Von deutschem Boden geht Krieg aus

Von deutschem Boden geht Krieg aus

Die Funktion der ausländischen Militärstützpunkte

von Hans-Peter Richter

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 4/2008
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Friedensrat

US-Amerikanische Stützpunkte

Die Funktion der ausländischen Militärstützpunkte

Deutschland führt Krieg. Das hat sich nach den jüngsten »Kollateralschäden« in Afghanistan sogar bis in die deutsche Medienlandschaft hinein herumgesprochen. Aber die deutsche Mitverantwortung für Kriege in aller Welt setzt viel früher ein: Da, wo die Truppen anderer Länder deutsches Staatsgebiet nutzen, um Kriege zu führen. Welche ausländischen Truppen sind in Deutschland stationiert, und was genau machen sie hier? Diesen Fragen widmet sich der vorliegende Text.

In der Bundesrepublik Deutschland sind heute 64.703 US-amerikanische Soldaten und Soldatinnen aus Armee (49.127), Luftwaffe (14.831) und Eingreiftruppen (Marines) stationiert, darunter das europäische Hauptquartier des Marine Corps.1 Das größte Armee-Kontingent ist das V. Corps in Heidelberg mit ca. 33.000 SoldatInnen und bis August 2008 unter dem Kommando von General-Leutnant Ricardo S. Sanchez. Wegen seiner Verwicklung in den Folterskandal im Abu-Ghuraib-Gefängnis wurde Sanchez als Oberbefehlshaber der US-Truppen im Irak abgelöst2, aber er diente weiter als Kommandeur des V. Corps in Deutschland. Seit September 2008 ist General Carter Ham neuer Kommandant.

Nach der Rückkehr der 1. Infanterie-Division von Würzburg3 in die USA ist die 1. Panzerdivision in Wiesbaden4 weiterhin dem V. Corps unterstellt. Zu ihr gehören 16.500 SoldatInnen, 159 M1A1 Abrams Panzer, 173 Panzer M2 Bradley IFV, 36 Haubitzen M109A6 Paladin, 18 Raketenwerfer M270 MLRS und 18 Hubschrauber AH-64 Apache.

Heute nutzt das US-Militär 65 Orte in Deutschland. Die britischen Truppen nutzen 18 Orte und haben 23.000 SoldatInnen in Deutschland stationiert. Für alle SoldatInnen zählt Deutschland als Heimatbasis, aber es sind nie alle hier, da immer einige militärische Einheiten im Krieg sind. In diesem Fall werden sie aus Deutschland zum Kriegsschauplatz transportiert. Nach dem Ende ihres Einsatzes kehren sie mit ihren Waffen nach Deutschland zurück und eine andere Einheit löst sie ab (Rotationsprinzip). So gehen ständig gigantische Militärtransporte auf der Schiene, auf dem Wasser oder in der Luft durch Deutschland. Ab 2007 wird noch mehr rotiert als vorher. Einige Einheiten werden nicht nach Deutschland zurückkommen, sie gehen aber nur in seltenen Fällen in die USA; eher liegt ihr neuer Stützpunkt weiter im Osten, bei den neuen NATO-Mitgliedern.

Nur geringe Truppenreduzierung

Ständig wird ein Abzug von US-SoldatInnen angekündigt, der dann aber nur zu einem Teil durchgeführt wird. So sprach im August 2004 US-Präsident George Bush von einer Reduzierung der im Ausland stationierten Streitkräfte.5 Er wollte Geld sparen für die Modernisierung von Waffen, um damit die schnelle Interventionsfähigkeit der Streitkräfte zu verbessern. Beginnend mit 2006 sollten ungefähr 45.000 GIs aus Europa abgezogen werden. Davon sind aber nur 6.100 SoldatInnen in Deutschland betroffen, zusätzlich 11.000 Familienangehörige, ungefähr 1.000 Zivilbeschäftigte der US-Armee und weitere 1.000 deutsche Zivilbeschäftigte.6 Das US-Verteidigungsministerium (DoD) kündigte am 29. Juli den Abzug seiner Truppen von 11 Stützpunkten in Deutschland im Haushaltsjahr 2007 an. Dieser geplante Abzug ist Teil des Abzugs des Hauptquartiers der 1. Infanterie-Division (1.ID) im Sommer 2006.7 Im August 2008 wurde eine weitere Umgruppierung und Truppenreduzierung angekündigt, aber diese würde nur 360 SoldatInnen betreffen.8

Nun hat US-Verteidigungsminister Gates entschieden, dass zumindest bis 2012/13 nicht drei, sondern fünf Brigaden, also nicht 28.000 sondern etwa 42.000 SoldatInnen der US-Army in Europa bleiben. Die Standorte der US-Airforce und der US-Marines in Deutschland in Ramstein, Spangdahlem und Landstuhl werden weiter ausgebaut. Auch neue Kampfverbände wurden aufgestellt, so z.B in Vilseck bei Grafenwöhr das »2nd Stryker Cavalry Regiment« (Eingreif-Regiment). Da der Transport von schweren Panzern schwierig ist, entwickelte das Pentagon den »Stryker«, einen kleineren Panzer, der einfacher per Flugzeug transportiert werden kann.

Der Ausbau der US-Garnison Kaiserslautern zum zentralen europäischen Logistik-Standort der US-Army wird konsequent fortgesetzt. Auch die für Beschaffung und Vertragsabwicklung mit Privat-Firmen zuständigen Army-Dienststellen werden im kommenden Jahr in die Westpfalz verlegt. (siehe Grafik 1)

armyrebasing.png

Grafik 1: Rebasing

Diese offizielle Grafik der US-Armee (Stand Oktober 2007) zeigt die Veränderungen von der Zeit des kalten Krieges bis heute und in der Zukunft. Sie ist allerdings sehr oberflächlich, weil sie die militärische Präsenz der USA in Deutschland nicht umfassend darstellt. Der Deutsche Friedensrat hat in seiner Analyse von 2006/2007 (nachzulesen auf der Homepage www.deutscher-friedensrat.de unter »Materialien«) recherchiert, dass die USA in Deutschland 63 Orte für militärische Zwecke und 9 Orte für Wohnanlagen nutzten. Davon ist auf der Karte nur ein kleiner Teil zu sehen. Die neueste Liste ist weiter unten zu finden.

Komfortable Unterbringung

Zu einem vollständigen Bild der militärischen Infrastruktur gehört sowohl die Beschreibung aller militärischen Anlagen, die von den USA zur Zeit mit 287 beziffert wird, als auch die aller zivilen Anlagen (Wohnsiedlungen, Einkaufszentren, Kindergärten, Schulen, Erholungszentren, Golfplätze, Burger Kings, eigene Wasserversorgung, eigenes Fernmeldenetz, Sportplätze, Sportgeschäfte, eigene Universität, Tankstellen, Autowaschplätze, Pizzerien, Busverkehr, Flugplätze, Feuerwehr, Kinos, Fitness-Center, Bowlingbahnen etc.). Da der Euro gegenüber dem US-Dollar stark an Wert gewonnen hat, geht es den US-SoldatInnen und ihren Familien ökonomisch bei weitem nicht mehr so gut wie in Zeiten des Kalten Krieges. Die deutschen Mieten können sich viele SoldatInnen und ihre Familien auch nicht mehr leisten. Deshalb geht das DoD immer mehr dazu über, abgeschlossene Wohnsiedlungen mit der ganzen oben beschriebenen Infrastruktur zu errichten, so dass die SoldatInnen und ihre Familienangehörigen das Gebiet nicht verlassen müssen. Eine riesige Anlage dieser Art ist z.B. bei Ansbach/Katterbach/Illeshausen in Bau.

Erst wenn man die vollständige Übersicht hat, wird klar, dass die Bundesländer Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern von Militärstützpunkten und der dazu gehörigen Infrastruktur nur so übersät sind.9 (siehe Tabelle 1)

SoldatInnen Zivilangestellte sonstige
Armee 49.127 8.127 32.778
Luftwaffe 14.831 1.250 2.238
gesamt 63.958 9.377 35.016
Dazu kommen ca. 75.000 Familienmitglieder. Insgesamt gibt es 14 Wohngemeinden.
Tabelle 1:
Anzahl US-SoldatInnen und Zivilangestellte in Deutschland

Die Angaben in Tabelle 1 stammen aus dem aktuellen Base Structure Report des DoD von 2007; sie können inzwischen etwas geringer sein. Grob gerechnet könnte sich in Zukunft eine Verminderung von 20% ergeben. Doch wie schon oben beschrieben läuft dieser Prozess eher langsam und mit weniger Veränderungen als angekündigt. Das liegt auch daran, dass die USA in keinem anderen Land derartig gute Bedingungen geboten bekommen wie in Deutschland. So gut leben viele US-SoldatInnen nicht einmal in den USA selbst. Eine sofortige Rückführung der im Ausland stationierten SoldatInnen in die USA ist gar nicht möglich, weil dort gar nicht genügend Wohnungen zur Verfügung stehen, ganz abgesehen von der komfortablen Infrastruktur. Zu einem großen Teil wird das auch noch von den Ländern bezahlt, in denen sie stationiert sind. Dabei tun sich besonders Japan und Deutschland hervor (siehe unten).

Deutschland spielt eine Schlüsselrolle

Wenn man die US-Militärstützpunkte außerhalb der USA miteinander vergleicht, stellt man fest, dass in Deutschland heute mehr US-Militärstützpunkte und mehr US-SoldatInnen sind als in jedem anderen Land der Welt, ausgenommen in den Kriegseinsätzen im Irak und in Afghanistan. Die US- und die britischen Truppen haben Deutschland nach 1945 nie verlassen. Der Base Structure Report (BSR) des DoD listet alle eigenen und gepachteten Liegenschaften und ihren Wert auf. Im aktuellen BSR heißt es: „Der Bestand an Grundeigentum, der vom DoD verwaltet wird, (…) umfasst sieben US-Territorien und 39 fremde Länder, wovon die Mehrzahl aller Standorte in Deutschland (287), Japan (130) und Süd-Korea (106) sind.“ 10

Die Bundesregierung weiß um die herausragende Rolle, die Deutschland für die Kriegsführung spielt. Als im Jahre 2003 der Irak-Krieg begann und die US-Regierung wollte, dass Deutschland sich auch mit Truppen beteiligt, wurde das von der damaligen Regierung unter Kanzler Schröder abgelehnt. Ansonsten aber unterstützte die Bundesregierung die Kriegsführung intensiv. Um diese Unterstützung zu beweisen, veröffentlichte die Pressestelle der deutschen Botschaft in den USA, das German Information Center, ein »Fact Sheet: American Bases in Germany« unter der Internet-Adresse www.germany.info. (Das Dokument ist leider nicht mehr online, liegt aber dem Autor vor.) Darin gibt es eine Deutschland-Karte, in der die wichtigsten US-Militärstützpunkte eingezeichnet sind. Der englische Text lautet übersetzt:

„Mehr als 100.000 Militärangehörige und ihre Familien sind in Deutschland auf den US-Militärstützpunkten zu Hause in:

Ramstein / Landstuhl / Kaiserslautern Militär-Siedlung: 34.000 Militärangehörige und Familie,

Grafenwöhr / Hohenfels: 24.500 Militärangehörige und ihre Familien,

Heidelberg: 16.000 Militärangehörige und ihre Familien,

Spangdahlem: 12.000 Militärangehörige und ihre Familien,

Schweinfurt: 12.000 Militärangehörige und ihre Familien,

Stuttgart: 10.800 Militärangehörige und ihre Familien,

Wiesbaden: 5.500 Militärangehörige und ihre Familien,

Mannheim (Coleman-Kaserne): 5.000 Militärangehörige und ihre Familien,

Geilenkirchen: 3.000 Militärangehörige und ihre Familien.

Deutschland trägt ungefähr 1 Milliarde $ jährlich an Unterhaltskosten für die US-Militärstützpunkte in Deutschland bei. (CFR 2003) (19) Die Luftwaffenbasis Ramstein, der größte US-Militärstützpunkt in Deutschland, kostet ungefähr 1 Milliarde $ jährlich – soviel wie Deutschlands jährlicher Unterhaltsbeitrag für die US-Militärstützpunkte. (CFR 2003)11

Durchschnittlich kosten die anderen 43 Stützpunkte jeweils ca. 240 Millionen $ – ungefähr soviel wie ein einzelnes Kampfflugzeug F/A-22. (CFR 2003) Mit 34.000 amerikanischen EinwohnerInnen ist Kaiserslautern die größte amerikanische Gemeinde außerhalb der Vereinigten Staaten (Stadt Kaiserslautern, 2003).

Seit 1945 haben ungefähr 17 Millionen AmerikanerInnen ihren Dienst in Deutschland geleistet. Viele von ihnen kommen ab und zu als TouristInnen zurück. (Deutsches Außenministerium 2003).“

Mit diesem Dokument lässt sich schon erahnen, wie wichtig Deutschland für die Kriegsführung der USA /NATO ist. Inzwischen gibt es den oben beschriebenen Umgruppierungsprozess, sodass einige der genannten Zahlen nicht mehr stimmen (siehe oben). Das hat aber nichts daran geändert, dass Deutschland weiterhin der wichtigste Garant in Europa ist für die Kriegsführung im Nahen und Mittleren Osten. Mehr als 60% der US-Truppen in Europa sind in Deutschland stationiert. Ramstein ist der größte US-Luftwaffen-Stützpunkt außerhalb der USA. Grafenwöhr ist der größte US-Truppenübungsplatz außerhalb der USA. Der Krieg gegen den Irak und Afghanistan zeigt erneut die strategische Wichtigkeit der Stützpunkte in Deutschland für die Logistik. Der Nachschub wird von Ramstein in die Kriegsgebiete gebracht. Die Kampfflugzeuge starten von Spangdahlem. Diese beiden Stützpunkte wurden noch vergrößert.

Truppenübungsplatz Grafenwöhr

Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr liegt im Landkreis Neustadt a. d. Waldnaab (Oberpfalz) und zählt mit einer Fläche von 226 km² zu den größten weltweit. Er ist der größte Truppenübungsplatz Europas, auf dem scharf geschossen wird, bezüglich der Fläche wird er auf dem Kontinent nur noch von Bergen-Hohne übertroffen, der 284 km² umfasst. Der Schießplatz besteht seit 1907. In der Nazizeit wurde er riesig erweitert. Dazu wurden Dutzende Orte umgesiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm das US-amerikanische Militär den Truppenübungsplatz und nutzte ihn in seiner ursprünglichen Bestimmung weiter. Für rund 210 Millionen D-Mark wurden von 1979 bis 1984 computergesteuerte Schießbahnen errichtet. Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr galt damals als modernste Schießeinrichtung der NATO.

Der Truppenübungsplatz nennt sich seit 2006 Joint Multinational Command Training Center (JMCTC). Kürzlich wurden die neuen Quartiere des 2nd Stryker Cavalry Regiment bezogen. Nahe dem Truppenübungsplatz entsteht die so genannte »New Town«, die künftige Heimat für die SoldatInnen des 2nd SBCT.

In Grafenwöhr üben die Einheiten der United States Army Europe (USAREUR), der United States Air Forces in Europe (USAFE) und andere NATO-Streitkräfte. Am Truppenübungsplatz Grafenwöhr unterhält die US Army einen eigenen Militärflughafen, auf dem hauptsächlich Frachtmaschinen landen. Es gibt auch einen direkten Gleisanschluss, hauptsächlich zur Verladung der Panzer.

Unmittelbar vor dem US-Überfall auf den Irak im Jahr 2003 diente der bayerische Truppenübungsplatz der US-Armee zur »Generalprobe«. Unter der Leitung von General William Wallace, so hieß es in einer Meldung der US-Soldatenzeitung »Stars and Stripes«, kamen dort ca. 1.000 Offiziere der später an der Irak-Invasion beteiligten Einheiten zusammen, um in einer groß angelegten Computersimulation den Angriff zu üben. Auch hohe Offiziere von Marine und Luftwaffe sowie der Kommandant des US Central Command, General Tommy Franks, nahmen teil.

US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein

ramstein.png

Abbildung 1: C-17 Globemaster III auf der Ramstein Air Base

Ramstein „war entscheidend am Erfolg der Operation Enduring Freedom und dem Irak-Einsatz“ beteiligt lobte in einem Interview mit der Soldatenzeitung »Stars and Stripes« der Air Force General Charles F. Wald, Stellvertreter von Oberbefehlshaber Jones (EUCOM) schon im August 2003. „Ramstein war wesentlich für den Erfolg der Operationen ‚Enduring Freedom‘ und ‚Iraqi Freedom‘. Viele Versorgungsflugzeuge landeten in Ramstein, das über eine exzellente Infrastruktur verfügt, und wir haben großartige Beziehungen zu Deutschland. Es macht viel Sinn, Plätze wie Ramstein, Spangdahlem und Moron [AB] (Spanien) offen zu halten, denn sie verfügen über große Landebahnen, mit denen man eine große Zahl von Flugzeugen abfertigen kann… Was wir bei Ramstein zum Beispiel schätzen ist, dass ein strategisch wichtiger Flug möglich ist, ohne dass wir den Transporter auftanken müssen. Man kann in den Staaten starten und ohne aufzutanken in Ramstein landen.“ (siehe Abbildung 1)

Die Militärgeschichte von Ramstein12

Über Ramstein läuft der Nachschub für die US-Streitkräfte in Europa, Afrika und dem Mittleren Osten einschließlich für den Irak und Afghanistan. Hier ist also auch ein riesiges Munitionsdepot. Ramstein ist als Befehlszentrale Verbindungsstelle zwischen Boden- und Luftstreitkräften in Afghanistan und im Irak. Alle Verwundeten aus diesen Gebieten landen zunächst in Ramstein bevor sie weiter transportiert werden. Ramstein diente auch der CIA als Zwischenstation für entführte Terror-Verdächtige.

1951-53 US-Ausbau der Air Base Ramstein auf einem Teilstück der Autobahn A 6
ab 1951 60.000 Militärpersonen und ihre Angehörigen leben in der Militärgemeinde Kaiserslautern.
1953 Stationierung des 86.Kampfflugzeug-Geschwaders mit F 86-Maschinen
14.11.1956 Ein US-Düsenjäger stürzt über der Innenstadt von Kaiserslautern ab: 3 Tote.
1957 AB Ramstein ist der größte NATO-Flugplatz
1974 Erweiterung der AB Ramstein, da die US-Basen in Frankreich geschlossen werden
Sommer 1981 RAF-Bombenanschlag auf das US-Hauptquartier Ramstein
14.01.1981 Eine US-Transportmaschine stürzt über dem Munitionsdepot Weilerbach ab.
1982 1.100 PatientInnen im Krankenhaus Kaiserslautern protestieren gegen den Fluglärm mit Lärmspitzen von 114 Dezibel.
1983 Sitzblockaden vor der AB Ramstein
Februar 1986 Landrat Tartter: Keine Gemeinde ist mehr bereit, Geländeforderungen der Amerikaner zu erfüllen.
28.8.1988 Flugtag auf der AB Ramstein mit 300.000 BesucherInnen. Katastrophe mit 70 Toten und 400 Verletzten durch einen Fluzeugabsturz
bis 1991 16,5% aller Beschäftigten des Landkreises arbeiten bei den Amerikanern.
1994 Abzug der Kampfflugzeuge von der AB Ramstein, bis 1994 Streichung von 35.000 (bis 1999: 82.000) militärischen und zivilen Stellen in Rhld-Pf, in der Region KL 7.000
1994 Stationierung des 86. Lufttransport Geschwaders
1997-2000 64 Flugbewegungen je Tag
Ende 2004 Baubeginn des Military Community Center auf dem Flugplatzgelände für 158 Mio Euro, u.a. ein Hotel mit 350 Betten und ein großes Einkaufs- und Freizeitzentrum, Fertigstellung geplant bis Ende 2006, zwei Jahre im Verzug (Rheinpfalz 20.3.07)
Februar 2005 US-Naturschützer: „In AB Ramstein lagern 130 Atombomben“.
05.84.2007 Feier zum Abschluss der Verlagerung der Air Base Frankfurt nach Ramstein/Spangdahlem
2011 Angenommene Flugbewegungen in Folge der Verlagerung je Tag: 108
Tabelle 2: Die Militärgeschichte der Air Base Ramstein

Derzeit umfasst die US-Militärgemeinde Kaiserslautern, zu der auch Ramstein und Landstuhl gehören, 14.450 Militärpersonen und 7.150 US-Zivilbeschäftigte. Mit den Familienangehörigen zusammen sind es 44.500 Personen. Sie ist damit die größte Militärgemeinde außerhalb der USA. 5.970 nichtamerikanische Personen sind dort bei den US-Streitkräften beschäftigt. (siehe Tabelle 2)

Ramstein. Das Kriegsführungshauptquartier

Als das Befehlszentrum auf der US-Air Base Ramstein, dessen Chef jetzt Lt. Gen. Breedlove ist, im August 2005 in Ramstein eingerichtet wurde, hieß es noch »Warfighting Headquarters« (Kriegsführungs-Hauptquartier). Einzelheiten sind in der »Stars and Stripes« vom 02.11.05 nachzulesen. Die 3rd Air Force in Mildenhall wurde aufgelöst und mit der 16th Air Force aus Aviano zum 16th Air Force Warfighting Headquarters verschmolzen, das zu diesem Zweck in Ramstein gegründet wurde. Von hier aus werden nun die Organisationen und Einheiten kommandiert, die so genannte humanitäre Einsätze oder Kampfoperationen durchführen. Die Militärzeitung schreibt: „Das Hauptquartier umfasst einen Stamm von etwa 650 Leuten und wird für im Einsatz befindliche Truppen von Deutschland aus rund um die Uhr Kommando- und Kontrollunterstützung bereitstellen. Hundert Personen (des Kommandos) kommen aus England und hundert aus Aviano. In der Vergangenheit musste die Air Force Stabsmitglieder aus verschiedenen Einheiten zusammenkratzen, um ein Kommando- und Kontrollhauptquartier für ungeplante Missionen zu schaffen. Es konnte eine Woche dauern bis ein Team für heikle Planungen zusammengestellt war. Mit dem neuen Kommando stehe der Planungsstab schon bereit und könne sofort loslegen, sagte Brigadegeneral Michael Snodgrass, Direktor für Planungen und Programme im Hauptquartier der USAFE in Ramstein. ‚Wir wollen den Prozess verkürzen, dass die nationale Kommandoautorität – der Präsident und der Verteidigungsminister – sofort entscheiden können, was zu tun ist, was wir tun müssen‘, sagte Snodgrass, und statt zu sagen, es wird sechs oder sieben Tage dauern, können sie sagen: Leute, ich möchte euch heute Nacht schon da haben. Ich möchte, dass in sieben Stunden was passiert.“

Die US-Air Force hat also jetzt auf ihrer Air Base in Ramstein einen Befehlsstand für schnellste Luftschläge in Europa einschließlich Russland, in fast ganz Afrika und im westlichen Asien.

Als »Warfighting Headquarters« dient dabei die 3rd Air Force. Diese 2005 deaktivierte Einheit werde im Rahmen der Reorganisation der nummerierten Luftflotten in Europa eine neue Rolle übernehmen, kündigte Brigadegeneral Michael Snodgrass, der Direktor für Planung, Programme und Beschaffung im Hauptquartier der US-Air Force Europa (USAFE) in Deutschland, im Jahr 2006 an. Die 3rd Air Force ist zuständig für die Planung und Durchführung aller humanitären Einsätze und Kampfoperationen sämtlicher fliegenden Verbände der USAFE und führt im Auftrag des EUCOM in Stuttgart, des Oberkommandos aller US-Streitkräfte in Europa, auch kurzfristig angeordnete Aktionen in dessen gesamtem Befehlsbereich durch. Sie hat selbst mehr als 250 Kampf-, Tank- und Transportflugzeuge zur Verfügung und dirigiert jährlich Tausende Flugzeuge anderer Kommandos, die auf Flugplätzen der USAFE zwischenlanden. Generalleutnant Robert Bishop Jr., der jetzt als Vizekommandeur der USAFE dient, hat das Kommando.13

Ramstein: Das größte US-Luftdrehkreuz Europas

Die US-Air Base Ramstein wurde 1988 nach dem schweren Flugunglück nicht geschlossen, sondern mit überwiegend deutschem Geld zum größten Luftdrehkreuz der US-Air Force in Europa ausgebaut. Allein aus den Munitionsbunkern auf der US-Air Base Ramstein werden monatlich über 900 Tonnen Bomben, Raketen und Geschosse – u.a. aus abgereichertem Uran – nach Afghanistan oder in den Irak geliefert.14

Im März 2008 wurde ein neuer Rekord aufgestellt. Besatzungen des U.S. Air Mobility Command (des US-Luftfracht-Kommandos) haben in die 27 Länder im Mittleren Osten, die zum Verantwortungsbereich des CENTCOM gehören, 120.000 SoldatInnen ein- und ausgeflogen. Damit haben sie ihren alten Monatsrekord beim Personentransport vom September 2007 um 3 Prozent übertroffen.

Ebenfalls im März wurden mehr als 41.350.000 Tonnen Ladung in den Nahen und Mittleren Osten und zum Horn von Afrika befördert. Dabei wurde der bisherige Ladungs-Monatsrekord vom Dezember 2007 um 7 Prozent gesteigert. Fast alle militärischen Lufttransporte für ihre Kriege im Nahen und Mittleren Osten und ihr verstärktes Engagement in Afrika wickeln die USA über die Bundesrepublik ab. In Afghanistan, im Irak und anderswo sterben täglich Menschen durch Waffen, die aus hiesigen Depots geliefert wurden. US-SoldatInnen, die hier stationiert sind und ihre Kampfeinsätze auf Truppenübungsplätzen in Bayern oder Rheinland-Pfalz geübt haben, ziehen nun schon zum zweiten oder dritten Mal von Deutschland aus in die Kriege im Nahen und Mittleren Osten. Mehr als 12.000 Verwundete aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan wurden auf der Air Base in Empfang genommen. Die leicht Verletzten wurden in die USA weiter transportiert, die Mittel- und Schwerverletzen per Krankenwagen bzw. Hubschrauber ins Militärkrankenhaus nach Landstuhl gebracht. Ramstein ist die „größte, verkehrsreichste und beste Base der US-Air Force“ 15.

Befehle über Satellit direkt aus Washington

Am US-Krankenhaus in Landstuhl stehen mehrere überdimensionierte Satellitenschirme. Sie gehören zur ca. 60 Personen umfassenden Company C des 53rd Signal Battaillon (Nachrichten-Bataillons). Über diese wenig bekannte, abseits liegende Satelliten-Kommunikations-Station erhalten die Kommandozentralen der US-Air Force und der US-Army in der Westpfalz ihre Befehle aus Washington und geben sie dann mit ihren Anordnungen an US-Basen in Europa, an Feldflugplätze im Mittleren Osten oder an die im Irak und in Afghanistan agierenden US-Truppen weiter. Auch alle von dort ausgehenden Informationen und Anforderungen werden via Landstuhl den jeweiligen AdressatInnen zugestellt. Diese unentbehrliche Schaltzentrale rundet das Bild von der überragenden Bedeutung der US-Militärregion Kaiserslautern/Ramstein ab.16

Spangdahlem

Während in Ramstein die Transportflugzeuge starten, ist Spangdahlem für die Kampfflugzeuge zuständig. Auf der Basis ist das 52nd Fighter Wing (52. Kampfgeschwader) stationiert. Es hat die Aufgabe in Konfliktfällen u.a. die gegnerische Luftverteidigung auszuschalten. Dafür sind in Spangdahlem Kampfflugzeuge vom Typ General Dynamics/Lockheed Martin F-16 Fighting Falcon neuester Generation (F-16CJ/D Block 52) stationiert. Weiterhin sind dort 18 Fairchild-Republic A/OA-10A Thunderbolt II (auch Warthog genannt) beheimatet, mit dem Auftrag Bodentruppen zu unterstützen. Das sind die berüchtigten Flugzeuge, die auch Munition mit abgereichertem Uran (DU) verschießen. Spangdahlem ist Teil der 3rd Air Force (3. Luftwaffe) mit Sitz in RAF Mildenhall, Großbritannien und somit Teil der United States Air Forces in Europe (USAFE). Auf der Basis arbeiten ungefähr 5.000 AmerikanerInnen (die mit 7000 Familienangehörigen dort wohnen) sowie 800 deutsche Angestellte.

Landstuhl

Das Landstuhl Regional Medical Center (LRMC) ist mit ca. 2.200 MitarbeiterInnen das größte Lazarett der US-Armee außerhalb der Vereinigten Staaten. Es verfügt über einen Hubschrauber-Landeplatz für den direkten Transport der Schwerverletzten aus Ramstein. Alle schwer Verwundeten und Leichen des Irak-Krieges landen hier.

Abhörstationen

Die Abhörstation Bad Aibling (BAS) wurde 1968 als erste Satelliten-Spionage-Station errichtet und sie wurde von der US National Security Agency (NSA) seit 1971 genutzt. 1994 wurde das BAS Management von der NSA in das U.S. Army Intelligence and Security Command (INSCOM) überführt. Sie wurde so eine Basis des U.S. Global Network of Signals Intelligence (SIGINT) zum elektronischen Lauschen und zur Überwachung. Die Echelon-Kommission des Europäischen Parlaments äußerte 2001 nach einer Überprüfung die Vermutung, dass die USA seit dem Ende des Kalten Krieges Bad Aibling und die ähnliche Anlage in Menwith Hill/England zur Wirtschaftsspionage nutzen, durch die europäischen Firmen bei Verträgen Verluste in Milliardenhöhe entstanden sind. Bereits acht Jahre zuvor hatte man durch ein Infrarot-Foto, das von einem Ballon aus aufgenommen worden war, herausgefunden, dass die Satellitenschüsseln innerhalb der Kugel-Kuppel der Basis nicht auf Ost-Europa gerichtet waren, wie die USA behauptet hatte, sondern stattdessen in den Westen in die Richtung ihrer Verbündeten. Als Konsequenz sollte Bad Aibling im September 2002 geschlossen werden und das Personal nach Menwith Hill wechseln. Doch wegen des 11.9. erhielt BAS eine Gnadenfrist und zog erst 2004 nach Griesheim.

Die Befehlsstruktur

Welche überragende Rolle Deutschland für die Kriegsmaschinerie der USA/NATO spielt ist auch aus der Grafik der Befehlsstruktur zu erkennen. Außer der Marine, die ihre Kommandozentrale in Italien hat, sind alle Kommandozentralen in Deutschland. (siehe Grafik 2)

useucom.png

Grafik 2: Command Relationships

Folgende US-Hauptquartiere befinden sich in Deutschland:

Das HQ für die US-Gesamtstreitkräfte für den Aufgabenbereich Europa (US-EUCOM) in Stuttgart-Vaihingen (siehe unten), und unter seinem Kommando

das HQ für die US-Heeresstreitkräfte in Europa (US Army Europe, USAREUR) in Heidelberg

das HQ für das US-Marine Corps Forces Europe (USMARFOREUR) in Böblingen,

das HQ für die US-Spezialkräfte (Special Operations Command Europe) US-SOCEUR in Stuttgart-Vaihingen

das HQ für die US-Luftwaffe Europa in Ramstein.

Auch das HQ für die US-Gesamtstreitkräfte für den Aufgabenbereich Afrika (US-AFRICOM) liegt in Deutschland. Früher war auch das EUCOM für große Teile Afrikas zuständig. Dann wurde das AFRICOM gegründet – es sollte eigentlich in Afrika angesiedelt werden. Da sich jedoch kein afrikanisches Land dazu bereit fand, befindet sich das AFRICOM jetzt in Stuttgart-Möhringen.

Das EUCOM befehligt 12.000 SoldatInnen in 499 Stützpunkten. Dazu gehören 64.000 SoldatInnen in Deutschland, die 6. US-Flotte im Mittelmeer mit 14.000 Seeleuten, außerdem 12.000 SoldatInnen in Großbritannien, 10.000 in Italien, 2.000 in der Türkei, 2.000 in Spanien und kleinere Kontingente in Norwegen, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Portugal und Griechenland.

Die Grafik 3 zeigt das EUCOM noch vor der Gründung des Kommandos für Afrika (AFRICOM). Militäraktionen in afrikanischen Ländern werden jetzt vom AFRICOM koordiniert. Für den Nahen Osten ist auch weiterhin das EUCOM zuständig.

eucom-respo.png

Grafik 3: EUCOM Area of Responsibility

Deutschland als Stationierungsort für Atombomben

Deutschland ist keine atomwaffenfreie Zone: Im rheinland-pfälzischen Fliegerhorst Büchel in der Eifel (in der Nähe von Cochem/Mosel) halten die USA auch zwei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges in unterirdischen Bunkern noch rund 20 atomare Sprengköpfe der Typen B-61-3 und B 61-4 einsatzbereit. Die Bomben haben eine variable Sprengkraft von 45 bis 170 Kilotonnen und damit die bis zu 13-fache Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe Die US-Luftwaffenbasis Ramstein und der Fliegerhorst Nörvenich sind dagegen inzwischen atomwaffenfrei.

Eingesetzt werden die Atombomben, wenn der amerikanische Präsident den Einsatz befiehlt und wenn auf einem gesonderten Befehlsweg der Freigabecode für die Sicherheitssysteme eingegangen ist. Die USA nehmen für sich das Recht in Anspruch, ihre auf dem alten Kontinent gelagerten Atomwaffen zur Unterstützung des für den Nahen und Mittleren Osten zuständigen regionalen Oberkommandos »Genicom« – außerhalb des Nato-Gebietes – einzusetzen. Fachleute schätzen, dass die USA in Europa über 480 Atombomben dieses Typs verfügen (siehe Grafik 4). Auf dem Fliegerhorst Büchel wacht eine kleine US-Spezialeinheit, etwa 50 Mann stark, über die atomaren Sprengköpfe. Diese würde auf Befehl aus Washington die Waffen scharfmachen und sie an die von deutschen Piloten geflogenen Tornado-Jets klinken, die die Bomben in die vorgegebenen Ziele fliegen müssten.

atombomben.png

Grafik 4: US-Atomwaffen

Dass für deutsche Jagdbomber des 33. Luftwaffengeschwaders nach wie vor Atombomben bereit gehalten werden, macht keinen Sinn, denn gegen wen könnten sie eingesetzt werden? Der Einsatzradius eines Tornados beträgt 1.853 km. In diesem Gebiet gibt es nur befreundete oder NATO-Länder. Die Bundesregierung hat immer wieder, zuletzt durch Regierungssprecher Kossendy am 25.6.2008, am Verbleib der Atomwaffen in Deutschland festgehalten. Wer den Abzug verlange, stelle einen „Kernbestand der Atlantischen Allianz in Frage“, raube der Bundesrepublik das „Recht auf Mitsprache“ und wolle „letztendlich die Beziehungen zwischen Nordamerika und Europa dauerhaft schwächen“.17

Doch die Ausrede, wer in der nuklearen Planungsgruppe mitreden wolle, müsse „auch werfen können“, sticht nicht. So hat das Verteidigungsministerium in einem Schreiben an den SPD-Abgeordneten Hans-Peter Bartels eingeräumt, dass „an nuklearen Planungsprozessen“ des Bündnisses „alle Nato-Mitgliedsstaaten“ teilnehmen – also auch jene, auf deren Boden keine US-Atombomben lagern. Kanada, Griechenland und die Türkei gaben die »nukleare Teilhabe« schon vor Jahren auf und können trotzdem gleichberechtigt mitreden. (siehe Grafik 4)

Das Verfahren für Atombomben- abwürfe soll in der Kyritz-Ruppiner Heide geübt werden.

