seiner ursprünglichen Bestimmung weiter. Für rund 210 Millionen D-Mark wurden von 1979 bis 1984 computergesteuerte Schießbahnen errichtet. Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr galt damals als modernste Schießeinrichtung der NATO.

Der Truppenübungsplatz nennt sich seit 2006 Joint Multinational Command Training Center (JMCTC). Kürzlich wurden die neuen Quartiere des 2nd Stryker Cavalry Regiment bezogen. Nahe dem Truppenübungsplatz entsteht die so genannte »New Town«, die künftige Heimat für die SoldatInnen des 2nd SBCT.

In Grafenwöhr üben die Einheiten der United States Army Europe (USAREUR), der United States Air Forces in Europe (USAFE) und andere NATO-Streitkräfte. Am Truppenübungsplatz Grafenwöhr unterhält die US Army einen eigenen Militärflughafen, auf dem hauptsächlich Frachtmaschinen landen. Es gibt auch einen direkten Gleisanschluss, hauptsächlich zur Verladung der Panzer.

Unmittelbar vor dem US-Überfall auf den Irak im Jahr 2003 diente der bayerische Truppenübungsplatz der US-Armee zur »Generalprobe«. Unter der Leitung von General William Wallace, so hieß es in einer Meldung der US-Soldatenzeitung »Stars and Stripes«, kamen dort ca. 1.000 Offiziere der später an der Irak-Invasion beteiligten Einheiten zusammen, um in einer groß angelegten Computersimulation den Angriff zu üben. Auch hohe Offiziere von Marine und Luftwaffe sowie der Kommandant des US Central Command, General Tommy Franks, nahmen teil.

US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein

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Abbildung 1: C-17 Globemaster III auf der Ramstein Air Base

Ramstein „war entscheidend am Erfolg der Operation Enduring Freedom und dem Irak-Einsatz“ beteiligt lobte in einem Interview mit der Soldatenzeitung »Stars and Stripes« der Air Force General Charles F. Wald, Stellvertreter von Oberbefehlshaber Jones (EUCOM) schon im August 2003. „Ramstein war wesentlich für den Erfolg der Operationen ‚Enduring Freedom‘ und ‚Iraqi Freedom‘. Viele Versorgungsflugzeuge landeten in Ramstein, das über eine exzellente Infrastruktur verfügt, und wir haben großartige Beziehungen zu Deutschland. Es macht viel Sinn, Plätze wie Ramstein, Spangdahlem und Moron [AB] (Spanien) offen zu halten, denn sie verfügen über große Landebahnen, mit denen man eine große Zahl von Flugzeugen abfertigen kann… Was wir bei Ramstein zum Beispiel schätzen ist, dass ein strategisch wichtiger Flug möglich ist, ohne dass wir den Transporter auftanken müssen. Man kann in den Staaten starten und ohne aufzutanken in Ramstein landen.“ (siehe Abbildung 1)

Die Militärgeschichte von Ramstein12

Über Ramstein läuft der Nachschub für die US-Streitkräfte in Europa, Afrika und dem Mittleren Osten einschließlich für den Irak und Afghanistan. Hier ist also auch ein riesiges Munitionsdepot. Ramstein ist als Befehlszentrale Verbindungsstelle zwischen Boden- und Luftstreitkräften in Afghanistan und im Irak. Alle Verwundeten aus diesen Gebieten landen zunächst in Ramstein bevor sie weiter transportiert werden. Ramstein diente auch der CIA als Zwischenstation für entführte Terror-Verdächtige.

1951-53 US-Ausbau der Air Base Ramstein auf einem Teilstück der Autobahn A 6
ab 1951 60.000 Militärpersonen und ihre Angehörigen leben in der Militärgemeinde Kaiserslautern.
1953 Stationierung des 86.Kampfflugzeug-Geschwaders mit F 86-Maschinen
14.11.1956 Ein US-Düsenjäger stürzt über der Innenstadt von Kaiserslautern ab: 3 Tote.
1957 AB Ramstein ist der größte NATO-Flugplatz
1974 Erweiterung der AB Ramstein, da die US-Basen in Frankreich geschlossen werden
Sommer 1981 RAF-Bombenanschlag auf das US-Hauptquartier Ramstein
14.01.1981 Eine US-Transportmaschine stürzt über dem Munitionsdepot Weilerbach ab.
1982 1.100 PatientInnen im Krankenhaus Kaiserslautern protestieren gegen den Fluglärm mit Lärmspitzen von 114 Dezibel.
1983 Sitzblockaden vor der AB Ramstein
Februar 1986 Landrat Tartter: Keine Gemeinde ist mehr bereit, Geländeforderungen der Amerikaner zu erfüllen.
28.8.1988 Flugtag auf der AB Ramstein mit 300.000 BesucherInnen. Katastrophe mit 70 Toten und 400 Verletzten durch einen Fluzeugabsturz
bis 1991 16,5% aller Beschäftigten des Landkreises arbeiten bei den Amerikanern.
1994 Abzug der Kampfflugzeuge von der AB Ramstein, bis 1994 Streichung von 35.000 (bis 1999: 82.000) militärischen und zivilen Stellen in Rhld-Pf, in der Region KL 7.000
1994 Stationierung des 86. Lufttransport Geschwaders
1997-2000 64 Flugbewegungen je Tag
Ende 2004 Baubeginn des Military Community Center auf dem Flugplatzgelände für 158 Mio Euro, u.a. ein Hotel mit 350 Betten und ein großes Einkaufs- und Freizeitzentrum, Fertigstellung geplant bis Ende 2006, zwei Jahre im Verzug (Rheinpfalz 20.3.07)
Februar 2005 US-Naturschützer: „In AB Ramstein lagern 130 Atombomben“.
05.84.2007 Feier zum Abschluss der Verlagerung der Air Base Frankfurt nach Ramstein/Spangdahlem
2011 Angenommene Flugbewegungen in Folge der Verlagerung je Tag: 108
Tabelle 2: Die Militärgeschichte der Air Base Ramstein

Derzeit umfasst die US-Militärgemeinde Kaiserslautern, zu der auch Ramstein und Landstuhl gehören, 14.450 Militärpersonen und 7.150 US-Zivilbeschäftigte. Mit den Familienangehörigen zusammen sind es 44.500 Personen. Sie ist damit die größte Militärgemeinde außerhalb der USA. 5.970 nichtamerikanische Personen sind dort bei den US-Streitkräften beschäftigt. (siehe Tabelle 2)

Ramstein. Das Kriegsführungshauptquartier

Als das Befehlszentrum auf der US-Air Base Ramstein, dessen Chef jetzt Lt. Gen. Breedlove ist, im August 2005 in Ramstein eingerichtet wurde, hieß es noch »Warfighting Headquarters« (Kriegsführungs-Hauptquartier). Einzelheiten sind in der »Stars and Stripes« vom 02.11.05 nachzulesen. Die 3rd Air Force in Mildenhall wurde aufgelöst und mit der 16th Air Force aus Aviano zum 16th Air Force Warfighting Headquarters verschmolzen, das zu diesem Zweck in Ramstein gegründet wurde. Von hier aus werden nun die Organisationen und Einheiten kommandiert, die so genannte humanitäre Einsätze oder Kampfoperationen durchführen. Die Militärzeitung schreibt: „Das Hauptquartier umfasst einen Stamm von etwa 650 Leuten und wird für im Einsatz befindliche Truppen von Deutschland aus rund um die Uhr Kommando- und Kontrollunterstützung bereitstellen. Hundert Personen (des Kommandos) kommen aus England und hundert aus Aviano. In der Vergangenheit musste die Air Force Stabsmitglieder aus verschiedenen Einheiten zusammenkratzen, um ein Kommando- und Kontrollhauptquartier für ungeplante Missionen zu schaffen. Es konnte eine Woche dauern bis ein Team für heikle Planungen zusammengestellt war. Mit dem neuen Kommando stehe der Planungsstab schon bereit und könne sofort loslegen, sagte Brigadegeneral Michael Snodgrass, Direktor für Planungen und Programme im Hauptquartier der USAFE in Ramstein. ‚Wir wollen den Prozess verkürzen, dass die nationale Kommandoautorität – der Präsident und der Verteidigungsminister – sofort entscheiden können, was zu tun ist, was wir tun müssen‘, sagte Snodgrass, und statt zu sagen, es wird sechs oder sieben Tage dauern, können sie sagen: Leute, ich möchte euch heute Nacht schon da haben. Ich möchte, dass in sieben Stunden was passiert.“

Die US-Air Force hat also jetzt auf ihrer Air Base in Ramstein einen Befehlsstand für schnellste Luftschläge in Europa einschließlich Russland, in fast ganz Afrika und im westlichen Asien.

Als »Warfighting Headquarters« dient dabei die 3rd Air Force. Diese 2005 deaktivierte Einheit werde im Rahmen der Reorganisation der nummerierten Luftflotten in Europa eine neue Rolle übernehmen, kündigte Brigadegeneral Michael Snodgrass, der Direktor für Planung, Programme und Beschaffung im Hauptquartier der US-Air Force Europa (USAFE) in Deutschland, im Jahr 2006 an. Die 3rd Air Force ist zuständig für die Planung und Durchführung aller humanitären Einsätze und Kampfoperationen sämtlicher fliegenden Verbände der USAFE und führt im Auftrag des EUCOM in Stuttgart, des Oberkommandos aller US-Streitkräfte in Europa, auch kurzfristig angeordnete Aktionen in dessen gesamtem Befehlsbereich durch. Sie hat selbst mehr als 250 Kampf-, Tank- und Transportflugzeuge zur Verfügung und dirigiert jährlich Tausende Flugzeuge anderer Kommandos, die auf Flugplätzen der USAFE zwischenlanden. Generalleutnant Robert Bishop Jr., der jetzt als Vizekommandeur der USAFE dient, hat das Kommando.13

Ramstein: Das größte US-Luftdrehkreuz Europas

Die US-Air Base Ramstein wurde 1988 nach dem schweren Flugunglück nicht geschlossen, sondern mit überwiegend deutschem Geld zum größten Luftdrehkreuz der US-Air Force in Europa ausgebaut. Allein aus den Munitionsbunkern auf der US-Air Base Ramstein werden monatlich über 900 Tonnen Bomben, Raketen und Geschosse – u.a. aus abgereichertem Uran – nach Afghanistan oder in den Irak geliefert.14

Im März 2008 wurde ein neuer Rekord aufgestellt. Besatzungen des U.S. Air Mobility Command (des US-Luftfracht-Kommandos) haben in die 27 Länder im Mittleren Osten, die zum Verantwortungsbereich des CENTCOM gehören, 120.000 SoldatInnen ein- und ausgeflogen. Damit haben sie ihren alten Monatsrekord beim Personentransport vom September 2007 um 3 Prozent übertroffen.

Ebenfalls im März wurden mehr als 41.350.000 Tonnen Ladung in den Nahen und Mittleren Osten und zum Horn von Afrika befördert. Dabei wurde der bisherige Ladungs-Monatsrekord vom Dezember 2007 um 7 Prozent gesteigert. Fast alle militärischen Lufttransporte für ihre Kriege im Nahen und Mittleren Osten und ihr verstärktes Engagement in Afrika wickeln die USA über die Bundesrepublik ab. In Afghanistan, im Irak und anderswo sterben täglich Menschen durch Waffen, die aus hiesigen Depots geliefert wurden. US-SoldatInnen, die hier stationiert sind und ihre Kampfeinsätze auf Truppenübungsplätzen in Bayern oder Rheinland-Pfalz geübt haben, ziehen nun schon zum zweiten oder dritten Mal von Deutschland aus in die Kriege im Nahen und Mittleren Osten. Mehr als 12.000 Verwundete aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan wurden auf der Air Base in Empfang genommen. Die leicht Verletzten wurden in die USA weiter transportiert, die Mittel- und Schwerverletzen per Krankenwagen bzw. Hubschrauber ins Militärkrankenhaus nach Landstuhl gebracht. Ramstein ist die „größte, verkehrsreichste und beste Base der US-Air Force“ 15.

Befehle über Satellit direkt aus Washington

Am US-Krankenhaus in Landstuhl stehen mehrere überdimensionierte Satellitenschirme. Sie gehören zur ca. 60 Personen umfassenden Company C des 53rd Signal Battaillon (Nachrichten-Bataillons). Über diese wenig bekannte, abseits liegende Satelliten-Kommunikations-Station erhalten die Kommandozentralen der US-Air Force und der US-Army in der Westpfalz ihre Befehle aus Washington und geben sie dann mit ihren Anordnungen an US-Basen in Europa, an Feldflugplätze im Mittleren Osten oder an die im Irak und in Afghanistan agierenden US-Truppen weiter. Auch alle von dort ausgehenden Informationen und Anforderungen werden via Landstuhl den jeweiligen AdressatInnen zugestellt. Diese unentbehrliche Schaltzentrale rundet das Bild von der überragenden Bedeutung der US-Militärregion Kaiserslautern/Ramstein ab.16

Spangdahlem

Während in Ramstein die Transportflugzeuge starten, ist Spangdahlem für die Kampfflugzeuge zuständig. Auf der Basis ist das 52nd Fighter Wing (52. Kampfgeschwader) stationiert. Es hat die Aufgabe in Konfliktfällen u.a. die gegnerische Luftverteidigung auszuschalten. Dafür sind in Spangdahlem Kampfflugzeuge vom Typ General Dynamics/Lockheed Martin F-16 Fighting Falcon neuester Generation (F-16CJ/D Block 52) stationiert. Weiterhin sind dort 18 Fairchild-Republic A/OA-10A Thunderbolt II (auch Warthog genannt) beheimatet, mit dem Auftrag Bodentruppen zu unterstützen. Das sind die berüchtigten Flugzeuge, die auch Munition mit abgereichertem Uran (DU) verschießen. Spangdahlem ist Teil der 3rd Air Force (3. Luftwaffe) mit Sitz in RAF Mildenhall, Großbritannien und somit Teil der United States Air Forces in Europe (USAFE). Auf der Basis arbeiten ungefähr 5.000 AmerikanerInnen (die mit 7000 Familienangehörigen dort wohnen) sowie 800 deutsche Angestellte.

