Das böse Erwachen kommt noch

Das böse Erwachen kommt noch

Zum 50. Geburtstag der NATO

von Andreas Zumach

Strategiedebatten der NATO sowie tatsächliche Korrekturen ihrer Doktrin wurden in den ersten 40 Jahren ihres Bestehens bis zum Fall der Berliner Mauer immer von den USA ausgelöst. Anlass war jeweils eine oft durch neue waffentechnologische Möglichkeiten bestimmte Veränderung der nationalen Atomwaffendoktrin der Bündnisvormacht. Sie wurde dann immer sehr bald zur gemeinsamen Doktrin der Allianz. Wobei den Bündnispartnern – mit Frankreichs Ausnahme – jeweils die Illusion gelassen wurde, sie hätten tatsächlich mitentschieden. Bekanntestes Beispiel ist der Wechsel von der »massiven Vergeltung« hin zur »flexiblen Antwort« Ende der 60er Jahre. In der Regel fanden die Diskussionen hinter verschlossenen Türen der NATO-Militärs statt; manchmal wurden elitäre Zirkel »sicherheitspolitischer Experten« aus Politik, Wissenschaft und Medien beteiligt. Die Debatte um die Atombewaffnung der Bundeswehr Ende der 50er Jahre und die dem NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 folgende scharfe und lang anhaltende öffentliche Kontroverse um die Stationierung neuer Atomraketen sind die einzigen Fälle, in denen relevante, (über)lebenswichtige Fragen der Sicherheitspolitik in der partizipatorischen Breite und Intensität diskutiert wurden, wie sie für parlamentarische Demokratien eigentlich selbstverständlich sein sollten. Dass die öffentliche Kontroverse der 80er Jahre nicht nur von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, sondern von weiten Teilen der damaligen politischen Eliten in den NATO-Staaten als ärgerlicher Betriebsunfall verarbeitet wurde und die schließliche Durchsetzung der Stationierung von Pershing 2 und Cruise Missiles als »Sieg der Politik über die Straße«, zeugt von einem gefährlichen Demokratiedefizit.

Zehn Jahre später ist die Lage im Grunde wenig verändert. Entgegen allen Voraussagen hat die westliche Militärallianz den Wegfall ihres östlichen Gegenübers und »raison d`etre« bislang prächtig überstanden. In den ersten Jahren nach 89 mit wiederholter Verkündung der »politischen Rolle«, die sie fortan zu spielen gedenke – eine hohle Phrase, die nie mit konkreten Inhalten gefüllt, aber auch in keinem der 16 Mitgliedsstaaten ernsthaft hinterfragt wurde. Es folgte die Diskussion um die Ausdehnung nach Osten – mit all ihren Vorspielformen wie der »Partnerschaft für den Frieden« oder dem NATO-»Kooperationsrat«.

Nachdem sich der Beschluss des Pariser KSZE-Gipfels vom November 1990, die KSZE , das „Herzstück der europäischen Architektur“ (Kohl in seinen Thesen zur deutschen Vereinigung vom Herbst 89) nun zur gemeinsamen, kollektiven Sicherheitsinstitution für das Gebiet vom Atlantik bis zum Ural auszubauen, als leeres Versprechen der NATO-Staaten erwiesen hatte, gab es für die Ostausdehnung auch die »Partner«, auf deren »legitime Sicherheitsbedürfnisse« und Beitrittswünsche sich die NATO berufen konnte.

Schließlich der Krieg in Bosnien: geradezu ein Glücksfall für die Neulegitimierung der NATO, nachdem sich zuvor die EU mit ihrem Anspruch auf eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik blamiert hatte und die UNO insbesondere von NATO-Regierungen zum Sündenbock für ihr eigenes Scheitern in Bosnien gemacht wurde. Wenn bis April nichts Wesentliches mehr schief läuft, kann die Allianz zum 50. Geburtstag in Washington ihre »friedensstiftende Rolle« im Kosovo feieren.

Dann besteht erst Recht die Gefahr, dass die beiden erneut in erster Linie von den USA angestrebten Änderungen der NATO-Strategie auch vollzogen werden – ohne größere Debatte. Obwohl diese Änderungen – einmal ganz abgesehen von ihrer eindeutigen Völkerrechtswidrigkeit – weit gravierender sind als alle Korrekturen der Jahre 1949-89: Die NATO soll zum weltweit einsatzfähigen Interventionsinstrument werden, auch ohne UNO-Mandat; per Atomwaffendrohung der NATO sollen sogenannte »Schurkenstaaten« künftig von der Anschaffung und dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln und ballistischen Raketen abgeschreckt werden.

Das böse Erwachen kommt gewiss. Spätestens wenn es in einigen Jahren nicht mehr um Konflikte in Bosnien oder dem Kosovo geht, wo die NATO-Staaten und Russland – trotz aller öffentlichen Kontroversen – nicht wirklich substanzielle und gegensätzliche Interessen verfolgen. Sondern zum Beispiel, wenn es um Konflikte im Kaukasus geht, einer Region mit riesigen, geostrategisch bedeutsamen Öl- und Gasvorkommen, um deren Ausbeutung der Streit zwischen westlichen und russischen Ölkonzernen bereits voll entbrannt ist.

Andreas Zumach arbeitet als freier Journalist in Genf

»Europäische Sicherheitsidentität« – ein unbezahlbarer Traum?

»Europäische Sicherheitsidentität« – ein unbezahlbarer Traum?

Die deutsch-französische Militärkooperation

von Stefan Gose

Es dauerte etwa 15 Jahre, bis sich Frankreich dem dreimaligen Kriegsgegner Deutschland wieder auf sicherheitspolitischem Gebiet näherte. Noch 1954 scheiterte eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft/EVG mit deutscher Beteiligung an der französischen Nationalversammlung. Die Bundesrepublik wurde 1955 zwar Mitglied der Militärbündnisse NATO und Westeuropäischer Union/WEU, denen auch Frankreich angehört. Doch während die WEU im Schatten der NATO bald bedeutungslos wurde, distanzierte sich Frankreich zunehmend von der NATO. Die US-Dominanz im Kalten Kriegs-Bündnis widersprach dem gaullistischen Selbstverständnis von Frankreich als einer europäischen Hegemonialmacht in einer multipolaren Welt. Die französischen »Fouchet-Pläne« einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ohne die USA scheiterten 1962 an den »Atlantikern« in der EWG. Auch der Abschnitt »II.B Verteidigung« des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages vom 22.1.1963 blieb ohne substantielle Folgen.

Mit dem Austritt aus der militärischen NATO-Integration 1966 und dem ersten französischen Atomtest am 2.6.1966 in der algerischen Sahara unterstrich Charles de Gaulle den Anspruch, Frankreich als eigenständige Weltmacht mit einer weitgehend unabhängigen Rüstungsindustrie auszubauen. Die westdeutsche Sicherheitspolitik orientierte sich zur Wiedererlangung der Souveränität durch Westintegration dagegen weitgehend an der US-dominierten NATO. Deutsch-französische Rüstungskooperationen (Transall, Alpha Jet) dienten der französischen Seite zu Kostensenkung und Einflußerweiterung, während die deutsche Rüstungsindustrie peu à peu Systemkompetenz und Unabhängigkeit gewann.

Von der Isolation zur Kooperation

Doch auch immense französische Rüstungsexporte konnten die Kosten für eine autarke Verteidigungsindustrie langfristig kaum senken. Die hohen Verteidigungslasten der Mittelmacht Frankreich konnten weder verhindern, daß die USA ihre militärpolitische Dominanz ausbauten noch daß die Bundesrepublik zur bestimmenden Wirtschaftsmacht Europas avancierte. Statt eine Hegemonialstellung in Europa zu erlangen, isolierte sich Frankreich von einer erstarkenden NATO und damit von der europäischen Sicherheitspolitik. Dies wurde insbesondere während der innen- und außenpolitisch brisanten Phase des NATO-Doppelbeschlusses (1979-83) deutlich, zumal die nuklearen Offensivstrategien der Ära Reagan (Deep Strike, FOFA, ALB) auch Frankreich getroffen hätten.

Im Januar 1984 initiierte daher die französische Regierung eine Wiederbelebung der WEU. In Kanzler Kohl fand Präsident Mitterand einen Verbündeten, der zwar weiterhin die transatlantische Sicherheitsachse beschwor, zugleich aber die Zeit für eine Neugewichtung der Bundesrepublik in Europa gekommen sah. Der Bundesrepublik galt Mitterand als willkommener Partner, weil erstens vom US-getreuen Großbritannien keine Unterstützung für eine französische Hegemonialstellung in Europa zu erwarten war. Zweitens, weil die ökonomische Dominanz der BRD in Westeuropa Frankreich zur Kooperation mit einem Land zwang, das vom Zweiten Weltkrieg diskreditiert, sich keine souveräne Außen- und Sicherheitspolitik leisten konnte. Die »Deutsch-französische Freundschaft« wurde so für die Bundesrepublik zum »Gütesiegel« für internationale Reputation, wofür sich die französische Regierung entsprechendes ökonomisches Entgegenkommen versprach. Die Rolle der Atommacht Frankreich in einem Militärbündnis ohne die USA sah Mitterand als zwangsläufig herausragend. Aber wegen verschiedenseitiger Rücksichtnahmen auf den NATO-Partner USA und mangels NATO-unabhängiger Ressourcen kam die WEU zunächst kaum über das Stadium einer Koordinationsstelle für gemeinsame Rüstungsvorhaben hinaus. Doch die zunehmenden bi- und multilateralen Rüstungskooperationen (Eurocopter, Euromissile, Eurodrohne, Euroflag, Eurotorp) entlasteten weder den französischen Verteidigungshaushalt, noch erhöhten sie die sicherheitspolitische Bedeutung Frankreichs oder Europas.

Zum Verdruß der USA vereinbarten Kohl und Mitterand 1987/88 daher den Aufbau einer deutsch-französischen Brigade, die 1991 in Mulhouse und Baden-Baden als einsatzbereit gemeldet wurde. Diese zum Symbol für Völkerverständigung verharmlosten 5.000 Soldaten waren der Grundstock zum Eurocorps, das Kohl und Mitterand am 22. Mai 1992 in La Rochelle beschlossen. Am 1.10.93 übernahm der heutige Heeresinspekteur Helmut Willmann in Straßburg den Befehl über die 5 Eurocorpsverbände, die bis 1998 zu 60.000 Soldaten aufwachsen sollen.

Das Eurocorps sollte zunächst als leichte, später auch als schwere Eingreiftruppe für NATO, WEU und andere Organisationen zur Verfügung stehen.

Sinnstiftung: Auslandseinsatz

Nach dem Mauerfall sahen Kohl und Mitterand im Abzug amerikanischer und sowjetischer Truppen aus Europa die Chance, die WEU zum militärischen Standbein einer »Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik/GASP« der EU auszubauen und verankerten dies in Art.J4 Abs.2 des Maastricht-Vertrages vom 7.2.1992. Am 19. Juni 1992 machte sich die WEU in ihrer Petersberger Erklärung die gleichen weltweiten Kriseninterventionen zur Aufgabe, wie sie sich die NATO im Oktober 1991 vorgenommen hatte. Der Haken: Weder die Euroverbände noch die WEU verfügen über die nötigen Aufklärungs- und Kommandostrukturen sowie Transportmittel, um eigenständige Auslands-einsätze durchführen zu können. Nachdem sich abzeichnete, daß eine europäische Realisierung entsprechender Transport- (FLA) und Kommandosysteme (Helios II) mittelfristig nicht finanzierbar ist, akzeptierte Mitterand 1994, das Eurocorps künftig unter »operational command« der NATO einzusetzen.

Streitkräftereform

Mit dem »Stoltenberg-Papier« vom Januar 1992 wurde der Umbau der Bundeswehr in Hauptverteidigungskräfte zur Landesverteidigung und Krisenreaktionskräfte für den Auslandseinsatz (Personalstärke 53.000) eingeleitet. Mitterand mußte spätestens im 2. Golfkrieg 1991 erkennen, daß die militärischen Kapazitäten Frankreichs allenfalls zu Kurzinterventionen in Drittweltstaaten ausreichten: Während die britische Berufsarmee von 150.000 Soldaten 35.000 an den Persischen Golf verlegen konnte, waren vom 280.000 Mann starken französischen Wehrpflichtigenheer dazu nur 9.000 Soldaten geeignet. Die französischen Waffen erwiesen sich gegenüber denen der Alliierten als veraltet und unterlegen. Häufig konnten französische Waffen nicht eingesetzt werden, weil die Exportnation Frankreich dem Irak die gleichen Waffen verkauft hatte, so daß die eigene Abwehr Freund und Feind nicht hätte unterscheiden können.

Dreigleisig versuchte Mitterand, die Lücke zwischen geopolitischem Anspruch und militär-technischen Möglichkeiten zu verringern: Erstens suchte Frankreich wieder die Nähe zur NATO, zweitens forcierte Mitterand die nukleare Modernisierung der »Force de Dissuasion« und drittens intensivierte er Rüstungskooperationen. Sein im Mai 1995 gewählter Nachfolger Jaques Chirac ging noch weiter: Im Juni 1995 ließ er seinen Verteidigungsminister Charles Millon eine Strategiekommission einsetzen, deren Vorschläge für eine umfassende Armeereform am 22./23. Februar 1996 veröffentlicht wurden und nun mit dem Militärprogrammgesetz 1997-2002 umgesetzt werden. Die drei Schwerpunkte sind: 1. Abschaffung der Wehrpflicht bis 2001, 2. Verkleinerung der Armee von 500.000 auf 350.000 Soldaten und 3. Straffung der Rüstungsindustrie.

Deutsch-Französisches »Sicherheitskonzept«

Auf der Hardthöhe und bei der deutschen Rüstungsindustrie sorgte die unangekündigte französische Armeereform für Unruhe. Frankreich könne seine Wehrpflicht nur abschaffen, weil die Bundesrepublik das Schutzschild dafür biete, analysierte Ex-Generalinspekteur Naumann.

Doch nicht für alle kam die Reform überraschend: Bereits am 7.12.95 hatten Kohl und Chirac in Baden-Baden eine Generalinventur der Militärkooperationen beschlossen. Damit beauftragt wurden die Rüstungsdirektoren des 1988 mit der deutsch-französischen Brigade gegründeten Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates. Gezielt ließen die hohen Beamten im Verlauf ihrer einjährigen Arbeit einige Streitpunkte durchsickern, die sich aus der Ressourcenverknappung beiderseits des Rheins ergaben: Die französische Seite stellte den Nutzen für den Verbleib französischer Truppen in Deutschland und im Eurocorps in Frage. Deutscher Skepsis über die Finanzierbarkeit des gemeinsamen Spionagesatellitenprogramms Helios II begegnete Frankreich mit der Ausstiegsdrohung aus den Hubschrauberprojekten NH-90 und Tiger. Die Bilanz, das »Gemeinsame Deutsch-Französische Sicherheits- und Verteidigungskonzept« wurde am 9.12.96 in Nürnberg präsentiert. Das Papier ist ein ambitionsloses Patt, nach dem alle bisherigen Kooperationen weiterverfolgt werden sollen, obwohl die Unbezahlbarkeit der Rüstungskooperationen absehbar ist.

Frankreichs NATO-Annäherung

Dennoch gab es Aufregung, als Verteidigungsminister Volker Rühe in einem Tagesthemen-Interview das »Konzept« als »NATOisierung Frankreichs« interpretierte. Außenminister Herve de Charette beeilte sich am 29.1.97 vor der Nationalversammlung zu erklären, das »historische« Positionspapier bedeute nichts Neues für die französische Sicherheitspolitik. Hintergrund ist seit 1995 die parteienübergreifende Skepsis gegenüber der französischen Annäherung an die NATO, was vielfach als eine Abkehr vom Gaullismus interpretiert wurde:

  • Mitterand war 1995 mit seiner Zustimmung zur Einbindung der ehemaligen WVO-Staaten in den Nordatlantischen Kooperationsrat/NACC, in den KSE-Vertrag und beim Partnership for Peace/PfP-Programm von der Linie bilateraler Verträge abgewichen, bei der Überwachung des Adria-Embargos akzeptierte der französische Präsident das NATO(US-)-Kommando ebenso wie beim IFOR-Einsatz in Bosnien.
  • Chirac setzte diese US-freundliche Linie fort, indem er das NATO-operational command für das Eurocorps akzeptierte, seinen Verteidigungsminister wieder regelmäßig in den NATO-Rat schickte und französische Vertreter wieder am NATO-Militärausschuß und nachgeordneten Gremien teilnehmen ließ.
  • Auf der NATO-Ratstagung am 3.6.96 in Berlin stimmte Chirac sowohl der neuen Nuklearstrategie der NATO MC 400/1 zu als auch dem CJTF-Mischtruppenkonzept, wonach – wie bei SFOR in Bosnien – französische Truppen unter fremden Befehl eingesetzt werden können. Ein schwacher Widerstand ist demgegenüber die Forderung nach einem europäischen Vize-SACEUR oder der Anspruch auf das NATO-Südkommando in Neapel.