Im Betriebskonzept des Bundesministerium der Verteidigung für den Luft-Boden-Schießplatz auf dem Truppenübungsplatz Wittstock vom 20. Januar 2003 heißt es: „Zusätzlich wird das sog. Loft-Verfahren … (blau gestrichelte Linie in der Karte zur fliegerischen Nutzung) geübt werden, bei dessen Durchführung aufgrund einer kurz vor dem Ziel wechselnden Anfluggeometrie Teile der Radarplatzrunde genutzt werden müssen.“

Die Jagdbomber würden von Süden her bei Neuglienicke oder Rossow in das Bombodromgelände einfliegen, auf eine niedrige Flughöhe herunter gehen und dabei auf 1.000 km/h beschleunigen. So würden sie sich östlich von Glashütte ihrem Ziel nähern. Kurz vor Erreichen des Zieles zögen sie steil nach oben und klinkten ihre Atombomben-Attrappen aus. Mit diesem »Schulterwurf« bekommt die Bombe eine längere Flugbahn, sodass die Piloten mehr Zeit zum Entkommen haben. Über Dossow fliegend würden sie sich so schnell wie möglich von dem Ort entfernen, an dem im realen Fall jetzt ein Atompilz aufsteigen würde.

Benutzung ziviler Flughäfen

Wegen der ständig steigenden Zahl der Transporte zu den Kriegsschauplätzen und der Rotation benutzen die USA zunehmend zivile Flughäfen in Deutschland zusätzlich. Das betrifft Hahn (bei Frankfurt), Nürnberg (für den Stützpunkt in Grafenwöhr) und Leipzig (nachdem die Zahl der Transporte über Shannon (Irland) wegen des Widerstandes vor Ort drastisch gesunken ist.) In Hahn benutzt das US-Militär Flugzeuge, die zivil zu sein scheinen, sie haben Namen wie »Omni Air Express«oder »Evergreen Airlines«. Meist kommen sie von den US-Basen in Dover (Delaware) und Hartfield Jackson in Atlanta. Alleine in Hahn stieg die Zahl der in den Irak beförderten SoldatInnen von 74.295 im Jahre 2005 auf 179.274 in 2006.

Im Frühjahr 2008 nahmen die Künstler Jan Wenzel und Jan Caspers an einem Kunstprojekt des Leipziger Flughafens teil – und sahen Merkwürdiges: SoldatInnen, die wie Urlaubs-Passagiere in Flieger stiegen. Auf ihr Nachfragen hin wurde den Künstlern mitgeteilt, dass es sich um Truppentransporte handelte. Die beiden entdeckten Maschinen der »World Airways« – abgefertigt abseits der normalen Flugsteige. Sie sahen US-amerikanische SoldatInnen aussteigen und hinter der blickdichten Fassade des alten Terminalgebäudes verschwinden. An die 300.000 waren es allein 2007, so recherchierten sie. Jeder vierte Fluggast in Leipzig ist US-Soldat. Das Pentagon hat seine Truppentransporte weitgehend privatisiert. Seit 2006 haben hunderttausende von US-SoldatInnen in Leipzig Zwischenstation gemacht, meistens in der Nacht, denn hier gibt es kein Nachtflugverbot. Die Künstler entwarfen ein Wandbild über diese Kriegstransporte. Es wurde vom Flughafengeschäftsführer Eric Malitzke verboten. Nun hängt das Wandbild gegenüber vom Rathaus. Der Bürgermeister sitzt im Aufsichtsrat des Flughafens. Dass der zu 100 Prozent in staatlichem Besitz ist und die Flüge von SoldatInnen zulässt, halten die Künstler für einen Skandal. 3sat machte darüber einen Fernsehreport.18

Der Zweck der US-Militärstützpunkte

Nach der Analyse des US-amerikanischen Friedensforschers Joseph Gerson19 dienen US-Militärstützpunkte sieben Zielen:

Zur Sicherung des status quo: Man kann davon ausgehen, dass zum Beispiel die US-Militärstützpunkte in Süd-Korea in erster Linie zur Abschreckung dienen, während die US-Militärstützpunkte im Nahen Osten eingerichtet wurden, um weiterhin den privilegierten Zugang und die Kontrolle zum Öl der Region sicher zu stellen.

Zur Einkreisung der Feinde: das war der Fall mit der Sowjet-Union und China während des Kalten Krieges und das gilt bis heute. Diese Rolle haben die US-Militärstützpunkte in Korea, Japan, den Philippinen, Australien, Pakistan, Diego Garcia und in früheren Sowjetrepubliken in Zentral-Asien. (Dazu diente auch die NATO-Osterweiterung, dazu drängen die USA auf die NATO-Aufnahme der Ukraine und Georgiens, dem dienen die geplanten Raketenabwehr-Anlagen in Polen und Tschechien, H.P.R.)

Zur Unterstützung und Verstärkung der Flugzeugträger, der Zerstörer, der atomar bewaffneten U-Boote und anderer Kriegsschiffe der US-Flotte. Das betrifft die Stützpunkte in Okinawa, Yokosuka (in der Nähe Tokios) und die so genannten Truppenbesuchs- und Zugangs-Vereinbarungen in den Philippinen, Singapur, Thailand und vielen anderen Ländern.

Zum Training der US-Streitkräfte, was lange der Fall war für Bombenabwürfe in Vieques und für Dschungelkämpfe und anderes Training, das immer noch in Okinawa weitergeht.

Als Sprungbrett für US-Interventionen in andere Länder, so in den Fällen Okinawa, den Philippinen, jetzt bei Korea mit geänderten Missionen, Spanien, Italien, Honduras, Deutschland und den neuen Stützpunkten in Osteuropa, Kuwait und wahrscheinlich Irak.

Zur Ermöglichung von K3G: Kommando, Kontrolle, Kommunikation und Geheimdienst, einschließlich wesentlicher Aufgaben im Atomkrieg und der Nutzung des Weltraums zur Spionage und Kriegsführung, wie wir es in Afghanistan und Irak gesehen haben. US-Militärstützpunkte in Okinawa, Katar, Australien und sogar in China dienen diesen Funktionen.

Zur Kontrolle der Regierungen der Aufnahmeländer. Die Liste beginnt mit Japan, Korea, Deutschland, Saudi-Arabien und dem heutigen Irak.

Der US-amerikanische Friedensforscher Chalmers Johnson sieht auch wirtschaftliche Aspekte. Durch ihre militärische Macht diene die USA nicht nur den Konzernen der Rüstungsproduktion, sondern auch großen Teilen der so genannten zivilen US-Wirtschaft, wie der Kellog, Brown & Root Company, Tochter der Haliburton Corporation, die weit verstreute Vorposten baut und wartet, sowie zahlreichen anderen Konzernen die im Rahmen der »Privatisierung der Kriegseinsätze« die Versorgung der Armee übernehmen.

In den letzten Jahren wurde ein weiterer Zweck der US-Militärstützpunkte bekannt. Die CIA benutzt das weltweite Netzwerk der US-Militärstützpunkte, um Menschen, die die USA des Terrors verdächtigen, in die USA zu entführen oder zu Verhör und Folter in andere Länder zu bringen. Bekannt wurde die Entführung von Osama Mustafa Hassan Nasr (Abu Omar). Er wurde im Februar 2003 von 22 CIA-Agenten in den Straßen von Mailand gekidnappt und über die Zwischenstation Ramstein nach Kairo geflogen, wo er gefoltert wurde. Ein italienischer Richter erließ gegen die 22 Haftbefehle, die aber nicht vollstreckt werden können, da die USA die Beteiligten schützt.

Die Medien in Deutschland berichteten über so genannte schwarze Standorte in Polen und Rumänien. Mehrfach wurden über Aviano in Italien sowie Ramstein und Frankfurt/Main in Deutschland mit CIA-Flugzeugen Terrorismus-Verdächtige in andere Länder transportiert. Alleine von 2002 bis 2004 fanden über die Frankfurter Rhein-Main-Airbase 85 Flüge der CIA statt. So ist Deutschland nicht nur militärisch das zentrale Luftdrehkreuz in Nordeuropa, sondern auch für die CIA, die ohne Kontrolle agieren kann. Es ist zu vermuten, dass in allen Ländern mit US-Militärstützpunkten geheime Gefängnisse bestehen. So können die USA jederzeit Menschen ihrer Menschenrechte und sogar ihres Lebens berauben.

Liste der von den USA militärisch genutzten Orte

Heute werden noch 65 Orte in Deutschland von den USA für militärische Zwecke beansprucht, davon stehen jedoch 20 leer. Der Base Structure Report (BSR) des US-Verteidigungsministeriums (DoD) listet alle eigenen und gepachteten Gebäude und ihren Wert auf.

Die Armee benutzt danach 6.548 eigene Gebäude mit 2.462.732,59 m², 2.317 gepachtete Gebäude mit 895.744,26 m², 7.656 sonstige Gebäude mit 9.643.827,66 m². Der geschätzte Gegenwert dieser Liegenschaften, falls man sie woanders erneut errichten müsste, beträgt 34.621.300.000 $.

Die Luftwaffe benutzt 870 eigene Gebäude mit 652.524,47 m², 183 gepachtete Gebäude mit 39.786,75 m², 1.053 sonstige Gebäude mit 1.998.163,88 m². Der geschätzte Gegenwert dieser Liegenschaften, falls man sie woanders erneut errichten müsste, beträgt 8.064.600.000 $.

Ansonsten werden benutzt 77 eigene Gebäude mit 16.271,78 m², 48 gepachtete Gebäude mit 21.659,51 m², 95 sonstige Gebäude mit 35.362,80 m². Der geschätzte Gegenwert dieser Gebäude, falls man sie woanders erneut errichten müsste, beträgt 205.800.000 $.

Die leer stehenden Objekte sind noch mit Millionenwerten verzeichnet. Hier liegt eine lohnenswerte Aufgabe für unsere KommunalpolitikerInnen und ExpertInnen für Konversion.

Der Gesamtwert aller Gebäude beträgt also 42.891.700.000 $, das sind 30.105.776.655 Euro (nach dem Kurs von 1 Euro = 1,4247 $). Zum Vergleich: Diese gut 30 Milliarden Euro entsprechen mehr als einem Zehntel des Bundeshaushaltes 2008. Dazu kommen noch die benutzten Flächen. Das sind insgesamt 646,82 km2.

Der Base Structure Report verzeichnet alle 287 Liegenschaften und ihren Zweck. Daraus ergibt sich folgende Liste der benutzten Orte. Die einzelnen Angaben sind direkt nachzulesen unter www.defenselink.mil/pubs unter Reports.

1. Amberg (steht leer), 2. Ansbach, 3. Aschaffenburg (steht leer), 4. Babenhausen, 5. Bad Kissingen (steht leer), 6. Bad Nauheim, 7. Bamberg, 8. Baumholder, 9. Bensheim, 10. Binsfeld (steht leer), 11. Bitburg (steht leer), 12. Bremerhaven, 13. Büchel, 14. Büdingen, 15. Butzbach, 16. Darmstadt, 17. Dautphe Pfadfinder-Lager (steht leer), 18. Dexheim, 19. Einsiedlerhof, 20. Frankfurt, 21. Friedberg, 22. Garmisch, 23. Geilenkirchen, 24. Gelnhausen (steht leer), 25. Germersheim, 26. Geibelstadt, 27. Giessen, 28. Grafenwöhr, 29. Groß Auheim, 30. Grünstadt, 31. Hanau, 32. Heidelberg, 33. Hochspeyer (steht leer), 34. Hof, 35. Hohenfels, 36. Hommertshausen Girl Scout Camp (steht leer), 37. Idar-Oberstein (steht leer), 38. Illesheim, 39. Kaiserslautern, 40. Kitzingen, 41. Lampertheim (steht leer), 42. Landstuhl, 43. Langen (steht leer), 44. Leimen (steht leer), 45. Mainz, 46. Mannheim, 47. Miesau, 48. Mühlhausen, 49. Neubrücke, 50. Oberweis (steht leer), 51. Oppenheim (steht leer), 52. Pirmasens, 53. Prüm (steht leer), 54. Ramstein, 55. Sambach (steht leer), 56. Schweinfurt, Siegenburg siehe Mühlhausen, 57. Spangdahlem, 58. Speicher (steht leer), 59. Spesbach (steht leer), 60. Stuttgart, 61. Vilseck, 62. Wartenberg, 63. Weisskirchen (steht leer), 64. Wiesbaden, 65. Würzburg

Britische Streitkräfte in Deutschland

2006 waren etwa 23.000 britische SoldatInnen, 2.000 Zivilangestellte und 30.000 Familienmitglieder in Deutschland. Die Anzahl der SoldatInnen soll bis 2014 auf etwa 16.000 reduziert werden. Gleichzeitig ist eine Umstrukturierung der verbleibenden Einheiten geplant, die die Schließung von zwei der fünf Garnisonen zur Folge haben soll. Erhalten bleiben sollen vorerst die Garnisonen Hohne, Gütersloh und Paderborn, während Osnabrück und Rhine geschlossen werden. Bis 2035 sollen alle Garnisonen geschlossen und sämtliche britischen Truppen aus Deutschland abgezogen werden.

Die Britischen Streitkräfte (BFG) betreiben in Deutschland unter anderem zwei große Truppenübungsplätze und mehrere Standortübungsplätze, 32 Schulen, 50 NAAFI-Einkaufszentren und neun Kinos. Für die Militärangehörigen und deren Familienmitglieder erscheint seit 1970 die Wochenzeitung »Sixth Sense« mit Sitz in Bielefeld. Daneben sendet BFBS zwei Radioprogramme und einen Fernsehkanal für die SoldatInnen. Das Programm BFBS Radio 1 Germany wird über leistungsstarke Sender ausgestrahlt, so dass es in weiten Teilen der Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen auf UKW zu empfangen ist.

Das Hauptquartier der britischen Landstreitkräfte in Deutschland ist in Mönchengladbach-Rheindahlen.

Die Britischen Streitkräfte in Deutschland sind in zwei Hauptkommandobereiche aufgeteilt:

Das britische Unterstützungskommando United Kingdom Support Command (Germany), UKSC(G), das sich in Mönchengladbach befindet, ist zuständig für Verwaltungsaufgaben und die logistische Unterstützung der britischen Einheiten in Deutschland und auf dem europäischen Festland. In Mönchengladbach befindet sich auch das Hauptquartier des Schnellen Eingreifkorps der NATO, Allied Command Europe Rapid Reaction Corps (HQ ARRC).

Die in Herford stationierte 1st (UK) Armoured Division (1. britische Panzerdivision) befehligt die britischen Einsatztruppen in Deutschland. In Herford hat auch die Deutschlandzentrale des britischen SoldatInnen-Senders BFBS ihren Sitz.

Die BFG sind in fünf Garnisonen aufgeteilt:

Gütersloh mit den Standorten Bielefeld, Gütersloh, Herford und Lübbecke

Hohne mit den Standorten Bergen-Hohne, Celle und Bad Fallingbostel

Osnabrück mit den Standorten Münster und Osnabrück

Paderborn mit den Standorten Hameln, Paderborn und Sennelager

Rhine mit den Standorten Dülmen, Elmpt, Haltern, Mönchengladbach, Rheindahlen und Wulfen.

Insgesamt benutzen die BFG 18 Orte in Deutschland. Der Truppenübungsplatz Bergen (auch: Bergen-Hohne) im Südteil der Lüneburger Heide ist mit 284 km² der größte Truppenübungsplatz in Deutschland. Er wurde ab 1935 von der Wehrmacht eingerichtet und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von den britischen Besatzungstruppen übernommen und kontinuierlich erweitert. Seit den 1960er Jahren wird das Areal zudem von der Bundeswehr und der NATO genutzt.

Der Truppenübungsplatz Senne bei Paderborn ist ein 116 km² großer Truppenübungsplatz unter britischer Verwaltung.

NATO-Militärstützpunkte

Das Allied Command Europe Rapid Reaction Corps (ARRC) ist ein multinationales NATO-Korps unter Führung Großbritanniens, das heute im Wesentlichen nur als Hauptquartier aufgestellt ist. Der Stab ist seit Mai 1994 im Joint Headquarter (JHQ) Rheindahlen bei Mönchengladbach stationiert. Neben Großbritannien beteiligen sich 16 Nationen am Korps, darunter auch Deutschland. Das HQ ARRC ist befähigt unter NATO- oder EU Führung ein Hauptquartier zur Führung von Missionen der Krisenbewältigung zu stellen. Das AARC ist dazu dem Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) Casteau bei Mons in Belgien unterstellt und als Rapidly Deployable Corps Headquarter bzw. High Readiness Force (Land) HQ klassifiziert. Es ist damit auch befähigt Kräfte für die schnelle Einsatztruppe der NATO zu stellen. Das Hauptquartier ist innerhalb von 5-30 Tagen weltweit verlegbar und operationsfähig.

In Geilenkirchen sind die NATO-AWACS-Flugzeuge stationiert, auch deutsche. Das Airborne Warning and Control System (AWACS) ist ein Flugzeug-gestütztes Radarsystem der USA und anderer NATO-Staaten, das zur Luftraumaufklärung und als Einsatzleitzentrale eingesetzt wird. Das AWACS ist eine zentrale Komponente in jedem Luftkrieg. Ohne ein solches System wären die Kriegsflugzeuge auf bodengestützte Systeme angewiesen. Baei einem Manöver in de USA hat kürzlich ein AWACS-Flugzeug aus Geilenkirchen als fliegender Gefechtsstand bei Luftkämpfen atombombenfähiger US-Kampfjets gedient.20

Weitere fremde Militärstützpunkte

Frankreich: Kasernen in Donaueschingen, Immendingen und Mühlheim (Baden), alle drei dienen als Standorte der Deutsch-Französischen Brigade. Diese ist eine ca. 5.000 Mann starke binationale Infanteriebrigade aus französischen und deutschen Truppen mit Sitz des Stabes in Müllheim. Alle Truppenteile sind im Bundesland Baden-Württemberg stationiert. Die Brigade ist in die Befehlsstrukturen des Eurokorps eingebunden. Die deutschen Truppenteile sind als Eingreifkräfte klassifiziert und sind als einzige Truppenteile einer Brigade des Heeres nicht in eine Division eingebunden, sondern unterstehen truppendienstlich direkt dem Heeresführungskommando. Die französischen Truppenteile unterstehen truppendienstlich dem französischem Äquivalent Commandement de la force d’action terrestre (CFAT).

Das Eurokorps ist ein multinationaler militärischer Verband der Staaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien und Luxemburg, der allen Mitgliedsstaaten der Westeuropäischen Union (WEU) und den mit der WEU assoziierten Staaten offen steht. Zu Ausbildungszwecken nimmt auch das polnische Heer in Brigadestärke am Eurokorps teil. Das Korps stellt Kräfte für EU- und NATO-Missionen, u.a. für die schnelle Eingreiftruppe der NATO.

Niederlande: 2 Kasernen in Münster als Standort des Deutsch-Niederländischen Korps.

EU-Battle-Groups

Mit den EU-Battle-Groups will die EU auch militärisch stärker werden. Die Battle-Groups bestehen aus multinationalen Verbänden, die ad hoc eingesetzt werden sollen. Das bedeutet, dass in Zukunft auch noch weitere fremde Militärverbände in Deutschland aktiv sein werden. Bis 2007 sollten 13 Battle Groups entstehen. Dieses Ziel wurde jedoch bis heute nicht erreicht.

Die Kosten

Die alliierten Streitkräfte haben stets der Bundesrepublik die Mehrheit der Kosten für den Unterhalt ihrer Präsenz in Deutschland in Rechnung gestellt. Neben der kostenfreien Überlassung von Arealen zur militärischen Nutzung werden z.B. Kosten für anstehende Renovierungen und Neubauten dieser Militäreinrichtungen aus Steuermitteln der Bundesrepublik Deutschland finanziert. Deutschland bezahlte auch die so genannten Transformations-Kosten für die US-Militär-Präsenz. Im Falle des Umzugs der Rhein-Main-Air-Base von Frankfurt/Main nach Ramstein und Spangdahlem waren das 368 Mill. $ von insgesamt 528 Mill. US-$, das sind 70%. Die verbleibenden 160 Mill. gingen zu Lasten anderer NATO-Länder und der USA.

Eine Veröffentlichung des Bundesfinanzministeriums von 2005 veranschlagt die »Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte« auf rund 123,3 Millionen EUR Ausgaben, denen 24,9 Millionen EUR Einnahmen gegenüber stehen. Eine genaue Auflistung ist schwierig, da z.B. im Bundeshaushalt in zahlreichen Einzeltiteln Gelder für den Militärhaushalt bereitgestellt werden (vgl. im Bundeshaushalt 2007 zum Beispiel die Titel 0814-88304, 0814-71203 und 1402-53301). Die Funktionsfähigkeit der US-Militärstützpunkte in Deutschland kostet jährlich 7 Milliarden US-Dollar. Deutschland erstattet den USA davon 1,89 Milliarden, das sind 27%. Deutschland bezahlt dafür, dass es ein Vorposten für die militärischen Interventionen und die illegale Kriegsführung der USA ist.

EU-Militärstützpunkte in aller Welt

NATO und EU folgen dem Beispiel der USA und errichten auch immer mehr Stützpunkte außerhalb des Bündnisbereiches. Die Basen der Mitgliedsländer der EU werden allen Mitgliedsländern zur Verfügung gestellt. Das sind zurzeit 28 französische, 29 britische, 11 deutsche, 5 italienische und 2 spanische. Deutschland benutzt für seien Afghanistan-Einsatz die Basis in Termes (Usbekistan) und stellt sie allen NATO-Staaten zur Verfügung. Weitere Bundeswehrstützpunkte im Ausland sind derzeit in Zypern, Kenia, Djibuti und Sudan. Bald möchte man auch nach Darfur. Eine Grafik über alle EU-Militärstützpunkte findet man im Internet unter http://deutscher-friedensrat.de/materialien_005.htm

Die Rechtsgrundlagen

Die Stützpunkte sind de facto exterritoriale Gebiete. Der US-Experte Chalmers Johnson schreibt in seinem Aufsatz »Das Abkommen über den Status der Militärstreitkräfte« (SOFA/Status Of Forces Agreement) in Okinawa: „Amerikas 703 offiziell anerkannte (tatsächlich über 1.000) militärische Enklaven im Ausland sind, obwohl sie sich strukturell, legal und konzeptionell von Kolonien unterscheiden, doch wie Mikrokolonien, da sie jeglicher Gerichtsbarkeit des okkupierten Landes entzogen sind. Die USA handeln mit ihren angeblich unabhängigen ‚Gastnationen‘ überall ein Abkommen über den Status ihrer Streitkräfte aus, darunter sind Länder, deren Rechtssystem in jeder Hinsicht entwickelt ist – und manchmal mehr als unser eigenes.“ 21 Rachel Cornwell und Andrew Wells, zwei Autoritäten zum Thema SOFA kommen zu dem Schluss: „Die meisten SOFA’s sind so abgefasst, dass die nationalen Gerichte über amerikanische Militärangehörige, wenn sie Verbrechen an der Bevölkerung begangen haben, nicht urteilen können, es sei denn, die US-Militärbehörden übergeben in bestimmten Fällen die Rechtsprechung an das Gastland“.22

Rechtlich ist der Rahmen in Deutschland durch das NATO-Truppenstatut (SOFA) vom 19.06.1951 vorgegeben. Dazu wurden Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut (ZA-NTS) zwischen Deutschland, den USA, Kanada, Großbritannien, Niederlande, Belgien und Frankreich abgeschlossen, modifiziert 1993 und im Bundesgesetzblatt 1994 Teil II Seite 3718 verkündet. Auch für drei gemeinsam von den USA und Deutschland benutzte Schießanlagen und Bombenabwurfplätze gibt es Verwaltungsabkommen, durch die die Praxis und Regeln der Bundeswehr angepasst wurden. Dasselbe trifft zu auf drei gemeinsame Übungsplätze mit Großbritannien und einen mit Belgien, Frankreich und den Niederlanden.

Die Frage ist, ob die verbündeten Streitkräfte diese Regeln einhalten und wenn nicht, was dann passiert. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Vorfall in Cavalese (Italien) als durch ein US-Kampfflugzeug 20 Menschen ums Leben kamen. Ein US-Kriegsflugzeug hatte zu niedrig fliegend und auf nicht erlaubter Flugroute das Drahtseil einer Seilbahn durchtrennt. Ein US-Militärgericht in den USA erklärte die Piloten trotzdem für unschuldig. Das ist eine Erfahrung, die man überall in der Welt mit US-Militärstützpunkten machen kann. Gesetzesbrecher und Kriminelle kommen ungeschoren davon. In diesem Bewusstsein handeln sie und machen damit die Militärstützpunkte zu einem rechtsfreien Raum. Noch schlimmer jedoch ist, dass mit der Benutzung der Militärstützpunkte sogar Völkerrecht gebrochen wird.

Der Fall Florian Pfaff

Der Major der Bundeswehr Florian Pfaff weigerte sich Befehle zu befolgen, die den Krieg gegen den Irak unterstützen könnten. Der Fall ging bis vor das Bundesverwaltungsgericht (BVG). In seinem Urteil vom 21.06.2005 (Aktenzeichen 2 WD 12.04) stellte das BVG fest, dass der Krieg gegen den Irak völkerrechtswidrig war. Es war ein Verstoß gegen das Verbot der Gewaltanwendung, wie es in der Charta der Vereinten Nationen (UN) festgeschrieben ist. Weder gab es ein Mandat der UN, noch konnten sich die USA auf Selbstverteidigung berufen. Das ist nur möglich bei einem direkten Angriff (auf die USA) und solange die UN keine Maßnahmen ergriffen hat. Beides war nicht der Fall. Der (behauptete) Besitz von Massenvernichtungswaffen des Gegners ist ohnehin kein Kriegsgrund.

Nach dem Urteil hat die Bundesregierung Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Delikt und damit selbst ein völkerrechtswidriges Delikt in Form folgender Taten begangen:

Erlaubnis zur Benutzung der Militärstützpunkte der USA und UK auf deutschem Boden,

Gewährung von Überflugsrechten für die USA und UK,

Bewachung der Militärstützpunkte der USA und UK,

Einsatz deutscher SoldatInnen in AWACS-Flugzeugen zur Überwachung des türkischen Luftraums.

Nach Rechtsprechung des BVG ist die „Handlung eines Staates, die in seiner Duldung besteht, dass sein Hoheitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von diesem anderen Staat dazu benutzt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen … selbst eine Angriffshandlung.“ Deutschland hätte sich im Krieg der USA gegen den Irak neutral verhalten müssen. Damit sind dann u.a. folgende Handlungen zu unterbinden:

Truppentransporte,

Benutzung von Funkstationen,

Benutzung von Fahrzeugen, Flugzeugen und Raketen.

Bundesregierung hätte US-SoldatInnen gefangen nehmen müssen

Das Bundesverfassungsgericht geht noch weiter: „Truppen von Konfliktparteien, die auf das neutrale Staatsgebiet übertreten“ – also nach Beginn des bewaffneten Konflikts in das neutrale Staatsgebiet zurückkommen – sind „zu internieren… Nur Offiziere, die sich auf Ehrenwort verpflichten, das neutrale Gebiet nicht ohne Erlaubnis zu verlassen, dürfen freigelassen werden.“ (S.84ff des Urteils) Weiter ist im Urteil zu lesen: „Die Pflicht zur Internierung ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des Neutralitätsrechts, da nur so verhindert werden kann, dass von neutralem Territorium aus Kampfhandlungen unterstützt werden und dass es dadurch zu einer Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzungen unter Einbeziehung des neutralen Staates kommt… Von diesen völkerrechtlichen Verpflichtungen wurde die Bundesrepublik Deutschland im Falle des am 20. März 2003 begonnenen Krieges, gegen den gravierende völkerrechtliche Bedenken bestehen, nicht dadurch freigestellt, dass sie Mitglied der NATO war und ist, der auch die Krieg führenden USA und das UK (sowie weitere Mitglieder der Kriegskoalition) angehören. (…) Weder der NATO-Vertrag… noch das NATO-Truppenstatut…. oder das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut… sehen jedoch eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland vor, entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völkerrecht – völkerrechtswidrige – Handlungen von NATO-Partnern zu unterstützen.“

Ein NATO-Staat, der einen völkerrechtswidrigen Krieg plant und ausführt, verstößt nicht nur gegen die UN-Charta, sondern zugleich auch gegen Art. 1 des NATO-Vertrages. Darin haben sich alle NATO-Staaten verpflichtet, „in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind. (…) Das heißt zugleich, dass ein durch Art. 51 UN-Charta nicht gerechtfertigter Krieg auch keinen »NATO-Bündnisfall« nach Art. 5 NATO-Vertrag darstellen oder rechtfertigen kann. (…) Ein gegen die UN-Charta verstoßender Angriffskrieg eines NATO-Staates kann mithin selbst durch die Ausrufung des »NATO-Bündnisfalles« nicht zum Verteidigungskrieg werden.“ Die USA und UK müssen entsprechend dem Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut die Bundesregierung um Genehmigung bitten, wenn „außerhalb des NATO-Rahmens in den USA oder im UK stationierte Truppenteile mit Militärluftfahrzeugen etwa auf ihrem Weg in das Kriegsgebiet lediglich den deutschen Luftraum benutzen oder auf ihnen in Deutschland überlassenen Flugplätzen zwischenlanden, um aufzutanken, Material oder Waffen aufzunehmen und anschließend – ohne »NATO-Auftrag« – in das außerhalb des »NATO-Gebiets« gelegene Kriegsgebiet weiter zufliegen.“ Daraus ergibt sich „für die zuständigen deutschen Stellen, d.h. vor allem für die Bundesregierung, im Konfliktfall – jedenfalls rechtlich – die Befugnis zu kontrollieren, ob die Stationierungsstreitkräfte auf den überlassenen Liegenschaften (sowie im Luftraum darüber) im Einzelfall ausschließlich »Verteidigungspflichten« im Sinne des Zusatzabkommens und des NATO-Vertrages wahrnehmen oder aber andere Maßnahmen vorbereiten oder gar durchführen.“ Von der Bundesregierung müssen „alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet und vorgenommen werden, die verhindern, dass etwa vom Territorium der Bundesrepublik Deutschland aus völkerrechtswidrige Kriegs-Handlungen erfolgen oder unterstützt werden. Dies gilt um so mehr, als sich Deutschland im Zuge der Wiedervereinigung in Art. 2 des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (so genannter Zwei-Plus-Vier-Vertrag) (…), der die maßgebliche Grundlage der im Jahre 1990 erfolgten Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands bildet, völkerrechtlich verpflichtet hat, dafür zu sorgen, ‚dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird‘.“

Geheimabkommen sind ungültig

„Dies gilt auch für den Fall, dass zwischen der Bundesrepublik Deutschland sowie den USA und dem UK völkerrechtliche Geheim-Abkommen geschlossen worden sein sollten, die für den Fall eines militärischen Konflikts Gegenteiliges vorsehen, jedoch – entgegen Art. 102 UN-Charta – nicht beim Sekretariat der Vereinten Nationen registriert und veröffentlicht worden sind. Unabhängig davon, ob solche Geheim-Abkommen überhaupt rechtliche Wirkungen auszulösen vermögen, ist jedenfalls die Vorschrift des Art. 103 UN-Charta zwingend zu beachten, die folgenden Wortlaut hat: ‚Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang‘.“ (alle vorstehenden Zitate sind dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.06.2005, Aktenzeichen 2 WD 12.04 entnommen).

Tatsächlich scheint es ein Geheimabkommen zwischen der deutschen Regierung und den USA zu geben. Das wurde in einer Radiosendung mit Albrecht Müller (SPD), früher Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt, erwähnt. Er sagte, dass in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung die US-Regierung befürchtete, ihre Militärstützpunkte in Deutschland zu verlieren. Aber Kanzler Kohl habe mit den USA ein Geheimabkommen abgeschlossen, demzufolge diese die Militärstützpunkte zu jeder Zeit für alle Fälle benutzen können. Das frühere Mitglied der deutschen Regierung Oskar Lafontaine äußerte sich in einer Konferenz im Januar 2006 in Berlin dahingehend, dass in diesem Sinne Deutschland kein souveränes Land wie Frankreich sei.

Hier liegt die Erklärung für die Erlaubnis zur Benutzung der US-Militärstützpunkte in Deutschland für den illegalen Krieg gegen den Irak. Grundsätzlich wird nach Chalmers Johnson das Völkerrecht und das Verfassungsrecht des jeweiligen Landes bei allen SOFA und Zusatzabkommen gebrochen: In den Abkommen geben die Gastnationen ihre souveränen Rechte auf, sie geben de facto jede Kontrolle darüber ab, ob von ihrem Boden aus völkerrechtswidrige Handlungen unternommen werden.

Der Fall Jürgen Rose

Im o.a. Urteil des BVG steht nicht explizit »völkerrechtswidrig«, sondern immer die Formel „gravierend völkerrechtliche Bedenken“. Das eröffnete der Bundesregierung die Möglichkeit, weiterhin den USA die Militärstützpunkte zur Verfügung zu stellen und ansonsten die umfangreiche juristische Begründung des BVG zu ignorieren. Ein Regierungssprecher sagte, es liege in dieser Frage kein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vor – so als ob ein Gesetz oder das Völkerrecht nur dann von der Bundesregierung beachtet werden müsste, wenn jede einzelne Bestimmung vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde.

Das ließ den Oberstleutnant der Bundeswehr Jürgen Rose nicht ruhen und er versuchte ein Urteil des BVerfG zu erwirken. In der Zeitschrift »Ossietzky« vom 27. 5. 2006 schrieb er: „Dass die Generalität aufgrund intellektueller Insuffizienz nicht hatte erkennen können, was da vor sich ging, wird man mit Fug und Recht ausschließen dürfen.(…) Da Dummheit ergo auszuschließen ist, bleibt nur noch die zweite Alternative zur Erklärung – und die lautet: Opportunismus, Feigheit, Skrupellosigkeit. (…) Hätte die deutsche Generalität auch nur einen Funken Ehrgefühl sowie Rechts- und Moralbewusstsein im Leibe, so hätte der Generalinspekteur im Verein mit seinen Teilstreitkräfteinspekteuren sich geweigert, den Völkerrechts- und verfassungswidrigen Ordres der rot-grünen Bundesregierung Folge zu leisten.“

Darauf hin wurde gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das durch mehrere Instanzen der militärischen Sondergerichtsbarkeit ging und zunächst mit einer Disziplinarbuße in Höhe von 750 Euro endete. Makaber daran war, dass diese Strafe von einem der selbst betroffenen Generäle bestätigt wurde. Dagegen legte Rose Rechtsmittel ein. Schließlich ging es bis zum Bundesverfassungsgericht. Doch die 3. Kammer des 2. Senats beschloss am 28. April 2007, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Aus der achtseitigen Begründung des Beschlusses ergibt sich:

Die Menschenwürde der attackierten Generalität wurde durch den inkriminierten Ossietzky-Beitrag nicht angetastet.

Es handele sich bei den beanstandeten Äußerungen auch nicht um eine unzulässige Schmähkritik. (Eine Schmähkritik liegt dann vor, wenn drastische Kritik in einen Angriff auf die Menschenwürde umschlägt und wenn die Absicht zu verletzen stärker hervortritt als die Absicht die eigene Meinung zu äußern.)