Landstuhl

Das Landstuhl Regional Medical Center (LRMC) ist mit ca. 2.200 MitarbeiterInnen das größte Lazarett der US-Armee außerhalb der Vereinigten Staaten. Es verfügt über einen Hubschrauber-Landeplatz für den direkten Transport der Schwerverletzten aus Ramstein. Alle schwer Verwundeten und Leichen des Irak-Krieges landen hier.

Abhörstationen

Die Abhörstation Bad Aibling (BAS) wurde 1968 als erste Satelliten-Spionage-Station errichtet und sie wurde von der US National Security Agency (NSA) seit 1971 genutzt. 1994 wurde das BAS Management von der NSA in das U.S. Army Intelligence and Security Command (INSCOM) überführt. Sie wurde so eine Basis des U.S. Global Network of Signals Intelligence (SIGINT) zum elektronischen Lauschen und zur Überwachung. Die Echelon-Kommission des Europäischen Parlaments äußerte 2001 nach einer Überprüfung die Vermutung, dass die USA seit dem Ende des Kalten Krieges Bad Aibling und die ähnliche Anlage in Menwith Hill/England zur Wirtschaftsspionage nutzen, durch die europäischen Firmen bei Verträgen Verluste in Milliardenhöhe entstanden sind. Bereits acht Jahre zuvor hatte man durch ein Infrarot-Foto, das von einem Ballon aus aufgenommen worden war, herausgefunden, dass die Satellitenschüsseln innerhalb der Kugel-Kuppel der Basis nicht auf Ost-Europa gerichtet waren, wie die USA behauptet hatte, sondern stattdessen in den Westen in die Richtung ihrer Verbündeten. Als Konsequenz sollte Bad Aibling im September 2002 geschlossen werden und das Personal nach Menwith Hill wechseln. Doch wegen des 11.9. erhielt BAS eine Gnadenfrist und zog erst 2004 nach Griesheim.

Die Befehlsstruktur

Welche überragende Rolle Deutschland für die Kriegsmaschinerie der USA/NATO spielt ist auch aus der Grafik der Befehlsstruktur zu erkennen. Außer der Marine, die ihre Kommandozentrale in Italien hat, sind alle Kommandozentralen in Deutschland. (siehe Grafik 2)

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Grafik 2: Command Relationships

Folgende US-Hauptquartiere befinden sich in Deutschland:

Das HQ für die US-Gesamtstreitkräfte für den Aufgabenbereich Europa (US-EUCOM) in Stuttgart-Vaihingen (siehe unten), und unter seinem Kommando

das HQ für die US-Heeresstreitkräfte in Europa (US Army Europe, USAREUR) in Heidelberg

das HQ für das US-Marine Corps Forces Europe (USMARFOREUR) in Böblingen,

das HQ für die US-Spezialkräfte (Special Operations Command Europe) US-SOCEUR in Stuttgart-Vaihingen

das HQ für die US-Luftwaffe Europa in Ramstein.

Auch das HQ für die US-Gesamtstreitkräfte für den Aufgabenbereich Afrika (US-AFRICOM) liegt in Deutschland. Früher war auch das EUCOM für große Teile Afrikas zuständig. Dann wurde das AFRICOM gegründet – es sollte eigentlich in Afrika angesiedelt werden. Da sich jedoch kein afrikanisches Land dazu bereit fand, befindet sich das AFRICOM jetzt in Stuttgart-Möhringen.

Das EUCOM befehligt 12.000 SoldatInnen in 499 Stützpunkten. Dazu gehören 64.000 SoldatInnen in Deutschland, die 6. US-Flotte im Mittelmeer mit 14.000 Seeleuten, außerdem 12.000 SoldatInnen in Großbritannien, 10.000 in Italien, 2.000 in der Türkei, 2.000 in Spanien und kleinere Kontingente in Norwegen, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Portugal und Griechenland.

Die Grafik 3 zeigt das EUCOM noch vor der Gründung des Kommandos für Afrika (AFRICOM). Militäraktionen in afrikanischen Ländern werden jetzt vom AFRICOM koordiniert. Für den Nahen Osten ist auch weiterhin das EUCOM zuständig.

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Grafik 3: EUCOM Area of Responsibility

Deutschland als Stationierungsort für Atombomben

Deutschland ist keine atomwaffenfreie Zone: Im rheinland-pfälzischen Fliegerhorst Büchel in der Eifel (in der Nähe von Cochem/Mosel) halten die USA auch zwei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges in unterirdischen Bunkern noch rund 20 atomare Sprengköpfe der Typen B-61-3 und B 61-4 einsatzbereit. Die Bomben haben eine variable Sprengkraft von 45 bis 170 Kilotonnen und damit die bis zu 13-fache Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe Die US-Luftwaffenbasis Ramstein und der Fliegerhorst Nörvenich sind dagegen inzwischen atomwaffenfrei.

Eingesetzt werden die Atombomben, wenn der amerikanische Präsident den Einsatz befiehlt und wenn auf einem gesonderten Befehlsweg der Freigabecode für die Sicherheitssysteme eingegangen ist. Die USA nehmen für sich das Recht in Anspruch, ihre auf dem alten Kontinent gelagerten Atomwaffen zur Unterstützung des für den Nahen und Mittleren Osten zuständigen regionalen Oberkommandos »Genicom« – außerhalb des Nato-Gebietes – einzusetzen. Fachleute schätzen, dass die USA in Europa über 480 Atombomben dieses Typs verfügen (siehe Grafik 4). Auf dem Fliegerhorst Büchel wacht eine kleine US-Spezialeinheit, etwa 50 Mann stark, über die atomaren Sprengköpfe. Diese würde auf Befehl aus Washington die Waffen scharfmachen und sie an die von deutschen Piloten geflogenen Tornado-Jets klinken, die die Bomben in die vorgegebenen Ziele fliegen müssten.

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Grafik 4: US-Atomwaffen

Dass für deutsche Jagdbomber des 33. Luftwaffengeschwaders nach wie vor Atombomben bereit gehalten werden, macht keinen Sinn, denn gegen wen könnten sie eingesetzt werden? Der Einsatzradius eines Tornados beträgt 1.853 km. In diesem Gebiet gibt es nur befreundete oder NATO-Länder. Die Bundesregierung hat immer wieder, zuletzt durch Regierungssprecher Kossendy am 25.6.2008, am Verbleib der Atomwaffen in Deutschland festgehalten. Wer den Abzug verlange, stelle einen „Kernbestand der Atlantischen Allianz in Frage“, raube der Bundesrepublik das „Recht auf Mitsprache“ und wolle „letztendlich die Beziehungen zwischen Nordamerika und Europa dauerhaft schwächen“.17

Doch die Ausrede, wer in der nuklearen Planungsgruppe mitreden wolle, müsse „auch werfen können“, sticht nicht. So hat das Verteidigungsministerium in einem Schreiben an den SPD-Abgeordneten Hans-Peter Bartels eingeräumt, dass „an nuklearen Planungsprozessen“ des Bündnisses „alle Nato-Mitgliedsstaaten“ teilnehmen – also auch jene, auf deren Boden keine US-Atombomben lagern. Kanada, Griechenland und die Türkei gaben die »nukleare Teilhabe« schon vor Jahren auf und können trotzdem gleichberechtigt mitreden. (siehe Grafik 4)

Das Verfahren für Atombomben- abwürfe soll in der Kyritz-Ruppiner Heide geübt werden.

Im Betriebskonzept des Bundesministerium der Verteidigung für den Luft-Boden-Schießplatz auf dem Truppenübungsplatz Wittstock vom 20. Januar 2003 heißt es: „Zusätzlich wird das sog. Loft-Verfahren … (blau gestrichelte Linie in der Karte zur fliegerischen Nutzung) geübt werden, bei dessen Durchführung aufgrund einer kurz vor dem Ziel wechselnden Anfluggeometrie Teile der Radarplatzrunde genutzt werden müssen.“

Die Jagdbomber würden von Süden her bei Neuglienicke oder Rossow in das Bombodromgelände einfliegen, auf eine niedrige Flughöhe herunter gehen und dabei auf 1.000 km/h beschleunigen. So würden sie sich östlich von Glashütte ihrem Ziel nähern. Kurz vor Erreichen des Zieles zögen sie steil nach oben und klinkten ihre Atombomben-Attrappen aus. Mit diesem »Schulterwurf« bekommt die Bombe eine längere Flugbahn, sodass die Piloten mehr Zeit zum Entkommen haben. Über Dossow fliegend würden sie sich so schnell wie möglich von dem Ort entfernen, an dem im realen Fall jetzt ein Atompilz aufsteigen würde.

Benutzung ziviler Flughäfen

Wegen der ständig steigenden Zahl der Transporte zu den Kriegsschauplätzen und der Rotation benutzen die USA zunehmend zivile Flughäfen in Deutschland zusätzlich. Das betrifft Hahn (bei Frankfurt), Nürnberg (für den Stützpunkt in Grafenwöhr) und Leipzig (nachdem die Zahl der Transporte über Shannon (Irland) wegen des Widerstandes vor Ort drastisch gesunken ist.) In Hahn benutzt das US-Militär Flugzeuge, die zivil zu sein scheinen, sie haben Namen wie »Omni Air Express«oder »Evergreen Airlines«. Meist kommen sie von den US-Basen in Dover (Delaware) und Hartfield Jackson in Atlanta. Alleine in Hahn stieg die Zahl der in den Irak beförderten SoldatInnen von 74.295 im Jahre 2005 auf 179.274 in 2006.

Im Frühjahr 2008 nahmen die Künstler Jan Wenzel und Jan Caspers an einem Kunstprojekt des Leipziger Flughafens teil – und sahen Merkwürdiges: SoldatInnen, die wie Urlaubs-Passagiere in Flieger stiegen. Auf ihr Nachfragen hin wurde den Künstlern mitgeteilt, dass es sich um Truppentransporte handelte. Die beiden entdeckten Maschinen der »World Airways« – abgefertigt abseits der normalen Flugsteige. Sie sahen US-amerikanische SoldatInnen aussteigen und hinter der blickdichten Fassade des alten Terminalgebäudes verschwinden. An die 300.000 waren es allein 2007, so recherchierten sie. Jeder vierte Fluggast in Leipzig ist US-Soldat. Das Pentagon hat seine Truppentransporte weitgehend privatisiert. Seit 2006 haben hunderttausende von US-SoldatInnen in Leipzig Zwischenstation gemacht, meistens in der Nacht, denn hier gibt es kein Nachtflugverbot. Die Künstler entwarfen ein Wandbild über diese Kriegstransporte. Es wurde vom Flughafengeschäftsführer Eric Malitzke verboten. Nun hängt das Wandbild gegenüber vom Rathaus. Der Bürgermeister sitzt im Aufsichtsrat des Flughafens. Dass der zu 100 Prozent in staatlichem Besitz ist und die Flüge von SoldatInnen zulässt, halten die Künstler für einen Skandal. 3sat machte darüber einen Fernsehreport.18

Der Zweck der US-Militärstützpunkte

Nach der Analyse des US-amerikanischen Friedensforschers Joseph Gerson19 dienen US-Militärstützpunkte sieben Zielen:

Zur Sicherung des status quo: Man kann davon ausgehen, dass zum Beispiel die US-Militärstützpunkte in Süd-Korea in erster Linie zur Abschreckung dienen, während die US-Militärstützpunkte im Nahen Osten eingerichtet wurden, um weiterhin den privilegierten Zugang und die Kontrolle zum Öl der Region sicher zu stellen.

Zur Einkreisung der Feinde: das war der Fall mit der Sowjet-Union und China während des Kalten Krieges und das gilt bis heute. Diese Rolle haben die US-Militärstützpunkte in Korea, Japan, den Philippinen, Australien, Pakistan, Diego Garcia und in früheren Sowjetrepubliken in Zentral-Asien. (Dazu diente auch die NATO-Osterweiterung, dazu drängen die USA auf die NATO-Aufnahme der Ukraine und Georgiens, dem dienen die geplanten Raketenabwehr-Anlagen in Polen und Tschechien, H.P.R.)

Zur Unterstützung und Verstärkung der Flugzeugträger, der Zerstörer, der atomar bewaffneten U-Boote und anderer Kriegsschiffe der US-Flotte. Das betrifft die Stützpunkte in Okinawa, Yokosuka (in der Nähe Tokios) und die so genannten Truppenbesuchs- und Zugangs-Vereinbarungen in den Philippinen, Singapur, Thailand und vielen anderen Ländern.

Zum Training der US-Streitkräfte, was lange der Fall war für Bombenabwürfe in Vieques und für Dschungelkämpfe und anderes Training, das immer noch in Okinawa weitergeht.

Als Sprungbrett für US-Interventionen in andere Länder, so in den Fällen Okinawa, den Philippinen, jetzt bei Korea mit geänderten Missionen, Spanien, Italien, Honduras, Deutschland und den neuen Stützpunkten in Osteuropa, Kuwait und wahrscheinlich Irak.

Zur Ermöglichung von K3G: Kommando, Kontrolle, Kommunikation und Geheimdienst, einschließlich wesentlicher Aufgaben im Atomkrieg und der Nutzung des Weltraums zur Spionage und Kriegsführung, wie wir es in Afghanistan und Irak gesehen haben. US-Militärstützpunkte in Okinawa, Katar, Australien und sogar in China dienen diesen Funktionen.

Zur Kontrolle der Regierungen der Aufnahmeländer. Die Liste beginnt mit Japan, Korea, Deutschland, Saudi-Arabien und dem heutigen Irak.

Der US-amerikanische Friedensforscher Chalmers Johnson sieht auch wirtschaftliche Aspekte. Durch ihre militärische Macht diene die USA nicht nur den Konzernen der Rüstungsproduktion, sondern auch großen Teilen der so genannten zivilen US-Wirtschaft, wie der Kellog, Brown & Root Company, Tochter der Haliburton Corporation, die weit verstreute Vorposten baut und wartet, sowie zahlreichen anderen Konzernen die im Rahmen der »Privatisierung der Kriegseinsätze« die Versorgung der Armee übernehmen.