Deutschlands Nukleare Teilhabe?

Ein zweiter Konflikt über das deutsch-französiche Kooperationspapier entfachte sich an dem Satz „Unsere beiden Länder sind bereit, einen Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung im Kontext der Europäischen Verteidigungspolitik aufzunehmen“. Nichts anderes hatte Präsident Mitterand bereits 1992 aus finanziellen und europapolitischen Erwägungen ohne Resonanz aus Deutschland vorgeschlagen. Denn eine Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik mit nationalen Atomwaffen in Frankreich und Großbritannien ist kaum vorstellbar. Kanzler Kohl kommentierte mögliche deutsche Mitentscheidungswünsche über die französische Bombe am 10.2.97 in der FAZ als „völlig falsch“. Auf eine Kleine Anfrage im Bundestag nach der Unvereinbarkeit einer gemeinsamen nuklearen Verfügungsgewalt mit dem Atomwaffensperrvertrag antwortete die Bundesregierung am 14.3.97 jedoch zum wiederholten Male ausweichend: „Die Feststellung der Bundesregierung, wonach die Entwicklung einer Europäischen Verteidigung im Rahmen der EU derzeit nicht aktuell, sondern eine hypothetische Frage ist, ist weiterhin gültig. Die Frage eventueller Schlußfolgerungen aus den Artikeln I und II NVV [Verbot der Weitergabe von Atomwaffen, d.A.] stellt sich daher nicht.“

Trotz dieses bemerkenswerten nuklearen Hintertürchens der Bundesregierung und erheblichen Finanzierungsproblemen auf der französischen Seite ist eine gemeinsame militärische Nuklearpolitik nicht nur aus rechtlichen Gründen unwahrscheinlich. Ein deutsches Interesse an der Mitverfügung über Atomwaffen konnte zwar noch nie gänzlich ausgeschlossen werden, es wäre jedoch auf absehbare Zeit unbezahlbar. Deshalb hat der angebotene Atomdialog eher Symbolcharakter: Frankreich wirbt durch vermeintliche Offenheit bei der atomkritischen deutschen Öffentlichkeit für eine Legitimation einer anachronistischen Waffengattung.

Seine tatsächliche Atompolitik betreibt Frankreich unabhängig von einem Atomdialog: 1996 wurden die letzten landgestützten Atomraketen S-3 und Hadès verschrottet. Mit jährlich ca. 10 Mrd. DM stehen bis 2002 etwa ein Sechstel des 185 Mrd. FF-Verteidigungshaushaltes für die »Force de Dissuasion« zur Verfügung. Im Jahre 2002 sollen die Atomstreitkräfte noch über 4 nukleargetriebene U-Boote mit M45 und M4/TN71 Atomraketen verfügen. Daneben sollen 3 Schwadronen Mirage 2000N und 2 Super-Entendard-Luftflotten mit nuklearen ASMP-Abstandsraketen ausgerüstet werden. Die beschlossene Aufgabe der südpazifischen Atomtestgelände Muroroa und Fangataufa sowie der Urananreicherungsanlagen von Marcoule und Pierrelatte kann Frankreich durch vorhandenes Spaltmaterial kompensieren. Durch ein Abkommen über know how-Transfer bei Nuklearsimulationen mit den USA von 1995 und den bei Bordeaux im Aufbau befindlichen Laser Megajoule könnte Frankreich künftige Atomwaffen bei entsprechender Finanzlage »am Computer« entwickeln. In militärischen Nuklearfragen bleiben eher die USA oder Großbritannien, mit denen Frankreich seit 1992 nukleare Koordinationsgespräche führt, erste Adresse. Doch selbst der Bau einer französisch-britischen nuklearen Abstandsrakete scheiterte.

Reform der Rüstungsindustrien

Die eigentliche Zielrichtung des deutsch-französischen Sicherheitspapiers erschließt sich beim Blick auf die aktuellen Arbeitsgruppen des Deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates, der den Text verfaßt hat:

  • Strategie und Abrüstung,
  • Militärische Zusammenarbeit,
  • Rüstungskooperation,
  • Raumgestützte Aufklärung,
  • Rüstungspolitik,
  • Finanzielle Perspektiven und
  • Status französicher Truppen in Deutschland und Eurocorps.

Es geht weniger um eine politisch geplante europäische Sicherheitsarchitektur, als um Schadensbegrenzung an Truppen und Material durch Reduzierungen und Rüstungskooperation in Zeiten leerer Kassen.

Die Mehrzahl der französischen Rüstungsunternehmen existieren als Staatsbetriebe von »nationalem Interesse« nur noch durch milliardenschwere Subventionen. Auch die privaten Wehrtechnikbetriebe werden von der Rüstungsbehörde Délégation Générale pour l'Armement/DGA maßgeblich gesteuert. Wie Behörden arbeiteten diese Unternehmen in der Vergangenheit kaum nach betriebswirtschaftlichen Kriterien, verzichteten auf Rationalisierungen und Innovationen, weil der Absatz gesichert schien.

Für etwa 10 Milliarden DM soll die französische Rüstungsindustrie nun von derzeit ca. 300.000 Beschäftigten um knapp ein Drittel reduziert werden. Die etwa 6.000 wehrtechnischen Betriebe, deren Zentren in der Bretagne, der Normandie, um Bordeaux und um Marseille liegen, sollen durch Fusionen und Stillegungen gestrafft werden. Bis 2001 sollen ca. 30 Mrd. DM bei den Verteidigungsausgaben eingespart werden. Neben der Straffung des Heereswaffenlieferanten Groupement Industrièl des Armements Terrèstres/GIAT steht die Privatisierung des milliardenschwer verschuldeten Elektronik- und Raketenkonzerns Thomson CSF, der bankrotten Werft Dirèction des Constructions Navales/DCN (24.000 Beschäftigte) sowie die Zwangsfusion des defizitären staatlichen Flugzeugbauers Aérospatiale mit der gewinnbringenden privaten Dassault im Vordergrund. Die Sanierungsaussichten sind mäßig, da auch im internationalen Umfeld Überkapazitäten bei sinkendem Absatz bestehen und vornehmlich know how gefragt ist. Die Daimler Benz Aerospace/DASA führt gerade Gespräche mit Matra, Thomson CSF und Aérospatiale, um möglicherweise ganze Produktionszweige (Raketen, Satelliten, Flugzeuge) zu bündeln.

Rüstungskooperationen wanken

Die wichtigsten deutsch-französischen Rüstungsprogramme, die die Armeen beiderseits des Rheins zur Auslandstauglichkeit befähigen sollten, stehen zur Disposition:

Aus Kostengründen stieg Frankreich bereits 1995 aus dem europäischen Großraumtransportflugzeug Future Large Aircraft/FLA aus. Bei einem französischen Entwicklungsanteil von 1,8 Mrd. $ sollten die Maschinen für Frankreich insgesamt ca. 12. Mrd. DM kosten. Auch für den teureren deutschen Anteil ist die Finanzierung unklar. Mittlerweile ist eine militärische Variante des künftigen Airbus A-3XX im Gespräch. Der Konflikt über eine französische Reduzierung oder gar den Ausstieg aus den beiden Hubschrauberprogrammen PAH-2/Tiger/Uhu und NH-90 ist noch nicht vom Tisch. Statt der zunächst geplanten 212 Panzerabwehrhubschrauber/PAH-2 für die Bundeswehr (ca. 16 Mrd. DM) und 215 Tiger für die Armée de Terre reduzierte die Hardthöhe 1996 ihren Einkaufszettel auf 138 PAH-2. Charles Millon stellte daraufhin das französische Interesse an beiden Hubschraubern in Frage, zumal die Bundeswehr auch nicht mehr wie geplant 243 NH-90 zum Stückpreis von ca. 50 Mio. DM bezahlen kann.

Wichtiger als die Hubschrauber ist dem französischen Verteidigungsministerium die 1995 beschlossene deutsche Beteiligung am Spionagesatellitenprogramm Helios II als Aufklärungs- und Kommunikationskern für künftige europäische Auslandseinsätze. Verteidigungsminister Rühe stellte 1996 die deutsche Beteiligung am 12. Mrd. DM Programm Helios II für den Fall in Frage, daß sich Frankreich aus den Eurocopter-Programmen verabschieden sollte. Abschließende Entscheidungen sind noch nicht getroffen, so daß beide Länder weiterhin Millionen in Programme investieren, deren grundsätzliche Unbezahlbarbeit bereits heute feststeht.

An »Vorbildern« gescheiterter deutsch-französischer Rüstungskooperationen mangelt es nicht: Neben einer gemeinsamen Fregatte scheiterte insbesondere die Kooperation beim Eurofighter 2000 an nationalen Eigeninteressen. Im Ergebnis fehlt der deutschen Seite bei der Fregatte F-125 nun ein finanzstarker Partner, während sich Frankreich den Kauf des selbst entwickelten Kampfflugzeuges Rafale kaum leisten kann.

Zwar wurde nach endloser Planung am 12. November 1996 eine gemeinsame Rüstungsagentur von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Italien in Bonn gegründet. Doch ihre Hauptaufgabe dürfte künftig in der besseren Koordination von Lücken bestehen.

Europäisierung der NATO?

Das Projekt einer »europäischen Verteidigungsidentität« ist vorerst gescheitert. Neben zahlreichen Interessenkonflikten auch anderer WEU-Mitglieder fehlen den Hauptakteuren in Paris und Bonn die Ressourcen zum Ausbau einer eigenständigen europäischen Sicherheitspolitik. Die Folge ist eine zwangsläufige Rückbesinnung auf die US-dominierte NATO.

Die Reorientierung auf die NATO darf aber nicht als Unterwerfung unter traditionelle transatlantische Sicherheitsstrukturen mißverstanden werden. Denn die gewandelte NATO versteht sich zunehmend als »Leasing-Agentur« für verschiedenste Konflikte weltweit. In Albanien demonstriert gerade Italien, wie NATO-Infrastruktur zur eigenen Interessenpolitik ohne personelle Beteiligung der USA genutzt werden kann. Auch die französische und die Bundesregierung werden in der NATO für ein europäisches Profil ihrer künftigen Militäreinsätze streiten. Daß beide Regierungen daneben weiterhin im geringen Rahmen ihrer Einigungsmöglichkeiten gemeinsame Rüstungsprogramme und WEU-Kooperationen betreiben werden, dient mehr der nationalen Industrie- und Prestigepolitik, als einer ernst zu nehmenden »Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik«.

Stefan Gose, Dipl.Pol., ist Redakteur der Monatszeitschrift antimilitarismus information/ami.

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

Auf dem Trockenen zu sitzen kann unangenehm sein. Einen allzu glücklichen Eindruck machen die Rekruten unseres Titelbildes keineswegs. Sie können trotz Anstrengung nicht vorankommen.

Jenseits interessierter Rhetorik: mit der Rückstufung militärisch-sicherheitspolitischer zugunsten ökonomisch-zivilisatorischer Fragen in Europa erleidet die NATO einen erheblichen Bedeutungsverlust. Das von James Baker bemühte Konzept des new atlanticism im Rahmen der NATO widerspiegelt besondere US-Interessen; für die Europäer sind EG, EFTA, KSZE die wichtigeren Adressen.

Die waffenstarrende Mitte Europas wird freundlicher aussehen: Die Armee des deutschen Einheitsstaates wird begrenzt; nukleare Artillerie wird abgezogen werden; die Todesarsenale werden schrumpfen. Es geht voran.

Betrachten wir die Sache nüchtern: Tatsächlich zeichnet sich ein übergangsweise erträglicherer modus vivendi ab. Schöne Reden können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der NATO ein grundlegender Bruch mit der Vergangenheit noch nicht vollzogen ist. Es geht um Modifikationen der Strategie.

  • Die Doktrin vom Ersteinsatz der Atomwaffen wird nicht ad acta gelegt. Auf einen »frühen Ersteinsatz« will man verzichten. Obwohl die jetzt unumgängliche Abrüstung wichtige Segmente der sog. flexiblen Erwiderung eliminiert, ist an eine Preisgabe selektiver Nuklearkriegführungsoptionen nicht gedacht.
  • Einen Großteil der nuklearen Gefechtsfeldwaffen wird man abziehen. Zugleich ist die Beschaffung von 450 neuartigen Abstandswaffen geplant, von denen 144 Stück in der Bundesrepublik stationiert werden sollen. Mit diesen luftgestützten, atomar bestückten Flugkörpern würde praktisch der INF-Vertrag unterlaufen.
  • Die bisherige Strategie der Vorwärtsverteidigung ist durch die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa nicht in der bisherigen Form haltbar. Da die alte Demarkationslinie abhanden gekommen ist, soll die »Vorneverteidigung« rundum und weiträumig stattfinden. D.h. man braucht kleinere, höchst mobile Einheiten und eine schlagkräftige Luftwaffe. Das bereits im letzten Jahrzehnt eingeleitete Grundmuster einer Rationalisierung der Abschreckungspolitik kann nunmehr beschleunigt umgesetzt werden: Rüstungsreduzierung und Modernisierung.

Hier wäre zugleich ein neues Betätigungsfeld für Rüstungsforschung und Rüstungsindustrie in Sicht. Die fatale Symbiose von Militär & Wissenschaft fand ihre Legitimierung in der Lokomotivrolle, die dem militärisch-industriellen-technologischen Komplex zugedacht wurde. Der Geist des industriellen Expansionismus, der uns die heutige Umweltkrise bescherte, erhielt von dieser Verbindung immer neue Nahrung. Die im Rüstungssektor hervorgebrachten Effizienzkriterien, die mit ökologischer und sozialer Rücksichtslosigkeit einhergehen: haben sie sich nicht auch in die Wissenschaften eingefressen? Wäre es nicht an der Zeit, die vergangenen Jahrzehnte des rapiden »wissenschaftlich-technischen Fortschritts« zu bedenken und genauer zu analysieren? Müßte dieser Diskussionsprozeß nicht in nahezu allen Wissenschaftsdisziplinen jetzt geführt werden?

Daß noch immer Altes Denken waltet, zeigen die in Militärkreisen heute üblichen Andeutungen über neue Bedrohungen. Der lange verdrängte Nord-Süd-Konflikt muß jetzt herhalten, um die latenten Ängste der Menschen vor ungewisser Zukunft für eine neue Sicherheitspolitik der Stärke zu instrumentalisieren. Soll Nachdenken über eine vernünftigere, sozial gerechtere Weltentwicklung von vornherein blockiert werden?

Und vergessen wir nicht die Machtanwandlungen, die einen Teil der Führungseliten hierzulande erfaßt hat. Deutschlands ökonomische Zukunft müsse „im Wettbewerb mit Japanern und Amerikanern“ (A. Baring) gesichert werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion werde Deutschland eine „Vormachtstellung auf dem Kontinent“ zukommen. Zwar heißt es, daß man diesen Einfluß nicht nutzen wolle, um zu herrschen, sondern um »der Welt dienlich zu sein«. Wie lange noch? Braucht die neue Weltmacht nicht doch adäquate Machtmittel, sprich militärische?

Wir sehen: viel Arbeit wartet noch auf uns.

Ihr Paul Schäfer

Maggie’s Weltmachtträume

Maggie's Weltmachtträume

von Jerry Sommer

Ost-West-Beziehungen haben nicht etwa eine Relativierung des britischen Atomwaffen-Credos, sondern im Gegenteil seine um so intensivere Verkündigung bewirkt.

Der Glaube an die nukleare Abschreckungsstrategie der NATO gehört zur Politik der gegenwärtigen britischen Regierung wie das Amen zur Kirche. „Nuklearwaffen sind die beste Verteidigung gegen einen Krieg, die es jemals gegeben hat“ – Premierministerin Margret Thatcher wird nicht müde, dieses Bekenntnis ständig zu wiederholen. Ein nuklearwaffenfreies Europa lehnt sie als Ziel ebenso ab wie eine nuklearwaffenfreie Welt. „Eine Welt ohne nukleare Waffen wäre wenig stabil und gefährlicher für uns alle“, erklärte sie in Moskau im Frühjahr 19871. Die britische Regierung begrüßte zwar überschwenglich das INF-Abkommen zur Eliminierung aller sowjetischen und amerikanischen landgestützten Mittelstreckenraketen über 500 Kilometer in Europa. Sie befürwortet auch ein START-Abkommen über die circa 50 prozentige Reduzierung der strategischen Atomwaffen der USA und der Sowjetunion. Doch diese Abrüstungsabkommen und die damit verbundene Entspannung der Ost-West-Beziehungen haben nicht etwa eine Relativierung des britischen Atomwaffen-Credos, sondern im Gegenteil seine um so intensivere Verkündung bewirkt.