Ansonsten hat die Verfassungsbeschwerde keine „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“.

Nach dieser höchstrichterlichen Bewertung darf jeder zivile Staatsbürger und jede zivile Staatsbürgerin ungestraft sagen:

Die Bundeswehrgeneräle, die die ihnen unterstellten SoldatInnen zur Unterstützung des Irak-Kriegs befahlen, haben opportunistisch, feige und skrupellos gehandelt.

Der Generalinspekteur und die Teilstreitkraftinspekteure hätten sich weigern müssen, den völkerrechts- und verfassungswidrigen Befehlen der Bundesregierung Folge zu leisten, wenn sie denn auch nur einen Funken Ehrgefühl sowie Rechts- und Moralbewusstsein im Leibe hätten.

Dass das Verfassungsgericht im Übrigen der Sache keine »grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung« zumaß, mag formaljuristisch richtig sein: Schließlich ging es ja nur um die Frage, ob Jürgen Rose so etwas sagen darf, nicht darum, ob es stimmt. Aber was muss eigentlich passieren, damit sich das Verfassungsgericht mit der doch durchaus verfassungsrechtlich bedeutenden Frage beschäftigt, ob die Bundesregierung Völkerrecht bricht?

Rechtsgrundlagen für die Stationierung von Atombomben

Wie oben beschrieben sind in Deutschland nach wie vor Atombomben stationiert. Diese »nukleare Teilhabe« aber ist völkerrechtswidrig. Der Nichtverbreitungsvertrag, besser bekannt als Atomwaffensperrvertrag, verbietet gleich im Artikel 1, dass Staaten, die über Atomwaffen verfügen, die Kontrolle über diese Waffen an nichtnukleare Staaten wie Deutschland abgeben. Das gilt – so haben die Vertragsstaaten es festgelegt – zu jeder Zeit und unter allen Umständen, also auch im Krieg. Außerdem sind Atombomben nach den strengeren Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts geächtet. Danach sind Waffen geächtet, die unterschiedslos SoldatInnen und Unbeteiligte töten. Das humanitäre Kriegsvölkerrechts ist über Artikel 25 GG in Deutschland geltendes Recht. Die USA haben sich dem aber nicht unterworfen!

Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat eine Neufassung der »Druckschrift Einsatz Nr. 03 Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten« herausgegeben. In der Anweisung für SoldatInnen der Bundeswehr aus dem Juni 2008 heißt es auf Seite fünf: „Insbesondere der Einsatz folgender Kampfmittel ist deutschen Soldaten bzw. Soldatinnen in bewaffneten Konflikten verboten: Antipersonenminen, atomare Waffen, biologische Waffen und chemische Waffen.“ Die Taschenkarte, eine Kurzfassung der Zentralen Dienstvorschrift 15/2, beschreibt die Rechtslage gemäß der von Deutschland ratifizierten völkerrechtlichen Verträge. Erstmals erklärt das Verteidigungsministerium ohne Wenn und Aber, dass Bundeswehr-SoldatInnen keine Nuklearwaffen einsetzen dürfen. Bislang gab es immer einen Vorbehalt, der eine Hintertür eröffnete: Beachtet werden sollten die völkerrechtlichen Regeln „soweit praktisch möglich“. Dieser Vorbehalt ist nun entfallen.

Unklar ist, ob das Verteidigungsministerium nun auch seine Grundhaltung revidiert, um zu garantieren, dass das Völkerrecht ohne Einschränkung eingehalten wird. Bislang durften Bundeswehrpiloten nach Auffassung des Ministeriums im Rahmen eines NATO-Einsatzes Nuklearwaffen abwerfen. Die Piloten stehen jetzt vor einem Dilemma. Sie üben im Frieden, was ihnen im Krieg verboten wäre: Den Einsatz atomarer Waffen. Dass sie es nicht dürfen, sagt mittlerweile auch ihr Dienstherr, das Verteidigungsministerium. Käme ein atomarer Einsatzbefehl der Nato, so müssten sie selbst entscheiden, ob sie ihm Folge leisten oder nicht. Was wäre schlimmer: Völkerrechtsbruch oder Befehlsverweigerung? Deshalb erregt sich der Grünen-Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei: „Die Bundesregierung wäscht vorab ihre Hände in völkerrechtlicher Unschuld und macht den Atomwaffeneinsatz im Krieg zum Privatproblem der Piloten.“

Die Bundesregierung nimmt völkerrechtswidrige Handlungen auf ihrem Territorium hin und verstößt damit selber gegen das Völkerrecht. Sie verlangt von deutschen SoldatInnen, völkerrechtswidrige Handlungen einzuüben. Als Rechtfertigung schiebt sie »Bündnistreue« und manchmal auch die Notwendigkeit einer »fairen Lastenverteilung« vor – Gründe, die auf keinen Fall über dem Völkerrecht stehen können. Wahre Gründe dürften machtpolitische Erwägungen sein: Wer »deutsche Interessen« am Hindukusch und überall in der Welt militärisch verteidigen will, muss überall mitmischen. Ich denke es ist an der Zeit zu prüfen, ob und wie die deutschen Regierungsvertreter, die ständig unsere Verfassung und das Völkerrecht brechen, zur Rechenschaft gezogen werden können.

Anmerkungen

1) Department of Defense, Base Structure Report, Fiscal Year 2007 Baseline (A Summary of DoD`s Real Property Inventory), Seite DoD-6.

2) www.vcorps.army.mil/leaders/leaders.htm

3) www.globalsecurity.org/military/agency/army/1id.htm

4) www.globalsecurity.org/military/agency/army/1ad.htm

5) www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/USA/truppen.html

6) [EUCOM_RELEASE] vom 29.07.2005, von: Yates, Dale W. TSgt »yatesd@EUCOM.MIL«.

7) Zusätzlich zur 1.ID betrifft das nach geordnete Einheiten, ausgewählte V. Corps-Einheiten (Heidelberg) der US-Armee. Sie kehren entweder in die USA zurück, werden gänzlich aufgelöst, oder werden umgeformt und in Europa neu zugeordnet, um die Umgliederung der Armee im Haushaltsjahr 2006 zu unterstützen.

8) Stars and Stripes, 28.08.08 (www.stripes.com/article.asp?section=104&article=64226&archive=true).

9) wie (1) Seite ARMY-28 und Seite AIR FORCE -22.

10) wie (1).

11) CFR ist der Council on Foreign Relations (deutsch: Rat für auswärtige Beziehungen) der USA. Der CFR ist ein parteienunabhängiges amerikanisches Studienzentrum zu außenpolitischen Themen mit Sitz in New York.

12) Sammlung Kohlstruck von Dokumenten und Notizen zur Air Base Ramstein (Stand 05.04.2008).

13) www.luftpost-kl.de

14) »Kaiserslautern American« vom 09.03.2007.

15) Pressebüro der 435th Air Base Wing, 28.07.08, (www.usafe.af.mil/news/story.asp?id=123108282).

16) Stars and Stripes, 05.04.08 (www.stripes.com/article.asp?section=104&article=61210&archive=true).

17) Der Spiegel, Nr. 27/2008

18) http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/125114/index.html

19) Dr. Joseph Gerson: Military Colonialism: Personal and Analytical Perspectives, International Consultation on U.S. Bases, Seoul, Dec. 1 & 2, 2003.

20) www.luftpost-kl.de

21) Fußnote von Johnson: „Die Zahl der im Ausland gelegenen 703 Stützpunkte stammt vom Bericht des Büros des Unterstaatssekretärs für Verteidigung (Einrichtungen und Umwelt), dem Stützpunkt-Struktur-Bericht (Eine Zusammenfassung der Besitztümer des Verteidigungsministeriums von 2003), www.defenselink.mil/news/Jun2003/basestructure2003.pdf. Die Anzahl war 2001 725. Zu Einzelheiten und Analyse verweise ich auf mein Buch »The Sorrow of Empire« (New York: Metropolitan Books 2004), Seite 151-160. Die Zahl 703 ist viel zu niedrig, denn die Stützpunkte der Geheimdienste sind weggelassen, ebenso die, die sich unter anderen Staaten verbergen (z.B. bei der Royal Air Force in Großbritannien), man will damit Schwierigkeiten bei den ausländischen Regierungen vermeiden. Ferner fehlen die meisten Basen auf dem Balkan, im Persischen Golf und in Zentralasien, die in den letzten US-Kriegen dazu kamen.“

22) Rachel Cornwell und Andrew Wells, Deploying Insecurity, Peace Review 11:3 (1999), S.410.

Hans Peter Richter ist seit 1981 in der Friedensbewegung aktiv. Er war Mitbegründer des »friedensmuseums« in Berlin (1982-1989), Gründungsmitglied des Deutsch-Japanischen Friedensforums und ist im Vorstand des Deutschen Friedensrates und aktiv bei der »Sichelschmiede – Werkstatt für Friedensarbeit« in der Kyritz-Ruppiner Heide. Außerdem arbeitet er beim deutschen »Netzwerk gegen Militärstandorte und deren Auswirkungen (NEMA)« mit und beim weltweiten Netzwerk gegen fremde Militärstützpunkte, das im März 2007 in Ekuador gegründet wurde.

»Enduring Freedom« oder »Gerechter Friede«?

»Enduring Freedom« oder »Gerechter Friede«?

Lästige Betrachtungen zum Krieg gegen den Terror

von Jürgen Rose

Ein Jahr ist es nun her, seit am 11. September 2001 die Terroranschläge von New York und Washington, von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt als »Mammutverbrechen« apostrophiert, die Welt erschüttert haben. Danach, so war allerorten zu vernehmen, sei »alles anders« geworden, wäre die Welt nicht mehr dieselbe wie zuvor. In der Tat war die Dimension der terroristischen Attacke bis dato präzedenzlos. Mit Fug und Recht war das Entsetzen also groß. Erstaunt hatte man allerdings nicht wirklich sein können, hatte sich doch eine derartige Entwicklung schon seit Jahren abgezeichnet. Indessen herrschte hinsichtlich der Ursachen- und Entstehungszusammenhänge des internationalen Terrorismus eine nahezu unbegrenzte Ignoranz, die auch weiterhin – siehe das skandalöse Ergebnis des UN-Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg im Herbst diesen Jahres – den Anschein ihrer Unausrottbarkeit erweckt.
Mittlerweile hat der unter dem Rubrum »Operation Enduring Freedom« begonnene sogenannte Anti-Terror-Krieg, bei dem es sich in Wahrheit vornehmlich um einen Globalisierungskrieg im Interesse des Clubs der Reichen gegen die Armen dieser Welt handelt, gravierende Verwerfungen im internationalen System nach sich gezogen. In den USA lässt die derzeitige Administration eine neue »National Security Strategy« erarbeiten, die unverhohlen »Striking First«-Optionen, d. h. eine Präventivkriegsstrategie zum legitimen Instrument der US-Außenpolitik erklärt, wie der amerikanische Präsident George W. Bush in einer Rede an der Militärakademie von West Point zur sogenannten Bush-Doktrin ausführte.1 Ausdrücklich eingeschlossen in diese Planungen ist auch der präventive Einsatz von Nuklearwaffen. Im Weißen Haus und im Pentagon wird argumentiert, dass beispielsweise unterirdische Bunker, in denen biologisches, chemisches oder nukleares Waffenmaterial lagert, nur durch einen Nuklearschlag geknackt werden könnten. Außerdem könne nur die extreme Hitze einer nuklearen Detonation Sporen, Kampfstoffe oder radioaktives Material nachhaltig vernichten.2 „Solange Atomwaffen existieren, müssen wir ernsthaft mit einem Atomkrieg rechnen“3, kommentiert die indische Schriftstellerin Arundhati Roy und hat auf erschreckende Weise Recht, wird doch im Rahmen des sogenannten Anti-Terror-Krieges der Einsatz von Nuklearwaffen denkbarer denn je.

Schneller als erwartet könnten derartige Befürchtungen Realität werden, sollte der gegenwärtig geplante und in Vorbereitung befindliche Angriffskrieg gegen den Irak tatsächlich stattfinden. Dann nämlich steht zu befürchten, dass der irakische Diktator Saddam Hussein, diesmal buchstäblich um seine physische Existenz kämpfend, einerseits die Truppen der Angreifer, andererseits aber auch Israel tatsächlich mit chemischen oder biologischen Waffen angreifen wird. Die schon während des ersten Krieges gegen den Irak 1991 unmissverständlichen Drohungen sowohl der USA und Großbritanniens als auch Israels, in einem solchen Falle mit nuklearen Gegenschlägen zu reagieren, dürften dann mit infernalischen Konsequenzen in die Tat umgesetzt werden. Der Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten George Bush Senior, Brent Scowcroft, hat diesbezüglich eindringlich gewarnt: „Israel would have to expect to be the first casualty, as in 1991, when Saddam sought to bring Israel into the conflict. This time, using weapons of mass destruction, he might succeed, provoking Israel to respond, perhaps with nuclear weapons, unleashing an armageddon in the Middle east.“4

Im Kielwasser der US-amerikanischen Strategieentwicklung wird durchaus auch in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch unternommen, eine Konzeption »Präventiver Konventioneller Verteidigung« als neue sicherheitspolitische Maxime und legitimes Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu etablieren.5 Offenbar von militärtechnokratischem Machbarkeitswahn besessen, plädieren Politiker diesseits und jenseits des Atlantiks für eine verkappte Aggressionsstrategie im globalen Maßstab und frönen dabei zugleich, wie derzeit weite Teile der sogenannten »Strategic Community«, einem exzessiven Sicherheitswahn – der Fiktion nämlich, durch militärische Hochrüstung nach dem Vorbild USA ließe sich hundertprozentige Sicherheit gewinnen.

Zieht man indessen eine überschlägige Bilanz des globalen Krieges gegen den Terror, so fällt diese eher ernüchternd aus:

  • Aus dem angeblichen Anti-Terror-Krieg in Afghanistan wurde sehr schnell ein klassischer, ordinärer Krieg gegen ein Land, sein Regime und seine Bevölkerung.
  • Die Zahl der – üblicherweise mit dem Euphemismus »Kollateralschaden« belegten – Todesopfer, welche der angeblich »chirurgisch« geführte Luftkrieg unter der afghanischen Zivilbevölkerung forderte, bewegt sich zwischen mindestens 1.000 bis zu 5.000.6 Unberücksichtigt sind dabei diejenigen, die mittelbar durch die Auswirkungen des Krieges – nämlich auf der Flucht und durch Hunger – ums Leben kamen; deren Zahl beträgt nach einschlägigen Berechnungen mindestens 3.000. Insgesamt übersteigt demnach die Anzahl der unschuldigen zivilen Todesopfer des sogenannten Anti-Terror-Krieges gegen Afghanistan die Zahl der durch die Terroranschläge in den USA Getöteten (ca. 2.800) erheblich. Der Bischof der Evangelischen Kirche in Sachsen, Axel Noack, moniert aus diesem Grunde eindringlich die „verbrauchende Terrorismusbekämpfung“, die es billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu Opfern zu machen.7 Mit Nachdruck erhebt sich somit die Frage, wie es um die Moral einer Interventionspolitik mit militärischen Mitteln bestellt ist, die es in Kauf nimmt, Unschuldige zu töten, um andere Unschuldige zu retten, erlittene Verluste zu rächen oder präventiv potenzielle zukünftige Opfer zu schützen.
  • Seine ursprünglich deklarierten Ziele hat der Anti-Terror-Krieg verfehlt: Weder Osama bin Laden noch Mullah Omar wurden bisher gefasst, die Al Quaida ist immer noch nicht endgültig besiegt, die Kämpfe in Afghanistan dauern an; man muss abwarten, ob eine Stabilisierung der Region in Zukunft gelingen wird. Die Anschläge von Kabul und Kandahar am 5. September 2002 demonstrierten erneut die Brisanz der Problematik.
  • Der internationale Terrorismus ist nach wie vor virulent, wie die Terrorattacken von Djerba oder Karachi zeigen; die US-Behörden geben zu Protokoll, dass sie weiterhin mit schwerwiegenden Terroranschlägen rechnen, und sie wurden in ihrer Diagnose erst neulich, am 10. Juni bestätigt, als in Chicago ein mutmaßlicher Terrorist festgenommen werden konnte, der angeblich einen Anschlag mit einer sogenannten »schmutzigen« Atombombe geplant hatte.

Was die Terrorbekämpfung mit militärischen Mitteln betrifft, müsste folgender Sachverhalt zu denken geben: Seit den 70er Jahren geht Israel mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, unter Anwendung brutaler Gewalt und unter systematischer Missachtung jeglichen Völker- und Menschenrechts – also mit maximaler Intensität – gegen den palästinensischen Terror vor. Dabei übertrifft die Zahl der Toten und Verletzten, die der israelische Gegenterror unter der palästinensischen Bevölkerung verursacht, diejenige des palästinensischen Terrors unter der israelischen Bevölkerung um ein Mehrfaches.8 Trotz dieser hemmungslosen Anwendung militärischer Gewalt zur Terrorbekämpfung ist zugleich aber von allen Staaten der Welt gerade Israel der Staat, der von Terroranschlägen am intensivsten betroffen ist. Schlagender lässt sich wohl kaum illustrieren, dass militärische Gewalt keine Lösung politischer Konfliktlagen zu bewirken vermag.

Geht man von der Prämisse aus, dass aus Elend Verzweiflung resultiert und Verzweiflung wiederum Hass und Gewalt hervorbringt – weil nämlich, „wenn die eigene Subsistenzfähigkeit einmal zerstört ist, […] den Frauen [nur] noch die Prostitution [bleibt], und den Knaben und jungen arbeitslosen Männern, dass sie sich eine Kalaschnikow besorgen“9, dann müssten eigentlich am dringlichsten Strategien der Elendsbekämpfung gefragt sein. Militärische Terrorbekämpfungsstrategien erscheinen daher vor allem unter längerfristiger Perspektive als eher nachrangig, weil sie auf das Symptom anstatt die Ursache des Terrors abheben. Nichtsdestoweniger werden unbeirrt in militärische Gewalt- rsp. Gegengewaltpotenziale ungeheure Summen investiert: So gibt die größte Militärmacht der Welt, die USA, in diesem Jahr mehr als 900 Mio. US-$ »täglich« für Rüstung aus10. Schon ab 2003 werden es täglich mehr als 1.000 Mio. US-$ pro Tag sein und nach derzeitiger Planung soll bis 2007 diese Summe auf über 1.200 Mio. US-$ täglich anwachsen.

Demgegenüber betragen die Entwicklungshilfeausgaben der USA magere 9,95 Mrd. US-$ »im Jahr« 200211 oder anders ausgedrückt: Die Ausgaben für militärische Terrorbekämpfung übersteigen die Aufwendungen zur Elendsbekämpfung um etwa das Sechsunddreißigfache.

Für die Europäische Union sehen die entsprechenden Zahlen in ihrer absoluten Höhe weit weniger drastisch aus, weisen aber ähnlich Relationen auf. So beträgt nach mehreren Erhöhungen der bundesdeutsche Verteidigungsetat (Epl. 14) mit rund 24,4 Mrd. Euro etwa das Sechseinhalbfache des Entwicklungshilfehaushalts (Epl. 23), der gerade einmal 3,7 Mrd. Euro erreicht und damit zugleich weit unter dem international vereinbarten 0,7-Prozent-Ziel verharrt.

Im Hinblick auf diesen geschilderten Sachverhalt drängt sich dem unvoreingenommenen Betrachter der Eindruck auf, dass sich die Wohlstandschauvinisten dieser Welt lieber bis unter die Zähne bewaffnen, um ihren gewohnten »Way of Life« abzusichern, und dabei die Armen und Ärmsten auf dem Globus mit einem sogenannten Anti-Terror-Krieg überziehen, anstatt die zur Verfügung stehenden, ja nicht unbeträchtlichen Mittel vermehrt in die Bekämpfung der Ursachen für den Terror und damit in die Gewaltvorbeugung zu investieren.

Warum aber, so lautet die Frage, existiert diese bemerkenswert unausgewogene Ausgabenpolitik? Um sich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, muss man sich zunächst einer weiteren Frage zuwenden, die bereits in der Antike formuliert wurde und die da lautet: Cui bono? – also: Wem nutzt eine solche Politik, wer profitiert von ihr? Oder modern, auf »neurömisch« ausgedrückt: »Where does the money go?« Nehmen wir den bereits erwähnten Rüstungshaushalt der USA als Beispiel, so ist zu konstatieren, dass ca. 35% des Budgets für Investitionen in militärische Beschaffungen, Forschung und Entwicklung gehen12. Dies entspricht in den Jahren 2002-2007 einer Summe zwischen jeweils 117 und 160 Mrd. US-$, die in den vom amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower so bezeichneten »militärisch-industriellen Komplex« fließen. Hierzu ein Beispiel aus jüngster Zeit13: Ende Oktober letzten Jahres vergab das Pentagon den größten Rüstungsauftrag in der Geschichte an den kalifornischen Konzern Lockheed Martin. Der Auftrag bezieht sich auf den Bau eines neuen Kampfflugzeugs, den Joint Strike Fighter (JSF). Er soll dem Unternehmen etwa 200 Milliarden US-$ einbringen. Darüber hinaus wird dieser Rüstungsauftrag mehr als 8.000 Menschen einen Job bei Lockheed Martin sichern. Zudem profitiert die ganze Region um Dallas Fort Worth an dem Rüstungsauftrag – von der Baubranche über Einkaufszentren bis zu Zulieferbetrieben. Die Milliarden bedeuten Kaufkraft und Prosperität. An dem Projekt werden aber auch Zehntausende von Amerikanern in 27 Bundesstaaten bei den Zulieferanten arbeiten. Die Frankfurter Rundschau titelte am 29.10.01 dazu: „In Nordtexas knallen die Sektkorken“.

Die Verhältnisse sind indes weitaus komplexer, als es das geschilderte Beispiel nahelegt: Zu berücksichtigen ist nämlich, dass Rüstungsausgaben über Steuern finanziert werden, eigentlich eine banale Feststellung. Weniger banal ist allerdings der Umstand, dass sich unter den Vorzeichen der Globalisierung die Verteilung der Steuerlast sehr ungleich entwickelt hat. Während die großen Konzerne und die Spitzenverdiener der Upper Class über schier unlimitierte Möglichkeiten zur Steuervermeidung verfügen, wird der Löwenanteil der staatlichen Steuereinnahmen von Mittelstand und Lower Class aufgebracht. Bezogen auf die Frage, warum auf militärische Terrorbekämpfungsstrategien ein solch großes Schwergewicht gelegt wird, ist unter dem Aspekt des »Cui bono« festzustellen, dass die Lower und Middle Classes den Anti-Terror-Krieg hauptsächlich finanzieren, während hauptsächlich die gigantischen Rüstungskonglomerate und deren Eigner aus der Schicht der Vermögenden von ihm profitieren. Anzumerken bleibt, dass Krieg schon immer ein lohnendes Geschäft war.

Noch ein weiterer Sachverhalt ist in dem zu hinterfragenden Kontext von Bedeutung, nämlich wer eigentlich diesen Anti-Terror-Krieg führt, d. h. wer persönlich in die globalen Kriegseinsätze geschickt wird. Empirisch betrachtet rekrutiert sich das Personal der Streitkräfte in den westlichen Industrienationen vor allem aus dem eher kleinbürgerlich zu nennenden Milieu. Soziologisch gesehen handelt es sich beim Militärberuf um einen ganz typischen Aufsteigerberuf, während zugleich die sozialen und ökonomischen Eliten der Gesellschaft gegenüber der Organisation Militär vornehme Zurückhaltung üben. Bezieht man diese Tatsache wiederum auf den Anti-Terror-Krieg, so lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Abkömmlinge der Middle und Lower Class für die Upper Class in einen Krieg ziehen, aus dem letztere sich selbst und ihre Nachkommen lieber fernhält.

Ein letzter Umstand scheint in diesem Kontext noch von Bedeutung, nämlich wie unter volkswirtschaftlicher Perspektive der Strom des für Militär, Rüstung und Krieg aufgewandten Geldes fließt. Für die Rüstungsindustrien des Westens gilt, dass diese nach wie vor primär national strukturiert sind: Auf der einen Seite stehen die gigantischen Rüstungskonzerne in den USA, auf der anderen Seite in etwas kleinerem Maßstab die der Europäischen Union. Entscheidend ist nun, dass die Rüstungsausgaben im Wesentlichen innerhalb der nationalen Ökonomien verbleiben, d.h. es sind die Rüstungsgiganten und ihre Eigner, die von einer derartigen Mittelallokation profitieren – Strategien militärischer Terrorbekämpfung lohnen sich für sie gerade auch unter volkswirtschaftlichen Aspekten.

Anders sieht es unter einer solchen Betrachtungsweise dagegen mit den erwähnten Elendsbekämpfungsstrategien aus: Die Schaffung sicherer Ernährungsgrundlagen, die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser, Bildungsoffensiven, Hilfe zur Geburtenkontrolle, Unterstützung von »Good Governance«, das ganze weite Spektrum von Entwicklungshilfe bedeutet den Abfluss der hierfür bereitgestellten Mittel in die betroffenen Länder und Regionen selbst – zumindest, wenn Entwicklungshilfe nicht als verkappte Exportförderung begriffen wird. Volkswirtschaftlich gesehen eignen sich derartige Ausgaben nicht zur kurzfristigen Profitmaximierung, sondern werfen allenfalls langfristig einen Gewinn ab, dann nämlich, wenn entwickelte Volkswirtschaften entstehen, mit denen wiederum lukrative Wirtschaftsbeziehungen etabliert werden können.

Um die gerade angestellten Überlegungen zusammenzufassen: Die Frage nach dem »Cui bono« ist geeignet, Irritationen auszulösen und die so naheliegende, mit Verve verfolgte Strategie der Terrorbekämpfung mit militärischen Mitteln gewissen Zweifeln auszusetzen. Als Bürgerinnen und Bürger dieser Republik sollten wir uns die Frage stellen, ob wir die aufgezeigten politischen Strategien und Zusammenhänge als die Prämissen akzeptieren wollen, unter denen wir unsere Zustimmung dafür geben, die Bundeswehr in die Globalisierungskriege der Zukunft zu entsenden. Denn, nicht wahr, in einer Demokratie sind es ja die Bürgerinnen und Bürger, die letztlich darüber entscheiden, ob ihre Streitkräfte in den Krieg ziehen, in welche Kriege sie ziehen und wie sie zur Erfüllung derartiger Aufträge ausgestattet und strukturiert werden, kurz: welches Profil sie aufweisen sollen. Die intensiv geführte Debatte um eine Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an einem allfälligen Krieg gegen den Irak und dessen Diktator Saddam Hussein kann da als illustratives Beispiel dienen: Der Umstand nämlich, dass sich die Bundesregierung nicht zuletzt deshalb, weil weit über 90 Prozent der BundesbürgerInnen einen Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen den Irak ablehnen, gegenüber der amerikanischen Hegemonialmacht unmissverständlich weigert, deutsche Streitkräfte für eine strategische Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens nach den geopolitischen Interessen der USA zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass – gerade in Wahlkampfzeiten – die Verfassungsbestimmung des Art. 20, GG – „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – durchaus Relevanz besitzt.

In diesem Zusammenhang hat vor kurzem ein slowenischer Philosoph, Slavoj Zizek, eine kleine Parabel verfasst14. Sie lautet folgendermaßen: „In einem alten DDR-Witz wird einem Mann Arbeit in Sibirien zugewiesen. Da er weiß, dass alle Post zensiert werden wird, sagt er seinen Freunden: »Lasst uns einen Code verabreden: Wenn ich euch einen Brief mit gewöhnlicher blauer Tinte schreibe, ist sein Inhalt wahr. Ist er mit roter Tinte geschrieben, ist er falsch.« Nach einem Monat erhalten seine Freunde den ersten mit blauer Tinte geschriebenen Brief: »Hier ist alles ganz wunderbar. Die Geschäfte sind voller Waren, Lebensmittel gibt es reichlich, die Wohnungen sind groß und ordentlich geheizt, die Kinos zeigen Filme aus dem Westen, und es gibt viele hübsche Mädchen, die auf eine Affäre aus sind – das einzige, was man nicht bekommen kann, ist rote Tinte«…“

Zizek knüpft an diesen Witz die Frage an: „Ist das nicht genau das Grundmuster, nach dem Ideologie funktioniert? Nicht nur unter »totalitärer« Zensur, sondern vielleicht auch unter den verfeinerten Verhältnissen liberaler Zensur? Wir »fühlen uns frei«, weil uns die Sprache fehlt, unsere Unfreiheit auszudrücken. Die fehlende rote Tinte bedeutet heute, dass alle wesentlichen Begriffe, die wir gebrauchen, um den gegenwärtigen Konflikt zu charakterisieren – »Krieg gegen den Terror«, »Menschenrechte« und so weiter –, falsche Begriffe sind, die unsere Wahrnehmung der Situation mystifizieren, anstatt den Gedanken zuzulassen: Unsere »Freiheiten« selbst verdecken unsere tiefere Unfreiheit und erhalten sie. Das gleiche gilt für die uns angetragene Wahl zwischen »Demokratie oder Fundamentalismus«.“ Angesichts der Anmerkungen dieses slowenischen Zeitgenossen drängt sich die Frage auf, in welcher Farbe eigentlich die Redetexte unserer Politiker geschrieben sind.

Wo aber bleibt, um mit Erich Kästner zu sprechen, am Ende nun das Positive? Eine schwierige Frage, die, so ist zu befürchten, sich einer kurzen und schneidigen Antwort entzieht. Ein Fingerzeig indes lässt sich erkennen: Die deutschen Bischöfe nämlich haben einen ganz einfachen, präzisen, unmissverständlichen Satz geprägt, und dieser Satz lautet: „Gerechtigkeit schafft Frieden.“ Sie führen dazu aus: „Das Leitbild des gerechten Friedens beruht auf einer letzten Endes ganz einfachen Einsicht: Eine Welt, in der den meisten Menschen vorenthalten wird, was ein menschenwürdiges Leben ausmacht, ist nicht zukunftsfähig. Sie steckt auch dann voller Gewalt, wenn es keinen Krieg gibt. Verhältnisse fortdauernder schwerer Ungerechtigkeit sind in sich gewaltgeladen und gewaltträchtig. Daraus folgt positiv: »Gerechtigkeit schafft Frieden«.“15

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu Bush, George W.: Remarks by the President at 2002 Graduation Exercise of the United States Military Academy West Point, New York, June 1, 2002, 9:13 A.M. EDT (im Internet unter www.whitehouse.gov/news/releases/2002/06/20020601-3.html).

2) Vgl. Göller, Josef Thomas: Neue Bush-Doktrin: Präventivschlag statt Abschreckung, in: Das Parlament, Nr. 24, 14. Juni 2002, S. 12.

3) Roy, Arundhati: Das radioaktive Kaninchen, in: Die Zeit, Nr. 25, 13. Juni 2002, S. 33.

4) Brent Scowcroft zit. n. Left, Sarah: Iraq: hawks and doves, August 29, 2002 (im Internet unter www.guardian.co.uk/Iraq/Story/0,2763,781489,00.html); vgl. auch Borger, Julian/Norton-Taylor, Richard: US adviser warns of Armageddon, in: The Guardian, August 16, 2002 (im Internet unter www.guardian.co.uk/international/story/0,3604,775519,00.html).

5) Vgl. hierzu insbesondere Opel, Manfred: Die Zukunft der Streitkräfte, in: Soldat und Technik, Nr. 4/2002, S. 7 – 14 (im Internet unter www.soldat-und-technik.de). Zur Kritik dieses Ansatzes siehe Rose, Jürgen: Präventive Verteidigung. Manfred Opels Plädoyer für eine angriffsfähige Bundeswehr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8, August 2002, S. 936 – 942.

6) Vgl. hierzu Conetta, Carl: Strange Victory: A Critical Appraisal of Operation Enduring Freedom and the Afghanistan War, (im Internet unter www.comw.org/pda/0201strangevic.pdf) Bittner, Jochen/Ladurner, Ulrich: Töten, töten, töten. Nicht nur das Blutbad von Qala-i-Dschanghi wirft Fragen nach der Kriegsführung in Afghanistan auf. Die USA ignorieren das humanitäre Völkerrecht, in: Die Zeit, Nr. 50, 6. Dezember 2001, S. 4; Sgrena, Giuliana/Ladurner, Ulrich: Was man in Masar alles findet. Während des Afghanistan-Feldzugs gab es in Masar-i-Sharif ein Massaker. Zeugen sagen, US-Soldaten hätten daran mitgewirkt. Eine Spurensuche, in: Die Zeit, Nr. 27, 27. Juni 2002, S. 3.

7) Noack, Axel: Vom Realopazifismus und dem Bündel an enttäuschten Erwartungen, in: 4/3, Fachzeitschrift zu Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienst und Zivildienst, Nr. 1/2002, S. 43.

8) In der zweiten Intifada starben etwa 600 Israels und ungefähr 2.000 Palästinenser; vgl. hierzu Nass, Matthias: Krieg gegen Saddam? Nicht ohne bessere Gründe, in: Die Zeit, Nr. 33, 8. August 2002, S. 1.

9) Mies, Maria: Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten. (im Internet unter www.come.to/netzwerk-gegen-neoliberalismus).

10) Esterhazy, Yvonne/Wetzel, Hubert: Bush fordert größte Steigerung der Militärausgaben seit 21 Jahren, in: Financial Times Deutschland, 5. Februar 2002.

11) Vgl. OECD: Table IV-1. Net Official Development Assistance Flows from DAC Members in 1999 and 2000 (im Internet unter www.oecd.org/pdf/M00001000/M00001388.pdf).

12) Vgl. Eder, P./Hofbauer, B. G.: Verteidigungsbudget 2002 und Budgetvoranschlag 2002, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, Nr. 3/2002, S. 371f sowie Esterhazy, Yvonne/Wetzel, Hubert: s. Anm. 10.

13) Mies, Maria: Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten, s.o.

14) Zizek, Slavoj: Offener Briefe an den Präsidenten der USA, in: Die Zeit, Nr. 21, 16. Mai 2002, S. 43.

15) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Die deutschen Bischöfe. Gerechter Friede (Hirtenschreiben, Erklärungen Nr. 66), Bonn, 27. September 2000, S. 35f.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

US- und EU-Sicherheitsstrategien contra UN-Gewaltmonopol

US- und EU-Sicherheitsstrategien contra UN-Gewaltmonopol

von Dr. Alexander Neu

Seit Jahren wird eine umfassende Reform der Vereinten Nationen (UN) diskutiert. Ein Gipfeltreffen im Herbst letzten Jahres sollte die UN fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts machen. Die geforderten Reformen blieben jedoch auf dem UN-Gipfel Mitte September letzten Jahres bereits im Anfangsstadium stecken. Der Autor dieses Artikels geht davon aus, dass internationale Regierungsorganisationen keine eigenständigen handlungstragenden Einheiten verkörpern, sondern lediglich Instrumente darstellen, deren Kompetenzen, deren finanzielle, materielle und personelle Ausstattung durch die sie tragenden Staaten – als die eigentlichen Akteure der internationalen Politik – bestimmt werden. Vor diesem Hintergrund geht er der Frage nach, wie im sicherheitspolitischen Sektor die tatsächliche Unterstützung der UN seitens der die UN tragenden Staaten aussieht.