In den letzten Jahren wurde ein weiterer Zweck der US-Militärstützpunkte bekannt. Die CIA benutzt das weltweite Netzwerk der US-Militärstützpunkte, um Menschen, die die USA des Terrors verdächtigen, in die USA zu entführen oder zu Verhör und Folter in andere Länder zu bringen. Bekannt wurde die Entführung von Osama Mustafa Hassan Nasr (Abu Omar). Er wurde im Februar 2003 von 22 CIA-Agenten in den Straßen von Mailand gekidnappt und über die Zwischenstation Ramstein nach Kairo geflogen, wo er gefoltert wurde. Ein italienischer Richter erließ gegen die 22 Haftbefehle, die aber nicht vollstreckt werden können, da die USA die Beteiligten schützt.

Die Medien in Deutschland berichteten über so genannte schwarze Standorte in Polen und Rumänien. Mehrfach wurden über Aviano in Italien sowie Ramstein und Frankfurt/Main in Deutschland mit CIA-Flugzeugen Terrorismus-Verdächtige in andere Länder transportiert. Alleine von 2002 bis 2004 fanden über die Frankfurter Rhein-Main-Airbase 85 Flüge der CIA statt. So ist Deutschland nicht nur militärisch das zentrale Luftdrehkreuz in Nordeuropa, sondern auch für die CIA, die ohne Kontrolle agieren kann. Es ist zu vermuten, dass in allen Ländern mit US-Militärstützpunkten geheime Gefängnisse bestehen. So können die USA jederzeit Menschen ihrer Menschenrechte und sogar ihres Lebens berauben.

Liste der von den USA militärisch genutzten Orte

Heute werden noch 65 Orte in Deutschland von den USA für militärische Zwecke beansprucht, davon stehen jedoch 20 leer. Der Base Structure Report (BSR) des US-Verteidigungsministeriums (DoD) listet alle eigenen und gepachteten Gebäude und ihren Wert auf.

Die Armee benutzt danach 6.548 eigene Gebäude mit 2.462.732,59 m², 2.317 gepachtete Gebäude mit 895.744,26 m², 7.656 sonstige Gebäude mit 9.643.827,66 m². Der geschätzte Gegenwert dieser Liegenschaften, falls man sie woanders erneut errichten müsste, beträgt 34.621.300.000 $.

Die Luftwaffe benutzt 870 eigene Gebäude mit 652.524,47 m², 183 gepachtete Gebäude mit 39.786,75 m², 1.053 sonstige Gebäude mit 1.998.163,88 m². Der geschätzte Gegenwert dieser Liegenschaften, falls man sie woanders erneut errichten müsste, beträgt 8.064.600.000 $.

Ansonsten werden benutzt 77 eigene Gebäude mit 16.271,78 m², 48 gepachtete Gebäude mit 21.659,51 m², 95 sonstige Gebäude mit 35.362,80 m². Der geschätzte Gegenwert dieser Gebäude, falls man sie woanders erneut errichten müsste, beträgt 205.800.000 $.

Die leer stehenden Objekte sind noch mit Millionenwerten verzeichnet. Hier liegt eine lohnenswerte Aufgabe für unsere KommunalpolitikerInnen und ExpertInnen für Konversion.

Der Gesamtwert aller Gebäude beträgt also 42.891.700.000 $, das sind 30.105.776.655 Euro (nach dem Kurs von 1 Euro = 1,4247 $). Zum Vergleich: Diese gut 30 Milliarden Euro entsprechen mehr als einem Zehntel des Bundeshaushaltes 2008. Dazu kommen noch die benutzten Flächen. Das sind insgesamt 646,82 km2.

Der Base Structure Report verzeichnet alle 287 Liegenschaften und ihren Zweck. Daraus ergibt sich folgende Liste der benutzten Orte. Die einzelnen Angaben sind direkt nachzulesen unter www.defenselink.mil/pubs unter Reports.

1. Amberg (steht leer), 2. Ansbach, 3. Aschaffenburg (steht leer), 4. Babenhausen, 5. Bad Kissingen (steht leer), 6. Bad Nauheim, 7. Bamberg, 8. Baumholder, 9. Bensheim, 10. Binsfeld (steht leer), 11. Bitburg (steht leer), 12. Bremerhaven, 13. Büchel, 14. Büdingen, 15. Butzbach, 16. Darmstadt, 17. Dautphe Pfadfinder-Lager (steht leer), 18. Dexheim, 19. Einsiedlerhof, 20. Frankfurt, 21. Friedberg, 22. Garmisch, 23. Geilenkirchen, 24. Gelnhausen (steht leer), 25. Germersheim, 26. Geibelstadt, 27. Giessen, 28. Grafenwöhr, 29. Groß Auheim, 30. Grünstadt, 31. Hanau, 32. Heidelberg, 33. Hochspeyer (steht leer), 34. Hof, 35. Hohenfels, 36. Hommertshausen Girl Scout Camp (steht leer), 37. Idar-Oberstein (steht leer), 38. Illesheim, 39. Kaiserslautern, 40. Kitzingen, 41. Lampertheim (steht leer), 42. Landstuhl, 43. Langen (steht leer), 44. Leimen (steht leer), 45. Mainz, 46. Mannheim, 47. Miesau, 48. Mühlhausen, 49. Neubrücke, 50. Oberweis (steht leer), 51. Oppenheim (steht leer), 52. Pirmasens, 53. Prüm (steht leer), 54. Ramstein, 55. Sambach (steht leer), 56. Schweinfurt, Siegenburg siehe Mühlhausen, 57. Spangdahlem, 58. Speicher (steht leer), 59. Spesbach (steht leer), 60. Stuttgart, 61. Vilseck, 62. Wartenberg, 63. Weisskirchen (steht leer), 64. Wiesbaden, 65. Würzburg

Britische Streitkräfte in Deutschland

2006 waren etwa 23.000 britische SoldatInnen, 2.000 Zivilangestellte und 30.000 Familienmitglieder in Deutschland. Die Anzahl der SoldatInnen soll bis 2014 auf etwa 16.000 reduziert werden. Gleichzeitig ist eine Umstrukturierung der verbleibenden Einheiten geplant, die die Schließung von zwei der fünf Garnisonen zur Folge haben soll. Erhalten bleiben sollen vorerst die Garnisonen Hohne, Gütersloh und Paderborn, während Osnabrück und Rhine geschlossen werden. Bis 2035 sollen alle Garnisonen geschlossen und sämtliche britischen Truppen aus Deutschland abgezogen werden.

Die Britischen Streitkräfte (BFG) betreiben in Deutschland unter anderem zwei große Truppenübungsplätze und mehrere Standortübungsplätze, 32 Schulen, 50 NAAFI-Einkaufszentren und neun Kinos. Für die Militärangehörigen und deren Familienmitglieder erscheint seit 1970 die Wochenzeitung »Sixth Sense« mit Sitz in Bielefeld. Daneben sendet BFBS zwei Radioprogramme und einen Fernsehkanal für die SoldatInnen. Das Programm BFBS Radio 1 Germany wird über leistungsstarke Sender ausgestrahlt, so dass es in weiten Teilen der Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen auf UKW zu empfangen ist.

Das Hauptquartier der britischen Landstreitkräfte in Deutschland ist in Mönchengladbach-Rheindahlen.

Die Britischen Streitkräfte in Deutschland sind in zwei Hauptkommandobereiche aufgeteilt:

Das britische Unterstützungskommando United Kingdom Support Command (Germany), UKSC(G), das sich in Mönchengladbach befindet, ist zuständig für Verwaltungsaufgaben und die logistische Unterstützung der britischen Einheiten in Deutschland und auf dem europäischen Festland. In Mönchengladbach befindet sich auch das Hauptquartier des Schnellen Eingreifkorps der NATO, Allied Command Europe Rapid Reaction Corps (HQ ARRC).

Die in Herford stationierte 1st (UK) Armoured Division (1. britische Panzerdivision) befehligt die britischen Einsatztruppen in Deutschland. In Herford hat auch die Deutschlandzentrale des britischen SoldatInnen-Senders BFBS ihren Sitz.

Die BFG sind in fünf Garnisonen aufgeteilt:

Gütersloh mit den Standorten Bielefeld, Gütersloh, Herford und Lübbecke

Hohne mit den Standorten Bergen-Hohne, Celle und Bad Fallingbostel

Osnabrück mit den Standorten Münster und Osnabrück

Paderborn mit den Standorten Hameln, Paderborn und Sennelager

Rhine mit den Standorten Dülmen, Elmpt, Haltern, Mönchengladbach, Rheindahlen und Wulfen.

Insgesamt benutzen die BFG 18 Orte in Deutschland. Der Truppenübungsplatz Bergen (auch: Bergen-Hohne) im Südteil der Lüneburger Heide ist mit 284 km² der größte Truppenübungsplatz in Deutschland. Er wurde ab 1935 von der Wehrmacht eingerichtet und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von den britischen Besatzungstruppen übernommen und kontinuierlich erweitert. Seit den 1960er Jahren wird das Areal zudem von der Bundeswehr und der NATO genutzt.

Der Truppenübungsplatz Senne bei Paderborn ist ein 116 km² großer Truppenübungsplatz unter britischer Verwaltung.

NATO-Militärstützpunkte

Das Allied Command Europe Rapid Reaction Corps (ARRC) ist ein multinationales NATO-Korps unter Führung Großbritanniens, das heute im Wesentlichen nur als Hauptquartier aufgestellt ist. Der Stab ist seit Mai 1994 im Joint Headquarter (JHQ) Rheindahlen bei Mönchengladbach stationiert. Neben Großbritannien beteiligen sich 16 Nationen am Korps, darunter auch Deutschland. Das HQ ARRC ist befähigt unter NATO- oder EU Führung ein Hauptquartier zur Führung von Missionen der Krisenbewältigung zu stellen. Das AARC ist dazu dem Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) Casteau bei Mons in Belgien unterstellt und als Rapidly Deployable Corps Headquarter bzw. High Readiness Force (Land) HQ klassifiziert. Es ist damit auch befähigt Kräfte für die schnelle Einsatztruppe der NATO zu stellen. Das Hauptquartier ist innerhalb von 5-30 Tagen weltweit verlegbar und operationsfähig.

In Geilenkirchen sind die NATO-AWACS-Flugzeuge stationiert, auch deutsche. Das Airborne Warning and Control System (AWACS) ist ein Flugzeug-gestütztes Radarsystem der USA und anderer NATO-Staaten, das zur Luftraumaufklärung und als Einsatzleitzentrale eingesetzt wird. Das AWACS ist eine zentrale Komponente in jedem Luftkrieg. Ohne ein solches System wären die Kriegsflugzeuge auf bodengestützte Systeme angewiesen. Baei einem Manöver in de USA hat kürzlich ein AWACS-Flugzeug aus Geilenkirchen als fliegender Gefechtsstand bei Luftkämpfen atombombenfähiger US-Kampfjets gedient.20

Weitere fremde Militärstützpunkte

Frankreich: Kasernen in Donaueschingen, Immendingen und Mühlheim (Baden), alle drei dienen als Standorte der Deutsch-Französischen Brigade. Diese ist eine ca. 5.000 Mann starke binationale Infanteriebrigade aus französischen und deutschen Truppen mit Sitz des Stabes in Müllheim. Alle Truppenteile sind im Bundesland Baden-Württemberg stationiert. Die Brigade ist in die Befehlsstrukturen des Eurokorps eingebunden. Die deutschen Truppenteile sind als Eingreifkräfte klassifiziert und sind als einzige Truppenteile einer Brigade des Heeres nicht in eine Division eingebunden, sondern unterstehen truppendienstlich direkt dem Heeresführungskommando. Die französischen Truppenteile unterstehen truppendienstlich dem französischem Äquivalent Commandement de la force d’action terrestre (CFAT).

Das Eurokorps ist ein multinationaler militärischer Verband der Staaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien und Luxemburg, der allen Mitgliedsstaaten der Westeuropäischen Union (WEU) und den mit der WEU assoziierten Staaten offen steht. Zu Ausbildungszwecken nimmt auch das polnische Heer in Brigadestärke am Eurokorps teil. Das Korps stellt Kräfte für EU- und NATO-Missionen, u.a. für die schnelle Eingreiftruppe der NATO.

Niederlande: 2 Kasernen in Münster als Standort des Deutsch-Niederländischen Korps.

EU-Battle-Groups

Mit den EU-Battle-Groups will die EU auch militärisch stärker werden. Die Battle-Groups bestehen aus multinationalen Verbänden, die ad hoc eingesetzt werden sollen. Das bedeutet, dass in Zukunft auch noch weitere fremde Militärverbände in Deutschland aktiv sein werden. Bis 2007 sollten 13 Battle Groups entstehen. Dieses Ziel wurde jedoch bis heute nicht erreicht.

Die Kosten

Die alliierten Streitkräfte haben stets der Bundesrepublik die Mehrheit der Kosten für den Unterhalt ihrer Präsenz in Deutschland in Rechnung gestellt. Neben der kostenfreien Überlassung von Arealen zur militärischen Nutzung werden z.B. Kosten für anstehende Renovierungen und Neubauten dieser Militäreinrichtungen aus Steuermitteln der Bundesrepublik Deutschland finanziert. Deutschland bezahlte auch die so genannten Transformations-Kosten für die US-Militär-Präsenz. Im Falle des Umzugs der Rhein-Main-Air-Base von Frankfurt/Main nach Ramstein und Spangdahlem waren das 368 Mill. $ von insgesamt 528 Mill. US-$, das sind 70%. Die verbleibenden 160 Mill. gingen zu Lasten anderer NATO-Länder und der USA.

Eine Veröffentlichung des Bundesfinanzministeriums von 2005 veranschlagt die »Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte« auf rund 123,3 Millionen EUR Ausgaben, denen 24,9 Millionen EUR Einnahmen gegenüber stehen. Eine genaue Auflistung ist schwierig, da z.B. im Bundeshaushalt in zahlreichen Einzeltiteln Gelder für den Militärhaushalt bereitgestellt werden (vgl. im Bundeshaushalt 2007 zum Beispiel die Titel 0814-88304, 0814-71203 und 1402-53301). Die Funktionsfähigkeit der US-Militärstützpunkte in Deutschland kostet jährlich 7 Milliarden US-Dollar. Deutschland erstattet den USA davon 1,89 Milliarden, das sind 27%. Deutschland bezahlt dafür, dass es ein Vorposten für die militärischen Interventionen und die illegale Kriegsführung der USA ist.