Thatcher`s Akzente liegen dabei auf zweierlei: der politisch-ideologischen Aufrechterhaltung des Prinzips »nukleare Abschreckung« und der praktischen Durchsetzung einer »Modernisierung« der in Europa befindlichen Atomwaffen: „Wir müssen für die öffentliche Unterstützung der nuklearen Abschreckung Sorge tragen und daran denken, daß veraltete Waffen nicht abschrecken. Daher besteht die Notwendigkeit zur Modernisierung“, erklärte sie zum Beispiel jüngst in Brügge2. Die »Modernisierung« des eigenen Nuklearpotentials liegt der britischen Regierung verständlicherweise besonders am Herzen. Gegenwärtig besitzt Großbritannien vermutlich – die britischen Regierungen haben noch nie ihr Arsenal offengelegt – insgesamt circa 500 atomare Sprengköpfe3. Noch bilden 64 Polaris-Raketen den Kern der sogenannten »unabhängigen Abschreckungsmacht« Großbritanniens. Diese U-Boot-gestützten Potentiale gelten als »strategische« Atomwaffen, da sie Ziele in der Sowjetunion treffen können. Sie haben eine Reichweite von 2500 Kilometern und sind mit wahrscheinlich je zwei Anfang der 80er Jahre in Dienst gestellten Chevaline-Sprengköpfen bestückt. Die Sprengköpfe sind nicht einzeln steuerbar, so daß die 128 Bomben also nur 64 Zielgebiete erreichen können. Außerdem sind sie wegen ihrer Ungenauigkeit nicht zur Zerstörung gehärteter Ziele (Raketensilos, Kommandozentralen) in der Lage4. Die Polaris-Raketen sollen ab 1993/94 durch die modernsten, im Moment noch in der Entwicklung befindlichen amerikanischen Trident-D5-Raketen ersetzt werden. Diesen Beschluß faßte die Thatcher-Regierung 1982, also in den Hochzeiten des Reaganschen Aufrüstungs- und Kreuzzugkurses gegen die Sowjetunion5. An dem Programm – Kostenpunkt: circa 33 Milliarden DM – hält sie trotz der veränderten internationalen Rahmenbedingungen und der laut Umfragen mehrheitlichen Ablehnung der britischen Bevölkerung stur fest. Schließlich würde ja auch die Sowjetunion »modernisieren«. Wie jedoch aus anderen Waffen-Debatten bekannt, geht es bei dem Trident-Programm um weit mehr als eine schlichte »Modernisierung«. Laut den Regierungsplänen würde Großbritannien Ende der 90er Jahre über 512 einzeln steuerbare Sprengköpfe auf 64 U-Boot-gestützten Trident D5-Raketen (Reichweite 5000 Kilometer) verfügen.

Während die Sowjetunion und die USA über die Halbierung ihrer strategischen Atompotentiale verhandeln – und weitere Reduzierungen (START II) schon in der Diskussion sind – plant Großbritannien, die Anzahl seiner strategischen Atomsprengköpfe zu vervierfachen, die Anzahl der zu erreichenden Ziele in der Sowjetunion sogar zu verachtfachen. US-Wissenschaftler haben errechnet, daß ein britischer Nuklearangriff auf die Sowjetunion heute drei bis acht Millionen Menschen töten und rund 5 Prozent der sowjetischen Produktionskapazitäten zerstören würde. Nach der »Modernisierung« betrüge das britische Vernichtungspotential: Tod von 24 bis 28 Millionen Sowjetbürgern, Zerstörung der industriellen Basis der Sowjetunion bis zu 50 Prozent6. Doch Trident bedeutet nicht nur neue Quantitäten, sondern vor allem neue militärische Qualitäten der britischen Atomstreitmacht. Die Trident-D5 werden, so der britische Militärexperte Paul Rogers, weltweit „die bei weitem genauesten U-Boot-gestützten Raketen sein, die in diesem Jahrhundert in Dienst gestellt werden“ 7. Sie sind ebenso schnell wie die Pershing II und ähnlich zielgenau. Sie sind als Erstschlagswaffen zur Zerstörung von verbunkerten sowjetischen Raketensilos und Kommandozentralen geeignet. Die britischen Atomwaffen sind fester Bestandteil der NATO-Zielplanung. Zudem operieren die USA (wie auch die NATO) seit einigen Jahren entsprechend einer neuen, aggressiven maritimen Strategie der »Vorwärtsverteidigung«. Die Aufgabe der alliierten Seestreitkräfte besteht danach vor allem darin, zu Beginn eines Krieges die sowjetische Flotte noch in ihren Heimathäfen und -gewässern zu zerstören sowie die sowjetischen, mit strategischen Atomwaffen bestückten U-Boote „innerhalb der ersten fünf Minuten des Krieges“ zu zerstören, wie es der ehemalige US-Marineminister Lehman auf den Begriff brachte8. Es versteht sich von selbst, daß die britischen Trident-Raketen für eine maritime und nukleare Erstschlagstrategie der NATO eine erheblich größere Rolle spielen würden als die Polaris-Systeme. Zum britischen Atompotential gehören ebenfalls 200 bis 400 Nuklearsprengköpfe vom Typ WE 1779. Dieses sind Freie-Fall-Bomben mit einer Zerstörungskraft von bis zu 200 Kilotonnen – etwa zehnmal soviel wie die Bombe, die Nagasaki zerstörte. Sie sind für den Einsatz gegen Schiffe und U-Boote sowie gegen Ziele auf dem Land bestimmt. 148 bis 200 Sprengköpfe sind für den Abwurf von Tornado-Flugzeugen, die eine Reichweite von 1400 Kilometer haben und zum Teil in der Bundesrepublik stationiert sind, bestimmt… Die britische Regierung prüft seit längerer Zeit, auch im Rahmen der Modernisierungsbeschlüsse der NATO, eine Ersetzung der über 20 Jahre alten WE-177. Nach dem erneuten Wahlsieg der Konservativen im Juni letzten Jahres und nach dem Abschluß des INF-Abkommens hat die britische Regierung laut undementierten Zeitungsberichten formell den Beschluß gefaßt, als Nachfolgesystem eine luftgestützte Cruise Missile-Atomrakete ins Auge zu fassen10. Die Kosten werden auf etwa sieben bis zehn Milliarden DM veranschlagt. Sie soll Ende der 90er Jahr gefechtsbereit sein und nach Anforderungen der Royal AirForce eine Reichweite von 300 bis 450 Kilometern haben. In der Diskussion ist ebenfalls, sie mit der sogenannten »Stealth«-Technologie auszustatten, so daß sie von Radaren nicht geortet werden kann. Die ursprüngliche Überlegung, ob eine solche Rakete nicht zusammen mit Frankreich entwickelt werden könnte, scheint inzwischen ad acta gelegt worden zu sein. Andere Anforderungsprofile an das gewünschte System wie die Sorge vor einer Entfremdung Großbritanniens von den USA waren dafür ausschlaggebend. Nun wird eine gemeinsame Produktion mit den USA angestrebt11. Auch diese »Modernisierung« würde neue militärische Optionen – gezielte Atomschläge aus mittleren Entfernungen, eventuell bis knapp vor Moskau – ermöglichen. Einen konkreten Beschluß für ein bestimmtes System hat die britische Regierung jedoch bisher nicht getroffen. Die prinzipielle Entscheidung geht jedoch einher mit der generellen Befürwortung der »Modernisierung« der nach dem INF-Vertrag in Europa verbleibenden US-Atomwaffensysteme, speziell der Lance-Raketen. Das spezifisch britische Interesse daran dürfte auch daraus resultieren, daß 14 Lance-Trägersysteme zum Arsenal der britischen Rheinarmee zählen12. Die dazugehörigen taktischen Atombomben sind im Gewahrsam der USA. In Kriegszeiten geht die Verfügungsgewalt jedoch auf die Briten über. Darüberhinaus hat sich Margret Thatcher auch prinzipiell bereiterklärt, weitere US-Atomwaffen in Großbritannien zu stationieren, um die »Verluste« der landgestützten Cruise Missiles und Pershing II mittlerer Reichweite auszugleichen. Dafür sind eine Reihe von Optionen – luft- und seegestützte Cruise Missiles z.B. – in der NATO in der Diskussion. Auf der Tagung der Nuklearen Planungsgruppe der NATO im Mai letzten Jahres haben britische Offizielle schon ihre Bereitschaft bekundet, weitere US-Bomber vom Typ F-111 oder F-111A in Großbritannien zu stationieren. Im Juni dieses Jahres hat der US-Luftwaffenchef in Europa, General William Kirk, öffentlich erklärt, daß 50 F-111-Bomber Anfang der 90er Jahre ins Königreich gebracht werden würden. Der britische Verteidigungsminister George Younger hat zwar ausgeschlossen, daß diese oder andere neue US-Flugzeuge wie die F-15E-Bomber mit den gegenwärtig von den USA benutzten strategischen Cruise Missiles ausgestattet würden. Aber neue Cruise Missiles – Typen mit darunterliegenden Reichweiten – sind in den USA schon in der Entwicklung13. Die Sicherung dieses atomaren Aufrüstungsprogramms beeinflußt bzw. bestimmt auch die Haltung der britischen Regierung zur Frage weiterer nuklearer Abrüstungsmaßnahmen. Sie ist bestrebt, die britischen Kernwaffen so lange wie möglich aus dem Prozeß der Reduzierung der Atomarsenale auszuklammern. In bezug auf die strategischen Atomwaffen hat Thatcher noch im Frühjahr letzten Jahres bei ihrem Besuch in Moskau als Zeitpunkt eines potentiellen britischen Einstiegs in den atomaren Abrüstungsprozeß angegeben: wenn USA und UdSSR „mindestens eine Reduzierung der Interkontinentalraketen um 50 Prozent erreicht haben“14. Als ein halbes jahr später der INF-Vertrag unter Dach und Fach war und ein START- Abkommen in greifbare Nähe rückte, sattelte sie drauf: Erst wenn die USA und die Sowjetunion ihr strategisches Arsenal „weit mehr als 50 Prozent reduziert“ hätten, würde sich Großbritannien mit an den Verhandlungstisch setzen15. Keinerlei Aussagen der britischen Regierung liegen darüber vor, ob sie überhaupt einer Reduzierung der strategischen Arsenale der USA und der Sowjetunion über das geplante START-Abkommen hinaus positiv gegenübersteht. Sprecher des britischen Verteidigungsministeriums unterstreichen, daß auch im Beschluß der NATO vom März dieses Jahres nun die 50 prozentige Reduzierung der strategischen Nuklearpotentiale begrüßt und über weitergehende Abrüstungsmaßnahmen auf diesem Gebiet kein Wort verloren wird. Verhandlungen über weitere nukleare Abrüstung in Europa möchte Thatcher ebenfalls auf die lange Bank schieben: „Wir möchten, daß die konventionellen Streitkräfte auf eine Parität heruntergesetzt und die chemischen Waffen eliminiert sind, bevor jegliche weiteren Verhandlungen über Nuklearwaffen stattfinden“16.

Welche Gründe bewegen die Thatcher-Regierung zu solch einem prononcierten Atomwaffen-Aufrüstungskurs? Grundlage ist sicherlich, daß die Sowjetunion trotz Gorbatschow nach wie vor als potentieller militärischer Gegner angesehen wird und daß »Sicherheit« weiterhin vor allem militärisch definiert wird. Entsprechend dieser »Logik« müssen, soweit finanziell tragbar, immer die modernsten Waffensysteme in den Dienst gestellt werden. Der Wahnsinn des Wettrüstens angesichts der wachsenden globalen Probleme wie auch die durch die neuen Technologien bedingte Gefahr, daß die Hochrüstung nicht mehr kontrollierbar wird, sind nicht im Blick. Die Hoffnung, mit militärischer Überlegenheit (der NATO) politische und militärische Zugeständnisse der Sowjetunion erreichen zu können, dürften ebenso eine Rolle spielen wie die Interessen der – kleinen – britischen Kernwaffenlobby sowie des britischen Rüstungskapitals überhaupt. Die besondere »Liebe« der britischen Konservativen zu ihren Atomwaffen – und die laufenden » Modernisierungskampagnen« – dürften jedoch vor allem durch die Hoffnung bedingt sein, damit das politische Gewicht Londons in der Welt generell wie gegenüber den NATO-Verbündeten speziell erhöhen zu können. Die britische Bombe galt schon immer als entscheidendes Statussymbol, das einst weltbeherrschende Königreich vor dem Abstieg zu einer drittklassigen Mittelmacht zu retten.

Die »Modernisierung« dieses Statussymbols kommt nun zu einer Zeit, in der laut Aussage des Wahlprogramms der Torys 1987 Großbritannien, „wieder führend in die Weltpolitik eingreift“ und Margret Thatcher formuliert: „Großbritanniens Rolle und Ansehen in der Welt ist unermeßlich gewachsen, seit wir erfolgreich unsere häuslichen Probleme gelöst haben. Jetzt sind wir wieder in der Lage, die Führungsrolle und den Einfluß auszuüben, welche wir in der Geschichte immer innehatten“17. Mit dem Trident-Programm erhofft sich London, sein militärisches Gewicht gegenüber den USA – erst recht in Kombination mit einem Start-Abkommen – zu erhöhen. Gleichzeitig könnte es Großbritannien bei der Formulierung westeuropäischer NATO- und EG-Politik – besonders in der Außen- und Militärpolitik – einen Einfluß verleihen, den es sich anders gegenüber der zum Beispiel ökonomisch wie in bezug auf die konventionelle Armee weit stärkeren Bundesrepublik nicht zu gewinnen zutraut.

Die Pläne zur Entwicklung einer Kurzstrecken-Cruise-Missile dürften ebenfalls von britischen Überlegungen über die Zukunft der NATO gespeist sein. In ihrer Grundsatzrede zur Europa-Politik hat Margret Thatcher am 21. September 1988 deutlich gemacht, daß sie, in vorauseilendem Gehorsam, generell eine veränderte Verteilung der militärischen Lasten zwischen den USA und den westeuropäischen NATO-Mitgliedern für dringlich hält, um den US-Beitrag zur westeuropäischen Verteidigung beizubehalten. Mit der Entscheidung für eine Abstandsrakete möchte sie wohl mit gutem Beispiel in diese Richtung vorangehen. Damit könne die „europäische Bereitschaft demonstriert werden, nukleare Verantwortlichkeiten zu übernehmen und auf allen Ebenen zur flexible response beizutragen“ – so der britische, dem IISS angehörende Wissenschaftler Lawrence Freedman18. All diese Gründe für Thatcher`s rasanten atomaren »Modernisierungskurs« sagen nichts über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit aus, ihn zu verändern. Sie weisen jedoch auf die Schwierigkeit der Aufgabe hin, zumal in Großbritannien zwar der nationale Konsens über die britische Nuklearpolitik zerbrochen ist, Friedensbewegung und politische Opposition jedoch gegenwärtig keine Durchschlagskraft haben.