Mit dem Beitritt zur UN haben sich die UN-Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Normen der UN-Charta verpflichtet. Dass heißt:

  • Sie haben einen Teil ihrer Souveränität, das ius ad bellum in der Variante des Angriffskrieges, abgegeben. Damit haben sie das Gewaltmonopol an die UN delegiert.
  • Sie haben sich damit auch verpflichtet, die UN materiell, finanziell und personell (auch militärisch) so weit zu befähigen, dass diese schließlich das formale Gewaltmonopol auch durchsetzen kann.

Doch wie sieht es mit der Vertragstreue einiger für das Funktionieren der UN relevanter Staatengruppen, wie der NATO, der EU und den USA, tatsächlich aus? In welchem Verhältnis stehen das »Strategische Konzept des Bündnisses«, die »Nationale Sicherheitsstrategie« der USA sowie die »Europäische Sicherheitsstrategie« der EU zu den normativen Grundlagen des UN-Sicherheitskollektives?

Normative Grundlagen des UN-Sicherheitskollektivs

Eine der wichtigsten UN-Normen für das Funktionieren des UN-Systems ist die Vorrangklausel (Art. 103 UN-Charta). Sie stellt fest, dass im Falle internationaler Verpflichtungen und internationaler Verträge (z. B.: regionale Abmachungen), deren Normen im Widerspruch zur UN-Charta stehen oder aber sie relativieren, diese sich unterzuordnen haben bzw. keine Rechtsgültigkeit besitzen, da sie ansonsten UN-Recht brechen. Dieses Prinzip ist mit der innerstaatlichen Verfassungshierarchie vergleichbar. Es handelt sich hierbei nicht um ein Verbot von subsidiären Sicherheitsstrukturen wie regionale Organisationen (hierzu Kapitel VIII der UN-Charta), sondern lediglich um deren UN-rechtskonforme Einbindung bzw. Unterordnung.

Zur Erfüllung der Kernaufgabe, der Gewährung kollektiver Sicherheit, wird dem UN-Sicherheitsrat gemäß Art. 24 Abs. 1 der UN-Charta die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen, sowie das ausschließliche Recht zuerkannt, eine „Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ festzustellen (Art. 39 UN-Charta), bzw. entsprechende Maßnahmen einschließlich der Anwendung von Gewalt (Art. 42 UN-Charta) gegen den Rechtsbrecher anzuordnen, woraus dem Sicherheitsrat das Gewaltmonopol erwächst. Ferner sollen dem UN-Sicherheitsrat militärische Kapazitäten – also das Schwert zur Durchsetzung seines kollektiven Schutzauftrages – seitens der UN-Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden (Art. 43 bis Art. 47 UN-Charta). Dieses Schwert wurde jedoch von Anfang an dem UN-Sicherheitsrat nicht in die Hand gegeben.

Stattdessen wurden zwei Ersatzklauseln (Art. 48 & Art. 53. Abs. 1 UN-Charta) formuliert, die es dem UN-Sicherheitsrat erlauben, einzelne Staaten oder regionale Einrichtungen mit deren Einverständnis „unter seiner Autorität in Anspruch“ zu nehmen.

Ungeklärt blieb hierbei die präzise Definition dieser »Autorität«, d.h., ob die Truppen für die militärischen Zwangsmaßnahmen unter internationalem Oberkommando (UN-geführt) oder unter nationalem Oberkommando (UN-mandatiert) operieren würden.

Die Antwort darauf lieferten alsbald die USA, als sie die irakische Besetzung Kuwaits mit einer multinationalen Truppe unter ihrem Oberkommando beendeten. Die UN verloren die komplette Kontrolle über die weitere militärische und politische Entwicklung hinsichtlich des Iraks, sie wurden de facto zum Mandatsbeschaffer degradiert.

Die Ersatzklauseln, die dem UN-Sicherheitsrat die militärische Handlungsfähigkeit quasi indirekt garantieren sollen, erweisen sich realiter als Axt gegen die Fundamente der UN selbst: Die indirekte militärische Handlungsfähigkeit der UN vermittelt über »willige Staaten« bedeutet nichts anderes als keine Kontrolle und somit keine militärische Handlungsfähigkeit der UN. Die operative Umsetzung wird von den »willigen Mandatnehmern« gemäß ihren strategischen und nationalen Interessen definiert. Letztlich werden damit auch die weiteren politisch-strategischen Entscheidungen über die Maßnahmen zur Gestaltung der Nachkriegsordnung in der betreffenden Region der UN faktisch entzogen und der Machtsphäre des »willigen Mandatnehmers« zugeordnet.

Der hierdurch stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen bedeutet eine Rückkehr des anarchischen Staatensystems auf besonders perfide Weise: Internationale Rechtsstaatlichkeit wird zunächst sinnentleert und kann sukzessive zum Knebelinstrument der Großmächte gegenüber schwächeren Staaten umfunktionalisiert werden.

Dass dieses Problem zeitverzögert – 45 Jahre nach Gründung der UN – erst so virulent wurde, erklärt sich durch die bipolare Ost-West Konfrontation: Diese verhinderte einen einseitigen Missbrauch durch die balancierende Kraft der jeweils anderen Seite, die das Vetorecht geltend machte.

Derzeit existiert keine ausreichend balancierende Gegenmacht, die die USA zur Respektierung internationalen Rechts bewegen könnte. Im Gegenteil, wie der Ingenuitätsprozess1 sich nach dem Ende der Bipolarität nicht nur in der praktischen internationalen Politik, sondern auch in völkerrechtlichen Dokumenten durchsetzte wird im folgenden ausgeführt.

Das Strategisches Konzept der NATO

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung drohte die NATO Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. 1991 verabschiedete die NATO ein Neues Strategisches Konzept in dem sie lediglich ihre verteidigungspolitische Funktion in „Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen“ wiederholte und ihre sicherheitspolitische Unabkömmlichkeit unterstrich.2

Diese Selbstrestriktion brachte das Bündnis jedoch in eine Identitätskrise. Es mussten neue Aufgaben, jenseits der klassischen Landes- und Bündnisverteidigung, gefunden werden, um der Verteidigungsorganisation eine neue sinnstiftende Identität zu geben. Zunächst empfahl man sich den UN als militärischer Arm in den Bürgerkriegswirren des auseinanderfallenden Jugoslawien. Schon bald manifestierte sich aber ein mangelnder Unterordnungswillen des Bündnisses unter das globale Sicherheitskollektiv UN.3

Im April 1999 verabschiedete die NATO eine Neuauflage ihres Strategischen Konzepts. Darin wird die »Autorität« des UN-Sicherheitsrates bei der Ausführung militärischer Operationen geltend gemacht.4 Allerdings wird diese »Autorität« in einen breiten Interpretationsansatz gerückt: Das Bündnis wird „bei der Erfüllung seines Ziels und seiner grundlegenden Sicherheitsaufgaben (…) die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen anstreben.“5 Die Wortwahl »anstreben« bedeutet jedoch keine definitive Unterordnung, sondern lediglich, wenn möglich mit, wenn nötig ohne UN. Damit wird das UN-Gewaltmonopol offen in Frage gestellt. Auch eine weitere Formulierung, die zwar sehr eng an die UN-Charta Art. 24 Abs. 1 angelehnt ist, zielt auf eine Relativierung des UN-Gewaltmonopols zu Gunsten der NATO: Das Strategische Konzept spricht hier von der „primären Verantwortung“, statt der Hauptverantwortung (Art. 24 Abs. 1 UN-Charta) der UN für die „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.“6 Ein Differenzierungsversuch beider Begriffe mag zunächst ein wenig theoretisch und irrelevant wirken. Betrachtet man indes den realpolitischen Kontext, dass nämlich das Strategische Konzept exakt zu jenem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die NATO Jugoslawien bombardierte, so gewinnt die Interpretation der Formulierung »primäre Verantwortung« Konturen: Sie wird als eine Art Reserveverantwortung der NATO für die Wahrung kollektiver Sicherheit beansprucht für den Fall, dass die UN ihrer Funktion – gemäß der Erwartung des Westens – nicht gerecht wird.

Die in Art. 24 UN-Charta gewählte Formulierung der Hauptverantwortung bedeutet hingegen nicht, dass den Staaten eine Reserveverantwortung für die Wahrung der kollektiven Sicherheit dergestalt zugewiesen wird, dass diese im Falle einer Handlungsblockade des UN-Sicherheitsrats die Verantwortung und das Handeln der UN eigenmächtig substituieren. Im Gegenteil: Zwar wird die Regelung sicherheitspolitischer Probleme gemäß Art. 52 UN-Charta auch subsidiären Strukturen ermöglicht, jedoch nur unter explizitem Ausschluss militärischer Maßnahmen (Art. 53 UN-Charta). Der Terminus Hauptverantwortung muss im Kontext des Art. 2 Abs. 3 & 4 der UN-Charta interpretiert werden: Demnach die Verantwortung der Staaten selbst, durch eine proaktive Haltung in Form des ausnahmslosen Verzichts auf das ius ad bellum als Angriffsvariante zur „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ beitragen müssen und „internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel“ beilegen sollen.

Das Strategische Konzept muss in seiner Gesamtheit und unter Berücksichtigung der realpolitischen Situation verstanden werden. Neben dem mangelnden Unterordnungswillen unter die UN bleibt auch der geographische Aktionsradius offen. Es werden der euro-atlantische Raum, die Peripherie desselben und schließlich der »globale Kontext«, genannt, indem die Sicherheitsinteressen, wie die „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“, berührt werden könnten.7

Insgesamt verweist das Konzept auf eine neue NATO, die sich nicht mehr als klassisches Verteidigungsbündnis unter der Maßgabe eines eng gefassten Verteidigungsbegriffs, der Landes- und Bündnisverteidigung, verstanden wissen will. Die neue NATO definiert sich über einen geographisch entgrenzten Verteidigungsbegriff (Stichwort: Deutschlands Verteidigung am Hindukusch), der das Verteidigungsbündnis im Ergebnis zu einem globalen Sicherheitskollektiv ohne völkerrechtliche Legitimation erhebt. Hierbei bricht die NATO UN-Recht materiell (Bruch des UN-Gewaltmonopols durch den Jugoslawien-Krieg) und formell (Bruch des Primats der UN bzw. des UN-Rechts gemäß Art. 103 UN-Charta).

Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA

Die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) wurde im September 2002 als neue Sicherheitsdoktrin der USA verkündet. Die NSS muss im Kontext des ein Jahr zuvor stattgefundenen Terroranschlags auf die USA verstanden werden. Die NSS verweist mit dem hohen Selbstbewusstsein einer Supermacht auf eine US-amerikanische Außenpolitik, die „neue, produktive internationale Beziehungen“ eingehe und die „bestehenden neu“ definiere.8 Es wird deutlich, dass nicht nur punktuelle Korrekturen der bestehenden, sondern der Prozess zu einer neuen Weltordnung nach US-amerikanischem Gusto eingeleitet werden soll. Die hierzu angewandte Methode der unilateralen Deregulierung der internationalen Beziehungen und der damit einhergehenden Renationalisierung sicherheitspolitischer Entscheidungen und sogar Rechtsetzungsansprüchen stellt nichts weniger als das gegenwärtige internationale Rechtssystem zur Disposition. Zu nennen ist hier beispielsweise die Weigerung der USA sich dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterwerfen.

Die UN werden ganze zweimal in dem umfassenden Dokument genannt. Im Vorwort wird auf eine sehr allgemeine und unpräzise formulierte Verpflichtung der USA gegenüber multilateralen Institutionen, wie der UN verwiesen. Der zweite Hinweis devaluiert gar die UN zu einer Organisation unter vielen, mit der bei Bedarf kooperiert werden kann.9

Im Mittelpunkt der NSS steht der internationale Terrorismus als zentrale sicherheitspolitische Herausforderung. Die USA beanspruchen die globale Führerschaft im Kampf gegen die neuen sicherheitspolitischen Risiken. Die wesentlichen Konfliktlösungsmechanismen sind hierbei repressiver Art, d.h. militärische Maßnahmen, deren Nennung wie ein roter Faden die gesamte NSS durchzieht. Mit dem Anspruch der globalen Führerschaft unter Verwendung repressiver Mittel, stellen sich die USA in der Hierarchie über die UN. Hierbei pendelt die NSS zwischen einem scheinbaren Multilateralismus, selektivem Multilateralismus10 und einem dezidierten Unilateralismus.

  • Hinsichtlich des scheinbaren Multilateralismus wird das völkerrechtskonforme Präemptionprinzip (aktive Selbstverteidigung bei einem gegenwärtig zu erwartenden Angriff) um die Bedeutung der völkerrechtlich nicht zulässigen Prävention erweitert: „(…) desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird.“11 Der bislang gültige Unterschied zwischen Präemption und Prävention wird angesichts neuer Bedrohungsformen (internationaler Terrorismus) und unkonventioneller Kampfmethoden ohne Vorwarnzeiten, auf diese Weise verneint. Auch wird mit der räumlichen und zeitlichen Offenheit, dem Angriffskrieg Tür und Tor geöffnet.
  • Der selektive Multilateralismus exemplifiziert sich an Rüstungskontrollregimen und dem Nichtverbreitungsvertrag, die den USA einen Nutzen einräumen.12 Der selektive Multilateralismus ist gekennzeichnet durch punktuelle Kooperationen, die den nationalen Interessen förderlicher sind als eine rein unilaterale Vorgehensweise.
  • Der dezidierte Unilateralismus wiederum findet seine Anwendung für den Fall, das den USA die Unterstützung seitens internationaler Organisationen beim Kampf um die internationale Sicherheit verwehrt bleiben. Dann werden die USA „auch nicht zögern zu handeln, wenn es notwendig werden sollte, unser Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen (…).“13Auch hier wird deutlich, dass den internationalen Organisationen, gemeint ist hier wohl insbesondere die UN ohne sie namentlich zu nennen, nicht die Hauptverantwortung, sondern bestenfalls eine kooperierende und schlimmstenfalls eine dienende oder gar irrelevante Funktion für die Wahrung der kollektiven Sicherheit zu Teil wird.

Die signifikante Abwertung der UN, manifestiert sich letztlich in Kapitel VIII der NSS, in der die „Entwicklung einer Agenda für die Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Machtzentren der Welt“ skizziert wird. Dort werden neben den Großmächten und einigen besonders treuen Verbündeten, wie Japan, Südkorea und Australien, noch vier internationale Organisationen genannt: die NATO, die EU, die ASEAN und die APEC. Die UN wird nicht aufgeführt.14

Nicht nur das die UN und das UN-Völkerrecht keine Rolle in der NSS spielen. Es bleibt festzustellen, dass die NSS sich nicht nur nicht dem UN-Völkerrecht unterzuordnen gedenkt, sondern dass sie vielmehr auf deren Ablösung durch eine US-amerikanische Weltordnung abzielt.

Ein solcher Ansatz müsste eigentlich auf entschiedenen Widerstand der europäischen Partner stoßen. Wie die Reaktion der EU tatsächlich ausschaut, zeigt eine Analyse der Europäischen Sicherheitsstrategie.

Die Europäische Sicherheitsstrategie

Die Europäische Union gab sich im Dezember 2003 eine eigene Europäische Sicherheitsstrategie (ESS). Angesichts der zunehmenden Integration der EU – auch in sicherheitspolitischen Fragen – zeigte sich die Notwendigkeit der strategischen Positionierung eines im Werden begriffenen sicherheitspolitischen Akteurs auf der Weltbühne. Da die EU selbst eine regionale Organisation auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge darstellt, und sie zugleich der am stärksten verrechtlichte Raum der Welt mit bisweilen supranationalen Strukturen ist, weiß sie um die Relevanz implementierter und ausgeführter – kurzum gelebter – Normen wie kein anderer Akteur. Angesichts dessen müsste die ESS im besonderen Maße sich den UN-Normen und deren Umsetzung verpflichtet fühlen.

Tatsächlich bekundet die ESS eine proaktive UN-Politik, in dem sie deren „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ betont.15 Obgleich die ESS keine Bereitschaft bekundet, der UN Truppen unter UN-Befehl gemäß Art. 43 UN-Charta (UN-geführte Friedenserzwingung) zur Verfügung zu stellen, um das formale UN-Gewaltmonopol auch materiell zu unterfüttern, so erklärt sie dennoch, die UN in deren Kampf „gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt“ zu unterstützen. Hierbei bekundet sie auch ihr Pflichtgefühl, zu einer „verstärkten Unterstützung“ der UN bei „kurzfristigen Krisenbewältigungseinsätzen.“16 Im Gegensatz zur NSS zielt die ESS nicht auf eine neue Weltordnung durch Eliminierung der gegenwärtigen internationalen Rechtsordnung ab, sondern fordert die „Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“ im Einklang mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.17

Aber exakt im Kontext der Handhabung der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen manifestieren sich Schnittmengen zwischen der ESS und der NSS. Die ESS fordert die Entwicklung einer Strategie-Kultur, „die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert“. Die Gefahren von Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie „humanitäre Krisen“ können durch „präventives Engagement“ reduziert werden.18

Allerdings kollidiert die Forderung nach präventiven militärischen Operationen zwecks Eindämmung neuer sicherheitspolitischer Gefahren mit der Selbstverpflichtung der Wahrung des Völkerrechts. Denn gemäß Art. 51 UN-Charta stellt die militärische Prävention kein Bestandteil des „naturgegebenen Rechts zur Selbstverteidigung“ dar, sondern fällt unter die Kategorie des absoluten Gewaltverbots (Art. 2 Abs. 4) und ist somit als klassischer Angriffskrieg zu klassifizieren. Dem Selbstverteidigungsbegriff der UN-Charta liegt ein restriktives territorial gebundenes Verständnis zu Grunde. Dieses wird jedoch von der ESS gleichsam der NSS mit Verweis auf die besondere Qualität der neuen sicherheitspolitischen Risiken unterminiert: „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“19

Die ESS versucht diesen Widerspruch offensichtlich mit Verweis auf die Notwendigkeit, „dass das Recht mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globaler Erwärmung Schritt“ halten müsse, aufzulösen.20 Hierbei »übersehen« die Autoren der ESS, dass auf diese Weise das UN-Gewaltmonopol ungeachtet aller UN-treue Bekundungen nicht nur faktisch, sondern auch formal ausgehebelt wird.

Fazit

Weder in dem Strategischen Konzept des Bündnisses noch in den Doktrinen wird der Wille erkennbar, sich dem UN-System bedingungslos zu unterwerfen. Rhetorisch geschickt verpackte Formulierungen verbergen unilaterale Hintertürchen. Die allenthalben zu vernehmende Kritik an der mangelnden Funktionalität und Effizienz der UNO ist nicht ihr eigenes Versäumnis, da sie kein selbstständiger Akteur ist. Es ist eindeutig der fehlende Wille der sie tragenden relevanten Akteure, ihr die erforderlichen und Entscheidungskompetenzen zu verleihen. Darüber hinaus stellt die Kritik der Großmächte an der mangelnden Funktionalität der UNO einen Versuch dar, ihre unilateralen Maßnahmen als notwendige Ersatzmechanismen zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund sind die Reformbemühungen der UNO mit dem Ziel der Herbeiführung effektiverer Strukturen und erweiterter Kompetenzen zur Durchsetzung einer gerechteren Weltordnung, bestenfalls Wunschdenken.

Schlimmstenfalls dienen die Reformen dazu, den Handlungsspielraum der Großmächte zu erweitern (Interventionen mit Unterstützung der UN). Sollte das internationale Recht angesichts der neuen sicherheitspolitischen Risiken, wie von der ESS unter Berücksichtigung des Präventivinstituts gefordert, »modernisiert« werden, so liefe dies auf ein Ermächtigungsgesetz zur »weltweiten präventiven Selbstverteidigung« hinaus. Auf diese Weise würde das ius ad bellum, welches als Nicht-Selbstverteidigungsvariante ausschließlich dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten ist, wieder zu den Nationalstaaten zurückkehren, was unzweifelhaft einen zivilisatorischen Rückschritt bedeuten würde.

Anmerkungen

1) Der Politikwissenschaftler August Pradetto definiert den Begriff folgendermaßen: „Mit dem Begriff Ingenuität ist der beabsichtigte Zustand mit Hilfe einer Politik gemeint, die auf Abwehr von Restriktionen für die eigene Handlungsfreiheit und auf die Erlangung einer möglichst großen Variationsbreite eigener Handlungsoption gerichtet ist“.

2) The Alliance’s New Strategic Concept, Rom, 1991.

3) Nassauer, Otfried u.a.: NATO, Peacekeeping, and the United Nations, Berlin, 1994.

4) Das Strategische Konzept des Bündnisses, Washington, 1999, Abs. 31.

5) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 11.

6) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 15.

7) Das Strategische Konzept des Bündnisses…, Abs. 24.

8) The National Security of the United States of America, Sept. 2002, S. 7.

9) The National Security…, Vorwort und S. 7

10) Hippler, Jochen, Die unilaterale Versuchung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2003, S. 818 ff.

11) The National Security…, S. 15, 13, 22.

12) The National Security…, S. 14.

13) The National Security…, S. 6, 42.

14) The National Security…, S. 25 f.f

15) Ein sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12. Dezember 2003, S. 9.

16) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

17) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 9f.

18) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 11.

19) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 7.

20) Europäische Sicherheitsstrategie, S. 10.

Dr. Alexander Neu, Politologe, Mitglied der W&F Redaktion

EU-Verfassung gescheitert – neue Militärstrategie verabschiedet

EU-Verfassung gescheitert – neue Militärstrategie verabschiedet

von Tobias Pflüger

Bei ihrem Gipfel in Rom konnten sich die Regierungschefs der EU nicht auf den vorliegenden Verfassungsentwurf einigen. In der Folge gab es eine verstärkte Diskussion um ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ein Europa, indem einige Länder in der Zusammenarbeit »vorangehen« – und das vor allem auf militärischen Gebiet. Vor diesem Hintergrund ist von besonderem Interesse, dass die EU in Rom eine verbindliche Militärstrategie verabschiedet hat. Tobias Pflüger über die neuen militärischen Planungen und den dominierenden Einfluss Frankreichs und Deutschlands auf die zukünftige EU-Truppe.

Hauptstreitpunkt bei der Diskussion über die neue EU-Verfassung war die Stimmengewichtung innerhalb der EU. Nach dem Vorschlag des Verfassungskonvents sollten ab 2009 die meisten Entscheidungen im Ministerrat mit einer »doppelten Mehrheit« gefällt werden: Mindestens 13 Regierungen, die mindestens 60 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Polen und Spanien waren dagegen, die Stimmrechte an der Bevölkerungsgröße auszurichten, da sie bei dieser Regelung im Vergleich zur bisherigen Regelung (Nizza-Vertrag) deutlich an Gewicht verlieren würden. Umgekehrt würde Deutschland als bevölkerungsreichstes Land deutlich an Macht gewinnen.

In den Medien wurden überwiegend Spanien und Polen für das »Scheitern des EU-Gipfels« verantwortlich gemacht. Vereinzelt wurde allerdings auch der Verdacht geäußert, dass die deutsche und die französische Regierung vielleicht gar nicht so unfroh sind über das Scheitern des EU-Gipfels. So vermutet die »Neue Zürcher Zeitung« (15.12.2003), dass „Chirac und Schröder in Brüssel mit Absicht den Karren an die Wand fahren ließen, um das Terrain zur Wiederbelebung der alten Idee eines «Kerneuropa» vorzubereiten.“ Klaus-Dieter Frankenberger (FAZ, 16.12.2003) stimmt die Schnelligkeit misstrauisch, „in der das Kerneuropa-Konzept aus der Tasche geholt worden ist – ganz so, als habe man das Brüsseler Scheitern nicht ohne Hintergedanken in Kauf genommen.“ Und Wolfgang Münchau spricht in der »Financial Times Deutschland« (16.12.2003) davon, dass „ohne die deutsche Ellbogendiplomatie in der Debatte um den Stabilitätspakt und die ständigen Drohungen mit Kerneuropa“ mit Polen und Spaniern ein Kompromiss möglich gewesen wäre.

Die Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse

Tatsächlich nehmen die Forderungen nach einem »Kerneuropa« nach der Nichtverabschiedung der EU-Verfassung zu. So spricht die französische Europaministerin, Noëlle Lenoir, davon, dass es möglich sein sollte, dass einige EU-Staaten „als Vorhut“ bei der europäischen Integration schneller vorankommen können als andere.

Der französische Außenminister, Dominique de Villepin, benennt schon konkrete Ziele: Europa muss die Mittel bekommen, um „seinen Platz in der Welt von morgen einzunehmen. Dieser neuen Union müssen ehrgeizige Ziele gesetzt werden, ob sie nun von allen geteilt oder nur von einigen verfolgt werden. Was die ergänzende Integration angeht, wird diese ganz natürlich ihren Platz finden, so wie Frankreich zusammen mit Deutschland und Großbritannien eine besonders nützliche Zusammenarbeit gegenüber dem Iran in Sachen Nonproliferation praktiziert hat. Einen solchen Präzedenzfall können wir morgen neuerlich schaffen, zum Beispiel indem wir die Partnerschaft zwischen unseren Verteidigungsindustrien stärken oder indem wir in Afrika oder anderswo politische Initiativen ergreifen oder Operationen durchführen.“ (FAZ, 19.12.2003)

Und auch der französische Präsident, Jacques Chirac, setzt auf die deutsch-französische Karte. Er ist für die Bildung von »Pioniergruppen« in der Europäischen Union, bei denen „Deutschland und Frankreich … natürlich zum Kern … gehören.“ (AP, 08.01.2004)

Die deutsche Bundesregierung macht deutlich, dass die Diskussion über Kerneuropa „keine rein taktische Debatte“ ist, mit der der Druck zur Einigung erhöht werden soll. Man müsse bei einem endgültigen Scheitern der Verhandlungen in der Lage sein, »konzeptionelle« Antworten zu geben. (FAZ, 21.12.2003) Wie die aussehen könnten erläutert Außenminister Joseph Fischer im Spiegel (20.12.2003): „Diejenigen, die weitergehen wollen – in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in der Zusammenarbeit bei der Innenpolitik, bei Justiz und Recht –, werden weitergehen, wenn die Verfassung scheitert. Sie werden es umso entschiedener tun, je weniger sie daran glauben, dass dieses Europa als Ganzes handlungsfähige Strukturen bekommt.“

Dieses Kerneuropa konkretisiert sich vor allem im Militärbereich. Dazu Sabine Herre: „Das Projekt Kerneuropa hat das Stadium der Theorie verlassen, jetzt gibt es klare Regeln, wie diese »strukturierte Zusammenarbeit« zwischen besonders integrationswilligen Staaten funktionieren soll. Irakkrieg und EU-Erweiterung sind die Gründe dafür, dass Kerneuropa ausgerechnet im militärischen Bereich konkret wird.“ (taz, 01.12.2003)

EU-Militärstrategie – ein Präventivkriegskonzept?

Während die Verhandlungen über eine neue EU-Verfassung scheiterten, wurde in Rom eine verbindliche Militärstrategie verabschiedet. Bereits vorher hatte sich der deutsche Bundeskanzler gewundert, dass die Vorlage – die weitgehend die Vorstellungen der deutschen und französischen Regierung wiedergibt – von allen EU-Staaten akzeptiert wurde: „Zunächst ist es angesichts der innereuropäischen Differenzen in der Irak-Frage bemerkenswert, dass Javier Solanas Entwurf für eine europäische Sicherheitsstrategie von allen EU-Partnern positiv aufgenommen worden ist.“ (Internationale Politik, Nr.9-2003)

Tatsächlich wurde Solanas Vorlage im wesentlichen unverändert verabschiedet. Sie benennt drei strategische Ziele:

  • den Kampf gegen Terrorismus,
  • den Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und
  • Hilfe für »zusammengebrochene Staaten« als Mittel gegen organisierte Kriminalität.

Wie die EU militärisch agieren wird, ist ebenfalls im Strategiepapier erwähnt: „Als eine Union mit 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können.“ Und an anderer Stelle: „Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“

»Verteidigungslinien« die im Ausland liegen, das erinnert an das »Präemptivkriegskonzept« aus der »National Security Strategy« der US-Regierung. Die Begriffe »Präemptivkrieg« oder »Präventivkrieg« wurden allerdings von der EU vermieden. Dazu heißt es auf der Homepage der Bundesregierung: „Der umstrittene Begriff »preemptive engagement« wurde durch »preventive engagement« ersetzt“. Offizielle Erklärungen erwecken den Eindruck, mit dem Begriff »Prävention« sei Konfliktvorbeugung gemeint. Die Neue Zürcher Zeitung (15.12.03) vermutet dagegen, dass der Begriff »preemptive« vermieden wurde, weil es sich um ein »Reizwort« handele. Und für die International Herald Tribune (09.12.2003) ist der Begriff nur ausgetauscht worden, weil es in einigen EU-Sprachen einfach keine Wörter für »preemptive« gibt. Unabhängig davon: Verteidigungslinien im Ausland, das ist eine Umschreibung für »Angriffsaktionen«, und angreifen bevor der Gegner angreifen kann, das ist eine völkerrechtswidrige Aggression.

EU und NATO, Hand in Hand

Die EU-Militärstrategie spricht davon, dass in „einer Welt globaler Bedrohungen, globaler Märkte und globaler Medien … unsere Sicherheit und unser Wohlstand immer mehr von einem wirksamen multilateralen System ab(hängen) … Eine aktive und handlungsfähige Europäische Union könnte Einfluss im Weltmaßstab ausüben. Damit würde sie zu einem wirksamen multilateralen System beitragen, das zu einer Welt führt, die gerechter, sicherer und stärker geeint ist.“ Hier sind sie formuliert, die Weltmachtambitionen der EU. Bereits bei der Vorstellung der EU-Militärstrategie hatte Javier Solana am 12.11.2003 in Berlin hervorgehoben: „Die EU wird zu einem globalen Akteur.“ Damals stellte er ebenfalls klar, dass EU und NATO eng kooperieren werden: „Im Rahmen dieses Netzes ist und bleibt die NATO für die Gewährleistung unserer Sicherheit von grundlegender Bedeutung, und zwar nicht als Konkurrent, sondern als strategischer Partner.“ Innerhalb der EU soll eine »Beistandspflicht« eingeführt werden. Für die bisher (noch formal) neutralen EU-Staaten, Österreich, Finnland, Irland und Schweden würde das dann die endgültige Aufgabe ihrer Neutralität bedeuten.

Aufrüstungsverpflichtung auch ohne EU-Verfassung

Die EU hatte beschlossen ein »Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« einzurichten – das 2004 seine Arbeit aufnehmen soll – und dieses Amt in der EU-Verfassung zu verankern. Doch vor dem Gipfel von Rom wurde dieser Komplex ausgekoppelt und unabhängig von der Verfassung in der EU-Militärstrategie festgeschrieben: Auch die für die EU-Verfassung vorgesehene Aufrüstungsverpflichtung – „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Artikel I-40, Absatz 3) – wird jetzt im EU-Strategiepapier geregelt: „Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt werden.“ Die Regierungen innerhalb der EU, die eine intensive Fortentwicklung der militärischen Komponente wollen, haben mit der EU-Militärstrategie vieles von dem bekommen, was sie mit dem vorgelegten EU-Verfassungsentwurf erreichen wollten. Der entscheidende Unterschied: Die Entwicklungen im Militärbereich werden jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit in »unterschiedlichen Geschwindigkeiten« ablaufen, ein »militärisches Kerneuropa« um Deutschland und Frankreich rückt näher.

Militarisierung der EU

Die Militarisierung der EU ist in vier Bereichen sehr weit vorangeschritten:

  • Erstens bei der Bildung einer EU-Interventionstruppe mit 60.000 Soldaten, die in diesem Jahr einsatzfähig sein soll.
  • Zweitens – und das wird in der Diskussion häufig übersehen – in Gestalt der schon länger vorhandenen verschiedenen bi- und multinationalen Korps.
  • Drittens durch die Oligopolisierung und Stärkung der europäischen Kriegswaffenindustrie.
  • Viertens – und das ist neu – durch die Gründung von »Battle Groups«. Deutschland, Großbritannien und Frankreich wollen sieben bis neun Gefechtsgruppen zu je etwa 1.500 Mann einrichten, die innerhalb von 15 Tagen für Militäreinsätze auf der ganzen Welt von 30 bis 120 Tagen Dauer mobilisiert werden können. Diese »Battle Groups« sollen „in voller Kompatibilität mit den Fähigkeiten der NATO entwickelt“ werden.

Die EU-Interventionstruppe

Die EU-Staaten haben schon seit längerem die Bildung einer EU-Interventionstruppe vereinbart. Insgesamt haben die Regierungen der EU (mit Ausnahme Dänemarks, das sich nicht an der militärischen Komponente der EU beteiligt) und der EU-Kandidaten ca. 100.000 SoldatInnen »angemeldet«, von denen 60.000 für ein Jahr permanent weltweit einsatzfähig sein sollen. Diese Interventionstruppe soll innerhalb von 60 Tagen einsatzfähig sein. Selbst der Interventionsradius von 4.000 km rund um Brüssel wurde verbindlich festgelegt, allerdings wurde er beim ersten »Probeeinsatz« im Kongo schon überschritten. Die EU-Interventionstruppe ist keine »stehende Truppe«, sie wird aus den bereitgehaltenen Truppenkontingenten jeweils zusammengestellt.

Politisch interessant ist die Zusammensetzung der Truppe: Österreich 3.500, Belgien 1.000, Großbritannien 12.500, Finnland 2.000, Frankreich 12.000, Griechenland 3.500, Irland 1.000, Italien 6.000, Luxemburg 100, Niederlande 5.000, Portugal 1.000, Schweden 1.500. Deutschland stellt mit 18.000 das mit Abstand größte Kontingent – fast ein Drittel der EU-Interventionstruppe.

Um 18.000 einsatzfähige SoldatInnen zu haben, sind 32.000 notwendig, die extra dafür ausgebildet werden. Dieses wurde von der Bundesregierung auch zugesagt. Zugesagt wurden außerdem 93 Kampf-, 35 Transport- und 3 Überwachungsflugzeuge, vier Kampfhubschrauber und Einheiten der Marine.

Die Fähigkeiten der Bundeswehr beziehen sich vor allem auf die Bereiche Strategische Aufklärung, Führungsfähigkeit und Strategische Verlegefähigkeit. Der Befehlshaber der EU-Truppe wird der deutsche General Rainer Schuwirth. Der wahrscheinliche Kern eines »Operation Headquarters« der Europäischen Union ist das Einsatzführungskommando in Potsdam-Geltow. Die FAZ (10.07.2001) über die Befehlszentrale in Potsdam: „Mit dem Einsatzführungskommando verfügt die Bundeswehr über einen operativen Führungsstab auf der Armee-Ebene, der in seinen Funktionen Aufgaben wahrnimmt, die in den früheren deutschen Armeen von Generalstäben wahrgenommen wurden.“

Bei den EU-Planungen geht es darum, eine Interventionstruppe zu schaffen, die mit oder ohne Rückgriff auf das NATO-Equipment, also unabhängig von der NATO und damit auch unabhängig von der USA, agieren kann. Auf der Homepage der Bundesregierung hört sich das so an: „Diese Kräfte in Form einer europäischen Eingreiftruppe sollen für gemeinsame Einsätze der EU unabhängig von der NATO zur Verfügung stehen.“ (www.bundesregierung.de) Auch wenn Solana die NATO „nicht als Konkurrent, sondern als strategischen Partner“ sieht, Militärinterventionen der EU, an denen die US-Regierung kein Interesse hat oder bei denen sogar andere US-Interessen vorliegen, bergen die Gefahr in sich, dass es zu deutlichen Zuspitzungen im Verhältnis EU – USA kommt.