EU-Militärstützpunkte in aller Welt

NATO und EU folgen dem Beispiel der USA und errichten auch immer mehr Stützpunkte außerhalb des Bündnisbereiches. Die Basen der Mitgliedsländer der EU werden allen Mitgliedsländern zur Verfügung gestellt. Das sind zurzeit 28 französische, 29 britische, 11 deutsche, 5 italienische und 2 spanische. Deutschland benutzt für seien Afghanistan-Einsatz die Basis in Termes (Usbekistan) und stellt sie allen NATO-Staaten zur Verfügung. Weitere Bundeswehrstützpunkte im Ausland sind derzeit in Zypern, Kenia, Djibuti und Sudan. Bald möchte man auch nach Darfur. Eine Grafik über alle EU-Militärstützpunkte findet man im Internet unter http://deutscher-friedensrat.de/materialien_005.htm

Die Rechtsgrundlagen

Die Stützpunkte sind de facto exterritoriale Gebiete. Der US-Experte Chalmers Johnson schreibt in seinem Aufsatz »Das Abkommen über den Status der Militärstreitkräfte« (SOFA/Status Of Forces Agreement) in Okinawa: „Amerikas 703 offiziell anerkannte (tatsächlich über 1.000) militärische Enklaven im Ausland sind, obwohl sie sich strukturell, legal und konzeptionell von Kolonien unterscheiden, doch wie Mikrokolonien, da sie jeglicher Gerichtsbarkeit des okkupierten Landes entzogen sind. Die USA handeln mit ihren angeblich unabhängigen ‚Gastnationen‘ überall ein Abkommen über den Status ihrer Streitkräfte aus, darunter sind Länder, deren Rechtssystem in jeder Hinsicht entwickelt ist – und manchmal mehr als unser eigenes.“ 21 Rachel Cornwell und Andrew Wells, zwei Autoritäten zum Thema SOFA kommen zu dem Schluss: „Die meisten SOFA’s sind so abgefasst, dass die nationalen Gerichte über amerikanische Militärangehörige, wenn sie Verbrechen an der Bevölkerung begangen haben, nicht urteilen können, es sei denn, die US-Militärbehörden übergeben in bestimmten Fällen die Rechtsprechung an das Gastland“.22

Rechtlich ist der Rahmen in Deutschland durch das NATO-Truppenstatut (SOFA) vom 19.06.1951 vorgegeben. Dazu wurden Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut (ZA-NTS) zwischen Deutschland, den USA, Kanada, Großbritannien, Niederlande, Belgien und Frankreich abgeschlossen, modifiziert 1993 und im Bundesgesetzblatt 1994 Teil II Seite 3718 verkündet. Auch für drei gemeinsam von den USA und Deutschland benutzte Schießanlagen und Bombenabwurfplätze gibt es Verwaltungsabkommen, durch die die Praxis und Regeln der Bundeswehr angepasst wurden. Dasselbe trifft zu auf drei gemeinsame Übungsplätze mit Großbritannien und einen mit Belgien, Frankreich und den Niederlanden.

Die Frage ist, ob die verbündeten Streitkräfte diese Regeln einhalten und wenn nicht, was dann passiert. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Vorfall in Cavalese (Italien) als durch ein US-Kampfflugzeug 20 Menschen ums Leben kamen. Ein US-Kriegsflugzeug hatte zu niedrig fliegend und auf nicht erlaubter Flugroute das Drahtseil einer Seilbahn durchtrennt. Ein US-Militärgericht in den USA erklärte die Piloten trotzdem für unschuldig. Das ist eine Erfahrung, die man überall in der Welt mit US-Militärstützpunkten machen kann. Gesetzesbrecher und Kriminelle kommen ungeschoren davon. In diesem Bewusstsein handeln sie und machen damit die Militärstützpunkte zu einem rechtsfreien Raum. Noch schlimmer jedoch ist, dass mit der Benutzung der Militärstützpunkte sogar Völkerrecht gebrochen wird.

Der Fall Florian Pfaff

Der Major der Bundeswehr Florian Pfaff weigerte sich Befehle zu befolgen, die den Krieg gegen den Irak unterstützen könnten. Der Fall ging bis vor das Bundesverwaltungsgericht (BVG). In seinem Urteil vom 21.06.2005 (Aktenzeichen 2 WD 12.04) stellte das BVG fest, dass der Krieg gegen den Irak völkerrechtswidrig war. Es war ein Verstoß gegen das Verbot der Gewaltanwendung, wie es in der Charta der Vereinten Nationen (UN) festgeschrieben ist. Weder gab es ein Mandat der UN, noch konnten sich die USA auf Selbstverteidigung berufen. Das ist nur möglich bei einem direkten Angriff (auf die USA) und solange die UN keine Maßnahmen ergriffen hat. Beides war nicht der Fall. Der (behauptete) Besitz von Massenvernichtungswaffen des Gegners ist ohnehin kein Kriegsgrund.

Nach dem Urteil hat die Bundesregierung Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Delikt und damit selbst ein völkerrechtswidriges Delikt in Form folgender Taten begangen:

Erlaubnis zur Benutzung der Militärstützpunkte der USA und UK auf deutschem Boden,

Gewährung von Überflugsrechten für die USA und UK,

Bewachung der Militärstützpunkte der USA und UK,

Einsatz deutscher SoldatInnen in AWACS-Flugzeugen zur Überwachung des türkischen Luftraums.

Nach Rechtsprechung des BVG ist die „Handlung eines Staates, die in seiner Duldung besteht, dass sein Hoheitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von diesem anderen Staat dazu benutzt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen … selbst eine Angriffshandlung.“ Deutschland hätte sich im Krieg der USA gegen den Irak neutral verhalten müssen. Damit sind dann u.a. folgende Handlungen zu unterbinden:

Truppentransporte,

Benutzung von Funkstationen,

Benutzung von Fahrzeugen, Flugzeugen und Raketen.

Bundesregierung hätte US-SoldatInnen gefangen nehmen müssen

Das Bundesverfassungsgericht geht noch weiter: „Truppen von Konfliktparteien, die auf das neutrale Staatsgebiet übertreten“ – also nach Beginn des bewaffneten Konflikts in das neutrale Staatsgebiet zurückkommen – sind „zu internieren… Nur Offiziere, die sich auf Ehrenwort verpflichten, das neutrale Gebiet nicht ohne Erlaubnis zu verlassen, dürfen freigelassen werden.“ (S.84ff des Urteils) Weiter ist im Urteil zu lesen: „Die Pflicht zur Internierung ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des Neutralitätsrechts, da nur so verhindert werden kann, dass von neutralem Territorium aus Kampfhandlungen unterstützt werden und dass es dadurch zu einer Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzungen unter Einbeziehung des neutralen Staates kommt… Von diesen völkerrechtlichen Verpflichtungen wurde die Bundesrepublik Deutschland im Falle des am 20. März 2003 begonnenen Krieges, gegen den gravierende völkerrechtliche Bedenken bestehen, nicht dadurch freigestellt, dass sie Mitglied der NATO war und ist, der auch die Krieg führenden USA und das UK (sowie weitere Mitglieder der Kriegskoalition) angehören. (…) Weder der NATO-Vertrag… noch das NATO-Truppenstatut…. oder das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut… sehen jedoch eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland vor, entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völkerrecht – völkerrechtswidrige – Handlungen von NATO-Partnern zu unterstützen.“

Ein NATO-Staat, der einen völkerrechtswidrigen Krieg plant und ausführt, verstößt nicht nur gegen die UN-Charta, sondern zugleich auch gegen Art. 1 des NATO-Vertrages. Darin haben sich alle NATO-Staaten verpflichtet, „in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind. (…) Das heißt zugleich, dass ein durch Art. 51 UN-Charta nicht gerechtfertigter Krieg auch keinen »NATO-Bündnisfall« nach Art. 5 NATO-Vertrag darstellen oder rechtfertigen kann. (…) Ein gegen die UN-Charta verstoßender Angriffskrieg eines NATO-Staates kann mithin selbst durch die Ausrufung des »NATO-Bündnisfalles« nicht zum Verteidigungskrieg werden.“ Die USA und UK müssen entsprechend dem Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut die Bundesregierung um Genehmigung bitten, wenn „außerhalb des NATO-Rahmens in den USA oder im UK stationierte Truppenteile mit Militärluftfahrzeugen etwa auf ihrem Weg in das Kriegsgebiet lediglich den deutschen Luftraum benutzen oder auf ihnen in Deutschland überlassenen Flugplätzen zwischenlanden, um aufzutanken, Material oder Waffen aufzunehmen und anschließend – ohne »NATO-Auftrag« – in das außerhalb des »NATO-Gebiets« gelegene Kriegsgebiet weiter zufliegen.“ Daraus ergibt sich „für die zuständigen deutschen Stellen, d.h. vor allem für die Bundesregierung, im Konfliktfall – jedenfalls rechtlich – die Befugnis zu kontrollieren, ob die Stationierungsstreitkräfte auf den überlassenen Liegenschaften (sowie im Luftraum darüber) im Einzelfall ausschließlich »Verteidigungspflichten« im Sinne des Zusatzabkommens und des NATO-Vertrages wahrnehmen oder aber andere Maßnahmen vorbereiten oder gar durchführen.“ Von der Bundesregierung müssen „alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet und vorgenommen werden, die verhindern, dass etwa vom Territorium der Bundesrepublik Deutschland aus völkerrechtswidrige Kriegs-Handlungen erfolgen oder unterstützt werden. Dies gilt um so mehr, als sich Deutschland im Zuge der Wiedervereinigung in Art. 2 des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (so genannter Zwei-Plus-Vier-Vertrag) (…), der die maßgebliche Grundlage der im Jahre 1990 erfolgten Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands bildet, völkerrechtlich verpflichtet hat, dafür zu sorgen, ‚dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird‘.“

Geheimabkommen sind ungültig

„Dies gilt auch für den Fall, dass zwischen der Bundesrepublik Deutschland sowie den USA und dem UK völkerrechtliche Geheim-Abkommen geschlossen worden sein sollten, die für den Fall eines militärischen Konflikts Gegenteiliges vorsehen, jedoch – entgegen Art. 102 UN-Charta – nicht beim Sekretariat der Vereinten Nationen registriert und veröffentlicht worden sind. Unabhängig davon, ob solche Geheim-Abkommen überhaupt rechtliche Wirkungen auszulösen vermögen, ist jedenfalls die Vorschrift des Art. 103 UN-Charta zwingend zu beachten, die folgenden Wortlaut hat: ‚Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang‘.“ (alle vorstehenden Zitate sind dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.06.2005, Aktenzeichen 2 WD 12.04 entnommen).

Tatsächlich scheint es ein Geheimabkommen zwischen der deutschen Regierung und den USA zu geben. Das wurde in einer Radiosendung mit Albrecht Müller (SPD), früher Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt, erwähnt. Er sagte, dass in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung die US-Regierung befürchtete, ihre Militärstützpunkte in Deutschland zu verlieren. Aber Kanzler Kohl habe mit den USA ein Geheimabkommen abgeschlossen, demzufolge diese die Militärstützpunkte zu jeder Zeit für alle Fälle benutzen können. Das frühere Mitglied der deutschen Regierung Oskar Lafontaine äußerte sich in einer Konferenz im Januar 2006 in Berlin dahingehend, dass in diesem Sinne Deutschland kein souveränes Land wie Frankreich sei.

Hier liegt die Erklärung für die Erlaubnis zur Benutzung der US-Militärstützpunkte in Deutschland für den illegalen Krieg gegen den Irak. Grundsätzlich wird nach Chalmers Johnson das Völkerrecht und das Verfassungsrecht des jeweiligen Landes bei allen SOFA und Zusatzabkommen gebrochen: In den Abkommen geben die Gastnationen ihre souveränen Rechte auf, sie geben de facto jede Kontrolle darüber ab, ob von ihrem Boden aus völkerrechtswidrige Handlungen unternommen werden.

Der Fall Jürgen Rose

Im o.a. Urteil des BVG steht nicht explizit »völkerrechtswidrig«, sondern immer die Formel „gravierend völkerrechtliche Bedenken“. Das eröffnete der Bundesregierung die Möglichkeit, weiterhin den USA die Militärstützpunkte zur Verfügung zu stellen und ansonsten die umfangreiche juristische Begründung des BVG zu ignorieren. Ein Regierungssprecher sagte, es liege in dieser Frage kein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vor – so als ob ein Gesetz oder das Völkerrecht nur dann von der Bundesregierung beachtet werden müsste, wenn jede einzelne Bestimmung vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde.

Das ließ den Oberstleutnant der Bundeswehr Jürgen Rose nicht ruhen und er versuchte ein Urteil des BVerfG zu erwirken. In der Zeitschrift »Ossietzky« vom 27. 5. 2006 schrieb er: „Dass die Generalität aufgrund intellektueller Insuffizienz nicht hatte erkennen können, was da vor sich ging, wird man mit Fug und Recht ausschließen dürfen.(…) Da Dummheit ergo auszuschließen ist, bleibt nur noch die zweite Alternative zur Erklärung – und die lautet: Opportunismus, Feigheit, Skrupellosigkeit. (…) Hätte die deutsche Generalität auch nur einen Funken Ehrgefühl sowie Rechts- und Moralbewusstsein im Leibe, so hätte der Generalinspekteur im Verein mit seinen Teilstreitkräfteinspekteuren sich geweigert, den Völkerrechts- und verfassungswidrigen Ordres der rot-grünen Bundesregierung Folge zu leisten.“

Darauf hin wurde gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das durch mehrere Instanzen der militärischen Sondergerichtsbarkeit ging und zunächst mit einer Disziplinarbuße in Höhe von 750 Euro endete. Makaber daran war, dass diese Strafe von einem der selbst betroffenen Generäle bestätigt wurde. Dagegen legte Rose Rechtsmittel ein. Schließlich ging es bis zum Bundesverfassungsgericht. Doch die 3. Kammer des 2. Senats beschloss am 28. April 2007, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Aus der achtseitigen Begründung des Beschlusses ergibt sich:

Die Menschenwürde der attackierten Generalität wurde durch den inkriminierten Ossietzky-Beitrag nicht angetastet.

Es handele sich bei den beanstandeten Äußerungen auch nicht um eine unzulässige Schmähkritik. (Eine Schmähkritik liegt dann vor, wenn drastische Kritik in einen Angriff auf die Menschenwürde umschlägt und wenn die Absicht zu verletzen stärker hervortritt als die Absicht die eigene Meinung zu äußern.)