Anmerkungen

1 Zit. nach »Newsweek« v. 13.04.87 Zurück

2 Margret Thatcher am 20.09.88 in Brügge, zit. in The Guardian v. 21.09.88 Zurück

3 William Arkin: The Nuclear Arms Race at Sea, Washington 1987, laut: The Independent v. 28.10.88 Zurück

4 Vgl. Paul Rogers: A Guide to Britain`s Nuclear Weapons, London 1985, S. 13-15; derselbe: Trident becomes Mrs Thatcher`s surprice ace, in: New Statesman (London) v. 4.12.88. Die Polaris Raketen können drei Atomsprengköpfe tragen, allerdings gehen Experten davon aus, daß der dritte Platz mit Attrappen gefüllt ist; vgl. Arkin, Anmerkung 2). Zurück

51980 beschloß die britische Regierung schon, die Polaris-Systeme durch die Trident-C4-Raketen zu ersetzen. 1982 entschied sie sich dann für die modernste Trident Variante, obwohl deren Kosten etwa doppelt so hoch liegen dürften. Zurück

6 John Prados u.a.: Die strategischen Kernwaffen Großbritanniens und Frankreichs, in: Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1986, S.54 Zurück

7 Paul Rogers, in: New Statesman, 4.12.87 Zurück

8 Lehmann, zit. nach Jeremy Leggett: The next (nuclear) war happens at sea; in: New Statesman, 6.11.87, S.11 Zurück

9 Das Institut for Strategic Studies geht in seinem Jahrbuch »The Military Balance 1987-88«, London, 1987, S. 205, von 206 Sprengköpfen aus. Arkin (Anmerkung 2) kommt auf insgesamt 385 Sprengköpfe. Zurück

10 The Guardian, 29.02. 88 Zurück

11 The Sunday Times, 7.08.88 Zurück

12 Anzahl der Systeme laut IISS-Military Balance 1987-88, S. 204. Ebenfalls besitzen die Briten danach in der Bundesrepublik M-109- und M-110-Trägersysteme für atomare Gefechtsfeldwaffen. Vgl. auch Paul Rogers, A Guide to…, S. 19/20 (Anmerkung 3) Zurück

13 vgl. Paul Rogers: New Bombs for old, in: Sanity (London) 9/88, S. 21 Zurück

14 zit. nach Newsweek v. 13.04.88 Zurück

15 Thatcher am 7.12.87, zit. nach: The Independent v. 8.12.87 Zurück

16 Thatcher auf einer Pressekonferenz in Brüssel am 3.03.88, Transskript der britischen Regierung, S. 9. Zurück

17 Thatcher-Rede am 13.01.88 vor der Foreign Press Association, London, Transskript. S. 10 Zurück

18 Lawrence Freedman: Britain`s other nuclear forces; in: The Independent v. 21.01.88 Zurück

Jerry Sommer ist freier Journalist in London

Mit Zuckerbrot und Peitsche

Mit Zuckerbrot und Peitsche

Die NATO in den 90er Jahren

von Gregor Witt

Im November dieses Jahres werden in Hamburg ParlamentarierInnen aus den 16 NATO-Staaten im Rahmen der Nordatlantischen Versammlung (NAV) über die Zukunft der Militärallianz diskutieren. Ein eigens zum Thema »Die NATO in den 90er Jahren« eingerichteter Ausschuß unter Leitung des US-Senators William Roth hat mit einem Sonderbericht mit gleichem Titel bereits wichtige Eckpfosten für die Strategiedebatte in der NAV eingeschlagen.

Der im Mai 1988 veröffentlichte Bericht geht vor allem der Frage nach, wie angesichts des »grundlegenden Wandels« in den Beziehungen zwischen USA und Westeuropa die Zukunft der NATO aussehen soll. Ausgangspunkt sind die veränderten bündnisinternen Kräfteverhältnisse, die sich in der „Erhöhung der relativen Wirtschaftskraft und der politischen Möglichkeiten der westeuropäischen Bündnismitglieder widerspiegeln“. Auf diesem Hintergrund meinen Roth und Bundesgenossen, Westeuropa solle zukünftig mehr Verantwortung übernehmen und zugleich wirksamer an der Führung der NATO beteiligt werden. Sie schlagen vor, zu Beginn der Amtszeit des neuen US-Präsidenten eine Zusammenkunft hochstehender Vertreter der NATO-Staaten einzuberufen, die das politische Mandat der Militärallianz dahingehend neu beschließen sollen.

Zweiter NATO-Pfeiler

Genau zu der Frage, wie die NATO mit den veränderten bündnisinternen Kräfteverhältnissen umgehen kann, wollen Roth u.a. eine Antwort geben. Sie lautet: neben die beiden bisherigen Grundziele des Harmel-Berichtes („starke Verteidigung“ und „Dialog und Zusammenarbeit mit dem Osten“) soll ein drittes treten, nämlich die „Entwicklung hin zu einem echten westeuropäischen Pfeiler des Bündnisses“. Damit soll eine neue Qualität der transatlantischen Arbeitsteilung erreicht werden. Dafür, daß die Westeuropäer koordiniert ihre Rüstungsanstrengungen erhöhen, sollen die USA im Sinne der sogenannten erweiterten Abschreckung ihre Nuklearstreitkräfte in Europa beibehalten. Im Ergebnis soll es möglich sein, zu einer Harmonisierung der Verteidigungsplanung und Rüstungskontrolle in der NATO zu gelangen.

Damit ein echter zweiter NATO-Pfeiler aufgebaut wird, fordern Roth u.a. die Nutzung von bereits vorhandenen »Bausteinen«, die jedoch weiterentwickelt werden sollen, und einige neue:

  • eine jährliche gemeinsame Sicherheitsanalyse
  • eine Untersuchung der institutionellen Voraussetzungen für den Pfeiler sowie der Rolle, die die Westeuropäische Union (WEU) und die Europäische Gemeinschaft (EG) spielen können
  • die Bildung einer westeuropäischen Division als »schnelle Eingreiftruppe«
  • eine intensive Zusammenarbeit der militärischen Einrichtungen z.B. durch regelmäßige Kontakte zwischen den Militärstäben
  • die Schaffung eines westeuropäischen Rüstungsmarktes
  • eine arbeitsteilige Spezialisierung bei der Aufrüstung.

Am meisten Sorgen bereitet dem Ausschuß die Zeit des Übergangs zum zweiten NATO-Pfeiler. Denn neben einer denkbaren Eigendynamik der westeuropäischen Rüstungskooperation, die zu Konflikten mit den USA führen könnte, befürchtet er, daß in den USA isolationalistische Kräfte die Zeit für ein Disengagement in Europa für gegeben halten sowie »bestimmte Kreise in Europa« ihre Angriffe auf die USA und deren Politik verstärken könnten.

Hinzu kommt, daß in der öffentlichen Meinung des Westens die Bedrohung nicht als so akut angesehen wird, wie zur Rechtfertigung anhaltend starker Rüstungsanstrengungen erforderlich wäre. Eine Funktion der oben genannten Sicherheitsanalyse soll deshalb sein, die NATO-Rüstung zu legitimieren, weshalb sie den WählerInnen in »glaubwürdiger Form« dargeboten werden soll.

An atomarer Abschreckung festhalten

Die politischen Eckpunkte des Harmel-Berichtes sollen zwar erweitert werden, die strategischen Grundsätze aber im wesentlichen unverändert bleiben. Das bedeutet: die atomare Abschreckung wird für die absehbare Zukunft für unverzichtbar angesehen, an ihr soll festgehalten werden. Und dies unabhängig von allen Fortschritten bei der atomaren oder konventionellen Abrüstung. Bemerkenswert ist, daß der Bericht als »große Tugend« der flexiblen Antwort deren Kompromißcharakter hervorhebt. Er mache es möglich, „die verschiedensten, voneinander abweichenden Auffassungen bezüglich der Ansprüche an Abschreckung und Verteidigung unter einen Hut zu bringen“.

Mit dieser eleganten Formulierung gehen die Autoren der laufenden Debatte über das Strategiepapier „Discriminate Deterrence“, das von namhaften US-Autoren wie Kissinger, Brzezinski, Wohlstetter und Iklé erstellt wurde, aus dem Wege. Dabei hat das Dokument gerade unter Unionspolitikern in der Bundesrepublik grundsätzliche Zweifel in die US-amerikanischen Sicherheitsgarantien verursacht. So schreibt Volker Rühe in dem von ihm herausgegebenen Band „Herausforderung Außenpolitik“ (Herford 1988, Seite 16): „Die Empfehlung dieser Studie, das NATO-Atomwaffenpotential in Europa militärisch wieder brauchbarer zu machen, bedeutet im Kern den Ausstieg aus der das Bündnis einenden Philosophie des Risikoverbundes NATO, daß es im Bündnis keine Zonen minderer Sicherheit geben darf.“ Damit verbindet sich für Rühe die Befürchtung, Kissinger u.a. würden jene Kräfte in Westeuropa stärken, die wegen der vermeintlichen Führbarkeit eines auf Europa begrenzten Atomkrieges einer Denuklearisierung das Wort redeten.

Tatsächlich ist die NATO-Atomstrategie so schwammig formuliert, daß sich die westeuropäischen Militärexperten die Illusion bewahren können, die USA würden in einem Krieg in Europa zu einem frühzeitigen atomaren Schlagabtausch mit der Sowjetunion bereit sein. Und sie läßt zugleich den USA die Möglichkeit offen, mit Konzepten wie AirLand Battle einen auf Europa begrenzten Atomkrieg zu planen und vorzubereiten. Diesen Konflikt suchen Roth u.a. rein pragmatisch zu lösen, indem sie einerseits nachdrücklich auf eine Atomwaffenmodernisierung drängen, andererseits aber vorschlagen, sich nicht auf diesem Feld aufzureiben, sondern die von ihnen vermutete größere Übereinstimmung in Fragen konventioneller Rüstung zur Grundlage für gemeinsame Aufrüstungsmaßnahmen zu machen.

In ihrer Fixiertheit auf die Beibehaltung der Abschreckungsstrategie der NATO und der Vermeidung einer Denuklearisierung Westeuropas stellen sich Roth u.a. gar nicht erst die Frage, ob und wie angesichts der bekannten Fakten über Atomkriegsfolgen eine politische Strategie aussehen kann und muß, die zur Überwindung der atomaren Abschreckung führt. Das zeigen die von ihnen aufgestellten Richtlinien für Entscheidungen über Modernisierungen und Stationierungen:

  1. Umstrukturierung der Atombewaffnung zugunsten von Systemen längerer Reichweite und weg von Gefechtsfeldsystemen kürzerer Reichweite
  2. Verringerung der Gesamtzahl an Atomwaffen in Europa durch Rüstungskontrolle und konventionelle Rüstung, aber nur, soweit es mit der heutigen NATO-Strategie vereinbar ist
  3. die atomare Schwelle soll angehoben, nicht gesenkt werden
  4. Atomwaffen sollen Verbesserungen der konventionellen Rüstung ergänzen
  5. „… die militärische Logik von Stationierungen sollte eindeutig schwerer wiegen als die potentiellen politischen Kosten, wenn Stationierungen erfolgen sollen.

Für den Verzicht auf die Modernisierung der Atomraketen kurzer Reichweite nennen Roth u.a. zwei Bedingungen: entweder eine Rüstungskontrollvereinbarung, mit der die »Vorteile« der WVO bei Panzern verringert werden, oder ein technologischer Durchbruch bei der nicht-nuklearen Panzerabwehr. Bis es dazu kommt, soll die NATO mögliche Optionen zur Modernisierung des Lance-Raketensystems prüfen.

Höhere Priorität hat im Bericht der Vorschlag, die „Stationierung einer begrenzten Zahl luftgestützter Marschflugkörper an Bord von Kampfbombern in Europa“ zu prüfen. Das betrifft genau jene atomaren Systeme, die nach einem Abzug der Pershing II und Cruise Missiles diesen Systemen vergleichbare militärische Aufgaben erfüllen könnten, womit der Ausschuß für eine den INF-Vertrag unterlaufende Ersatzaufrüstung plädiert. Dem entspricht, daß als wichtigster Leitsatz der NATO für Rüstungskontrolle gelten soll, daß sie die Stationierungs- und Modernisierungsziele im Sinne einer »Komplementarität« ergänzt.

Qualitativen Rüstungsvorsprung halten

Mit einem pragmatischen Vorgehen bezüglich der konventionellen Aufrüstung will der Ausschuß erreichen, daß durch Einführung neuer Rüstungstechnologien der qualitative Vorsprung der NATO gegenüber der WVO gehalten(!) wird. Auch hier wird die Rüstungskontrolle der Aufrüstungspolitik untergeordnet: sie soll erreichen, daß die WVO-Streitkräfte durch radikale asymmetrische Verringerungen auf eine „ungefähre Parität“ mit der NATO abgebaut werden. Da Roth u.a. wissen, daß ihre Forderung nach einseitiger Abrüstung keine großen Realisierungschancen hat, schlagen sie kleinere Schritte wie die Diskussion über die jeweiligen Doktrinen und die Einrichtung eines Zentrums zur Vermeidung von Krisen vor. In diesem Zusammenhang ist das Minderheitenvotum von Budtz besonders bemerkenswert, der die behaupteten Überlegenheiten des Warschauer Vertrages grundsätzlich anzweifelt.

Gerade mit Blick auf die konventionelle Rüstung sieht der Bericht die NATO jedoch vor gravierende Probleme gestellt, weil zur heutigen Realität „… ein abgeschwächtes Bewußtsein um die Bedrohung, ein geringeres Rekrutenpotential in zahlreichen NATO-Staaten sowie Kürzungen bei den Rüstungsausgaben …“ gehören. Daraus ziehen Roth u.a. aber nicht den Schluß, umso aktiver auf Abrüstung zu drängen, sondern sie begründen damit die Forderung nach „effizientester Nutzung der verfügbaren Ressourcen“.

Zwei besondere Herausforderungen

Dem Bericht zufolge sind zwei der großen Herausforderungen für die NATO die öffentliche Meinung und – eng damit verbunden – die sowjetische Abrüstungsdiplomatie. Sorgen bereitet dem Ausschuß die öffentliche Meinung, weil sich das Bewußtsein zu Fragen der Sicherheitspolitik geschärft habe und diese aktiver erörtert würden. Hier stellt sich die Frage, welchem Demokratieverständnis diese sogenannten Volksvertreter folgen, wenn sie das gewachsene öffentliche Bewußtsein als Gefahr für ihre Politik statt als Anlaß zum Überdenken sehen und zugleich jede Alternative von vornherein für undenkbar erklärt wird.

Im Verhältnis zu den sozialistischen Ländern sieht der Ausschuß den Westen in dem Dilemma, einerseits der diplomatischen Herausforderung der Sowjetunion gerecht zu werden, andererseits die eigene »Verteidigungsposition« aufrecht erhalten zu wollen. Aus seiner Sicht kommt erschwerend hinzu, daß die sowjetische Zielsetzung der Denuklearisierung Europas an die im Westen bestehende „öffentliche Unruhe aufgrund der Atomwaffen“ anknüpfen kann. Zwar will auch der Ausschuß die Beziehungen mit dem Osten verbessern, er warnt aber zugleich davor, „so intensiv nach verbesserten Ost-West-Beziehungen zu suchen, daß dabei die fundamentalen Sicherheitsbedürfnisse außer Acht gelassen werden“.

Als fundamentales Bündnisinteresse gilt dem Ausschuß das Ziel der „Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands“. Das soll die NATO weiterhin mit „oberster Priorität“ anstreben. Mittel dafür soll eine „Politik auf der Grundlage von »ausdrücklichem« Zuckerbrot und »impliziter« Peitsche“ sein. Das Zuckerbrot soll in wirtschaftlichen Vorteilen bestehen, die die sozialistischen Länder je nach Bereitschaft zur „Öffnung ihrer Systeme“ mehr oder weniger oder gar nicht erhalten sollen. Also wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht zum gegenseitigen Vorteil und zur Lösung gemeinsamer Aufgaben, sondern als Instrument zur „friedlichen“ Beseitigung des Sozialismus. Dabei läßt der Bericht (bewußt?) offen, welche Rolle die angestrebte militärische Stärke spielen soll, wenn der „friedliche Wandel“ nicht durchsetzbar ist.

Zwar erkennen die Ausschußmitglieder, daß im Wettbewerb zwischen Ost und West „der Erfolg oder Mißerfolg in Friedenszeiten weitestgehend an der Lebensqualität gemessen wird“. Dennoch scheuen sie sich, daraus die Konsequenz zu ziehen, und eine eigene Abrüstungspolitik zu entwickeln, die Spielräume für die Erfüllung drängender ziviler Aufgaben wie Überwindung der Arbeitslosigkeit, Umweltschutz, soziale Beherrschung der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und Hilfe für die »3. Welt« schaffen könnte.

Während viele Menschen angesichts der globalen Probleme nach neuen, friedlichen Formen weltweiter Zusammenarbeit suchen, schlägt der Ausschuß die Bildung einer „Westlichen Arbeitsgruppe über globale Sicherheitsfragen“ vor, die die internationalen Beziehungen weiter zu militarisieren droht. Die Gruppe soll unter Einbeziehung von Japan und anderen westlichen Staaten, die nicht der NATO angehören, vor allem das Vorgehen gegenüber Ländern der »3. Welt« koordinieren. Roth u.a. denken dabei an sich ergänzende nationale und bilaterale Eingreifformen einschließlich militärischer Interventionen einzelner westlicher Staaten.

Der NAV-Bericht setzt allen Erkenntnissen über die Notwendigkeit politischer Friedenssicherung und gleichberechtigter Zusammenarbeit zum Trotz das alte militärisch fixierte Schmalspurdenken fort. Alternative Konzepte wie die sozialdemokratischen Vorschläge für „gemeinsame Sicherheit“ und „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ werden keiner ernsthaften Auseinandersetzung für würdig befunden. Die offensive sowjetische Abrüstungsdiplomatie wird nicht als Möglichkeit für veränderte, entmilitarisierte Ost-West-Beziehungen begriffen, sondern als Gefahr, der mit einer Betonung westlicher Werte und der NATO als „Wertegemeinschaft“ begegnet werden soll.