Die multinationalen Korps

Zentrales Element der EU-Militärpolitik sind die seit langem bestehenden diversen multinationalen Korps. Hier gibt es

  • das Eurokorps mit deutschen, belgischen, spanischen, französischen und luxemburgischen Truppen,
  • das Eurofor mit Truppen aus Spanien, Frankreich, Italien und Portugal,
  • das Euromarfor bestehend aus Truppen der gleichen Länder,
  • die europäische Luftfahrtgruppe mit deutschen, belgischen, spanischen, französischen, italienischen und britischen Verbänden,
  • die in Deutschland befindliche Multinationale Division unter britischer Führung mit deutschen, belgischen und niederländischen Truppen
  • und das in Afghanistan zum Einsatz kommende Deutsch-Niederländische Korps, dem zeitweise dort die »Lead-Nation-Funktion« übertragen wurde.

Seit September 2002 ist das Eurocorps bei der NATO als »Rapid Reaction Corps« anerkannt. Der Vorzeigetruppe der EU soll die Führung der Afghanistan-Schutztruppe ISAF übertragen werden. „Weiter ist beabsichtigt, der Nato auch die operative Führung“ des noch laufenden Krieges in Afghanistan „zu übertragen.“ (FAZ, 04.02.2004) Nach Angaben der FAZ werden die dazu erforderlichen Truppenverstärkungen in der Nato auf 5.000 bis 14.000 Mann geschätzt. Das läuft auf eine Zusammenlegung der beiden bisher aus guten Gründen getrennt geführten Operationen »Enduring Freedom« und »ISAF« hinaus. Im Rahmen von »Enduring Freedom« wurden und werden die Kriegs- und Kampfeinsätze in Afghanistan durchgeführt, an denen sich zeitweise auch Soldaten des deutschen Kommando Spezialkräfte beteiligten. »ISAF« war bisher »nur« für die so genanntenen Stabilisierungseinsätze zuständig. Mit dem Bundestagsbeschluss zum Einsatz von Soldaten in der Region Kundus wurde allerdings eine erste Aufweichung dieser harten Trennung vorgenommen.

EU-Truppen in den Irak?

Die USA wünschen offensichtlich eine offizielle Rolle der NATO bei der Besatzung des Irak. Wie beim Treffen der NATO-Militärminister im Kontext der Münchner »Sicherheitskonferenz« im Februar 2004 besprochen, soll beim nächsten Treffen der NATO-Militärminister in Istanbul, im Juni 2004, eine NATO-Operationsplanung für den Irak beschlossen werden. Für den Einsatz gegen Ende des Jahres oder Anfang nächsten Jahres sind 30.000 bis 45.000 Soldaten in der Diskussion. Als Hauptquartiere sind das Allied Rapid Reaction Corps (ARRC) in Mönchengladbach und das Deutsch-Niederländische Korps im Gespräch. „In beiden Führungsstäben stellt die Bundeswehr einen Großteil des Personals“, so die FAZ (04.02.2004). Deutsche Soldaten wären dann durch ihre Beteiligung an den Führungsstäben konkret in die Besatzungspolitik des Iraks eingebunden. Die Anti-Irakkriegsposition der deutschen Regierung – bereist angekratzt durch die indirekte Unterstützung der US-Militäroperationen von deutschem Boden aus und durch die Hilfestellung für die US-Armee im Kriegsumfeld – wäre damit endgültig in sich zusammengebrochen.

Ausblick

Für die französische Militärministerin, Michele Alliot-Marie, ist die Militärzusammenarbeit zum Schlüsselelement des europäischen Einigungsprozesses geworden. In einem Interview mit der FAZ (05.02.2004) stellt sie fest: „Die Irak-Krise hat die Verteidigungszusammenarbeit in der EU nicht zurückgeworfen, das Gegenteil ist der Fall. Die Verteidigung ist ein Schlüsselelement des europäischen Einigungsprozesses geworden. Sie kommt schneller voran als damals die Währungsunion.“

In seiner Eröffnungsrede zur Hannovermesse 2003 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder den Zusammenhang hergestellt zwischen dieser Aufrüstungspolitik und dem sozialen Kahlschlag in unserem Land. Er begründete die Notwendigkeit der Agenda 2010 damit, dass „Deutschland seine Rolle in Europa und damit Europa seine Rolle in der Welt … spielen will und soll.“ Man müsse das „Land ökonomisch in Stand setzen, auch die Kraft zu haben und sie diesem Europa zur Verfügung zu stellen, um diese Rolle realisieren zu können.“ (www.bundesregierung.de, eingesehen am 07.04.2003)

Die Erkenntnis ist alt: Geld kann man nur einmal ausgeben, entweder für eine Hochrüstung oder für Bildung und Soziales. Neu ist, dass sich ein sozialdemokratischer Kanzler so absolut offen zu Gunsten der Militarisierung und gegen die Bedürfnisse der Bevölkerung entscheidet.

Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler, Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied der Redaktion von Wissenschaft und Frieden

Kontinuität und Radikalisierung

Kontinuität und Radikalisierung

Die US-Militärpolitik von Clinton zu Bush

von Lars Klingbeil

Selbst der Altmeister der Geopolitik Zbigniew Brzezinksi war gekommen und verurteilte in einer nachdenklichen aber wortgewaltigen Rede die Außen- und Sicherheitspolitik der Bush-Regierung: Man brauche die Europäer, man dürfe nicht auf die Logik der militärischen Präventivschläge setzen, um Probleme zu lösen; die Aufteilung der Welt in »Gut und Böse« verschärfe die weltpolitischen Probleme. Anlass der Rede: Die Zusammenkunft der amerikanischen Demokraten zur Gründung eines eigenen »Think Tank«. Lange – zu lange – hatten sie zugesehen, wie die neokonservativen Kräfte sich um die Heritage Foundation und das American Enterprise Institute gruppierten und massiv personellen und inhaltlichen Einfluss auf die sicherheitspolitische Debatte in den USA gewannen. Damit sich das ändert, organisierte das Center für American Progress1 im Oktober 2003 eine Konferenz zu »New Strategies for Security and Peace«2 und die Bildung eines entsprechenden »Think Tank« unter Leitung von John Podesta, dem ehemaligen Chief of Staff Bill Clintons. Neben Brzezinski sprachen u.a. auch die US-Senatoren Hillary Clinton und Joseph Biden sowie die Sicherheitspolitiker der Clinton-Administration Richard Holbrooke, William Perry, Samuel Berger und Botschafter Wilson.

Zwei Jahre lang konnten oder wollten die Demokraten sich nach dem 11.9. sicherheitspolitisch nicht bewegen. Die Debatte schien gelähmt, Bush und seine Berater hatten nahezu unbegrenzte Handlungsfreiheit. Erst durch die massiven Probleme im Irak, die immensen Kosten des Krieges und der Besatzung sowie durch den eskalierenden Streit im Kabinett Bush, erkennen die Demokraten ihre Chance, wieder sicherheitspolitisch Akzente setzen zu können. Aktuelle Umfragen belegen: Die Sicherheitspolitik ist nicht mehr die alleinige Domäne der Republikaner, die Demokraten können – wie John Podesta sagt – die »Unterschiede« deutlich machen.

Außenpolitische Unterschiede – Gibt es die wirklich?

Zur Beantwortung dieser Frage zunächst ein Blick in die Vergangenheit. Welche sicherheitspolitischen Veränderungen gibt es unter der Bush-Administration gegenüber der Regierung Clintons? Im Golfkrieg 1991 galt noch die Powell-Doktrin, nach der Soldaten nur dann eingesetzt werden, wenn enge sicherheitspolitische Interessen betroffen sind, eine öffentliche Zustimmung vorliegt und vor allem wenn eine »exit strategy« existiert. Unter Clinton gab es eine Ausweitung des Interessensbegriffes. Neben dem vitalen Interesse, das der unmittelbaren Sicherheit der USA galt, definierte er die Verfolgung humanitärer Interessen als Ziel der US-Politik. Diese Ausweitung des Interessensbegriffes wurde mit den so genannten humanitären Interventionen in Somalia, in Bosnien und im Kosovo umgesetzt. Im Wahlkampf 2000 wurden Clinton und sein Stellvertreter Al Gore hart für diese Außen- und Sicherheitspolitik angegangen. Die Republikaner bezeichneten den außenpolitischen Ansatz als »Sozialarbeit« und die USA als »Weltpolizist«, der seine eigenen nationalen Interessen vernachlässigt.3 Bush machte bereits im Wahlkampf deutlich, dass er wieder auf eine an den vitalen Interessen der USA ausgerichtete Politik setzen werde. Die Powell-Doktrin sollte wieder zum Maßstab, Militär nur zur Sicherung eigener Interessen eingesetzt werden, Peacekeeping-Missionen und »nation-building« wurden abgelehnt.4 In den ersten Monaten der Bush-Regierung wurde dieser Kurs rhetorisch beibehalten; auch die Interventionen im Irak und Afghanistan wurden dementsprechend nach dem 11. September 2001 in das vitale Interesse der USA eingeordnet und als sicherheitspolitische Notwendigkeit begründet. Faktisch wurde damit aber die Interventionspolitik Clintons extrem radikalisiert. Das schlägt sich auch nieder in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002. Aus der »Option zu präventiven Handlungen« unter Clinton wurde jetzt das Recht auf die Führung eines Präventivkrieges, an die Stelle der »Sicherung US-amerikanischer Interessen« trat die erklärte Absicht, durch „freie Märkte und freien Handel eine neue Ära globalen Wirtschaftswachstums auszulösen.“ Die erklärte Absicht der offensiven Verbreitung der „Vorzüge der Freiheit in der ganzen Welt“ und der Prinzipien der eigenen »Wertegemeinschaft« beinhaltet den erzwungenen Regimewechsel. 5

Mit der Rumsfeld-Doktrin, die von einem extremen militärischen Übergewicht beim Kampfeinsatz ausgeht und durch Technologiegläubigkeit gekennzeichnet ist, wurde das Militär risikofreundlicher.

Neue Logik in der Militärstrategie

Ein bedeutender Wandel hat in der Konzeption der Militärstrategie stattgefunden. Zwar hält die Bush-Administration an der »Zwei-Kriege-Konzeption« der Clinton-Administration fest. Die ursprüngliche Intention des ersten Verteidigungsministers Clintons, Les Aspin, durch die Ausrichtung auf die Führung zweier gleichzeitig stattfindender Regionalkriege den Umfang der amerikanischen Streitkräfte reduzieren zu können, wurde unter Bush allerdings verworfen. Die von ihm angestrebte absolute militärische Dominanz und Möglichkeit der Präventivkriegsführung beinhaltet sowohl den Regimewechsel als auch die Besatzung eines Landes.6 Das erfordert den Ausbau militärischer Kapazitäten. Die Planungen sollen sich dementsprechend nicht mehr an potentiellen Gegnern und Bedrohungen ausrichten (threat based approach), sondern gewährleisten, dass alle Fähigkeiten gegeben sind, auf alle Szenarien mit allen möglichen Mitteln umfassend reagieren zu können und alle potentiellen Gegner zu besiegen (capabilities-based approach). Einhergehend hiermit setzten die USA auf »Full Spectrum Dominance«. Das Ziel: Diese Überlegenheit umfassend in allen militärischen Teilbereichen, also auch im Weltraum und in der Informationsbeschaffung und -auswertung, anwenden zu können.

Weiter wurde die »Forward Deterrence« vorangetrieben. Um global und schnell auf eine Gefährdung amerikanischer Sicherheit reagieren zu können, sollen die weltweiten Regionalkommandos und Militärbasen der USA umstrukturiert werden (Standing Joint Task Force Headquarters). Als eigenständiges Hauptquartier verfügen sie mit der »Standing Joint Task Forces« jederzeit über eine eigene Einsatztruppe und können ohne aufwendige Unterstützung von außerhalb auf Sicherheitsbedrohungen reagieren. Mit hochmodernen Waffen soll zudem ein präziser Angriff auch aus einer größeren Distanz möglich werden (long range power projection). Dieser Ansatz einer schnellen, militärischen Reaktion auf eine Sicherheitsbedrohung drängt andere sicherheitspolitische Elemente, etwa politische oder wirtschaftliche Maßnahmen, in den Hintergrund. Die verschiedenen Änderungen in der Militärstrategie wurden schon während der Amtzeit Clintons diskutiert, allerdings überwogen damals Skepsis und Widerstand innerhalb der Administration und des Militärs. Über den 11. September 2001 wurden dann umfangreiche Transformationsprozesse legitimiert.

Die Bedeutungszunahme der militärischen Macht lässt sich auch an dem drastisch erhöhten Verteidigungsetat ablesen. Der Etat war in den ersten Jahren unter Clinton gesunken (1994: 263 Mrd. Dollar) und dann gegen Ende seiner Amtszeit wieder erhöht worden (1999: 292 Mrd. Dollar). Unter Bush ist der Etat mittlerweile um 100 Milliarden Dollar auf über 400 Mrd. Dollar in 2004 gestiegen. Hinzu kommen zahlreiche Notpakete mit denen die Kriegseinsätze in Afghanistan und im Irak finanziert werden. Der Etat des Außenministeriums hat sich in den letzten Jahren hingehen nur minimal erhöht – von 23,5 Mrd. im Jahr 2000 auf 25,7 Mrd. in 2003. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es hier innerhalb des Budgets eine massive Verschiebung zugunsten von Militär- und Entwicklungshilfe für Staaten gegeben hat, die die USA im Kampf gegen den Terrorismus unterstützen.

Proliferation von Massenvernichtungswaffen

Mit dem Ende des »Kalten Krieges« und dem Zerfall der Sowjetunion verloren die USA das Feindbild, das bis dahin für ihre sicherheitspolitische Konzeption ausschlaggebend war (empire of evil). An diese Stelle trat dann sehr schnell als neue Bedrohung die Gefahr der Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Clinton setzte in seinen ersten Amtsjahren vor allem auf Rüstungskontrollabkommen um dieser Gefahr zu begegnen (1993 die Chemiewaffenkonvention, 1995 die unbefristete Verlängerung des atomaren Nicht-Verbreitungsvertrages). Parallel dazu wurde jedoch seit Ende 1993 als letztes Element einer umfassenden Strategie zur Sicherung der Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen der gezielte Militäreinsatz konzipiert. Gegen Ende der Amtszeit Clintons kam es zur Krise des Rüstungskontrollansatzes, als der nukleare Teststoppvertrag im Kongress blockiert wurde. Als Präsident hat Bush diese Politik zugespitzt. Im »Nuclear Posture Review« von 2002 wird die Möglichkeit skizziert, Nuklearwaffen auch gegen Staaten einzusetzen, die selbst über keine Massenvernichtungswaffen verfügen. Die Schwelle für den nuklearen Erstschlag sinkt damit erheblich. Die Rüstungskontrollpolitik hat weiter an Bedeutung verloren, in den Vordergrund gerückt ist dafür die präventive (militärische) Abwehr von möglichen Angriffen gegen die USA. Der Einsatz von Militär ist nicht mehr letztes Mittel, sondern eine gleichberechtigte Option. Gleichzeitig wird der militärische Heimatschutz mit dem Raketenabwehrsystem ausgebaut. Die Mittel hierfür wurden im Jahr 2004 auf 10 Milliarden Dollar erhöht.

Terrorismus und »axis of evil«

Auch die so genannten Schurkenstaaten (»rogue states«) rückten bereits mit dem Ende des Kalten Krieges stärker in den Blickwinkel der USA. Sie wurden als Bedrohung für die Stabilität in wichtigen Regionen der Welt, wie der Golfregion, gesehen. Eine direkte Bedrohung für die USA – oder für ihre Interessen – analysierte man damals jedoch nicht. Die Politik Clintons setzte darauf, durch »Eindämmung« eine Änderung der Politik dieser Staaten zu erreichen, sie versuchte gleichzeitig den »rogue states« präventiv die Mittel und Möglichkeiten zu entziehen, die diese für die Umsetzung ihrer Ambitionen benötigten. Präsident Clinton spitzte vorübergehend im Laufe seiner Amtszeit die Bedrohungsanalyse durch Schurkenstaaten zu und legitimierte so ein offensiveres sicherheitspolitisches Agieren der USA. Vor dem Ende der Regierung Clinton wurde die Bedrohungsanalyse dann wieder herabgestuft, die »rogue states« wurden nur noch als »states of concern«, als besorgniserregende Staaten, bezeichnet. Dies sollte einen konstruktiveren Umgang ermöglichen. Die Republikaner warfen Clinton im Wahlkampf vor, mit der Eindämmungsstrategie gescheitert zu sein und forderten ein offensiveres Vorgehen, gegen die »rogue states«.

Es deutete sich von Beginn der Bush-Administration an, dass sie die Politik gegenüber den »rogue states« radikalisieren und auch in Betracht ziehen würde, mit allen Mitteln gegen diese vorzugehen.7 Unmittelbar nach den Attentaten des 11. Septembers nutzte die Bush-Regierung dann die Gelegenheit, um neben dem Terrorismus die Gefahr durch so genannte Schurkenstaaten herauszustellen. Es kam zu einer deutlichen rhetorischen Zuspitzung der Bedrohung durch diese Staaten. In der »State of Union« vom Januar 2002 erklärte Bush schließlich, die USA seien durch die »axis of evil« bedroht. Die Achse des Bösen – Irak, Iran und Nordkorea – stehe für alle aktuellen Bedrohungen: Terrorismus, »rogue states« und Massenvernichtungswaffen. Die Auseinandersetzung mit der »axis of evil« wurde somit als wichtiges Element in den Kampf gegen den internationalen Terrorismus eingeordnet. Gegen diese neue Bedrohung sollte offensiv vorgegangen werden. Asymmetrischen Bedrohungen – so die Logik der Administration – müsse man zuvorkommen und ihnen mit präventiven Militärschlägen begegnen.

Von Clinton zu Bush: Alles neu?

Ob in der Bedrohungsanalyse oder den Strategien »Bedrohungen« zu begegnen, bei der Militärstrategie oder in der Interventionspolitik: Überall konnte die Regierung Bush anknüpfen an Entwicklungen, die schon unter Präsident Clinton eingeleitet wurden. Die Demokraten waren Wegbereiter der Politik George W. Bushs. Doch Bush hat unter Ausnutzung des 11. Septembers diese Politik nicht kontinuierlich fortgesetzt, sondern radikalisiert. Die Demokraten haben mit ihrer Politik der humanitären Intervention den Einsatz des Militärs politisiert und die internationale Rechtslage missachtet. Bush setzt dort heute an, wenn er „Demokratie und Entwicklung, freie Märkte und freien Handel in jeden Winkel der Erde“ tragen will, wenn er davon spricht, dass die USA ihre Interessen „national wie international“ verteidigen, indem sie „die Bedrohung identifizieren und zerstören, bevor sie unsere Grenzen erreicht“, indem er die internationale Rechtslage missachtet und ankündigt „notfalls allein zu handeln und … präventiv gegen Terroristen vorzugehen:“8 Eine Politik, die mit dem Irakkrieg exekutiert wurde. In der Summe lassen sich also massive Veränderungen in der Sicherheitspolitik der Bush-Administration gegenüber der Amtszeit von Präsident Clinton feststellen und die Demokraten haben Recht, wenn sie auf der eingangs zitierten Strategiekonferenz feststellten, dass es unter George W. Bush viele Entwicklungen in der Sicherheitspolitik gibt, die einer massiven Kritik bedürfen. Jedoch sollten sie ihre eigene Rolle dabei nicht übersehen.

Anmerkungen

1) www.americanprogress.org

2) Die Konferenz fand am 28.-29. Oktober in Washington statt. Der Videomitschnitt und Dokumentation von einigen Reden finden sich auf der Homepage www.newamericanstrategies.org. Weitere Zitate der Konferenz entstammen der persönlichen Mitschrift des Autors.

3) RICE, Condoleezza: Promoting the National Interest, in Foreign Affairs, Volume 79, No.1, January/February , S. 45-57, Washington DC 2000, S. 53.

4) Vgl. O´Hanlon, Michael E.: A Reality Check for the Rumsfeld Doctrine, in: Financial Times, 29. April 2003.

5) Neue Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002, zitiert nach FR vom 28.09.2002.

6) Department of Defense: The Quadrennial Defense Review Report, 30. September 2001, Washington DC 2001.

7) Vgl. Zoellick, Robert B.: Essentials republikanischer Außenpolitik, in: Internationale Politik, 3/2000, S. 49-50, Berlin 2000.

8) Neue Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002, zitiert nach FR vom 28.09.2002.

Lars Klingbeil ist Mitglied der W&F-Redaktion. Er arbeitet derzeit in den USA an seiner Magisterarbeit zum Thema »Das sicherheitspolitische Konzept der USA nach dem 11. September – Bruch oder Kontinuität

Rosige Ankündigungen, graue Taten

Rosige Ankündigungen, graue Taten

Zum außen- und sicherheitspolitischen Teil des SPD/Grünen-Koalitionsvertrags

von Paul Schäfer

Die »rot-grüne« Regierungsübernahme 1998 nach 16 Jahren Helmut Kohl war von großen Erwartungen begleitet. Nicht zuletzt die Koalitionsvereinbarung nährte diese Hoffnungen. In ihr fanden sich nicht wenige Anliegen engagierter Gruppen im außerparlamentarischen Bereich wieder. Joschka Fischer war zwar vor Amtsantritt nicht müde geworden, Kontinuität zu betonen, aber konnte man das nicht gut und gerne unter diplomatischer Routine abhandeln? „Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“, lautete der erste Satz des Abschnitts über internationale Politik. Doch die Tinte unter dem Koalitionsvertrag war kaum trocken, als die neue Regierungscrew nach Washington bestellt wurde, um Deutschland auf einen NATO-Militäreinsatz im ehemaligen Jugoslawien einzuschwören. Die Enttäuschung saß tief, dass es just diese Regierung war, die erstmals eine unmittelbare deutsche Beteiligung an Kriegshandlungen vollzog. Manche trösteten sich damit, dass es sich um eine einmalige Entgleisung gehandelt haben könnte. Aber nach dem 11.9.2001 prägte Kanzler Schröder das Wort von der „Enttabuisierung des Militärischen“. Wenn er dennoch wiedergewählt wurde, dann nicht dieses Satzes wegen, sondern weil sich »Rot-Grün« im Wahlkampf als besonnene Anti-Kriegspartei präsentierte. Doch was gilt nun nach der erfolgten Wiederwahl? Welche Aufschlüsse gibt diesbezüglich die Koalitionsvereinbarung?
Mit der deutschen Beteiligung am NATO-Luftkrieg waren wichtige Kernsätze des Koalitionsvertrages (Bedeutung der Vereinten Nationen, Wahrung des Völkerrechts) Makulatur geworden. Wenn jetzt viele Aussagen des Vertrages von 1998 wiederholt werden, ist davon auszugehen, dass wieder das gleiche Grundmuster bedient wird. Tatsächlich überwiegt, wenn man die Koalitionsverträge von 1998 und 2002 vergleicht, Kontinuität – bei einigen Neuakzentuierungen.

Widerspruch zwischen Deklaration und politischer Praxis

Der frisch gebackene Außenminister Fischer prägte damals den bemerkenswerten und klugen Satz, man wolle Kontinuität, um Spielräume für neue Politikansätze überhaupt eröffnen zu können. Doch damit war es nicht weit her. Bescheidene Vorstöße, etwa zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte durch Oskar Lafontaine oder zur Revision der NATO-Doktrin vom atomaren Erstschlag, wurden, nachdem man sich eine Abfuhr eingehandelt hatte, schlicht ad acta gelegt. Neu scheint nun ein gewisser »Realismus« zu sein, der darin zu bestehen scheint, dass man solche kühnen Vorstöße gar nicht mehr erwägt.

Ein neuer Akzent liegt auch darin, dass unter dem Eindruck der Terroranschläge allenthalben von Sicherheitserfordernissen die Rede ist. In der Regierungserklärung von Gerhard Schröder wird dieses Leitmotiv deutlich betont. Der Bundesregierung gehe es um „eine Gesellschaft, die […] umfassend Sicherheit bereitstellen kann.“1 International werbe die Regierung für einen erweiterten Sicherheitsbegriff, hieß es da.

Zum deklarierten Kontinuum deutscher Außenpolitik (gewissermaßen auch die Standards rot-grüner Außenpolitik) gehören:

  • Eine multilateral ausgerichtete Politik, die bei der Lösung globaler Probleme auf die UNO und ihre »Unterorganisationen«, wie der OSZE setzt;
  • der hohe Stellenwert der transatlantischen Zusammenarbeit, der sich in einem Bekenntnis zur loyalen Partnerschaft mit den USA und zur Unverzichtbarkeit der NATO äußert;
  • die überragende Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses für die deutsche Politik;
  • Abrüstung & Rüstungskontrolle, Entwicklungspolitik als globale Zukunftssicherung.

Eine kritische Sicht auf den Koalitionsvertrag wird nicht nur Widersprüche zwischen den verschiedenen Grundelementen dieser Orientierung aufspüren, sondern auch den Konkretionsgehalt der jeweiligen Abschnitte genauer unter die Lupe nehmen müssen. Diese Prüfung wird im Lichte der Erfahrungen vorgenommen werden. Was bedeutet die Widerborstigkeit der Schröder/Fischer-Regierung in Sachen Irak-Krieg für den künftigen Kurs der Regierung? Wie ernst sind dieses Mal die Aussagen zu werten, dass man das Völkerrecht beachten wolle, dass den Vereinten Nationen eine Schlüsselrolle zukomme, dass man für Gewaltverzicht eintrete?

Schlüsselfrage Nr. 1: US-Empire

Die gegenwärtige Irak-Politik macht das Dilemma der Schröder/Fischer-Regierung schlaglichtartig klar: Man hat ernste Einwände gegen den geplanten US-Krieg. Dessen Legitimation stünde nach Meinung der Bundesregierung auf schwachen Füßen; der Krieg käme ungelegen, weil er die Bewältigung akuter anderer Krisenherde (Afghanistan, Kaschmir, v.a. Nahost) erschwert und weil er die Gefahr unkontrollierbarer Entwicklungen in der Golfregion immens verstärkt. Andererseits ist die Bundesregierung nicht kategorisch gegen Militärinterventionen, wenn es um die Durchsetzung »westlicher« Interessen geht (die ja gerne als »Verantwortung der Weltgemeinschaft« verbrämt werden). Das Kanzler-Wort von der »Enttabuisierung des Militärischen« bleibt im Koalitionsvertrag unerwähnt, wird aber eben auch nicht widerrufen. Die Bundesregierung trägt das Strategische Dokument der NATO vom April 1999 mit, das sog. »friedensschaffende« Militäreinsätze der Allianz vorsieht.

Ist es vor diesem Hintergrund mehr als Zufall, dass die Zielstellung der 98er-Vereinbarung, die Aufgaben der NATO jenseits der Bündnisverteidigung an die Normen und Standards von VN und OSZE binden zu wollen, dieses Mal fehlt? In diesem Kontext genauso entscheidend: Die Bundesregierung akzeptiert die Führungsrolle der USA, nicht nur beim Kampf gegen den Terrorismus, sondern bei der Sicherung der gemeinsamen »Werte« und »Interessen«. Ihr Einwand gegen den drohenden Krieg bezieht sich ausschließlich auf die neue aggressive US-Strategie, unliebsame Regimes militärinterventionistisch – auch ohne Legitimation des VN-Sicherheitsrates – stürzen (»regime-change«) zu wollen. Dieser Einwand ist zwar erheblich, aber doch nicht so kategorischer Natur, dass die Regierung alles daransetzen würde, den Krieg zu verhindern. Zumal sie – nicht zuletzt nach den erheblichen Verstimmungen im Wahlkampf – alles daran setzen will, ihre Loyalität gegenüber dem Großen Bruder wieder unter Beweis zu stellen.

Daher hat die Bundesregierung eine moderate Linie des Widerspruchs gewählt: Keine Beteiligung eigener militärischer Verbände, aber auch keine Einwände gegen die Nutzung US-amerikanischer Militärbasen hierzulande für Angriffe gegen den Irak, kein demonstrativer Abzug der Spürpanzer aus Kuwait. Schon jetzt ist absehbar, dass man die Differenz zwar nicht aufgeben, aber den USA noch weiter entgegenkommen will. Die Bundesregierung hat eine Erhöhung des militärischen Beitrages der Bundeswehr in Afghanistan angekündigt, der die USA entlasten würde – Minister Struck wurde daraufhin prompt zu Mr. Rumsfeld vorgelassen, musste sein Dinner aber in der Deutschen Botschaft einnehmen. Ob sich die Bundesrepublik, falls es zum Krieg kommt, am sog. post-conflict-building, am Wiederaufbau mit militärischen Mitteln beteiligt, scheint noch nicht endgültig geklärt.

Seit dem Dissens in der Irak-Frage hat die Bush-Administration deutlich gemacht, wie man mit unsicheren Kantonisten umzuspringen gedenkt. Berlin wurde eine Liste von Forderungen übergeben, deren Erfüllung darüber entscheide, ob Deutschland noch einmal „eine zweite Chance“ gegeben werde.2 Darin ging es insbesondere um den NATO-Gipfel in Prag und um deutsches Wohlverhalten in drei Angelegenheiten:

  • Zustimmung zu einer großen, zweiten Ost-Erweiterungsrunde der NATO,
  • Bereitschaft zur Aufnahme der Türkei in die EU und
  • Unterstützung eines Plans zur Aufstellung einer neuen NATO-Eingreiftruppe (»NATO Response Force«).

Die 21.000-Mann starke Truppe soll künftig die Speerspitze der NATO bei der »Terrorismus«-Bekämpfung bilden, genauer gesagt: Sie wird wohl den US-amerikanischen Marines, die als klassisches Expeditionskorps für weltweite Einsätze ausgelegt sind, nachgebildet werden. Der amerikanische Vorschlag soll nicht zuletzt Sand ins Getriebe der EU-Bemühungen um eine 60.000 Mann umfassende Interventionstruppe werfen. Es deutet sich eine Arbeitsteilung an, die den USA und der von ihr geführten NATO die »harten Militäreinsätze« vorbehält, während das europäische Kontingent eher für »peace-keeping-Einsätze« vorgehalten werden soll. Außenminister Fischer hat nun der NATO-Eingreiftruppe unter Vorbehalt zugestimmt. 3 Die neue Truppe müsse mit der Aufstellung der EU-Krisenreaktionskräfte vereinbar sein, sagte er.

Das transatlantische Gezerre um europäische Militäreinsätze wird also weiter gehen. Woran die USA wirklich interessiert sind, hat jüngst NATO-Botschafter Nicholas Burns deutlich gemacht: Deutschland müsse endlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Rüstung stecken. Das wären schlappe 40 Milliarden € (Ist-Stand knapp 25 Mrd.)4 Man kann auch Freunde »totrüsten«.

Die angesprochene Umgangsweise ist kein kurzfristiger Reflex auf Schröders Wahlkampf-»Entgleisung«, sondern konkreter Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins relevanter Teile der US-Eliten. Spätestens seit den Ereignissen von »NineEleven« sehen sie die USA dazu berufen, ein Empire zu errichten, das der Welt Stabilität, Wohlstand und Freiheit garantiert, und nebenbei die eigene, uneingeschränkte Vorherrschaft für das 21. Jahrhundert sichert. Mit der New Security Strategy des Präsidenten Bush wird diese Doktrin festgeschrieben und in entsprechende Schlussfolgerungen gegossen. Dabei geht es um die dauerhafte Sicherung der militärischen Dominanz, um das Recht zu präemptiven Angriffskriegen, wenn es die »eigene Sicherheit« erfordert, und um die langfristige Verhinderung von möglichen Gegen-Allianzen.

Wer die Vereinten Nationen in eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bringen will, wer einer Zivilisierung und Verrechtlichung der Internationalen Beziehungen das Wort redet, muss sich dieses Grundkonflikts bewusst sein: Diese noblen Ziele der Bundesregierung sind den Plänen des US-Empire diametral entgegengesetzt.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Benennung dieses Konflikts in einer von diplomatischen Zwängen geprägten Regierungserklärung wiederfindet. Aber leider ist die Verdrängung dieses harten Widerspruchs Methode bei allen europäischen Regierungen, die deutsche eingeschlossen. Hat man damit vor der gewiss schwierigen Aufgabe europäischer Selbstbehauptung nicht bereits kapituliert?

Die USA unter George W. Bush lehnen internationale Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen ab. Wie also will die Bundesregierung ihr Ziel der „vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen“ durchsetzen? Wie soll die konsequente Ächtung der B- und C-Waffen erreicht werden?

Die US-Administration lehnt die Übertragung von Souveränitätsrechten an eine internationale Gerichtsbarkeit strikt ab. Wie also soll es mit dem Internationalen Strafgerichtshof weitergehen? Soll man sich auf die Art fauler Kompromisse einstellen, wie sie beim ISGH jüngst erzielt wurden? Die »Multilateralisten« dürfen solche Einrichtungen gründen, die aber durch bilaterale Vereinbarungen der USA mit ihren Verbündeten prompt unterlaufen werden?!

Es ist an der Zeit, dass darüber eine offene und harte Debatte geführt wird. Von amerikanischer Seite wurde mit den provokativen Thesen Robert Kagans5 Klartext geredet. Die europäischen Antworten sind bisher eher diffus. Solange muss man sich nicht wundern, dass es außenpolitisch bei schönen Deklarationen bleibt. Den Ansprüchen an eine Politik, die eine friedlichere, eine gerechtere Welt erreichen will, genügt dies nicht.

Schlüsselfrage 2: Gestaltung der Globalisierung

Auch im zentralen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit war in den vergangenen Jahren der Widerspruch zwischen Deklaration und Praxis unübersehbar. Es bedurfte der schrecklichen Terroranschläge von New York und Washington, um den Abwärtstrend bei den Ausgaben zu stoppen. Die Regierung hatte sich zuvor weit von dem anvisierten Ziel der 0,7 Prozent (Anteil Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt) entfernt. Dieser Widerspruch setzt sich fort.

Der gesamte Abschnitt des Koalitionsvertrages zur internationalen Politik ist überschrieben mit »Gerechte Globalisierung«. SPD und Grüne wollen Globalisierung gestalten und dabei von den Prämissen Zivilisierung, Rüstungsbegrenzung und Interessenausgleich zwischen den Weltregionen ausgehen. Doch wer Globalisierung gestalten will, muss zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, wie Globalisierung bis dato »funktioniert« und warum sie ganz andere Folgen als die intendierten zeitigt. Bei der gegenwärtig forcierten Globalisierung dreht sich alles darum, Volkswirtschaften und Gesellschaften für den Weltmarkt zu konditionieren. Dort aber sind die Regulative der großen transnationalen Akteure und des Finanzkapitals bestimmend. Deren Gewinninteressen werden durch internationale Regime besonders unter der Federführung des Internationalen Währungsfonds bisher glänzend bedient, wie es zuletzt Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (»Schatten der Globalisierung«) sehr präzise nachgewiesen hat. Die Folgen dieser Globalisierung können nicht nur in Südamerika, sondern auch in Afrika studiert werden.