Ansonsten hat die Verfassungsbeschwerde keine „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“.

Nach dieser höchstrichterlichen Bewertung darf jeder zivile Staatsbürger und jede zivile Staatsbürgerin ungestraft sagen:

Die Bundeswehrgeneräle, die die ihnen unterstellten SoldatInnen zur Unterstützung des Irak-Kriegs befahlen, haben opportunistisch, feige und skrupellos gehandelt.

Der Generalinspekteur und die Teilstreitkraftinspekteure hätten sich weigern müssen, den völkerrechts- und verfassungswidrigen Befehlen der Bundesregierung Folge zu leisten, wenn sie denn auch nur einen Funken Ehrgefühl sowie Rechts- und Moralbewusstsein im Leibe hätten.

Dass das Verfassungsgericht im Übrigen der Sache keine »grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung« zumaß, mag formaljuristisch richtig sein: Schließlich ging es ja nur um die Frage, ob Jürgen Rose so etwas sagen darf, nicht darum, ob es stimmt. Aber was muss eigentlich passieren, damit sich das Verfassungsgericht mit der doch durchaus verfassungsrechtlich bedeutenden Frage beschäftigt, ob die Bundesregierung Völkerrecht bricht?

Rechtsgrundlagen für die Stationierung von Atombomben

Wie oben beschrieben sind in Deutschland nach wie vor Atombomben stationiert. Diese »nukleare Teilhabe« aber ist völkerrechtswidrig. Der Nichtverbreitungsvertrag, besser bekannt als Atomwaffensperrvertrag, verbietet gleich im Artikel 1, dass Staaten, die über Atomwaffen verfügen, die Kontrolle über diese Waffen an nichtnukleare Staaten wie Deutschland abgeben. Das gilt – so haben die Vertragsstaaten es festgelegt – zu jeder Zeit und unter allen Umständen, also auch im Krieg. Außerdem sind Atombomben nach den strengeren Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts geächtet. Danach sind Waffen geächtet, die unterschiedslos SoldatInnen und Unbeteiligte töten. Das humanitäre Kriegsvölkerrechts ist über Artikel 25 GG in Deutschland geltendes Recht. Die USA haben sich dem aber nicht unterworfen!

Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat eine Neufassung der »Druckschrift Einsatz Nr. 03 Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten« herausgegeben. In der Anweisung für SoldatInnen der Bundeswehr aus dem Juni 2008 heißt es auf Seite fünf: „Insbesondere der Einsatz folgender Kampfmittel ist deutschen Soldaten bzw. Soldatinnen in bewaffneten Konflikten verboten: Antipersonenminen, atomare Waffen, biologische Waffen und chemische Waffen.“ Die Taschenkarte, eine Kurzfassung der Zentralen Dienstvorschrift 15/2, beschreibt die Rechtslage gemäß der von Deutschland ratifizierten völkerrechtlichen Verträge. Erstmals erklärt das Verteidigungsministerium ohne Wenn und Aber, dass Bundeswehr-SoldatInnen keine Nuklearwaffen einsetzen dürfen. Bislang gab es immer einen Vorbehalt, der eine Hintertür eröffnete: Beachtet werden sollten die völkerrechtlichen Regeln „soweit praktisch möglich“. Dieser Vorbehalt ist nun entfallen.

Unklar ist, ob das Verteidigungsministerium nun auch seine Grundhaltung revidiert, um zu garantieren, dass das Völkerrecht ohne Einschränkung eingehalten wird. Bislang durften Bundeswehrpiloten nach Auffassung des Ministeriums im Rahmen eines NATO-Einsatzes Nuklearwaffen abwerfen. Die Piloten stehen jetzt vor einem Dilemma. Sie üben im Frieden, was ihnen im Krieg verboten wäre: Den Einsatz atomarer Waffen. Dass sie es nicht dürfen, sagt mittlerweile auch ihr Dienstherr, das Verteidigungsministerium. Käme ein atomarer Einsatzbefehl der Nato, so müssten sie selbst entscheiden, ob sie ihm Folge leisten oder nicht. Was wäre schlimmer: Völkerrechtsbruch oder Befehlsverweigerung? Deshalb erregt sich der Grünen-Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei: „Die Bundesregierung wäscht vorab ihre Hände in völkerrechtlicher Unschuld und macht den Atomwaffeneinsatz im Krieg zum Privatproblem der Piloten.“

Die Bundesregierung nimmt völkerrechtswidrige Handlungen auf ihrem Territorium hin und verstößt damit selber gegen das Völkerrecht. Sie verlangt von deutschen SoldatInnen, völkerrechtswidrige Handlungen einzuüben. Als Rechtfertigung schiebt sie »Bündnistreue« und manchmal auch die Notwendigkeit einer »fairen Lastenverteilung« vor – Gründe, die auf keinen Fall über dem Völkerrecht stehen können. Wahre Gründe dürften machtpolitische Erwägungen sein: Wer »deutsche Interessen« am Hindukusch und überall in der Welt militärisch verteidigen will, muss überall mitmischen. Ich denke es ist an der Zeit zu prüfen, ob und wie die deutschen Regierungsvertreter, die ständig unsere Verfassung und das Völkerrecht brechen, zur Rechenschaft gezogen werden können.

Anmerkungen

1) Department of Defense, Base Structure Report, Fiscal Year 2007 Baseline (A Summary of DoD`s Real Property Inventory), Seite DoD-6.

2) www.vcorps.army.mil/leaders/leaders.htm

3) www.globalsecurity.org/military/agency/army/1id.htm

4) www.globalsecurity.org/military/agency/army/1ad.htm

5) www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/USA/truppen.html

6) [EUCOM_RELEASE] vom 29.07.2005, von: Yates, Dale W. TSgt »yatesd@EUCOM.MIL«.

7) Zusätzlich zur 1.ID betrifft das nach geordnete Einheiten, ausgewählte V. Corps-Einheiten (Heidelberg) der US-Armee. Sie kehren entweder in die USA zurück, werden gänzlich aufgelöst, oder werden umgeformt und in Europa neu zugeordnet, um die Umgliederung der Armee im Haushaltsjahr 2006 zu unterstützen.

8) Stars and Stripes, 28.08.08 (www.stripes.com/article.asp?section=104&article=64226&archive=true).

9) wie (1) Seite ARMY-28 und Seite AIR FORCE -22.

10) wie (1).

11) CFR ist der Council on Foreign Relations (deutsch: Rat für auswärtige Beziehungen) der USA. Der CFR ist ein parteienunabhängiges amerikanisches Studienzentrum zu außenpolitischen Themen mit Sitz in New York.

12) Sammlung Kohlstruck von Dokumenten und Notizen zur Air Base Ramstein (Stand 05.04.2008).

13) www.luftpost-kl.de

14) »Kaiserslautern American« vom 09.03.2007.

15) Pressebüro der 435th Air Base Wing, 28.07.08, (www.usafe.af.mil/news/story.asp?id=123108282).

16) Stars and Stripes, 05.04.08 (www.stripes.com/article.asp?section=104&article=61210&archive=true).

17) Der Spiegel, Nr. 27/2008

18) http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/125114/index.html

19) Dr. Joseph Gerson: Military Colonialism: Personal and Analytical Perspectives, International Consultation on U.S. Bases, Seoul, Dec. 1 & 2, 2003.

20) www.luftpost-kl.de

21) Fußnote von Johnson: „Die Zahl der im Ausland gelegenen 703 Stützpunkte stammt vom Bericht des Büros des Unterstaatssekretärs für Verteidigung (Einrichtungen und Umwelt), dem Stützpunkt-Struktur-Bericht (Eine Zusammenfassung der Besitztümer des Verteidigungsministeriums von 2003), www.defenselink.mil/news/Jun2003/basestructure2003.pdf. Die Anzahl war 2001 725. Zu Einzelheiten und Analyse verweise ich auf mein Buch »The Sorrow of Empire« (New York: Metropolitan Books 2004), Seite 151-160. Die Zahl 703 ist viel zu niedrig, denn die Stützpunkte der Geheimdienste sind weggelassen, ebenso die, die sich unter anderen Staaten verbergen (z.B. bei der Royal Air Force in Großbritannien), man will damit Schwierigkeiten bei den ausländischen Regierungen vermeiden. Ferner fehlen die meisten Basen auf dem Balkan, im Persischen Golf und in Zentralasien, die in den letzten US-Kriegen dazu kamen.“

22) Rachel Cornwell und Andrew Wells, Deploying Insecurity, Peace Review 11:3 (1999), S.410.

Hans Peter Richter ist seit 1981 in der Friedensbewegung aktiv. Er war Mitbegründer des »friedensmuseums« in Berlin (1982-1989), Gründungsmitglied des Deutsch-Japanischen Friedensforums und ist im Vorstand des Deutschen Friedensrates und aktiv bei der »Sichelschmiede – Werkstatt für Friedensarbeit« in der Kyritz-Ruppiner Heide. Außerdem arbeitet er beim deutschen »Netzwerk gegen Militärstandorte und deren Auswirkungen (NEMA)« mit und beim weltweiten Netzwerk gegen fremde Militärstützpunkte, das im März 2007 in Ekuador gegründet wurde.

»Enduring Freedom« oder »Gerechter Friede«?

»Enduring Freedom« oder »Gerechter Friede«?

Lästige Betrachtungen zum Krieg gegen den Terror

von Jürgen Rose

Ein Jahr ist es nun her, seit am 11. September 2001 die Terroranschläge von New York und Washington, von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt als »Mammutverbrechen« apostrophiert, die Welt erschüttert haben. Danach, so war allerorten zu vernehmen, sei »alles anders« geworden, wäre die Welt nicht mehr dieselbe wie zuvor. In der Tat war die Dimension der terroristischen Attacke bis dato präzedenzlos. Mit Fug und Recht war das Entsetzen also groß. Erstaunt hatte man allerdings nicht wirklich sein können, hatte sich doch eine derartige Entwicklung schon seit Jahren abgezeichnet. Indessen herrschte hinsichtlich der Ursachen- und Entstehungszusammenhänge des internationalen Terrorismus eine nahezu unbegrenzte Ignoranz, die auch weiterhin – siehe das skandalöse Ergebnis des UN-Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg im Herbst diesen Jahres – den Anschein ihrer Unausrottbarkeit erweckt.
Mittlerweile hat der unter dem Rubrum »Operation Enduring Freedom« begonnene sogenannte Anti-Terror-Krieg, bei dem es sich in Wahrheit vornehmlich um einen Globalisierungskrieg im Interesse des Clubs der Reichen gegen die Armen dieser Welt handelt, gravierende Verwerfungen im internationalen System nach sich gezogen. In den USA lässt die derzeitige Administration eine neue »National Security Strategy« erarbeiten, die unverhohlen »Striking First«-Optionen, d. h. eine Präventivkriegsstrategie zum legitimen Instrument der US-Außenpolitik erklärt, wie der amerikanische Präsident George W. Bush in einer Rede an der Militärakademie von West Point zur sogenannten Bush-Doktrin ausführte.1 Ausdrücklich eingeschlossen in diese Planungen ist auch der präventive Einsatz von Nuklearwaffen. Im Weißen Haus und im Pentagon wird argumentiert, dass beispielsweise unterirdische Bunker, in denen biologisches, chemisches oder nukleares Waffenmaterial lagert, nur durch einen Nuklearschlag geknackt werden könnten. Außerdem könne nur die extreme Hitze einer nuklearen Detonation Sporen, Kampfstoffe oder radioaktives Material nachhaltig vernichten.2 „Solange Atomwaffen existieren, müssen wir ernsthaft mit einem Atomkrieg rechnen“3, kommentiert die indische Schriftstellerin Arundhati Roy und hat auf erschreckende Weise Recht, wird doch im Rahmen des sogenannten Anti-Terror-Krieges der Einsatz von Nuklearwaffen denkbarer denn je.

Schneller als erwartet könnten derartige Befürchtungen Realität werden, sollte der gegenwärtig geplante und in Vorbereitung befindliche Angriffskrieg gegen den Irak tatsächlich stattfinden. Dann nämlich steht zu befürchten, dass der irakische Diktator Saddam Hussein, diesmal buchstäblich um seine physische Existenz kämpfend, einerseits die Truppen der Angreifer, andererseits aber auch Israel tatsächlich mit chemischen oder biologischen Waffen angreifen wird. Die schon während des ersten Krieges gegen den Irak 1991 unmissverständlichen Drohungen sowohl der USA und Großbritanniens als auch Israels, in einem solchen Falle mit nuklearen Gegenschlägen zu reagieren, dürften dann mit infernalischen Konsequenzen in die Tat umgesetzt werden. Der Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten George Bush Senior, Brent Scowcroft, hat diesbezüglich eindringlich gewarnt: „Israel would have to expect to be the first casualty, as in 1991, when Saddam sought to bring Israel into the conflict. This time, using weapons of mass destruction, he might succeed, provoking Israel to respond, perhaps with nuclear weapons, unleashing an armageddon in the Middle east.“4

Im Kielwasser der US-amerikanischen Strategieentwicklung wird durchaus auch in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch unternommen, eine Konzeption »Präventiver Konventioneller Verteidigung« als neue sicherheitspolitische Maxime und legitimes Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu etablieren.5 Offenbar von militärtechnokratischem Machbarkeitswahn besessen, plädieren Politiker diesseits und jenseits des Atlantiks für eine verkappte Aggressionsstrategie im globalen Maßstab und frönen dabei zugleich, wie derzeit weite Teile der sogenannten »Strategic Community«, einem exzessiven Sicherheitswahn – der Fiktion nämlich, durch militärische Hochrüstung nach dem Vorbild USA ließe sich hundertprozentige Sicherheit gewinnen.