Der Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Demokratie, Freiheit des Einzelnen und Herrschaft des Rechts und der Realität der NATO-Staaten wird jedoch von vielen BürgerInnen wahrgenommen. Das gilt insbesondere für die im Roth-Bericht bekundete Unfähigkeit bestimmter NATO-Kreise, die für ein Europa als Friedens- und Sicherheitsgemeinschaft notwendige Politik zu entwickeln. Bisher fehlen aber auch aus der Friedensbewegung noch konkrete Vorstellungen für einen Umbau Europas. Umso wichtiger ist, daß im Rahmen ihrer Aktionen aus Anlaß der NATO-ParlamentarierInnen-Versammlung in Hamburg mit einem Kongreß die Diskussion über »Alternativen zur NATO-Politik« vertieft werden soll.

Gregor Witt ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK)

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Dokumentation

1. Was ist die Nordatlantische Versammlung (NAV)?

Die NAV wurde 1955 gegründet und setzt sich aus ParlamentarierInnen der NATO-Staaten zusammen. Sie treffen sich ein- oder zweimal im Jahr in Plenartagungen (die nächste ist vom 14. – 19. November 1988 in Hamburg), um über die Allianzpolitik zu debattieren. Die NATO-Informationsabteilung nennt im NATO-Handbuch als Hauptaufgaben der 184 Mitglieder und ihrer StellvertreterInnen, „den Regierungen bei der Einbringung von Gesetzesentwürfen den Standpunkt des Bündnisses nahezubringen und in den nationalen Parlamenten das gemeinsame Gefühl der atlantischen Solidarität zu stärken“. Die NAV hat fünf ständige Ausschüsse, für bestimmte Fragen werden Unterausschüsse oder Arbeitsgruppen gebildet.

Ein solcher Unterausschuß unter Leitung des US-Amerikaners William Roth hat den Bericht über die NATO der 90'er Jahre vorgelegt. Aus der Bundesrepublik waren im Ausschuß Manfred Abelein (CDU), Peter Corterier (SPD) in seiner Funktion als Generalsekretär der NAV sowie als Experten Karl Kaiser (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) und Michael Stürmer (Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen). Außerdem z.B. der einflußreiche US-Senator Sam Nunn und der dänische Sozialdemokrat Lasse Budtz.

2. Aus dem Minderheitenvotum von Lasse Budtz, Sozialdemokratisches Mitglied des Folketing, Dänemark:

“(…) Zum Beispiel konzentriert sich der Bericht nicht genug auf die Möglichkeiten für Abrüstung und gibt Abrüstung und Entspannung nicht die höchste Priorität. Mehr oder weniger wird vorausgesetzt, daß der Westen unter allen Umständen Nuklearwaffen für viele weitere Jahre brauchen wird. Aber Nuklearwaffen garantieren nicht notwendig die Sicherheit. Sie können auch eine Bedrohung der Sicherheit sein. (…)

Der Bericht akzeptiert mehr oder weniger automatisch auch die Theorie, daß wir erst auf allen Gebieten und vor allem auf dem Gebiet der konventionellen Waffen aufrüsten müssen, um Abrüstung zu erreichen. Aber wenn es möglich ist, eine Vereinbarung über asymmetrische Verringerungen unter strikter Kontrolle zu erreichen, ist das weit eher vorzuziehen, als eine Vereinbarung über neue Strategien, die auf nichtbedrohlichen defensiven Systemen beruhen. (…)

Jede Modernisierung von Nuklearsystemen auf der Linie des sogenannten Montebello-Beschlusses kann den Aussichten für weitere Abrüstung in Europa schaden. Und die Notwendigkeit solcher Modernisierungen ist schwer zu verstehen, wenn es zweifelhaft ist, daß der Osten Überlegenheit bei allen Kategorien konventioneller Waffen hat, und solange wir nicht wirklich die Möglichkeiten für asymmetrische Reduzierungen der konventionellen Kräfte ausgeforscht haben.“

(Übersetzung von G.W.)

Doktrin der Verhütung eines Krieges

Doktrin der Verhütung eines Krieges

von Juri Lebedew

Unter den gegenwärtigen Bedingungen bedeutet die Sicherheit im globalen Maßstab ein solches Niveau der internationalen Beziehungen, bei dem es nicht nur keine größeren Kriege und Konflikte gibt, sondern auch ein stabiler Prozeß der Abschwächung der militärischen Konfrontation und der Beschränkung der militärischen Aktivitäten erfolgt sowie die Zuversicht und bestimmte Garantien dafür bestehen, daß ein Krieg, aus welchem Grund auch immer, nicht entfesselt werden wird.

Die Erkenntnis dessen findet ihre konkrete Widerspiegelung nicht nur in unserer Außenpolitik, sondern auch in den Schritten, die in den letzten Jahren auf dem militärpolitischen Gebiet unternommen worden sind. Ein Beispiel dafür liefert das neue Dokument der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags über die Militärdoktrin, das auf der Tagung des politischen beratenden Ausschusses im Mai dieses Jahres in Berlin angenommen worden ist. „Die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages hat ausschließlich Verteidigungscharakter. Sie geht davon aus, daß unter den heutigen Bedingungen die Regelung von Streitfragen mit militärischen Mitteln in keinem Fall zulässig ist“, heißt es darin.

Gerade die Erkenntnis der Gefahr, die über die Menschheit heraufgezogen ist, wurde zu jenem Ausgangspunkt, zu jener Grundursache, die dem neuen politischen und militärischen Denken einen Auftrieb gab. Mit anderen Worten trat im neuen Denken jenes Verantwortungsbewußtsein für das Schicksal der Menschheit, die mit dem Problem des Oberlebens konfrontiert ist, zutage, das der sozialistischen Gesellschaftsordnung eigen ist.

Es sei daran erinnert, daß die Militärdoktrin unter dem unmittelbaren Einfluß materieller Faktoren geformt wird: der militärökonomischen Möglichkeiten des Staates, des Erscheinens neuer Arten von Waffen und Kriegstechnik sowie der damit zusammenhängenden Veränderungen an der Organisationsstruktur der Streitkräfte und den Mitteln der Führung eines bewaffneten Kampfes. Im noch stärkeren, ja im entscheidenden Maße wird die Militärdoktrin unter den Einfluß des sozialen Inhalts der Politik geformt, die bestimmt, zu welchem Zweck, in welcher Richtung und in welchem Ausmaß die Streitkräfte zu entwickeln sind. Das in Berlin angenommene Dokument „über die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags“ bringt eindeutig den Verteidigungscharakter der Militärstrategie des Sozialismus zum Ausdruck, dient der Entwicklung des Dialogs zwischen den Warschauer Vertragsstaaten und der NATO wie auch der Verstärkung des Vertrauens in Europa.

Die wichtigste Besonderheit der Militärdoktrin des Warschauer Vertrags besteht darin, daß sie, ebenso wie auch die eines jeden seiner Teilnehmer, der Lösung der Kardinalaufgabe untergeordnet ist: der Aufgabe, weder einen nuklearen, noch einen konventionellen Krieg zuzulassen. Es ist nicht nur (und sogar nicht so sehr) zu bestimmen, wie die Vorbereitung des Staates und seiner Streitkräfte für einen bewaffneten Kampf durchzuführen ist, sondern vielmehr – wie die Vorbereitung des Staates und seiner Streitkräfte durchzuführen ist, damit ein Krieg nicht entfesselt werden kann. Mit anderen Worten gründet sich die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags ihrem militärpolitischen Wesen nach auf die Verhütung eines Krieges, nicht aber auf die Vorbereitung darauf.

Natürlich kann diese Orientierung der Militärdoktrin nicht nur auf dem Wunsch und der Bereitschaft zum Handeln einer Seite – im vorliegenden Fall der Teilnehmerstaaten der Organisation des Warschauer Vertrags – fußen. Es bedarf dazu auch entsprechender Anstrengungen der Mitgliedsländer der NATO. Heute kann man aber einen mehr oder weniger objektiven Beobachter schwer davon überzeugen, daß die Militärdoktrinen der USA und der NATO friedliebenden Charakter haben, daß sie auf die Verteidigung und die Verhütung eines Krieges abzielen. Die USA und die NATO verzichten nicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen, eskalieren enorm ihr strategisches Offensivpotential und streben militärische Überlegenheit an. Darum sind die sozialistischen Staaten gezwungen, neben den Maßnahmen zur Herabsetzung des Niveaus der militärischen Konfrontation, die das Kernstück der Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags bilden, auch streng dosierte Schritte zur Aufrechterhaltung des militärischen Kräftegleichgewichts zu unternehmen. Wie der Verteidigungsminister der UdSSR, Armeegeneral Dmitri Jasow betont hat, „verfolgen wir aufmerksam die militärischen Vorbereitungen der USA und der NATO, sehen die in diesem Prozeß erscheinenden gefährlichen Tendenzen und schätzen sie gebührend ein, sowie sorgen in diesem Zusammenhang dafür, daß sich unser Verteidigungspotential entsprechend entwickelt.“ Die Aufrechterhaltung des annähereden militärstrategischen Gleichgewichts ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Gewährleistung der Sicherheit unseres Landes und unserer Verbündeten. Die heute bestehende militärstrategische Parität ist nach wie vor der entscheidende Faktor der Nichtzulassung eines Krieges. Das Streben, die Parität aufrechtzuerhalten, ist für den Sozialismus jedoch kein Selbstzweck. Wir sind uns völlig darüber im klaren, daß ein immer höheres Niveau der Parität, dessen Zeugen wir in den letzten Jahren gewesen sind, unter den Bedingungen der sich beschleunigenden wissenschaftlich-technischen Revolution kein Mehr an Sicherheit bringt. Darum ist in der Militärdoktrin eindeutig die Aufgabe formuliert, nicht einfach das militärstrategische Gleichgewicht zu wahren, sondern auf einem immer niedrigeren und folglich auch weniger gefährlichen Niveau bis hin auf ein vernünftig hinreichendes Maß. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Dieser und andere Aspekte der Militärdoktrin der sozialistischen Länder sind mit ihren politischen Zielsetzungen untrennbar verbunden, die auf der Berliner Tagung des politischen beratenden Ausschusses formuliert wurden. Konkret geht es darum, daß die Aufgabe der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags darin besteht, ihre Streitkräfte in einem solchen Zustand und auf einem solchen Niveau zu unterhalten, die ihnen eine zuverlässige Verteidigung sichern und es ihnen ermöglichen, eine vernichtende Abfuhr zu erteilen, nicht aber einen Angriff zu unternehmen. Darum werden für die Streitkräfte und Rüstungen der sozialistischen Länder solche Grenzen festgelegt, die genau der Verteidigungsaufgabe des Warschauer Vertrags entsprechen – „das für die Verteidigung hinreichende Maß“. Die Erreichung dieses Maßes wurde als eine der wichtigsten Ziele der Militärdoktrin der sozialistischen Staaten bestimmt.

Bei ihren Vorschlägen, die nuklearen und anderen Arten von Massenvernichtungswaffen zu beseitigen, gehen die Sowjetunion und ihre Verbündeten davon aus, daß diese gefährlichsten Waffenarten nicht nur völlig beseitigt werden können, sondern auch müssen, um das für die Verteidigung hinreichende Maß zu gewährleisten. Aber nicht nur das. Es gilt, die nichtnuklearen Rüstungen und Streitkräfte zu reduzieren, und darüber hinaus – was recht wichtig ist – die Schaffung von qualitativ neuen Waffenarten und -systemen nicht zuzulassen, darunter auch Massenvernichtungswaffen, die auf neuen physikalischen Prinzipien beruhen.

Natürlich setzt eine solche Reduzierung und die Vernichtung ganzer Klassen und Arten von Waffen voraus, daß diese Maßnahmen durch politische, diplomatische und militärische Schritte ergänzt werden, die auf die Minderung der Konfrontation und die Festigung des gegenseitigen Vertrauens gerichtet sind. Zu diesen Maßnahmen können zum Beispiel gehören: die Bildung von kernwaffen- und chemiewaffenfreien Zonen sowie von Zonen der verringerten Konzentration von Streitkräften und erhöhten Vertrauens, die Beseitigung oder eine wesentliche Reduzierung der gefährlichsten Angriffsmittel usw. Im Komplex haben alle diese Schritte zum Ziel, solche Bedingungen, ein solches militärpolitisches Klima und eine solche Situation in der Welt und in Europa zu schaffen, bei denen keine der Seiten über Mittel und Kräfte für einen Überraschungsangriff sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügen würde.

Offensichtlich kommt in der Reihe dieser Maßnahmen eine große Rolle Schritten zu, die dabei behilflich sein würden, die Vorstellungen vom Charakter der Militärdoktrinen der einander gegenüberstehenden militärpolitischen Bündnisse zu präzisieren, den gegenseitigen Argwohn und das Mißtrauen gegen die Absichten des anderen, die sich im Laufe vieler Jahre angehäuft haben, abzubauen. Das ist ein wichtiger Bereich der militärischen Entspannung, dessen Bedeutung zu unterschätzen heute gefährlich wäre. Kurzum besteht das Ziel hierbei darin, die Militärdokrinen, Konzeptionen und Pläne zum operativen Einsatz der Streitkräfte so zu gestalten, daß sie auf streng defensiven Prinzipien beruhen. Darum richteten die Teilnehmerländer des Warschauer Vertrags an die Mitgliedsstaaten der NATO den Vorschlag, den unter den gegenwärtigen Bedingungen äußerst wichtigen Prozeß einzuleiten, nämlich die öffentliche Erörterung der militärischen Aktivitäten beider militärpolitischer Bündnisse.

Selbstverständlich könnte man im Verlaufe einer offenen Erörterung der Militärdoktrinen dieser Bündnisse und des Charakters des militärischen Aufbaus zwischen Vertretern der NATO und der OWV auch solche Fragen behandeln, wie den Umfang und den Gegenstand der Reduzierung der Rüstungen und Streitkräfte, die bestehenden Asymmetrien in ihrer Struktur, wie auch, welche Rüstungen für Verteidigungszwecke belassen werden können. Heute schon ist es unverkennbar, daß die Frage über die Nichtzulassung der Stationierung und über die Beseitigung der gefährlichsten Arten von nichtnuklearen Waffen, deren Charakter keinen Zweifel daran bestehen läßt, zu welchen Zwecken sie eingesetzt werden können, akut wird. Es handelt sich hierbei zum Beispiel um Marschflugkörper und ballistische Raketen, die mit nichtnuklearen Gefechtsköpfen versehen sind, um Aufklärungsangriffskomplexe, Salvenfeuersysteme und andere Arten von Angriffswaffen, wie auch um Panzer, Amphibienfahrzeug- und Landungseinheiten sowie um Einsatzgruppen. Ihre wesentliche Reduzierung und Beseitigung würde die Realisierung der Pläne von Angriffskriegen wesentlich erschweren. Im veröffentlichten Dokument über die Militärdoktrin heißt es diesbezüglich mit voller Bestimmtheit: „Die Vermehrung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa auf ein Niveau, auf dem jede Seite bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt.“

Es liegt auch etwas anderes auf der Hand. Eine solche Reduzierung der Streitkräfte und Rüstungen auf das hinreichende Maß, die Verwirklichung anderer militärpolitischer Maßnahmen, zu den die Länder des Warschauer Vertrags aufrufen, werden unvermeidlich ernste Organisationsmaßnahmen, Veränderungen an der Truppengliederung, an den Arbeitsvorschriften für die Stäbe der Truppen, der politischen und Gefechtsausbildung erfordern sowie radikale Veränderungen am gesamten System der Gefechtsführung und des militärischen Aufbaus vornehmen lassen. Denn das Dokument über die Militärdoktrin des Warschauer Vertrags ist keine Deklaration, sondern das Aktionsprogramm, das alle Gebiete der Kriegskunst und des militärischen Aufbaus umfaßt und dessen Grundprinzip das Verteidigungsprinzip ist.