Es gibt inzwischen genügend Untersuchungen darüber, wie der gnadenlose Kampf um Ressourcen gerade in Afrika zu immer neuen kriegerischen Auseinandersetzungen geführt hat. Ein Befund, der selbst in Studien der Weltbank nachgelesen werden kann. Wer also der Gewalteskalation in der vormaligen Dritten Welt (»Neue Kriege«) wehren will, muss sein Hauptaugenmerk darauf richten, nachhaltige Entwicklung in den Ländern des Südens zu fördern und sozial gerechtere Verhältnisse im Weltmaßstab herzustellen.

Die Bundesregierung formuliert in diesem Rahmen: „Unser gemeinsames Ziel ist, weltweit ein System globaler kooperativer Sicherheit zu entwickeln, das allen Menschen ermöglicht, friedlich, frei und ohne Not zu leben.“ Dem ist unbedingt beizupflichten, um im nächsten Schritt nach den Mitteln und Wegen zu fragen, die die Regierung einzuschlagen gedenkt, um diesem Ziel näher zu kommen. Nach dem oben Angedeuteten wird einiges davon abhängen, ob die Regierung, in Verbindung mit anderen Akteuren wie der EU, willens und bereit ist, die bisher dominanten Kräfte der Globalisierung in sozialstaatliche und ökologische Schranken zu weisen und etwas Macht an die bisher Machtlosen in den internationalen Strukturen abzugeben. Doch was die Regierung in dieser Hinsicht vorschlägt, bleibt allgemein und zahnlos.

Hieß es noch im 98er Vertrag, dass man sich für die Schließung der Steueroasen einsetzen wolle, geht es jetzt nur noch darum, den Druck auf diese zu erhöhen, „um die Steuergerechtigkeit zu erhöhen“. Vorschläge wie Tobinsteuer und Nutzungsentgelte sollen weiter „geprüft werden“. Dabei hatte sich die Ministerin redlich Mühe gegeben, die Möglichkeiten der Umsetzung der Tobin-Tax wissenschaftlich evaluieren zu lassen.6

Gegenüber den transnational tätigen Unternehmen will man sich dafür einsetzen, dass sie ihre soziale und ökologische Verantwortung anerkennen sollen. Es steht zu befürchten, dass dieser philanthropische Appell wenig fruchten wird.

Der IWF soll eine stärkere Rolle in der Krisenvorbeugung bekommen, dazu sollen Kapitalflüsse und Auslandsverschuldung „intensiver analysiert und transparent“ werden. Das ist ein allzu dürftiges Konzept.

Diese Kritik bleibt auch erhalten, wenn man wohlwollend in Rechnung stellt, dass die Regierungserklärung einige positive Dinge – Entschuldungsinitiative für die Ärmsten der Armen (HIPC), Marktzugang für Entwicklungsländer, fairer Handel – festgeschrieben hat. Auch hier wird es auf die Umsetzung ankommen. Was von manchen Ankündigungen zu halten ist, zeigt u.a. der Punkt »Hermes-Kredite«. Schon im letzten Vertrag wurde versprochen, Exportbürgschaften sollten stärker an soziale und ökologische Erfordernisse gekoppelt werden. Geschehen ist bis dato nahezu nichts. Menschenrechtsverletzungen sollen jetzt bei Anträgen »geprüft« werden. Aber die bisherige Praxis zeigt, dass im Zweifel die Exportinteressen der deutschen Wirtschaft oben an stehen.

Nicht zum ersten Mal wird die Anhebung der staatlichen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit versprochen. Es gehört zur traurigen Bilanz der ersten vier Jahre Rot-Grün, dass man nicht über das Niveau Kohlscher Entwicklungshilfe hinauskam. Schlimmer noch. Zwischenzeitlich sank der Etatansatz. Immer noch ist man unter der 0,3 Prozent Marke (Anteil der Ausgaben am Bruttosozialprodukt). Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Mittel für Osteuropa (Transform) und Südosteuropa (Stabilitätspakt) aus der Allgemeinen Finanzverwaltung in den Etat des BMZ verlagert wurden, war der Rückgang in den letzten Jahren noch einschneidender. Jetzt soll bis zum Jahre 2006 ein Anteil von 0,33 Prozent am Bruttosozialprodukt erreicht werden. Fachleute haben errechnet, dass die Bundesrepublik damit ca. 30 Jahre bräuchte, um auf die Zielzahl 0,7 Prozent zu kommen.

Böse Zungen behaupten vor diesem Hintergrund, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, dass auch noch die Leistungen der Bundeswehr im Rahmen zivil-militärischer Aufbauprogramme (Straßenbau im Kosovo etc.) in den BMZ-Etat hineingerechnet werden (wie dies bereits andere Länder tun). Dann ist die Zielmarke evtl. eher zu erreichen.

Ähnlich verhält es sich mit den Aktionsprogrammen zur Halbierung der globalen Armut, den Aufwendungen für die soziale Grundsicherung in den Entwicklungsländern etc. Den großen Ankündigungen stehen unangemessene Taten gegenüber.

Mit großem Aufwand hat die Bundesregierung beim Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg verkündet (und in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen), dass man „in den nächsten Jahren“ 350 Mio € für verbesserten Wasserzugang bereitstellen wolle. In den nächsten fünf Jahren wolle man 500 Mio. € zum Ausbau der Erneuerbaren Energien und weitere 500 Mio. € zur Steigerung der Energieeffizienz bereitstellen. Solche Botschaften klingen gut. Allerdings hat die Regierung nicht erklärt, dass sie diese Mittel zusätzlich bereitstellen wird. Es geht doch eher darum, dass bisher im Einzelplan des Ministeriums unter verschiedenen Titel eingestellte Ausgaben zusammengefasst und ggf. aufgestockt werden. Um welchen Betrag?

Wie vorbeugende Entschuldigungen wirken die Hinweise im Text, dass die Entwicklungsländer doch selber durch »Gutes Regieren« (»Good Governance«) und durch bessere Finanzaufsicht dafür sorgen sollten, dass es aufwärts geht. Nicht dass diese Botschaft falsch wäre. Aber angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaftspolitik der meisten Länder der Erde mit akribischen Auflagen von den internationalen Finanzinstitutionen reguliert wird, müssen solche Aussagen fast zynisch wirken.

Wir werden daher genau hinzuschauen haben, welche Initiativen die Bundesregierung ergreift (und nicht nur ankündigt), wenn es darum geht, die Partizipationsrechte der Entwicklungsländer in den internationalen Gremien zu stärken. Hier sind sowohl die entwicklungspolitischen NGOs wie auch die Globalisierungskritiker und -kritikerinnen gefragt.

Markenzeichen »zivile Krisenvorbeugung«?

Zivile Krisenprävention und Konfliktbewältigung bezeichnet die Bundesregierung als „Eckpfeiler ihrer internationalen Stabilitäts- und Friedenspolitik.“ Zivile Konfliktbearbeitung soll zum Markenzeichen dieser Regierung werden. Bundesaußenminister Fischer schwärmt gern von einem europäischen Modell des internationalen Krisenmanagements. Dies schließt indes Militäreinsätze nicht aus. Militärisches und zivile »Krisenbearbeitung« sollen ins rechte Verhältnis gesetzt werden. Den USA wird in diesem Zusammenhang implizit vorgeworfen, dass sie militärische Antworten bevorzugen und die zivile Aufgabe des »nation-building« vernachlässigen würden. Das wollen die »Europäer« besser machen. Die Bundesregierung hat in der vergangenen Legislatur mit der Bereitstellung von Ressourcen für zivile Krisenbewältigung (Polizei, Justiz etc.) und dem Aufbau des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) begonnen. Diese Infrastruktur soll nun weiter ausgebaut werden. Eine Schlüsselrolle soll dabei dem jüngst gegründeten »Zentrum für internationale Friedenseinsätze« zukommen. Ein ressortübergreifender Aktionsplan zur »Zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« soll erarbeitet werden.

Man wird sich die dort angesprochenen Maßnahmen im Einzelnen anschauen müssen. Dass der ZFD sinnvolle Beiträge der Konfliktbearbeitung leisten kann, ist kaum zu bestreiten; wenn man sich dabei stärker darauf konzentrieren würde, Menschen aus den Krisengebieten zu qualifizieren, wäre diese Einrichtung noch positiver zu bewerten. (Dass im Kontext der zivilen Krisenvorbeugung die Friedensforschung mehr Mittel erhalten soll, ist ohnehin zu begrüßen). Die Intension der Bundesregierung, auf dem Feld der Zivilisierung der Internationalen Beziehungen besonders aktiv zu werden, enthält Anknüpfungspunkte auch für die Friedensbewegung. Sie muss vor allem genutzt werden, um die Grundsatzdebatte um neue Paradigmen in der Internationalen Politik zu eröffnen. Dabei werden die Widersprüche rot-grüner Außenpolitik in aller Schärfe benannt werden müssen. Bis dato bleibt die zivile Konfliktbearbeitung mehr oder weniger ein Appendix von Militäreinsätzen. Dies schlägt sich nicht nur in der eklatanten Diskrepanz der Mittelbereitstellung zwischen Militärischem und Zivilem nieder. Zivile Krisenbearbeitung hatte bisher in aller Regel eine nachsorgende Funktion nach »Militärinterventionen«. Sie trägt, ob im Quasi-Protektorat Kosovo, oder im Quasi-Protektorat Afghanistan, ausgesprochen paternalistische Züge. Daher muss die Frage erlaubt sein, ob diese Form der Konfliktbewältigung nicht doch nur Bestandteil einer hegemonialen Stabilisierungspolitik ist, die zwar »by the way« Demokratisierungs- und Zivilisierungsfortschritte bringen kann, die aber im Kern vor allem darauf abzielt, Störpotenziale beim Anschluss peripherer Regionen an Weltmarkt und bürgerliche Weltgesellschaft auszuschalten.7 Es geht also primär um die Sichtweise und die Interessen der führenden Industriemächte. Bis dato hat sich diese Form der Stabilitätspolitik, vorsichtig ausgedrückt – siehe Balkan – nicht als durchgängige Erfolgsstory erwiesen. Und der Preis eines solchen dem Militärischen subordinierten Krisenlösungsmodells ist hoch. Dies beginnt bei den zahlreichen Opfern der Kriege. Bislang hat der Ansatz der Bundesregierung weder im nationalen noch im internationalen Maßstab dazu geführt, dass die militärischen Potentiale sukzessiv abgebaut werden. Im Gegenteil.

Die Effektivierung der »Armee im Einsatz«

Die Bundeswehr unterliegt seit dem Beginn der 90er Jahre ständigen Veränderungen. Die Folgen der Deutschen Einheit, der völkerrechtlich und haushaltspolitisch gebotene Zwang der Umfangreduzierung, der Umbau von einer territorialen Verteidigungsarmee zu einer hochmobilen Einsatztruppe, all dies hat viel Unruhe in die Bundeswehr gebracht. Die Kohl-Regierung hatte zwar die Weichen in Richtung Einsatzarmee gestellt und die dafür erforderliche Umrüstung eingeleitet, wollte aber ein Maximum an Besitzstandswahrung mit größtmöglicher Modernisierung verbinden. Dieser Vorsatz scheiterte aber immer wieder an den Zwängen des klammen Bundeshaushalts.

Mit der Einsetzung einer Art »Wehrstrukturkommission« unter Leitung des Ex-Bundespräsidenten von Weizsäcker sollte endlich der Gordische Knoten durchschlagen werden. Doch der unglückliche Vorgänger des jetzigen Verteidigungsministers hatte anderes im Sinn. Auch er wollte eine definitive Reform der Bundeswehr ins Werk setzen, zugleich aber als »Soldatenminister« (Hunzinger lässt grüßen) in die Geschichte eingehen. So entschied er sich für den Mittelweg zwischen den Begehrlichkeiten der Generalität bzw. der Rüstungswirtschaft und den weiter reichenden Vorschlägen der Weizsäcker-Kommission. Die Folge: Die jetzige Regierungsvereinbarung muss das Kommissionspapier wieder aus der Schublade holen und eine neuerliche Reform der Reform in Aussicht stellen.

Mit der Aussage, dass die neuen Aufgaben, die Struktur, die Ausrüstung und die Mittel der Bundeswehr wieder in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden müssen, enthält der Koalitionsvertrag ein halbherziges Eingeständnis, dass die bisherigen Koordinaten der Bundeswehrplanung nicht das letzte Wort sind. Damit sich aber nicht allzu viel Unruhe verbreitet, sollen größere Revisionen erst zum Ende der Legislaturperiode vorgenommen werden. Ob dazu die Infragestellung der Wehrpflicht oder zumindest deren Modifikation gehören wird, steht noch nicht fest. Minister Struck muss allerdings unmittelbar damit beginnen, einige Beschaffungstitel auf den Prüfstand zu stellen. Das betrifft vor allem die Stückzahl des neuen Transportflugzeugs A 400 M. Die eskalierende Krise der Staatsfinanzen wird eine weitere Deckelung der Rüstungsausgaben unausweichlich machen.

Dabei wird aber vor allem an Einsparpotenziale durch Strukturreformen und durch die Verkleinerung des Personalumfangs gedacht. Denn die Bundesregierung will zugleich ihre Verpflichtungen innerhalb der NATO und des neuen militärischen Zweigs der EU erfüllen. Und die bedeuten in jedem Fall Fortsetzung der Rüstungsmodernisierung. Abrüstungspolitik ist also von der neuen/alten Bundesregierung nicht zu erwarten.

Der verhaltene grüne Triumph, dass man die Zukunftsfragen der Armee wieder aufgemacht habe, sollte uns nicht täuschen. Aber immerhin kann die angekündigte Revision der Bundeswehr-Reform in der Tat genutzt werden, um eine neue gesellschaftliche Debatte über Sinn und Unsinn von Streitkräften zu eröffnen. Die Friedensbewegung und die Kritiker und Kritikerinnen des Militärischen sind gefordert.

Dies wird auch aus anderen Gründen nötig sein: Verteidigungsminister Struck hat die Einbringung eines Bundeswehr-Entsendegesetzes (kurioserweise »Parlamentsbeteiligungsgesetz« genannt) angekündigt, das offenkundig nur einem Zweck dient, die lästige parlamentarische Befassung, bevor Truppen zum Einsatz kommen, einzuschränken.8 Wie der SPIEGEL richtig feststellt, verträgt sich die Absicht, die neue »NATO Response Force« binnen sieben Tage »einsetzbar« (!) zu machen, nicht mit der langwierigen bundesdeutschen Genehmigungsprozedur. Opposition gegen die Aushöhlung parlamentarischer Rechte aus dem gegenwärtigen Parlament heraus, ist kaum zu erwarten. Umso mehr sollten wir Friedensbewegten Alarm schlagen.

Ohne Druck von unten ist keine Widerständigkeit gegen drohende Kriege zu erwarten, wird es keine wirklichen Initiativen zur Abrüstung und Entmilitarisierung geben. Auch die Ankündigungen einer auf Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit gerichteten globalen Strukturpolitik werden ansonsten überwiegend auf dem Papier bleiben.

Anmerkungen

1) Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag am 29. Oktober 2002, in: Bulletin 85-1, 29.10.2002.

2) FAZ vom 23.10.02: Eine „Liste“ Washingtons für Berlin.

3) S. Süddeutsche Zeitung vom 15. November 2002, S. 6.

4) Der SPIEGEL 45/2002, S. 136.

5) Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10`02, Bonn. Siehe auch die Repliken im November-Heft der „Blätter“.

6) „Eine moderne Tobin-Tax gegen Spekulation“, Auszüge einer Studie im Auftrag des BMZ, in: Frankfurter Rundschau vom 22.02.02.

7) Siehe dazu die Beiträge von Peter Lock und Paul Schäfer in: Ulrich Albrecht, Michael Kalman, Sabine Riedel, Paul Schäfer (Hrsg.), Das Kosovo-Dilemma. Schwache Staaten und Neue Kriege als Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Münster 2002.

8) S. Der SPIEGEL 45/2002, S. 136.

Paul Schäfer ist Mitglied der W&F-Redaktion, Köln

US-Vorherrschaft ausbauen und verewigen

US-Vorherrschaft ausbauen und verewigen

Bushs Nationale Sicherheitsstrategie

von Jürgen Wagner

Von dem Zeitpunkt an, als George F. Kennan 1947 unter dem Pseudonym »Mr. X« in der Zeitschrift Foreign Affairs die Grundlagen der Containment-Politik darstellte, verschrieb sich die Außenpolitik der Vereinigten Staaten vorwiegend einem Ziel: Der Eindämmung der Sowjetunion. Nachdem die USA aus der Blockkonfrontation als einzige Supermacht hervorgingen, galt es diese Strategie an die neuen Bedingungen anzupassen. Die Suche nach einer Nachfolgedoktrin begann.
Seit 1986 ist der US-Präsident per Gesetz (»Goldwater-Nichols Act«) dazu verpflichtet, den Kongress detailliert über den künftigen Kurs der US-Außenpolitik zu unterrichten. Während frühere Versuche, eine »Grand Strategy« für die Zeit nach dem Kalten Krieg zu entwerfen, fehlschlugen, soll nun die vom US-Präsidenten am 20. September 2002 vorgelegte Nationale Sicherheitsstrategie (NSS), besser bekannt unter dem Namen Bush-Doktrin, der große Wurf sein.1

Die neue »Grand Strategy«?

Auffällig ist zunächst einmal, dass die NSS eindeutig die Handschrift jener Neokonservativen Hardliner um Vizepräsident Dick Cheney und den stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz trägt, die schon seit Jahren für eine hegemoniale, auf militärische Stärke und deren Anwendung setzende US- Außenpolitik plädieren. Trotzdem sehen nicht wenige in ihr die Nachfolgedoktrin des National Security Council Memorandums (NSC) vom April 1950, das seinerzeit die Containment-Politik offiziell einleitete und fortan von den außenpolitischen Eliten der USA weitgehend im Konsens verfolgt wurde.2

Der Grundgedanke der NSS besteht darin, die Zementierung der US-Hegemonie als neue Leitlinie der US-Außenpolitik zu etablieren. Hierfür integriert sie wichtige Aspekte der beiden dominierenden außenpolitischen US-Denkschulen: Die Verfolgung klassischer Machtpolitik und Interessenswahrung des Realismus findet sich in der NSS ebenso wieder, wie die im liberalen Internationalismus angelegte Forderung nach aggressiver Ausweitung von Demokratie und Marktwirtschaft. Gleichzeitig werden moderatere Elemente, wie die Forderung der »Realisten« nach einem zurückhaltenden Einsatz militärischer Gewalt oder die der »Internationalisten« nach stärkerer Ausrichtung auf multilaterale Kooperation, zugunsten einer konsequenten Verfolgung des eigenen Hegemonialanspruchs über Bord geworfen. „Im schlimmsten Fall“, so John Ikenberry, Professor für Geopolitik an der Georgetown University, geht es hier um „eine neoimperiale Vision, in der die Vereinigten Staaten für sich eine globale Rolle reklamieren: Standards festzulegen, Gefahren zu definieren, Gewalt anzuwenden und Gerichtsbarkeit auszuüben.“3 Dies ist aber lediglich die logische Folge dessen, dass die NSS den eingeschlagenen Weg der US-Außenpolitik konsequent zu Ende denkt, indem der Grundgedanke einer Aufrechterhaltung der eigenen Hegemonialposition mit der hierfür notwendigen aggressiven außenpolitischen Doktrin flankiert wird.

Falls diese Prämisse breite Unterstützung findet, besteht das Hauptproblem nicht darin, dass eine kleine Gruppe von Hardlinern kurzzeitig die US-Außenpolitik dominiert, sondern darin, dass sich die Vereinigten Staaten damit auf Konfrontationskurs mit der restlichen Welt begeben haben. Gerade diese Polarisierung macht die NSS zu einem Dokument, das gründlich und grundsätzlich analysiert werden muss.

Der hegemoniale Konsens

Seit Charles Krauthammer Anfang der 90er den »unipolaren Moment« ausrief, der auf das Ende der Sowjetunion und dem damit verbundenen Aufstieg der USA zur einzigen Supermacht folgte, steht die Forderung nach einer Verewigung der US-Hegemonie im Zentrum des neokonservativen Denkens. Diese neue Aufgabe der US-Außenpolitik wurde in ihren Grundzügen schon vor 10 Jahren in der unter anderem von Cheney und Wolfowitz verfassten »Defense Planning Guidance« festgelegt. Seither zieht sich diese Prioritätensetzung wie ein roter Faden durch neokonservative Veröffentlichungen. So unterstrich eine Studie vom September 2000, an der neben Wolfowitz auch Lewis Libby, Cheneys Stabschef und weitere Mitglieder der Bush-Administration beteiligt waren, dass sich die gesamte US-Außenpolitik diesem Ziel unterzuordnen habe: „Derzeit sieht sich die USA keinem globalen Rivalen ausgesetzt. Die Grand Strategy der USA sollte darauf abzielen, diese vorteilhafte Position so weit wie möglich in die Zukunft zu bewahren und auszuweiten.“4

Den neokonservativen Präferenzen entsprechend übernimmt auch die NSS diese Forderung: „Der Präsident beabsichtigt nicht, es irgendeiner anderen ausländischen Macht zu erlauben, den gewaltigen Vorsprung, der sich den USA seit dem Kalten Krieg eröffnet hat, aufzuholen.“5 Der Rest des Dokumentes dient primär der Umsetzung dieses Zieles.

Allerdings handelt es sich hierbei nicht allein um ein Projekt der äußersten republikanischen Rechten. Nahezu die komplette außenpolitische US-Elite teilt die Auffassung, die US-Strategie müsse sich darauf konzentrieren, keinen ebenbürtigen Rivalen zuzulassen. So war die Bewahrung der US-Vormachtstellung auch unter Clinton das maßgebliche Ziel seiner Außenpolitik.6

Aufgrund der gemeinsamen Prämisse verwundert es nicht, dass es sich bei der NSS „um die konsequente Fortschreibung längst vorhandener respektive sich seit langem abzeichnender Konzeptionen handelt,“7 die auf viele operative Elemente aus der Clinton-Zeit zurückgreift. Allerdings war eine Hauptkritik an Bushs Vorgänger, diese Einzelelemente nicht konsequent zu einem kohärenten Ansatz zusammengefügt zu haben, der sich klar an der Verfolgung von Washingtons Hegemonialanspruch orientierte. Dies mündete in den Vorwurf des »halbherzigen Hegemons« bzw. des »widerwilligen Sheriffs«. Die NSS soll genau diesen Makel beheben und die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit schließen.8

Vom »Containment« zur »Pax Americana«

Galt die bloße Forderung nach einer dauerhaften Vormachtstellung lange als undenkbar, ist sie heute überall zu vernehmen. Als Rechtfertigung dient die Aussage, ein unipolares System mit den USA an der Spitze sei die beste Möglichkeit kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Aufgrund der permanenten staatlichen Interessenskonflikte drohe ansonsten immer die Gefahr einer militärischen Verregelung von Konflikten oder einer erneuten Blockkonfrontation. Jeder relative Machtverlust vergrößere die Bedrohung der USA und müsse deshalb unter allen Umständen verhindert werden. Dieses Ringen um eine »dauerhafte Vormachtstellung« bedingt den ständigen Ausbau der militärisch-ökonomischen Führungsposition und mündet in der Forderung nach einer »Pax Americana« bzw. eines US-Imperiums. Gleichzeitig wird damit versucht, eine im wesentlichen egoistische Politik als pazifizierendes Element der Weltpolitik umzudeuten, an dessen Verfolgung allen Staaten gelegen sein sollte.9

Schon lange vor dem 11. September benannte ein neokonservatives Grundlagenpapier die »Pax Americana« als strategisches Ziel der US-Politik und beschrieb die hierfür notwendigen militärischen Aufgaben (vgl. Tabelle).

Die auffällige Verknüpfung realistischer und internationalistischer Komponenten ist auch zentraler Bestandteil der NSS und zeigt, dass die wesentlichen Elemente der neuen Doktrin sich nicht unmittelbar auf die New Yorker Anschläge beziehen: „Das übergreifende Ziel dieser Strategie ist nicht der Kampf gegen terroristische Gruppen oder Staaten, sondern Erhalt und Ausbau der Ungleichheit zwischen Amerika und dem Rest der Welt und die Vollendung der weltweiten Durchsetzung des amerikanisch dominierten Modells.“11 Der »Kampf gegen den Terror« liefert den Vorwand für die Umsetzung dieser imperialen Strategie und gibt zudem die militärischen Antworten, wie man mit den Folgen dieser Politik umgehen will.

»Full Spectrum Dominance«

„Wir sind wachsam gegenüber einer erneuten Großmachtkonkurrenz“, betont die NSS (S. 30). Um dies zu verhindern müsse das militärische Potenzial der Vereinigten Staaten „groß genug sein, um mögliche Gegner davon abzuhalten, in der Hoffnung die Macht der USA zu übertreffen oder einzuholen, eine militärische Aufrüstung anzustreben.“

Dieser Ruf nach permanenter militärischer Dominanz ist ein zentraler Baustein der US-Hegemonialpolitik. „Amerika sollte versuchen seine globale Führungsposition durch die Übermacht seines Militärs zu bewahren und auszuweiten,“ verkündeten die Neokonservativen schon vor ihrem Einzug ins Weiße Haus.12

Allerdings wurde schon unter Clinton die Doktrin der »Full Spectrum Dominance« erarbeitet. Amerika solle die Dominanz über jeden erdenklichen Gegner auf allen möglichen Schlachtfeldern erlangen, so die bereits 1996 veröffentlichte Joint Vision 2010. Die NSS (S. 29) betont zudem die Bedeutung einer »Vorwärtspräsenz« in „strategisch vitalen Regionen“, was im Einklang mit der nun begonnenen radikalen Ausweitung US-amerikanischer Truppenstationierungen in der kaspischen Region und wohl auch bald am Persischen Golf steht.

Gleichzeitig wird ein Legitimationskonstrukt entworfen, das der Anwendung dieses Potenzials nahezu einen Blankoscheck erteilt.

Proliferation, Präemption und Krieg auf Verdacht

Laut NSS (S. 6) ist die Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln (Proliferation) nun das handlungsleitende Prinzip der US-Regierung: „Unsere unmittelbare Aufmerksamkeit wird sich auf die Terrororganisationen globaler Reichweite und […] staatliche Unterstützer des Terrorismus richten, die versuchen Massenvernichtungsmittel zu benutzen oder an deren Vorläufer zu gelangen.“ Angeblich hätten die Anschläge des 11. September belegt, dass die traditionellen Ansätze – Abschreckung, Eindämmung und Rüstungskontrolle – nach dem Kalten Krieg nicht mehr greifen würden: „Abschreckung, die allein auf einer Drohung mit Vergeltung basiert, funktioniert kaum gegen Führer von Schurkenstaaten, die eher bereit sind Risiken einzugehen.“ (NSS, S. 15) Zusätzlich sei die Möglichkeit einer Weitergabe von Massenvernichtungsmitteln an Terroristen nicht tolerierbar, weshalb die NSS (S. 6) fordert, die „Gefahr zu beseitigen, bevor sie unsere Grenzen erreicht“, indem die USA „nicht zögern werden, wenn notwendig auch allein, durch präemptives Handeln ihr Recht auf Selbstverteidigung auszuüben.“

Während die US-Regierung von Präemption spricht, was eine vom Völkerrecht gedeckte militärische Reaktion auf einen nachweislich und unmittelbar bevorstehenden Angriff darstellt, ist in Wirklichkeit Prävention, die Vorbeugung möglicherweise künftig entstehender, keineswegs sicher auftretender Gefahren gemeint. Dies ist jedoch ein klarer Bruch des Völkerrechts und die faktische Beendigung staatlicher Souveränität.

Gerade in dem als Präzedenzfall vorgesehenen Angriffskrieg gegen den Irak wird deutlich, da eine irakische Aggression wohl kaum bevorsteht, dass er als eine präemptive Aktion nach gängigem Verständnis nicht zu rechtfertigen ist. Auch der US-Regierung scheint dieser Widerspruch bewusst zu sein.Deshalb fordert sie in der NSS (S. 15), das „Konzept unmittelbar bevorstehender Gefahren an die Ziele und Möglichkeiten heutiger Gegner anzupassen.“ Das Beispiel Irak zeigt auch, dass Washington inzwischen der bloße Versuch an Massenvernichtungsmittel zu gelangen, ja sogar der unbewiesene Verdacht, als Kriegsgrund ausreicht.

Zwar wird angegeben, nicht in allen Fällen präemptiv handeln zu wollen, allerdings vermisst man jegliche Kriterien dazu, wann solche Einsätze legitim sein sollen. „Würden die USA das Interventions- und Präventionsprinzip künftig durchgehend anwenden, so ergäbe sich angesichts einer stets vorhandenen latenten Terrorismusgefahr eine geradezu permanente Interventionslage, mit den entsprechenden Gefahren für die internationale Stabilität.“13 Der Anspruch, nahezu beliebig und frei von Restriktionen Staaten militärisch abstrafen zu können, ist offensichtlich und integraler Bestandteil einer »Pax Americana«. Manche Beobachter gehen sogar soweit, der Bush-Doktrin eine strukturelle Ähnlichkeit zur Breschnew-Doktrin zu attestieren, was sicher nicht völlig falsch ist.14

Das verweist auf eine destabilisierende Wirkung der NSS. Wenn die USA auf bloße Anschuldigung hin ein militärisches Eingreifen androhen, ist es wenig plausibel, wieso andere Staaten diese Herangehensweise nicht übernehmen sollten. Russlands explizit mit dem Verweis auf die Bush-Doktrin erfolgte Drohungen gegenüber Georgien zeigen hier die ersten fatalen Folgen. Um dem vorzubeugen dürfen laut NSS (S. 15) „Staaten Präemption nicht als Vorwand für Aggressionen benutzen.“

Die Deutungsgewalt verbleibt aber alleinig in den Händen der einzigen Weltmacht, was wohl eines der entscheidenden Merkmale der neuen Doktrin ist. Während Abschreckung und Rüstungskontrolle lange Zeit auf Gegenseitigkeit beruhten, werden sie heute einseitig angewandt und um eine offensive Komponente ergänzt. So behält sich Washington das Recht vor – entgegen den Zusagen des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages – sein Abschreckungspotenzial auf alle Ewigkeit zu behalten, nennt den gleichen Versuch anderer Staaten aber »nukleare Erpressung«. Während man selbst die Bio- und Chemiewaffenkonventionen verletzt, werden andere Länder ohne Beweise angeklagt solche Waffen zu entwickeln und ihnen deswegen militärische Konsequenzen angedroht. Das Prinzip gegenseitiger Abschreckung kann nicht geduldet werden, da Washington ansonsten seinen Kontrollanspruch in wichtigen Regionen aufgeben müsste.

Die Freiheitsdoktrin

Was Clinton mit seiner 1993 veröffentlichten »Strategy of Enlargement« recht war, ist der Bush-Administration nur billig. Damals wie heute wird versucht die aggressive Ausweitung des neoliberalen Systems als Förderung demokratischer Werte zu verkaufen. Tatsächlich geht es aber nicht darum, Länder zu demokratisieren, sondern sie dazu zu veranlassen, sich an die wichtigsten Spielregeln des kapitalistischen Systems zu halten. Deshalb fordert die NSS (S. 21f.) „Gesellschaften für Handel und Investitionen [zu] öffnen. […] Freie Märkte und freier Handel sind Schlüsselprioritäten unserer nationalen Sicherheitsstrategie.“ Die Ausweitung „demokratischer Zonen des Friedens“ wird hierbei für die US-Strategen zur „militärischen Aufgabe“ (vgl. Tabelle).

Insbesondere seit den Anschlägen des 11. September wird in Sicherheitskreisen eine hierauf abzielende »Freiheitsdoktrin« diskutiert. Diese erfordere „die Eliminierung der gegen die Freiheit gerichteten Kräfte, seien es Individuen, Bewegungen oder Regime. Danach kommt die Konstruktion pro-freiheitlicher Kräfte. […] Schließlich kommt die Etablierung von Regierungen, die die Freiheit ihrer eigenen Bevölkerung ebenso schätzen und schützen, wie dies die Vereinigten Staaten tun.“ Dies sei ein Konzept, das Realisten und Internationalisten, „Woodrow Wilson und Ronald Reagan begrüßen würden“.15

Die Bush-Doktrin rechtfertigt das, indem die »aggressive Demokratisierung« zu einem nationalen Sicherheitsinteresse erhoben wird. Autoritär regierte, fehlgeschlagene Staaten seien selbst dafür verantwortlich, wenn in ihrem Land Terrorismus gedeihe. Das vorgebliche Ziel Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft zu bringen, wird bei Nichterreichen zu einer Gefahr für die USA, der auch klassische Realisten begegnen müssen. Aus diesem Grund sei beispielsweise die »demokratische Transformation« des Mittleren Ostens zwingend notwendig.16

In einer Neuauflage des »humanitären Interventionismus« der 90er Jahre wird hiermit ein weiterer Kriegsgrund etabliert, der die Möglichkeit eröffnet, Staaten gewaltsam in das US-Interessen befördernde Weltsystem einzubinden. Zudem reagiert man auch auf die negativen Auswirkungen des Neoliberalismus, wie auch der Kontrollpolitik in Schlüsselregionen, indem die hierdurch entstehenden, Terrorismus befördernden Spannungen und sozialen Verwerfungen den Staaten selbst in die Schuhe geschoben und als Kriegsgrund gewertet werden. Der vom Westen verwaltete Terrorstaat, wird zur logischen Folge von Neoliberalismus und Kontrollanspruch.

Das Paradox der Hegemonie

Schon Clinton verkündete 1994 er werde die nationalen Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten wenn nötig auch im Alleingang verfolgen. Die NSS (S. 1) erneuert diesen Anspruch, indem sie einen „ausgeprägten amerikanischen Internationalismus“ verkündet, der letztlich darauf hinausläuft, nur dann auf Kooperation zu setzen, wenn diese eindeutig US-Interessen befördert. Im Umkehrschluss hat die Bush-Administration ihre Bereitschaft, hinderliche Vereinbarungen aufzukündigen, mehr als einmal unter Beweis gestellt. Auch das ist eine deutliche Zuspitzung schon lange vorhandener Tendenzen.

Genau an diesem Punkt setzen die meisten Kritiker der Bush-Doktrin an. Sie befürchten, die allzu rigorose Durchsetzung eigener Interessen untergrabe die Legitimität des US-Führungsanspruchs. Ohne Rücksichtnahme auf Verbündete und einer wenigstens ansatzweisen Einhaltung internationaler Verbindlichkeiten werde sich die USA zunehmend isolieren und sich neue Gegner schaffen. Auch werde sie Schwierigkeiten haben, die Vielzahl ihrer Interessen im Alleingang zu sichern.17

So richtig diese Kritik ist, verwischt sie doch den fundamentalen Bedingungszusammenhang zwischen Hegemonialanspruch und der hierfür zwingend notwendigen imperialen Politik. Denn ein hegemoniales System ist eben keineswegs die »gütigste Ordnungsform« (Robert Kagan) sondern basiert im Gegenteil auf einer ausbeuterischen Dominanz, die Ungleichheit zementiert und Konflikte verschärft statt vermeidet. Es gibt ihn nicht, den »wohlwollenden Hegemon«, da sich dieser letztlich das eigene Grab schaufelt. Eine konsequente Beachtung internationaler Vereinbarungen, gar ein Ausbau rechtlicher Strukturen, würde den graduellen Aufstieg anderer Mächte mit sich bringen, damit der rücksichtslosen Durchsetzung eigener politischer und ökonomischer Interessen entgegenstehen und so den Verlust der eigenen Hegemonialposition nach sich ziehen.