Zieht man indessen eine überschlägige Bilanz des globalen Krieges gegen den Terror, so fällt diese eher ernüchternd aus:

  • Aus dem angeblichen Anti-Terror-Krieg in Afghanistan wurde sehr schnell ein klassischer, ordinärer Krieg gegen ein Land, sein Regime und seine Bevölkerung.
  • Die Zahl der – üblicherweise mit dem Euphemismus »Kollateralschaden« belegten – Todesopfer, welche der angeblich »chirurgisch« geführte Luftkrieg unter der afghanischen Zivilbevölkerung forderte, bewegt sich zwischen mindestens 1.000 bis zu 5.000.6 Unberücksichtigt sind dabei diejenigen, die mittelbar durch die Auswirkungen des Krieges – nämlich auf der Flucht und durch Hunger – ums Leben kamen; deren Zahl beträgt nach einschlägigen Berechnungen mindestens 3.000. Insgesamt übersteigt demnach die Anzahl der unschuldigen zivilen Todesopfer des sogenannten Anti-Terror-Krieges gegen Afghanistan die Zahl der durch die Terroranschläge in den USA Getöteten (ca. 2.800) erheblich. Der Bischof der Evangelischen Kirche in Sachsen, Axel Noack, moniert aus diesem Grunde eindringlich die „verbrauchende Terrorismusbekämpfung“, die es billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu Opfern zu machen.7 Mit Nachdruck erhebt sich somit die Frage, wie es um die Moral einer Interventionspolitik mit militärischen Mitteln bestellt ist, die es in Kauf nimmt, Unschuldige zu töten, um andere Unschuldige zu retten, erlittene Verluste zu rächen oder präventiv potenzielle zukünftige Opfer zu schützen.
  • Seine ursprünglich deklarierten Ziele hat der Anti-Terror-Krieg verfehlt: Weder Osama bin Laden noch Mullah Omar wurden bisher gefasst, die Al Quaida ist immer noch nicht endgültig besiegt, die Kämpfe in Afghanistan dauern an; man muss abwarten, ob eine Stabilisierung der Region in Zukunft gelingen wird. Die Anschläge von Kabul und Kandahar am 5. September 2002 demonstrierten erneut die Brisanz der Problematik.
  • Der internationale Terrorismus ist nach wie vor virulent, wie die Terrorattacken von Djerba oder Karachi zeigen; die US-Behörden geben zu Protokoll, dass sie weiterhin mit schwerwiegenden Terroranschlägen rechnen, und sie wurden in ihrer Diagnose erst neulich, am 10. Juni bestätigt, als in Chicago ein mutmaßlicher Terrorist festgenommen werden konnte, der angeblich einen Anschlag mit einer sogenannten »schmutzigen« Atombombe geplant hatte.

Was die Terrorbekämpfung mit militärischen Mitteln betrifft, müsste folgender Sachverhalt zu denken geben: Seit den 70er Jahren geht Israel mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, unter Anwendung brutaler Gewalt und unter systematischer Missachtung jeglichen Völker- und Menschenrechts – also mit maximaler Intensität – gegen den palästinensischen Terror vor. Dabei übertrifft die Zahl der Toten und Verletzten, die der israelische Gegenterror unter der palästinensischen Bevölkerung verursacht, diejenige des palästinensischen Terrors unter der israelischen Bevölkerung um ein Mehrfaches.8 Trotz dieser hemmungslosen Anwendung militärischer Gewalt zur Terrorbekämpfung ist zugleich aber von allen Staaten der Welt gerade Israel der Staat, der von Terroranschlägen am intensivsten betroffen ist. Schlagender lässt sich wohl kaum illustrieren, dass militärische Gewalt keine Lösung politischer Konfliktlagen zu bewirken vermag.

Geht man von der Prämisse aus, dass aus Elend Verzweiflung resultiert und Verzweiflung wiederum Hass und Gewalt hervorbringt – weil nämlich, „wenn die eigene Subsistenzfähigkeit einmal zerstört ist, […] den Frauen [nur] noch die Prostitution [bleibt], und den Knaben und jungen arbeitslosen Männern, dass sie sich eine Kalaschnikow besorgen“9, dann müssten eigentlich am dringlichsten Strategien der Elendsbekämpfung gefragt sein. Militärische Terrorbekämpfungsstrategien erscheinen daher vor allem unter längerfristiger Perspektive als eher nachrangig, weil sie auf das Symptom anstatt die Ursache des Terrors abheben. Nichtsdestoweniger werden unbeirrt in militärische Gewalt- rsp. Gegengewaltpotenziale ungeheure Summen investiert: So gibt die größte Militärmacht der Welt, die USA, in diesem Jahr mehr als 900 Mio. US-$ »täglich« für Rüstung aus10. Schon ab 2003 werden es täglich mehr als 1.000 Mio. US-$ pro Tag sein und nach derzeitiger Planung soll bis 2007 diese Summe auf über 1.200 Mio. US-$ täglich anwachsen.

Demgegenüber betragen die Entwicklungshilfeausgaben der USA magere 9,95 Mrd. US-$ »im Jahr« 200211 oder anders ausgedrückt: Die Ausgaben für militärische Terrorbekämpfung übersteigen die Aufwendungen zur Elendsbekämpfung um etwa das Sechsunddreißigfache.

Für die Europäische Union sehen die entsprechenden Zahlen in ihrer absoluten Höhe weit weniger drastisch aus, weisen aber ähnlich Relationen auf. So beträgt nach mehreren Erhöhungen der bundesdeutsche Verteidigungsetat (Epl. 14) mit rund 24,4 Mrd. Euro etwa das Sechseinhalbfache des Entwicklungshilfehaushalts (Epl. 23), der gerade einmal 3,7 Mrd. Euro erreicht und damit zugleich weit unter dem international vereinbarten 0,7-Prozent-Ziel verharrt.

Im Hinblick auf diesen geschilderten Sachverhalt drängt sich dem unvoreingenommenen Betrachter der Eindruck auf, dass sich die Wohlstandschauvinisten dieser Welt lieber bis unter die Zähne bewaffnen, um ihren gewohnten »Way of Life« abzusichern, und dabei die Armen und Ärmsten auf dem Globus mit einem sogenannten Anti-Terror-Krieg überziehen, anstatt die zur Verfügung stehenden, ja nicht unbeträchtlichen Mittel vermehrt in die Bekämpfung der Ursachen für den Terror und damit in die Gewaltvorbeugung zu investieren.

Warum aber, so lautet die Frage, existiert diese bemerkenswert unausgewogene Ausgabenpolitik? Um sich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, muss man sich zunächst einer weiteren Frage zuwenden, die bereits in der Antike formuliert wurde und die da lautet: Cui bono? – also: Wem nutzt eine solche Politik, wer profitiert von ihr? Oder modern, auf »neurömisch« ausgedrückt: »Where does the money go?« Nehmen wir den bereits erwähnten Rüstungshaushalt der USA als Beispiel, so ist zu konstatieren, dass ca. 35% des Budgets für Investitionen in militärische Beschaffungen, Forschung und Entwicklung gehen12. Dies entspricht in den Jahren 2002-2007 einer Summe zwischen jeweils 117 und 160 Mrd. US-$, die in den vom amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower so bezeichneten »militärisch-industriellen Komplex« fließen. Hierzu ein Beispiel aus jüngster Zeit13: Ende Oktober letzten Jahres vergab das Pentagon den größten Rüstungsauftrag in der Geschichte an den kalifornischen Konzern Lockheed Martin. Der Auftrag bezieht sich auf den Bau eines neuen Kampfflugzeugs, den Joint Strike Fighter (JSF). Er soll dem Unternehmen etwa 200 Milliarden US-$ einbringen. Darüber hinaus wird dieser Rüstungsauftrag mehr als 8.000 Menschen einen Job bei Lockheed Martin sichern. Zudem profitiert die ganze Region um Dallas Fort Worth an dem Rüstungsauftrag – von der Baubranche über Einkaufszentren bis zu Zulieferbetrieben. Die Milliarden bedeuten Kaufkraft und Prosperität. An dem Projekt werden aber auch Zehntausende von Amerikanern in 27 Bundesstaaten bei den Zulieferanten arbeiten. Die Frankfurter Rundschau titelte am 29.10.01 dazu: „In Nordtexas knallen die Sektkorken“.

Die Verhältnisse sind indes weitaus komplexer, als es das geschilderte Beispiel nahelegt: Zu berücksichtigen ist nämlich, dass Rüstungsausgaben über Steuern finanziert werden, eigentlich eine banale Feststellung. Weniger banal ist allerdings der Umstand, dass sich unter den Vorzeichen der Globalisierung die Verteilung der Steuerlast sehr ungleich entwickelt hat. Während die großen Konzerne und die Spitzenverdiener der Upper Class über schier unlimitierte Möglichkeiten zur Steuervermeidung verfügen, wird der Löwenanteil der staatlichen Steuereinnahmen von Mittelstand und Lower Class aufgebracht. Bezogen auf die Frage, warum auf militärische Terrorbekämpfungsstrategien ein solch großes Schwergewicht gelegt wird, ist unter dem Aspekt des »Cui bono« festzustellen, dass die Lower und Middle Classes den Anti-Terror-Krieg hauptsächlich finanzieren, während hauptsächlich die gigantischen Rüstungskonglomerate und deren Eigner aus der Schicht der Vermögenden von ihm profitieren. Anzumerken bleibt, dass Krieg schon immer ein lohnendes Geschäft war.

Noch ein weiterer Sachverhalt ist in dem zu hinterfragenden Kontext von Bedeutung, nämlich wer eigentlich diesen Anti-Terror-Krieg führt, d. h. wer persönlich in die globalen Kriegseinsätze geschickt wird. Empirisch betrachtet rekrutiert sich das Personal der Streitkräfte in den westlichen Industrienationen vor allem aus dem eher kleinbürgerlich zu nennenden Milieu. Soziologisch gesehen handelt es sich beim Militärberuf um einen ganz typischen Aufsteigerberuf, während zugleich die sozialen und ökonomischen Eliten der Gesellschaft gegenüber der Organisation Militär vornehme Zurückhaltung üben. Bezieht man diese Tatsache wiederum auf den Anti-Terror-Krieg, so lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Abkömmlinge der Middle und Lower Class für die Upper Class in einen Krieg ziehen, aus dem letztere sich selbst und ihre Nachkommen lieber fernhält.

Ein letzter Umstand scheint in diesem Kontext noch von Bedeutung, nämlich wie unter volkswirtschaftlicher Perspektive der Strom des für Militär, Rüstung und Krieg aufgewandten Geldes fließt. Für die Rüstungsindustrien des Westens gilt, dass diese nach wie vor primär national strukturiert sind: Auf der einen Seite stehen die gigantischen Rüstungskonzerne in den USA, auf der anderen Seite in etwas kleinerem Maßstab die der Europäischen Union. Entscheidend ist nun, dass die Rüstungsausgaben im Wesentlichen innerhalb der nationalen Ökonomien verbleiben, d.h. es sind die Rüstungsgiganten und ihre Eigner, die von einer derartigen Mittelallokation profitieren – Strategien militärischer Terrorbekämpfung lohnen sich für sie gerade auch unter volkswirtschaftlichen Aspekten.

Anders sieht es unter einer solchen Betrachtungsweise dagegen mit den erwähnten Elendsbekämpfungsstrategien aus: Die Schaffung sicherer Ernährungsgrundlagen, die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser, Bildungsoffensiven, Hilfe zur Geburtenkontrolle, Unterstützung von »Good Governance«, das ganze weite Spektrum von Entwicklungshilfe bedeutet den Abfluss der hierfür bereitgestellten Mittel in die betroffenen Länder und Regionen selbst – zumindest, wenn Entwicklungshilfe nicht als verkappte Exportförderung begriffen wird. Volkswirtschaftlich gesehen eignen sich derartige Ausgaben nicht zur kurzfristigen Profitmaximierung, sondern werfen allenfalls langfristig einen Gewinn ab, dann nämlich, wenn entwickelte Volkswirtschaften entstehen, mit denen wiederum lukrative Wirtschaftsbeziehungen etabliert werden können.

Um die gerade angestellten Überlegungen zusammenzufassen: Die Frage nach dem »Cui bono« ist geeignet, Irritationen auszulösen und die so naheliegende, mit Verve verfolgte Strategie der Terrorbekämpfung mit militärischen Mitteln gewissen Zweifeln auszusetzen. Als Bürgerinnen und Bürger dieser Republik sollten wir uns die Frage stellen, ob wir die aufgezeigten politischen Strategien und Zusammenhänge als die Prämissen akzeptieren wollen, unter denen wir unsere Zustimmung dafür geben, die Bundeswehr in die Globalisierungskriege der Zukunft zu entsenden. Denn, nicht wahr, in einer Demokratie sind es ja die Bürgerinnen und Bürger, die letztlich darüber entscheiden, ob ihre Streitkräfte in den Krieg ziehen, in welche Kriege sie ziehen und wie sie zur Erfüllung derartiger Aufträge ausgestattet und strukturiert werden, kurz: welches Profil sie aufweisen sollen. Die intensiv geführte Debatte um eine Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an einem allfälligen Krieg gegen den Irak und dessen Diktator Saddam Hussein kann da als illustratives Beispiel dienen: Der Umstand nämlich, dass sich die Bundesregierung nicht zuletzt deshalb, weil weit über 90 Prozent der BundesbürgerInnen einen Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen den Irak ablehnen, gegenüber der amerikanischen Hegemonialmacht unmissverständlich weigert, deutsche Streitkräfte für eine strategische Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens nach den geopolitischen Interessen der USA zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass – gerade in Wahlkampfzeiten – die Verfassungsbestimmung des Art. 20, GG – „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – durchaus Relevanz besitzt.