Selbstverständlich werden konkrete Veränderungen an der Organisationsstruktur, an der Gliederung der Teilstreitkräfte in erster Linie von praktischen Schritten zur Herabsetzung des Niveaus der militärischen Konfrontation und davon abhängen, welches Niveau der gegenseitigen Reduzierungen es zu erreichen gelingt. Schließlich nicht zuletzt davon, inwieweit das allgemeinpolitische Klima in der Welt verbessert, die Atmosphäre des Vertrauens in den Beziehungen zwischen Staaten und militärpolitischen Bündnissen gefestigt wird. Die sowjetische Militärdoktrin – ich wiederhole – ist kein Dogma. Ihre Entwicklung ist in vieler Hinsicht vom Charakter der militärischen Vorbereitungen der USA und anderer NATO-Länder bedingt. Darum werden viele ihrer Festlegungen, die Ausrichtung der militärischen Ausbildung und des militärischen Aufbaus präzisiert und vervollkommnet werden in Anwendung an die Veränderungen der militärstrategischen Situation in der Welt. Zugleich sind die von den Teilnehmerstaaten der OWV ausgearbeiteten Festlegungen der Militärdoktrin – und das muß unbedingt betont werden – zu einem Pflichtteil der Kriegskunst und des Aufbaus der Streitkräfte der UdSSR und ihrer Verbündeten geworden. Das bezieht sich in vollem Maße auch auf die Fragen der Verteidigungsplanung, die Vorbereitung der Führungsorgane wie auch auf die Mittel zur Führung des bewaffneten Kampfes. Keine leere Deklaration ist zum Beispiel die Verpflichtung der UdSSR über den Nichtersteinsatz von Kernwaffen. Diese Verpflichtungen werden aufs Unmittelbarste berücksichtigt. Mehr noch, sie sind zielsetzend beim Aufbau und bei der Ausbildung der Verbündetenarmeen, einschließlich solcher „rein“ militärischen Fragen, wie der strategischen Planung, der Vorbereitung der Führungsorgane und

Systeme, der Ausbildung der Truppen und Stäbe, der Ausarbeitung von Methoden zur Führung eines bewaffneten Kampfes.

Es läßt sich ohne weiteres behaupten, daß kein einziger Staat, kein einziges Militärbündnis in der gesamten Geschichte der menschlichen Zivilisation ein derart umfassendes Programm von Sofortmaßnahmen zur Minderung der militärischen Konfrontation als grundsätzliche Festlegungen ihrer Militärdoktrinen formuliert haben. Noch nie in der Geschichte der Menschheit wurde die Verhütung, die Nichtzulassung eines nuklearen oder konventionellen Krieges als die Hauptaufgabe der Streitkräfte gestellt. Noch nie wurden diese Ziele in den Militärdoktrinen oder in der Militärstrategie von Staaten in einem solchen Umfang und mit derartiger Eindeutigkeit formuliert. Schließlich wurde noch nie zuvor die Rüstungsreduzierung, mehr noch, die Vernichtung einiger Waffenarten als Hauptziel der Militärdoktrin eines Staates gestellt. Das betrifft auch die Auflösung der militärpolitischen Bündnisse, für die sich die Teilnehmerstaaten der OWV einsetzen.

In diesem Zusammenhang muß gesagt werden, daß Maßnahmen zur Minderung der Kriegsgefahr heute von den herrschenden Kreisen des Westens im Gegensatz zur Militärdoktrin der sozialistischen Staaten, die die Rüstungsreduzierung als ihren vorrangigsten Bestandteil betrachtet, bestenfalls als eine Art „Anhängsel“ ihrer Militärdoktrin, als eine zweitrangige Ergänzung oder auch als ein Mittel einschätzt, der UdSSR und ihren Verbündeten ungleichberechtigte Vereinbarungen aufzuzwingen, sowie – es koste, was es wolle – militärstrategische Überlegenheit zu erlangen. Daraus resultiert das Bestreben Washingtons und einer Reihe seiner Verbündeten, der Sowjetunion solche Übereinkünfte aufzuzwingen, die ihre Sicherheit untergraben würden. Daraus resultiert die Negierung des Rechtes der UdSSR auf die Gleichheit und gleiche Sicherheit durch die Vereinigten Staaten, die Abkehr von den bereits geschlossenen Verträgen und Abkommen, die Aufstellung immer neuer und neuer Bedingungen, Linkages, Vorbehalte, die Verschleppungstaktik bei den Verhandlungen, die Versuche, sie zu Zwecken auszunutzen, die mit der Zügelung des Wettrüstens nichts gemein haben.

Die faktische Negierung des Prinzips der Gleichheit und der gleichen Sicherheit in der politischen Praxis durch die NATO unterwandert selbst die Grundlage der Umgestaltung der militärpolitischen Beziehungen in der Welt, weil man im vorliegenden Fall sich nicht mit der Anerkennung des Rechtes jeder Seite auf die gleiche Sicherheit „beinahe“ einverstanden oder nicht einverstanden erklären darf. Ohne die Anerkennung und faktische Einhaltung dieses Prinzips kann von keiner internationalen Sicherheit die Rede sein.

Die herrschenden Kreise der USA und der NATO, die der UdSSR und dem Warschauer Vertrag das Recht auf Gleichheit auf dem Gebiet der Sicherheit absprechen, weigern sich dadurch in Wirklichkeit, auch das militärstrategische Gleichgewicht zu wahren, setzen offen auf die Erlangung militärischer Überlegenheit. Die Gewährleistung der „absoluten“ Sicherheit nur für sich selbst bedeutet unter den gegenwärtigen Bedingungen – und darauf muß geradeheraus verwiesen werden – nichts anderes als Bestreben, eine Situation der „absoluten“ Unsicherheit für andere zu schaffen. Die absolute Sicherheit für sich selbst kann nur durch die Gewährleistung der gleichen Sicherheit für andere erreicht werden. Etwas anderes kann es im nuklear-kosmischen Zeitalter nicht geben.

Wir schlagen dem Westen vor, militärische Formen des Kampfes aus der sozialpolitischen Rivalität für immer auszuschließen, das Streben aufzugeben, die eigenen nationalen Interessen mit militärischen Mitteln zu gewährleisten, die Versuche, die eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten als überlebt zu verwerfen.

„Die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags werden niemals und unter keinen Umständen militärische Handlungen gegen einen beliebigen Staat oder ein Staatenbündnis beginnen, wenn sie nicht selbst einem bewaffneten Überfall ausgesetzt sind“, wird im Dokument über die Militärdoktrin unterstrichen. „Sie werden nie als erste Kernwaffen einsetzen. Sie erheben keinerlei territoriale Ansprüche, weder gegenüber einem europäischen noch außereuropäischen Staat. Sie betrachten keinen Staat und kein Volk als ihren Feind, sie sind hingegen bereit, mit ausnahmslos allen Ländern der Welt die Beziehungen auf der Grundlage der gegenseitigen Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen und der friedlichen Koexistenz zu gestalten.“

General Lew Besymenski (UdSSR) über das Neue Denken

Das neue Denken – es ist da, aber es muß noch gelernt werden. Das macht oft Mühe und Not, und es ist mit Fehlern behaftet, die auch wir begangen haben. Aber wir befinden uns in einem Lernprozeß, wobei wir auch von den Friedensbewegungen lernen müssen, nicht nur von den Regierungen. Was meine ich damit? Folgendes:

ERSTENS. Wir haben gelernt, daß für eine effektive Abrüstung das sogenannte Erbsenzählen nicht taugt. Erinnern wir uns an die Zeit der Stationierungsdebatte. Wieviel Zeit haben wir alle, auch die Sowjetunion, durch das Zahlenspiel verloren und nichts dabei gewonnen. Die Lehre daraus: Nur einfache und allen verständliche Beschlüsse gelten und taugen etwas, zum Beispiel ganze Raketenklassen, zumindest die Hälfte, aber nicht Prozentteile zu verschrotten. Wie wir sehen, hat das zu einem Resultat geführt.

ZWEITENS. Wir haben gelernt, daß wir nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn, Rakete um Rakete zurückzahlen müssen. Es gab eine Zeit, da haben wir auf jede Rüstungsbewegung der USA mit einer gleichen Bewegung geantwortet. So schraubte sich die Rüstungsspirale immer höher. Das muß aber nicht sein, so haben wir zum Beispiel ganz offen gesagt, daß wir auf die amerikanische SDI nicht mit der gleichen sowjetischen SDI antworten werden, sondern mit anderen – nebenbei gesagt: billigeren – Optionen.

DRITTENS. Wir haben gelernt, den Mut für einseitige Beschlüsse aufzubringen. Das sowjetische Atomtestmoratorium hat eine große Bedeutung gewonnen, und jetzt scheint aus der einseitigen eine beidseitige Entscheidung zu werden.

VIERTENS. Wir haben gelernt, daß auf dem Gebiet der Abrüstung Transparenz nicht unbedingt eine kapitalistische, sondern auch eine sozialistische Forderung sein kann. Wir müssen uns zur Leninschen Idee der offenen, direkten Diplomatie bekennen.

Das sind Elemente des neuen Denkens, die wir heute zur Lösung der Abrüstung anzuwenden versuchen.

Generalmajor Juri Lebedew, stellvertretender Leiter einer Verwaltung des Generalstabs der Streitkräfte der UdSSR.

Deutsch-französische Liaison

Deutsch-französische Liaison

von Johannes M. Becker

Viele Dinge scheinen in Bewegung im Bereich der (west-) deutsch-französischen Sicherheitspartnerschaft:

  • da wurden mit der Amtsübernahme der konservativen Regierung Kohl die deutsch-französischen Kontakte, das heißt die Kontakte mit den sozialistisch sich titulierenden Regierungen Mitterand/Mauroy bzw. Mitterand/Fabius, später mit der Cohabitations-Regierung Mitterand/Chirac, spürbar intensiviert;
  • da begann eine neue Hausse im Ringen um rüstungspolitische Großprojekte; nach dem Scheitern eines gemeinsamen Panzerprojektes versuchten sich Bonn und Paris mit dem „Kampfflugzeug der 90er Jahre“, nach dessen Scheitern mit dem Panzerabwehrhubschrauber für die 90er Jahre;
  • da nahmen Francois Mitterand und Helmut Kohl dankend eine Anregung Helmut Schmidts auf, und keine deutsch-französische Begegnung verging ohne ein Glaubensbekenntnis zur „deutsch-französischen Brigade“ (für Nichtfachleute: es handelt sich um ein etwa 2000–4000 Mann starkes Truppenkontingent, das in der Regel aus drei Bataillonen besteht; eine Brigade macht etwa ein Drittel einer Division aus, von der die Bundeswehr zwölf unterhält);
  • da machten Pierre Messmer, Ex-Premierminister und einer der „Barone“ der neogaullistischen RPR, und der Rechtssozialist und ehemalige Verteidigungsminister Charles Hernu den Vorschlag, französische Neutronenbomben, würden sie dereinst nach dem einsamen Beschluß des Staatspräsidenten gebaut (die erforderlichen Plutoniumsmengen werden – unter westdeutscher Kapitalbeteiligung – im Schnellen Brüter Superphönix von Malville bereits produziert), auf dem Boden der Bundesrepublik zu stationieren;
  • da hielten Bonn und Paris mit ihren auf der einen Seite vollständig in die NATO integrierten, auf der anderen Seite seit dem Eklat in der zweiten Hälfte der 60er Jahre aus der militärischen Integration der NATO rückstandslos zurückgezogenen Truppen ein gemeinsames Manöver ab – mit knapp 80.000 Soldaten übten hier („Kecker Spatz“) mehr Truppen die Kooperation als beim zeitgleich stattfindenden NATO-Manöver „Certain Strike“, und die 23.000 Franzosen stammten aus allen Bestandteilen der von den Sozialisten konzipierten „Force d´Action Rapide“, der hochmobilen „Schnellen Eingreiftruppe“ des Neokoloniallandes Frankreich;
  • da raisonnierten – ebenfalls Ende September 1987 – die Fachleute der staatlichen französischen Rüstungskonzerne über der Notwendigkeit eines „EUREKA militaire“, eines militärischen Adäquatums zum zivilen Versuch Westeuropas, der forschungs- und technologiepolitischen Herausforderung der USA und Japans zu entgegnen – mit deutsch-französischem Kern selbstverständlich.

Was steckt hinter dieser so breit angelegten Renaissance der sicherheitspolitischen deutsch-französischen Kooperation? Handelt es sich um mehr als um Ablenkungsmanöver von den unbewältigten sozialpolitischen Problemen in beiden Ländern, um mehr als um Wahlkampfränke für die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich und um Kompensationsversuche für die Kette der Wahlniederlagen der Christdemokraten in der BRD? Sind da Zusammenhänge zu konstatieren zu den derzeitigen Verhandlungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle?

Die Erklärungen müssen auf ein filigranes und nicht widerspruchsfreies Netz von Einzelfaktoren zurückgreifen. Die Hauptfaktoren seien als Leitgedanken aufgeführt:

  1. Frankreich will nach wie vor, und sein moderierter NATO-Austritt vor zwei Jahrzehnten ist nur der sicherste Hinweis hierauf, ein politisch und militärisch eigenständiges Westeuropa aufbauen. Vertreter nahezu jedweder politischer Couleur jenseits des Rheins halten die Protektionspolitik der USA in der Ökonomie für ebensowenig mit der gestiegenen Kraft Westeuropas vereinbar wie die Politik der von den USA aufoktroyierten Embargos. Das Röhrenembargo vom Beginn der 50er Jahre beispielsweise ist in Paris ebensowenig vergessen wie die fortwährenden Versuche Washingtons, mithilfe der COCOM-Liste die Bewegungsfreiheit der europäischen hochindustrialisierten Staaten (und Japans) in Richtung Kooperation mit den sozialistischen Ländern einzuengen. Immer wieder aktualisierte Restriktionen im Fluß von Forschungsergebnissen zwischen den USA und Westeuropa tun ein übriges.
    Ein stärkeres Westeuropa, in dem das nuklearbewaffnete Frankreich eine dominante Rolle spielen würde, ist jedoch nur in der Kooperation mit der Bundesrepublik zu erreichen.
  2. Die wirtschaftliche Krise unseres Nachbarlandes hat nun auch unmittelbar Einzug gehalten in den sicherheitspolitischen Bereich: Frankreichs Rüstungsexport, der nach gewaltigen Steigerungsraten unter Giscard d´Estaing und Mitterand in der Mitte der 80er Jahre 1,2 Millionen Menschen direkt und indirekt beschäftigte (davon 250.000 Ingenieure und Wissenschaftler) und mehr als fünf Prozent des französischen Exportes ausmachte, ist seit 1986 in einer gravierenden Krise: die Hauptwaffenkunden Frankreichs, die Länder des Nahen und Mittleren Ostens (die ab 1979 etwa 66 % der gesamten Waffenexporte abnahmen), sind durch die Ölpreis- und Dollarbaisse und durch den Golfkrieg in ihrer Zahlungsfähigkeit erheblich eingeschränkt; die mächtigen Rüstungskonzerne müssen erstmals in der Nachkriegszeit Arbeiter entlassen, und der internationale Konkurrenzdruck mit den neuen Konkurrenten aus der Dritten Welt (z.B. Brasilien, Israel) schmälert die Erträge überdies.
    Großbritannien mit seiner (wohlweislich) differenzierter angelegten Klientel hat Frankreich 1986 erstmals den weltweit dritten Rang unter den Waffenexporteuren abgelaufen; Frankreichs Weltmarktanteil von stark zehn Prozent droht acht Prozent geschmälert zu werden. Die BRD ist – nach dem Fortfall der letzten WEU-Hindernisse – ebenfalls auf dem Vormarsch im Weltwaffenhandel.
    Ein Faktor ist bei alledem für Frankreich besonders schmerzlich: das Rüstungsexportverhältnis Frankreich – USA hat sich vom Zeitraum 1965-1974 von einem erträglichen Verhältnis 1:2,8 zu einer katastrophalen Relation von 1:34 für die Jahre 1978-1982 entwickelt. (Großbritannien hat mit den Relationen 1:3,1 und 1:3,5 seine Stellung in etwa gehalten; die Bundesrepublik hat sich von 1:21 auf 1 :9,5 verbessert.*)
    Die Regierung Mitterand/Chirac scheint nun die deutsch-französische Kooperation beleben zu wollen, um im Verbund mit der ökonomisch und (waffen-)technologisch hochgeschätzten BRD – wenngleich nicht unter Aufhebung aller Konkurrenzlogen – den Anschluß an das Waffenexportgeschäft zu halten. (Den werbewirksamen Auftritten diverser Kabinettsmitglieder beiderseits des Rheins zum Trotze ist übrigens seit dem Beginn der 70er Jahre kein großes deutsch-französisches Kooperationsgeschäft mehr zustande gekommen.)
  3. Frankreich bringt in eine engere Waffenkooperation eine wertvolle Qualität ein: seine formelle Bündnisfreiheit. Diese erleichtert den Waffenverkauf an viele ungebundene Entwicklungsländer sowie in Krisengebiete erheblich.
  4. Die Konsequenzen aus dem Desaster der Waffenexportlage für das sensible Thema der hauseigenen, nach französischem Anspruch: national souveränen Rüstung sind im übrigen evident: Fällt der Waffenexport schwächer aus, müssen die Stückzahlen in der Produktion gesenkt werden, und die Einzelprodukte werden kostspieliger.
  5. Das Kapitel deutsch-französische Brigade scheint in erster Linie als politisches Instrumentarium geeignet, die jeweilige Bündnisnähe bzw. Bündnisferne zur NATO auszutesten – militärisch ist eine solche Brigade schlicht sinnlos. Allein in den Planspielen tun sich hier erhebliche Probleme auf: Frankreich fordert von der Bundesrepublik die vollständige Herauslösung dieser Brigade aus dem nordatlantischen Zusammenhang – alles andere ist in Frankreich nicht mehrheitsfähig. Hiermit verbunden ist die grundsätzliche Frage der französischen Strategen an die westdeutschen Partner, wie ernst es diesen mit Überlegungen einer stärkeren Eigenständigkeit gegenüber der US-Politik ist. Ein solcher Schritt ist wiederum für den atlantischen Musterknaben BRD nicht denkbar und würde wohl auch in Kreisen der NATO auf größtes Unverständnis stoßen.
    Wie sensibel das Thema NATO in diesem Zusammenhang ist, wurde im übrigen darin deutlich, daß auf französischen Druck hin der neue NATO-Oberkommandierende General Galvin und der deutsche Oberbefehlshaber Europa-Mitte, General Altenburg, von einer Manöverinspektion despektierlich ausgeladen wurden, was im NATO-Hauptquartier treffend als überaus unfreundliche Geste interpretiert wurde.
  6. Die NATO wiederum ist an fortwährenden Kontakten zu Frankreich interessiert; eine ausgleichende weltpolitische Sonderrolle dieses Landes erscheint vor allem den USA trotz der eklatanten Schwäche der dortigen Kommunisten und dem konstatierbaren Rechtstrend der Sozialisten als potentiell destabilisierend. Die Bundesrepublik bietet sich nun als Kontaktinstrument naheliegend an.
  7. Die Rolle der „Force d´Action Rapide“ (FAR) ist besonders zu behandeln:

    • Ihr Aufbau sollte zum einen den Anspruch Frankreichs auf seine globale Präsenz unterstreichen und hierzu die erforderlichen Mittel gewährleisten: ob es sich um Neukaledonien mit seinen Boden- und Meeresbodenschätzen handelt, um den Südpazifik mit den Atomtestgebieten oder um Französisch Guayana mit dem ESA-Startgelände für die profitträchtige Ariane-Rakete;
    • der Einstieg der „Schnellen Eingreiftruppe
    • beim Manöver „Kecker Spatz“ sollte zum anderen die Bereitschaft zur Teilnahme an der „Westeuropäisierung der Militärpolitik“ der Westeuropäer dokumentieren – Frankreich übte eine Ausweitung seines Sanktuariums.
  8. Die Diskussionen um die Neutronenbombe sowie um die Modernisierung der „Pluto“-Raketen zu den weiterreichenden „Hades“-Raketen sollen zum einen das internationale Territorium ausloten bezüglich dieser Ausweitung der französischen Einsatzräume, sie bedeuten des weiteren aber auch ein Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen offiziellen Militärstrategie Frankreichs, die da lautete, ein jeder Angriff auf französisches Territorium werde nach einer kurzen sondierenden Warnung mit den strategischen Atomwaffen beantwortet. Es geht also um die Glaubwürdigkeit der Nuklearwaffen als Ganzem.
  9. Zusammenhänge zwischen den aufgezeigten französisch-deutschen Aktivitäten und den derzeitigen Abrüstungsverhandlungen um die in Europa stationierten Mittelstreckenraketen scheinen evident – Staatspräsident Mitterand hatte die Verhandlungen begrüßt, hatte auch das bundesdeutsche Pershing Ia-Manöver für untauglich erklärt. Frankreichs Mittelstreckenwaffen wären im Falle einer Verschrottung von Pershing II und SS-20 die einzig auf dem Festland verbleibenden, die zudem den Vorteil besäßen, daß die USA keinerlei Zugriff auf sie besäßen.

Und daß in der Bundesrepublik nach wie vor ein Interesse an einem wie auch immer geformten „Mitspracherecht“ beim Einsatz von Atomwaffen besteht, äußerte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im deutschen Bundestag, Dregger, unlängst erneut.

Frankreich wird mittel- und langfristig weder in den militärischen Verbund der NATO zurückkehren, noch wird es seine Atomwaffen aus der Hand geben. Es wird jedoch seine Trümpfe weiterhin nutzen, um seine politischen Spielräume zu erhalten und ökonomische Problemlagen zu überstehen. Ein stabilisierendes Element ist jedoch im gesamten Agglomerat der deutsch-französischen Aktivitäten nicht zu verzeichnen.

Im Winter 1987/88 wird für den Gesamtzusammenhang meine umfassende Studie zu „Frankreichs Militär und Sicherheitspoetik unter Francois Mitterand im Spannungsfeld von nationaler Souveränität, NATO- und Westeuropaorientierung“ erscheinen (Schriftenreihe des Arbeitskreises Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung, Bd. 6, ca. 300 S., 20,00 DM; Bestelladr.: Neuhöfe 7, 3550 Marburg).

Johannes M. Becker, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Friedens- und Abrüstungsforschung an der Universität Marburg.

Europäische Verteidigungsinitiative

Europäische Verteidigungsinitiative

von Redaktion

Seit geraumer Zeit tun sich führende Unionspolitiker damit hervor, einen speziellen europäischen Beitrag zum amerikanischen SDI-Programm zu fordern. EUREKA soll v.a. dazu dienen, die neuen Waffensysteme im west- europäischen Verbund zu entwickeln. Der Leiter das Planungsstabes im Auswärtigen Amt, Konrad Seitz, hat jüngst ähnliche Gedanken geäußert: EUREKA richtet sich auf zivile Projekte. Daneben sollten europäische Projekte in der Rüstungskooperation stehen. … Auch hier gilt es endlich, nationale Egoismen zu überwinden und sich – im Rahmen der NATO-Strategie – auf eine Europäische Verteidigungsinitiative zu einigen (…)“ 1

In Bonn hat sich die Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Fraktion für den Einstieg in eine eigenständige europäische Verteidigungsinitiative ausgesprochen. Ihr Sprecher, Willy Wimmer, forderte eine „schutzorientierte Waffentechnik“! 2

Hinter den Kulissen stimmt sich das militärpolitische Management längst auf EVI ein. Da veranstaltet ein „European Institute For Security“ in Verbindung mit einer Initiative namens „High Frontier Europe“ am 21./22.6. in Rotterdam ein Seminar über die Konsequenzen von SDI für Westeuropa. Einer der Hauptredner: Kai Uwe von Hassel, Europapolitiker der CDU.

Das Institut für Raumfahrttechnik der Universität der Bundeswehr in München lädt ein zu einem – inzwischen aus Termingründen verschobenen – Seminar über das Thema „Initiative zur Verteidigung Europas“. Vorgesehene Referate der ursprünglich für den 27.9. angesetzten Tagung: „Bedrohung Westeuropas durch Kurz- und Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper“, Oberst K. M. Hoffmann, Carl Cranz Gesellschaft.

„Laser- Technologie“, Dr. G. Born, MBB. „Zielerfassung und Zielverfolgung für Hochenergielaser“, Dr. F. W. Linder, Fa. Diehl (Nürnberg).

„Ökonomische, politische und strategische Randbedingungen für die Europäische taktische Verteidigungsinitiative“, H. Horeis, .Geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift „Fusion“.

Dieser Heinz Horeis hat zusammen mit Michael Liebig einen Aufsatz unter der Überschrift „Strahlenwaffen für Europa „Initiative zur taktischen Verteidigung““ in Fusion 2. Mai 1985 verfaßt. Die Zeitschrift wird von einer Fusion Energy Foundation herausgebracht, die eng mit der sog. „Europäischen Arbeiterpartei“ (EAP) liiert ist. Mit wem die EAP verbunden ist wissen wir nicht. Immerhin sind diese obskuren Vereinigungen geeignet, Hauptreferenten bei solchen Seminaren zu stellen.

Im übrigen lädt auch die Carl-Cranz-Gesellschaft Ingenieure und Naturwissenschaftler aus Industrie, Behörden und Forschung bereits zu Lehrgängen in ihr Zentrum in Oberpfaffenhofen über Strahlenwaffen/Directed Energy Weapons ein. Die Vortragenden kommen von MBB, Fa. Diehl, DFVLR, Battelle- Institut, Fa. Heraues etc.

Es ist also höchste Wachsamkeit geboten, daß sich SDI nicht unter der Hand hierzulande durchsetzt. Die Friedensbewegung wird für Transparenz dieser Vorgänge zu sorgen haben.

Anmerkungen

1 Konrad Seitz, SDI – technologische Herausforderung für Europa, in: Europa-Archiv, Folge 13/1985, S. 389 Zurück

2 Frankfurter Rundschau v. 3. 9. 1985, S. 3 Zurück

Navigationssatelliten und Atomkriegsstrategien

Navigationssatelliten und Atomkriegsstrategien

von Kai Lorenzen

Seit zwanzig Jahren werden militärische Satelliten zur Positionsbestimmung und Navigation genutzt. Die technische Entwicklung auf diesem Sektor wird in den nächsten Jahren erheblich dazu beitragen, einen Atomkrieg führbar und gewinnbar erscheinen zu lassen.

Um die Bahn des ersten künstlichen Satelliten Sputnik 1 zu bestimmen, bedienten sich amerikanische Wissenschaftler des Doppler-Effekts: Die Senderfrequenz des Satelliten wird – abhängig von seiner Geschwindigkeit zur Bodenstation verschoben empfangen. Messungen dieser Frequenzverschiebung durch mehrere Stationen erlauben die Bahnbestimmung des Satelliten. Bald entstand die Idee, das Verfahren umzukehren und bei bekannter Satellitenbahn die Empfängerposition durch Dopplermessungen zu ermitteln. Aus geometrischen Gründen können so allerdings nur zwei Koordinaten des Empfängers bestimmt werden, die dritte Koordinate (in der Regel die Höhe) muß dazu bekannt sein.

Die amerikanische Furcht vor der Raketenlücke, eine politische Folge des Sputnik, resultierte unter anderem in der Entwicklung U-Boot-gestützter Nuklearraketen (POLARIS). Bedingung für deren Einsatzbereitschaft ist ein globales Navigationssystem, das mit ausreichender Genauigkeit nur durch Satelliten realisiert werden kann. Ein entsprechendes Konzept war bereits vorhanden, und so begann die Navy 1958 mit der Entwicklung des TRANSIT Satellitennavigationssystems 1, das 1964 der POLARIS-Flotte zur Verfügung stand. TRANSIT besteht aus fünf Satelliten in polaren Bahnen, die während ihrer 105-minütigen Umläufe etwa 18 Minuten lang von einem Standort aus beobachtet werden können. Während eines solchen „Durchgangs“ wird die Frequenzverschiebung gemessen und unter Verwendung vom Satelliten gesendeter Bahndaten die Position des Empfängers bestimmt. Da die Höhe auf See bekannt ist, stellt die Beschränkung des Verfahrens auf zwei Koordinaten kein Problem dar.

Die Satellitenbahnen werden aus Messungen von vier festen Bodenstationen bestimmt. Dabei entsteht gewissermaßen als Abfallprodukt ein Modell des Erdschwerefeldes, das militärisch außerordentlich wichtig ist. Nur wenn alle Unregelmäßigkeiten des Schwerefeldes bekannt sind, kann die Flugbahn ballistischer Raketen genau vorausberechnet werden. Somit ist TRANSIT in doppelter Hinsicht von großer militärischer Bedeutung.

Ein Nachteil des Systems ist, daß zwischen zwei Durchgängen Zeiträume bis zu mehreren Stunden liegen können. Trotz hochentwickelter Trägheitsnavigationsverfahren nimmt die Genauigkeit der Schiffsposition dann von etwa 50 m auf einige 100 m ab. Angriffe auf Punktziele sind so nicht möglich. Daher konnte Abschreckung in den sechziger Jahren nur auf Basis der mutual assured destruction glaubwürdig sein, McNamaras Konzept der Zerstörung militärischer Kommandozentralen und Raketenbasen (Counterforce-Doktrin) mußte als unrealistisch verworfen werden.

Die Sowjetunion hat wahrscheinlich 1968, gleichzeitig mit ihren ersten seegestützten Nuklearraketen, eigene Navigationssatelliten eingeführt. Sichere Hinweise auf dieses System, das sich nur unwesentlich von TRANSIT unterscheidet, sind seit 1972 veröffentlicht 2. Die UdSSR selbst hat jedoch erst 1978 den Start eines Navigationssatelliten bekanntgegeben. Deutlich wird daraus einerseits, wie die sowjetische Nachrichtenpolitik eine realistische Information der Öffentlichkeit über ihren Rüstungsstand erschwert. Andererseits ist aber sicher, daß die UdSSR wesentlich später als die USA mit der Entwicklung ihres Systems begonnen und das amerikanische Konzept weitgehend übernommen hat.

Aufgrund zunehmenden Drucks von industrieller Seite wurde TRANSIT 1968 für die zivile Nutzung freigegeben. Die Navy betrieb unterdessen ein Programm zur TRANSIT-Weiterentwicklung unter der Bezeichnung TIMATION. Gleichzeitig plante die Air Force ihr SYSTEM 6218 für kontinuierlich dreidimensionale Positionsbestimmung.

Beide Projekte wurden 1973 durch ein Memorandum des DoD vereinigt, das sowohl Folge eingetretener technischer Entwicklungen als auch ein direkter Schritt zur Schaffung der militärischen Grundlagen der Counterforce-Doktrin war. So entstand das Konzept des „Global Positioning System“ NAVSTAR 3. Ein gemeinsames Programmbüro wurde gegründet, in dem neben den Teilstreitkräften und der Defense Mapping Agency auch die NASA, die US-Luftfahrtbehörde und das US-Verkehrsministerium vertreten sind. Diese Behörden vertreten die zivilen Nutzer von NAVSTAR, haben aber kaum Einfluß auf die Systemplanung. Dafür spielen sie eine umso größere Rolle, wenn es um die Durchsetzung des 8-Mrd-Dollar-Projekts im Kongreß geht. Seit 1978 ist auch die Bundesrepublik zusammen mit acht weiteren NATO-Staaten durch einen gemeinsamen Vertreter im Programmbüro präsent 4. Nach derzeitigem Stand 5 soll NAVSTAR aus 18 Satelliten (Raumsegment) und neun Bodenstationen (Kontrollsegment) bestehen. Die Satelliten werden in sechs 12-Stunden-Bahnen so angeordnet, daß jederzeit und an jedem Ort mindestens vier von ihnen beobachtbar sind. Alle Satelliten sind mit synchronisierten Atomuhren ausgerüstet und senden ihre Bahndaten in zwei verschiedenen, zeitlich extrem genau definierten Codes. Die Empfängerposition wird aus den Laufzeitdifferenzen der zeitlich zusammengehörigen Codesegmente aller vier Satelliten bestimmt. Je höher die zeitliche Auflösung des Codes, desto genauer ist die Position, umso schwieriger ist aber auch die Identifikation der zusammengehörigen Codesegmente. Daher senden die NAVSTAR-Satelliten zwei verschiedene Codes, einen mit vergleichsweise geringer zeitlicher Auflösung (C/A Code) und einen mit zehnfach höherer Auflösung (P-Code). Nachdem der Nutzer seinen Standort näherungsweise mit dem C/A Code ermittelt hat, kann er die P-Code Segmente zuordnen und seine Positionsgenauigkeit um eine Größenordnung verbessern.

Das Kontrollsegment besteht aus 5 Tracking-, 3 Upload- und einer Masterstation, die im atomsicheren militärischen Weltraumzentrum bei Colorado Springs untergebracht werden soll. Ferner wird ein vollständiges mobiles Kontrollsegment entwickelt. Sollte auch dies in einem Nuklearkrieg zerstört werden, so können die Satelliten aufgrund ihrer Bahnkonfiguration immer noch etwa eine Woche lang ohne Genauigkeitseinbuße genutzt werden. Empfänger läßt das DoD für Luft-, Land- und Seefahrzeuge aller Art entwickeln und testen. Mobile Empfangsseinheiten soll es außerdem für das „Integrated Operational Nuclear Detection System“ eine Zusatzeinrichtung von NAVSTAR, geben. Alle Satelliten sind mit einem Detektor ausgerüstet, der elektromagnetische Pulse von Kernwaffenexplosionen registriert. Aus diesen Informationen lassen sich Ort und Zeitpunkt der Explosionen sehr genau ermitteln.

Seit 1977 werden Prototypen der Satelliten und Empfänger erprobt. Auch extrem schnell fliegende Kampfflugzeuge konnten dabei ihre Position kontinuierlich auf 30 m (C/A-Code) bzw. 3-5m (P-Code) genau bestimmen. Diese Ergebnisse waren selbst für das DoD überraschend und lösten wegen der möglichen Mitbenutzung von NAVSTAR durch die UdSSR Besorgnis aus. Der Nationale Sicherheitsrat beschloß kurz darauf, die Bahndaten des P-Codes aufwendig zu verschlüsseln und den C/A-Code absichtlich so zu degradieren, daß die Genauigkeit für nichtautorisierte Nutzer bestenfalls 100 m erreicht. Die betroffenen zivilen Anwender protestierten zwar leise, unterstützten aber weiterhin die politische Durchsetzung des Projekts. Hier ist anzumerken, daß ein ziviles Navigationssystem ähnlicher Genauigkeit nur einen Bruchteil der Kosten von NAVSTAR verursachen würde, da auf die teuren Maßnahmen zur Sicherstellung der Überlebensfähigkeit des Systems im Nuklearkrieg verzichtet werden könnte.