Die Verfolgung einer imperialen Strategie verbleibt so als einzige Handlungsoption, nimmt man den Anspruch auf Verewigung der US-Hegemonie ernst.

Allerdings „gibt es ein Problem mit der rosigen Vision einer »Pax Americana«; sie wird nicht funktionieren.“18 Das Paradox der Hegemonie liegt darin, dass eine rigorose Interessenspolitik den imperialen Niedergang beschleunigt:

  • Die Bestrebungen, anti-hegemoniale Allianzen zu bilden, werden proportional zur Rücksichtslosigkeit der US-Außenpolitik zunehmen.
  • Der Verbreitung von Massenvernichtungsmittel wird durch die permanente Androhung militärischer Gewalt massiv Vorschub geleistet.
  • Die mit der Verbreitung des Neoliberalismus einhergehende Verarmung weiter Teile der Welt führt im Inneren zu Verteilungskonflikten, die oft als ethnische Spannungen interpretiert werden und zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung von außen »befriedet« werden müssen. Verbunden mit der notwendigen Kontrolle von Schlüsselregionen wird hiermit der Nährboden für terroristische Gruppen bereitet, die beabsichtigen, der alles dominierenden Weltmacht mit asymmetrischen Mitteln schweren Schaden zuzufügen.
  • Je imperialer sich Washingtons Außenpolitik gibt, desto vielfältiger werden die militärisch zu wahrenden Interessen. Dies führt nicht nur zu zahlreichen Konflikten, sondern auch zu imperialer Überdehnung aufgrund der Fehlakkumulation von Ressourcen durch Überinvestition in den militärischen Bereich.

„Die Pax Americana ist vorüber“, urteilt Immanuel Wallerstein. „Die Herausforderungen in Vietnam, auf dem Balkan, im Mittleren Osten bis hin zum 11. September haben die Grenzen amerikanischer Vorherrschaft offenbart. Werden die USA lernen, ruhig schwächer zu werden, oder werden die US-Konservativen sich widersetzen und dabei einen graduellen Niedergang in einen schnellen und gefährlichen Absturz verwandeln?“19

Nur eine Abkehr von dem alles beherrschenden Gedanken, ewig alleine die Spitze halten zu wollen – im Optimalfall sogar der Entschluss, die augenblickliche Position für den Aufbau einer auf Gleichheit basierenden internationalen Ordnung zu nutzen – wird schwere Konflikte verhindern können. Ein Gedanke, für den sich in Washington – nicht nur unter den Neokonservativen – augenblicklich kaum jemand zu erwärmen scheint.

Anmerkungen

1) The National Security Strategy of the United States of America, The White House, 17.09.02.

2) Schwarz, Klaus-Dieter: Amerikas Mission, SWP Aktuell 38, Oktober 2002, S. 1.

3) Ikenberry, John G.: America’s Imperial Ambition, in: Foreign Affairs, September/October 2002, S. 44-60, S. 44; vgl. auch Hendrickson, David C.: Toward Universal Empire, World Policy Journal, Vol. XIX, No 3, Fall 2002, S. 1-10.

4) Rebuilding America’s Defenses. A Report of The Project for the New American Century, September 2000, S. II; Vgl. auch Wolfowitz, Paul: Remembering the Future, in: The National Interest (No. 59), Spring 2000.

5) Interessanterweise wurde dieser Satz kurz vor der Veröffentlichung noch aus dem Dokument entfernt. Vgl. Press Briefing by Ari Fleischer, Office of the Press Secretary, 20.09.02.

6) Vgl. Schwarz, Klaus-Dieter: Weltmacht USA, Baden-Baden 1999; Rudolf, Peter: ,A Distinctly American Internationalism’, in: IPG, 2/01, S. 127-138.

7) Rose, Jürgen: Die Schlacht zum Feind tragen, Freitag, Nr. 42/02.

8) Vgl. Tucker, Robert: The End of a Contradiction?, in: In The National Interest, Vol. 1, Issue 1, 09.09.02.

9) Vertreter dieser Auffassung gibt es viele. Im akademischen Bereich fand folgender Aufsatz die größte Beachtung: Wohlforth, William C.: The Stability of a Unipolar World, in: International Security, Vol. 24, No. 1 (Summer 1999), S. 5-41.

10) Rebuilding America’s defenses, S. 14.

11) Rilling, Rainer: ’American Empire’ als Wille und Vorstellung, RLS Standpunkte, 9/02, S. 4.

12) Rebuilding America’s defenses, S. IV.

13) Kamp Karl-Heinz: The National Security Strategy, KAS, 25.09.02.

14) Magolis, Eric: A war only the White House wants, Toronto Sun, 25.08.02; Rilling a.a.O., S. 6.

15) McFaul, Michael: The Liberty Doctrine, in: Policy Review, April-May 2002.

16) Vgl. Gaddis, John L.: A Grand Strategy, in: Foreign Policy, November/December 2002, S. 50-57; Podhoretz, Norman: In Praise of the Bush Doctrine, in: Commentary Magazine, September 2002.

17) Vgl. bspws. Nye, Joseph S. Jr.: The American national interest and global public goods, in: International Affairs, vol. 78, no. 2 (2002), S. 233-244.

18) Mearsheimer, John J.: Hearts and Minds, in: The National Interest, No. 69 (Fall 2002).

19) Wallerstein, Immanuel: The Eagle has Crash Landed, in: Foreign Policy, July/August 2002, S. 60-68, S. 60.

Jürgen Wagner ist Vorstandsmitglied der Tübinger Informationsstelle Mitlitarisierung (IMI e.V.). Er bearbeitet dort den Schwerpunkt US-Außen- und Sicherheitspolitik. Aktuelle Buchveröffentlichung: „Das ewige Imperium: Die US-Außenpolitik als Krisenfaktor.“

Aufbruch in die NATOisierung Europas

Aufbruch in die NATOisierung Europas

von Otfried Nassauer

Orte können Symbole sein. Ein NATO-Gipfel in Prag, in einem neuen NATO-Staat, sollte die erneute Erweiterung der Allianz einleiten. Doch ein Jahr nach den Terroranschlägen in den USA stand nicht die Ausdehnung der NATO, sondern deren Umgestaltung und Neuausrichtung im Zentrum der Ereignisse. Der Gipfel könnte das transatlantische Bündnis so tiefgreifend verändern haben wie kaum ein anderer zuvor. Eine Analyse der Risiken und Nebenwirkungen.
Die NATO steckt in einer substantiellen Krise. Pierre Lelouche, ein profilierter französischer Sicherheitspolitiker, spricht von einer der tiefgreifendsten seit ihrer Gründung. Lord Robertson, der Generalsekretär der NATO, wähnte das Bündnis schon vor Monaten vor der Wahl zwischen »Modernisierung« und »Marginalisierung«.

Die NATO in der Krise

Robertson sieht die Ursache der Krise vor allem in der wachsenden Ausrüstungs-, Bewaffnungs- und Technologielücke zwischen den USA und den europäischen NATO-Staaten. Er fürchtet, dass die Streitkräfte der Bündnispartner bald kaum noch gemeinsam operieren können. Dadurch verlöre das Bündnis aus amerikanischer Sicht an Bedeutung. Das sehen diesseits wie jenseits des Atlantiks manche anders. Für sie hat die Krise grundsätzlichen Charakter. Je nach Standpunkt und Herkunft hat die Krise ihren Ursprung entweder im mangelnden europäischen Willen zu harter militärischer Machtpolitik oder in der amerikanischen Neigung zu einem machtpolitischen Handeln, dass sich primär militärischer Mittel bedient.

Die meisten Europäer in der NATO fürchten, dass eine weltweit nach US-Vorbild und Führung agierende NATO sie vor zahlreiche neue Probleme stellen wird: Streitkräfteeinsätze ohne Mandat der Vereinten Nationen, präventive und präemptive militärische Schläge, die von Angriffskriegen nicht oder kaum zu unterscheiden sind, oder gar die Mitverantwortung für den Einsatz von Nuklearwaffen. Mithin vor Situationen, in denen die NATO ihren eigenen Wertekodex verletzt – zu diesem gehört schließlich die Anerkennung der Gültigkeit des internationalen Rechts.

Zusammengefasst sind die Gipfel-Beschlüsse von Prag ein Erfolg für George W. Bush, der wie so oft nach der Maxime auftrat: »Wenn Du das Maximale herausholen willst, dann musst Du mehr fordern«. Die Initiativen zu den wesentlichen Beschlüssen kamen aus den USA; die europäischen NATO-Staaten boten kaum ernsthafte Alternativen an. Sie versuchten lediglich, das aus ihrer Sicht Schlimmste zu verhindern. Die NATO wird damit wieder ein ganzes Stück amerikanischer, und ganz nebenbei musste die gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einige schwere Torpedotreffer hinnehmen.

Neue globale Aufgaben

Nur einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 rief die NATO den Bündnisfall aus. Doch anschließend forderte Washington nur marginale militärische Beiträge von Brüssel und vermied es, die Allianz in strategische Entscheidungen über militärische Reaktionen einzubeziehen. Lord Robertson sieht darin einen Relevanzverlust. Um dem entgegenzusteuern müsse die NATO die Bekämpfung des Terrorismus mit in das Zentrum ihrer Aktivitäten stellen. Gleichzeitig komme der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wachsende Bedeutung zu. Persönlich interpretierte Robertson die Aussage der Außenministertagung vom Mai 2002, das Bündnis benötige Streitkräfte, die schnell dahin verlegt werden können, „wo auch immer sie benötigt werden“, dahingehend, dass die NATO global agieren könne, „nach Erfordernis und wo nötig“. Noch im September hielt das deutsche Außenamt eine solche Interpretation für unzulässig. Doch inzwischen hat sie sich durchgesetzt.

Das Prager Kommuniqué betont: Die NATO müsse ihre Fähigkeit, „den Herausforderungen gegen die Sicherheit unserer Streitkräfte, Bevölkerungen und unseres Territoriums“ gewachsen sein, „wo immer diese auch herkommen mögen“. Sie müsse auf Beschluss des NATO-Rates „Streitkräfte einsetzen können, die schnell überall dahin verlegt werden können, wo sie benötigt werden“. Das „volle Spektrum der Aufgaben“ der Allianz umfasst nun „die Bedrohung, die der Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie deren Trägersystemen“ darstellen. Ein vom Militärausschuss erarbeitetes »Militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus« wurde beim Prager Gipfel gebilligt. Das Bündnis übernimmt auch gleich erstmals eine globale Aufgabe: Wenn das Deutsch-Niederländische Korps in Kürze die Führung der ISAF-Mission in Afghanistan übernimmt, dann wirkt die NATO mit. Der globale Präzedenzfall für die Allianz.

Neue Aufgaben werfen neue Probleme auf. Die USA haben ihre nationale Strategie deutlich verändert – zuletzt durch eine neue »Nationale Sicherheitsstrategie«. Diese schließt es bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht aus, selbst anzugreifen, bevor die USA angegriffen werden könnten. Dafür stehen die Begriffe »präemptive Schläge« und »defensive Intervention«. Der amerikanische Begriff »pre-emptive strikes« umfasst zweierlei. Zum einen meint er ein präventives Vorgehen, zum Beispiel die Zerstörung gegnerischer Raketenabschussrampen, unmittelbar bevor von diesen ein Angriff durchgeführt werden soll. Zweitens sind vorbeugende, präemptive Angriffe gemeint, Schläge, mit denen das Entstehen längerfristiger Bedrohungen verhindert werden soll, also z.B. der Bau von Massenvernichtungswaffen. Israels weltweit kritisierte Bombardierung des irakischen Atomreaktors Osirak ist ein Beispiel. Doch Washington geht noch weiter: Selbst der Einsatz nuklearer Waffen wird durch die Bush-Administration nicht ausgeschlossen. Das wurde Anfang des Jahres deutlich, als der geheime »Nuclear Posture Review« an die Öffentlichkeit gelangte. Schon seit einigen Jahren beschränken die USA ihre nationale nukleare Einsatzplanung nicht mehr auf Staaten. Auch »Nicht-staatliche Akteure«, z.B. Terroristen oder transnationale Konzerne, die versuchen, sich Massenvernichtungswaffen zuzulegen, könnten Ziel eines Nuklearangriffs sein.

Damit gerät die NATO in ein Dilemma. Sie hat – wie so oft in der Vergangenheit – mit zeitlicher Verzögerung ihre Strategie den Entwicklungen der US-Strategie im Grundsatz angepasst. Wie weit diese Anpassung im Einzelnen geht, ist noch unklar, zumindest in der Öffentlichkeit. Nur soviel ist klar: Schwerwiegende Probleme mit der völkerrechtlichen Legitimität künftiger NATO-Planungen drohen. Weder präemptive Angriffe noch gar der Einsatz nuklearer Waffen wären völkerrechtlich gedeckt.

Man stelle sich vor: Washington will präemptiv das existierende oder entstehende Massenvernichtungswaffenpotenzial eines Staates oder eines nichtstaatlichen Akteurs zerstören. Die Planer im Pentagon glauben, dass dies gesichert nur mit einer Nuklearwaffe gelingen kann. Da dies aber völkerrechtlich und im Lichte der internationalen öffentlichen Meinung sehr umstritten wäre, entschließen sich die USA, die NATO um Solidarität und Mitwirkung zu bitten. Als Gemeinschaft von 19, künftig 26 demokratischen Staaten lasse sich der Angriff besser verteidigen. Die Flugzeuge, die den Angriff durchführen, sollen in einem NATO-Land starten, ein zweites soll Luftbetankungsmittel stellen, ein drittes beim Begleitschutz durch Jagdflugzeuge helfen und ein viertes, nicht-nukleares Land gar durch die Bereitstellung eines Trägerflugzeugs für Nuklearwaffen. Unschwer ist zu erkennen, wie gravierend die Probleme für die europäischen NATO-Partner wären.

Trägt die NATO eine solche Strategie mit, so trägt sie dazu bei das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu untergraben. Die von der Regierung Bush initiierte Deregulierung der internationalen Beziehungen, die von vielen der europäischen NATO-Staaten schon jetzt beklagt wird, würde beschleunigt. Die Auswirkungen auf das nukleare Nichtverbreitungsregime wären verheerend.

Verteidigungsminister Peter Struck glaubt zwar, dass die NATO ein präventives oder präemptives Vorgehen auch in Zukunft ablehnen werde, da das Bündnis im Konsens entscheide. Doch das Konsensprinzip wird mit Blick auf die wachsende Mitgliederzahl bereits in Frage gestellt. Das Hauptargument: Das Bündnis müsse jene, die bereit sind zu handeln, handeln lassen, wenn es seine Bedeutung erhalten wolle. Zudem gibt es auch in Europa Stimmen, die präemptive Angriffe nicht ablehnen. In Deutschland gehört Wolfgang Schäuble dazu und auch Klaus Naumann, ehemals Vorsitzender des Militärausschusses der NATO. Wenige Tage vor dem Gipfel ging Letzterer davon aus, dass „die NATO in Prag die ersten Schritte in Richtung auf ein neues strategisches Konzept unternehmen wird, das Prävention und Präemption als Optionen, nicht aber als leitendes Prinzip“ enthalten sollte. Das Gipfel-Kommunique versucht zu beruhigen: Nein, die neuen Aufgaben der NATO sollten „von keinem Staat und keiner Organisation als Bedrohung wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Ausdruck der Entschlossenheit unsere Bevölkerung, unser Territorium und unsere Streitkräfte vor jedem bewaffneten Angriff zu schützen, einschließlich terroristischer Angriffe, die von außen gelenkt werden“. Man werde „in Übereinstimmung mit dem Washingtoner Vertrag (d.h. dem NATO-Vertrag) und der Charta der Vereinten Nationen“ vorgehen. Wie, das sagt das Kommunique allerdings nicht.

Neue militärische Mittel

Mit den militärischen Mitteln des Kalten Krieges lassen sich solche Aufgaben kaum bewältigen. Mit diversen Beschlüssen versucht der Prager NATO-Gipfel deshalb schnelle Abhilfe zu schaffen.

Erst im September hatte Donald Rumsfeld, der US-Verteidigungsminister, seinen NATO-Kollegen die Idee präsentiert, die NATO solle eine schnelle Eingreiftruppe für weltweite Interventionen aufbauen, die »NATO Response Force« (NRF). Der Truppe, 21.000 Mann stark, sollten die besten und modernsten Kräfte aller NATO-Staaten zugeordnet werden: Heeresverbände in Brigadegröße, Kampfflugzeuge für bis zu 200 Einsätze am Tag und Marinekräfte im Umfang einer der ständigen Einsatzflotten der NATO. Binnen 5-30 Tagen solle sie weltweit einsetzbar sein, spezialisiert auf intensive Kampfhandlungen – Kampfhandlungen, die nötig sind um Interventionen wie in Afghanistan durchzuführen. Bis zu 30 Tage soll die Truppe autonom kämpfen und bis Oktober 2006 einsetzbar sein. Mit ihr könne die NATO sich an US-geführten Operationen beteiligen. Der Prager Gipfel fasste den Beschluss, die Truppe aufzubauen. Im Frühsommer soll ein erster Bericht vorgelegt werden, wie sie aussehen soll.

Die zweite verabschiedete Initiative sind die »Prager Fähigkeitsverpflichtungen« (Prague Capabilities Commitment, PCC). Mit diesen verpflichten sich vor allem die europäischen NATO-Staaten politisch verbindlich, zu festen Terminen bestimmte militärische Fähigkeiten in Kernbereichen wie dem Luft- und Seetransport, der Luftbetankung, der Abwehr chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Gefahren oder im Bereich Führungssysteme bereitzustellen. Im Gegensatz zu der breiter angelegten Vorgängerinitiative DCI (Defense Capabilities Initiative) sind die PCC vor allem auf den Bedarf der »NATO Response Force« (NRF) ausgerichtet, d.h. auf weltweite Einsätze hoher militärischer Intensität. In Arbeitsgruppen wird an den einzelnen Fähigkeiten gearbeitet. Nicht jeder NATO-Staat muss zu allen beitragen. Arbeits- und Rollenteilung sollen raschen Fortschritt ermöglichen. Spanien kümmert sich um die Luftbetankung, Holland um Abstandswaffen. Deutschland leitet die Arbeitsgruppe strategischer Lufttransport.

Ziel einer dritten Gipfel-Initiative ist, die Fähigkeit der NATO zu stärken, zur Abwehr von Angriffen mit biologischen, chemischen, radiologischen und nuklearen Waffen. Das Vorhaben, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Antwort auf das Risiko terroristischer Angriffe, wurde jedoch breiter angelegt. Hier verbergen sich auch Pläne zur Raketenabwehr. Erstmals will die NATO Abwehrmöglichkeiten gegen Flugkörper mit mehr als 3.000 km Reichweite untersuchen. Unklar ist, ob sich hinter dieser Initiative auch eine weitere Facette der Diskussion über präemptive Optionen verbirgt: Planungen der NATO, um Massenvernichtungswaffen, deren Trägersysteme sowie Produktionsanlagen in anderen Ländern »vorbeugend« auszuschalten.

Viertens machte der Gipfel Vorgaben für eine neue, flexiblere und einsatzorientierte Kommandostruktur. Eine heikle Aufgabe, geht es doch für jeden NATO-Staat um Einfluss, den Anteil an gut dotierten Posten und um die Hauptquartiere auf seinem Boden. Bis Sommer 2003 soll der Militärausschuss einen Vorschlag unterbreiten, wie die NATO mit deutlich weniger Kommandobehörden militärisch flexibler agieren kann.

Europäische Bedenken

Obwohl die meisten amerikanischen Initiativen in Prag im Grundsatz begrüßt wurden, gab es substanzielle Bedenken. Außenminister Joschka Fischer ließ sie in einer Regierungserklärung kurz vor dem NATO-Gipfel erkennen. Zur NRF, dem Kernstück der Initiativen, formulierte er drei Voraussetzungen: Erstens müsse die Entscheidung über den Einsatz der Truppe beim NATO-Rat liegen, also einstimmig fallen. Zweitens sei eine deutsche Einsatz-Beteiligung nur nach einem Beschluss des Bundestages möglich. Die nationale Rechtslage in den NATO-Staaten müsse beachtet werden. Drittens müsse das Vorhaben mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte vereinbar sein. Unter diesen Voraussetzungen werde man der Ausarbeitung eines Konzeptes für die NRF zustimmen.

Damit sollte verhindert werden, dass die NATO-Truppe auf Anforderung durch die USA oder andere NATO-Länder schnell und ohne zeitraubende Konsensbildung eingesetzt werden kann. Fischer wollte weiter den deutschen Parlamentsvorbehalt wahren, nahm damit aber zugleich billigend in Kauf, dass nun der Druck wächst, mittels eines deutschen Entsendegesetzes die Entscheidungsfindung in Deutschland zu beschleunigen. Beiden Bedenken trägt das GipfelKommuniqué Rechnung. Auch bei der dritten Voraussetzung, der Vereinbarkeit mit den europäischen Krisenkräften, signalisiert das Kommuniqué Zustimmung. Die Realität dürfte anders aussehen.

Für die NRF werden – wegen der Rotation – mindestens 60.000 der bestausgebildeten Soldaten benötigt, Soldaten, die im Kern auch für die Krisenkräfte der EU vorgesehen sind. Die Bundesrepublik plant beispielsweise, ihren Beitrag aus dem selben Pool von 18.000 Soldaten zu stellen, der auch für die EU vorgesehen ist. Würde die NRF häufig angefordert oder wären ihre Kräfte auch nur oft in Bereitschaft, so stünden sie für EU-Einsätze nicht zur Verfügung. Genau dies dürfte eintreten. Der »Krieg gegen den Terrorismus« und die globale Unterstützung Washingtons können leicht zur Dauerbeschäftigung für die NRF werden.

Um die Zusammenarbeit mit den US-Truppen zu gewährleisten, müssen die NRF-Verbände nach US-Vorbild modernisiert werden. Mit anderen Worten: Damit sie auch weiterhin im EU-Rahmen eingesetzt werden können, müssen dann auch die restlichen EU-Krisenkräfte nach US-Vorbild modernisiert werden. Spötter bezeichnen deshalb die Prague Capability Commitments bereits als BAC, als »Buy American Commitments«, und sehen in dem neuen NATO-Oberkommando für Transformation eine Werbeagentur für eine europäische Modernisierung »the American way«.

Der Aufbau autonomer EU-Fähigkeiten dürfte sich also zumindest verteuern, wenn er nicht gar weitgehend durch die NATO absorbiert wird. Zudem droht eine für die Europäer unliebsame Arbeitsteilung: Während die NATO sich auf globale Kampfeinsätze unter Führung der USA spezialisiert, müssten die EU-Krisenkräfte jene Aufgaben übernehmen, die die USA nicht interessieren: Friedensmissionen und das ungeliebte, langwierige »Nation-Building« nach Interventionen. Trotz aller Zugeständnisse bekommt Europa aber keine Gewähr dafür, dass die USA ihren europäischen NATO-Partnern strategische Mitsprache in der Frage gewähren wird, wie mit Krisen umgegangen werden soll.

Die Osterweiterung

Zehn Kandidaten standen vor der Tür, sieben bekamen die Einladung zum Beitritt: Die drei baltischen Republiken, die Balkan-Staaten Slowenien, Bulgarien und Rumänien sowie die Slowakei. Außen vor bleiben vorläufig Kroatien, Albanien und Mazedonien. Der »Big Bang«, die große Erweiterung wird realisiert. Im Frühjahr 2004 sollen die Beitritte – etwa zeitgleich zur Erweiterung der EU – bei einem erneuten Gipfel in Washington vollzogen werden.

Erstaunlich ist, wie geräuschlos die zweite Erweiterung der Allianz vonstatten ging. Kein ausgedehnter Streit mit Russland, keine öffentliche Diskussion über die Frage, ob die Baltischen Staaten im Ernstfall überhaupt verteidigt werden könnten, keine strategische Debatte, ob nicht zu vielen oder zu schwachen Kandidaten eine Beistandsgarantie gegeben werde.

Wesentliche Ursachen dafür liegen in Washington. Die Regierung Bush weist der NATO eine veränderte Rolle zu. In Europa liegt die Bedeutung der NATO zunehmend im Politischen und weniger im Militärischen. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass das Bündnisgebiet in einem klassischen Krieg verteidigt werden muss. Global kann die Allianz Washington begrenzt militärische Schützenhilfe leisten, ist aber kaum der unverzichtbare Partner, dem die USA ein Mitspracherecht einräumen müssen, wie mit einer Krise umgegangen werden soll. Die Kooperation wichtiger NATO-Staaten kann notfalls auch bilateral sichergestellt werden.

In Europa soll die NATO deshalb zum Einen die Integration der neuen Mitglieder in die westlichen Institutionen absichern und ein Wiederaufflammen der Kämpfe auf dem Balkan verhindern. Sie soll zweitens den Einfluss der USA auf die europäische Sicherheitspolitik sichern und dies in einem deutlich erweiterten geographischen Raum. Vor allem Rumänien und Bulgarien haben dabei strategische Bedeutung. Ihr Beitritt verbessert die Möglichkeit, westliche Interessen im Schwarzmeerraum zu vertreten. Für den Balkan lautet das Signal: Die Stabilisierung Südosteuropas ist dauerhaft Gemeinschaftsaufgabe. Die Aufnahme von sieben Staaten auf einen Streich sichert Washingtons Einfluss nicht zuletzt auch deshalb, weil deren neue Eliten oft in den USA ausgebildet wurden.

Schließlich ist nach dieser großen Erweiterung klar, dass auf absehbare Zeit keine das Verhältnis zu Russland politisch stark belastende Ausdehnung der NATO mehr ansteht. Das enthebt sie der Notwendigkeit, erneut über eine kompensatorische Vertiefung der Zusammenarbeit mit Russland nachzudenken. Der 1997 eingerichtete, der Konsultation dienende Ständige Gemeinsame Rat wurde 2002 in einen NATO-Russland-Rat umgewandelt, in dem im Konsens aller 20 Staaten auch gemeinsam Beschlüsse – z.B. zur Terrorismusbekämpfung – gefasst werden können. Diese Art der Zusammenarbeit soll zunächst praktiziert werden. Als nächster Schritt – so die teils ernst gemeinte, teils spaßige Begründung – bleibe ja eh nur, Russland die Vollmitgliedschaft zu offerieren. Doch damit lasse man sich besser viel Zeit.

Die NATO soll zwar für neue Mitglieder offen bleiben. Konkrete Maßnahmen aber, die weitere Staaten an den Beitritt zur NATO heranführen sollen, verlieren an Dringlichkeit. Ausgebaut werden soll dagegen die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen des Euro-Atlantischen Kooperationsrates. Viele Staaten, die für einen NATO-Beitritt auf absehbare Zeit nicht in Frage kommen, spielen – wie die zentralasiatischen Republiken – als Stationierungsländer bei Interventionen eine wichtige Rolle.

Tagesordnungspunkt oder nicht? – Der Irak

Lange wurde gerätselt »Steht der Irak nun auf der Tagesordnung des Prager Gipfels oder nicht?« Washington hat ihn zum Thema gemacht. Präsident Bush wollte die politische Unterstützung der NATO für das weitere Vorgehen gegen den Irak und er bekam sie. Nach langem Ringen war klar: Die NATO unterstützt die jüngste UN-Resolution zum Irak, droht Saddam Hussein mit ernsthaftesten Konsequenzen, verzichtet auf eine explizite militärische Drohung, erwähnt aber auch nicht, dass im Falle irakischer Verstöße gegen die UN-Resolution der UNO-Sicherheitsrat das entscheidende Wort haben sollte. Quasi zeitgleich präsentierte die US-Regierung ihren Partnern bilateral die Frage, was sie zu einem neuen Krieg am Golf beitragen wollen. Offensichtlich bekamen sie auch von den Deutschen schon recht viel von dem, was sie wollten: z.B. ein verstärktes deutsches militärisches Engagement in anderen Krisengebieten, Überflugrechte und Bewegungsfreiheit für ihre Truppen auf deutschem Boden. Die teuerste Unterstützungsanfrage hat Berlin vorerst vertagt: Wie sähe der deutsche Beitrag zu einem Wiederaufbau des Irak aus?

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

Im Visier: Ölquellen und Öltransportrouten

Im Visier: Ölquellen und Öltransportrouten

von Mohssen Massarrat

Der Krieg der Vereinigten Staaten gegen die Taliban in Afghanistan ist das jüngste Glied einer Kette der inzwischen über ein halbes Jahrhundert andauernden Geschichte anglo-amerikanischer Interventionen im Nahen und Mittleren Osten und nun auch in Zentralasien. Ereignisreiche Turbulenzen wie die Niederschlagung der Demokratiebewegung im Iran Anfang der fünfziger Jahre, die Schah-Diktatur als regionale Supermacht, die islamische Revolution im Iran, das Phänomen Saddam Hussein, der islamische Fundamentalismus, die Taliban und Bin Laden – sie alle sind ohne diese Interventionsgeschichte nicht zu verstehen. Dies gilt auch für den Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September. Die Kette der Interventionen und der im Nahen und Mittleren Osten seit fünf Jahrzehnten andauernden Gewalteskalation schließt sich nun global.
Hatten die Vereinigten Staaten mit dem Luftkrieg gegen die Taliban in Afghanistan es in erster Linie darauf abgesehen, die strategischen Öl- und Gastransportrouten zum Indischen Ozean frei zu bomben? Jedenfalls wurde bisher weder das eigentliche Kriegsziel, die Al-Qaida zu zerschlagen und Bin Laden zu fassen, erreicht. Das bisher einzig vorzeigbare Resultat des amerikanischen Bombenkrieges in Afghanistan ist, dass die Kämpfer der Nordallianz ihre hartnäckigen Widersacher, die Taliban, losgeworden sind. Mit den War Lords, den Bürgerkriegsparteien und der eigenen inneren Zerrissenheit steht Afghanistan wieder dort, wo Anfang der neunziger Jahre die Taliban mit Hilfe Pakistans, Saudi-Arabiens und der USA starteten. Selbst die wenigen positiven Nebeneffekte des Krieges, bezogen auf mehr Freiheit für Frauen und für individuelle Bedürfnisse, stehen damit erneut zur Disposition. Diese offenkundige Blamage hindert die USA jedoch nicht daran, die »Achse des Bösen« ausfindig zu machen, den im letzten Golfkrieg durchaus nicht irrtümlich zurückgelassenen Feind Saddam Hussein erneut ins Visier zu nehmen und gebetsmühlenartig und inzwischen ritualisiert die neue Bedrohung mit Massenvernichtungsmitteln aus Bagdad ins Bild zu setzen.

Welche Ziele verfolgen eigentlich die Vereinigten Staaten mit ihrem Engagement im Mittleren Osten und Zentralasien? Geht es um den Kampf gegen den Terrorismus, um die Befreiung des Iraks von Saddam Hussein, um einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten und um den Kampf für eine demokratische Entwicklung in dieser Region? Oder geht es in erster Linie um die Verfolgung geopolitischer Ziele in einer Region mit den größten fossilen Energieressourcen der Welt und um die Festigung der eigenen Hegemonialpolitik gegenüber Russland, China und den westlichen Verbündeten Japan und Europa?

Die geopolitische Doppelstrategie der USA

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte im Mittleren Osten eine hoffnungsvolle gesellschaftliche Umwälzung und Demokratisierung eingesetzt. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Region hat 1951 im Iran ein frei gewähltes Parlament und mit Mossadegh eine demokratisch gewählte Regierung für die gesamte Region eine neue Ära eingeläutet. Im Anschluss an die Entwicklung im Iran wurden im Irak und in Ägypten die herrschenden Monarchien gestürzt, das postdiktatorische, postkoloniale Zeitalter schien angebrochen zu sein.

Doch es kam alles anders. Die Persische-Golf-Region war zu diesem Zeitpunkt längst in den geostrategischen Würgegriff der alten Supermacht Großbritannien und der neuen Supermacht USA geraten. Hinzu kam die Kalte-Krieg-Ära, die das politische Koordinatensystem für die künftige Entwicklung dieser Region determinierte. Geostrategische Ölinteressen der USA und Eindämmung des sowjetischen Einflusses auf den Mittleren Osten und den Persischen Golf wurden fortan zum einzigen Maßstab für die künftige Beziehung des Westens zu dieser Region und zur Richtschnur der Unterscheidung zwischen Gut und Böse.

Die Welt besitzen

Bereits europäische Kolonialmächte hatten zu Beginn des letzten Jahrhunderts die strategische Bedeutung des Öls erkannt. „Derjenige, der das Erdöl besitzt, wird die Welt besitzen,“ prophezeite um das Jahr 1920 der französische Industrielle und Senator Henri Berenger. Die neue Supermacht Amerika zögerte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht, dieser Erkenntnis zu folgen und sie zur Richtschnur des eigenen außenpolitischen Handelns zu machen. George Forest Kennan, ein einflussreicher US-Außenpolitiker, ordnete in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Kontrolle über die Ölquellen des Mittleren Ostens die Rolle einer „Vetomacht über die Alliierten, über Europa und Japan“ zu. So wundert es auch kaum, dass das State Department das Mittelost-Öl als „gewaltige strategische Reserve, als den größten materiellen Preis der Weltgeschichte“ einstufte (Chomsky, 1992: 33). Die Vetooption der USA bestand in einer aus zwei Komponenten – einer energiepolitischen und einer geopolitischen – bestehenden Doppelstrategie.

Die Doppelstrategie

Dabei sollte zum einen alles unternommen werden, um sich selbst und den eigenen Verbündeten eine störungsfreie Ölversorgung zu niedrigen Preisen (Wirtschaftswachstum durch Billigöl) sicherzustellen. Es geht hierbei um beträchtliche Summen, beispielsweise werden bei einem Ölpreisunterschied von lediglich 10 US-Dollar je Barrel Öl von der OECD-Wirtschaft jährlich über 350 Mrd. US-Dollar an Energieausgaben eingespart (Ausführlicher dazu Massarrat, 2000: 134). Zum anderen sollte aus der Not der Abhängigkeit der militärischen Verbündeten (Westeuropa und Japan) vom Öl des Mittleren Ostens eine Tugend gemacht und die militärische Führungsrolle nicht nur durch die Einbindung in die Nato, sondern auch indirekt durch die »Ölwaffe« untermauert werden. Die Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion überdeckte jahrzehntelang diese US-Doppelstrategie. US-Geostrategen bedienten sich gern des Szenarios der sowjetischen Bedrohung, die darin bestanden haben soll, durch den Zugriff auf die mittelöstlichen Ölquellen westliche Staaten zu erpressen. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine reale Bedrohung handelte oder nicht, lieferte dieses Szenario den Vereinigten Staaten die Rechtfertigung, sich unter dem Vorwand der Abwendung sowjetischer Bedrohung durch die Einrichtung von Militärstützpunkten und Schaffung von Interventionskapazitäten im Mittleren Osten als Garant westlicher Ölversorgung unabkömmlich zu machen und auch die militärischen Verbündeten und gleichzeitig ökonomischen Rivalen in der Weltwirtschaft, Westeuropa und Japan, im Bedarfsfall zu disziplinieren oder gar zu erpressen (Ausführlicher Massarrat, 1981).

Diese Doppelstrategie der Vereinigten Staaten in ihrer Beziehung zu Japan und Europa hat über Jahrzehnte – so in der Anti-Irak Allianz 1990 und auch jetzt in der Antiterror-Allianz sowie im Krieg gegen Afghanistan – bis heute ihre Gültigkeit beibehalten und sie wirft ein neues Licht auf das peinlich vasallenhafte Verhalten der Europäer in Krisensituationen wie 1990 und jetzt. Alle US-Präsidenten, Präsidentenberater sowie Außen- und Verteidigungsminister haben ganz besonders darauf geachtet, die Grundlagen dieser Doppelstrategie nicht zu gefährden und sie allen revolutionären Umwälzungen im Mittleren Osten zum Trotz räumlich auszubauen und außenpolitisch sowie militärisch weiterzuentwickeln und flexibel anzupassen. Die sogenannte Carter-Doktrin, wonach „der Versuch einer auswärtigen Macht, die Kontrolle des Persischen Golfes zu übernehmen, als Angriff auf die vitalen Interessen der USA betrachtet und mit allen Mitteln einschließlich militärischer Gewalt zurückgewiesen wird“ (Carters Erklärung »State of the Union« vom 23. Januar 1980), die unmissverständliche Feststellung des ehemaligen Energieministers James Schlesinger von 1989 auf der Weltenergiekonferenz in Montreal: „Welche Großmacht auch immer die Kontrolle über die Energieressourcen in der Golfregion erringt, sie wird dadurch in großem Ausmaß auch die Entwicklung der Welt beherrschen. Ein dritter Weltkrieg, sollte er stattfinden, würde wahrscheinlich um die Energiequellen in der Golfregion geführt werden“ (zitiert nach Michael Müller, TAZ, 13.08.1991) und die durch die Klarheit über den Anspruch der USA auf die Ölvorräte der Persischen-Golf-Region unübertroffene Aussage des US-Präsidenten Bush sen. von 1990 „Unsere Wirtschaft, unsere Lebensart, unsere Freiheit und die Freiheit befreundeter Länder auf der ganzen Welt, alles würde leiden, wenn die Kontrolle über die großen Ölreserven der Welt in die Hände Saddam Husseins fielen“ (Yergin, 1991: 950), belegen das nach wie vor überragende geostrategische Interesse der USA an den Ölquellen des Mittleren Ostens. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird die Rolle des potenziellen Aggressors im Bedrohungsszenario der US-Doppelstrategie den »Schurkenstaaten« zugeschrieben. Ursprünglich spielten diese Rolle die fundamentalistischen Ajatollahs im Iran und gegenwärtig hat Saddam Hussein diese Rolle inne, die er in der „unheiligen Allianz“ mit den USA offenbar auch gern spielt, um so die innenpolitische Legitimation für seine Herrschaft zu festigen.

Diversifizierung der Energiequellen und Transportrouten

Die traumatischen Auswirkungen der Ölpreissprünge von 1973/74 und 1979 (ausführlicher Massarrat 1980) veranlassten die Vereinigten Staaten, Rohstoffquellen und Transportrouten zu diversifizieren und Verknappungs-(»Strangulierungs-«)Situationen soweit wie möglich zu vermeiden. Diversifizierung entwickelte sich so zu einem substanziellen Element zur Absicherung und Fortentwicklung der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie. Die massiven Aktivitäten der US-Konzerne und der Regierungen in Ost- und Westafrika zur Erschließung neuer Energiequellen in den letzten zwei Jahrzehnten gehen in diese Richtung (Massarrat, 2000: 122f und Kronenberger, 1999). Eine gewichtigere Alternative zu den insgesamt dürftigen Ölquellen Afrikas bildet allerdings die Kaspische-Meer-Region, in der sich die zweitgrößten Ölquellen nach der Persischen-Golf-Region und die wichtigsten Gasquellen der Welt befinden. Diese neue energie- und geopolitische Option fiel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken in den neunziger Jahren den Vereinigten Staaten als Geschenk des Himmels quasi in den Schoß. Fortan pilgerten multinationale Ölkonzerne scharenweise in die neue Ölregion und machten in Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Aserbaidschan ihre Aufwartung. Die US-Konzerne betreiben dort intensive Lobbyarbeit und rekrutieren einflussreiche Berater, darunter Richard Cheney, ehemaliger Verteidigungsminister unter Bush sen. und der heutige Vizepräsident von Bush jun., sowie Zbigniew Brzezinski, der frühere Sicherheitsberater von Präsident Carter. Mit von der Partie sind auch die Ölkonzerne Amaco, Unocol, Texaco und Exxon Mobil, die alle bereits mehrere Milliarden US-Dollar für die Öl- und Gasproduktionsanlagen bzw. Pipelineprojekte investiert haben. Gleichzeitig unterzeichneten die Vereinigten Staaten unter dem Vorwand eines »humanitären« Einsatzes 1996 mit Usbekistan und danach mit Kasachstan und Kirgisistan das »Central Asia Bataillons-Abkommen« (vgl. Abramovici, 2002) und schufen damit die Grundlage für Militärübungen und darüber hinaus auch langfristig angelegte Militärstützpunkte. In diese Reihe der Einbindung neuer, zentralasiatischer Republiken in die eigene geopolitische Diversifizierungspolitik und Doppelstrategie gehörte es auch, den Kaukasusrepubliken Georgien, Kasachstan, Aserbaidschan und den zentralasiatischen Staaten Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan auf dem Nato-Gipfel von 1999 den Status von »Nato-Partnerschaftsländern« zuzuerkennen (Massarrat, 2000: 172.). Die Einbindung Zentralasiens in „Amerikas Strategie der Weltherrschaft auf dem Eurasischen Schachbrett“, so Brzezinski in seinem Buch »Die einzige Weltmacht«, gewinnt mit Hinblick auf die Volksrepublik China als aufsteigende regionale Supermacht und geopolitischer Rivale der USA in Ostasien eine zusätzliche strategische Bedeutung. Was bisher für Europa und Japan in der energie- und geopolitischen Doppelstrategie der USA galt, gilt in Zukunft auch – angesichts ihrer zu erwartenden Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten – für die Volksrepublik China.

Zu der Diversifizierung von Öl- und Gasquellen kommt auch die Diversifizierung von Transportrouten hinzu: (a) die russische Route von Kasachstan durch Russland zum russischen Schwarzmeerhafen Novorossijsk, (b) die Mittelmeerroute westlich vom Kaspischen Meer durch Aserbaidschan, Armenien, Georgien durch die Türkei oder über den Iran durch die Türkei zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan und schließlich (c) die Afghanistanroute östlich vom Kaspischen Meer über Turkmenistan, Afghanistan und Pakistan zum Persischen Golf und Indischen Ozean. Nahezu alle Kriege und Konflikte der letzten Jahre im Kaukasus-türkischen Raum (armenisch-aserbaidschanische, tschetschenisch-russische, georgische, kurdisch-türkische) und in Zentralasien, vor allem die Kriege innerhalb und gegen Afghanistan, haben direkt oder indirekt mit dem Wettkampf zwischen den USA und Russland zu tun, den Zugriff zu den Energiequellen und Transportrouten in der Region für sich zu entscheiden.

Die Schlüsselrolle des Afghanistan-Pipelineprojektes

Durch die Diversifikation der Energiequellen und -routen soll die Abhängigkeit der USA von einer einzigen Quelle reduziert und der eigene Handlungsspielraum zur Umsetzung der Doppelstrategie maximiert werden. Die Energiequellen im Kaspischen Meer könnten sich allerdings nur dann als eine ernsthafte Alternative zu den Energiequellen der Persischen-Golf-Region etablieren, wenn außer den beiden möglichen, von Russland bzw. Iran abhängigen Routenoptionen eine direkt unter amerikanischer Kontrolle stehende weitere Öl- und Gastransportroute erschlossen würde. So kommt dem Afghanistan-Pipelineprojekt eine Schlüsselrolle zu. Denn nur die Afghanistan-Route ermöglicht es den USA, den Einfluss Russlands oder Irans zurückzudrängen und eine mögliche geopolitische Koalition dieser Staaten, die Amerikas Vorherrschaft beeinträchtigen könnten, von vornherein aussichtslos zu machen. Die Idee einer derart beschaffenen Diversifizierung geht auf den jetzigen Berater des in Zentralasien aktiven US-Ölkonzerns Amaco und einstigen Förderer der afghanischen Volksmudjahedin bei der Vertreibung der sowjetischen Armee aus Afghanistan, Zbigniew Brzezinski, zurück, der mehr als jeder andere US-Geopolitiker die Bedeutung Eurasiens in »Amerikas Strategie der Vorherrschaft« hervorgehoben hat. So plädiert er dafür, „den derzeit herrschenden Pluralismus (!) auf der Landkarte Eurasiens zu festigen und fortzuschreiben. Dies erfordert ein hohes Maß an Taktieren und Manipulieren, damit keine gegnerische Koalition zustande kommt, die schließlich Amerikas Vorrangstellung in Frage stellen könnte, ganz abgesehen davon, dass dies einem einzelnen Staat so schnell nicht gelänge“ (Brzezinski, 2001: 282f).

Folgt man der Feststellung der herausragenden Rolle des Afghanistan-Pipelineprojektes in der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie, so erscheint die Afghanistan-Politik der USA seit 1995 in einem neuen Licht. Es ging dabei in erster Linie um die Realisierung eben dieses Projektes, koste es was es wolle und mit wem auch immer. So wurde im März und Oktober 1995 die turkmenische und pakistanische Zustimmung für das Projekt eingeholt. Die Taliban, „eine Schöpfung des pakistanischen Geheimdienstes“, waren schon zu Beginn des Jahres 1995 aufgetaucht. Sie wurden „vermutlich vom CIA und Saudi-Arabien finanziert“ (Ausführlicher Abramovici, 2002). Im September 1996 eroberten die Taliban Kabul. Michael Bearden (Vertreter des CIA in Afghanistan während des Krieges gegen die Sowjetunion und heute halb-offizieller Sprecher des CIA) gibt die damalige Stimmung der Amerikaner so wieder: „Diese Typen (die Taliban) waren nicht einmal die schlimmsten, etwas hitzige junge Leute, aber das war immer noch besser als der Bürgerkrieg. Sie kontrollierten das gesamte Gebiet zwischen Pakistan und den Erdgasfeldern Turkmenistans. Vielleicht war das doch eine ganz gute Idee, dachten wir, wenn wir eine Erdölpipeline durch Afghanistan bauen und das Gas und die Rohstoffe auf den neuen Markt befördern können. Alle wären zufrieden.“ (Pieces conviction, Fance 3, 18. Oktober 2001, zitiert nach Abramovici 2002)

Die US-Geostrategen und -Außenpolitiker hat also weder der Steinzeit-Fundamentalismus der Taliban noch die Perspektivlosigkeit ihrer Politik für die afghanische Bevölkerung im geringsten interessiert. Ihnen ging es offenbar allein um politische »Stabilität« in Afghanistan und die Sicherheitsgarantie für das Afghanistan-Pipelineprojekt. In Afghanistan wiederholt Bush jun. was Bush sen. 1991 im Irak-Konflikt vormachte. Beide waren und sind, wie keine anderen US-Präsidenten zuvor, sehr eng mit der US-Ölindustrie verbunden und von den Spenden der Ölkonzerne in ihren Wahlkämpfen abhängig. George W. Bush ernannte in sein engstes Beraterteam Leute, die zur Führungsriege der US-Ölkonzerne gehörten, darunter der Vizepräsident Dick Cheney und die Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Es war durchaus kein Zufall, dass George W. Bush kurz nach der Amtsübernahme ankündigte, die fossile Energienutzung stärker als bisher in den Vordergrund der Energiepolitik stellen zu wollen, und dass er im März 2001 demzufolge die Klimavereinbarungen im Protokoll von Kioto aufkündigte. Dem Öl und der Geopolitik wurde so ein neuer Auftrieb erteilt. Umso dringlicher wurde für die neue US-Regierung das Afghanistan-Pipelineprojekt. Ganz in diesem Sinne hat sie die laufenden Verhandlungen mit den Taliban, wie inzwischen »Le Monde diplomatique« vom Januar 2002 ausführlich recherchierte, intensiviert und sogar bis Ende Juli 2001 (sechs Wochen vor der Katastrophe in New York und Washington) fortgesetzt. Dabei stand die Auslieferung von Osama Bin Laden keineswegs im Vordergrund. Ganz im Gegenteil waren „die Amerikaner damals so sehr vom Zustandekommen der Verhandlungen (mit den Taliban) überzeugt, dass das FBI seine Untersuchung über eine mögliche Beteiligung Bin Ladens … am Anschlag auf den amerikanischen Zerstörer USS Cole … auf Veranlassung des State Departments einstellen muss.“ (Abramovici, 2002) Nach Berichten der beiden französischen Geheimdienstexperten Brisard und Dasquie trat der für Bin Laden zuständige FBI-Abteilungsleiter, John O‘Neill, im August 2001 aus Protest gegen diese Behinderungen zurück (Bröckers, 2001a).

Tatsächlich hätte Osama Bin Laden, wie der damalige sudanesische Verteidigungsminister, General Erwa, der Washington Post mitteilte, bereits 1996, als er sich im Sudan aufhielt, ausgeliefert werden können. Doch Washington lehnte das Auslieferungsangebot Sudans mit Rücksicht auf mögliche Unruhen in Saudi-Arabien und mögliche Destabilisierung des saudischen Königshauses ab. Laut Washington Post vom 02. Oktober 2001 gab es damals innerhalb der US-Administration eine intensive Diskussion darüber, „ob die Vereinigten Staaten Bin Laden verfolgen und anklagen oder ihn wie einen Mitstreiter in einem Untergrundkrieg behandeln sollten.“ Ganz offensichtlich hat man sich dafür entschieden „to treat him like a combattant in an ,underground war‘.“ (Bröckers, 2001: 4) Diese Behauptung mag unsere Phantasie über die taktischen Spielchen der Geostrategen überschreiten, man kann sie allerdings auch nicht ganz von der Hand weisen, zumal bisher unwidersprochen ist, dass auch Saddam Hussein durch die amerikanische Seite nicht daran gehindert wurde, Kuwait militärisch zu besetzen. Zu diesem Ergebnis kamen Pierre Salinger (Chefkorrespondent der amerikanischen Fernsehanstalt ABC für Europa und den Nahen Osten) und Eric Laurent (freier Journalist) in ihrem 1991 veröffentlichten Buch (Salinger/Laurent, 1991).

Ob diese »unheiligen Allianzen« zwischen Washington und Saddam Hussein bzw. zwischen Washington und Osama Bin Laden durch den CIA geplant und gezielt Schritt für Schritt umgesetzt wurden, bleibt eine Spekulation. Fakt ist allerdings, dass ohne die Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein die direkte militärische Präsenz in Darham und Riad (Saudi-Arabien) und in Kuwait City, d.h. in unmittelbarer Reichweite der größten Erdöl-Lagerstätten der Welt, genauso unwahrscheinlich gewesen wäre wie die Errichtung neuer US-Militärstützpunkte in Zentralasien (Usbekistan, Kirgisistan) und entlang der Öl- und Gastransportrouten der Quellen in der Kaspischen-Meer-Region ohne Osama Bin Laden und den 11. September. Die Kommandos, die das World Trade Center zerstörten, wurden jedenfalls erst Mitte August aktiviert, nachdem sich Ende Juli 2001 ziemlich klar herauskristallisiert hatte, dass die Taliban nicht bereit sind, sich den US-Bedingungen zur Realisierung des Pipelineprojektes zu unterwerfen und nachdem die US-Verhandlungsführer den Taliban nach Aussage des an den Verhandlungen beteiligten ehemaligen pakistanischen Außenministers, Niaz Naik, mit Militäraktionen gedroht hatten (Abramovici 2002 und Bröckers 2001a). Diese Militäraktion hat als Folge des 11. Septembers tatsächlich stattgefunden und die Transportroute für die kaspischen Energiereserven Richtung Indischer Ozean ist nun frei.

Die USA sind nun im Begriff, entlang der neuen Öl- und Gastransportrouten Militärstützpunkte zu errichten, um ihren globalen Anspruch auf die Vorherrschaft mittels Kontrolle der Ölquellen gegenüber Europa, Japan und nunmehr auch der VR China zu untermauern. Dass die hier dargestellte Doppelstrategie der USA mittels Öl- und Geopolitik die strukturelle Abhängigkeit von fossilen Energieimporten voraussetzt, erklärt, weshalb Russland auf Grund seiner eigenen umfangreichen Energieressourcen jenseits der Reichweite dieser energie- und geopolitischen Doppelstrategie liegt und dass es den USA in erster Linie darum geht, Russlands geopolitische Optionen in Zentralasien auf null zu reduzieren.

Zu der Diversifizierungsstrategie der USA gehört außer der Diversifizierung der Ölquellen und Transportrouten auch eine Diversifizierung von Militärstützpunkten und strukturellen Fähigkeiten für den Nachschub von Kriegsmaterial und -personal im gesamten eurasischen Raum. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das US-Engagement auf dem Balkan, insbesondere im Kosovokonflikt, und die Errichtung einer Militärbasis, des Camp Bondsteel in der Nähe von Pristina als einem der größten US-Militärstützpunkte außerhalb der Nato, in einem neuen Licht (vgl. Massarrat 2000a).

Diese Ausführungen wären unvollständig, blieben zwei Ironien des Afghanistan-Krieges unerwähnt. Erstens die Tatsache, dass ausgerechnet jemand wie Osama Bin Laden, der die amerikanische Ölpolitik als Grund für seinen antiamerikanischen Hass anführte und damit auch die Terroranschläge gegen die USA rechtfertigte1, selbst zum Verbündeten der USA umfunktioniert wird, um die bisherige US-Öl- und Geopolitik im Mittleren Osten und Zentralasien zu festigen und auszubauen. Und zweitens die bittere Wahrheit, dass ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung, die bei den internationalen Klimaverhandlungen zur Reduzierung des fossilen Energieverbrauchs für sich eine Vorreiterrolle reklamiert, mit ihrer „uneingeschränkten Solidarität“ im Afghanistan-Konflikt dazu beigetragen hat, dass die Vereinigten Staaten ungehindert ihre Politik der forcierten Nutzung fossiler Energien durchsetzen und damit alle Ergebnisse des Klimaprotokolls von Kioto von Grund auf zunichte machen können. So schließt sich wieder der Teufelskreis der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie.

Der Teufelskreis von Rüstungswettlauf, Krieg und Fundamentalismus

Was die politische Klasse Amerikas bei der Verfolgung ökonomischer und geostrategischer Ziele von den Menschen im Orient jenseits aller ideologischen Phrasen über Demokratie, westliche Werte und Menschenrechte wirklich hält, sagte unumwunden der ehemalige US-Energieminister James Schlesinger auf dem 15. Kongress des Weltenergiebeirates 1992 in Madrid: „Das, was das amerikanische Volk aus dem Golfkrieg gelernt hat, ist, dass es wesentlich leichter und wesentlich lustiger ist, den Leuten im Vorderen Orient in den Hintern zu treten, als Opfer zu bringen und die Abhängigkeit Amerikas im Hinblick auf das importierte Öl zu begrenzen.“ (Sarkis 1993) Die US-Politik im Mittleren und Nahen Osten seit der Mitte des letzten Jahrhunderts und nun auch in Zentralasien entspricht auf der ganzen Linie jedenfalls ziemlich genau der »Wertschätzung«, die Schlesinger den Menschen im Vorderen Orient beimisst.

Über ein halbes Jahrhundert erlebten die Menschen im Mittleren und Nahen Osten eine politisch-militärische Kooperation des Westens und der Sowjet Union mit diktatorischen Regimen; sie erlebten Militärinterventionen, Waffenimporte, Kriege, Zerstörungen und menschliches Leid. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass Ansätze von Demokratie von außen in der Region gefördert wurden, dass die Werte westlicher Industriestaaten, wie Pluralismus, Meinungsfreiheit und Schutz der Menschenrechte, glaubhaft als Richtschnur ihrer Beziehungen zu den Staaten im Mittleren und Nahen Osten gedient hätten. Wie sollten die islamischen Bevölkerungen dieser Region die positiven politischen Errungenschaften des Westens wahrnehmen und sich diese auch zu Eigen machen, wenn sie durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse mit den westlichen Staaten nicht mit diesen positiven Werten, sondern mit purer westlicher Interessenpolitik, mit Waffengewalt und geopolitischen Schikanen konfrontiert wurden? Dadurch wurde die Demokratisierung in der Region um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern im Nahen und Mittleren Osten beträchtlicher Schaden zugefügt, den kurzfristigen amerikanischen und westlichen Interessen jedoch nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den nationalistisch-fundamentalistischen Regimen, den beiden Golfkriegen, den gigantischen Rüstungsexporten in die Persische-Golf-Region in den letzten 30 Jahren und den sinkenden Ölpreisen. Letztere gelten bekanntlich als wichtigster Stabilitätsfaktor für die florierenden Volkswirtschaften kapitalistischer Industrieländer.

Nun hat sich durch den Terroranschlag auf das World Trade Center und auf das Pentagon das Konzept einer Destabilisierungsstrategie mit »kalkulierbarem Risiko« als Bumerang erwiesen. Die auf eigenen kurzfristigen ökonomischen und geostrategischen Interessen basierende Politik der USA und des Westens wird durch den globalisierten Terrorismus eingeholt. Wie die drohende Klimakatastrophe als Reaktion der Natur auf ein nur kurzsichtig ausgerichtetes ökonomisches Handeln der reichen Eliten in den Industrie- und Entwicklungsländern gesehen werden muss, ist der globalisierte Terrorismus die politische Reaktion auf die Art und Weise der Aufrechterhaltung und Absicherung des Systems. Insofern tragen alle westlichen Staaten, allen voran die USA selbst, eine beträchtliche Mitverantwortung für die Katastrophe in New York und Washington und für Tausende Opfer unter den Trümmern des World Trade Centers.

Literatur

Abramovici, Pierre (2002): Dubiose Kontakte Washington und Taliban, in: Le Monde diplomatique vom Januar 2002.

Altmeyer, Martin (2001): Renaissance zweier Welten. Der Terror und die narzisstische Kränkung, in: Frankfurter Rundschau vom 19.09.01.

Bröckers, Mathias (2001): Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Die Bush – Bin Laden – Connection, in: Telepolis vom 20.11.01 (wysiwyg://http://www.heise.de).

Bröckers, Mathias (2001a): In Memorian John O‘Neill – der kaltgestellte Jäger Bin Ladens starb im World Trade Center, in: Telepolis vom 24.11.01 (wysiwyg://http://www.heise.de).

Brzezinski, Zbigniew (2001): Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M.

Chomsky, Noam/ Beinin, Joel u.a. (1992): Die neue Weltordnung und der Golfkrieg, Grafenau.

Massarrat, Mohssen (1980): Weltenergieproduktion und Neuordnung der Weltwirtschaft, Frankfurt a.M./New York.

Massarrat, Mohssen (1981): Instabilität der Weltlage und Kriegsgefahr, in: Sozialistisches Büro (Hrsg.): Sozialistische Politik und Kriegsgefahr, Offenbach, S. 13-37.

Massarrat, Mohssen (1988): Der Gottesstaat auf dem Kriegsschauplatz, in: Peripherie,.

Massarrat, Mohssen (1991): Der Golfkrieg: Historische, politische, ökonomische und kulturelle Hintergründe, in: Stein, Georg (Hrsg.): Nachgedanken zum Golfkrieg, Heidelberg.

Massarrat, Mohssen (1999): Islamischer Orient und christlicher Okzident: Gegenseitige Feindbilder und Perspektiven einer Kultur des Friedens, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft, 6/1999.

Massarrat, Mohssen (1999a): Die unheilige Allianz mit dem irakischen Diktator, in: Wissenschaft und Frieden, Nr. 1/99.

Massarrat, Mohssen (2000): Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung und neue politische Allianzen, 2., stark erweiterte Auflage, Marburg.

Massarrat, Mohssen (2000a): Der Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Lehren für eine pazifistische Perspektive und eine europäische Friedenspolitik, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft VII/2000.

Pitzke, Marc (2001): Die Woche vom 19. Oktober 2001.

Salinger, Pierre/ Laurent, Eric (1991): Krieg am Golf. Das Geheimdossier. Die Katastrophe hätte verhindert werden können, München.

Yergin, Daniel (1991): Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht, Frankfurt/Main.

Anmerkungen

1) „Amerika stiehlt uns das Öl. Sie behaupten es wäre wichtig für sie. Amerika ist der größte Terrorist aller Zeiten. Nichts wird Amerika davon abhalten so weiterzumachen, außer man zahlt es ihnen mit gleicher Münze heim.“ Notiert aus einem nach dem 11. September über diverse Sender ausgestrahlten Interview ohne Zeitangabe.

Prof. Dr. Mohssen Massarrat lehrt im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück

Militär, Militär, Militär …

Militär, Militär, Militär …

US-amerikanische Interessensicherung

von Regina Hagen

Vor wenigen Wochen trotzte ich, genau wie Zehntausend andere Menschen, dem in München verhängten Demonstrationsverbot gegen die »Sicherheitskonferenz«. Diese, von früher noch als »Wehrkundetagung« bekannte Veranstaltung war in den letzten Jahren etwas aus dem Blickfeld der Friedensbewegung geraten. Zu Unrecht, finden sich zu dieser jährlich stattfindenden Strategiedebatte, die überwiegend von der deutschen Regierung finanziert wird, doch Dutzende hochrangige Politiker und Militärexperten aus NATO- und befreundeten Ländern ein.

Vor einem Jahr stellte sich z.B. der neu ernannte US-Verteidigungsminister Rumsfeld seinem Kollegenkreis vor. Damals standen im »Bayrischen Hof« die Raketenabwehrpläne im Vordergrund; vor der Tür versammelten sich fünfzig DemonstrantInnen.

Nun hat sich seitdem zwar nicht die Welt geändert, aber doch die sicherheitspolitische Lage gefährlich zugespitzt. Nach den Attentaten vom 11. September hat »militärische Konfliktlösung« Hochkonjunktur. Pazifismus soll nur noch »politisch« verstanden werden, als „Unterordnung militärischer Schritte unter politische Strategien“ (Staatssekretär Ludger Volmer am 07.01.02 in der Frankfurter Rundschau). Bei Kriegen geht es auch nicht mehr um ökonomische oder strategische Interessen, nein, die USA handeln ganz altruistisch, weil sie erkennen, „wenn wir unsere Ärmel hochkrempeln, (können wir) nicht nur uns selbst, sondern die Welt retten“ (US-Politikberater Mead am 8.2. in der FR). Der »gerechte Krieg« wird propagiert: gestern für Freiheit und Demokratie, heute zur »Ausrottung des Terrorismus«.

Die DemonstrantInnen gegen die »Sicherheitskonferenz« in München, beim World Economic Forum in New York und auf dem Weltsozialgipfel in Porto Allegre waren da anderer Meinung. Für sie gilt die hier gepriesene »Rettung« nicht der Welt, sondern den Interessen der einzig verbliebenen Supermacht und ihrer Verbündeten, ihrem ungezügelten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt.

Und seine Interessen vertritt das mächtigste Land der Erde mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und notfalls auch gegen internationale Verträge, Vereinbarungen und Institutionen:

  • Den anhaltenden Krieg gegen Terrorismus versteht US-Präsident Bush durchaus wörtlich. Schon im Herbst 2001 gab er bekannt, dass der Krieg gegen unbotmäßige Länder und Gruppierungen mindestens sechs Jahre dauern werde. Mit der Benennung der »Achse des Bösen« (Nordkorea, Iran und Irak) und der Ankündigung, im Zweifel bleibe kein Stein auf dem anderen und das Regime in Bagdad werde hinweggefegt, ob es den Verbündeten nun passe oder nicht, wurde der Anspruch auf einseitiges Handeln formuliert. Da sehen sich selbst die Außenminister der Europäischen Union inzwischen zu vorsichtigen Absetzbewegungen von der „bedingungslosen Solidarität“ (Bundeskanzler Schröder) veranlasst und warnen vor Angriffen auf den Irak.
  • Unverblümt bezeichnet US-Verteidigungsminister Rumsfeld seinen Antrag für das Verteidigungsbudget 2003 als »Kriegshaushalt« und schlägt vor, diesen Etatposten in seinem Land bis 2007 auf US$ 459 Milliarden zu steigern. Bereits im Haushaltsjahr 2003 werden die USA fast 40% der weltweiten Ausgaben für Rüstung und Militär tätigen.
  • „Dominanz über das volle Konfliktspektrum“ (Full Spectrum Dominance) wurde vom US-Generalstab schon 1995 als oberstes Ziel der Militärpolitik benannt (Joint Vision for 2010). Kontrolle über den Weltraum und somit über die Erde sei angesichts der zunehmenden Verteilungskämpfe geboten, um den USA beliebige Handlungsoptionen freizuhalten. Ausdrücklich eingeschlossen wurden mit dem Amtsantritt der Regierung Bush die Bewaffnung des Weltraums und der Anspruch, die Kontrolle über diesen einzigartigen Feldherrenhügel ungehindert auszuüben.
  • Die Beschaffungswünsche des Pentagon beschränken sich aber nicht auf »außeratmosphärische Exotenwaffen«. Das US-Militär soll mit allem ausgerüstet werden, was der Waffenmarkt hergibt, von archaisch anmutenden Monsterkanonen bis hin zu modernsten bewaffneten Drohnen, von Transportflugzeugen bis zu leistungsfähigeren Satelliten, von Raketenabwehrsystemen bis zu Präzisionsbomben und konventionell bestückten Cruise Missiles, von der Ausrüstung für den »Informationskrieger« am Boden bis zu Weltraumbombern.
  • Das Konzept der »neuen Triade« ist Ergebnis des kürzlich abgeschlossenen Nuclear Posture Review, der Überprüfung der US-Nuklearpolitik. Über die bisherige »Triade des Kalten Krieges«, bestehend aus nuklear bestückten Langstreckenbombern, Interkontinentalraketen und U-Booten, wird jetzt die »Neue Triade« gestülpt, die nukleare und nicht-nukleare Angriffsfähigkeiten, breit angelegte Abwehrmöglichkeiten und eine flexibel reagierende Infrastruktur umfasst.
  • Die mit dem russischen Präsidenten vereinbarte Abrüstung strategischer Atomwaffen auf 1.700-2.200 Kernsprengköpfe bezieht sich lediglich auf das jederzeit einsatzbereite Arsenal und soll erst im Jahr 2012 erreicht werden. Nicht in dieser Zahl enthalten sind ca. 400-500 Sprengköpfe, die jeweils gerade zu Wartungszwecken aus dem Arsenal entnommen sind (beispielsweise um den Sprengkraftverstärker Tritium neu aufzufüllen). Die »abgerüsteten« Atomwaffen sollen auch nicht etwa unbrauchbar gemacht werden, sie stehen für »potenzielle Notfälle« einer »responsive force« zur Verfügung, d.h. sie sind binnen kurzem wieder einsatzbereit. Bei einer Änderung der Sicherheitslage behalten sich die USA auch die erneute Aufstockung des Nukleararsenals vor. Weitere Negativpunkte der neuen Nuklearpolitik: Taktische Atomwaffen sind nicht berücksichtigt, eine weitere Reduzierung des Atomarsenals wird bis 2020 ausgeschlossen, die Bereitschaft zur Durchführung von Tests soll erhöht werden und die Unterzeichnung des Umfassenden Teststoppabkommens wird abgelehnt.
  • Raketenabwehr ist neben dem Ausbau konventioneller Angriffsfähigkeiten ein wesentlicher Teil der »neuen Triade«. Mit hohem Tempo und eindeutiger Klarheit treibt die US-Regierung entsprechende Pläne voran. Mitte Dezember hat George Bush den ABM-Vertrag gekündigt, der den USA und Russland den Aufbau eines nationalen Schutzschildes untersagt und zahlreiche Testszenarien und Systeme für Raketenabwehr und Weltraumrüstung verbietet. Die Kündigung wird vertragsgemäß im Juni 2003 wirksam. Anfang Januar wurde die organisatorische Verankerung der Raketenabwehr innerhalb der US-Administration deutlich aufgewertet: George Bush löste die Ballistic Missile Defense Organization auf und installierte statt dessen die ranghöhere Missile Defense Agency. In den Aufgabenbereich dieser neuen Agentur fällt ausdrücklich auch die Management- und Budgetverantwortung für den besonders umstrittenen Weltraumlaser.

Als Zugeständnis an Russland, das diesem Affront wenig entgegenzusetzen hat, wird die schriftliche Fixierung der neuesten nuklearen Abrüstungsabsprache in Aussicht gestellt. Dennoch besteht die Gefahr, dass Russland sich nicht länger an die Vereinbarungen des START II-Abkommens gebunden fühlt und beispielsweise Interkontinentalraketen weiterhin mit Mehrfachsprengköpfen ausrüstet.

Auch China sieht keine rechtliche Handhabe gegen den Auf- und Ausbau einer Vielzahl unterschiedlicher Abwehrsysteme, wird aber wahrscheinlich mit der Ausweitung seines strategischen Nukleararsenals antworten und seine Raketen mit Mehrfachsprengköpfen ausrüsten.

Mit einem Achselzucken gehen die USA über die Bedenken aus aller Welt hinweg, dass mit der Aushebelung des ABM-Vertrags die internationale Rüstungskontrolle aufs Höchste gefährdet wird, doch Europa stellt sich derweil dumm und sucht das Thema nach Möglichkeit zu ignorieren.

  • NATO und Europäische Union versuchen den Spagat. Im Kampf gegen den Terror von den USA marginalisiert, gut vor allem für humanitäre Aufräumaktionen nach Abschluss der Bombardements und für die Eindämmung der innergesellschaftlichen Gewalt vor Ort, müssen sie sich von den USA den Vorwurf der mangelnden Einsatzbereitschaft gefallen lassen. Die Europäer manövrieren sich in der irren Hoffnung auf Gleichwertigkeit selbst in einen Rüstungswettlauf mit den USA – beispielhaft seien nur Transportflugzeuge, Raketenabwehrsysteme und Aufklärungssatelliten genannt –, den sie doch nie gewinnen können.

Nicht etwa auf der Münchner »Sicherheitskonferenz« wies der Bundeskanzler darauf hin, dass Terror Ursachen hat und diese beseitigt werden müssen. Die hehren Worte reservierte Kanzler Schröder für das parallel in New York stattfindende Weltwirtschaftsforum. Anstatt sich zu besinnen und aus historischer Erfahrung und Einsicht der zivilen, völkerrechtlich konformen, nicht-militärischen und vor allem nachhaltigen Konfliktlösung das Wort zu reden, machen sich die deutschen Politiker bestenfalls über die Auswirkungen dieser »Politik mit der Brechstange« Sorgen: Die westliche Welt könne sich im Irak kein weiteres »Versorgungsprotektorat« leisten, verlautet aus Berlin, außerdem würden im Falle eines erneuten Golfkrieges die Erdölpreise massiv steigen. Das könnte natürlich die Rezession verschärfen und das würde die Voraussetzungen für einen rot-grünen Wahlsieg im Herbst weiter verschlechtern.

Es wäre wünschenswert, die deutschen Politiker würden wieder etwas längerfristig denken. Damit wir nicht morgen in einer Welt leben, in der Gewalt und Krieg unter den wohlklingenden Namen »humanitärer Friedenseinsatz« und »Bekämpfung des Terrors« zum bevorzugten Mittel der Politik werden, müssen wir heute die Diskussion über Strategien der zivilen Konfliktlösung führen.

Die DemonstrantInnen von München haben sich in diesem Sinne eingemischt – und das macht Mut.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation und aktiv in der deutschen Friedensbewegung.