In diesem Zusammenhang hat vor kurzem ein slowenischer Philosoph, Slavoj Zizek, eine kleine Parabel verfasst14. Sie lautet folgendermaßen: „In einem alten DDR-Witz wird einem Mann Arbeit in Sibirien zugewiesen. Da er weiß, dass alle Post zensiert werden wird, sagt er seinen Freunden: »Lasst uns einen Code verabreden: Wenn ich euch einen Brief mit gewöhnlicher blauer Tinte schreibe, ist sein Inhalt wahr. Ist er mit roter Tinte geschrieben, ist er falsch.« Nach einem Monat erhalten seine Freunde den ersten mit blauer Tinte geschriebenen Brief: »Hier ist alles ganz wunderbar. Die Geschäfte sind voller Waren, Lebensmittel gibt es reichlich, die Wohnungen sind groß und ordentlich geheizt, die Kinos zeigen Filme aus dem Westen, und es gibt viele hübsche Mädchen, die auf eine Affäre aus sind – das einzige, was man nicht bekommen kann, ist rote Tinte«…“

Zizek knüpft an diesen Witz die Frage an: „Ist das nicht genau das Grundmuster, nach dem Ideologie funktioniert? Nicht nur unter »totalitärer« Zensur, sondern vielleicht auch unter den verfeinerten Verhältnissen liberaler Zensur? Wir »fühlen uns frei«, weil uns die Sprache fehlt, unsere Unfreiheit auszudrücken. Die fehlende rote Tinte bedeutet heute, dass alle wesentlichen Begriffe, die wir gebrauchen, um den gegenwärtigen Konflikt zu charakterisieren – »Krieg gegen den Terror«, »Menschenrechte« und so weiter –, falsche Begriffe sind, die unsere Wahrnehmung der Situation mystifizieren, anstatt den Gedanken zuzulassen: Unsere »Freiheiten« selbst verdecken unsere tiefere Unfreiheit und erhalten sie. Das gleiche gilt für die uns angetragene Wahl zwischen »Demokratie oder Fundamentalismus«.“ Angesichts der Anmerkungen dieses slowenischen Zeitgenossen drängt sich die Frage auf, in welcher Farbe eigentlich die Redetexte unserer Politiker geschrieben sind.

Wo aber bleibt, um mit Erich Kästner zu sprechen, am Ende nun das Positive? Eine schwierige Frage, die, so ist zu befürchten, sich einer kurzen und schneidigen Antwort entzieht. Ein Fingerzeig indes lässt sich erkennen: Die deutschen Bischöfe nämlich haben einen ganz einfachen, präzisen, unmissverständlichen Satz geprägt, und dieser Satz lautet: „Gerechtigkeit schafft Frieden.“ Sie führen dazu aus: „Das Leitbild des gerechten Friedens beruht auf einer letzten Endes ganz einfachen Einsicht: Eine Welt, in der den meisten Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, ist nicht zukunftsfähig. Sie steckt auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt. Verhältnisse fortdauernder schwerer Ungerechtigkeit sind in sich gewaltgeladen und gewaltträchtig. Daraus folgt positiv: »Gerechtigkeit schafft Frieden«.“15

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu Bush, George W.: Remarks by the President at 2002 Graduation Exercise of the United States Military Academy West Point, New York, June 1, 2002, 9:13 A.M. EDT (im Internet unter www.whitehouse.gov/news/releases/2002/06/20020601-3.html).

2) Vgl. Göller, Josef Thomas: Neue Bush-Doktrin: Präventivschlag statt Abschreckung, in: Das Parlament, Nr. 24, 14. Juni 2002, S. 12.

3) Roy, Arundhati: Das radioaktive Kaninchen, in: Die Zeit, Nr. 25, 13. Juni 2002, S. 33.

4) Brent Scowcroft zit. n. Left, Sarah: Iraq: hawks and doves, August 29, 2002 (im Internet unter www.guardian.co.uk/Iraq/Story/0,2763,781489,00.html); vgl. auch Borger, Julian/Norton-Taylor, Richard: US adviser warns of Armageddon, in: The Guardian, August 16, 2002 (im Internet unter www.guardian.co.uk/international/story/0,3604,775519,00.html).

5) Vgl. hierzu insbesondere Opel, Manfred: Die Zukunft der Streitkräfte, in: Soldat und Technik, Nr. 4/2002, S. 7 – 14 (im Internet unter www.soldat-und-technik.de). Zur Kritik dieses Ansatzes siehe Rose, Jürgen: Präventive Verteidigung. Manfred Opels Plädoyer für eine angriffsfähige Bundeswehr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8, August 2002, S. 936 – 942.

6) Vgl. hierzu Conetta, Carl: Strange Victory: A Critical Appraisal of Operation Enduring Freedom and the Afghanistan War, (im Internet unter www.comw.org/pda/0201strangevic.pdf) Bittner, Jochen/Ladurner, Ulrich: Töten, töten, töten. Nicht nur das Blutbad von Qala-i-Dschanghi wirft Fragen nach der Kriegsführung in Afghanistan auf. Die USA ignorieren das humanitäre Völkerrecht, in: Die Zeit, Nr. 50, 6. Dezember 2001, S. 4; Sgrena, Giuliana/Ladurner, Ulrich: Was man in Masar alles findet. Während des Afghanistan-Feldzugs gab es in Masar-i-Sharif ein Massaker. Zeugen sagen, US-Soldaten hätten daran mitgewirkt. Eine Spurensuche, in: Die Zeit, Nr. 27, 27. Juni 2002, S. 3.

7) Noack, Axel: Vom Realopazifismus und dem Bündel an enttäuschten Erwartungen, in: 4/3, Fachzeitschrift zu Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienst und Zivildienst, Nr. 1/2002, S. 43.

8) In der zweiten Intifada starben etwa 600 Israels und ungefähr 2.000 Palästinenser; vgl. hierzu Nass, Matthias: Krieg gegen Saddam? Nicht ohne bessere Gründe, in: Die Zeit, Nr. 33, 8. August 2002, S. 1.

9) Mies, Maria: Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten. (im Internet unter www.come.to/netzwerk-gegen-neoliberalismus).

10) Esterhazy, Yvonne/Wetzel, Hubert: Bush fordert größte Steigerung der Militärausgaben seit 21 Jahren, in: Financial Times Deutschland, 5. Februar 2002.

11) Vgl. OECD: Table IV-1. Net Official Development Assistance Flows from DAC Members in 1999 and 2000 (im Internet unter www.oecd.org/pdf/M00001000/M00001388.pdf).

12) Vgl. Eder, P./Hofbauer, B. G.: Verteidigungsbudget 2002 und Budgetvoranschlag 2002, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, Nr. 3/2002, S. 371f sowie Esterhazy, Yvonne/Wetzel, Hubert: s. Anm. 10.

13) Mies, Maria: Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten, s.o.

14) Zizek, Slavoj: Offener Briefe an den Präsidenten der USA, in: Die Zeit, Nr. 21, 16. Mai 2002, S. 43.

15) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Die deutschen Bischöfe. Gerechter Friede (Hirtenschreiben, Erklärungen Nr. 66), Bonn, 27. September 2000, S. 35f.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

US- und EU-Sicherheitsstrategien contra UN-Gewaltmonopol

US- und EU-Sicherheitsstrategien contra UN-Gewaltmonopol

von Dr. Alexander Neu

Seit Jahren wird eine umfassende Reform der Vereinten Nationen (UN) diskutiert. Ein Gipfeltreffen im Herbst letzten Jahres sollte die UN fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts machen. Die geforderten Reformen blieben jedoch auf dem UN-Gipfel Mitte September letzten Jahres bereits im Anfangsstadium stecken. Der Autor dieses Artikels geht davon aus, dass internationale Regierungsorganisationen keine eigenständigen handlungstragenden Einheiten verkörpern, sondern lediglich Instrumente darstellen, deren Kompetenzen, deren finanzielle, materielle und personelle Ausstattung durch die sie tragenden Staaten – als die eigentlichen Akteure der internationalen Politik – bestimmt werden. Vor diesem Hintergrund geht er der Frage nach, wie im sicherheitspolitischen Sektor die tatsächliche Unterstützung der UN seitens der die UN tragenden Staaten aussieht.

Mit dem Beitritt zur UN haben sich die UN-Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Normen der UN-Charta verpflichtet. Dass heißt:

  • Sie haben einen Teil ihrer Souveränität, das ius ad bellum in der Variante des Angriffskrieges, abgegeben. Damit haben sie das Gewaltmonopol an die UN delegiert.
  • Sie haben sich damit auch verpflichtet, die UN materiell, finanziell und personell (auch militärisch) so weit zu befähigen, dass diese schließlich das formale Gewaltmonopol auch durchsetzen kann.

Doch wie sieht es mit der Vertragstreue einiger für das Funktionieren der UN relevanter Staatengruppen, wie der NATO, der EU und den USA, tatsächlich aus? In welchem Verhältnis stehen das »Strategische Konzept des Bündnisses«, die »Nationale Sicherheitsstrategie« der USA sowie die »Europäische Sicherheitsstrategie« der EU zu den normativen Grundlagen des UN-Sicherheitskollektives?

Normative Grundlagen des UN-Sicherheitskollektivs

Eine der wichtigsten UN-Normen für das Funktionieren des UN-Systems ist die Vorrangklausel (Art. 103 UN-Charta). Sie stellt fest, dass im Falle internationaler Verpflichtungen und internationaler Verträge (z. B.: regionale Abmachungen), deren Normen im Widerspruch zur UN-Charta stehen oder aber sie relativieren, diese sich unterzuordnen haben bzw. keine Rechtsgültigkeit besitzen, da sie ansonsten UN-Recht brechen. Dieses Prinzip ist mit der innerstaatlichen Verfassungshierarchie vergleichbar. Es handelt sich hierbei nicht um ein Verbot von subsidiären Sicherheitsstrukturen wie regionale Organisationen (hierzu Kapitel VIII der UN-Charta), sondern lediglich um deren UN-rechtskonforme Einbindung bzw. Unterordnung.

Zur Erfüllung der Kernaufgabe, der Gewährung kollektiver Sicherheit, wird dem UN-Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 1 der UN-Charta die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen, sowie das ausschließliche Recht zuerkannt, eine „Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ festzustellen (Art. 39 UN-Charta), bzw. entsprechende Maßnahmen einschließlich der Anwendung von Gewalt (Art. 42 UN-Charta) gegen den Rechtsbrecher anzuordnen, woraus dem Sicherheitsrat das Gewaltmonopol erwächst. Ferner sollen dem UN-Sicherheitsrat militärische Kapazitäten – also das Schwert zur Durchsetzung seines kollektiven Schutzauftrages – seitens der UN-Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden (Art. 43 bis Art. 47 UN-Charta). Dieses Schwert wurde jedoch von Anfang an dem UN-Sicherheitsrat nicht in die Hand gegeben.

Stattdessen wurden zwei Ersatzklauseln (Art. 48 & Art. 53. Abs. 1 UN-Charta) formuliert, die es dem UN-Sicherheitsrat erlauben, einzelne Staaten oder regionale Einrichtungen mit deren Einverständnis „unter seiner Autorität in Anspruch“ zu nehmen.

Ungeklärt blieb hierbei die präzise Definition dieser »Autorität«, d.h., ob die Truppen für die militärischen Zwangsmaßnahmen unter internationalem Oberkommando (UN-geführt) oder unter nationalem Oberkommando (UN-mandatiert) operieren würden.

Die Antwort darauf lieferten alsbald die USA, als sie die irakische Besetzung Kuwaits mit einer multinationalen Truppe unter ihrem Oberkommando beendeten. Die UN verloren die komplette Kontrolle über die weitere militärische und politische Entwicklung hinsichtlich des Iraks, sie wurden de facto zum Mandatsbeschaffer degradiert.

Die Ersatzklauseln, die dem UN-Sicherheitsrat die militärische Handlungsfähigkeit quasi indirekt garantieren sollen, erweisen sich realiter als Axt gegen die Fundamente der UN selbst: Die indirekte militärische Handlungsfähigkeit der UN vermittelt über »willige Staaten« bedeutet nichts anderes als keine Kontrolle und somit keine militärische Handlungsfähigkeit der UN. Die operative Umsetzung wird von den »willigen Mandatnehmern« gemäß ihren strategischen und nationalen Interessen definiert. Letztlich werden damit auch die weiteren politisch-strategischen Entscheidungen über die Maßnahmen zur Gestaltung der Nachkriegsordnung in der betreffenden Region der UN faktisch entzogen und der Machtsphäre des »willigen Mandatnehmers« zugeordnet.

Der hierdurch stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen bedeutet eine Rückkehr des anarchischen Staatensystems auf besonders perfide Weise: Internationale Rechtsstaatlichkeit wird zunächst sinnentleert und kann sukzessive zum Knebelinstrument der Großmächte gegenüber schwächeren Staaten umfunktionalisiert werden.

Dass dieses Problem zeitverzögert – 45 Jahre nach Gründung der UN – erst so virulent wurde, erklärt sich durch die bipolare Ost-West Konfrontation: Diese verhinderte einen einseitigen Missbrauch durch die balancierende Kraft der jeweils anderen Seite, die das Vetorecht geltend machte.

Derzeit existiert keine ausreichend balancierende Gegenmacht, die die USA zur Respektierung internationalen Rechts bewegen könnte. Im Gegenteil, wie der Ingenuitätsprozess1 sich nach dem Ende der Bipolarität nicht nur in der praktischen internationalen Politik, sondern auch in völkerrechtlichen Dokumenten durchsetzte wird im folgenden ausgeführt.

Das Strategisches Konzept der NATO

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung drohte die NATO Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. 1991 verabschiedete die NATO ein Neues Strategisches Konzept in dem sie lediglich ihre verteidigungspolitische Funktion in „Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen“ wiederholte und ihre sicherheitspolitische Unabkömmlichkeit unterstrich.2

Diese Selbstrestriktion brachte das Bündnis jedoch in eine Identitätskrise. Es mussten neue Aufgaben, jenseits der klassischen Landes- und Bündnisverteidigung, gefunden werden, um der Verteidigungsorganisation eine neue sinnstiftende Identität zu geben. Zunächst empfahl man sich den UN als militärischer Arm in den Bürgerkriegswirren des auseinanderfallenden Jugoslawien. Schon bald manifestierte sich aber ein mangelnder Unterordnungswillen des Bündnisses unter das globale Sicherheitskollektiv UN.3

Im April 1999 verabschiedete die NATO eine Neuauflage ihres Strategischen Konzepts. Darin wird die »Autorität« des UN-Sicherheitsrates bei der Ausführung militärischer Operationen geltend gemacht.4 Allerdings wird diese »Autorität« in einen breiten Interpretationsansatz gerückt: Das Bündnis wird „bei der Erfüllung seines Ziels und seiner grundlegenden Sicherheitsaufgaben (…) die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen anstreben.“5 Die Wortwahl »anstreben« bedeutet jedoch keine definitive Unterordnung, sondern lediglich, wenn möglich mit, wenn nötig ohne UN. Damit wird das UN-Gewaltmonopol offen in Frage gestellt. Auch eine weitere Formulierung, die zwar sehr eng an die UN-Charta Art. 24 Abs. 1 angelehnt ist, zielt auf eine Relativierung des UN-Gewaltmonopols zu Gunsten der NATO: Das Strategische Konzept spricht hier von der „primären Verantwortung“, statt der Hauptverantwortung (Art. 24 Abs. 1 UN-Charta) der UN für die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.“6 Ein Differenzierungsversuch beider Begriffe mag zunächst ein wenig theoretisch und irrelevant wirken. Betrachtet man indes den realpolitischen Kontext, dass nämlich das Strategische Konzept exakt zu jenem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die NATO Jugoslawien bombardierte, so gewinnt die Interpretation der Formulierung »primäre Verantwortung« Konturen: Sie wird als eine Art Reserveverantwortung der NATO für die Wahrung kollektiver Sicherheit beansprucht für den Fall, dass die UN ihrer Funktion – gemäß der Erwartung des Westens – nicht gerecht wird.

Die in Art. 24 UN-Charta gewählte Formulierung der Hauptverantwortung bedeutet hingegen nicht, dass den Staaten eine Reserveverantwortung für die Wahrung der kollektiven Sicherheit dergestalt zugewiesen wird, dass diese im Falle einer Handlungsblockade des UN-Sicherheitsrats die Verantwortung und das Handeln der UN eigenmächtig substituieren. Im Gegenteil: Zwar wird die Regelung sicherheitspolitischer Probleme gemäß Art. 52 UN-Charta auch subsidiären Strukturen ermöglicht, jedoch nur unter explizitem Ausschluss militärischer Maßnahmen (Art. 53 UN-Charta). Der Terminus Hauptverantwortung muss im Kontext des Art. 2 Abs. 3 & 4 der UN-Charta interpretiert werden: Demnach die Verantwortung der Staaten selbst, durch eine proaktive Haltung in Form des ausnahmslosen Verzichts auf das ius ad bellum als Angriffsvariante zur „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ beitragen müssen und „internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel“ beilegen sollen.

Das Strategische Konzept muss in seiner Gesamtheit und unter Berücksichtigung der realpolitischen Situation verstanden werden. Neben dem mangelnden Unterordnungswillen unter die UN bleibt auch der geographische Aktionsradius offen. Es werden der euro-atlantische Raum, die Peripherie desselben und schließlich der »globale Kontext«, genannt, indem die Sicherheitsinteressen, wie die „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“, berührt werden könnten.7

Insgesamt verweist das Konzept auf eine neue NATO, die sich nicht mehr als klassisches Verteidigungsbündnis unter der Maßgabe eines eng gefassten Verteidigungsbegriffs, der Landes- und Bündnisverteidigung, verstanden wissen will. Die neue NATO definiert sich über einen geographisch entgrenzten Verteidigungsbegriff (Stichwort: Deutschlands Verteidigung am Hindukusch), der das Verteidigungsbündnis im Ergebnis zu einem globalen Sicherheitskollektiv ohne völkerrechtliche Legitimation erhebt. Hierbei bricht die NATO UN-Recht materiell (Bruch des UN-Gewaltmonopols durch den Jugoslawien-Krieg) und formell (Bruch des Primats der UN bzw. des UN-Rechts gemäß Art. 103 UN-Charta).

Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA

Die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) wurde im September 2002 als neue Sicherheitsdoktrin der USA verkündet. Die NSS muss im Kontext des ein Jahr zuvor stattgefundenen Terroranschlags auf die USA verstanden werden. Die NSS verweist mit dem hohen Selbstbewusstsein einer Supermacht auf eine US-amerikanische Außenpolitik, die „neue, produktive internationale Beziehungen“ eingehe und die „bestehenden neu“ definiere.8 Es wird deutlich, dass nicht nur punktuelle Korrekturen der bestehenden, sondern der Prozess zu einer neuen Weltordnung nach US-amerikanischem Gusto eingeleitet werden soll. Die hierzu angewandte Methode der unilateralen Deregulierung der internationalen Beziehungen und der damit einhergehenden Renationalisierung sicherheitspolitischer Entscheidungen und sogar Rechtsetzungsansprüchen stellt nichts weniger als das gegenwärtige internationale Rechtssystem zur Disposition. Zu nennen ist hier beispielsweise die Weigerung der USA sich dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterwerfen.

Die UN werden ganze zweimal in dem umfassenden Dokument genannt. Im Vorwort wird auf eine sehr allgemeine und unpräzise formulierte Verpflichtung der USA gegenüber multilateralen Institutionen, wie der UN verwiesen. Der zweite Hinweis devaluiert gar die UN zu einer Organisation unter vielen, mit der bei Bedarf kooperiert werden kann.9

Im Mittelpunkt der NSS steht der internationale Terrorismus als zentrale sicherheitspolitische Herausforderung. Die USA beanspruchen die globale Führerschaft im Kampf gegen die neuen sicherheitspolitischen Risiken. Die wesentlichen Konfliktlösungsmechanismen sind hierbei repressiver Art, d.h. militärische Maßnahmen, deren Nennung wie ein roter Faden die gesamte NSS durchzieht. Mit dem Anspruch der globalen Führerschaft unter Verwendung repressiver Mittel, stellen sich die USA in der Hierarchie über die UN. Hierbei pendelt die NSS zwischen einem scheinbaren Multilateralismus, selektivem Multilateralismus10 und einem dezidierten Unilateralismus.

  • Hinsichtlich des scheinbaren Multilateralismus wird das völkerrechtskonforme Präemptionprinzip (aktive Selbstverteidigung bei einem gegenwärtig zu erwartenden Angriff) um die Bedeutung der völkerrechtlich nicht zulässigen Prävention erweitert: „(…) desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird.“11 Der bislang gültige Unterschied zwischen Präemption und Prävention wird angesichts neuer Bedrohungsformen (internationaler Terrorismus) und unkonventioneller Kampfmethoden ohne Vorwarnzeiten, auf diese Weise verneint. Auch wird mit der räumlichen und zeitlichen Offenheit, dem Angriffskrieg Tür und Tor geöffnet.
  • Der selektive Multilateralismus exemplifiziert sich an Rüstungskontrollregimen und dem Nichtverbreitungsvertrag, die den USA einen Nutzen einräumen.12 Der selektive Multilateralismus ist gekennzeichnet durch punktuelle Kooperationen, die den nationalen Interessen förderlicher sind als eine rein unilaterale Vorgehensweise.
  • Der dezidierte Unilateralismus wiederum findet seine Anwendung für den Fall, das den USA die Unterstützung seitens internationaler Organisationen beim Kampf um die internationale Sicherheit verwehrt bleiben. Dann werden die USA „auch nicht zögern zu handeln, wenn es notwendig werden sollte, unser Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen (…).“13Auch hier wird deutlich, dass den internationalen Organisationen, gemeint ist hier wohl insbesondere die UN ohne sie namentlich zu nennen, nicht die Hauptverantwortung, sondern bestenfalls eine kooperierende und schlimmstenfalls eine dienende oder gar irrelevante Funktion für die Wahrung der kollektiven Sicherheit zu Teil wird.

Die signifikante Abwertung der UN, manifestiert sich letztlich in Kapitel VIII der NSS, in der die „Entwicklung einer Agenda für die Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Machtzentren der Welt“ skizziert wird. Dort werden neben den Großmächten und einigen besonders treuen Verbündeten, wie Japan, Südkorea und Australien, noch vier internationale Organisationen genannt: die NATO, die EU, die ASEAN und die APEC. Die UN wird nicht aufgeführt.14

Nicht nur das die UN und das UN-Völkerrecht keine Rolle in der NSS spielen. Es bleibt festzustellen, dass die NSS sich nicht nur nicht dem UN-Völkerrecht unterzuordnen gedenkt, sondern dass sie vielmehr auf deren Ablösung durch eine US-amerikanische Weltordnung abzielt.

Ein solcher Ansatz müsste eigentlich auf entschiedenen Widerstand der europäischen Partner stoßen. Wie die Reaktion der EU tatsächlich ausschaut, zeigt eine Analyse der Europäischen Sicherheitsstrategie.

Die Europäische Sicherheitsstrategie

Die Europäische Union gab sich im Dezember 2003 eine eigene Europäische Sicherheitsstrategie (ESS). Angesichts der zunehmenden Integration der EU – auch in sicherheitspolitischen Fragen – zeigte sich die Notwendigkeit der strategischen Positionierung eines im Werden begriffenen sicherheitspolitischen Akteurs auf der Weltbühne. Da die EU selbst eine regionale Organisation auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge darstellt, und sie zugleich der am stärksten verrechtlichte Raum der Welt mit bisweilen supranationalen Strukturen ist, weiß sie um die Relevanz implementierter und ausgeführter – kurzum gelebter – Normen wie kein anderer Akteur. Angesichts dessen müsste die ESS im besonderen Maße sich den UN-Normen und deren Umsetzung verpflichtet fühlen.

Tatsächlich bekundet die ESS eine proaktive UN-Politik, in dem sie deren „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ betont.15 Obgleich die ESS keine Bereitschaft bekundet, der UN Truppen unter UN-Befehl gemäß Art. 43 UN-Charta (UN-geführte Friedenserzwingung) zur Verfügung zu stellen, um das formale UN-Gewaltmonopol auch materiell zu unterfüttern, so erklärt sie dennoch, die UN in deren Kampf „gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt“ zu unterstützen. Hierbei bekundet sie auch ihr Pflichtgefühl, zu einer „verstärkten Unterstützung“ der UN bei „kurzfristigen Krisenbewältigungseinsätzen.“16 Im Gegensatz zur NSS zielt die ESS nicht auf eine neue Weltordnung durch Eliminierung der gegenwärtigen internationalen Rechtsordnung ab, sondern fordert die „Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“ im Einklang mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.17

Aber exakt im Kontext der Handhabung der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen manifestieren sich Schnittmengen zwischen der ESS und der NSS. Die ESS fordert die Entwicklung einer Strategie-Kultur, „die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert“. Die Gefahren von Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie „humanitäre Krisen“ können durch „präventives Engagement“ reduziert werden.18

Allerdings kollidiert die Forderung nach präventiven militärischen Operationen zwecks Eindämmung neuer sicherheitspolitischer Gefahren mit der Selbstverpflichtung der Wahrung des Völkerrechts. Denn gemäß Art. 51 UN-Charta stellt die militärische Prävention kein Bestandteil des „naturgegebenen Rechts zur Selbstverteidigung“ dar, sondern fällt unter die Kategorie des absoluten Gewaltverbots (Art. 2 Abs. 4) und ist somit als klassischer Angriffskrieg zu klassifizieren. Dem Selbstverteidigungsbegriff der UN-Charta liegt ein restriktives territorial gebundenes Verständnis zu Grunde. Dieses wird jedoch von der ESS gleichsam der NSS mit Verweis auf die besondere Qualität der neuen sicherheitspolitischen Risiken unterminiert: „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“19

Die ESS versucht diesen Widerspruch offensichtlich mit Verweis auf die Notwendigkeit, „dass das Recht mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globaler Erwärmung Schritt“ halten müsse, aufzulösen.20 Hierbei »übersehen« die Autoren der ESS, dass auf diese Weise das UN-Gewaltmonopol ungeachtet aller UN-treue Bekundungen nicht nur faktisch, sondern auch formal ausgehebelt wird.

Fazit

Weder in dem Strategischen Konzept des Bündnisses noch in den Doktrinen wird der Wille erkennbar, sich dem UN-System bedingungslos zu unterwerfen. Rhetorisch geschickt verpackte Formulierungen verbergen unilaterale Hintertürchen. Die allenthalben zu vernehmende Kritik an der mangelnden Funktionalität und Effizienz der UNO ist nicht ihr eigenes Versäumnis, da sie kein selbstständiger Akteur ist. Es ist eindeutig der fehlende Wille der sie tragenden relevanten Akteure, ihr die erforderlichen und Entscheidungskompetenzen zu verleihen. Darüber hinaus stellt die Kritik der Großmächte an der mangelnden Funktionalität der UNO einen Versuch dar, ihre unilateralen Maßnahmen als notwendige Ersatzmechanismen zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund sind die Reformbemühungen der UNO mit dem Ziel der Herbeiführung effektiverer Strukturen und erweiterter Kompetenzen zur Durchsetzung einer gerechteren Weltordnung, bestenfalls Wunschdenken.

Schlimmstenfalls dienen die Reformen dazu, den Handlungsspielraum der Großmächte zu erweitern (Interventionen mit Unterstützung der UN). Sollte das internationale Recht angesichts der neuen sicherheitspolitischen Risiken, wie von der ESS unter Berücksichtigung des Präventivinstituts gefordert, »modernisiert« werden, so liefe dies auf ein Ermächtigungsgesetz zur »weltweiten präventiven Selbstverteidigung« hinaus. Auf diese Weise würde das ius ad bellum, welches als Nicht-Selbstverteidigungsvariante ausschließlich dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten ist, wieder zu den Nationalstaaten zurückkehren, was unzweifelhaft einen zivilisatorischen Rückschritt bedeuten würde.

Anmerkungen

1) Der Politikwissenschaftler August Pradetto definiert den Begriff folgendermaßen: „Mit dem Begriff Ingenuität ist der beabsichtigte Zustand mit Hilfe einer Politik gemeint, die auf Abwehr von Restriktionen für die eigene Handlungsfreiheit und auf die Erlangung einer möglichst großen Variationsbreite eigener Handlungsoption gerichtet ist“.

2) The Alliance’s New Strategic Concept, Rom, 1991.

3) Nassauer, Otfried u.a.: NATO, Peacekeeping, and the United Nations, Berlin, 1994.

4) Das Strategische Konzept des Bündnisses, Washington, 1999, Abs. 31.

5) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 11.

6) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 15.

7) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 24.

8) The National Security of the United States of America, Sept. 2002, S. 7.

9) The National Security…, Vorwort und S. 7

10) Hippler, Jochen, Die unilaterale Versuchung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2003, S. 818 ff.

11) The National Security…, S. 15, 13, 22.

12) The National Security…, S. 14.

13) The National Security…, S. 6, 42.

14) The National Security…, S. 25 f.f

15) Ein sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12. Dezember 2003, S. 9.

16) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

17) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 9f.

18) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

19) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 7.

20) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 10.

Dr. Alexander Neu, Politologe, Mitglied der W&F Redaktion