Es ist fast müßig, auf die Bedeutung von NAVSTAR in den neuen strategischen Konzepten der NATO hinzuweisen. Seit Carters Direktive 59 ist „counterforce“ auf dem Wege, ein realistisches Konzept zu werden. Dazu trägt NAVSTAR wie kaum ein anderes Rüstungsprojekt der letzten Jahre bei.

Die Sowjetunion beantragte 1982 bei der internationalen Fernmeldeunion Frequenzen für ein Navigationssystem unter der Bezeichnung GLONASS 6. Noch im gleichen Jahr brachte sie drei Satelliten in eine Umlaufbahn, die – soweit bisher bekannt den NAVSTAR-Satelliten weitgehend gleichen. Sechs Satelliten sind im letzten Jahr hinzugekommen, was die Vermutung nahelegt, daß es sich nicht um Prototypen, sondern bereits um einen Teil des Gesamtsystems handelt. Anscheinend hat die UdSSR auf eine ausgedehnte Testphase verzichtet und der baldigen vollen Verfügbarkeit des Systems höchste Priorität eingeräumt.

Offiziell wird GLONASS als zivil bezeichnet, was wohl bedeutet, daß auch der präzise Code frei verfügbar sein soll. Dessen Verschlüsselung wäre angesichts von NAVSTAR ohnehin überflüssig und kann als politische Geste gegenüber den zivilen Nutzern unterbleiben. Wenn die heutigen Informationen zutreffen, ist GLONASS jedoch für die UdSSR von ähnlicher militärischer Bedeutung wie NAVSTAR für die USA.

Beide Systeme sollen 1986 voll einsatzfähig sein. Damit wird der Atomkrieg für die Militärstrategen beider Großmächte mehr als je zuvor führbar und gewinnbar erscheinen. Ein nicht sehr beruhigendes Gleichgewicht.

Anmerkungen

1 Th. A. Stansell, The TRANSIT Navigation Satellite System Torrance 1978 (Magnavox) Zurück

2 ·C. D. Wood, G. E. Perry, The Russian Satellite Navigation System, in: Satellite Doppler Tracking, RS Discussion, London 1980 Zurück

3 R. E. Dew Review of the NAVSTAR GPS, in: Proc. 2nd int. Symposium on Satellite Doppler Positioning Austin 1979 Zurück

4 J. P. Tjardts NAVSTAR GPS, in: Ortung und Navigation 2/82 Zurück

5 ·B. W. Parkinson, S. W. Gilbert, NAVSTAR: GPS – Ten Years Later, Proc. of the IEEE Vol. 71 No. 10 1983 Zurück

6 Vortrag von Prof. Ya Kuschenkov und Poster der Kettering-Group, Symposium „Global Civil Satellite Navigation Systems“, London 1984 Zurück

Kai Lorenzen, Hamburg

Raketen und die Spaltung Europas:

Raketen und die Spaltung Europas:

Ein neues Wettrüsten bahnt sich an!

von Götz Neuneck

Der Streit um die amerikanischen Raketenabwehrpläne beherrscht nach Jahren relativer Ruhe, aber technischer Entwicklung und kontinuierlicher Finanzierung wieder die Weltpresse. Von einem »unvermeidbaren Wettrüsten« ist die Rede, insbesondere seit der russische Präsident Wladimir Putin im Falle einer Realisierung der amerikanischen Raketenabwehr in Ost-Europa nicht nur mit »Vergeltungsschritten« gedroht hat, sondern auch die »Möglichkeit eines nuklearen Konfliktes« als wahrscheinlicher bezeichnet hat.1

Die US-Administration betrachtet die geplante neue, vorgeschobene Abwehrkomponente für Raketen in Osteuropa (die dritte neben Abfangstellungen in Alaska und Kalifornien) ihres »Ground-based Midcourse Missile Defense Systems« (GMDS, bodengestützte Raketenabwehr für die mittlere Flugphase) als »begrenzte Abwehr«, die insbesondere gegen die ballistischen Raketen der sog. »Schurkenstaaten« wie Nordkorea und Iran, nicht jedoch gegen Russland oder China ausgerichtet sei.2

Russland fühlt sich auch vor dem Hintergrund einer fortschreitenden NATO-Ausdehnung, ungelöster Probleme um den Kosovo und des fortschreitenden Ausbaus der militärtechnischen Überlegenheit der USA (Stichworte sind Weltraumbewaffnung, Global Strike etc.) provoziert. Sogar die Kündigung wichtiger Rüstungskontrollverträge wie des multilateralen Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) oder des US-russischen Intermediate Nuclear Forces-Vertrags (INF) von 1987 über die vollständige Abschaffung von Mittelstreckenraketen wird von russischer Seite in Betracht gezogen.

Vor neuen »Trennlinien« in Europa als Konsequenz einer Stationierung warnte im März der damalige französische Präsident Chirac, und Außenminister Steinmeier befürchtete eine Spaltung des »alten und neuen Europas«. Gerät Europa ein weiteres Mal zwischen die Mühlsteine der USA und Russlands, die auf eine neue nukleare Konfrontation zusteuern? Was ist der Anlass für diese Kontroverse?

Seit Januar 2007 führen Emissäre der Bush-Administration offiziell Verhandlungen mit den Regierungen in Polen und Tschechien, um in den beiden Ländern die Stationierung einer Abwehrstellung mit zehn sog. »Ground-based Interceptors« (GBI, bodengestützten Raketen mit Abfangflugkörpern) bzw. eines hochauflösenden X-Band Radar (FBX) auszuhandeln.3 Die beiden osteuropäischen Regierungen unterstützen diese Pläne vehement. Ihnen geht es dabei weniger um Schutz gegenüber bisher nicht existierenden Raketen aus dem Iran, sondern um eine starke sicherheitspolitische Ankoppelung an die USA. Die Bevölkerung, besonders in Tschechien, lehnt die Pläne hingegen weitgehend ab. Die US-Pläne haben, wenn sie unkoordiniert umgesetzt werden, mehrere Konsequenzen:

  • Sie werden die Weiterverbreitung und den Bau von Raketen in Iran und Russland eher beschleunigen statt verlangsamen.
  • Da die jetzigen Pläne nicht ganz Europa abdecken, werden sie die Stationierung weiterer Abwehrsysteme z.B. im NATO-Kontext, nach sich ziehen.
  • Im Falle eines Abfangvorganges können die dabei entstehenden Trümmer über Russland oder Europa abstürzen und Schaden anrichten.
  • Die begrenzte Einsatzfähigkeit des GMD-Systems wird die Stationierung weiterer Interzeptoren und möglicherweise neuer Abwehrstellungen der USA, z.B. im Kaukasus, nach sich ziehen. Großbritannien, Dänemark und die Ukraine haben ebenfalls bereits Interesse signalisiert.
  • Die nukleare Abrüstung wird begraben werden, da nur der Erhalt des russischen offensiven Abschreckungsarsenals eine begrenzte Abwehr »ausgleichen« kann, wenn man die Abschreckungsidee aufrecht halten möchte, die ja im Wesentlichen auf einer einsetzbaren Zweitschlagsfähigkeit beruht.

Raketenabwehr »sobald technisch möglich«

Eine Kooperation mit Russland hingegen könnte diese Entwicklung in vernünftige Bahnen lenken. Des Weiteren würde die Lösung der Nuklearkrise mit Iran die Abwehr in Osteuropa überflüssig machen. Die US-Pläne wurden im Wesentlichen ohne vorherige umfassende Konsultationen mit den Verbündeten und Russland verfolgt. Nachdem sich Widerstand in Europa abzeichnete, wurde eine Charmeoffensive hochrangiger Beamter aus Washington gestartet. Außenministerin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Robert Gates schrieben in einer Kolumne: »Gerede über ein neues ›Wettrüsten‹ mit Russland ist anachronistisch und wirklichkeitsfremd«.4 Den sichtbaren Gegenbeweis lieferte Russland: Im Mai testete es eine neue mobile Interkontinentalrakete RS-24, die für Mehrfachsprengköpfe zur Überwindung der Raketenabwehr geeignet ist. Auch Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander-N (500 km Reichweite) wurden getestet. Weitere Systeme sind in der Entwicklung.5 Kann ein neues Wettrüsten, in das Europa einbezogen wird, dennoch vermieden werden?

Vor fünf Jahren, am 13. Juni 2002, vollzogen die USA die Kündigung des Raketenabwehrvertrages, um eine begrenzte, aber globale Raketenabwehr aufzubauen und zu stationieren, »sobald dies technologisch möglich ist«.6 Seit 2002 wurden von den USA für Entwicklung und Bau der Raketenabwehr ca. 41 Milliarden US-Dollar aufgewendet, dennoch war in dem Zeitraum nur ein Test am 1. September 2006 erfolgreich.7 Insgesamt hatten von zehn Abfangversuchen seit dem Jahr 2000 lediglich fünf Erfolg. Von einer funktionierenden Abwehr kann deshalb nicht die Rede sein, zumal die Tests nicht unter operativen Bedingungen stattfinden, sondern sorgfältig vorgeplant sind und sich technischer Tricks bedienen, um noch nicht existente Komponenten des Gesamtsystems zu simulieren. Die Achilles-Ferse des GMD-Systems, die Überwindung durch einfach realisierbare Gegenmaßnahmen (Ballone, Attrappen etc., die im Weltraum gemeinsam mit den Sprengkörpern aus der Rakete freigesetzt werden können), ist nach wie vor vorhanden.

Der US-Kongress kürzte die Ausgaben der Missile Defence Agency (MDA, Behörde für Raketenabwehr im US-Verteidigungsministerium) auch für die europäischen Komponenten mit dem Hinweis, die Systeme hätten noch nicht ihre Funktionsfähigkeit gezeigt. Phil Coyle, ehemaliger hoher Pentagon Beamter, und während seiner Amtszeit verantwortlich für die Entwicklung und das Testen von US-Waffensysteme, stellte fest: »Die MDA war bisher noch nicht in der Lage, die effektive Fähigkeit eine idealisierte Bedrohung unter realistischen operativen Bedingungen nachzuweisen«. Diese sehr begrenzte Fähigkeit ist auch den russischen Planern bekannt. Wieso reagiert Putin dennoch so heftig mit dem Hinweis auf eine veränderte strategische Stabilität im Falle der Stationierung von Raketenabwehrkomponenten in Europa?

Raketenrüstung gegen Raketenabwehr

Die russischen Planer gehen zunächst stets vom »best case« aus und nehmen an, die USA werden die genannten technischen Schwierigkeiten überwinden. Für sie ist die GMD-Stellung in Europa nur die Spitze eines Eisbergs. Sie sind überzeugt, dass sukzessive weitere Stellungen und Interzeptoren folgen werden. Natürlich können diese geplanten zehn Anti-Raketen-Raketen zunächst nichts gegen die ca. 493 landgestützte Interkontinentalraketen Russlands ausrichten. Dieses Argument ist zwar zutreffend, lässt aber außer Acht, dass die Zahl der russischen Langstreckenraketen altersbedingt in den nächsten Jahren sinken und die Überlegenheit der US-Systeme weiter steigen wird.

Russische Ängste vor einem Erstschlag werden geschürt, zumal das Radar in Tschechien wichtige Startinformationen von aufsteigenden Raketen aus Russland in Richtung USA an diverse andere Raketenabwehrstellungen in Nordamerika8 melden (oder auch Testflüge von russischen Raketen detailliert beobachten) kann. Insbesondere das Aussetzen der Sprengköpfe und Attrappen kann von Tschechien aus beobachtet werden. Die Einführung umfassender Raketenabwehr und damit die Möglichkeit der USA, einen russischen Zweitschlag abzuwehren, würde die strategische Balance langfristig ändern. Auch die überall kolportierte Aussage des MDA-Direktors General Obering, dass in Polen stationierte Interzeptoren russische Raketen nicht erreichen könnten, trifft nicht zu. Simulationen einer Arbeitsgruppe am Massachusetts Institute for Technology (MIT) widerlegen diese Aussage für die drei westlichen Raketenfelder und die dort stationierten Interkontinentalraketen Russlands – die erheblich näher liegen als der Iran. Ein Ausbau russischer Raketenabwehrsysteme ist in diesem Fall fast unvermeidlich.

Auch die US-Abwehrstellungen in Osteuropa mit russischen Raketen zu bedrohen, ist militärtechnisch »logisch«, trägt aber ebenfalls nicht zur Lösung der Krise bei, denn auf Drohungen reagieren die Osteuropäer mit dem Hinweis, dass ihre Ängste gegenüber Russland offensichtlich doch berechtigt sind. Dass dies als Konsequenz des durch die Raketenabwehr veränderten strategischen Gleichgewichts betrachtet werden muss, wird dann schnell vergessen sein.

Beim G-8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 schlug Präsident Putin zur Überraschung des Westens vor, statt des FBX-Radars in der tschechischen Republik ein russisches Frühwarnradar in Gabala/Aserbaidschan zu nutzen bzw. den Irak oder die Türkei in die Raketenabwehr einzubeziehen. Der vorgeschlagene Standort in Aserbaidschan hat den Vorteil, dass ein dort positioniertes Radar einen guten Blick auf den Iran bietet, aufgrund der Kaukasus-Berge und der Erdrundung jedoch nicht signifikant in das russische Territorium hineinschauen und russische Raketen verfolgen kann. Die Tatsache, dass Russland das Radar betreiben würde, missfällt dem Pentagon jedoch. Immerhin hat Präsident Bush den Vorschlag als interessant bezeichnet, und es wurde eine amerikanisch-russische Arbeitsgruppe eingesetzt, die Einzelheiten diskutieren soll. Hier wird sich zeigen, ob die USA ihre oft wiederholtes Angebot, mit Russland in Sachen Raketenabwehr zusammenzuarbeiten, auch ernst meinen oder ob der Aufbau der Raketenabwehr letztlich doch auch gegen Russland gerichtet ist. Im Juli werden sich die beiden Präsidenten am Sommersitz der Familie Bush in Kennebunkport treffen. Dann wird sich zeigen, ob eine Einigung möglich ist.

Ginge es den USA und der NATO tatsächlich nur um eine potenzielle iranische Bedrohung, wäre eine Zusammenarbeit mit Russland sowie ein ernsthaftes Bemühen um eine Lösung des Nuklearstreits mit dem Iran die naheliegende Lösung. Gelingt eine Einigung nicht, so ist ein neues Wettrüsten fast unvermeidlich. Leidtragende wären in erster Linie die Europäer und auch die europäischen Rüstungskontrollerfolge wie z.B. der KSE- oder der INF-Vertrag, jahrelang wesentliche Stabilitätsanker in Europa, könnten zusammenbrechen. Die wieder aufflammende Kontroverse um die Raketenabwehr zeigt, dass die beiden großen Nuklearmächte immer noch nicht aus der Falle nuklearer Abschreckung und Überrüstung entkommen sind, die sie selbst im Kalten Krieg aufgebaut haben.

Anmerkungen

1) Süddeutsche Zeitung, 4. Juni 2007, 07:16 [http;77www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/922/116806/].

2) White House: National Policy on Ballistic Missile Defense Fact Sheet, 20. Mai 2003 [http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/05/20030520-15.html].

3) S. Hildreth/C. Ek: Long-Range Ballistic Missile Defense in Europe, 22. Juni 2007, Congressional Research Service Report for Congress, Washington D.C. 22. Juni 2007.

4) Süddeutsche Zeitung 16. April 2006, S.1.

5) Florian Rötzer: Neue russische Raketen gegen US-Raketenabwehrsystem, Telepolis 30.05.2007 [http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=/tp/r4/artikel/25/25391/1.html&words=Putin&T=Putin].

6) National Missile Defense Act of 1999, Public Law 106-38 [http://Thomas.loc.gov/cgi-bin/query/z?c106:S.269:].

7) Wade Boese: Missile Defense Five Years after the IBM-Treaty, Arms Control Today, Juni 2007.

8) Zur Zeit sind ca. 20 Interzeptoren in Alaska und Kalifornien stationiert. Diese Zahl soll ausgebaut werden. Das taktische System THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) zum Abschuss von Sprengkörpern kurz vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre kann sogar über 1.000 Interzeptoren verfügen.

Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am IFSH und Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien