EU-Verfassung gescheitert – neue Militärstrategie verabschiedet

EU-Verfassung gescheitert – neue Militärstrategie verabschiedet

von Tobias Pflüger

Bei ihrem Gipfel in Rom konnten sich die Regierungschefs der EU nicht auf den vorliegenden Verfassungsentwurf einigen. In der Folge gab es eine verstärkte Diskussion um ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ein Europa, indem einige Länder in der Zusammenarbeit »vorangehen« – und das vor allem auf militärischen Gebiet. Vor diesem Hintergrund ist von besonderem Interesse, dass die EU in Rom eine verbindliche Militärstrategie verabschiedet hat. Tobias Pflüger über die neuen militärischen Planungen und den dominierenden Einfluss Frankreichs und Deutschlands auf die zukünftige EU-Truppe.

Hauptstreitpunkt bei der Diskussion über die neue EU-Verfassung war die Stimmengewichtung innerhalb der EU. Nach dem Vorschlag des Verfassungskonvents sollten ab 2009 die meisten Entscheidungen im Ministerrat mit einer »doppelten Mehrheit« gefällt werden: Mindestens 13 Regierungen, die mindestens 60 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Polen und Spanien waren dagegen, die Stimmrechte an der Bevölkerungsgröße auszurichten, da sie bei dieser Regelung im Vergleich zur bisherigen Regelung (Nizza-Vertrag) deutlich an Gewicht verlieren würden. Umgekehrt würde Deutschland als bevölkerungsreichstes Land deutlich an Macht gewinnen.

In den Medien wurden überwiegend Spanien und Polen für das »Scheitern des EU-Gipfels« verantwortlich gemacht. Vereinzelt wurde allerdings auch der Verdacht geäußert, dass die deutsche und die französische Regierung vielleicht gar nicht so unfroh sind über das Scheitern des EU-Gipfels. So vermutet die »Neue Zürcher Zeitung« (15.12.2003), dass „Chirac und Schröder in Brüssel mit Absicht den Karren an die Wand fahren ließen, um das Terrain zur Wiederbelebung der alten Idee eines «Kerneuropa» vorzubereiten.“ Klaus-Dieter Frankenberger (FAZ, 16.12.2003) stimmt die Schnelligkeit misstrauisch, „in der das Kerneuropa-Konzept aus der Tasche geholt worden ist – ganz so, als habe man das Brüsseler Scheitern nicht ohne Hintergedanken in Kauf genommen.“ Und Wolfgang Münchau spricht in der »Financial Times Deutschland« (16.12.2003) davon, dass „ohne die deutsche Ellbogendiplomatie in der Debatte um den Stabilitätspakt und die ständigen Drohungen mit Kerneuropa“ mit Polen und Spaniern ein Kompromiss möglich gewesen wäre.

Die Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse

Tatsächlich nehmen die Forderungen nach einem »Kerneuropa« nach der Nichtverabschiedung der EU-Verfassung zu. So spricht die französische Europaministerin, Noëlle Lenoir, davon, dass es möglich sein sollte, dass einige EU-Staaten „als Vorhut“ bei der europäischen Integration schneller vorankommen können als andere.

Der französische Außenminister, Dominique de Villepin, benennt schon konkrete Ziele: Europa muss die Mittel bekommen, um „seinen Platz in der Welt von morgen einzunehmen. Dieser neuen Union müssen ehrgeizige Ziele gesetzt werden, ob sie nun von allen geteilt oder nur von einigen verfolgt werden. Was die ergänzende Integration angeht, wird diese ganz natürlich ihren Platz finden, so wie Frankreich zusammen mit Deutschland und Großbritannien eine besonders nützliche Zusammenarbeit gegenüber dem Iran in Sachen Nonproliferation praktiziert hat. Einen solchen Präzedenzfall können wir morgen neuerlich schaffen, zum Beispiel indem wir die Partnerschaft zwischen unseren Verteidigungsindustrien stärken oder indem wir in Afrika oder anderswo politische Initiativen ergreifen oder Operationen durchführen.“ (FAZ, 19.12.2003)

Und auch der französische Präsident, Jacques Chirac, setzt auf die deutsch-französische Karte. Er ist für die Bildung von »Pioniergruppen« in der Europäischen Union, bei denen „Deutschland und Frankreich … natürlich zum Kern … gehören.“ (AP, 08.01.2004)

Die deutsche Bundesregierung macht deutlich, dass die Diskussion über Kerneuropa „keine rein taktische Debatte“ ist, mit der der Druck zur Einigung erhöht werden soll. Man müsse bei einem endgültigen Scheitern der Verhandlungen in der Lage sein, »konzeptionelle« Antworten zu geben. (FAZ, 21.12.2003) Wie die aussehen könnten erläutert Außenminister Joseph Fischer im Spiegel (20.12.2003): „Diejenigen, die weitergehen wollen – in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in der Zusammenarbeit bei der Innenpolitik, bei Justiz und Recht –, werden weitergehen, wenn die Verfassung scheitert. Sie werden es umso entschiedener tun, je weniger sie daran glauben, dass dieses Europa als Ganzes handlungsfähige Strukturen bekommt.“

Dieses Kerneuropa konkretisiert sich vor allem im Militärbereich. Dazu Sabine Herre: „Das Projekt Kerneuropa hat das Stadium der Theorie verlassen, jetzt gibt es klare Regeln, wie diese »strukturierte Zusammenarbeit« zwischen besonders integrationswilligen Staaten funktionieren soll. Irakkrieg und EU-Erweiterung sind die Gründe dafür, dass Kerneuropa ausgerechnet im militärischen Bereich konkret wird.“ (taz, 01.12.2003)

EU-Militärstrategie – ein Präventivkriegskonzept?

Während die Verhandlungen über eine neue EU-Verfassung scheiterten, wurde in Rom eine verbindliche Militärstrategie verabschiedet. Bereits vorher hatte sich der deutsche Bundeskanzler gewundert, dass die Vorlage – die weitgehend die Vorstellungen der deutschen und französischen Regierung wiedergibt – von allen EU-Staaten akzeptiert wurde: „Zunächst ist es angesichts der innereuropäischen Differenzen in der Irak-Frage bemerkenswert, dass Javier Solanas Entwurf für eine europäische Sicherheitsstrategie von allen EU-Partnern positiv aufgenommen worden ist.“ (Internationale Politik, Nr.9-2003)

Tatsächlich wurde Solanas Vorlage im wesentlichen unverändert verabschiedet. Sie benennt drei strategische Ziele:

  • den Kampf gegen Terrorismus,
  • den Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und
  • Hilfe für »zusammengebrochene Staaten« als Mittel gegen organisierte Kriminalität.

Wie die EU militärisch agieren wird, ist ebenfalls im Strategiepapier erwähnt: „Als eine Union mit 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können.“ Und an anderer Stelle: „Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“

»Verteidigungslinien« die im Ausland liegen, das erinnert an das »Präemptivkriegskonzept« aus der »National Security Strategy« der US-Regierung. Die Begriffe »Präemptivkrieg« oder »Präventivkrieg« wurden allerdings von der EU vermieden. Dazu heißt es auf der Homepage der Bundesregierung: „Der umstrittene Begriff »preemptive engagement« wurde durch »preventive engagement« ersetzt“. Offizielle Erklärungen erwecken den Eindruck, mit dem Begriff »Prävention« sei Konfliktvorbeugung gemeint. Die Neue Zürcher Zeitung (15.12.03) vermutet dagegen, dass der Begriff »preemptive« vermieden wurde, weil es sich um ein »Reizwort« handele. Und für die International Herald Tribune (09.12.2003) ist der Begriff nur ausgetauscht worden, weil es in einigen EU-Sprachen einfach keine Wörter für »preemptive« gibt. Unabhängig davon: Verteidigungslinien im Ausland, das ist eine Umschreibung für »Angriffsaktionen«, und angreifen bevor der Gegner angreifen kann, das ist eine völkerrechtswidrige Aggression.

EU und NATO, Hand in Hand

Die EU-Militärstrategie spricht davon, dass in „einer Welt globaler Bedrohungen, globaler Märkte und globaler Medien … unsere Sicherheit und unser Wohlstand immer mehr von einem wirksamen multilateralen System ab(hängen) … Eine aktive und handlungsfähige Europäische Union könnte Einfluss im Weltmaßstab ausüben. Damit würde sie zu einem wirksamen multilateralen System beitragen, das zu einer Welt führt, die gerechter, sicherer und stärker geeint ist.“ Hier sind sie formuliert, die Weltmachtambitionen der EU. Bereits bei der Vorstellung der EU-Militärstrategie hatte Javier Solana am 12.11.2003 in Berlin hervorgehoben: „Die EU wird zu einem globalen Akteur.“ Damals stellte er ebenfalls klar, dass EU und NATO eng kooperieren werden: „Im Rahmen dieses Netzes ist und bleibt die NATO für die Gewährleistung unserer Sicherheit von grundlegender Bedeutung, und zwar nicht als Konkurrent, sondern als strategischer Partner.“ Innerhalb der EU soll eine »Beistandspflicht« eingeführt werden. Für die bisher (noch formal) neutralen EU-Staaten, Österreich, Finnland, Irland und Schweden würde das dann die endgültige Aufgabe ihrer Neutralität bedeuten.

Aufrüstungsverpflichtung auch ohne EU-Verfassung

Die EU hatte beschlossen ein »Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« einzurichten – das 2004 seine Arbeit aufnehmen soll – und dieses Amt in der EU-Verfassung zu verankern. Doch vor dem Gipfel von Rom wurde dieser Komplex ausgekoppelt und unabhängig von der Verfassung in der EU-Militärstrategie festgeschrieben: Auch die für die EU-Verfassung vorgesehene Aufrüstungsverpflichtung – „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Artikel I-40, Absatz 3) – wird jetzt im EU-Strategiepapier geregelt: „Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt werden.“ Die Regierungen innerhalb der EU, die eine intensive Fortentwicklung der militärischen Komponente wollen, haben mit der EU-Militärstrategie vieles von dem bekommen, was sie mit dem vorgelegten EU-Verfassungsentwurf erreichen wollten. Der entscheidende Unterschied: Die Entwicklungen im Militärbereich werden jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit in »unterschiedlichen Geschwindigkeiten« ablaufen, ein »militärisches Kerneuropa« um Deutschland und Frankreich rückt näher.

Militarisierung der EU

Die Militarisierung der EU ist in vier Bereichen sehr weit vorangeschritten:

  • Erstens bei der Bildung einer EU-Interventionstruppe mit 60.000 Soldaten, die in diesem Jahr einsatzfähig sein soll.
  • Zweitens – und das wird in der Diskussion häufig übersehen – in Gestalt der schon länger vorhandenen verschiedenen bi- und multinationalen Korps.
  • Drittens durch die Oligopolisierung und Stärkung der europäischen Kriegswaffenindustrie.
  • Viertens – und das ist neu – durch die Gründung von »Battle Groups«. Deutschland, Großbritannien und Frankreich wollen sieben bis neun Gefechtsgruppen zu je etwa 1.500 Mann einrichten, die innerhalb von 15 Tagen für Militäreinsätze auf der ganzen Welt von 30 bis 120 Tagen Dauer mobilisiert werden können. Diese »Battle Groups« sollen „in voller Kompatibilität mit den Fähigkeiten der NATO entwickelt“ werden.

Die EU-Interventionstruppe

Die EU-Staaten haben schon seit längerem die Bildung einer EU-Interventionstruppe vereinbart. Insgesamt haben die Regierungen der EU (mit Ausnahme Dänemarks, das sich nicht an der militärischen Komponente der EU beteiligt) und der EU-Kandidaten ca. 100.000 SoldatInnen »angemeldet«, von denen 60.000 für ein Jahr permanent weltweit einsatzfähig sein sollen. Diese Interventionstruppe soll innerhalb von 60 Tagen einsatzfähig sein. Selbst der Interventionsradius von 4.000 km rund um Brüssel wurde verbindlich festgelegt, allerdings wurde er beim ersten »Probeeinsatz« im Kongo schon überschritten. Die EU-Interventionstruppe ist keine »stehende Truppe«, sie wird aus den bereitgehaltenen Truppenkontingenten jeweils zusammengestellt.

Politisch interessant ist die Zusammensetzung der Truppe: Österreich 3.500, Belgien 1.000, Großbritannien 12.500, Finnland 2.000, Frankreich 12.000, Griechenland 3.500, Irland 1.000, Italien 6.000, Luxemburg 100, Niederlande 5.000, Portugal 1.000, Schweden 1.500. Deutschland stellt mit 18.000 das mit Abstand größte Kontingent – fast ein Drittel der EU-Interventionstruppe.

Um 18.000 einsatzfähige SoldatInnen zu haben, sind 32.000 notwendig, die extra dafür ausgebildet werden. Dieses wurde von der Bundesregierung auch zugesagt. Zugesagt wurden außerdem 93 Kampf-, 35 Transport- und 3 Überwachungsflugzeuge, vier Kampfhubschrauber und Einheiten der Marine.

Die Fähigkeiten der Bundeswehr beziehen sich vor allem auf die Bereiche Strategische Aufklärung, Führungsfähigkeit und Strategische Verlegefähigkeit. Der Befehlshaber der EU-Truppe wird der deutsche General Rainer Schuwirth. Der wahrscheinliche Kern eines »Operation Headquarters« der Europäischen Union ist das Einsatzführungskommando in Potsdam-Geltow. Die FAZ (10.07.2001) über die Befehlszentrale in Potsdam: „Mit dem Einsatzführungskommando verfügt die Bundeswehr über einen operativen Führungsstab auf der Armee-Ebene, der in seinen Funktionen Aufgaben wahrnimmt, die in den früheren deutschen Armeen von Generalstäben wahrgenommen wurden.“

Bei den EU-Planungen geht es darum, eine Interventionstruppe zu schaffen, die mit oder ohne Rückgriff auf das NATO-Equipment, also unabhängig von der NATO und damit auch unabhängig von der USA, agieren kann. Auf der Homepage der Bundesregierung hört sich das so an: „Diese Kräfte in Form einer europäischen Eingreiftruppe sollen für gemeinsame Einsätze der EU unabhängig von der NATO zur Verfügung stehen.“ (www.bundesregierung.de) Auch wenn Solana die NATO „nicht als Konkurrent, sondern als strategischen Partner“ sieht, Militärinterventionen der EU, an denen die US-Regierung kein Interesse hat oder bei denen sogar andere US-Interessen vorliegen, bergen die Gefahr in sich, dass es zu deutlichen Zuspitzungen im Verhältnis EU – USA kommt.

Die multinationalen Korps

Zentrales Element der EU-Militärpolitik sind die seit langem bestehenden diversen multinationalen Korps. Hier gibt es

  • das Eurokorps mit deutschen, belgischen, spanischen, französischen und luxemburgischen Truppen,
  • das Eurofor mit Truppen aus Spanien, Frankreich, Italien und Portugal,
  • das Euromarfor bestehend aus Truppen der gleichen Länder,
  • die europäische Luftfahrtgruppe mit deutschen, belgischen, spanischen, französischen, italienischen und britischen Verbänden,
  • die in Deutschland befindliche Multinationale Division unter britischer Führung mit deutschen, belgischen und niederländischen Truppen
  • und das in Afghanistan zum Einsatz kommende Deutsch-Niederländische Korps, dem zeitweise dort die »Lead-Nation-Funktion« übertragen wurde.

Seit September 2002 ist das Eurocorps bei der NATO als »Rapid Reaction Corps« anerkannt. Der Vorzeigetruppe der EU soll die Führung der Afghanistan-Schutztruppe ISAF übertragen werden. „Weiter ist beabsichtigt, der Nato auch die operative Führung“ des noch laufenden Krieges in Afghanistan „zu übertragen.“ (FAZ, 04.02.2004) Nach Angaben der FAZ werden die dazu erforderlichen Truppenverstärkungen in der Nato auf 5.000 bis 14.000 Mann geschätzt. Das läuft auf eine Zusammenlegung der beiden bisher aus guten Gründen getrennt geführten Operationen »Enduring Freedom« und »ISAF« hinaus. Im Rahmen von »Enduring Freedom« wurden und werden die Kriegs- und Kampfeinsätze in Afghanistan durchgeführt, an denen sich zeitweise auch Soldaten des deutschen Kommando Spezialkräfte beteiligten. »ISAF« war bisher »nur« für die so genanntenen Stabilisierungseinsätze zuständig. Mit dem Bundestagsbeschluss zum Einsatz von Soldaten in der Region Kundus wurde allerdings eine erste Aufweichung dieser harten Trennung vorgenommen.

EU-Truppen in den Irak?

Die USA wünschen offensichtlich eine offizielle Rolle der NATO bei der Besatzung des Irak. Wie beim Treffen der NATO-Militärminister im Kontext der Münchner »Sicherheitskonferenz« im Februar 2004 besprochen, soll beim nächsten Treffen der NATO-Militärminister in Istanbul, im Juni 2004, eine NATO-Operationsplanung für den Irak beschlossen werden. Für den Einsatz gegen Ende des Jahres oder Anfang nächsten Jahres sind 30.000 bis 45.000 Soldaten in der Diskussion. Als Hauptquartiere sind das Allied Rapid Reaction Corps (ARRC) in Mönchengladbach und das Deutsch-Niederländische Korps im Gespräch. „In beiden Führungsstäben stellt die Bundeswehr einen Großteil des Personals“, so die FAZ (04.02.2004). Deutsche Soldaten wären dann durch ihre Beteiligung an den Führungsstäben konkret in die Besatzungspolitik des Iraks eingebunden. Die Anti-Irakkriegsposition der deutschen Regierung – bereist angekratzt durch die indirekte Unterstützung der US-Militäroperationen von deutschem Boden aus und durch die Hilfestellung für die US-Armee im Kriegsumfeld – wäre damit endgültig in sich zusammengebrochen.

Ausblick

Für die französische Militärministerin, Michele Alliot-Marie, ist die Militärzusammenarbeit zum Schlüsselelement des europäischen Einigungsprozesses geworden. In einem Interview mit der FAZ (05.02.2004) stellt sie fest: „Die Irak-Krise hat die Verteidigungszusammenarbeit in der EU nicht zurückgeworfen, das Gegenteil ist der Fall. Die Verteidigung ist ein Schlüsselelement des europäischen Einigungsprozesses geworden. Sie kommt schneller voran als damals die Währungsunion.“

In seiner Eröffnungsrede zur Hannovermesse 2003 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder den Zusammenhang hergestellt zwischen dieser Aufrüstungspolitik und dem sozialen Kahlschlag in unserem Land. Er begründete die Notwendigkeit der Agenda 2010 damit, dass „Deutschland seine Rolle in Europa und damit Europa seine Rolle in der Welt … spielen will und soll.“ Man müsse das „Land ökonomisch in Stand setzen, auch die Kraft zu haben und sie diesem Europa zur Verfügung zu stellen, um diese Rolle realisieren zu können.“ (www.bundesregierung.de, eingesehen am 07.04.2003)

Die Erkenntnis ist alt: Geld kann man nur einmal ausgeben, entweder für eine Hochrüstung oder für Bildung und Soziales. Neu ist, dass sich ein sozialdemokratischer Kanzler so absolut offen zu Gunsten der Militarisierung und gegen die Bedürfnisse der Bevölkerung entscheidet.

Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler, Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung und Mitglied der Redaktion von Wissenschaft und Frieden

Kontinuität und Radikalisierung

Kontinuität und Radikalisierung

Die US-Militärpolitik von Clinton zu Bush

von Lars Klingbeil

Selbst der Altmeister der Geopolitik Zbigniew Brzezinksi war gekommen und verurteilte in einer nachdenklichen aber wortgewaltigen Rede die Außen- und Sicherheitspolitik der Bush-Regierung: Man brauche die Europäer, man dürfe nicht auf die Logik der militärischen Präventivschläge setzen, um Probleme zu lösen; die Aufteilung der Welt in »Gut und Böse« verschärfe die weltpolitischen Probleme. Anlass der Rede: Die Zusammenkunft der amerikanischen Demokraten zur Gründung eines eigenen »Think Tank«. Lange – zu lange – hatten sie zugesehen, wie die neokonservativen Kräfte sich um die Heritage Foundation und das American Enterprise Institute gruppierten und massiv personellen und inhaltlichen Einfluss auf die sicherheitspolitische Debatte in den USA gewannen. Damit sich das ändert, organisierte das Center für American Progress1 im Oktober 2003 eine Konferenz zu »New Strategies for Security and Peace«2 und die Bildung eines entsprechenden »Think Tank« unter Leitung von John Podesta, dem ehemaligen Chief of Staff Bill Clintons. Neben Brzezinski sprachen u.a. auch die US-Senatoren Hillary Clinton und Joseph Biden sowie die Sicherheitspolitiker der Clinton-Administration Richard Holbrooke, William Perry, Samuel Berger und Botschafter Wilson.

Zwei Jahre lang konnten oder wollten die Demokraten sich nach dem 11.9. sicherheitspolitisch nicht bewegen. Die Debatte schien gelähmt, Bush und seine Berater hatten nahezu unbegrenzte Handlungsfreiheit. Erst durch die massiven Probleme im Irak, die immensen Kosten des Krieges und der Besatzung sowie durch den eskalierenden Streit im Kabinett Bush, erkennen die Demokraten ihre Chance, wieder sicherheitspolitisch Akzente setzen zu können. Aktuelle Umfragen belegen: Die Sicherheitspolitik ist nicht mehr die alleinige Domäne der Republikaner, die Demokraten können – wie John Podesta sagt – die »Unterschiede« deutlich machen.

Außenpolitische Unterschiede – Gibt es die wirklich?

Zur Beantwortung dieser Frage zunächst ein Blick in die Vergangenheit. Welche sicherheitspolitischen Veränderungen gibt es unter der Bush-Administration gegenüber der Regierung Clintons? Im Golfkrieg 1991 galt noch die Powell-Doktrin, nach der Soldaten nur dann eingesetzt werden, wenn enge sicherheitspolitische Interessen betroffen sind, eine öffentliche Zustimmung vorliegt und vor allem wenn eine »exit strategy« existiert. Unter Clinton gab es eine Ausweitung des Interessensbegriffes. Neben dem vitalen Interesse, das der unmittelbaren Sicherheit der USA galt, definierte er die Verfolgung humanitärer Interessen als Ziel der US-Politik. Diese Ausweitung des Interessensbegriffes wurde mit den so genannten humanitären Interventionen in Somalia, in Bosnien und im Kosovo umgesetzt. Im Wahlkampf 2000 wurden Clinton und sein Stellvertreter Al Gore hart für diese Außen- und Sicherheitspolitik angegangen. Die Republikaner bezeichneten den außenpolitischen Ansatz als »Sozialarbeit« und die USA als »Weltpolizist«, der seine eigenen nationalen Interessen vernachlässigt.3 Bush machte bereits im Wahlkampf deutlich, dass er wieder auf eine an den vitalen Interessen der USA ausgerichtete Politik setzen werde. Die Powell-Doktrin sollte wieder zum Maßstab, Militär nur zur Sicherung eigener Interessen eingesetzt werden, Peacekeeping-Missionen und »nation-building« wurden abgelehnt.4 In den ersten Monaten der Bush-Regierung wurde dieser Kurs rhetorisch beibehalten; auch die Interventionen im Irak und Afghanistan wurden dementsprechend nach dem 11. September 2001 in das vitale Interesse der USA eingeordnet und als sicherheitspolitische Notwendigkeit begründet. Faktisch wurde damit aber die Interventionspolitik Clintons extrem radikalisiert. Das schlägt sich auch nieder in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002. Aus der »Option zu präventiven Handlungen« unter Clinton wurde jetzt das Recht auf die Führung eines Präventivkrieges, an die Stelle der »Sicherung US-amerikanischer Interessen« trat die erklärte Absicht, durch „freie Märkte und freien Handel eine neue Ära globalen Wirtschaftswachstums auszulösen.“ Die erklärte Absicht der offensiven Verbreitung der „Vorzüge der Freiheit in der ganzen Welt“ und der Prinzipien der eigenen »Wertegemeinschaft« beinhaltet den erzwungenen Regimewechsel. 5

Mit der Rumsfeld-Doktrin, die von einem extremen militärischen Übergewicht beim Kampfeinsatz ausgeht und durch Technologiegläubigkeit gekennzeichnet ist, wurde das Militär risikofreundlicher.

Neue Logik in der Militärstrategie

Ein bedeutender Wandel hat in der Konzeption der Militärstrategie stattgefunden. Zwar hält die Bush-Administration an der »Zwei-Kriege-Konzeption« der Clinton-Administration fest. Die ursprüngliche Intention des ersten Verteidigungsministers Clintons, Les Aspin, durch die Ausrichtung auf die Führung zweier gleichzeitig stattfindender Regionalkriege den Umfang der amerikanischen Streitkräfte reduzieren zu können, wurde unter Bush allerdings verworfen. Die von ihm angestrebte absolute militärische Dominanz und Möglichkeit der Präventivkriegsführung beinhaltet sowohl den Regimewechsel als auch die Besatzung eines Landes.6 Das erfordert den Ausbau militärischer Kapazitäten. Die Planungen sollen sich dementsprechend nicht mehr an potentiellen Gegnern und Bedrohungen ausrichten (threat based approach), sondern gewährleisten, dass alle Fähigkeiten gegeben sind, auf alle Szenarien mit allen möglichen Mitteln umfassend reagieren zu können und alle potentiellen Gegner zu besiegen (capabilities-based approach). Einhergehend hiermit setzten die USA auf »Full Spectrum Dominance«. Das Ziel: Diese Überlegenheit umfassend in allen militärischen Teilbereichen, also auch im Weltraum und in der Informationsbeschaffung und -auswertung, anwenden zu können.

Weiter wurde die »Forward Deterrence« vorangetrieben. Um global und schnell auf eine Gefährdung amerikanischer Sicherheit reagieren zu können, sollen die weltweiten Regionalkommandos und Militärbasen der USA umstrukturiert werden (Standing Joint Task Force Headquarters). Als eigenständiges Hauptquartier verfügen sie mit der »Standing Joint Task Forces« jederzeit über eine eigene Einsatztruppe und können ohne aufwendige Unterstützung von außerhalb auf Sicherheitsbedrohungen reagieren. Mit hochmodernen Waffen soll zudem ein präziser Angriff auch aus einer größeren Distanz möglich werden (long range power projection). Dieser Ansatz einer schnellen, militärischen Reaktion auf eine Sicherheitsbedrohung drängt andere sicherheitspolitische Elemente, etwa politische oder wirtschaftliche Maßnahmen, in den Hintergrund. Die verschiedenen Änderungen in der Militärstrategie wurden schon während der Amtzeit Clintons diskutiert, allerdings überwogen damals Skepsis und Widerstand innerhalb der Administration und des Militärs. Über den 11. September 2001 wurden dann umfangreiche Transformationsprozesse legitimiert.

Die Bedeutungszunahme der militärischen Macht lässt sich auch an dem drastisch erhöhten Verteidigungsetat ablesen. Der Etat war in den ersten Jahren unter Clinton gesunken (1994: 263 Mrd. Dollar) und dann gegen Ende seiner Amtszeit wieder erhöht worden (1999: 292 Mrd. Dollar). Unter Bush ist der Etat mittlerweile um 100 Milliarden Dollar auf über 400 Mrd. Dollar in 2004 gestiegen. Hinzu kommen zahlreiche Notpakete mit denen die Kriegseinsätze in Afghanistan und im Irak finanziert werden. Der Etat des Außenministeriums hat sich in den letzten Jahren hingehen nur minimal erhöht – von 23,5 Mrd. im Jahr 2000 auf 25,7 Mrd. in 2003. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es hier innerhalb des Budgets eine massive Verschiebung zugunsten von Militär- und Entwicklungshilfe für Staaten gegeben hat, die die USA im Kampf gegen den Terrorismus unterstützen.

Proliferation von Massenvernichtungswaffen

Mit dem Ende des »Kalten Krieges« und dem Zerfall der Sowjetunion verloren die USA das Feindbild, das bis dahin für ihre sicherheitspolitische Konzeption ausschlaggebend war (empire of evil). An diese Stelle trat dann sehr schnell als neue Bedrohung die Gefahr der Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Clinton setzte in seinen ersten Amtsjahren vor allem auf Rüstungskontrollabkommen um dieser Gefahr zu begegnen (1993 die Chemiewaffenkonvention, 1995 die unbefristete Verlängerung des atomaren Nicht-Verbreitungsvertrages). Parallel dazu wurde jedoch seit Ende 1993 als letztes Element einer umfassenden Strategie zur Sicherung der Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen der gezielte Militäreinsatz konzipiert. Gegen Ende der Amtszeit Clintons kam es zur Krise des Rüstungskontrollansatzes, als der nukleare Teststoppvertrag im Kongress blockiert wurde. Als Präsident hat Bush diese Politik zugespitzt. Im »Nuclear Posture Review« von 2002 wird die Möglichkeit skizziert, Nuklearwaffen auch gegen Staaten einzusetzen, die selbst über keine Massenvernichtungswaffen verfügen. Die Schwelle für den nuklearen Erstschlag sinkt damit erheblich. Die Rüstungskontrollpolitik hat weiter an Bedeutung verloren, in den Vordergrund gerückt ist dafür die präventive (militärische) Abwehr von möglichen Angriffen gegen die USA. Der Einsatz von Militär ist nicht mehr letztes Mittel, sondern eine gleichberechtigte Option. Gleichzeitig wird der militärische Heimatschutz mit dem Raketenabwehrsystem ausgebaut. Die Mittel hierfür wurden im Jahr 2004 auf 10 Milliarden Dollar erhöht.

Terrorismus und »axis of evil«

Auch die so genannten Schurkenstaaten (»rogue states«) rückten bereits mit dem Ende des Kalten Krieges stärker in den Blickwinkel der USA. Sie wurden als Bedrohung für die Stabilität in wichtigen Regionen der Welt, wie der Golfregion, gesehen. Eine direkte Bedrohung für die USA – oder für ihre Interessen – analysierte man damals jedoch nicht. Die Politik Clintons setzte darauf, durch »Eindämmung« eine Änderung der Politik dieser Staaten zu erreichen, sie versuchte gleichzeitig den »rogue states« präventiv die Mittel und Möglichkeiten zu entziehen, die diese für die Umsetzung ihrer Ambitionen benötigten. Präsident Clinton spitzte vorübergehend im Laufe seiner Amtszeit die Bedrohungsanalyse durch Schurkenstaaten zu und legitimierte so ein offensiveres sicherheitspolitisches Agieren der USA. Vor dem Ende der Regierung Clinton wurde die Bedrohungsanalyse dann wieder herabgestuft, die »rogue states« wurden nur noch als »states of concern«, als besorgniserregende Staaten, bezeichnet. Dies sollte einen konstruktiveren Umgang ermöglichen. Die Republikaner warfen Clinton im Wahlkampf vor, mit der Eindämmungsstrategie gescheitert zu sein und forderten ein offensiveres Vorgehen, gegen die »rogue states«.

Es deutete sich von Beginn der Bush-Administration an, dass sie die Politik gegenüber den »rogue states« radikalisieren und auch in Betracht ziehen würde, mit allen Mitteln gegen diese vorzugehen.7 Unmittelbar nach den Attentaten des 11. Septembers nutzte die Bush-Regierung dann die Gelegenheit, um neben dem Terrorismus die Gefahr durch so genannte Schurkenstaaten herauszustellen. Es kam zu einer deutlichen rhetorischen Zuspitzung der Bedrohung durch diese Staaten. In der »State of Union« vom Januar 2002 erklärte Bush schließlich, die USA seien durch die »axis of evil« bedroht. Die Achse des Bösen – Irak, Iran und Nordkorea – stehe für alle aktuellen Bedrohungen: Terrorismus, »rogue states« und Massenvernichtungswaffen. Die Auseinandersetzung mit der »axis of evil« wurde somit als wichtiges Element in den Kampf gegen den internationalen Terrorismus eingeordnet. Gegen diese neue Bedrohung sollte offensiv vorgegangen werden. Asymmetrischen Bedrohungen – so die Logik der Administration – müsse man zuvorkommen und ihnen mit präventiven Militärschlägen begegnen.

Von Clinton zu Bush: Alles neu?

Ob in der Bedrohungsanalyse oder den Strategien »Bedrohungen« zu begegnen, bei der Militärstrategie oder in der Interventionspolitik: Überall konnte die Regierung Bush anknüpfen an Entwicklungen, die schon unter Präsident Clinton eingeleitet wurden. Die Demokraten waren Wegbereiter der Politik George W. Bushs. Doch Bush hat unter Ausnutzung des 11. Septembers diese Politik nicht kontinuierlich fortgesetzt, sondern radikalisiert. Die Demokraten haben mit ihrer Politik der humanitären Intervention den Einsatz des Militärs politisiert und die internationale Rechtslage missachtet. Bush setzt dort heute an, wenn er „Demokratie und Entwicklung, freie Märkte und freien Handel in jeden Winkel der Erde“ tragen will, wenn er davon spricht, dass die USA ihre Interessen „national wie international“ verteidigen, indem sie „die Bedrohung identifizieren und zerstören, bevor sie unsere Grenzen erreicht“, indem er die internationale Rechtslage missachtet und ankündigt „notfalls allein zu handeln und … präventiv gegen Terroristen vorzugehen:“8 Eine Politik, die mit dem Irakkrieg exekutiert wurde. In der Summe lassen sich also massive Veränderungen in der Sicherheitspolitik der Bush-Administration gegenüber der Amtszeit von Präsident Clinton feststellen und die Demokraten haben Recht, wenn sie auf der eingangs zitierten Strategiekonferenz feststellten, dass es unter George W. Bush viele Entwicklungen in der Sicherheitspolitik gibt, die einer massiven Kritik bedürfen. Jedoch sollten sie ihre eigene Rolle dabei nicht übersehen.

Anmerkungen

1) www.americanprogress.org

2) Die Konferenz fand am 28.-29. Oktober in Washington statt. Der Videomitschnitt und Dokumentation von einigen Reden finden sich auf der Homepage www.newamericanstrategies.org. Weitere Zitate der Konferenz entstammen der persönlichen Mitschrift des Autors.

3) RICE, Condoleezza: Promoting the National Interest, in Foreign Affairs, Volume 79, No.1, January/February , S. 45-57, Washington DC 2000, S. 53.

4) Vgl. O´Hanlon, Michael E.: A Reality Check for the Rumsfeld Doctrine, in: Financial Times, 29. April 2003.

5) Neue Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002, zitiert nach FR vom 28.09.2002.

6) Department of Defense: The Quadrennial Defense Review Report, 30. September 2001, Washington DC 2001.

7) Vgl. Zoellick, Robert B.: Essentials republikanischer Außenpolitik, in: Internationale Politik, 3/2000, S. 49-50, Berlin 2000.

8) Neue Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002, zitiert nach FR vom 28.09.2002.

Lars Klingbeil ist Mitglied der W&F-Redaktion. Er arbeitet derzeit in den USA an seiner Magisterarbeit zum Thema »Das sicherheitspolitische Konzept der USA nach dem 11. September – Bruch oder Kontinuität

Rosige Ankündigungen, graue Taten

Rosige Ankündigungen, graue Taten

Zum außen- und sicherheitspolitischen Teil des SPD/Grünen-Koalitionsvertrags

von Paul Schäfer

Die »rot-grüne« Regierungsübernahme 1998 nach 16 Jahren Helmut Kohl war von großen Erwartungen begleitet. Nicht zuletzt die Koalitionsvereinbarung nährte diese Hoffnungen. In ihr fanden sich nicht wenige Anliegen engagierter Gruppen im außerparlamentarischen Bereich wieder. Joschka Fischer war zwar vor Amtsantritt nicht müde geworden, Kontinuität zu betonen, aber konnte man das nicht gut und gerne unter diplomatischer Routine abhandeln? „Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“, lautete der erste Satz des Abschnitts über internationale Politik. Doch die Tinte unter dem Koalitionsvertrag war kaum trocken, als die neue Regierungscrew nach Washington bestellt wurde, um Deutschland auf einen NATO-Militäreinsatz im ehemaligen Jugoslawien einzuschwören. Die Enttäuschung saß tief, dass es just diese Regierung war, die erstmals eine unmittelbare deutsche Beteiligung an Kriegshandlungen vollzog. Manche trösteten sich damit, dass es sich um eine einmalige Entgleisung gehandelt haben könnte. Aber nach dem 11.9.2001 prägte Kanzler Schröder das Wort von der „Enttabuisierung des Militärischen“. Wenn er dennoch wiedergewählt wurde, dann nicht dieses Satzes wegen, sondern weil sich »Rot-Grün« im Wahlkampf als besonnene Anti-Kriegspartei präsentierte. Doch was gilt nun nach der erfolgten Wiederwahl? Welche Aufschlüsse gibt diesbezüglich die Koalitionsvereinbarung?
Mit der deutschen Beteiligung am NATO-Luftkrieg waren wichtige Kernsätze des Koalitionsvertrages (Bedeutung der Vereinten Nationen, Wahrung des Völkerrechts) Makulatur geworden. Wenn jetzt viele Aussagen des Vertrages von 1998 wiederholt werden, ist davon auszugehen, dass wieder das gleiche Grundmuster bedient wird. Tatsächlich überwiegt, wenn man die Koalitionsverträge von 1998 und 2002 vergleicht, Kontinuität – bei einigen Neuakzentuierungen.

Widerspruch zwischen Deklaration und politischer Praxis

Der frisch gebackene Außenminister Fischer prägte damals den bemerkenswerten und klugen Satz, man wolle Kontinuität, um Spielräume für neue Politikansätze überhaupt eröffnen zu können. Doch damit war es nicht weit her. Bescheidene Vorstöße, etwa zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte durch Oskar Lafontaine oder zur Revision der NATO-Doktrin vom atomaren Erstschlag, wurden, nachdem man sich eine Abfuhr eingehandelt hatte, schlicht ad acta gelegt. Neu scheint nun ein gewisser »Realismus« zu sein, der darin zu bestehen scheint, dass man solche kühnen Vorstöße gar nicht mehr erwägt.

Ein neuer Akzent liegt auch darin, dass unter dem Eindruck der Terroranschläge allenthalben von Sicherheitserfordernissen die Rede ist. In der Regierungserklärung von Gerhard Schröder wird dieses Leitmotiv deutlich betont. Der Bundesregierung gehe es um „eine Gesellschaft, die […] umfassend Sicherheit bereitstellen kann.“1 International werbe die Regierung für einen erweiterten Sicherheitsbegriff, hieß es da.

Zum deklarierten Kontinuum deutscher Außenpolitik (gewissermaßen auch die Standards rot-grüner Außenpolitik) gehören:

  • Eine multilateral ausgerichtete Politik, die bei der Lösung globaler Probleme auf die UNO und ihre »Unterorganisationen«, wie der OSZE setzt;
  • der hohe Stellenwert der transatlantischen Zusammenarbeit, der sich in einem Bekenntnis zur loyalen Partnerschaft mit den USA und zur Unverzichtbarkeit der NATO äußert;
  • die überragende Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses für die deutsche Politik;
  • Abrüstung & Rüstungskontrolle, Entwicklungspolitik als globale Zukunftssicherung.

Eine kritische Sicht auf den Koalitionsvertrag wird nicht nur Widersprüche zwischen den verschiedenen Grundelementen dieser Orientierung aufspüren, sondern auch den Konkretionsgehalt der jeweiligen Abschnitte genauer unter die Lupe nehmen müssen. Diese Prüfung wird im Lichte der Erfahrungen vorgenommen werden. Was bedeutet die Widerborstigkeit der Schröder/Fischer-Regierung in Sachen Irak-Krieg für den künftigen Kurs der Regierung? Wie ernst sind dieses Mal die Aussagen zu werten, dass man das Völkerrecht beachten wolle, dass den Vereinten Nationen eine Schlüsselrolle zukomme, dass man für Gewaltverzicht eintrete?

Schlüsselfrage Nr. 1: US-Empire

Die gegenwärtige Irak-Politik macht das Dilemma der Schröder/Fischer-Regierung schlaglichtartig klar: Man hat ernste Einwände gegen den geplanten US-Krieg. Dessen Legitimation stünde nach Meinung der Bundesregierung auf schwachen Füßen; der Krieg käme ungelegen, weil er die Bewältigung akuter anderer Krisenherde (Afghanistan, Kaschmir, v.a. Nahost) erschwert und weil er die Gefahr unkontrollierbarer Entwicklungen in der Golfregion immens verstärkt. Andererseits ist die Bundesregierung nicht kategorisch gegen Militärinterventionen, wenn es um die Durchsetzung »westlicher« Interessen geht (die ja gerne als »Verantwortung der Weltgemeinschaft« verbrämt werden). Das Kanzler-Wort von der »Enttabuisierung des Militärischen« bleibt im Koalitionsvertrag unerwähnt, wird aber eben auch nicht widerrufen. Die Bundesregierung trägt das Strategische Dokument der NATO vom April 1999 mit, das sog. »friedensschaffende« Militäreinsätze der Allianz vorsieht.

Ist es vor diesem Hintergrund mehr als Zufall, dass die Zielstellung der 98er-Vereinbarung, die Aufgaben der NATO jenseits der Bündnisverteidigung an die Normen und Standards von VN und OSZE binden zu wollen, dieses Mal fehlt? In diesem Kontext genauso entscheidend: Die Bundesregierung akzeptiert die Führungsrolle der USA, nicht nur beim Kampf gegen den Terrorismus, sondern bei der Sicherung der gemeinsamen »Werte« und »Interessen«. Ihr Einwand gegen den drohenden Krieg bezieht sich ausschließlich auf die neue aggressive US-Strategie, unliebsame Regimes militärinterventionistisch – auch ohne Legitimation des VN-Sicherheitsrates – stürzen (»regime-change«) zu wollen. Dieser Einwand ist zwar erheblich, aber doch nicht so kategorischer Natur, dass die Regierung alles daransetzen würde, den Krieg zu verhindern. Zumal sie – nicht zuletzt nach den erheblichen Verstimmungen im Wahlkampf – alles daran setzen will, ihre Loyalität gegenüber dem Großen Bruder wieder unter Beweis zu stellen.

Daher hat die Bundesregierung eine moderate Linie des Widerspruchs gewählt: Keine Beteiligung eigener militärischer Verbände, aber auch keine Einwände gegen die Nutzung US-amerikanischer Militärbasen hierzulande für Angriffe gegen den Irak, kein demonstrativer Abzug der Spürpanzer aus Kuwait. Schon jetzt ist absehbar, dass man die Differenz zwar nicht aufgeben, aber den USA noch weiter entgegenkommen will. Die Bundesregierung hat eine Erhöhung des militärischen Beitrages der Bundeswehr in Afghanistan angekündigt, der die USA entlasten würde – Minister Struck wurde daraufhin prompt zu Mr. Rumsfeld vorgelassen, musste sein Dinner aber in der Deutschen Botschaft einnehmen. Ob sich die Bundesrepublik, falls es zum Krieg kommt, am sog. post-conflict-building, am Wiederaufbau mit militärischen Mitteln beteiligt, scheint noch nicht endgültig geklärt.

Seit dem Dissens in der Irak-Frage hat die Bush-Administration deutlich gemacht, wie man mit unsicheren Kantonisten umzuspringen gedenkt. Berlin wurde eine Liste von Forderungen übergeben, deren Erfüllung darüber entscheide, ob Deutschland noch einmal „eine zweite Chance“ gegeben werde.2 Darin ging es insbesondere um den NATO-Gipfel in Prag und um deutsches Wohlverhalten in drei Angelegenheiten:

  • Zustimmung zu einer großen, zweiten Ost-Erweiterungsrunde der NATO,
  • Bereitschaft zur Aufnahme der Türkei in die EU und
  • Unterstützung eines Plans zur Aufstellung einer neuen NATO-Eingreiftruppe (»NATO Response Force«).

Die 21.000-Mann starke Truppe soll künftig die Speerspitze der NATO bei der »Terrorismus«-Bekämpfung bilden, genauer gesagt: Sie wird wohl den US-amerikanischen Marines, die als klassisches Expeditionskorps für weltweite Einsätze ausgelegt sind, nachgebildet werden. Der amerikanische Vorschlag soll nicht zuletzt Sand ins Getriebe der EU-Bemühungen um eine 60.000 Mann umfassende Interventionstruppe werfen. Es deutet sich eine Arbeitsteilung an, die den USA und der von ihr geführten NATO die »harten Militäreinsätze« vorbehält, während das europäische Kontingent eher für »peace-keeping-Einsätze« vorgehalten werden soll. Außenminister Fischer hat nun der NATO-Eingreiftruppe unter Vorbehalt zugestimmt. 3 Die neue Truppe müsse mit der Aufstellung der EU-Krisenreaktionskräfte vereinbar sein, sagte er.

Das transatlantische Gezerre um europäische Militäreinsätze wird also weiter gehen. Woran die USA wirklich interessiert sind, hat jüngst NATO-Botschafter Nicholas Burns deutlich gemacht: Deutschland müsse endlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Rüstung stecken. Das wären schlappe 40 Milliarden € (Ist-Stand knapp 25 Mrd.)4 Man kann auch Freunde »totrüsten«.

Die angesprochene Umgangsweise ist kein kurzfristiger Reflex auf Schröders Wahlkampf-»Entgleisung«, sondern konkreter Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins relevanter Teile der US-Eliten. Spätestens seit den Ereignissen von »NineEleven« sehen sie die USA dazu berufen, ein Empire zu errichten, das der Welt Stabilität, Wohlstand und Freiheit garantiert, und nebenbei die eigene, uneingeschränkte Vorherrschaft für das 21. Jahrhundert sichert. Mit der New Security Strategy des Präsidenten Bush wird diese Doktrin festgeschrieben und in entsprechende Schlussfolgerungen gegossen. Dabei geht es um die dauerhafte Sicherung der militärischen Dominanz, um das Recht zu präemptiven Angriffskriegen, wenn es die »eigene Sicherheit« erfordert, und um die langfristige Verhinderung von möglichen Gegen-Allianzen.

Wer die Vereinten Nationen in eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bringen will, wer einer Zivilisierung und Verrechtlichung der Internationalen Beziehungen das Wort redet, muss sich dieses Grundkonflikts bewusst sein: Diese noblen Ziele der Bundesregierung sind den Plänen des US-Empire diametral entgegengesetzt.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Benennung dieses Konflikts in einer von diplomatischen Zwängen geprägten Regierungserklärung wiederfindet. Aber leider ist die Verdrängung dieses harten Widerspruchs Methode bei allen europäischen Regierungen, die deutsche eingeschlossen. Hat man damit vor der gewiss schwierigen Aufgabe europäischer Selbstbehauptung nicht bereits kapituliert?

Die USA unter George W. Bush lehnen internationale Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen ab. Wie also will die Bundesregierung ihr Ziel der „vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen“ durchsetzen? Wie soll die konsequente Ächtung der B- und C-Waffen erreicht werden?

Die US-Administration lehnt die Übertragung von Souveränitätsrechten an eine internationale Gerichtsbarkeit strikt ab. Wie also soll es mit dem Internationalen Strafgerichtshof weitergehen? Soll man sich auf die Art fauler Kompromisse einstellen, wie sie beim ISGH jüngst erzielt wurden? Die »Multilateralisten« dürfen solche Einrichtungen gründen, die aber durch bilaterale Vereinbarungen der USA mit ihren Verbündeten prompt unterlaufen werden?!

Es ist an der Zeit, dass darüber eine offene und harte Debatte geführt wird. Von amerikanischer Seite wurde mit den provokativen Thesen Robert Kagans5 Klartext geredet. Die europäischen Antworten sind bisher eher diffus. Solange muss man sich nicht wundern, dass es außenpolitisch bei schönen Deklarationen bleibt. Den Ansprüchen an eine Politik, die eine friedlichere, eine gerechtere Welt erreichen will, genügt dies nicht.

Schlüsselfrage 2: Gestaltung der Globalisierung

Auch im zentralen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit war in den vergangenen Jahren der Widerspruch zwischen Deklaration und Praxis unübersehbar. Es bedurfte der schrecklichen Terroranschläge von New York und Washington, um den Abwärtstrend bei den Ausgaben zu stoppen. Die Regierung hatte sich zuvor weit von dem anvisierten Ziel der 0,7 Prozent (Anteil Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt) entfernt. Dieser Widerspruch setzt sich fort.

Der gesamte Abschnitt des Koalitionsvertrages zur internationalen Politik ist überschrieben mit »Gerechte Globalisierung«. SPD und Grüne wollen Globalisierung gestalten und dabei von den Prämissen Zivilisierung, Rüstungsbegrenzung und Interessenausgleich zwischen den Weltregionen ausgehen. Doch wer Globalisierung gestalten will, muss zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, wie Globalisierung bis dato »funktioniert« und warum sie ganz andere Folgen als die intendierten zeitigt. Bei der gegenwärtig forcierten Globalisierung dreht sich alles darum, Volkswirtschaften und Gesellschaften für den Weltmarkt zu konditionieren. Dort aber sind die Regulative der großen transnationalen Akteure und des Finanzkapitals bestimmend. Deren Gewinninteressen werden durch internationale Regime besonders unter der Federführung des Internationalen Währungsfonds bisher glänzend bedient, wie es zuletzt Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (»Schatten der Globalisierung«) sehr präzise nachgewiesen hat. Die Folgen dieser Globalisierung können nicht nur in Südamerika, sondern auch in Afrika studiert werden.

Es gibt inzwischen genügend Untersuchungen darüber, wie der gnadenlose Kampf um Ressourcen gerade in Afrika zu immer neuen kriegerischen Auseinandersetzungen geführt hat. Ein Befund, der selbst in Studien der Weltbank nachgelesen werden kann. Wer also der Gewalteskalation in der vormaligen Dritten Welt (»Neue Kriege«) wehren will, muss sein Hauptaugenmerk darauf richten, nachhaltige Entwicklung in den Ländern des Südens zu fördern und sozial gerechtere Verhältnisse im Weltmaßstab herzustellen.

Die Bundesregierung formuliert in diesem Rahmen: „Unser gemeinsames Ziel ist, weltweit ein System globaler kooperativer Sicherheit zu entwickeln, das allen Menschen ermöglicht, friedlich, frei und ohne Not zu leben.“ Dem ist unbedingt beizupflichten, um im nächsten Schritt nach den Mitteln und Wegen zu fragen, die die Regierung einzuschlagen gedenkt, um diesem Ziel näher zu kommen. Nach dem oben Angedeuteten wird einiges davon abhängen, ob die Regierung, in Verbindung mit anderen Akteuren wie der EU, willens und bereit ist, die bisher dominanten Kräfte der Globalisierung in sozialstaatliche und ökologische Schranken zu weisen und etwas Macht an die bisher Machtlosen in den internationalen Strukturen abzugeben. Doch was die Regierung in dieser Hinsicht vorschlägt, bleibt allgemein und zahnlos.

Hieß es noch im 98er Vertrag, dass man sich für die Schließung der Steueroasen einsetzen wolle, geht es jetzt nur noch darum, den Druck auf diese zu erhöhen, „um die Steuergerechtigkeit zu erhöhen“. Vorschläge wie Tobinsteuer und Nutzungsentgelte sollen weiter „geprüft werden“. Dabei hatte sich die Ministerin redlich Mühe gegeben, die Möglichkeiten der Umsetzung der Tobin-Tax wissenschaftlich evaluieren zu lassen.6

Gegenüber den transnational tätigen Unternehmen will man sich dafür einsetzen, dass sie ihre soziale und ökologische Verantwortung anerkennen sollen. Es steht zu befürchten, dass dieser philanthropische Appell wenig fruchten wird.

Der IWF soll eine stärkere Rolle in der Krisenvorbeugung bekommen, dazu sollen Kapitalflüsse und Auslandsverschuldung „intensiver analysiert und transparent“ werden. Das ist ein allzu dürftiges Konzept.

Diese Kritik bleibt auch erhalten, wenn man wohlwollend in Rechnung stellt, dass die Regierungserklärung einige positive Dinge – Entschuldungsinitiative für die Ärmsten der Armen (HIPC), Marktzugang für Entwicklungsländer, fairer Handel – festgeschrieben hat. Auch hier wird es auf die Umsetzung ankommen. Was von manchen Ankündigungen zu halten ist, zeigt u.a. der Punkt »Hermes-Kredite«. Schon im letzten Vertrag wurde versprochen, Exportbürgschaften sollten stärker an soziale und ökologische Erfordernisse gekoppelt werden. Geschehen ist bis dato nahezu nichts. Menschenrechtsverletzungen sollen jetzt bei Anträgen »geprüft« werden. Aber die bisherige Praxis zeigt, dass im Zweifel die Exportinteressen der deutschen Wirtschaft oben an stehen.

Nicht zum ersten Mal wird die Anhebung der staatlichen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit versprochen. Es gehört zur traurigen Bilanz der ersten vier Jahre Rot-Grün, dass man nicht über das Niveau Kohlscher Entwicklungshilfe hinauskam. Schlimmer noch. Zwischenzeitlich sank der Etatansatz. Immer noch ist man unter der 0,3 Prozent Marke (Anteil der Ausgaben am Bruttosozialprodukt). Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Mittel für Osteuropa (Transform) und Südosteuropa (Stabilitätspakt) aus der Allgemeinen Finanzverwaltung in den Etat des BMZ verlagert wurden, war der Rückgang in den letzten Jahren noch einschneidender. Jetzt soll bis zum Jahre 2006 ein Anteil von 0,33 Prozent am Bruttosozialprodukt erreicht werden. Fachleute haben errechnet, dass die Bundesrepublik damit ca. 30 Jahre bräuchte, um auf die Zielzahl 0,7 Prozent zu kommen.

Böse Zungen behaupten vor diesem Hintergrund, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, dass auch noch die Leistungen der Bundeswehr im Rahmen zivil-militärischer Aufbauprogramme (Straßenbau im Kosovo etc.) in den BMZ-Etat hineingerechnet werden (wie dies bereits andere Länder tun). Dann ist die Zielmarke evtl. eher zu erreichen.

Ähnlich verhält es sich mit den Aktionsprogrammen zur Halbierung der globalen Armut, den Aufwendungen für die soziale Grundsicherung in den Entwicklungsländern etc. Den großen Ankündigungen stehen unangemessene Taten gegenüber.

Mit großem Aufwand hat die Bundesregierung beim Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg verkündet (und in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen), dass man „in den nächsten Jahren“ 350 Mio € für verbesserten Wasserzugang bereitstellen wolle. In den nächsten fünf Jahren wolle man 500 Mio. € zum Ausbau der Erneuerbaren Energien und weitere 500 Mio. € zur Steigerung der Energieeffizienz bereitstellen. Solche Botschaften klingen gut. Allerdings hat die Regierung nicht erklärt, dass sie diese Mittel zusätzlich bereitstellen wird. Es geht doch eher darum, dass bisher im Einzelplan des Ministeriums unter verschiedenen Titel eingestellte Ausgaben zusammengefasst und ggf. aufgestockt werden. Um welchen Betrag?

Wie vorbeugende Entschuldigungen wirken die Hinweise im Text, dass die Entwicklungsländer doch selber durch »Gutes Regieren« (»Good Governance«) und durch bessere Finanzaufsicht dafür sorgen sollten, dass es aufwärts geht. Nicht dass diese Botschaft falsch wäre. Aber angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaftspolitik der meisten Länder der Erde mit akribischen Auflagen von den internationalen Finanzinstitutionen reguliert wird, müssen solche Aussagen fast zynisch wirken.

Wir werden daher genau hinzuschauen haben, welche Initiativen die Bundesregierung ergreift (und nicht nur ankündigt), wenn es darum geht, die Partizipationsrechte der Entwicklungsländer in den internationalen Gremien zu stärken. Hier sind sowohl die entwicklungspolitischen NGOs wie auch die Globalisierungskritiker und -kritikerinnen gefragt.

Markenzeichen »zivile Krisenvorbeugung«?

Zivile Krisenprävention und Konfliktbewältigung bezeichnet die Bundesregierung als „Eckpfeiler ihrer internationalen Stabilitäts- und Friedenspolitik.“ Zivile Konfliktbearbeitung soll zum Markenzeichen dieser Regierung werden. Bundesaußenminister Fischer schwärmt gern von einem europäischen Modell des internationalen Krisenmanagements. Dies schließt indes Militäreinsätze nicht aus. Militärisches und zivile »Krisenbearbeitung« sollen ins rechte Verhältnis gesetzt werden. Den USA wird in diesem Zusammenhang implizit vorgeworfen, dass sie militärische Antworten bevorzugen und die zivile Aufgabe des »nation-building« vernachlässigen würden. Das wollen die »Europäer« besser machen. Die Bundesregierung hat in der vergangenen Legislatur mit der Bereitstellung von Ressourcen für zivile Krisenbewältigung (Polizei, Justiz etc.) und dem Aufbau des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) begonnen. Diese Infrastruktur soll nun weiter ausgebaut werden. Eine Schlüsselrolle soll dabei dem jüngst gegründeten »Zentrum für internationale Friedenseinsätze« zukommen. Ein ressortübergreifender Aktionsplan zur »Zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« soll erarbeitet werden.

Man wird sich die dort angesprochenen Maßnahmen im Einzelnen anschauen müssen. Dass der ZFD sinnvolle Beiträge der Konfliktbearbeitung leisten kann, ist kaum zu bestreiten; wenn man sich dabei stärker darauf konzentrieren würde, Menschen aus den Krisengebieten zu qualifizieren, wäre diese Einrichtung noch positiver zu bewerten. (Dass im Kontext der zivilen Krisenvorbeugung die Friedensforschung mehr Mittel erhalten soll, ist ohnehin zu begrüßen). Die Intension der Bundesregierung, auf dem Feld der Zivilisierung der Internationalen Beziehungen besonders aktiv zu werden, enthält Anknüpfungspunkte auch für die Friedensbewegung. Sie muss vor allem genutzt werden, um die Grundsatzdebatte um neue Paradigmen in der Internationalen Politik zu eröffnen. Dabei werden die Widersprüche rot-grüner Außenpolitik in aller Schärfe benannt werden müssen. Bis dato bleibt die zivile Konfliktbearbeitung mehr oder weniger ein Appendix von Militäreinsätzen. Dies schlägt sich nicht nur in der eklatanten Diskrepanz der Mittelbereitstellung zwischen Militärischem und Zivilem nieder. Zivile Krisenbearbeitung hatte bisher in aller Regel eine nachsorgende Funktion nach »Militärinterventionen«. Sie trägt, ob im Quasi-Protektorat Kosovo, oder im Quasi-Protektorat Afghanistan, ausgesprochen paternalistische Züge. Daher muss die Frage erlaubt sein, ob diese Form der Konfliktbewältigung nicht doch nur Bestandteil einer hegemonialen Stabilisierungspolitik ist, die zwar »by the way« Demokratisierungs- und Zivilisierungsfortschritte bringen kann, die aber im Kern vor allem darauf abzielt, Störpotenziale beim Anschluss peripherer Regionen an Weltmarkt und bürgerliche Weltgesellschaft auszuschalten.7 Es geht also primär um die Sichtweise und die Interessen der führenden Industriemächte. Bis dato hat sich diese Form der Stabilitätspolitik, vorsichtig ausgedrückt – siehe Balkan – nicht als durchgängige Erfolgsstory erwiesen. Und der Preis eines solchen dem Militärischen subordinierten Krisenlösungsmodells ist hoch. Dies beginnt bei den zahlreichen Opfern der Kriege. Bislang hat der Ansatz der Bundesregierung weder im nationalen noch im internationalen Maßstab dazu geführt, dass die militärischen Potentiale sukzessiv abgebaut werden. Im Gegenteil.

Die Effektivierung der »Armee im Einsatz«

Die Bundeswehr unterliegt seit dem Beginn der 90er Jahre ständigen Veränderungen. Die Folgen der Deutschen Einheit, der völkerrechtlich und haushaltspolitisch gebotene Zwang der Umfangreduzierung, der Umbau von einer territorialen Verteidigungsarmee zu einer hochmobilen Einsatztruppe, all dies hat viel Unruhe in die Bundeswehr gebracht. Die Kohl-Regierung hatte zwar die Weichen in Richtung Einsatzarmee gestellt und die dafür erforderliche Umrüstung eingeleitet, wollte aber ein Maximum an Besitzstandswahrung mit größtmöglicher Modernisierung verbinden. Dieser Vorsatz scheiterte aber immer wieder an den Zwängen des klammen Bundeshaushalts.

Mit der Einsetzung einer Art »Wehrstrukturkommission« unter Leitung des Ex-Bundespräsidenten von Weizsäcker sollte endlich der Gordische Knoten durchschlagen werden. Doch der unglückliche Vorgänger des jetzigen Verteidigungsministers hatte anderes im Sinn. Auch er wollte eine definitive Reform der Bundeswehr ins Werk setzen, zugleich aber als »Soldatenminister« (Hunzinger lässt grüßen) in die Geschichte eingehen. So entschied er sich für den Mittelweg zwischen den Begehrlichkeiten der Generalität bzw. der Rüstungswirtschaft und den weiter reichenden Vorschlägen der Weizsäcker-Kommission. Die Folge: Die jetzige Regierungsvereinbarung muss das Kommissionspapier wieder aus der Schublade holen und eine neuerliche Reform der Reform in Aussicht stellen.

Mit der Aussage, dass die neuen Aufgaben, die Struktur, die Ausrüstung und die Mittel der Bundeswehr wieder in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden müssen, enthält der Koalitionsvertrag ein halbherziges Eingeständnis, dass die bisherigen Koordinaten der Bundeswehrplanung nicht das letzte Wort sind. Damit sich aber nicht allzu viel Unruhe verbreitet, sollen größere Revisionen erst zum Ende der Legislaturperiode vorgenommen werden. Ob dazu die Infragestellung der Wehrpflicht oder zumindest deren Modifikation gehören wird, steht noch nicht fest. Minister Struck muss allerdings unmittelbar damit beginnen, einige Beschaffungstitel auf den Prüfstand zu stellen. Das betrifft vor allem die Stückzahl des neuen Transportflugzeugs A 400 M. Die eskalierende Krise der Staatsfinanzen wird eine weitere Deckelung der Rüstungsausgaben unausweichlich machen.

Dabei wird aber vor allem an Einsparpotenziale durch Strukturreformen und durch die Verkleinerung des Personalumfangs gedacht. Denn die Bundesregierung will zugleich ihre Verpflichtungen innerhalb der NATO und des neuen militärischen Zweigs der EU erfüllen. Und die bedeuten in jedem Fall Fortsetzung der Rüstungsmodernisierung. Abrüstungspolitik ist also von der neuen/alten Bundesregierung nicht zu erwarten.

Der verhaltene grüne Triumph, dass man die Zukunftsfragen der Armee wieder aufgemacht habe, sollte uns nicht täuschen. Aber immerhin kann die angekündigte Revision der Bundeswehr-Reform in der Tat genutzt werden, um eine neue gesellschaftliche Debatte über Sinn und Unsinn von Streitkräften zu eröffnen. Die Friedensbewegung und die Kritiker und Kritikerinnen des Militärischen sind gefordert.

Dies wird auch aus anderen Gründen nötig sein: Verteidigungsminister Struck hat die Einbringung eines Bundeswehr-Entsendegesetzes (kurioserweise »Parlamentsbeteiligungsgesetz« genannt) angekündigt, das offenkundig nur einem Zweck dient, die lästige parlamentarische Befassung, bevor Truppen zum Einsatz kommen, einzuschränken.8 Wie der SPIEGEL richtig feststellt, verträgt sich die Absicht, die neue »NATO Response Force« binnen sieben Tage »einsetzbar« (!) zu machen, nicht mit der langwierigen bundesdeutschen Genehmigungsprozedur. Opposition gegen die Aushöhlung parlamentarischer Rechte aus dem gegenwärtigen Parlament heraus, ist kaum zu erwarten. Umso mehr sollten wir Friedensbewegten Alarm schlagen.

Ohne Druck von unten ist keine Widerständigkeit gegen drohende Kriege zu erwarten, wird es keine wirklichen Initiativen zur Abrüstung und Entmilitarisierung geben. Auch die Ankündigungen einer auf Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit gerichteten globalen Strukturpolitik werden ansonsten überwiegend auf dem Papier bleiben.

Anmerkungen

1) Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag am 29. Oktober 2002, in: Bulletin 85-1, 29.10.2002.

2) FAZ vom 23.10.02: Eine „Liste“ Washingtons für Berlin.

3) S. Süddeutsche Zeitung vom 15. November 2002, S. 6.

4) Der SPIEGEL 45/2002, S. 136.

5) Robert Kagan, Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10`02, Bonn. Siehe auch die Repliken im November-Heft der „Blätter“.

6) „Eine moderne Tobin-Tax gegen Spekulation“, Auszüge einer Studie im Auftrag des BMZ, in: Frankfurter Rundschau vom 22.02.02.

7) Siehe dazu die Beiträge von Peter Lock und Paul Schäfer in: Ulrich Albrecht, Michael Kalman, Sabine Riedel, Paul Schäfer (Hrsg.), Das Kosovo-Dilemma. Schwache Staaten und Neue Kriege als Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Münster 2002.

8) S. Der SPIEGEL 45/2002, S. 136.

Paul Schäfer ist Mitglied der W&F-Redaktion, Köln

US-Vorherrschaft ausbauen und verewigen

US-Vorherrschaft ausbauen und verewigen

Bushs Nationale Sicherheitsstrategie

von Jürgen Wagner

Von dem Zeitpunkt an, als George F. Kennan 1947 unter dem Pseudonym »Mr. X« in der Zeitschrift Foreign Affairs die Grundlagen der Containment-Politik darstellte, verschrieb sich die Außenpolitik der Vereinigten Staaten vorwiegend einem Ziel: Der Eindämmung der Sowjetunion. Nachdem die USA aus der Blockkonfrontation als einzige Supermacht hervorgingen, galt es diese Strategie an die neuen Bedingungen anzupassen. Die Suche nach einer Nachfolgedoktrin begann.
Seit 1986 ist der US-Präsident per Gesetz (»Goldwater-Nichols Act«) dazu verpflichtet, den Kongress detailliert über den künftigen Kurs der US-Außenpolitik zu unterrichten. Während frühere Versuche, eine »Grand Strategy« für die Zeit nach dem Kalten Krieg zu entwerfen, fehlschlugen, soll nun die vom US-Präsidenten am 20. September 2002 vorgelegte Nationale Sicherheitsstrategie (NSS), besser bekannt unter dem Namen Bush-Doktrin, der große Wurf sein.1

Die neue »Grand Strategy«?

Auffällig ist zunächst einmal, dass die NSS eindeutig die Handschrift jener Neokonservativen Hardliner um Vizepräsident Dick Cheney und den stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz trägt, die schon seit Jahren für eine hegemoniale, auf militärische Stärke und deren Anwendung setzende US- Außenpolitik plädieren. Trotzdem sehen nicht wenige in ihr die Nachfolgedoktrin des National Security Council Memorandums (NSC) vom April 1950, das seinerzeit die Containment-Politik offiziell einleitete und fortan von den außenpolitischen Eliten der USA weitgehend im Konsens verfolgt wurde.2

Der Grundgedanke der NSS besteht darin, die Zementierung der US-Hegemonie als neue Leitlinie der US-Außenpolitik zu etablieren. Hierfür integriert sie wichtige Aspekte der beiden dominierenden außenpolitischen US-Denkschulen: Die Verfolgung klassischer Machtpolitik und Interessenswahrung des Realismus findet sich in der NSS ebenso wieder, wie die im liberalen Internationalismus angelegte Forderung nach aggressiver Ausweitung von Demokratie und Marktwirtschaft. Gleichzeitig werden moderatere Elemente, wie die Forderung der »Realisten« nach einem zurückhaltenden Einsatz militärischer Gewalt oder die der »Internationalisten« nach stärkerer Ausrichtung auf multilaterale Kooperation, zugunsten einer konsequenten Verfolgung des eigenen Hegemonialanspruchs über Bord geworfen. „Im schlimmsten Fall“, so John Ikenberry, Professor für Geopolitik an der Georgetown University, geht es hier um „eine neoimperiale Vision, in der die Vereinigten Staaten für sich eine globale Rolle reklamieren: Standards festzulegen, Gefahren zu definieren, Gewalt anzuwenden und Gerichtsbarkeit auszuüben.“3 Dies ist aber lediglich die logische Folge dessen, dass die NSS den eingeschlagenen Weg der US-Außenpolitik konsequent zu Ende denkt, indem der Grundgedanke einer Aufrechterhaltung der eigenen Hegemonialposition mit der hierfür notwendigen aggressiven außenpolitischen Doktrin flankiert wird.

Falls diese Prämisse breite Unterstützung findet, besteht das Hauptproblem nicht darin, dass eine kleine Gruppe von Hardlinern kurzzeitig die US-Außenpolitik dominiert, sondern darin, dass sich die Vereinigten Staaten damit auf Konfrontationskurs mit der restlichen Welt begeben haben. Gerade diese Polarisierung macht die NSS zu einem Dokument, das gründlich und grundsätzlich analysiert werden muss.

Der hegemoniale Konsens

Seit Charles Krauthammer Anfang der 90er den »unipolaren Moment« ausrief, der auf das Ende der Sowjetunion und dem damit verbundenen Aufstieg der USA zur einzigen Supermacht folgte, steht die Forderung nach einer Verewigung der US-Hegemonie im Zentrum des neokonservativen Denkens. Diese neue Aufgabe der US-Außenpolitik wurde in ihren Grundzügen schon vor 10 Jahren in der unter anderem von Cheney und Wolfowitz verfassten »Defense Planning Guidance« festgelegt. Seither zieht sich diese Prioritätensetzung wie ein roter Faden durch neokonservative Veröffentlichungen. So unterstrich eine Studie vom September 2000, an der neben Wolfowitz auch Lewis Libby, Cheneys Stabschef und weitere Mitglieder der Bush-Administration beteiligt waren, dass sich die gesamte US-Außenpolitik diesem Ziel unterzuordnen habe: „Derzeit sieht sich die USA keinem globalen Rivalen ausgesetzt. Die Grand Strategy der USA sollte darauf abzielen, diese vorteilhafte Position so weit wie möglich in die Zukunft zu bewahren und auszuweiten.“4

Den neokonservativen Präferenzen entsprechend übernimmt auch die NSS diese Forderung: „Der Präsident beabsichtigt nicht, es irgendeiner anderen ausländischen Macht zu erlauben, den gewaltigen Vorsprung, der sich den USA seit dem Kalten Krieg eröffnet hat, aufzuholen.“5 Der Rest des Dokumentes dient primär der Umsetzung dieses Zieles.

Allerdings handelt es sich hierbei nicht allein um ein Projekt der äußersten republikanischen Rechten. Nahezu die komplette außenpolitische US-Elite teilt die Auffassung, die US-Strategie müsse sich darauf konzentrieren, keinen ebenbürtigen Rivalen zuzulassen. So war die Bewahrung der US-Vormachtstellung auch unter Clinton das maßgebliche Ziel seiner Außenpolitik.6

Aufgrund der gemeinsamen Prämisse verwundert es nicht, dass es sich bei der NSS „um die konsequente Fortschreibung längst vorhandener respektive sich seit langem abzeichnender Konzeptionen handelt,“7 die auf viele operative Elemente aus der Clinton-Zeit zurückgreift. Allerdings war eine Hauptkritik an Bushs Vorgänger, diese Einzelelemente nicht konsequent zu einem kohärenten Ansatz zusammengefügt zu haben, der sich klar an der Verfolgung von Washingtons Hegemonialanspruch orientierte. Dies mündete in den Vorwurf des »halbherzigen Hegemons« bzw. des »widerwilligen Sheriffs«. Die NSS soll genau diesen Makel beheben und die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit schließen.8

Vom »Containment« zur »Pax Americana«

Galt die bloße Forderung nach einer dauerhaften Vormachtstellung lange als undenkbar, ist sie heute überall zu vernehmen. Als Rechtfertigung dient die Aussage, ein unipolares System mit den USA an der Spitze sei die beste Möglichkeit kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Aufgrund der permanenten staatlichen Interessenskonflikte drohe ansonsten immer die Gefahr einer militärischen Verregelung von Konflikten oder einer erneuten Blockkonfrontation. Jeder relative Machtverlust vergrößere die Bedrohung der USA und müsse deshalb unter allen Umständen verhindert werden. Dieses Ringen um eine »dauerhafte Vormachtstellung« bedingt den ständigen Ausbau der militärisch-ökonomischen Führungsposition und mündet in der Forderung nach einer »Pax Americana« bzw. eines US-Imperiums. Gleichzeitig wird damit versucht, eine im wesentlichen egoistische Politik als pazifizierendes Element der Weltpolitik umzudeuten, an dessen Verfolgung allen Staaten gelegen sein sollte.9

Schon lange vor dem 11. September benannte ein neokonservatives Grundlagenpapier die »Pax Americana« als strategisches Ziel der US-Politik und beschrieb die hierfür notwendigen militärischen Aufgaben (vgl. Tabelle).

Die auffällige Verknüpfung realistischer und internationalistischer Komponenten ist auch zentraler Bestandteil der NSS und zeigt, dass die wesentlichen Elemente der neuen Doktrin sich nicht unmittelbar auf die New Yorker Anschläge beziehen: „Das übergreifende Ziel dieser Strategie ist nicht der Kampf gegen terroristische Gruppen oder Staaten, sondern Erhalt und Ausbau der Ungleichheit zwischen Amerika und dem Rest der Welt und die Vollendung der weltweiten Durchsetzung des amerikanisch dominierten Modells.“11 Der »Kampf gegen den Terror« liefert den Vorwand für die Umsetzung dieser imperialen Strategie und gibt zudem die militärischen Antworten, wie man mit den Folgen dieser Politik umgehen will.

»Full Spectrum Dominance«

„Wir sind wachsam gegenüber einer erneuten Großmachtkonkurrenz“, betont die NSS (S. 30). Um dies zu verhindern müsse das militärische Potenzial der Vereinigten Staaten „groß genug sein, um mögliche Gegner davon abzuhalten, in der Hoffnung die Macht der USA zu übertreffen oder einzuholen, eine militärische Aufrüstung anzustreben.“

Dieser Ruf nach permanenter militärischer Dominanz ist ein zentraler Baustein der US-Hegemonialpolitik. „Amerika sollte versuchen seine globale Führungsposition durch die Übermacht seines Militärs zu bewahren und auszuweiten,“ verkündeten die Neokonservativen schon vor ihrem Einzug ins Weiße Haus.12

Allerdings wurde schon unter Clinton die Doktrin der »Full Spectrum Dominance« erarbeitet. Amerika solle die Dominanz über jeden erdenklichen Gegner auf allen möglichen Schlachtfeldern erlangen, so die bereits 1996 veröffentlichte Joint Vision 2010. Die NSS (S. 29) betont zudem die Bedeutung einer »Vorwärtspräsenz« in „strategisch vitalen Regionen“, was im Einklang mit der nun begonnenen radikalen Ausweitung US-amerikanischer Truppenstationierungen in der kaspischen Region und wohl auch bald am Persischen Golf steht.

Gleichzeitig wird ein Legitimationskonstrukt entworfen, das der Anwendung dieses Potenzials nahezu einen Blankoscheck erteilt.

Proliferation, Präemption und Krieg auf Verdacht

Laut NSS (S. 6) ist die Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln (Proliferation) nun das handlungsleitende Prinzip der US-Regierung: „Unsere unmittelbare Aufmerksamkeit wird sich auf die Terrororganisationen globaler Reichweite und […] staatliche Unterstützer des Terrorismus richten, die versuchen Massenvernichtungsmittel zu benutzen oder an deren Vorläufer zu gelangen.“ Angeblich hätten die Anschläge des 11. September belegt, dass die traditionellen Ansätze – Abschreckung, Eindämmung und Rüstungskontrolle – nach dem Kalten Krieg nicht mehr greifen würden: „Abschreckung, die allein auf einer Drohung mit Vergeltung basiert, funktioniert kaum gegen Führer von Schurkenstaaten, die eher bereit sind Risiken einzugehen.“ (NSS, S. 15) Zusätzlich sei die Möglichkeit einer Weitergabe von Massenvernichtungsmitteln an Terroristen nicht tolerierbar, weshalb die NSS (S. 6) fordert, die „Gefahr zu beseitigen, bevor sie unsere Grenzen erreicht“, indem die USA „nicht zögern werden, wenn notwendig auch allein, durch präemptives Handeln ihr Recht auf Selbstverteidigung auszuüben.“

Während die US-Regierung von Präemption spricht, was eine vom Völkerrecht gedeckte militärische Reaktion auf einen nachweislich und unmittelbar bevorstehenden Angriff darstellt, ist in Wirklichkeit Prävention, die Vorbeugung möglicherweise künftig entstehender, keineswegs sicher auftretender Gefahren gemeint. Dies ist jedoch ein klarer Bruch des Völkerrechts und die faktische Beendigung staatlicher Souveränität.

Gerade in dem als Präzedenzfall vorgesehenen Angriffskrieg gegen den Irak wird deutlich, da eine irakische Aggression wohl kaum bevorsteht, dass er als eine präemptive Aktion nach gängigem Verständnis nicht zu rechtfertigen ist. Auch der US-Regierung scheint dieser Widerspruch bewusst zu sein.Deshalb fordert sie in der NSS (S. 15), das „Konzept unmittelbar bevorstehender Gefahren an die Ziele und Möglichkeiten heutiger Gegner anzupassen.“ Das Beispiel Irak zeigt auch, dass Washington inzwischen der bloße Versuch an Massenvernichtungsmittel zu gelangen, ja sogar der unbewiesene Verdacht, als Kriegsgrund ausreicht.

Zwar wird angegeben, nicht in allen Fällen präemptiv handeln zu wollen, allerdings vermisst man jegliche Kriterien dazu, wann solche Einsätze legitim sein sollen. „Würden die USA das Interventions- und Präventionsprinzip künftig durchgehend anwenden, so ergäbe sich angesichts einer stets vorhandenen latenten Terrorismusgefahr eine geradezu permanente Interventionslage, mit den entsprechenden Gefahren für die internationale Stabilität.“13 Der Anspruch, nahezu beliebig und frei von Restriktionen Staaten militärisch abstrafen zu können, ist offensichtlich und integraler Bestandteil einer »Pax Americana«. Manche Beobachter gehen sogar soweit, der Bush-Doktrin eine strukturelle Ähnlichkeit zur Breschnew-Doktrin zu attestieren, was sicher nicht völlig falsch ist.14

Das verweist auf eine destabilisierende Wirkung der NSS. Wenn die USA auf bloße Anschuldigung hin ein militärisches Eingreifen androhen, ist es wenig plausibel, wieso andere Staaten diese Herangehensweise nicht übernehmen sollten. Russlands explizit mit dem Verweis auf die Bush-Doktrin erfolgte Drohungen gegenüber Georgien zeigen hier die ersten fatalen Folgen. Um dem vorzubeugen dürfen laut NSS (S. 15) „Staaten Präemption nicht als Vorwand für Aggressionen benutzen.“

Die Deutungsgewalt verbleibt aber alleinig in den Händen der einzigen Weltmacht, was wohl eines der entscheidenden Merkmale der neuen Doktrin ist. Während Abschreckung und Rüstungskontrolle lange Zeit auf Gegenseitigkeit beruhten, werden sie heute einseitig angewandt und um eine offensive Komponente ergänzt. So behält sich Washington das Recht vor – entgegen den Zusagen des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages – sein Abschreckungspotenzial auf alle Ewigkeit zu behalten, nennt den gleichen Versuch anderer Staaten aber »nukleare Erpressung«. Während man selbst die Bio- und Chemiewaffenkonventionen verletzt, werden andere Länder ohne Beweise angeklagt solche Waffen zu entwickeln und ihnen deswegen militärische Konsequenzen angedroht. Das Prinzip gegenseitiger Abschreckung kann nicht geduldet werden, da Washington ansonsten seinen Kontrollanspruch in wichtigen Regionen aufgeben müsste.

Die Freiheitsdoktrin

Was Clinton mit seiner 1993 veröffentlichten »Strategy of Enlargement« recht war, ist der Bush-Administration nur billig. Damals wie heute wird versucht die aggressive Ausweitung des neoliberalen Systems als Förderung demokratischer Werte zu verkaufen. Tatsächlich geht es aber nicht darum, Länder zu demokratisieren, sondern sie dazu zu veranlassen, sich an die wichtigsten Spielregeln des kapitalistischen Systems zu halten. Deshalb fordert die NSS (S. 21f.) „Gesellschaften für Handel und Investitionen [zu] öffnen. […] Freie Märkte und freier Handel sind Schlüsselprioritäten unserer nationalen Sicherheitsstrategie.“ Die Ausweitung „demokratischer Zonen des Friedens“ wird hierbei für die US-Strategen zur „militärischen Aufgabe“ (vgl. Tabelle).

Insbesondere seit den Anschlägen des 11. September wird in Sicherheitskreisen eine hierauf abzielende »Freiheitsdoktrin« diskutiert. Diese erfordere „die Eliminierung der gegen die Freiheit gerichteten Kräfte, seien es Individuen, Bewegungen oder Regime. Danach kommt die Konstruktion pro-freiheitlicher Kräfte. […] Schließlich kommt die Etablierung von Regierungen, die die Freiheit ihrer eigenen Bevölkerung ebenso schätzen und schützen, wie dies die Vereinigten Staaten tun.“ Dies sei ein Konzept, das Realisten und Internationalisten, „Woodrow Wilson und Ronald Reagan begrüßen würden“.15

Die Bush-Doktrin rechtfertigt das, indem die »aggressive Demokratisierung« zu einem nationalen Sicherheitsinteresse erhoben wird. Autoritär regierte, fehlgeschlagene Staaten seien selbst dafür verantwortlich, wenn in ihrem Land Terrorismus gedeihe. Das vorgebliche Ziel Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft zu bringen, wird bei Nichterreichen zu einer Gefahr für die USA, der auch klassische Realisten begegnen müssen. Aus diesem Grund sei beispielsweise die »demokratische Transformation« des Mittleren Ostens zwingend notwendig.16

In einer Neuauflage des »humanitären Interventionismus« der 90er Jahre wird hiermit ein weiterer Kriegsgrund etabliert, der die Möglichkeit eröffnet, Staaten gewaltsam in das US-Interessen befördernde Weltsystem einzubinden. Zudem reagiert man auch auf die negativen Auswirkungen des Neoliberalismus, wie auch der Kontrollpolitik in Schlüsselregionen, indem die hierdurch entstehenden, Terrorismus befördernden Spannungen und sozialen Verwerfungen den Staaten selbst in die Schuhe geschoben und als Kriegsgrund gewertet werden. Der vom Westen verwaltete Terrorstaat, wird zur logischen Folge von Neoliberalismus und Kontrollanspruch.

Das Paradox der Hegemonie

Schon Clinton verkündete 1994 er werde die nationalen Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten wenn nötig auch im Alleingang verfolgen. Die NSS (S. 1) erneuert diesen Anspruch, indem sie einen „ausgeprägten amerikanischen Internationalismus“ verkündet, der letztlich darauf hinausläuft, nur dann auf Kooperation zu setzen, wenn diese eindeutig US-Interessen befördert. Im Umkehrschluss hat die Bush-Administration ihre Bereitschaft, hinderliche Vereinbarungen aufzukündigen, mehr als einmal unter Beweis gestellt. Auch das ist eine deutliche Zuspitzung schon lange vorhandener Tendenzen.

Genau an diesem Punkt setzen die meisten Kritiker der Bush-Doktrin an. Sie befürchten, die allzu rigorose Durchsetzung eigener Interessen untergrabe die Legitimität des US-Führungsanspruchs. Ohne Rücksichtnahme auf Verbündete und einer wenigstens ansatzweisen Einhaltung internationaler Verbindlichkeiten werde sich die USA zunehmend isolieren und sich neue Gegner schaffen. Auch werde sie Schwierigkeiten haben, die Vielzahl ihrer Interessen im Alleingang zu sichern.17

So richtig diese Kritik ist, verwischt sie doch den fundamentalen Bedingungszusammenhang zwischen Hegemonialanspruch und der hierfür zwingend notwendigen imperialen Politik. Denn ein hegemoniales System ist eben keineswegs die »gütigste Ordnungsform« (Robert Kagan) sondern basiert im Gegenteil auf einer ausbeuterischen Dominanz, die Ungleichheit zementiert und Konflikte verschärft statt vermeidet. Es gibt ihn nicht, den »wohlwollenden Hegemon«, da sich dieser letztlich das eigene Grab schaufelt. Eine konsequente Beachtung internationaler Vereinbarungen, gar ein Ausbau rechtlicher Strukturen, würde den graduellen Aufstieg anderer Mächte mit sich bringen, damit der rücksichtslosen Durchsetzung eigener politischer und ökonomischer Interessen entgegenstehen und so den Verlust der eigenen Hegemonialposition nach sich ziehen.

Die Verfolgung einer imperialen Strategie verbleibt so als einzige Handlungsoption, nimmt man den Anspruch auf Verewigung der US-Hegemonie ernst.

Allerdings „gibt es ein Problem mit der rosigen Vision einer »Pax Americana«; sie wird nicht funktionieren.“18 Das Paradox der Hegemonie liegt darin, dass eine rigorose Interessenspolitik den imperialen Niedergang beschleunigt:

  • Die Bestrebungen, anti-hegemoniale Allianzen zu bilden, werden proportional zur Rücksichtslosigkeit der US-Außenpolitik zunehmen.
  • Der Verbreitung von Massenvernichtungsmittel wird durch die permanente Androhung militärischer Gewalt massiv Vorschub geleistet.
  • Die mit der Verbreitung des Neoliberalismus einhergehende Verarmung weiter Teile der Welt führt im Inneren zu Verteilungskonflikten, die oft als ethnische Spannungen interpretiert werden und zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung von außen »befriedet« werden müssen. Verbunden mit der notwendigen Kontrolle von Schlüsselregionen wird hiermit der Nährboden für terroristische Gruppen bereitet, die beabsichtigen, der alles dominierenden Weltmacht mit asymmetrischen Mitteln schweren Schaden zuzufügen.
  • Je imperialer sich Washingtons Außenpolitik gibt, desto vielfältiger werden die militärisch zu wahrenden Interessen. Dies führt nicht nur zu zahlreichen Konflikten, sondern auch zu imperialer Überdehnung aufgrund der Fehlakkumulation von Ressourcen durch Überinvestition in den militärischen Bereich.

„Die Pax Americana ist vorüber“, urteilt Immanuel Wallerstein. „Die Herausforderungen in Vietnam, auf dem Balkan, im Mittleren Osten bis hin zum 11. September haben die Grenzen amerikanischer Vorherrschaft offenbart. Werden die USA lernen, ruhig schwächer zu werden, oder werden die US-Konservativen sich widersetzen und dabei einen graduellen Niedergang in einen schnellen und gefährlichen Absturz verwandeln?“19

Nur eine Abkehr von dem alles beherrschenden Gedanken, ewig alleine die Spitze halten zu wollen – im Optimalfall sogar der Entschluss, die augenblickliche Position für den Aufbau einer auf Gleichheit basierenden internationalen Ordnung zu nutzen – wird schwere Konflikte verhindern können. Ein Gedanke, für den sich in Washington – nicht nur unter den Neokonservativen – augenblicklich kaum jemand zu erwärmen scheint.

Anmerkungen

1) The National Security Strategy of the United States of America, The White House, 17.09.02.

2) Schwarz, Klaus-Dieter: Amerikas Mission, SWP Aktuell 38, Oktober 2002, S. 1.

3) Ikenberry, John G.: America’s Imperial Ambition, in: Foreign Affairs, September/October 2002, S. 44-60, S. 44; vgl. auch Hendrickson, David C.: Toward Universal Empire, World Policy Journal, Vol. XIX, No 3, Fall 2002, S. 1-10.

4) Rebuilding America’s Defenses. A Report of The Project for the New American Century, September 2000, S. II; Vgl. auch Wolfowitz, Paul: Remembering the Future, in: The National Interest (No. 59), Spring 2000.

5) Interessanterweise wurde dieser Satz kurz vor der Veröffentlichung noch aus dem Dokument entfernt. Vgl. Press Briefing by Ari Fleischer, Office of the Press Secretary, 20.09.02.

6) Vgl. Schwarz, Klaus-Dieter: Weltmacht USA, Baden-Baden 1999; Rudolf, Peter: ,A Distinctly American Internationalism’, in: IPG, 2/01, S. 127-138.

7) Rose, Jürgen: Die Schlacht zum Feind tragen, Freitag, Nr. 42/02.

8) Vgl. Tucker, Robert: The End of a Contradiction?, in: In The National Interest, Vol. 1, Issue 1, 09.09.02.

9) Vertreter dieser Auffassung gibt es viele. Im akademischen Bereich fand folgender Aufsatz die größte Beachtung: Wohlforth, William C.: The Stability of a Unipolar World, in: International Security, Vol. 24, No. 1 (Summer 1999), S. 5-41.

10) Rebuilding America’s defenses, S. 14.

11) Rilling, Rainer: ’American Empire’ als Wille und Vorstellung, RLS Standpunkte, 9/02, S. 4.

12) Rebuilding America’s defenses, S. IV.

13) Kamp Karl-Heinz: The National Security Strategy, KAS, 25.09.02.

14) Magolis, Eric: A war only the White House wants, Toronto Sun, 25.08.02; Rilling a.a.O., S. 6.

15) McFaul, Michael: The Liberty Doctrine, in: Policy Review, April-May 2002.

16) Vgl. Gaddis, John L.: A Grand Strategy, in: Foreign Policy, November/December 2002, S. 50-57; Podhoretz, Norman: In Praise of the Bush Doctrine, in: Commentary Magazine, September 2002.

17) Vgl. bspws. Nye, Joseph S. Jr.: The American national interest and global public goods, in: International Affairs, vol. 78, no. 2 (2002), S. 233-244.

18) Mearsheimer, John J.: Hearts and Minds, in: The National Interest, No. 69 (Fall 2002).

19) Wallerstein, Immanuel: The Eagle has Crash Landed, in: Foreign Policy, July/August 2002, S. 60-68, S. 60.

Jürgen Wagner ist Vorstandsmitglied der Tübinger Informationsstelle Mitlitarisierung (IMI e.V.). Er bearbeitet dort den Schwerpunkt US-Außen- und Sicherheitspolitik. Aktuelle Buchveröffentlichung: „Das ewige Imperium: Die US-Außenpolitik als Krisenfaktor.“

Aufbruch in die NATOisierung Europas

Aufbruch in die NATOisierung Europas

von Otfried Nassauer

Orte können Symbole sein. Ein NATO-Gipfel in Prag, in einem neuen NATO-Staat, sollte die erneute Erweiterung der Allianz einleiten. Doch ein Jahr nach den Terroranschlägen in den USA stand nicht die Ausdehnung der NATO, sondern deren Umgestaltung und Neuausrichtung im Zentrum der Ereignisse. Der Gipfel könnte das transatlantische Bündnis so tiefgreifend verändern haben wie kaum ein anderer zuvor. Eine Analyse der Risiken und Nebenwirkungen.
Die NATO steckt in einer substantiellen Krise. Pierre Lelouche, ein profilierter französischer Sicherheitspolitiker, spricht von einer der tiefgreifendsten seit ihrer Gründung. Lord Robertson, der Generalsekretär der NATO, wähnte das Bündnis schon vor Monaten vor der Wahl zwischen »Modernisierung« und »Marginalisierung«.

Die NATO in der Krise

Robertson sieht die Ursache der Krise vor allem in der wachsenden Ausrüstungs-, Bewaffnungs- und Technologielücke zwischen den USA und den europäischen NATO-Staaten. Er fürchtet, dass die Streitkräfte der Bündnispartner bald kaum noch gemeinsam operieren können. Dadurch verlöre das Bündnis aus amerikanischer Sicht an Bedeutung. Das sehen diesseits wie jenseits des Atlantiks manche anders. Für sie hat die Krise grundsätzlichen Charakter. Je nach Standpunkt und Herkunft hat die Krise ihren Ursprung entweder im mangelnden europäischen Willen zu harter militärischer Machtpolitik oder in der amerikanischen Neigung zu einem machtpolitischen Handeln, dass sich primär militärischer Mittel bedient.

Die meisten Europäer in der NATO fürchten, dass eine weltweit nach US-Vorbild und Führung agierende NATO sie vor zahlreiche neue Probleme stellen wird: Streitkräfteeinsätze ohne Mandat der Vereinten Nationen, präventive und präemptive militärische Schläge, die von Angriffskriegen nicht oder kaum zu unterscheiden sind, oder gar die Mitverantwortung für den Einsatz von Nuklearwaffen. Mithin vor Situationen, in denen die NATO ihren eigenen Wertekodex verletzt – zu diesem gehört schließlich die Anerkennung der Gültigkeit des internationalen Rechts.

Zusammengefasst sind die Gipfel-Beschlüsse von Prag ein Erfolg für George W. Bush, der wie so oft nach der Maxime auftrat: »Wenn Du das Maximale herausholen willst, dann musst Du mehr fordern«. Die Initiativen zu den wesentlichen Beschlüssen kamen aus den USA; die europäischen NATO-Staaten boten kaum ernsthafte Alternativen an. Sie versuchten lediglich, das aus ihrer Sicht Schlimmste zu verhindern. Die NATO wird damit wieder ein ganzes Stück amerikanischer, und ganz nebenbei musste die gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einige schwere Torpedotreffer hinnehmen.

Neue globale Aufgaben

Nur einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 rief die NATO den Bündnisfall aus. Doch anschließend forderte Washington nur marginale militärische Beiträge von Brüssel und vermied es, die Allianz in strategische Entscheidungen über militärische Reaktionen einzubeziehen. Lord Robertson sieht darin einen Relevanzverlust. Um dem entgegenzusteuern müsse die NATO die Bekämpfung des Terrorismus mit in das Zentrum ihrer Aktivitäten stellen. Gleichzeitig komme der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wachsende Bedeutung zu. Persönlich interpretierte Robertson die Aussage der Außenministertagung vom Mai 2002, das Bündnis benötige Streitkräfte, die schnell dahin verlegt werden können, „wo auch immer sie benötigt werden“, dahingehend, dass die NATO global agieren könne, „nach Erfordernis und wo nötig“. Noch im September hielt das deutsche Außenamt eine solche Interpretation für unzulässig. Doch inzwischen hat sie sich durchgesetzt.

Das Prager Kommuniqué betont: Die NATO müsse ihre Fähigkeit, „den Herausforderungen gegen die Sicherheit unserer Streitkräfte, Bevölkerungen und unseres Territoriums“ gewachsen sein, „wo immer diese auch herkommen mögen“. Sie müsse auf Beschluss des NATO-Rates „Streitkräfte einsetzen können, die schnell überall dahin verlegt werden können, wo sie benötigt werden“. Das „volle Spektrum der Aufgaben“ der Allianz umfasst nun „die Bedrohung, die der Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie deren Trägersystemen“ darstellen. Ein vom Militärausschuss erarbeitetes »Militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus« wurde beim Prager Gipfel gebilligt. Das Bündnis übernimmt auch gleich erstmals eine globale Aufgabe: Wenn das Deutsch-Niederländische Korps in Kürze die Führung der ISAF-Mission in Afghanistan übernimmt, dann wirkt die NATO mit. Der globale Präzedenzfall für die Allianz.

Neue Aufgaben werfen neue Probleme auf. Die USA haben ihre nationale Strategie deutlich verändert – zuletzt durch eine neue »Nationale Sicherheitsstrategie«. Diese schließt es bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht aus, selbst anzugreifen, bevor die USA angegriffen werden könnten. Dafür stehen die Begriffe »präemptive Schläge« und »defensive Intervention«. Der amerikanische Begriff »pre-emptive strikes« umfasst zweierlei. Zum einen meint er ein präventives Vorgehen, zum Beispiel die Zerstörung gegnerischer Raketenabschussrampen, unmittelbar bevor von diesen ein Angriff durchgeführt werden soll. Zweitens sind vorbeugende, präemptive Angriffe gemeint, Schläge, mit denen das Entstehen längerfristiger Bedrohungen verhindert werden soll, also z.B. der Bau von Massenvernichtungswaffen. Israels weltweit kritisierte Bombardierung des irakischen Atomreaktors Osirak ist ein Beispiel. Doch Washington geht noch weiter: Selbst der Einsatz nuklearer Waffen wird durch die Bush-Administration nicht ausgeschlossen. Das wurde Anfang des Jahres deutlich, als der geheime »Nuclear Posture Review« an die Öffentlichkeit gelangte. Schon seit einigen Jahren beschränken die USA ihre nationale nukleare Einsatzplanung nicht mehr auf Staaten. Auch »Nicht-staatliche Akteure«, z.B. Terroristen oder transnationale Konzerne, die versuchen, sich Massenvernichtungswaffen zuzulegen, könnten Ziel eines Nuklearangriffs sein.

Damit gerät die NATO in ein Dilemma. Sie hat – wie so oft in der Vergangenheit – mit zeitlicher Verzögerung ihre Strategie den Entwicklungen der US-Strategie im Grundsatz angepasst. Wie weit diese Anpassung im Einzelnen geht, ist noch unklar, zumindest in der Öffentlichkeit. Nur soviel ist klar: Schwerwiegende Probleme mit der völkerrechtlichen Legitimität künftiger NATO-Planungen drohen. Weder präemptive Angriffe noch gar der Einsatz nuklearer Waffen wären völkerrechtlich gedeckt.

Man stelle sich vor: Washington will präemptiv das existierende oder entstehende Massenvernichtungswaffenpotenzial eines Staates oder eines nichtstaatlichen Akteurs zerstören. Die Planer im Pentagon glauben, dass dies gesichert nur mit einer Nuklearwaffe gelingen kann. Da dies aber völkerrechtlich und im Lichte der internationalen öffentlichen Meinung sehr umstritten wäre, entschließen sich die USA, die NATO um Solidarität und Mitwirkung zu bitten. Als Gemeinschaft von 19, künftig 26 demokratischen Staaten lasse sich der Angriff besser verteidigen. Die Flugzeuge, die den Angriff durchführen, sollen in einem NATO-Land starten, ein zweites soll Luftbetankungsmittel stellen, ein drittes beim Begleitschutz durch Jagdflugzeuge helfen und ein viertes, nicht-nukleares Land gar durch die Bereitstellung eines Trägerflugzeugs für Nuklearwaffen. Unschwer ist zu erkennen, wie gravierend die Probleme für die europäischen NATO-Partner wären.

Trägt die NATO eine solche Strategie mit, so trägt sie dazu bei das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu untergraben. Die von der Regierung Bush initiierte Deregulierung der internationalen Beziehungen, die von vielen der europäischen NATO-Staaten schon jetzt beklagt wird, würde beschleunigt. Die Auswirkungen auf das nukleare Nichtverbreitungsregime wären verheerend.

Verteidigungsminister Peter Struck glaubt zwar, dass die NATO ein präventives oder präemptives Vorgehen auch in Zukunft ablehnen werde, da das Bündnis im Konsens entscheide. Doch das Konsensprinzip wird mit Blick auf die wachsende Mitgliederzahl bereits in Frage gestellt. Das Hauptargument: Das Bündnis müsse jene, die bereit sind zu handeln, handeln lassen, wenn es seine Bedeutung erhalten wolle. Zudem gibt es auch in Europa Stimmen, die präemptive Angriffe nicht ablehnen. In Deutschland gehört Wolfgang Schäuble dazu und auch Klaus Naumann, ehemals Vorsitzender des Militärausschusses der NATO. Wenige Tage vor dem Gipfel ging Letzterer davon aus, dass „die NATO in Prag die ersten Schritte in Richtung auf ein neues strategisches Konzept unternehmen wird, das Prävention und Präemption als Optionen, nicht aber als leitendes Prinzip“ enthalten sollte. Das Gipfel-Kommunique versucht zu beruhigen: Nein, die neuen Aufgaben der NATO sollten „von keinem Staat und keiner Organisation als Bedrohung wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Ausdruck der Entschlossenheit unsere Bevölkerung, unser Territorium und unsere Streitkräfte vor jedem bewaffneten Angriff zu schützen, einschließlich terroristischer Angriffe, die von außen gelenkt werden“. Man werde „in Übereinstimmung mit dem Washingtoner Vertrag (d.h. dem NATO-Vertrag) und der Charta der Vereinten Nationen“ vorgehen. Wie, das sagt das Kommunique allerdings nicht.

Neue militärische Mittel

Mit den militärischen Mitteln des Kalten Krieges lassen sich solche Aufgaben kaum bewältigen. Mit diversen Beschlüssen versucht der Prager NATO-Gipfel deshalb schnelle Abhilfe zu schaffen.

Erst im September hatte Donald Rumsfeld, der US-Verteidigungsminister, seinen NATO-Kollegen die Idee präsentiert, die NATO solle eine schnelle Eingreiftruppe für weltweite Interventionen aufbauen, die »NATO Response Force« (NRF). Der Truppe, 21.000 Mann stark, sollten die besten und modernsten Kräfte aller NATO-Staaten zugeordnet werden: Heeresverbände in Brigadegröße, Kampfflugzeuge für bis zu 200 Einsätze am Tag und Marinekräfte im Umfang einer der ständigen Einsatzflotten der NATO. Binnen 5-30 Tagen solle sie weltweit einsetzbar sein, spezialisiert auf intensive Kampfhandlungen – Kampfhandlungen, die nötig sind um Interventionen wie in Afghanistan durchzuführen. Bis zu 30 Tage soll die Truppe autonom kämpfen und bis Oktober 2006 einsetzbar sein. Mit ihr könne die NATO sich an US-geführten Operationen beteiligen. Der Prager Gipfel fasste den Beschluss, die Truppe aufzubauen. Im Frühsommer soll ein erster Bericht vorgelegt werden, wie sie aussehen soll.

Die zweite verabschiedete Initiative sind die »Prager Fähigkeitsverpflichtungen« (Prague Capabilities Commitment, PCC). Mit diesen verpflichten sich vor allem die europäischen NATO-Staaten politisch verbindlich, zu festen Terminen bestimmte militärische Fähigkeiten in Kernbereichen wie dem Luft- und Seetransport, der Luftbetankung, der Abwehr chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Gefahren oder im Bereich Führungssysteme bereitzustellen. Im Gegensatz zu der breiter angelegten Vorgängerinitiative DCI (Defense Capabilities Initiative) sind die PCC vor allem auf den Bedarf der »NATO Response Force« (NRF) ausgerichtet, d.h. auf weltweite Einsätze hoher militärischer Intensität. In Arbeitsgruppen wird an den einzelnen Fähigkeiten gearbeitet. Nicht jeder NATO-Staat muss zu allen beitragen. Arbeits- und Rollenteilung sollen raschen Fortschritt ermöglichen. Spanien kümmert sich um die Luftbetankung, Holland um Abstandswaffen. Deutschland leitet die Arbeitsgruppe strategischer Lufttransport.

Ziel einer dritten Gipfel-Initiative ist, die Fähigkeit der NATO zu stärken, zur Abwehr von Angriffen mit biologischen, chemischen, radiologischen und nuklearen Waffen. Das Vorhaben, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Antwort auf das Risiko terroristischer Angriffe, wurde jedoch breiter angelegt. Hier verbergen sich auch Pläne zur Raketenabwehr. Erstmals will die NATO Abwehrmöglichkeiten gegen Flugkörper mit mehr als 3.000 km Reichweite untersuchen. Unklar ist, ob sich hinter dieser Initiative auch eine weitere Facette der Diskussion über präemptive Optionen verbirgt: Planungen der NATO, um Massenvernichtungswaffen, deren Trägersysteme sowie Produktionsanlagen in anderen Ländern »vorbeugend« auszuschalten.

Viertens machte der Gipfel Vorgaben für eine neue, flexiblere und einsatzorientierte Kommandostruktur. Eine heikle Aufgabe, geht es doch für jeden NATO-Staat um Einfluss, den Anteil an gut dotierten Posten und um die Hauptquartiere auf seinem Boden. Bis Sommer 2003 soll der Militärausschuss einen Vorschlag unterbreiten, wie die NATO mit deutlich weniger Kommandobehörden militärisch flexibler agieren kann.

Europäische Bedenken

Obwohl die meisten amerikanischen Initiativen in Prag im Grundsatz begrüßt wurden, gab es substanzielle Bedenken. Außenminister Joschka Fischer ließ sie in einer Regierungserklärung kurz vor dem NATO-Gipfel erkennen. Zur NRF, dem Kernstück der Initiativen, formulierte er drei Voraussetzungen: Erstens müsse die Entscheidung über den Einsatz der Truppe beim NATO-Rat liegen, also einstimmig fallen. Zweitens sei eine deutsche Einsatz-Beteiligung nur nach einem Beschluss des Bundestages möglich. Die nationale Rechtslage in den NATO-Staaten müsse beachtet werden. Drittens müsse das Vorhaben mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte vereinbar sein. Unter diesen Voraussetzungen werde man der Ausarbeitung eines Konzeptes für die NRF zustimmen.

Damit sollte verhindert werden, dass die NATO-Truppe auf Anforderung durch die USA oder andere NATO-Länder schnell und ohne zeitraubende Konsensbildung eingesetzt werden kann. Fischer wollte weiter den deutschen Parlamentsvorbehalt wahren, nahm damit aber zugleich billigend in Kauf, dass nun der Druck wächst, mittels eines deutschen Entsendegesetzes die Entscheidungsfindung in Deutschland zu beschleunigen. Beiden Bedenken trägt das GipfelKommuniqué Rechnung. Auch bei der dritten Voraussetzung, der Vereinbarkeit mit den europäischen Krisenkräften, signalisiert das Kommuniqué Zustimmung. Die Realität dürfte anders aussehen.

Für die NRF werden – wegen der Rotation – mindestens 60.000 der bestausgebildeten Soldaten benötigt, Soldaten, die im Kern auch für die Krisenkräfte der EU vorgesehen sind. Die Bundesrepublik plant beispielsweise, ihren Beitrag aus dem selben Pool von 18.000 Soldaten zu stellen, der auch für die EU vorgesehen ist. Würde die NRF häufig angefordert oder wären ihre Kräfte auch nur oft in Bereitschaft, so stünden sie für EU-Einsätze nicht zur Verfügung. Genau dies dürfte eintreten. Der »Krieg gegen den Terrorismus« und die globale Unterstützung Washingtons können leicht zur Dauerbeschäftigung für die NRF werden.

Um die Zusammenarbeit mit den US-Truppen zu gewährleisten, müssen die NRF-Verbände nach US-Vorbild modernisiert werden. Mit anderen Worten: Damit sie auch weiterhin im EU-Rahmen eingesetzt werden können, müssen dann auch die restlichen EU-Krisenkräfte nach US-Vorbild modernisiert werden. Spötter bezeichnen deshalb die Prague Capability Commitments bereits als BAC, als »Buy American Commitments«, und sehen in dem neuen NATO-Oberkommando für Transformation eine Werbeagentur für eine europäische Modernisierung »the American way«.

Der Aufbau autonomer EU-Fähigkeiten dürfte sich also zumindest verteuern, wenn er nicht gar weitgehend durch die NATO absorbiert wird. Zudem droht eine für die Europäer unliebsame Arbeitsteilung: Während die NATO sich auf globale Kampfeinsätze unter Führung der USA spezialisiert, müssten die EU-Krisenkräfte jene Aufgaben übernehmen, die die USA nicht interessieren: Friedensmissionen und das ungeliebte, langwierige »Nation-Building« nach Interventionen. Trotz aller Zugeständnisse bekommt Europa aber keine Gewähr dafür, dass die USA ihren europäischen NATO-Partnern strategische Mitsprache in der Frage gewähren wird, wie mit Krisen umgegangen werden soll.

Die Osterweiterung

Zehn Kandidaten standen vor der Tür, sieben bekamen die Einladung zum Beitritt: Die drei baltischen Republiken, die Balkan-Staaten Slowenien, Bulgarien und Rumänien sowie die Slowakei. Außen vor bleiben vorläufig Kroatien, Albanien und Mazedonien. Der »Big Bang«, die große Erweiterung wird realisiert. Im Frühjahr 2004 sollen die Beitritte – etwa zeitgleich zur Erweiterung der EU – bei einem erneuten Gipfel in Washington vollzogen werden.

Erstaunlich ist, wie geräuschlos die zweite Erweiterung der Allianz vonstatten ging. Kein ausgedehnter Streit mit Russland, keine öffentliche Diskussion über die Frage, ob die Baltischen Staaten im Ernstfall überhaupt verteidigt werden könnten, keine strategische Debatte, ob nicht zu vielen oder zu schwachen Kandidaten eine Beistandsgarantie gegeben werde.

Wesentliche Ursachen dafür liegen in Washington. Die Regierung Bush weist der NATO eine veränderte Rolle zu. In Europa liegt die Bedeutung der NATO zunehmend im Politischen und weniger im Militärischen. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass das Bündnisgebiet in einem klassischen Krieg verteidigt werden muss. Global kann die Allianz Washington begrenzt militärische Schützenhilfe leisten, ist aber kaum der unverzichtbare Partner, dem die USA ein Mitspracherecht einräumen müssen, wie mit einer Krise umgegangen werden soll. Die Kooperation wichtiger NATO-Staaten kann notfalls auch bilateral sichergestellt werden.

In Europa soll die NATO deshalb zum Einen die Integration der neuen Mitglieder in die westlichen Institutionen absichern und ein Wiederaufflammen der Kämpfe auf dem Balkan verhindern. Sie soll zweitens den Einfluss der USA auf die europäische Sicherheitspolitik sichern und dies in einem deutlich erweiterten geographischen Raum. Vor allem Rumänien und Bulgarien haben dabei strategische Bedeutung. Ihr Beitritt verbessert die Möglichkeit, westliche Interessen im Schwarzmeerraum zu vertreten. Für den Balkan lautet das Signal: Die Stabilisierung Südosteuropas ist dauerhaft Gemeinschaftsaufgabe. Die Aufnahme von sieben Staaten auf einen Streich sichert Washingtons Einfluss nicht zuletzt auch deshalb, weil deren neue Eliten oft in den USA ausgebildet wurden.

Schließlich ist nach dieser großen Erweiterung klar, dass auf absehbare Zeit keine das Verhältnis zu Russland politisch stark belastende Ausdehnung der NATO mehr ansteht. Das enthebt sie der Notwendigkeit, erneut über eine kompensatorische Vertiefung der Zusammenarbeit mit Russland nachzudenken. Der 1997 eingerichtete, der Konsultation dienende Ständige Gemeinsame Rat wurde 2002 in einen NATO-Russland-Rat umgewandelt, in dem im Konsens aller 20 Staaten auch gemeinsam Beschlüsse – z.B. zur Terrorismusbekämpfung – gefasst werden können. Diese Art der Zusammenarbeit soll zunächst praktiziert werden. Als nächster Schritt – so die teils ernst gemeinte, teils spaßige Begründung – bleibe ja eh nur, Russland die Vollmitgliedschaft zu offerieren. Doch damit lasse man sich besser viel Zeit.

Die NATO soll zwar für neue Mitglieder offen bleiben. Konkrete Maßnahmen aber, die weitere Staaten an den Beitritt zur NATO heranführen sollen, verlieren an Dringlichkeit. Ausgebaut werden soll dagegen die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen des Euro-Atlantischen Kooperationsrates. Viele Staaten, die für einen NATO-Beitritt auf absehbare Zeit nicht in Frage kommen, spielen – wie die zentralasiatischen Republiken – als Stationierungsländer bei Interventionen eine wichtige Rolle.

Tagesordnungspunkt oder nicht? – Der Irak

Lange wurde gerätselt »Steht der Irak nun auf der Tagesordnung des Prager Gipfels oder nicht?« Washington hat ihn zum Thema gemacht. Präsident Bush wollte die politische Unterstützung der NATO für das weitere Vorgehen gegen den Irak und er bekam sie. Nach langem Ringen war klar: Die NATO unterstützt die jüngste UN-Resolution zum Irak, droht Saddam Hussein mit ernsthaftesten Konsequenzen, verzichtet auf eine explizite militärische Drohung, erwähnt aber auch nicht, dass im Falle irakischer Verstöße gegen die UN-Resolution der UNO-Sicherheitsrat das entscheidende Wort haben sollte. Quasi zeitgleich präsentierte die US-Regierung ihren Partnern bilateral die Frage, was sie zu einem neuen Krieg am Golf beitragen wollen. Offensichtlich bekamen sie auch von den Deutschen schon recht viel von dem, was sie wollten: z.B. ein verstärktes deutsches militärisches Engagement in anderen Krisengebieten, Überflugrechte und Bewegungsfreiheit für ihre Truppen auf deutschem Boden. Die teuerste Unterstützungsanfrage hat Berlin vorerst vertagt: Wie sähe der deutsche Beitrag zu einem Wiederaufbau des Irak aus?

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

Im Visier: Ölquellen und Öltransportrouten

Im Visier: Ölquellen und Öltransportrouten

von Mohssen Massarrat

Der Krieg der Vereinigten Staaten gegen die Taliban in Afghanistan ist das jüngste Glied einer Kette der inzwischen über ein halbes Jahrhundert andauernden Geschichte anglo-amerikanischer Interventionen im Nahen und Mittleren Osten und nun auch in Zentralasien. Ereignisreiche Turbulenzen wie die Niederschlagung der Demokratiebewegung im Iran Anfang der fünfziger Jahre, die Schah-Diktatur als regionale Supermacht, die islamische Revolution im Iran, das Phänomen Saddam Hussein, der islamische Fundamentalismus, die Taliban und Bin Laden – sie alle sind ohne diese Interventionsgeschichte nicht zu verstehen. Dies gilt auch für den Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September. Die Kette der Interventionen und der im Nahen und Mittleren Osten seit fünf Jahrzehnten andauernden Gewalteskalation schließt sich nun global.
Hatten die Vereinigten Staaten mit dem Luftkrieg gegen die Taliban in Afghanistan es in erster Linie darauf abgesehen, die strategischen Öl- und Gastransportrouten zum Indischen Ozean frei zu bomben? Jedenfalls wurde bisher weder das eigentliche Kriegsziel, die Al-Qaida zu zerschlagen und Bin Laden zu fassen, erreicht. Das bisher einzig vorzeigbare Resultat des amerikanischen Bombenkrieges in Afghanistan ist, dass die Kämpfer der Nordallianz ihre hartnäckigen Widersacher, die Taliban, losgeworden sind. Mit den War Lords, den Bürgerkriegsparteien und der eigenen inneren Zerrissenheit steht Afghanistan wieder dort, wo Anfang der neunziger Jahre die Taliban mit Hilfe Pakistans, Saudi-Arabiens und der USA starteten. Selbst die wenigen positiven Nebeneffekte des Krieges, bezogen auf mehr Freiheit für Frauen und für individuelle Bedürfnisse, stehen damit erneut zur Disposition. Diese offenkundige Blamage hindert die USA jedoch nicht daran, die »Achse des Bösen« ausfindig zu machen, den im letzten Golfkrieg durchaus nicht irrtümlich zurückgelassenen Feind Saddam Hussein erneut ins Visier zu nehmen und gebetsmühlenartig und inzwischen ritualisiert die neue Bedrohung mit Massenvernichtungsmitteln aus Bagdad ins Bild zu setzen.

Welche Ziele verfolgen eigentlich die Vereinigten Staaten mit ihrem Engagement im Mittleren Osten und Zentralasien? Geht es um den Kampf gegen den Terrorismus, um die Befreiung des Iraks von Saddam Hussein, um einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten und um den Kampf für eine demokratische Entwicklung in dieser Region? Oder geht es in erster Linie um die Verfolgung geopolitischer Ziele in einer Region mit den größten fossilen Energieressourcen der Welt und um die Festigung der eigenen Hegemonialpolitik gegenüber Russland, China und den westlichen Verbündeten Japan und Europa?

Die geopolitische Doppelstrategie der USA

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte im Mittleren Osten eine hoffnungsvolle gesellschaftliche Umwälzung und Demokratisierung eingesetzt. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Region hat 1951 im Iran ein frei gewähltes Parlament und mit Mossadegh eine demokratisch gewählte Regierung für die gesamte Region eine neue Ära eingeläutet. Im Anschluss an die Entwicklung im Iran wurden im Irak und in Ägypten die herrschenden Monarchien gestürzt, das postdiktatorische, postkoloniale Zeitalter schien angebrochen zu sein.

Doch es kam alles anders. Die Persische-Golf-Region war zu diesem Zeitpunkt längst in den geostrategischen Würgegriff der alten Supermacht Großbritannien und der neuen Supermacht USA geraten. Hinzu kam die Kalte-Krieg-Ära, die das politische Koordinatensystem für die künftige Entwicklung dieser Region determinierte. Geostrategische Ölinteressen der USA und Eindämmung des sowjetischen Einflusses auf den Mittleren Osten und den Persischen Golf wurden fortan zum einzigen Maßstab für die künftige Beziehung des Westens zu dieser Region und zur Richtschnur der Unterscheidung zwischen Gut und Böse.

Die Welt besitzen

Bereits europäische Kolonialmächte hatten zu Beginn des letzten Jahrhunderts die strategische Bedeutung des Öls erkannt. „Derjenige, der das Erdöl besitzt, wird die Welt besitzen,“ prophezeite um das Jahr 1920 der französische Industrielle und Senator Henri Berenger. Die neue Supermacht Amerika zögerte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht, dieser Erkenntnis zu folgen und sie zur Richtschnur des eigenen außenpolitischen Handelns zu machen. George Forest Kennan, ein einflussreicher US-Außenpolitiker, ordnete in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Kontrolle über die Ölquellen des Mittleren Ostens die Rolle einer „Vetomacht über die Alliierten, über Europa und Japan“ zu. So wundert es auch kaum, dass das State Department das Mittelost-Öl als „gewaltige strategische Reserve, als den größten materiellen Preis der Weltgeschichte“ einstufte (Chomsky, 1992: 33). Die Vetooption der USA bestand in einer aus zwei Komponenten – einer energiepolitischen und einer geopolitischen – bestehenden Doppelstrategie.

Die Doppelstrategie

Dabei sollte zum einen alles unternommen werden, um sich selbst und den eigenen Verbündeten eine störungsfreie Ölversorgung zu niedrigen Preisen (Wirtschaftswachstum durch Billigöl) sicherzustellen. Es geht hierbei um beträchtliche Summen, beispielsweise werden bei einem Ölpreisunterschied von lediglich 10 US-Dollar je Barrel Öl von der OECD-Wirtschaft jährlich über 350 Mrd. US-Dollar an Energieausgaben eingespart (Ausführlicher dazu Massarrat, 2000: 134). Zum anderen sollte aus der Not der Abhängigkeit der militärischen Verbündeten (Westeuropa und Japan) vom Öl des Mittleren Ostens eine Tugend gemacht und die militärische Führungsrolle nicht nur durch die Einbindung in die Nato, sondern auch indirekt durch die »Ölwaffe« untermauert werden. Die Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion überdeckte jahrzehntelang diese US-Doppelstrategie. US-Geostrategen bedienten sich gern des Szenarios der sowjetischen Bedrohung, die darin bestanden haben soll, durch den Zugriff auf die mittelöstlichen Ölquellen westliche Staaten zu erpressen. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine reale Bedrohung handelte oder nicht, lieferte dieses Szenario den Vereinigten Staaten die Rechtfertigung, sich unter dem Vorwand der Abwendung sowjetischer Bedrohung durch die Einrichtung von Militärstützpunkten und Schaffung von Interventionskapazitäten im Mittleren Osten als Garant westlicher Ölversorgung unabkömmlich zu machen und auch die militärischen Verbündeten und gleichzeitig ökonomischen Rivalen in der Weltwirtschaft, Westeuropa und Japan, im Bedarfsfall zu disziplinieren oder gar zu erpressen (Ausführlicher Massarrat, 1981).

Diese Doppelstrategie der Vereinigten Staaten in ihrer Beziehung zu Japan und Europa hat über Jahrzehnte – so in der Anti-Irak Allianz 1990 und auch jetzt in der Antiterror-Allianz sowie im Krieg gegen Afghanistan – bis heute ihre Gültigkeit beibehalten und sie wirft ein neues Licht auf das peinlich vasallenhafte Verhalten der Europäer in Krisensituationen wie 1990 und jetzt. Alle US-Präsidenten, Präsidentenberater sowie Außen- und Verteidigungsminister haben ganz besonders darauf geachtet, die Grundlagen dieser Doppelstrategie nicht zu gefährden und sie allen revolutionären Umwälzungen im Mittleren Osten zum Trotz räumlich auszubauen und außenpolitisch sowie militärisch weiterzuentwickeln und flexibel anzupassen. Die sogenannte Carter-Doktrin, wonach „der Versuch einer auswärtigen Macht, die Kontrolle des Persischen Golfes zu übernehmen, als Angriff auf die vitalen Interessen der USA betrachtet und mit allen Mitteln einschließlich militärischer Gewalt zurückgewiesen wird“ (Carters Erklärung »State of the Union« vom 23. Januar 1980), die unmissverständliche Feststellung des ehemaligen Energieministers James Schlesinger von 1989 auf der Weltenergiekonferenz in Montreal: „Welche Großmacht auch immer die Kontrolle über die Energieressourcen in der Golfregion erringt, sie wird dadurch in großem Ausmaß auch die Entwicklung der Welt beherrschen. Ein dritter Weltkrieg, sollte er stattfinden, würde wahrscheinlich um die Energiequellen in der Golfregion geführt werden“ (zitiert nach Michael Müller, TAZ, 13.08.1991) und die durch die Klarheit über den Anspruch der USA auf die Ölvorräte der Persischen-Golf-Region unübertroffene Aussage des US-Präsidenten Bush sen. von 1990 „Unsere Wirtschaft, unsere Lebensart, unsere Freiheit und die Freiheit befreundeter Länder auf der ganzen Welt, alles würde leiden, wenn die Kontrolle über die großen Ölreserven der Welt in die Hände Saddam Husseins fielen“ (Yergin, 1991: 950), belegen das nach wie vor überragende geostrategische Interesse der USA an den Ölquellen des Mittleren Ostens. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird die Rolle des potenziellen Aggressors im Bedrohungsszenario der US-Doppelstrategie den »Schurkenstaaten« zugeschrieben. Ursprünglich spielten diese Rolle die fundamentalistischen Ajatollahs im Iran und gegenwärtig hat Saddam Hussein diese Rolle inne, die er in der „unheiligen Allianz“ mit den USA offenbar auch gern spielt, um so die innenpolitische Legitimation für seine Herrschaft zu festigen.

Diversifizierung der Energiequellen und Transportrouten

Die traumatischen Auswirkungen der Ölpreissprünge von 1973/74 und 1979 (ausführlicher Massarrat 1980) veranlassten die Vereinigten Staaten, Rohstoffquellen und Transportrouten zu diversifizieren und Verknappungs-(»Strangulierungs-«)Situationen soweit wie möglich zu vermeiden. Diversifizierung entwickelte sich so zu einem substanziellen Element zur Absicherung und Fortentwicklung der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie. Die massiven Aktivitäten der US-Konzerne und der Regierungen in Ost- und Westafrika zur Erschließung neuer Energiequellen in den letzten zwei Jahrzehnten gehen in diese Richtung (Massarrat, 2000: 122f und Kronenberger, 1999). Eine gewichtigere Alternative zu den insgesamt dürftigen Ölquellen Afrikas bildet allerdings die Kaspische-Meer-Region, in der sich die zweitgrößten Ölquellen nach der Persischen-Golf-Region und die wichtigsten Gasquellen der Welt befinden. Diese neue energie- und geopolitische Option fiel nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken in den neunziger Jahren den Vereinigten Staaten als Geschenk des Himmels quasi in den Schoß. Fortan pilgerten multinationale Ölkonzerne scharenweise in die neue Ölregion und machten in Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Aserbaidschan ihre Aufwartung. Die US-Konzerne betreiben dort intensive Lobbyarbeit und rekrutieren einflussreiche Berater, darunter Richard Cheney, ehemaliger Verteidigungsminister unter Bush sen. und der heutige Vizepräsident von Bush jun., sowie Zbigniew Brzezinski, der frühere Sicherheitsberater von Präsident Carter. Mit von der Partie sind auch die Ölkonzerne Amaco, Unocol, Texaco und Exxon Mobil, die alle bereits mehrere Milliarden US-Dollar für die Öl- und Gasproduktionsanlagen bzw. Pipelineprojekte investiert haben. Gleichzeitig unterzeichneten die Vereinigten Staaten unter dem Vorwand eines »humanitären« Einsatzes 1996 mit Usbekistan und danach mit Kasachstan und Kirgisistan das »Central Asia Bataillons-Abkommen« (vgl. Abramovici, 2002) und schufen damit die Grundlage für Militärübungen und darüber hinaus auch langfristig angelegte Militärstützpunkte. In diese Reihe der Einbindung neuer, zentralasiatischer Republiken in die eigene geopolitische Diversifizierungspolitik und Doppelstrategie gehörte es auch, den Kaukasusrepubliken Georgien, Kasachstan, Aserbaidschan und den zentralasiatischen Staaten Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan auf dem Nato-Gipfel von 1999 den Status von »Nato-Partnerschaftsländern« zuzuerkennen (Massarrat, 2000: 172.). Die Einbindung Zentralasiens in „Amerikas Strategie der Weltherrschaft auf dem Eurasischen Schachbrett“, so Brzezinski in seinem Buch »Die einzige Weltmacht«, gewinnt mit Hinblick auf die Volksrepublik China als aufsteigende regionale Supermacht und geopolitischer Rivale der USA in Ostasien eine zusätzliche strategische Bedeutung. Was bisher für Europa und Japan in der energie- und geopolitischen Doppelstrategie der USA galt, gilt in Zukunft auch – angesichts ihrer zu erwartenden Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten – für die Volksrepublik China.

Zu der Diversifizierung von Öl- und Gasquellen kommt auch die Diversifizierung von Transportrouten hinzu: (a) die russische Route von Kasachstan durch Russland zum russischen Schwarzmeerhafen Novorossijsk, (b) die Mittelmeerroute westlich vom Kaspischen Meer durch Aserbaidschan, Armenien, Georgien durch die Türkei oder über den Iran durch die Türkei zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan und schließlich (c) die Afghanistanroute östlich vom Kaspischen Meer über Turkmenistan, Afghanistan und Pakistan zum Persischen Golf und Indischen Ozean. Nahezu alle Kriege und Konflikte der letzten Jahre im Kaukasus-türkischen Raum (armenisch-aserbaidschanische, tschetschenisch-russische, georgische, kurdisch-türkische) und in Zentralasien, vor allem die Kriege innerhalb und gegen Afghanistan, haben direkt oder indirekt mit dem Wettkampf zwischen den USA und Russland zu tun, den Zugriff zu den Energiequellen und Transportrouten in der Region für sich zu entscheiden.

Die Schlüsselrolle des Afghanistan-Pipelineprojektes

Durch die Diversifikation der Energiequellen und -routen soll die Abhängigkeit der USA von einer einzigen Quelle reduziert und der eigene Handlungsspielraum zur Umsetzung der Doppelstrategie maximiert werden. Die Energiequellen im Kaspischen Meer könnten sich allerdings nur dann als eine ernsthafte Alternative zu den Energiequellen der Persischen-Golf-Region etablieren, wenn außer den beiden möglichen, von Russland bzw. Iran abhängigen Routenoptionen eine direkt unter amerikanischer Kontrolle stehende weitere Öl- und Gastransportroute erschlossen würde. So kommt dem Afghanistan-Pipelineprojekt eine Schlüsselrolle zu. Denn nur die Afghanistan-Route ermöglicht es den USA, den Einfluss Russlands oder Irans zurückzudrängen und eine mögliche geopolitische Koalition dieser Staaten, die Amerikas Vorherrschaft beeinträchtigen könnten, von vornherein aussichtslos zu machen. Die Idee einer derart beschaffenen Diversifizierung geht auf den jetzigen Berater des in Zentralasien aktiven US-Ölkonzerns Amaco und einstigen Förderer der afghanischen Volksmudjahedin bei der Vertreibung der sowjetischen Armee aus Afghanistan, Zbigniew Brzezinski, zurück, der mehr als jeder andere US-Geopolitiker die Bedeutung Eurasiens in »Amerikas Strategie der Vorherrschaft« hervorgehoben hat. So plädiert er dafür, „den derzeit herrschenden Pluralismus (!) auf der Landkarte Eurasiens zu festigen und fortzuschreiben. Dies erfordert ein hohes Maß an Taktieren und Manipulieren, damit keine gegnerische Koalition zustande kommt, die schließlich Amerikas Vorrangstellung in Frage stellen könnte, ganz abgesehen davon, dass dies einem einzelnen Staat so schnell nicht gelänge“ (Brzezinski, 2001: 282f).

Folgt man der Feststellung der herausragenden Rolle des Afghanistan-Pipelineprojektes in der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie, so erscheint die Afghanistan-Politik der USA seit 1995 in einem neuen Licht. Es ging dabei in erster Linie um die Realisierung eben dieses Projektes, koste es was es wolle und mit wem auch immer. So wurde im März und Oktober 1995 die turkmenische und pakistanische Zustimmung für das Projekt eingeholt. Die Taliban, „eine Schöpfung des pakistanischen Geheimdienstes“, waren schon zu Beginn des Jahres 1995 aufgetaucht. Sie wurden „vermutlich vom CIA und Saudi-Arabien finanziert“ (Ausführlicher Abramovici, 2002). Im September 1996 eroberten die Taliban Kabul. Michael Bearden (Vertreter des CIA in Afghanistan während des Krieges gegen die Sowjetunion und heute halb-offizieller Sprecher des CIA) gibt die damalige Stimmung der Amerikaner so wieder: „Diese Typen (die Taliban) waren nicht einmal die schlimmsten, etwas hitzige junge Leute, aber das war immer noch besser als der Bürgerkrieg. Sie kontrollierten das gesamte Gebiet zwischen Pakistan und den Erdgasfeldern Turkmenistans. Vielleicht war das doch eine ganz gute Idee, dachten wir, wenn wir eine Erdölpipeline durch Afghanistan bauen und das Gas und die Rohstoffe auf den neuen Markt befördern können. Alle wären zufrieden.“ (Pieces conviction, Fance 3, 18. Oktober 2001, zitiert nach Abramovici 2002)

Die US-Geostrategen und -Außenpolitiker hat also weder der Steinzeit-Fundamentalismus der Taliban noch die Perspektivlosigkeit ihrer Politik für die afghanische Bevölkerung im geringsten interessiert. Ihnen ging es offenbar allein um politische »Stabilität« in Afghanistan und die Sicherheitsgarantie für das Afghanistan-Pipelineprojekt. In Afghanistan wiederholt Bush jun. was Bush sen. 1991 im Irak-Konflikt vormachte. Beide waren und sind, wie keine anderen US-Präsidenten zuvor, sehr eng mit der US-Ölindustrie verbunden und von den Spenden der Ölkonzerne in ihren Wahlkämpfen abhängig. George W. Bush ernannte in sein engstes Beraterteam Leute, die zur Führungsriege der US-Ölkonzerne gehörten, darunter der Vizepräsident Dick Cheney und die Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Es war durchaus kein Zufall, dass George W. Bush kurz nach der Amtsübernahme ankündigte, die fossile Energienutzung stärker als bisher in den Vordergrund der Energiepolitik stellen zu wollen, und dass er im März 2001 demzufolge die Klimavereinbarungen im Protokoll von Kioto aufkündigte. Dem Öl und der Geopolitik wurde so ein neuer Auftrieb erteilt. Umso dringlicher wurde für die neue US-Regierung das Afghanistan-Pipelineprojekt. Ganz in diesem Sinne hat sie die laufenden Verhandlungen mit den Taliban, wie inzwischen »Le Monde diplomatique« vom Januar 2002 ausführlich recherchierte, intensiviert und sogar bis Ende Juli 2001 (sechs Wochen vor der Katastrophe in New York und Washington) fortgesetzt. Dabei stand die Auslieferung von Osama Bin Laden keineswegs im Vordergrund. Ganz im Gegenteil waren „die Amerikaner damals so sehr vom Zustandekommen der Verhandlungen (mit den Taliban) überzeugt, dass das FBI seine Untersuchung über eine mögliche Beteiligung Bin Ladens … am Anschlag auf den amerikanischen Zerstörer USS Cole … auf Veranlassung des State Departments einstellen muss.“ (Abramovici, 2002) Nach Berichten der beiden französischen Geheimdienstexperten Brisard und Dasquie trat der für Bin Laden zuständige FBI-Abteilungsleiter, John O‘Neill, im August 2001 aus Protest gegen diese Behinderungen zurück (Bröckers, 2001a).

Tatsächlich hätte Osama Bin Laden, wie der damalige sudanesische Verteidigungsminister, General Erwa, der Washington Post mitteilte, bereits 1996, als er sich im Sudan aufhielt, ausgeliefert werden können. Doch Washington lehnte das Auslieferungsangebot Sudans mit Rücksicht auf mögliche Unruhen in Saudi-Arabien und mögliche Destabilisierung des saudischen Königshauses ab. Laut Washington Post vom 02. Oktober 2001 gab es damals innerhalb der US-Administration eine intensive Diskussion darüber, „ob die Vereinigten Staaten Bin Laden verfolgen und anklagen oder ihn wie einen Mitstreiter in einem Untergrundkrieg behandeln sollten.“ Ganz offensichtlich hat man sich dafür entschieden „to treat him like a combattant in an ,underground war‘.“ (Bröckers, 2001: 4) Diese Behauptung mag unsere Phantasie über die taktischen Spielchen der Geostrategen überschreiten, man kann sie allerdings auch nicht ganz von der Hand weisen, zumal bisher unwidersprochen ist, dass auch Saddam Hussein durch die amerikanische Seite nicht daran gehindert wurde, Kuwait militärisch zu besetzen. Zu diesem Ergebnis kamen Pierre Salinger (Chefkorrespondent der amerikanischen Fernsehanstalt ABC für Europa und den Nahen Osten) und Eric Laurent (freier Journalist) in ihrem 1991 veröffentlichten Buch (Salinger/Laurent, 1991).

Ob diese »unheiligen Allianzen« zwischen Washington und Saddam Hussein bzw. zwischen Washington und Osama Bin Laden durch den CIA geplant und gezielt Schritt für Schritt umgesetzt wurden, bleibt eine Spekulation. Fakt ist allerdings, dass ohne die Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein die direkte militärische Präsenz in Darham und Riad (Saudi-Arabien) und in Kuwait City, d.h. in unmittelbarer Reichweite der größten Erdöl-Lagerstätten der Welt, genauso unwahrscheinlich gewesen wäre wie die Errichtung neuer US-Militärstützpunkte in Zentralasien (Usbekistan, Kirgisistan) und entlang der Öl- und Gastransportrouten der Quellen in der Kaspischen-Meer-Region ohne Osama Bin Laden und den 11. September. Die Kommandos, die das World Trade Center zerstörten, wurden jedenfalls erst Mitte August aktiviert, nachdem sich Ende Juli 2001 ziemlich klar herauskristallisiert hatte, dass die Taliban nicht bereit sind, sich den US-Bedingungen zur Realisierung des Pipelineprojektes zu unterwerfen und nachdem die US-Verhandlungsführer den Taliban nach Aussage des an den Verhandlungen beteiligten ehemaligen pakistanischen Außenministers, Niaz Naik, mit Militäraktionen gedroht hatten (Abramovici 2002 und Bröckers 2001a). Diese Militäraktion hat als Folge des 11. Septembers tatsächlich stattgefunden und die Transportroute für die kaspischen Energiereserven Richtung Indischer Ozean ist nun frei.

Die USA sind nun im Begriff, entlang der neuen Öl- und Gastransportrouten Militärstützpunkte zu errichten, um ihren globalen Anspruch auf die Vorherrschaft mittels Kontrolle der Ölquellen gegenüber Europa, Japan und nunmehr auch der VR China zu untermauern. Dass die hier dargestellte Doppelstrategie der USA mittels Öl- und Geopolitik die strukturelle Abhängigkeit von fossilen Energieimporten voraussetzt, erklärt, weshalb Russland auf Grund seiner eigenen umfangreichen Energieressourcen jenseits der Reichweite dieser energie- und geopolitischen Doppelstrategie liegt und dass es den USA in erster Linie darum geht, Russlands geopolitische Optionen in Zentralasien auf null zu reduzieren.

Zu der Diversifizierungsstrategie der USA gehört außer der Diversifizierung der Ölquellen und Transportrouten auch eine Diversifizierung von Militärstützpunkten und strukturellen Fähigkeiten für den Nachschub von Kriegsmaterial und -personal im gesamten eurasischen Raum. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das US-Engagement auf dem Balkan, insbesondere im Kosovokonflikt, und die Errichtung einer Militärbasis, des Camp Bondsteel in der Nähe von Pristina als einem der größten US-Militärstützpunkte außerhalb der Nato, in einem neuen Licht (vgl. Massarrat 2000a).

Diese Ausführungen wären unvollständig, blieben zwei Ironien des Afghanistan-Krieges unerwähnt. Erstens die Tatsache, dass ausgerechnet jemand wie Osama Bin Laden, der die amerikanische Ölpolitik als Grund für seinen antiamerikanischen Hass anführte und damit auch die Terroranschläge gegen die USA rechtfertigte1, selbst zum Verbündeten der USA umfunktioniert wird, um die bisherige US-Öl- und Geopolitik im Mittleren Osten und Zentralasien zu festigen und auszubauen. Und zweitens die bittere Wahrheit, dass ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung, die bei den internationalen Klimaverhandlungen zur Reduzierung des fossilen Energieverbrauchs für sich eine Vorreiterrolle reklamiert, mit ihrer „uneingeschränkten Solidarität“ im Afghanistan-Konflikt dazu beigetragen hat, dass die Vereinigten Staaten ungehindert ihre Politik der forcierten Nutzung fossiler Energien durchsetzen und damit alle Ergebnisse des Klimaprotokolls von Kioto von Grund auf zunichte machen können. So schließt sich wieder der Teufelskreis der US-energie- und geopolitischen Doppelstrategie.

Der Teufelskreis von Rüstungswettlauf, Krieg und Fundamentalismus

Was die politische Klasse Amerikas bei der Verfolgung ökonomischer und geostrategischer Ziele von den Menschen im Orient jenseits aller ideologischen Phrasen über Demokratie, westliche Werte und Menschenrechte wirklich hält, sagte unumwunden der ehemalige US-Energieminister James Schlesinger auf dem 15. Kongress des Weltenergiebeirates 1992 in Madrid: „Das, was das amerikanische Volk aus dem Golfkrieg gelernt hat, ist, dass es wesentlich leichter und wesentlich lustiger ist, den Leuten im Vorderen Orient in den Hintern zu treten, als Opfer zu bringen und die Abhängigkeit Amerikas im Hinblick auf das importierte Öl zu begrenzen.“ (Sarkis 1993) Die US-Politik im Mittleren und Nahen Osten seit der Mitte des letzten Jahrhunderts und nun auch in Zentralasien entspricht auf der ganzen Linie jedenfalls ziemlich genau der »Wertschätzung«, die Schlesinger den Menschen im Vorderen Orient beimisst.

Über ein halbes Jahrhundert erlebten die Menschen im Mittleren und Nahen Osten eine politisch-militärische Kooperation des Westens und der Sowjet Union mit diktatorischen Regimen; sie erlebten Militärinterventionen, Waffenimporte, Kriege, Zerstörungen und menschliches Leid. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass Ansätze von Demokratie von außen in der Region gefördert wurden, dass die Werte westlicher Industriestaaten, wie Pluralismus, Meinungsfreiheit und Schutz der Menschenrechte, glaubhaft als Richtschnur ihrer Beziehungen zu den Staaten im Mittleren und Nahen Osten gedient hätten. Wie sollten die islamischen Bevölkerungen dieser Region die positiven politischen Errungenschaften des Westens wahrnehmen und sich diese auch zu Eigen machen, wenn sie durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse mit den westlichen Staaten nicht mit diesen positiven Werten, sondern mit purer westlicher Interessenpolitik, mit Waffengewalt und geopolitischen Schikanen konfrontiert wurden? Dadurch wurde die Demokratisierung in der Region um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern im Nahen und Mittleren Osten beträchtlicher Schaden zugefügt, den kurzfristigen amerikanischen und westlichen Interessen jedoch nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den nationalistisch-fundamentalistischen Regimen, den beiden Golfkriegen, den gigantischen Rüstungsexporten in die Persische-Golf-Region in den letzten 30 Jahren und den sinkenden Ölpreisen. Letztere gelten bekanntlich als wichtigster Stabilitätsfaktor für die florierenden Volkswirtschaften kapitalistischer Industrieländer.

Nun hat sich durch den Terroranschlag auf das World Trade Center und auf das Pentagon das Konzept einer Destabilisierungsstrategie mit »kalkulierbarem Risiko« als Bumerang erwiesen. Die auf eigenen kurzfristigen ökonomischen und geostrategischen Interessen basierende Politik der USA und des Westens wird durch den globalisierten Terrorismus eingeholt. Wie die drohende Klimakatastrophe als Reaktion der Natur auf ein nur kurzsichtig ausgerichtetes ökonomisches Handeln der reichen Eliten in den Industrie- und Entwicklungsländern gesehen werden muss, ist der globalisierte Terrorismus die politische Reaktion auf die Art und Weise der Aufrechterhaltung und Absicherung des Systems. Insofern tragen alle westlichen Staaten, allen voran die USA selbst, eine beträchtliche Mitverantwortung für die Katastrophe in New York und Washington und für Tausende Opfer unter den Trümmern des World Trade Centers.

Literatur

Abramovici, Pierre (2002): Dubiose Kontakte Washington und Taliban, in: Le Monde diplomatique vom Januar 2002.

Altmeyer, Martin (2001): Renaissance zweier Welten. Der Terror und die narzisstische Kränkung, in: Frankfurter Rundschau vom 19.09.01.

Bröckers, Mathias (2001): Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Die Bush – Bin Laden – Connection, in: Telepolis vom 20.11.01 (wysiwyg://http://www.heise.de).

Bröckers, Mathias (2001a): In Memorian John O‘Neill – der kaltgestellte Jäger Bin Ladens starb im World Trade Center, in: Telepolis vom 24.11.01 (wysiwyg://http://www.heise.de).

Brzezinski, Zbigniew (2001): Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M.

Chomsky, Noam/ Beinin, Joel u.a. (1992): Die neue Weltordnung und der Golfkrieg, Grafenau.

Massarrat, Mohssen (1980): Weltenergieproduktion und Neuordnung der Weltwirtschaft, Frankfurt a.M./New York.

Massarrat, Mohssen (1981): Instabilität der Weltlage und Kriegsgefahr, in: Sozialistisches Büro (Hrsg.): Sozialistische Politik und Kriegsgefahr, Offenbach, S. 13-37.

Massarrat, Mohssen (1988): Der Gottesstaat auf dem Kriegsschauplatz, in: Peripherie,.

Massarrat, Mohssen (1991): Der Golfkrieg: Historische, politische, ökonomische und kulturelle Hintergründe, in: Stein, Georg (Hrsg.): Nachgedanken zum Golfkrieg, Heidelberg.

Massarrat, Mohssen (1999): Islamischer Orient und christlicher Okzident: Gegenseitige Feindbilder und Perspektiven einer Kultur des Friedens, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft, 6/1999.

Massarrat, Mohssen (1999a): Die unheilige Allianz mit dem irakischen Diktator, in: Wissenschaft und Frieden, Nr. 1/99.

Massarrat, Mohssen (2000): Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung und neue politische Allianzen, 2., stark erweiterte Auflage, Marburg.

Massarrat, Mohssen (2000a): Der Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Lehren für eine pazifistische Perspektive und eine europäische Friedenspolitik, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft VII/2000.

Pitzke, Marc (2001): Die Woche vom 19. Oktober 2001.

Salinger, Pierre/ Laurent, Eric (1991): Krieg am Golf. Das Geheimdossier. Die Katastrophe hätte verhindert werden können, München.

Yergin, Daniel (1991): Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht, Frankfurt/Main.

Anmerkungen

1) „Amerika stiehlt uns das Öl. Sie behaupten es wäre wichtig für sie. Amerika ist der größte Terrorist aller Zeiten. Nichts wird Amerika davon abhalten so weiterzumachen, außer man zahlt es ihnen mit gleicher Münze heim.“ Notiert aus einem nach dem 11. September über diverse Sender ausgestrahlten Interview ohne Zeitangabe.

Prof. Dr. Mohssen Massarrat lehrt im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück

Militär, Militär, Militär …

Militär, Militär, Militär …

US-amerikanische Interessensicherung

von Regina Hagen

Vor wenigen Wochen trotzte ich, genau wie Zehntausend andere Menschen, dem in München verhängten Demonstrationsverbot gegen die »Sicherheitskonferenz«. Diese, von früher noch als »Wehrkundetagung« bekannte Veranstaltung war in den letzten Jahren etwas aus dem Blickfeld der Friedensbewegung geraten. Zu Unrecht, finden sich zu dieser jährlich stattfindenden Strategiedebatte, die überwiegend von der deutschen Regierung finanziert wird, doch Dutzende hochrangige Politiker und Militärexperten aus NATO- und befreundeten Ländern ein.

Vor einem Jahr stellte sich z.B. der neu ernannte US-Verteidigungsminister Rumsfeld seinem Kollegenkreis vor. Damals standen im »Bayrischen Hof« die Raketenabwehrpläne im Vordergrund; vor der Tür versammelten sich fünfzig DemonstrantInnen.

Nun hat sich seitdem zwar nicht die Welt geändert, aber doch die sicherheitspolitische Lage gefährlich zugespitzt. Nach den Attentaten vom 11. September hat »militärische Konfliktlösung« Hochkonjunktur. Pazifismus soll nur noch »politisch« verstanden werden, als „Unterordnung militärischer Schritte unter politische Strategien“ (Staatssekretär Ludger Volmer am 07.01.02 in der Frankfurter Rundschau). Bei Kriegen geht es auch nicht mehr um ökonomische oder strategische Interessen, nein, die USA handeln ganz altruistisch, weil sie erkennen, „wenn wir unsere Ärmel hochkrempeln, (können wir) nicht nur uns selbst, sondern die Welt retten“ (US-Politikberater Mead am 8.2. in der FR). Der »gerechte Krieg« wird propagiert: gestern für Freiheit und Demokratie, heute zur »Ausrottung des Terrorismus«.

Die DemonstrantInnen gegen die »Sicherheitskonferenz« in München, beim World Economic Forum in New York und auf dem Weltsozialgipfel in Porto Allegre waren da anderer Meinung. Für sie gilt die hier gepriesene »Rettung« nicht der Welt, sondern den Interessen der einzig verbliebenen Supermacht und ihrer Verbündeten, ihrem ungezügelten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt.

Und seine Interessen vertritt das mächtigste Land der Erde mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und notfalls auch gegen internationale Verträge, Vereinbarungen und Institutionen:

  • Den anhaltenden Krieg gegen Terrorismus versteht US-Präsident Bush durchaus wörtlich. Schon im Herbst 2001 gab er bekannt, dass der Krieg gegen unbotmäßige Länder und Gruppierungen mindestens sechs Jahre dauern werde. Mit der Benennung der »Achse des Bösen« (Nordkorea, Iran und Irak) und der Ankündigung, im Zweifel bleibe kein Stein auf dem anderen und das Regime in Bagdad werde hinweggefegt, ob es den Verbündeten nun passe oder nicht, wurde der Anspruch auf einseitiges Handeln formuliert. Da sehen sich selbst die Außenminister der Europäischen Union inzwischen zu vorsichtigen Absetzbewegungen von der „bedingungslosen Solidarität“ (Bundeskanzler Schröder) veranlasst und warnen vor Angriffen auf den Irak.
  • Unverblümt bezeichnet US-Verteidigungsminister Rumsfeld seinen Antrag für das Verteidigungsbudget 2003 als »Kriegshaushalt« und schlägt vor, diesen Etatposten in seinem Land bis 2007 auf US$ 459 Milliarden zu steigern. Bereits im Haushaltsjahr 2003 werden die USA fast 40% der weltweiten Ausgaben für Rüstung und Militär tätigen.
  • „Dominanz über das volle Konfliktspektrum“ (Full Spectrum Dominance) wurde vom US-Generalstab schon 1995 als oberstes Ziel der Militärpolitik benannt (Joint Vision for 2010). Kontrolle über den Weltraum und somit über die Erde sei angesichts der zunehmenden Verteilungskämpfe geboten, um den USA beliebige Handlungsoptionen freizuhalten. Ausdrücklich eingeschlossen wurden mit dem Amtsantritt der Regierung Bush die Bewaffnung des Weltraums und der Anspruch, die Kontrolle über diesen einzigartigen Feldherrenhügel ungehindert auszuüben.
  • Die Beschaffungswünsche des Pentagon beschränken sich aber nicht auf »außeratmosphärische Exotenwaffen«. Das US-Militär soll mit allem ausgerüstet werden, was der Waffenmarkt hergibt, von archaisch anmutenden Monsterkanonen bis hin zu modernsten bewaffneten Drohnen, von Transportflugzeugen bis zu leistungsfähigeren Satelliten, von Raketenabwehrsystemen bis zu Präzisionsbomben und konventionell bestückten Cruise Missiles, von der Ausrüstung für den »Informationskrieger« am Boden bis zu Weltraumbombern.
  • Das Konzept der »neuen Triade« ist Ergebnis des kürzlich abgeschlossenen Nuclear Posture Review, der Überprüfung der US-Nuklearpolitik. Über die bisherige »Triade des Kalten Krieges«, bestehend aus nuklear bestückten Langstreckenbombern, Interkontinentalraketen und U-Booten, wird jetzt die »Neue Triade« gestülpt, die nukleare und nicht-nukleare Angriffsfähigkeiten, breit angelegte Abwehrmöglichkeiten und eine flexibel reagierende Infrastruktur umfasst.
  • Die mit dem russischen Präsidenten vereinbarte Abrüstung strategischer Atomwaffen auf 1.700-2.200 Kernsprengköpfe bezieht sich lediglich auf das jederzeit einsatzbereite Arsenal und soll erst im Jahr 2012 erreicht werden. Nicht in dieser Zahl enthalten sind ca. 400-500 Sprengköpfe, die jeweils gerade zu Wartungszwecken aus dem Arsenal entnommen sind (beispielsweise um den Sprengkraftverstärker Tritium neu aufzufüllen). Die »abgerüsteten« Atomwaffen sollen auch nicht etwa unbrauchbar gemacht werden, sie stehen für »potenzielle Notfälle« einer »responsive force« zur Verfügung, d.h. sie sind binnen kurzem wieder einsatzbereit. Bei einer Änderung der Sicherheitslage behalten sich die USA auch die erneute Aufstockung des Nukleararsenals vor. Weitere Negativpunkte der neuen Nuklearpolitik: Taktische Atomwaffen sind nicht berücksichtigt, eine weitere Reduzierung des Atomarsenals wird bis 2020 ausgeschlossen, die Bereitschaft zur Durchführung von Tests soll erhöht werden und die Unterzeichnung des Umfassenden Teststoppabkommens wird abgelehnt.
  • Raketenabwehr ist neben dem Ausbau konventioneller Angriffsfähigkeiten ein wesentlicher Teil der »neuen Triade«. Mit hohem Tempo und eindeutiger Klarheit treibt die US-Regierung entsprechende Pläne voran. Mitte Dezember hat George Bush den ABM-Vertrag gekündigt, der den USA und Russland den Aufbau eines nationalen Schutzschildes untersagt und zahlreiche Testszenarien und Systeme für Raketenabwehr und Weltraumrüstung verbietet. Die Kündigung wird vertragsgemäß im Juni 2003 wirksam. Anfang Januar wurde die organisatorische Verankerung der Raketenabwehr innerhalb der US-Administration deutlich aufgewertet: George Bush löste die Ballistic Missile Defense Organization auf und installierte statt dessen die ranghöhere Missile Defense Agency. In den Aufgabenbereich dieser neuen Agentur fällt ausdrücklich auch die Management- und Budgetverantwortung für den besonders umstrittenen Weltraumlaser.

Als Zugeständnis an Russland, das diesem Affront wenig entgegenzusetzen hat, wird die schriftliche Fixierung der neuesten nuklearen Abrüstungsabsprache in Aussicht gestellt. Dennoch besteht die Gefahr, dass Russland sich nicht länger an die Vereinbarungen des START II-Abkommens gebunden fühlt und beispielsweise Interkontinentalraketen weiterhin mit Mehrfachsprengköpfen ausrüstet.

Auch China sieht keine rechtliche Handhabe gegen den Auf- und Ausbau einer Vielzahl unterschiedlicher Abwehrsysteme, wird aber wahrscheinlich mit der Ausweitung seines strategischen Nukleararsenals antworten und seine Raketen mit Mehrfachsprengköpfen ausrüsten.

Mit einem Achselzucken gehen die USA über die Bedenken aus aller Welt hinweg, dass mit der Aushebelung des ABM-Vertrags die internationale Rüstungskontrolle aufs Höchste gefährdet wird, doch Europa stellt sich derweil dumm und sucht das Thema nach Möglichkeit zu ignorieren.

  • NATO und Europäische Union versuchen den Spagat. Im Kampf gegen den Terror von den USA marginalisiert, gut vor allem für humanitäre Aufräumaktionen nach Abschluss der Bombardements und für die Eindämmung der innergesellschaftlichen Gewalt vor Ort, müssen sie sich von den USA den Vorwurf der mangelnden Einsatzbereitschaft gefallen lassen. Die Europäer manövrieren sich in der irren Hoffnung auf Gleichwertigkeit selbst in einen Rüstungswettlauf mit den USA – beispielhaft seien nur Transportflugzeuge, Raketenabwehrsysteme und Aufklärungssatelliten genannt –, den sie doch nie gewinnen können.

Nicht etwa auf der Münchner »Sicherheitskonferenz« wies der Bundeskanzler darauf hin, dass Terror Ursachen hat und diese beseitigt werden müssen. Die hehren Worte reservierte Kanzler Schröder für das parallel in New York stattfindende Weltwirtschaftsforum. Anstatt sich zu besinnen und aus historischer Erfahrung und Einsicht der zivilen, völkerrechtlich konformen, nicht-militärischen und vor allem nachhaltigen Konfliktlösung das Wort zu reden, machen sich die deutschen Politiker bestenfalls über die Auswirkungen dieser »Politik mit der Brechstange« Sorgen: Die westliche Welt könne sich im Irak kein weiteres »Versorgungsprotektorat« leisten, verlautet aus Berlin, außerdem würden im Falle eines erneuten Golfkrieges die Erdölpreise massiv steigen. Das könnte natürlich die Rezession verschärfen und das würde die Voraussetzungen für einen rot-grünen Wahlsieg im Herbst weiter verschlechtern.

Es wäre wünschenswert, die deutschen Politiker würden wieder etwas längerfristig denken. Damit wir nicht morgen in einer Welt leben, in der Gewalt und Krieg unter den wohlklingenden Namen »humanitärer Friedenseinsatz« und »Bekämpfung des Terrors« zum bevorzugten Mittel der Politik werden, müssen wir heute die Diskussion über Strategien der zivilen Konfliktlösung führen.

Die DemonstrantInnen von München haben sich in diesem Sinne eingemischt – und das macht Mut.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation und aktiv in der deutschen Friedensbewegung.

Armee mit Flotte?

Armee mit Flotte?

Zur maritimen Dimension der militärstrategischen Debatte

von Marlies und Peter Linke

80 Jahre nach Gründung der KP Chinas werden in den Reihen der chinesischen Armee Diskussionen um die »Nationalisierung« der Streitkräfte geführt. Die Armeezeitung Jiefangjun Bao weist in ihren Internetausgaben von Mai und Juni 2001 solche Art Ansinnen als vom Westen nach China hereingetragen zurück und verweist auf die Unabdingbarkeit der Führung der Volksbefreiungsarmee (VBA) durch die KP Chinas. Die Entwicklung der chinesischen Streitkräfte in den letzten 20 Jahren aber lässt erkennen, dass diese ihre Planungen lange nicht mehr an klassengebundenen Zielen ausrichtet, sondern an nüchtern definierten nationalen Interessen. Chinesische Strategen verzichten seit 1978 zunehmend auf Kategorien von Klassenzugehörigkeit zur Einordnung Chinas in das internationale Gefüge. Die Betonung des Führungsanspruchs der Partei gegenüber den Streitkräften lässt Erinnerungen an die Zeiten Mao Zedongs aufleben. Seit Maos Tod vollzog sich jedoch ein gravierender Wandel des Aktionsumfelds der VBA sowohl innerhalb Chinas als auch auf regionaler und globaler Ebene, auf den die chinesischen Streitkräfte mit einer Anpassung ihrer Strategie reagierten. Im Folgenden sollen die Strategie der VBA und – angesichts ihrer wachsenden Bedeutung im System der Landesverteidigung – der VBA-Marine skizziert und deren Bemühungen zur technischen Sicherung der an sie gestellten Aufgaben dargestellt werden.

Über lange Jahre hinweg folgte die VBA der in den 1920ern und 1930ern entwickelten Strategie des »Volkskrieges«, die gekennzeichnet war durch

  • Verzicht auf die Verteidigung fester Punkte, hohe Truppenmobilität um »Raum gegen Zeit zu tauschen«,
  • Setzen auf die Unterstützung der Armee durch die Bauern,
  • das Primat ideologisch geschulter Soldaten über Waffen,
  • die Postulierung eines Partisanenkrieges.

Nach 1977 und verstärkt durch die Schlappe, die chinesische Truppen bei ihrem Überfall auf Vietnam 1979 einsteckten, war offensichtlich geworden, dass eine Modifizierung dieser Strategie notwendig war. Positionskämpfen wurde eine größere Rolle eingeräumt um die gewachsene industrielle Basis und die Ballungszentren ziviler Bevölkerung verteidigen zu können. Dies sollten meist reguläre Truppen übernehmen, unterstützt von Partisanen, Milizen und der Zivilbevölkerung. Als potenzieller Hauptgegner wurde seit den späten 1960ern der nördliche Nachbar betrachtet. Es wurde aufgerufen, sich auf einen „frühen, großen und nuklearen Krieg gegen die Sowjetunion“ vorzubereiten. Das Motto des Volkskrieges („Die Invasoren im Meer des Volkskrieges ertränken“) wurde ergänzt um ein Vergeltungsszenario für nukleare Angriffe und eine Luft-Land-Strategie gegen das sowjetische Hinterland. Angesichts allzu großer potenzieller eigener Verluste wurde der Ansatz, »Raum gegen Zeit einzutauschen«, aufgegeben.1

Vom Volkskrieg zum lokalen Krieg unter Hochtechnologiebedingungen

Wie bereits seit Ende der 1970er sollte auch nach dem 1985 einsetzenden Wechsel der Militärdoktrin die Sicherung eines stabilen friedlichen äußeren Umfeldes für die erfolgreiche Umsetzung des Modernisierungskurses Chinas die Hauptaufgabe der VBA bleiben.

Der neuen Militärdoktrin lagen vor allem neue Annahmen über mögliche künftige Kriege zugrunde. Deng Xiaoping ging am 04.06.1985 in seiner Rede vor der Zentralen Militärkommission davon aus, dass – obwohl die Gefahr eines globalen Krieges weiterbestehe – es möglich sei, dass ein großer Weltkrieg auf längere Sicht nicht stattfinden werde. Daraus leitete sich das Ziel des „Aufbaus der Armee in Friedenszeiten“ ab, „um eine Abschreckungskraft aufzubauen, um Krieg herauszuzögern und ihn einzudämmen (falls er ausbrechen sollte)…Inzwischen sollte der Schwerpunkt darauf gelegt werden, sich vorzubereiten, in verschiedenen lokalen Kriegen und bewaffneten Konflikten zu kämpfen und diese zu gewinnen.“2

Lokale Kriege würden nach Einschätzung der VBA-Planer – so die Untersuchung Nan Lis, Senior Fellow am United States Institute of Peace, zu den Gründen der neuen Schwerpunktsetzung in der chinesischen Militärdoktrin – künftig von größerer Bedeutung sein. Die nukleare Patt-Situation zwischen der Sowjetunion und den USA zwinge diese zu mittleren Formen der Auseinandersetzung: Zwischen einem die Gefahr gegenseitiger Vernichtung bergenden ausgedehnten Krieg und dem wegen Inkongruenz ihrer Interessen und Wertvorstellungen unmöglichen völligen Kompromiss. Hieraus ergebe sich auch die zunehmende Gefahr von Stellvertreterkriegen. Die aus ungleicher ökonomischer Entwicklung resultierende ungleiche Entwicklung von Militärtechnologien verschiedener Staaten erhöhe die Gefahr für die schwächere Seite, zum Testgebiet für neue Waffen zu werden. Zunehmende Zerstörungen und wachsende Kosten, die ein ausgedehnter Krieg mit sich bringen würden, ließen lokale Kriege zu einer kostengünstigen Alternative werden um die angestrebten Ziele zu erreichen. Steigende Ressourcenknappheit könne territoriale Konflikte wiederbeleben oder entfachen. Bürgerkriege lüden zu äußerer Intervention ein, territoriale und ethnische Spannungen erhöhten die Wahrscheinlichkeit von lokalen Kriegen, die nicht immer Stellvertreterkriege seien, da auch Staaten der Dritten Welt und sozialistische Staaten begrenzte Kriege austrügen.3

Als kennzeichnende Züge »lokaler Kriege« werden nicht nur ihr begrenzter Umfang genannt, sondern auch ihr stärker ausgeprägter politischer denn militärischer Charakter, damit verbunden ihre größere Offenheit für Vermittlungsbemühungen, das größere Gewicht politischer und diplomatischer Gründe zur Deeskalation des Konflikts, die Begrenztheit der Kriegsziele, die mit weniger, aber gut ausgebildeten und ausgerüsteten Truppen und durch Überraschungs- und Präzisionsschläge erreicht werden sollen. Ziel dieser Kriege ist nicht die vollständige Vernichtung des Gegners, sondern das Erreichen begrenzter politischer, wirtschaftlicher und strategischer Zwecke. Daraus leiten chinesische Militärstrategen fünf wahrscheinliche Szenarien für einen begrenzten Krieg ab:

  • den militärischen Konflikt mit Nachbarstaaten in einer begrenzten Region,
  • den militärischen Konflikt in Territorialgewässern,
  • den nichterklärten Luftangriff durch Feindstaaten,
  • die territoriale Verteidigung in einer begrenzten militärischen Operation,
  • die Strafoffensive mit einem begrenzten Vordringen in einen Nachbarstaat.4

Eine Konkretisierung der Doktrin des »lokalen Krieges« ergab sich aus der Analyse des Golfkrieges von 1991, der als »begrenzter Krieg unter Hochtechnologiebedingungen« die technischen Möglichkeiten und Anforderungen an eine Kriegsführung mit modernsten Waffensystemen deutlich machte. Hauptbedrohungen für ihre nationale Sicherheit sehen chinesische Strategen in bestimmten Konstellationen »zwischenstaatlichen Wettbewerbs«, darin, sich als Nation nicht rechtzeitig und hinreichend an der Erkundung und Nutzung neuer Räume (Antarktis, Weltraum, Weltmeere) beteiligt zu haben, und in direkten Bedrohungen der territorialen Integrität Chinas.5

Dem offenen Meer zugewandt – Räume und Ressourcen für Chinas Entwicklung

Nachdem Chinas nördlicher Nachbar nicht mehr als Bedrohung perzepiert wird und es gelungen ist, die Territorialprobleme an Chinas Landgrenze – bis auf die Probleme mit Indien – weit gehend zu klären, richtet sich im Zusammenhang mit den Erfordernissen des Wachstums von Wirtschaft und Bevölkerung in wachsendem Maße die Aufmerksamkeit der Planer auf Chinas maritime Räume und Ressourcen, gewinnt die chinesische Marine als Mittel zur Sicherung nationaler Interessen bedeutend an Gewicht.6

Energieträger, Lebensmittel, Schifffahrtswege, Inseln und nationale Einheit dürften zu den wichtigsten Stichwörtern bei der Betrachtung der maritimen Interessen der VR China zählen.

Zur Sicherung der Energieversorgung vor allem seiner wachsenden Wirtschaft deckt China einen steigenden Anteil seines Energiebedarfs nicht mehr durch Kohle (gegenwärtig 77 %), sondern durch Öl und Erdgas. Bei Anwendung der heute verfügbaren Fördertechnologien und einer Fördermenge von 150 Mrd. t/Jahr dürften sich Chinas derzeit bekannte förderbare Ölvorräte innerhalb der nächsten 30 Jahre erschöpfen.7 Obwohl die eigene Ölproduktion 2000 165 Mrd. t erreichen sollte, wird von einem zusätzlichen, durch Importe zu deckenden Bedarf von 45-65 Mrd. t ausgegangen.Bereits 1996 zweitgrößter Getreideimporteur der Welt, sieht sich die chinesische Regierung nicht nur mit einer wachsenden Bevölkerungszahl, sondern auch mit einem ansteigendem Pro-Kopf-Verbrauch von Lebensmitteln, bei sich verschlechternden Bedingungen für landwirtschaftliche Produktion (rückläufige Anbauflächen, Wassermangel, sinkender Düngereinsatz etc.), konfrontiert.8 Der Zukauf im Ausland und die Gewinnung von Nahrungsmitteln aus dem Meer erlangen daher zunehmend an Bedeutung.

Z.Z. noch wenig genutzte, aber bei künftiger Entwicklung entsprechender Fördertechnologien bedeutsame Meeresressourcen (Mangan etc.) und Ressourcen, die heute noch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, da ihre Verwertbarkeit noch nicht entdeckt wurde, dürften ebenfalls Begehrlichkeiten wecken. Transportlinien, nicht nur für Rohöl und Getreide sondern für ca. 85 % des Außenhandels, durchlaufen das Seegebiet Chinas und bedürfen der zuverlässigen Sicherung.

Die Antwort auf die Frage der Zugehörigkeit der Nansha-Inseln (Spratly) hat nicht nur Auswirkungen für Chinas territoriale Integrität, sie ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Klärung der Größe der Exklusiven Wirtschaftszone (EEZ) und des Kontinentalschelfs, das von China genutzt werden kann. Die Wiederherstellung der nationalen Einheit Chinas unter Einbeziehung Taiwans bleibt in den Augen der Pekinger Führung zentrale Aufgabe chinesischer Politik.9 Der Wiedereingliederung Taiwans in den chinesischen Staatsverband stehen aber nicht nur taiwanesische Interessen konträr gegenüber, sie berührt auch die Sicherheitsinteressen Japans und der USA.

Zur Sicherung der maritimen Interessen Chinas verfolgt die chinesische Führung eine Doppelstrategie, die einerseits auf internationale Kooperation setzt (u.a. die aktive Beteiligung an der Formulierung des Rechtsrahmens für die Nutzung des maritimen Raums, die Teilnahme an regionalen Foren zur Diskussion von Sicherheitsfragen als vertrauensbildende Maßnahme) und die andererseits die Vorbereitung auf einen Kampf zur Durchsetzung der eigenen Interessen als worst-case-Szenario beinhaltet. Pekings Strategie zielt gleichzeitig auf

  • die Stärkung der Seestreitkräfte,
  • die Verstärkung und Ausweitung seiner physischen Präsenz in umstrittenen Seegebieten,
  • die Heranziehung westlicher Ölfirmen zur Ausbeutung der Ölvorkommen in den beanspruchten Gebieten,
  • auf bilaterale Diskussion seiner Position mit den anderen Ansprüche erhebenden Seiten.10

China, Erstunterzeichner der UN-Seerechtskonvention von 1982, ratifizierte diese 1996 und erweiterte damit seinen Zugang von 380.000 km² Seegebiet innerhalb der 12 sm-Zone nach UN-Seerecht über die Exklusive Wirtschaftszone auf 3 Mio. km² Seegebiet, unter Einrechnung des Bohai-Inlandmeeres 4,7 Mio. km².

Das »Gesetz über die Territorialgewässer und die angrenzende Zone« von 1992 dokumentiert in klar kodifizierter Weise Chinas maritime Prioritäten und räumt der VBA-Marine das Recht ein, unbefugt eindringende fremde Schiffe abzufangen und/oder zu beschießen.

China sieht seine maritimen Interessen in der Gegenwart durch Konfliktpotenziale mit einer Reihe von globalen und regionalen Akteuren bedroht: USA, Japan, Taiwan wie auch andere Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres (besonders Vietnam und die Philippinen).

Die veränderte Bedrohungsperzeption und die aus der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas erwachsenden Erfordernisse schlugen sich Mitte der 1980er auch in der Anpassung der Marinestrategie nieder. Nach Einschätzung chinesischer Marineoffiziere sind ausgedehnte Seekriege in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich, sie rechnen eher mit begrenzten Seekonflikten. Im Hauptfokus von Seeschlachten sehen sie die Erlangung der Souveränität über Inseln, die Kontrolle von Meeresgebieten und den Wettkampf um die Vorherrschaft auf den Ozeanen. Da Rivalitäten zwischen einzelnen Staaten um territoriale Souveränität, Seerechte und Ressourcen zu militärischen Auseinandersetzungen auf See führen können, muss sich die chinesische Marine bereits in Friedenszeiten auf die erfolgreiche Durchsetzung nationaler Interessen vorbereiten. Dieses Vorbereitetsein für den Fall der Eskalation eines Konflikts wird auch als Voraussetzung für die Tragfähigkeit politischer und diplomatischer Lösungen eines lokalen Krieges betrachtet. 11Ausgehend von der zuvor betonten Konzentration auf Küstenverteidigung begann seit 1982 Admiral Liu Huaqing, 1982-1988 Chef der Marine Chinas, die Notwendigkeit der Off-shore-Verteidigung zu unterstreichen.12 In einem 3-Stufen-Plan wies er die Entwicklungsrichtung des maritimen Arms der VBA:

  • Bis 2000: Konzentration der Marine auf Training und Ausbau der existierenden Formationen, Überholung und Verbesserung der Marineschiffe. Ziel: Abschreckung regionaler Bedrohungen, schnelle und erfolgreiche Beendigung von Schlachten unter niedrigem Risiko.
  • 2001-2020: Konzentration auf Bau mehrerer leichter Flugzeugträger von 20.000-30.000 t. Kauf mehrerer Kriegsschiffe zur Unterstützung der Flugzeugträger-Taskforce um die Flotte zu verstärken und die off-shore-Kampffähigkeit der Marine auszubauen. Ziel: Projektion der Marine nicht nur in den Westpazifik, sondern Erkundung der Weltmeere mit Flugzeugträgern und Hightech-Ausrüstung.
  • 2021-2040: Verwandlung der Marine in eine bedeutende Seemacht mit Hochseefähigkeit.13

Chinas Marine strebt damit den Sprung von einer auf die Verteidigung der eigenen Küsten konzentrierten Streitmacht, die in erster Linie Unterstützung für Armee und Luftstreitkräfte leistet, zu einer Seemacht von Weltrang an.

Dieses Streben Chinas zielt nicht nur auf die Sicherung des Zugangs zu wichtigen maritimen Räumen und Ressourcen, sondern spiegelt wohl auch das Bewusstsein, dass die Fähigkeit zur Kontrolle über das offene Meer als essenzieller Bestandteil des Weltmachtstatus betrachtet wird.

Das Herausschieben des Verteidigungsperimeters in den 1980ern und frühen 1990ern dokumentiert auch ein sich veränderndes, den Möglichkeiten moderner Kriegsführung unter Hochtechnologiebedingungen Rechnung tragendes Sicherheitsbedürfnis: In Chinas Küstenregionen, die 30 % des Territoriums ausmachen, erwirtschaften 40 % der Bevölkerung 60 % des BIP. Der Ozean wird als „natürlicher Schutzvorhang für diese strategisch wichtige Region“ betrachtet.14

1988 definierte Admiral Zhang Lianzhong die folgenden Verteidigungsperimeter:

  • äußerer Bereich – schließt Seegebiete bis zur ersten Inselkette (diyi diaolian) ein,
  • mittlerer Bereich – bis ca. 150 sm vor der Küste,
  • innerer Bereich – bis 60 sm vor der Küste.

Liu Huaqing bezeichnete die zu sichernde Zone mit 200 sm (entspricht jinhai für Küstengebiete), später mit 600 sm (zhonghai für Gebiete zwischen 200 und 600 sm vor der Küste). Die Kontrolle über einige Spratly-Inseln erweitert den Aktionsradius der VBA-Marine auf ca. 1000 sm, mit der Ausdehnung der Kontrolle bis zur ersten Inselkette (Gebiete von Wladiwostok, Ryukyu, den Philippinen bis zur Straße von Malakka) würde sie »green-water capability« erreichen. Operationsfähigkeit im Ozean erreicht die Marine (yuanyang haijun, blue-water capability) mit der Einbeziehung der zweiten Inselkette (Kurilen, Bonin, Marianen, Papua-Neuguinea) in ihren Operationsrahmen.15

China versucht durch Machtprojektion, Bedrohungen bereits möglichst weit vor der eigenen Küste auszuschalten. Dazu ist die Marine bemüht Hochtechnologiewaffen in ihr Arsenal zu integrieren. Zu deren Weiterentwicklung werden der Marine beträchtliche Ressourcen zur Verfügung gestellt. Im 21. Jahrhundert, so die Planer der VBA-Marine, werden für die Austragung von Seekonflikten neue Räume erschlossen – unter Wasser, im Weltraum und im elektromagnetischen Raum –, was ein fein abgestimmtes Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme erfordert.16

Chinas Seestreitkräfte auf dem Sprung ins 21. Jahrhundert

Ende der achtziger Jahre hatte sich die VBA-Marine zur drittgrößten Kriegsmarine der Welt gemausert: Mehr als 2.000 Schiffe verteilten sich auf 3 Flottenkommandos:

  • die Nordseeflotte mit Sitz Qingdao (Shandong),
  • die Ostseeflotte mit Sitz Ningbo (Zhejiang)
  • und die Südseeflotte mit Sitz Zhanjiang (Guangdong).

Die Kontrolle lag beim Marinehauptquartier in Peking, das wiederum dem Generalstab der VBA unterstand.17

Ende der neunziger Jahre standen insgesamt 260.000 Männer und Frauen im Dienst der VBA-Marine, die nunmehr über mehr als 50 Zerstörer und Fregatten, rund 60 konventionelle und 6 atomgetriebene U-Boote sowie ungefähr 50 Landungsschiffe verfügte. Ergänzt wurde diese Streitmacht durch mehrere hundert Hilfs- und kleinere Patrouillenboote sowie eine Seeluftstreitmacht aus über 500 Starrflügelflugzeugen und rund 30 Hubschraubern.18

Die weitere Modernisierung dieser Streitmacht im Kontext der laufenden militärstrategischen Debatte zielt im Kern auf kurzfristige Verbesserungen bei der Seezielbekämpfung und Punktschlag-Kriegführung. Dementsprechend konzentriert sich das Interesse der chinesischen Seestreitkräfte auf Waffen, mit deren Hilfe potenzielle Gegner, die von Marineplattformen oder Stützpunkten im Ost- und Südchinesischen Meer aus operieren, abgewehrt werden können. Insbesondere geht es um Waffen, die sich aus sicherer Entfernung aktivieren lassen, wie Marschflugkörper zur Schiffsbekämpfung oder Langstrecken-Marschflugkörper zur Landzielbekämpfung.

China ist bemüht, diese Waffen und deren Trägermittel weitestgehend in eigener Regie zu entwickeln, stößt dabei aber auf eine Reihe ernster Probleme. Der Bau eines eigenen Flugzeugträgers als sichtbarster Ausdruck für Pekings ambitioniertes Flottenmodernisierungsprogramm kommt nur schleppend voran. Seit über 20 Jahren sitzen chinesische Ingenieure an entsprechenden Entwürfen. Geplant ist ein 48.000-Tonnen-Schiff, das 24 Kampfflugzeuge aufnehmen kann. Gebaut wird seit 2000 und 2005 soll Chinas erster Flugzeugträger voll einsatzfähig sein19, vorausgesetzt, dass das Land bis dahin über ausreichend trägerfähiges Fluggerät verfügt.1999 wurde das erste Schiff der neuen Luhai-Zerstörer-Klasse, die DD-167 Shenzhen, in Dienst gestellt. Hinsichtlich ihrer Bewaffnung unterscheidet sich die Shenzhen jedoch kaum von den Schiffen der älteren Luhu-Klasse. Zwar verfügt sie mit 16 C-802-Raketen formal über die doppelte Schiffsabwehrkapazität wie ihre älteren Schwestern20, allerdings ist die C-802 mit einer Geschwindigkeit von 0,9 Mach und einer Reichweite von 120 km den derzeit am weitesten fortgeschrittenen Anti-Schiff-Raketen der Welt, wie der US-amerikanischen Harpoon oder der russischen Moskit, klar unterlegen. Ähnliches trifft auf die Flugabwehrkapazität der Luhai-Klasse zu, die wie die Luhu-Klasse mit einer HQ-7-Rakete bestückt ist. Die Installierung einer effektiveren, weil senkrecht startenden neuen Flugabwehr-Rakete, der HQ-9, musste wegen technischer Probleme verschoben werden.21Ebenfalls eingeschränkt ist die Schiff- und Flugabwehrkapazität der modernsten chinesischen Fregatten vom Typ 057/Jiangwei-II-Klasse: 8 C-802-Raketen und eine HQ-7-Rakete. Die zusätzliche Installation einer HQ-61-Flugabwehr-Rakete kann nur bedingt als Fortschritt gelten. Zwar garantiert die HQ-61 mit einer Geschwindigkeit von Mach 3 und einer Reichweite von 12 km der VBA-Marine gewisse Hochseefähigkeit. Fehlende Möglichkeiten, Flugabwehr-Raketen senkrecht zu starten, machen den Typ 057 allerdings ebenso verwundbar wie seinen Vorgänger, den Typ 055/Jiangwei-Klasse. Erst mit dem Typ 059/Jiangwei-III-Klasse, dessen Bau ab 2005 geplant ist, soll dieses Manko behoben werden.22Noch heftigeres Kopfzerbrechen bereitet Chinas Marinestrategen die Modernisierung der U-Boot-Flotte. Nicht nur die Bewaffnung, sondern auch die Konstruktion der Boote gestaltet sich schwierig. Aufgrund technischer Probleme bei der Entwicklung der JL-2, Chinas neuer ballistischer Interkontinentalrakete, kommt die Konstruktion einer neuen Klasse strategischer Atom-U-Boote (Typ 094) nur sehr schleppend voran.23 Ebenso intensiv nachgedacht wird über die Bewaffnung für das neue atomgetriebene Jagd-U-Boot Typ 093. Vieles deutet darauf hin, dass es zum Zeitpunkt seiner Indienststellung um das Jahr 2003 lediglich mit einer Variante der C-801, dem Vorgängermodell der C-802, ausgerüstet sein wird.24 Sorgenkind Nr. 1 bleibt jedoch das Mitte der neunziger Jahre in Dienst gestellte Diesel-U-Boot Typ 039/Wuhan-C(Song)-Klasse. Wie an seinem Vorgänger, Typ 035/Ming-Klasse, wird an Typ 039 permanent herumgebastelt, verändert, nachgebessert25, trotz oder gerade wegen der Verwendung diverser ausländischer technologischer Komponenten.Im Bemühen, die bei der Modernisierung der Seekriegsflotte auftretenden technologischen Probleme möglichst schnell zu lösen, greift Peking zunehmend auf Komplett-Angebote ausländischer Rüstungsagenturen zurück. Die Nase vorn haben dabei russische Produzenten, die fortschrittlichste Technologien zu Tiefstpreisen anbieten. So wird Chinas erster Flugzeugträger höchstwahrscheinlich mit russischen Suchoj-Jagdflugzeugen bestückt. Und zwar nicht nur mit der Standard-Exportvariante Su-30MK, von der China bereits 40 Stück erworben hat und die es mit modernisierten Luft/Schiff-Raketen vom Typ Moskit ausrüsten möchte, sondern auch mit dem brandneuen, speziell für Schläge gegen Objekte über und unter Wasser optimierten Multifunktionsflieger Su-32-FN.26Die Probleme, die es mit der Luhai/Luhu-Klasse hat, scheint Peking durch den Ankauf russischer Zerstörer der Sowremenny-Klasse aus der Welt schaffen zu wollen. Insbesondere die 8 SS-N-22 Moskit-Schiffabwehr-Raketen, die zur Grundausstattung jedes Sowremenny-Zerstörers gehören, werden Chinas Hochseefähigkeit grundlegend verbessern. Mit einer Geschwindigkeit von Mach 3 und einer effektiven Reichweite von 250 km dürfte die SS-N-22 die effektivste Schiffabwehr-Rakete der Gegenwart sein. Zwei Sowremenny-Zerstörer hat China bereits gekauft und erhalten. Ebenso 48 SS-N-22. Über den Erwerb zweier weiterer Schiffe wird gegenwärtig verhandelt.27Deutliches Indiz für die Unzufriedenheit der chinesischen Seestreitkräfte mit den Booten der Wuhai/Song-Klasse ist die Entscheidung Pekings, vier russische Kilo-Boote zu kaufen: zwei Boote des Projekts 877, dessen Produktion inzwischen eingestellt wurde, sowie 2 Boote des Nachfolgeprojekts 636, das insbesondere für seine Lautlosigkeit geschätzt bzw. gefürchtet wird.28 Am liebsten würde China Projekt 877 in Lizenz nachbauen, begnügt sich aber gegenwärtig mit Verhandlungen über den Ankauf weiterer Boote.29

In dem Maße, wie China die bei der Modernisierung auftretenden technologischen Probleme durch den Ankauf komplexer ausländischer Rüstungsgüter löst, schiebt sich ein weiteres Problem in den Vordergrund, das bisher nur sehr ungenügend Beachtung gefunden hat, das Problem der Integration verschiedener Waffensysteme in ein Megasystem. Spätestens hier wird deutlich, wie gewaltig die Diskrepanz zwischen strategischer Absicht und technologischem Vermögen Pekings eigentlich ist.

Marlies Linke ist China-Wissenschaftlerin und arbeitet als freiberufliche China-Analystin und Übersetzerin

Anmerkungen

1) June Teufel Dreyer: State of the Field Report, Research on the Chinese Military, The National Bureau of Asian Research, 1997, http://www.accessasia.org/products/aareview/vol1No1/Article1.htm, p. 4.

2) Jiang Siyi: Guofang jianshe he jundui jianshe zhidao sixiang zhanlüexing zhuanbian (Der strategische Wandel der Leitgedanken zu Aufbau von Verteidigung und Armee), in Jiang Siyi u.a. (Hrsg.): Zhongguo renmin jiefangjun dashidian, xiace (Wörterbuch großer Ereignisse der Volksbefreiungsarmee, Band 2), Tianjin, Tianjin renmin chubanshe, 1992, zit. nach: Nan Li: The PLA´s Evolving Warfighting Doctrine, Strategy and Tactics, 1985-1995: A Chinese Perspective, in: China quarterly, June 1996, p. 446.

3) Nan Li: The PLA´s Evolving Warfighting Doctrine, Strategy and Tactics, 1985-1995: A Chinese Perspective, in: China quarterly, June 1996, p. 446.

4) June Teufel Dreyer: s. o., p. 6.

5) Nan Li: From Revolutionary Internationalism to Conservative Nationalism. The Chinese Military´s Discourse on National Security and Identity in the Post-Mao Era, Peaceworks, No. 39, US Institute of Peace, Washington, 2001, pp. 22-27.

6) Der Wechsel zur Doktrin des »lokalen Krieges« schlug sich unmittelbar u.a. in einer wesentlichen Reduzierung der Truppenstärke der VBA nieder. Marine und Luftstreitkräfte waren davon mit einer Kürzung um je ca. 25 % ihres Personalbestandes weniger betroffen waren als die Bodentruppen, die etwa 70 % der Kürzungen erbrachten. http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/overview.htm, 10.08.2001; Arthur S. Ding: The Streamlining of the PLA, Issues and Studies (November 1992), p. 90.

7) Ni Weidou/Nien Dak Sze: Energy Supply and Development in China, in: McElroy, Michael B./Nielsen, Chris P./Lydon, Peter: Energizing China. Reconciling Environmental Protection and Economic Growth, HUP, 1998, p. 85.

8) Chinas Bevölkerung soll bis zum Jahr 2030 auf ca. 1,6 Mrd. Menschen anwachsen, die Nachfrage nach Getreide steigt damit um 47 % auf 720 Mio t. International Herald Tribune, June 09/10, 2001.

9) JZM rief 1995 dazu auf, die Marine sollte die Verantwortung für das Vorantreiben der Wiedervereinigung des Vaterlandes übernehmen. Kondrapalli, Srikanth: China´s Naval Strategy, IDSA, p. 4.

10) Siehe dazu Valencia, Mark J.: China and the South China Sea, Adelphi Paper 298, London, IISS, October 1995.

11) Xiao Jun: Zhongdian yu junheng: Lin Zhiye shaojiang dui Zhongguo haijun jianshe de tantao (Balance und Priorität: Konteradmiral Lin Zhiyes Studie zur grundlegenden Politik des Aufbaus der Marine), in: Jianchuan Zhishi (Marine und Handelsschiffe) Nr. 11, 1989 zit. nach: Kondrapalli, Srikanth: China´s Naval Strategy, in: Strategic Analysis 3/2000, vol XXIII, no. 12, p. 5, aus: http://www.idsa-india.org/an-mar00-3.htm

12) Singh, Swaran: Continuity and Change in China´s Maritime Strategy, in: Strategic Analysis 12/1999, vol. XXIII, no. 9, p. 5, http://wwww.idsa-india.org/an-dec9-6.htm.

13) Kondrapalli, Srikanth: China´s Naval Strategy, in: Strategic Analysis 3/2000, vol. XXIII, no. 12, p. 2, aus: http://www.idsa-india.org/an-mar00-3.htm.

14) So Jiang Zemin während der Marine-Manöver im Herbst 1995. Liaowang, no. 45, 06.11.1995, S. 6/7.

15) http://www.idsa-india.org/an-man00-3.htm p. 3, 09.08.2001.

16) Siehe Ausführungen des Direktors der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Marine-Forschungsinstituts Peking, Marinekapitän Shen Zhongchang, und seiner Mitarbeiter zu Entwicklungstrends maritimer Kriegsführung im 21. Jahrhundert in: http://www.fas.org/nuke/guide/china/doktrine/chinview/chinapt4.htm , p.8-19, 10.08.2001.

17) ebenda.

18) ebenda.

19) http://www.taiwansecurity.org/AFP/AFP-01122000-Aircraft-Carrier.htm

20) http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/plan/luhai.htm

21) ebenda.

22) http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/plan/jiangwei.htm.

23) http://www.fas.org/nuke/guide/china/slbm/type_94.htm

24) http://www.fas.org/nuke/guide/china/slbm/type_93.htm

25) http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/plan/song.htm

26) Nesawisimaja Gaseta. Moskwa 15.3.2000.

27) http://www.taiwansecurity.org/News/WT-071200.htm.

28) ITAR-TASS. Moskwa 16.10.1997.

29) http://www.fas.org/man/dod-101/sys/ship/row/plan/kilo.htm.

Peter Linke ist Japan-Wissenschaftler und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Manfred Müller

US-Streitkräftereform und Infowar

US-Streitkräftereform und Infowar

Bushs Neudefinition des Krieges

von Dirk Eckert

Die militärische Dominanz ergänzen durch die Unverwundbarkeit des eigenen Territoriums, deshalb mehr Mittel für das Militär. Das gehörte zur Wahlkampfrhetorik des George W. Bush. Ein halbes Jahr später ist selbst manch verbündeter Politiker erschrocken darüber, wie Bush als Präsident ohne Rücksicht auf internationale Verträge, ohne Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen anderer Länder – auch der NATO-Verbündeten – eine Politik der Hochrüstung forciert. Im Anknüpfen an Reagans Pläne der Weltraummilitarisierung, den Plänen für eine National Missile Defense, NMD, wird das besonders deutlich. Doch während NMD in die Schlagzeilen kommt, bleibt ein anderer Bereich unterbelichtet: die Streitkräftereform, die die US-amerikanischen Truppen für den Informationskrieg fit machen soll. Georg W. Bush kann auch hier, wie bei NMD, auf Planungen der Clinton-Administration zurückgreifen.
Bei seinem Besuch auf dem Marinefliegerhorst Norfolk im Februar kündigte George W. Bush eine „umfassende Überprüfung des amerikanischen Militärs, unserer Strategie, der Struktur unserer Streitkräfte und ihrer Haushaltsansprüche“ an.1 Besondere Bedeutung maß der US-amerikanische Präsident dabei den technologischen Veränderungen zu: „Wir sind Zeugen einer Revolution in der Kriegstechnologie, in der Mächte zunehmend nicht mehr über ihre Größe, sondern ihre Mobilität und Schnelligkeit definiert werden. Immer häufiger entstehen Vorteile durch Informationen wie die dreidimensionalen Bilder eines simulierten Kampfes, die ich gerade gesehen habe.“ Und weiter: „Sicherheit gewinnt man durch List und Stärke, die über den langgestreckten Bogen präzisionsgesteuerter Waffen projiziert wird. Die beste Art und Weise, den Frieden zu wahren, ist, den Krieg zu unseren Bedingungen neu zu definieren.“2

Damit spielte Bush auf das an, was als Informationskrieg seit einigen Jahren durch die Planungspapiere des US-Militärs wie durch die Presse spukt.3 Inzwischen hat das Pentagon einige Strategiepapiere und Handbücher herausgebracht, in denen die neue Form der amerikanischen Kriegführung skizziert wird. Zusätzlich wurden diverse Forschungseinrichtungen gegründet und einzelne Truppenteile wurden zu »Cyber Warriors« umgerüstet, die auf dem digitalen Schlachtfeld4 der Zukunft siegreich sein sollen.

Die Zauberworte des Krieges der Zukunft lauten Informationskriegführung und Informationsoperationen. „Wenn wir eine Situation herbeiführen können, in der der Feind sich widersprechende Befehle erteilt, bis seine Truppen völlig verwirrt sind, und wir dann nur noch auf das Schlachtfeld gehen müssen und aufräumen, dann ist das eine effektive Informationsoperation“, so Michael L. Warsocki vom U.S. Army Land Information Warfare Center.5

Joseph S. Nye und William A. Owens schreiben in der US-amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs über die Bedeutung dieser Strategie6: Eine der Fähigkeiten der Vereinigten Staaten, die sie vor manch anderen Staaten auszeichnet sei die Fähigkeit, Informationen zu sammeln, zu verarbeiten, auf ihrer Grundlage zu handeln und sie weiter zu verbreiten. Dieser Informationsvorteil könne helfen, gegen traditionelle militärische Bedrohungen eine Abschreckung zu relativ niedrigen Kosten aufzubauen und die Führung in Allianzen oder ad-hoc-Koalitionen zu sichern. Nye/Owens weiter: „So wie früher die nukleare Dominanz der Schlüssel zur Führung in Koalitionen war, so wird Informationsdominanz der Schlüssel im Informationszeitalter sein.“7

Dabei handelt es sich bei Information Warfare weder um eine „abstrakte Neuerfindung“, noch um eine „neue Bezeichnung bekannter militärischer Operationsformen“.8 Vielmehr ist Information Warfare die schrittweise Weiterentwicklung und Neuordnung militärischer Operationsformen, die auf der Adaption neuer technischer Mittel beruht, wie Bernhardt/Ruhmann schreiben.9 „Auf strategischer Ebene spielt Information Warfare bei den Überlegungen eine Rolle, dass sich die geopolitischen Interessen der USA nicht mehr allein mit ihrem atomaren Drohpotenzial durchsetzen lassen und herkömmliche Rüstungsprogramme und Allianzen nicht länger die gewünschten Ergebnisse garantieren.“10

Planung und Durchführung

Mit der »Joint Vision 2010« legten die Vereinten Stabschefs der US-amerikanischen Streitkräfte 1996 das zentrale Planungspapier für die Kriegführung im 21. Jahrhundert vor. Mit bekannten Bedrohungsszenarien, in denen Cyberterroristen die US-amerikanische Infrastruktur lahm legen oder die Kurse an der Wallstreet manipulieren, hat diese »Joint Vision 2010«, die inzwischen als »Joint Vision 2020« neu aufgelegt wurde, wenig zu tun. Vielmehr geht es in dieser Vision darum darzustellen, wie die US-Streitkräfte in der Zukunft kämpfen werden. Die Vorlage wurde in mehreren Doktrinen und Handbüchern konkretisiert, damit verfügt das amerikanische Militär inzwischen über einen umfangreichen Schriftsatz zu Themen wie Psychologischer Kriegführung, Elektronischer Kriegführung oder Informationsoperationen.

Die neue Art der Kriegführung wird in der »Joint Vision 2010« aus der Beschaffenheit des strategischen Umfeldes abgeleitet. Von der Friedensmission bis zum Kampfeinsatz – allein, mit Bündnispartnern oder in ad-hoc-Koalitionen –, in allen Einsätzen sollen die US-Truppen siegreich sein. Konsequent wird in der Planung getrennt zwischen offensiver Informationskriegführung und ihrer defensiven Variante. Letztere wird nicht etwa als Verteidigung vor eventuell auftretenden Bedrohungen bestimmt, sondern in Abhängigkeit von offensiver Informationskriegführung definiert: Sie ist notwendig, um sich bei offensiven Informationsoperationen vor Gegenangriffen zu schützen.

Spätestens mit dem Golfkrieg 1991 wurden die Veränderungen in der Art der Kriegführung augenfällig. „Irak hat den Krieg verloren, bevor er überhaupt begann. Es war ein Krieg von Aufklärung, »Electronic Warfare«, »Command and Control« und Spionageabwehr. Irakische Truppen wurden geblendet und taub gemacht (…) Moderner Krieg kann durch Informatika gewonnen werden“, hieß es 1998 in der »Joint Doctrine for Information Warfare«, eine der Doktrinen, mit der die »Joint Vision 2010« auf operativer Ebene umgesetzt wird.11

Der Kosovokrieg schließlich hat es der NATO ermöglicht, das ganze Arsenal von Informationsoperations-Waffen einzusetzen. Das ist jedenfalls die Ansicht von William Church, Direktor des Centre for Infrastructural Warfare Studies. Besondere Bedeutung hat für Church, dass im Kosovo Waffen auf die Informationsinfrastruktur gerichtet wurden, „um den Entscheidungsprozess von Regierung und Zivilbevölkerung zu beeinflussen.“12

Als Beispiele nennt er den Einsatz von Graphitbomben gegen Elektrizitätswerke, um die jugoslawische Regierung unter Druck zu setzen, sowie das Hacken von geheimen Systemen der Luftabwehr, um deren Leistungsfähigkeit zu mindern.13 Beide Seiten hätten zudem eine umfangreiche psychologische Kampagne geführt. So habe etwa die NATO Flugblätter verteilt und die jugoslawische Bevölkerung vor einer angeblichen Offensive am Boden gewarnt. Hinzu käme das Hacken von Webseiten mit minderer strategischer Bedeutung. Alles in allem habe der NATO-Krieg gegen Jugoslawien gezeigt, dass Informationsoperationen effektiv seien und daher ausgedehnt werden könnten.Churchs Prognose: „Nicht-NATO-Staaten werden defensive und offensive Fähigkeit aufbauen, und die NATO wird die Entwicklung vorantreiben, um auf diesem Gebiet führend zu bleiben.“

Lässt sich Informationskriegführung mit dem Völkerrecht vereinbaren? Um diese Frage zu klären ließ das Pentagon eine Studie erstellen, die im April 1999, während des Krieges gegen Jugoslawien, unter dem Titel »An Assessment of International Legal Issues In Information Operations« erschien und bereits ein halbes Jahr später eine Neuauflage erfuhr.14 1998 hatten die Vereinigten Staaten einen Vorstoß Russlands bei den Vereinten Nationen abgeblockt, ein Abkommen zum Verbot von Entwicklung, Produktion und Gebrauch besonders gefährlicher Informationswaffen auszuarbeiten. Doch schon die Definition dieser Waffen erschien den USA unmöglich. Gleichzeitig gaben sie damals vor es gebe Dringenderes, etwa den Schutz von Informationssystemen vor Kriminellen und Terroristen.15

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die bisherigen Prinzipien des Kriegsrechtes auch auf »Information Operations« anwendbar sind. Schwieriger sei es mit »Information Operations« bzw. Computer-Netzwerk-Attacken in Friedenszeiten. „Es ist alles andere als klar, inwieweit die Weltgemeinschaft Computer-Netzwerk-Attacken als »bewaffnete Angriffe« oder »Einsatz von Gewalt« betrachten, und wie die Doktrinen der Selbstverteidigung und Gegenmaßnahmen auf Computer-Netzwerk-Attacken angewandt werden.“16 Die Studie erwartet, dass durch Computer-Netzwerk-Attacken angegriffene Staaten sich verteidigen dürfen. Unter Umständendürften auch traditionelle militärische Mittel als Selbstverteidigung gegen Computer-Netzwerk-Attacken als gerechtfertigt erachtet werden.17 Schließlich macht die Studie drauf aufmerksam, dass die Handlungen von Staaten die Entwicklungen eines neuen Rechts beeinflussen. Insofern müssten sich die Regierenden in Washington auch der diesbezüglichen Implikationen ihrer eigenen Handlungen bewusst sein.

Bush im Cyberspace

Drei Tendenzen der Politik der Bush-Regierung lassen sich bereits jetzt ausmachen: Erstens wird die Streitkräftereform vorangetrieben, um die US-amerikanischen Truppen der Vision der Stabschefs näher zu bringen. Zweitens rückt im Zuge des geplanten Aufbaus des Raketenabwehrsystems der Weltraum ins Zentrum strategischer Planung. Hier schließt sich der Kreis zur Informationskriegführung: Die USA sind nicht zuletzt führend auf diesem Gebiet wegen ihrer Satelliten, die ständig neue Überwachungsdaten liefern – und das weltweit. Drittens wird der Schutz der Infrastruktur in Zusammenarbeit mit der Industrie organisiert und ist nicht etwa alleinige Domäne des Militärs.

Bush skizziert die Richtung wie folgt: „Am Boden werden unsere Panzertruppen leichter und unsere leichte Infanterie tödlicher sein. Alle werden einfacher zu stationieren und zu unterhalten sein. In der Luft werden wir punktgenau angreifen, sowohl mit Flugzeugen als auch unbemannten Systemen. Auf dem Meer werden wir Informationen und Waffen neuartig miteinander verbinden und so unsere Fähigkeit, Macht über Land zu projizieren, maximieren. Im Weltall werden wir das für den reibungslosen Ablauf unseres Handels und die Verteidigung unserer Interessen wesentliche Satellitennetzwerk schützen.“18

„Dominanz (…) von Stammeskriegen bis zum Informationskrieg, von Raketen bis zu Biowaffen“, ist das Ziel von Andrew Marshall, Chef im Planungsstab des Pentagon.19 Marshall hat seine Arbeit bereits unter Clinton begonnen. Jetzt beginnt sie Früchte zu tragen: Eine „neue Strategie der Beherrschung eines jeden Konflikts mit begrenzten, aber flexibel einsetzbaren Mitteln fortgeschrittener Technologie“, wird das Resultat sein, so die Ansicht von Lothar Rühl, ehemaliger Staatsekretär im bundesdeutschen Verteidigungsministerium.20

Die Informationsdominanz erlaubt dem Militär Einsätze, die Lothar Rühl wie folgt beschreibt: „Kleinere Kampfgruppen mit leichterer Ausrüstung, aber optimierten Präzisionswaffen, hoher Zielwirkung und einer Elektronikunterstützung, die den Waffeneinsatz nicht nur punktzielgenau, sondern auch zeitnah zur Zielaufklärung und seine Schadenswirkung schnell überprüfbar macht, sollen den amerikanischen Streitkräften die lang gesuchte, aber nie erreichte weltweite Beweglichkeit und Einsatzflexibilität mit einem breiten Fächer situationsgerechter operativ-taktischer Optionen geben.“

Als Donald H. Rumsfeld am 28. Dezember 2000 der Öffentlichkeit als zukünftiger Verteidigungsminister vorgestellt wurde, nannte er die Informationskriegführung eine der Bedrohungen der Zukunft.21 Auf der Münchner Wehrkundetagung, die sich jetzt Sicherheitskonferenz nennt, erklärte er als neuer US-Verteidigungsminister Anfang des Jahres: „Heute sind wir gegenüber der Bedrohung eines massiven Atomkriegs sicherer als zu jedem anderen Zeitpunkt seit dem Anbruch des Atomzeitalters – aber wir sind heute verwundbarer durch die Kofferbombe, den Cyberterroristen, die rohe und zufällige Gewalt eines verbrecherischen Regimes oder eines mit Raketen und Massenvernichtungswaffen ausgerüsteten Schurkenstaats. Diese sogenannte Welt nach dem Kalten Krieg ist eine integriertere Welt. Folglich sind Waffen und Technologien, die einst nur in wenigen Ländern vorhanden waren, jetzt überall zugänglich.“22

Konkrete Bedrohungen kann aber bisher niemand nachweisen, deshalb müssen alte und neue Feindbilder herhalten, von Fidel Castro bis Osama bin Laden. So erklärte Tom Wilson, Chef der »Defense Intelligence Agency«, bei einer öffentlichen Anhörung im Februar 2001 vor dem »Senate Intelligence Committee«, dass die Gefahr bestünde, dass Kuba Informationskriegführung oder eine Computer-Netzwerk-Attacke gegen die USA durchführe. Konkretes konnte er auch auf Nachfrage nicht vorlegen, versicherte dem fragenden Senator aber: „Kuba ist… keine starke konventionelle militärische Bedrohung. Aber seine Fähigkeit zu trickreichen asymmetrischen Taktiken gegen unsere militärische Übermacht könnte bedeutsam sein. Sie haben einen starken Geheimdienstapparat, einen guten Sicherheitsdienst und das Potenzial, unser Militär durch asymmetrische Taktiken zu stören.“23

Aufsehen sorgte dieses Jahr eine Ankündigung von James Adams, Berater des Geheimdienstes NSA, gegenüber dem Handelsblatt, nachdem die USA den Aufbau eines Abwehrsystems planten, um ihre Computernetzwerke, seien sie staatlich oder privat, vor Angriffen zu schützen. „Das Projekt ist in seiner sicherheitsrelevanten und finanziellen Dimension mit dem NMD zu vergleichen“, so Adams unter Anspielung auf die geplante Raketenabwehr, National Missile Defense (NMD).24 Und Adams weiter: „Wenn ein Staat unsere Wasserversorgung mit einer Cyber-Attacke unterbricht, müssen wir im Stande sein, seine Stromversorgung oder sein Bankensystem lahm zulegen.“

Die geschätzten Kosten von 50 Mrd. Dollar, von denen das Handelsblatt unter Berufung auf US-amerikanische Regierungskreise berichtet, sind bisher allerdings offiziell nicht bestätigt. Zudem gibt es in Fachkreisen einige Bedenken gegen die Machbarkeit einer virtuellen Abwehr.25 Nicht zu vergessen: Im »National Plan for Information Systems Protection« aus dem Jahre 2000 hatte die Clinton-Regierung betont: „Die Bundesregierung kann die kritische Infrastruktur der USA nicht alleine schützen.“26 „Die Regierung schützt sich nur noch selbst“, kommentierte Ralf Bendrath treffend.27 So würde ein virtuelles NMD dem Militär einen Kompetenzzuwachs bringen, da es zur Zeit nur mit dem Schutz der eigenen, militärischen Infrastruktur beschäftigt ist.

Dafür, dass die Bush-Administration weiter auf eine Zusammenarbeit von Staat und Industrie setzt, spricht eine Stellungnahme des Weißen Hauses, nach der – gemeinsam mit der Industrie – eine neue Version des Nationalen Plans für Sicherheit im Cyberspace und zum Schutz kritischer Infrastruktur erarbeitet werden soll.28 Auch eine Äußerung von Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice weist in diese Richtung.29 Da nahezu jeder Wirtschaftszweig von funktionierenden Computern abhängig sei, sei der Schutz der kritischen Infrastruktur ein Schlüsselthema für den Nationalen Sicherheitsrat, versicherte sie vor dem Internet Security Policy Forum II in Washington Ende März. Sie setzt weiterhin auf die Zusammenarbeit zwischen Staat und Industrie, die sie als „ohne Beispiel in unserer Geschichte“ bezeichnete.

Weitere Informationen zum Thema im Internet:

Special der Online-Zeitung Telepolis: http://www.telepolis.de/deutsch/special/info/

Deutsche Mailingsliste Infowar: http://userpage.fu-berlin.de/~bendrath/liste.html

Information Warfare-Seite der Federation of American Scientists (FAS), mit vielen Links: www.fas.org/irp/wwwinfo.html

Anmerkungen

1) George W. Bush: NATO, Solange wir zusammenstehen, wird die Macht immer auf der Seite von Frieden und Freiheit sein. Rede von Präsident Bush am 13. Februar 2001 im Marinefliegerhorst Norfolk, USINFO-DE.

2) George W. Bush: NATO, a. a. O.

3) Vgl. bspw. Ralf Bendrath: Postmoderne Kriegsdiskurse. Die Informationsrevolution und ihre Rezeption im strategischen Denken der USA, in: telepolis, 13.12.1999, http://www.heise.de/tp/deutsch/special/info/6562/1.html

4) Vgl. Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann: Der digitale Feldherrnhügel. Military Systems: Informationstechnik für Führung und Kontrolle, in: Wissenschaft und Frieden, Dossier 24, 1997.

5) In: Thomas E. Copeland (Hrsg.), The Information Revolution And National Security, August 2000, http://carlisle-www.army.mil/usassi/ssipubs/pubs2000/inforev/inforev.htm

6) Joseph E. Nye/ William A. Owens: America’s Information Edge, in: Foreign Affairs, März/April 1996, S. 20-36.

7) Nye/Owens: America’s Information Edge, a.a.O., hier S. 20.

8) Vgl. Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann: Vom Cyberwar zur digitalen Entspannungspolitik, in: WechselWirkung, Mai/Juni 2001, S. 36-43, hier S. 39.

9) Vgl. Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann: Vom Cyberwar zur digitalen Entspannungspolitik, a.a.O. , hier S. 39.

10) Ute Bernhardt/Ingo Ruhmann: Vom Cyberwar zur digitalen Entspannungspolitik, a.a.O., S. 39.

11) Lieutenant General S. Bogdanov, Chief of the General Staff Center for Operational and Strategic Studies, Oktober 1991, in: Joint Doctrine for Information Operations, Joint Pub 3-13, 9.10.1998, http://www.dtic.mil/doctrine/jel/c_pubs2.htm, S. II-15.

12) Vgl. William Church: Kosovo and the Future of Information Operations, http://www.infowar.com/info_ops/treatystudyio.shtml

13) Church beruft sich dabei auf ranghöhere Air Force-Beamte.

14) Department of Defense (Office of General Counsel), An Assessment of International Legal Issues In Information Operations, April 1999, http://www.infowar.com/info_ops/info_ops_061599a_j.shtml

15) Vgl. Department of Defense, An Assessment of International Legal Issues In Information Operations, a.a.O.

16) Vgl. Department of Defense, An Assessment of International Legal Issues In Information Operations, a.a.O.

17) Die USA berufen sich nach Art. 51 UN-Charta auf das Recht auf Selbstverteidigung „im Falle eines bewaffneten Angriffs“, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“ (UN-Charta Art.51). Als Beispiele aus jüngster Zeit, bei denen die USA das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nahmen, nennt die Studie: Die Bombardierung von Libyen 1986, die Angriffe auf Irak 1993 (nachdem Attentatspläne auf den früheren Präsidenten Bush bekannt geworden waren), die Angriffe auf eine sudanesische Fabrik und ein Trainingslager in Afghanistan 1998.

18) George W. Bush: NATO, a.a.O.

19) So die Charakterisierung von Michael Stürmer in der Welt, 28.3.2001.

20) Lothar Rühl: Zurück zu interkontinentalen Reichweiten? Das Pentagon öffnet die Perspektiven einer neuen Globalstrategie, in: FAZ, 3.5.2001. Vgl. auch Bernhardt, Ute/Ruhmann, Ingo, Der digitale Feldherrnhügel. Military Systems: Informationstechnik für Führung und Kontrolle, in: Wissenschaft und Frieden, Dossier 24, 1997.

21) The 43rd President; Comments by Bush and Rumsfeld on Selection for the Secretary of Defense, in: New York Times, 29.12.2000.

22) Donald H. Rumsfeld: Raketenabwehrsystem soll Bevölkerung und Streitkräfte vor begrenztem Angriff mit ballistischen Raketen schützen, Rede des US-Verteidigungsministers bei der Münchner Konferenz zur Sicherheitspolitik vom 3. Februar 2001, in: USINFO-DE.

23) Declan McCullagh: Feds Say Fidel Is Hacker Threat, in: Wired News, 9.2.2001, http://www.wired.com/news/politics/0,1283,41700,00.html

24) Burkhard Ewert/Peter Littger, USA bauen Internet-Schutzschild auf, in: Handelsblatt, 4.3.2001.

25) Vgl. Ralf Bendrath: Homeland Defense, virtuelle Raketenabwehr – und das schnöde Ende einer Medienhysterie. Die neue US-Regierung auf der Suche nach einer Cyber-Sicherheitspolitik – und die Medien auf der Suche nach einer Story, in: telepolis 28.3.2001, http://www.telepolis.de/deutsch/special/info/7234/1.html. Dort findet sich eine sehr detaillierte Darstellung des derzeitigen Standes der Cyber-Politik der Bush-Administration.

26) Zit. n. Ralf Bendrath: Elektronisches Pearl Harbor oder Cyberkriminalität? Die Reformulierung der Sicherheitspolitik im Zeitalter globaler Datennetze, in: S+F. Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, 2/2000, Manuskript, http://userpage.fu-berlin.de/~bendrath/SuF_2000.rtf

27) Bendrath: Elektronisches Pearl Harbor oder Cyberkriminalität?, a.a.O.

28) Vgl. White House Statement on the Review of Critical Infrastructure Protection and Cyber Security, 9.2.2001.

29) Vgl. Kevin Poulsen: Hack attacks called the new Cold War, in: The Register, 23.3.2001, http://www.theregister.co.uk/content/8/17820.html

Dirk Eckert studiert Politikwissenschaft und ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI).

Die russische Militärreform

Die russische Militärreform

von Karl Harms

Die Notwendigkeit einer Reformierung des gigantischen russischen Militärapparats wurde bereits zu tiefsten Sowjetzeiten erkannt, seit dem Beginn der Perestroika heftig diskutiert, dann aber auf Grund der chaotischen Zustände im Lande und eines sich rasch verändernden politischen Umfelds – mehr von der Not getrieben, als von einem klaren Konzept – mal zögerlich, mal sprunghaft in die Tat umgesetzt. Der Hauptwiderspruch aller Reformbemühungen besteht von Anfang an in der Tatsache, dass sich Russland keine Riesenarmee mehr leisten will, dem Staat aber die Mittel für eine ausgewogene und planvolle Reform fehlen.

Bei einer näheren Betrachtung des bisherigen Verlaufs der russischen Militärreform lassen sich in etwa folgende Etappen feststellen:

  • Die erste Etappe begann ungefähr 1987 (Beginn der öffentlichen Diskussion über eine Militärreform). Die Anfänge der Reform erlitten schon bald schwere Rückschläge durch die Auflösung des Warschauer Vertrages, den unvorbereiteten Rückzug der Sowjetarmee aus den osteuropäischen Staaten, den Zerfall der Sowjetunion u.a.m. Diese Etappe kann als die Etappe des chaotischen Niedergangs der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie bezeichnet werden.
  • Die zweite Etappe begann 1997, dem Jahr, in dem der neu gebildete Verteidigungsrat schmerzhafte Rahmenbedingungen für die Reform festlegte, die nicht von Wunschträumen, sondern von dem tatsächlichen Zustand der Wirtschaft und der Staatsfinanzen ausgingen. Diese Etappe kann man als den Versuch werten, Ordnung in den chaotischen Niedergang zu bringen, wenige machbare Reformschwerpunkte zu bestimmen und auch durchzusetzen.
  • Eine dritte Etappe könnte durch die im Januar 2000 veröffentlichte neue »Konzeption der nationalen Sicherheit der russischen Föderation« begonnen haben. Unter günstigen Voraussetzungen, d.h. klares Konzept, straffe Führung, minimale Erholung der Wirtschaft und der Staatsfinanzen, wäre das die Etappe der Stabilisierung. Nach vorsichtigen Schätzungen könnte diese Etappe vier bis sechs Jahre dauern bevor ein behutsames, vor allem qualitatives Anwachsen des russischen Militärpotenzials beginnen würde und die Streitkräfte mit einem klaren Auftrag sowie einer gefestigten Struktur den ihnen vom Staat zugewiesenen Platz in der Gesellschaft einnehmen könnten.

Es würde über den Rahmen eines Artikels weit hinausgehen, wollte man den bisherigen Verlauf der russischen Militärreform mit allen Widrigkeiten und Konflikten objektiver und subjektiver Art beschreiben wollen. Deshalb werden im weiteren nur die entscheidenden, wirklich tragenden Ergebnisse der bisherigen Reformbemühungen dargelegt.

Eine veränderte Grundstruktur der Streitkräfte

Die Sowjetarmee bestand aus folgenden Teilstreitkräften: Landstreitkräfte, Seestreitkräfte, Luftstreitkräfte, Truppen der Luftverteidigung des Landes und Raketentruppen strategischer Bestimmung.1 Darüber hinaus unterstanden dem Verteidigungsminister direkt die Luftlandetruppen und die Kosmischen Streitkräfte, die nicht als Teilstreitkräfte bezeichnet wurden.

Im Rahmen der unabdingbaren quantitativen Kürzungen in allen Teilstreitkräften ergab sich die Notwendigkeit einer Vereinfachung der Führungsstrukturen, der Überwindung jeglicher strukturellen Doppelgleisigkeit und einer Straffung bzw. Streichung von Organen und Truppenteilen der Sicherstellung. Das führte zu folgenden Veränderungen:

  • Den Raketentruppen Strategischer Bestimmung wurden die bis dahin selbstständigen Kosmischen Streitkräfte unterstellt. Die Waffengattung »Raketenabwehr« wurde aus der Teilstreitkraft Truppen der Luftverteidigung des Landes herausgelöst und ebenfalls den Raketentruppen strategischer Bestimmung unterstellt.
  • Die Truppen der Luftverteidigung (LV) des Landes und die Luftstreitkräfte (LSK) wurden zu einer Teilstreitkraft unter der Bezeichnung »Luftstreitkräfte« zusammengefasst. Abgeschlossen ist die Bildung von Luftarmeen des Oberkommandos, und zwar einer Luftarmee strategischer Bestimmung und einer Luftarmee der Transportfliegerkräfte (jeweils ausgestattet mit Flugzeugen großer Reichweite). Neu gegliedert wurden die Kräfte und Mittel der LV. Sie umfassen nunmehr einen Bezirk der LSK/LV in der westlichen strategischen Richtung, vier Armeen der LSK/LV und ein selbstständiges Korps der LSK/LV im Raum Ural.
  • Der Hauptstab der Landstreitkräfte wurde aufgelöst. Es verblieben lediglich zwei Hauptverwaltungen, die im Verteidigungsministerium eingerichtet wurden. Ansonsten werden die Verbände der Landstreitkräfte direkt von den Chefs der jeweiligen Militärbezirke (MB) geführt.
  • In allen Teilstreitkräften wurde die Masse der nicht voll aufgefüllten Verbände und Truppenteile aufgelöst. Tausende hochqualifizierter Offiziere wurden ohne soziale Absicherung entlassen.
  • Die große Zahl militärischer Lehranstalten (16 Militärakademien, 2 Universitäten, einige Dutzend Offiziershochschulen), wissenschaftliche Forschungsinstitute (jede Teilstreitkraft hatte mindestens eins) und Erprobungszentren (Erprobung neuer Waffensysteme für die Truppenverwendung) wird reduziert und neu gegliedert.
  • Die dem Verteidigungsministerium direkt unterstehenden Bautruppen sowie eine Reihe von Einheiten und Einrichtungen der Rückwärtigen Dienste wurden aufgelöst.

1998 wandte sich der Verteidigungsminister (früher Chef der Strategischen Raketentruppen) an den russischen Präsidenten mit dem Vorschlag, auf der Basis der Strategischen Raketentruppen, die Teilstreitkraft Strategische Abschreckungskräfte (»Sily Strategitscheskogo Sdershiwanija« SSS) zu schaffen. Dazu sollten alle strategischen Kernwaffenträger aus dem Bestand der Luftstreitkräfte und der Seestreitkräfte den Raketentruppen strategischer Bestimmung operativ unterstellt werden; operativ heißt im Sinne der Einsatzplanung und Einsatzführung. Dieser Vorschlag wurde lange diskutiert und fand viele kritische Gegenstimmen vor allem aus den Hauptstäben der Luft- und Seestreitkräfte. Eine Entscheidung wurde vertagt.

Eine neue territoriale Gliederung

Auf dem Territorium der Russischen Föderation (RF) existierten bis vor einiger Zeit acht Militärbezirke und das Sondergebiet Kaliningrad. Sie wurden z.T. überlagert von dem Moskauer Luftverteidigungsbezirk, von sieben Bezirken der Truppen des Ministeriums des Innern, von sechs Bezirken der Grenztruppen und neun Regionalzentren des Ministeriums für Katastrophenschutz. Innerhalb der Grenzen einiger Militärbezirke befinden sich außerdem die Stationierungsräume der Flotten, und zwar der Baltischen Flotte, der Schwarzmeerflotte, der Nordmeerflotte, der Pazifikflotte und der Kaspischen Flotille.

Die Grundidee der neuen territorialen Gliederung der Streitkräfte ist aus den nachstehend genannten Maßnahmen erkennbar, die ab Juli 1998 in Angriff genommen wurden:

  • Die Anzahl der Militärbezirke wurde von acht auf sechs verringert. Als selbstständiges Gebilde bleibt das Kaliningrader Sondergebiet (siehe Abb. 1).
  • Die Grenzziehung der Militärbezirke und notwendige strukturelle Veränderungen wurden den entscheidenden strategischen Richtungen angepasst
    (siehe Abb. 2).
  • Die Führungsstäbe der Militärbezirke erhielten den Status operativ-strategischer Führungsstäbe. Alle militärischen oder paramilitärischen Truppenkörper in den Grenzen eines Militärbezirks sollen nunmehr der Kommandogewalt des Chefs des Militärbezirks unterstehen, und das unabhängig von ihrer strukturellen Zugehörigkeit.
  • Um die Spezifik verschiedener Teilstreitkräfte (z.B. Luftstreitkräfte) oder Unterstellungsverhältnisse (z.B. Truppen des Ministeriums des Innern) berücksichtigen zu können wurden drei Formen der Unterstellung unter die Befehlsgewalt des Chefs des MB festgelegt: die direkte Unterstellung, die operative Unterstellung und die Unterstellung in spezifischen Fragen.

Das Wehrersatzwesen

Eine der ersten – und in der damals noch sowjetischen Öffentlichkeit heiß diskutierten – Fragen einer künftigen Militärreform war das Problem der Auffüllung der Streitkräfte.

Die vorherrschende Meinung bestand darin, die Wehrpflicht abzuschaffen und zu einer Freiwilligen- bzw. Berufsarmee überzugehen. Man versprach sich angesichts einer immer anspruchsvolleren Kampftechnik eine höhere Qualifikation der Soldaten, eine verbesserte soziale Absicherung und vor allem auch eine neue Qualität der Disziplin und Ordnung. Auf Grund der z.T. katastrophalen Zustände in der Armee und der vielen gefallenen Wehrpflichtigen im Afghanistankrieg schrie die Öffentlichkeit förmlich nach radikalen Veränderungen. Heute, fast dreizehn Jahre nach Beginn der Militärreform, ist immer noch alles beim Alten. Die Kriminalitätsrate in der Armee ist ungewöhnlich hoch, die massenhafte Drangsalierung jüngerer Soldaten durch die schon länger dienenden ist erschrekkend, bei der Auswahl der Unteroffiziere herrscht das Prinzip der »negativen Auswahl« (Jugendliche aus ärmlichen Verhältnissen, die weniger Gebildeten, ohne Beruf usw.). Hauptgrund für die Stagnation auf diesem Gebiet auch hier – die fehlenden Mittel. Eine Berufs- oder Freiwilligenarmee ist teurer als eine Wehrpflichtarmee. Die einzige positive Veränderung der letzten Zeit besteht darin, dass auf Grund der erheblichen zahlenmäßigen Reduzierung der Streitkräfte die Anzahl der Wehrpflichtigen über dem Bedarf liegt. Die Armee ist dadurch in der Lage, eine gewisse positive Auswahl unter den Wehrpflichtigen vorzunehmen.

Sehr ernst ist die Lage in Bezug auf den Offiziersnachwuchs. Aus vielerlei Gründen hat der früher so geachtete Beruf des Offiziers an Attraktivität verloren. Es ist hier nicht der Platz, diese Gründe aufzulisten. Vielleicht genügt ein Beispiel. Allein 1996 haben ca. 500 Offiziere Selbstmord begangen weil sie ihre Situation als ausweglos empfanden oder weil sie sich vom Staat im Stich gelassen fühlten. Die Krise im Offiziersnachwuchs wird von den dafür zuständigen Personalchefs als besorgniserregend bezeichnet.

Der milit.-ind. Komplex (MIK)

Ganz am Beginn der Militärreform, d.h. Ende der Achtzigerjahre, wurde dieser Frage eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das hatte seine Gründe: Die überdimensionierte Rüstungsindustrie der Sowjetunion war gegenüber der übrigen Volkswirtschaft in jeder Hinsicht privilegiert. Sie hatte sich zu einem Staat im Staate entwickelt und übte einen bedeutenden Einfluss auch auf politische Entscheidungen aus. Andererseits verfügte sie über ein überragendes technisches und menschliches Potenzial, das man für Modernisierung anderer Zweige der Volkswirtschaft nutzen wollte. Einer der ersten damaligen Reformschritte bestand darin, den gebündelten Militäretat dem Verteidigungsministerium zuzuweisen, damit dieser gegenüber der Rüstungsindustrie als Auftraggeber auftreten konnte. Als nächste Schritte waren die Optimierung des Gesamtsystems und eine teilweise Konversion von Rüstungsbetrieben geplant. Diese gut gedachten Vorhaben scheiterten an dem weiteren Verlauf der innenpolitischen Veränderungen wie z.B. überhasteter Auflösung der staatlichen Plankommission und des zuständigen Ministeriums, Zusammenbruch bisheriger Absatzmärkte bzw. Auftraggeber, Inflation, steigender Staatsverschuldung, »Dollarisierung« der Volkswirtschaft.

Alle Probleme der russische Streitkräfte zusammengenommen erscheinen heute als unbedeutend gegenüber den Problemen der MIK. Einen letzten Versuch der Reformierung des MIK stellte das 1997 vom Wirtschaftsministerium erarbeitete Programm der Umstrukturierung und Konversion dar. Es gelang nicht, dieses Programm in der erforderlichen Breite und Abfolge zu realisieren. Eine Reihe geplanter Vorhaben entsprechen auch nicht mehr der sich veränderten Lage. Der MIK wird nicht mehr geführt, die noch vorhanden gewesenen geringen Chancen für seine Umgestaltung wurden verspielt. Einige Betriebe produzieren noch weil sie vom Rüstungsexport profitieren, andere führen ein kümmerliches Dasein auf der Basis geringfügiger Aufträge bzw. staatlicher Subventionen. Neue Militärtechnik wird in nur sehr geringer Zahl produziert. Sie basiert ausschließlich auf dem ehemals bedeutendem Entwicklungsvorlauf sowjetischer Konstruktionsbüros. Die Entwicklung von Militärtechnik der nächsten Generation stagniert. Kräfte und Mittel für die Erarbeitung eines neuen wissenschaftlich-technischen Vorlaufs können nicht bereitgestellt werden. Das Entscheidungsfeld für einen Ausweg aus dieser Misere ist bis aufs Äußerste eingeschränkt. Ein russischer Militärkommentator bemerkte dazu treffend: „Es gibt nur noch die Wahl zwischen den schlechten und den sehr schlechten Varianten.“2

Der Versuch eines Neubeginns

Am 10. Januar 2000 unterschrieb der amtierende russische Präsident Putin die Neufassung der Konzeption der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation. Es ist dies die dritte offizielle Variante in den letzten zwei Jahren (erste Konzeption im Dezember 1997, die zweite im Oktober 1999).

In ersten Kommentaren wird darauf verwiesen, dass nur ein enger Kreis von Spezialisten diese Konzeption in kürzester Zeit (im Verlauf von einem Monat und 18 Tagen) erarbeiten musste. Dabei handelt es sich um ein Staatsdokument, das als das zweitwichtigste nach der Verfassung der Russischen Föderation gesehen wird. Die dadurch unvermeidbaren theoretischen Schwächen dieses Dokuments werden nicht ohne Einfluss auf die Praxis der nationalen Sicherheit bleiben. Dennoch neigen russische Kommentatoren zu der Einschätzung, dass die Konzeption 2000 insgesamt einen Schritt nach vorn bedeutet.

Es ist wichtig zu wissen, dass im Oktober 1999 der Entwurf einer neuen Militärdoktrin zur Diskussion gestellt wurde. Einer der Gründe für die Eile bei der Erarbeitung der neuen Konzeption der nationalen Sicherheit der RF könnte der Wunsch des neuen Interimspräsidenten gewesen sein, der Diskussion um die Doktrin und damit auch um die künftigen Schwerpunkte der Militärreform ganz bestimmte Rahmenbedingungen vorzugeben.

Einleitend wird die Konzeption der nationalen Sicherheit als ein System von Ansichten zur Gewährleistung der Sicherheit der Persönlichkeit, der Gesellschaft und des Staates vor äußeren und inneren Bedrohungen definiert. Unter der nationalen Sicherheit wird die Sicherheit seines multinationalen Volkes als des Trägers der Souveränität und der einzigen Machtquelle verstanden.

Diese sehr breite Konzeptdefinition und der sehr allgemein gehaltene Sicherheitsbegriff führten m. E. dazu, dass eine Vielzahl von Sicherheitsrisiken und eine noch größere Anzahl von Aufgaben beschrieben werden mussten. Über weite Strecken beinhaltet die Konzeption eine wundersame Mischung ökonomischer, finanzpolitischer, wissenschaftlich-technischer, regionaler, ethnischer, ökologischer, sozialer und rein militärischer Probleme und Aufgaben. Sowjetische und russische Erfahrungen haben in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass ausufernde Dokumente – und mögen sie theoretisch noch so richtig gewesen sein – vom Staatsapparat und den Führungskräften nicht angenommen wurden. Nach den ersten Lippenbekenntnissen verstaubten sie.

Worin bestehen die wesentlichsten sicherheitspolitischen Aussagen der neuen Konzeption?

Im Kapitel 1, »Russland innerhalb der Weltgemeinschaft«, wird die Feststellung getroffen, dass sich nach dem Ende der bipolaren Konfrontation zwei Entwicklungstendenzen gegenüber stehen: Die erste als eine alle Bereiche (ökonomische, politische, wissenschaftlich-technische usw.) umfassende integrative Tendenz. Auf ihrer Grundlage wird Russland um die Herausbildung einer bipolaren Welt bemüht sein. Die zweite „äußert sich in dem Versuch der Schaffung einer solchen Struktur internationaler Beziehungen, die auf eine Dominanz der hochentwickelten westlichen Länder unter Führung der USA und auf eine einseitige vor allem militärische Lösung der Schlüsselfragen der Weltpolitik, unter Umgehung des Völkerrechts, hinausläuft.“

Im Kapitel 2, »Die nationalen Interessen der Russischen Föderation«, werden die Interessen Russlands im militärischen Bereich so formuliert: „Die nationalen Interessen Russlands im militärischen Bereich bestehen in der Verteidigung seiner Unabhängigkeit, der Souveränität, der staatlichen und territorialen Integrität, in der Verhinderung einer militärischen Aggression gegen Russland und seine Verbündeten, in der Gewährleistung von Bedingungen für eine friedliche, demokratische Entwicklung des Staates.“

Im Kapitel 3, »Bedrohungen der nationalen Sicherheit der RF«, wird zunächst den ökonomischen Faktoren, den separatistischen und nationalistischen Tendenzen, der unzureichenden Rechtsstaatlichkeit, der Kriminalität, dem Terrorismus und anderen zivil-gesellschaftlich relevanten Faktoren Aufmerksamkeit zuteil.

Bei der Darstellung der Bedrohungen im internationalen Bereich werden die folgenden »grundlegenden Bedrohungen« genannt:

  • „Das Bestreben einzelner Staaten … die Rolle bestehender Mechanismen zur Gewährleistung der internationalen Sicherheit, vor allem aber der UNO und der OSZE, herabzusetzen;
  • die Gefahr einer Schwächung des politischen, ökonomischen und militärischen Einflusses Russlands in der Welt;
  • die Festigung der militärisch-politischen Blöcke und Bündnisse, vor allem die Osterweiterung der NATO;
  • die Möglichkeit des Auftauchens ausländischer Militärbasen und großer militärischer Kontingente in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen;
  • die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln;
  • die Schwächung der Integrationsprozesse in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS);
  • das Entstehen und die Eskalation von Konflikten in der Nähe der Staatsgrenzen der RF und der äußeren Grenzen der GUS;
  • territoriale Ansprüche an die Russische Föderation.“

Nach der Aufzählung weiterer Bedrohungsfaktoren kommen die Autoren der Konzeption zu einer erstmalig in dieser Eindeutigkeit formulierten Aussage: „Das Niveau und die Maßstäbe der Bedrohung im militärischen Bereich wachsen an.“ Dem schließt sich die z.T. präzisierte Formulierung aus der Konzeption des Jahres 1999 an, die da lautet: „Der in den Rang einer strategischen Doktrin erhobene Übergang der NATO zur Praxis gewaltsamer (militärischer) Handlungen außerhalb des Verantwortungsbereiches des Blocks und ohne Sanktion des Sicherheitsrates der VN, birgt die Gefahr einer Destabilisierung der gesamten strategischen Weltlage in sich.“

Beachtenswert in diesem Kapitel erscheint ein Absatz, der die gegenwärtige Ausgangslage für die Fortsetzung der Militärreform darstellt. Seine kritischen Feststellungen lauten sinngemäß so: Die Reform militärischer Strukturen und der Verteidigungsindustrie haben sich über Gebühr verzögert. Hauptursachen dafür sind die unzureichende Finanzierung und Unzulänglichkeiten in der rechtlichen Basis. Die sich verstärkenden negativen Tendenzen zeigen sich vor allem in einem kritisch niedrigen Niveau der operativen- und Gefechtsausbildung, in einer unzulässigen Verringerung des Ausstattungsgrades mit modernen Waffen und modernem Gerät sowie in der äußersten Schärfe sozialer Probleme. Das alles führt zu einer Schwächung der militärischen Sicherheit der Russischen Föderation.

Das 4. Kapitel behandelt »Die Gewährleistung der nationalen Sicherheit der RF«. Auch hier finden die LeserInnen eine unendliche Aufzählung verschiedenster Aspekte für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit, die einen vorrangig deklarativen Charakter tragen. In dem eigentlich militärischen Teil dieses Kapitels erscheinen die folgenden Aussagen beachtenswert:

  • „Zur Verhinderung des Krieges und bewaffneter Konflikte bevorzugt die Russische Föderation politische, diplomatische, ökonomische und andere nichtmilitärische Mittel. Gleichwohl erfordern die nationalen Interessen das Vorhandensein einer für ihre Verteidigung ausreichenden Militärmacht.“
  • „Eine der wichtigsten Aufgaben der Russischen Föderation besteht in der Gewährleistung der Abschreckung im Interesse der Vorbeugung einer Aggression beliebigen Maßstabs, einschließlich einer Aggression unter Anwendung von Kernwaffen gegen Russland und seine Verbündeten.“
  • „Die Russische Föderation muss über nukleare Kräfte verfügen, die garantiert dazu befähigt sind, jedem Aggressorstaat oder einer Staatenkoalition einen angemessenen Schaden unter beliebigen Bedingungen der Lage zuzufügen.“
  • „Die Streitkräfte der Russischen Föderation müssen in ihrem Friedensbestand in der Lage sein, den zuverlässigen Schutz des Landes vor einem luft-kosmischen Überfall,… die Abwehr einer Aggression im lokalen Krieg (bewaffneten Konflikt) bzw. die strategische Entfaltung für die Lösung von Aufgaben in einem großflächigen Krieg zu gewährleisten.“

Ganz offensichtlich lässt sich Russland auch die Möglichkeit von Auslandseinsätzen seiner Streitkräfte offen, denn im weiteren heißt es: „Die Interessen der Gewährleistung der nationalen Sicherheit verlangen unter entsprechenden Umständen die militärische Präsenz Russlands in einigen strategisch wichtigen Regionen der Welt. Die Stationierung begrenzter Truppenkontingente – auf vertraglicher und völkerrechtlicher Grundlage – muss die Bereitschaft Russlands gewährleisten, seine Verpflichtungen zu erfüllen, in den Regionen zur stabilen militärstrategischen Kräftebalance beizutragen und der RF die Möglichkeit geben, auf Krisensituationen in deren Anfangsstadium zu reagieren und die Verwirklichung außenpolitischer Ziele des Staates zu fördern.“

Fazit

Unter den vielen Bedrohungen der nationalen Sicherheit sieht Russland auch eine rein militärische. Die nach dem Ende des Kalten Krieges vorherrschende Meinung von einer langen Periode des friedlichen Zusammenlebens der Völker verliert in der russischen Öffentlichkeit zusehends an Glaubwürdigkeit. Dominierend sind heute Misstrauen und Argwohn. Die Hauptgründe dafür sind die Osterweiterung der NATO, die jüngsten Kriegshandlungen der NATO-Staaten gegen Jugoslawien, der zusehends größer werdende qualitative und quantitative waffentechnische Vorsprung der USA und das alarmierende Beispiel des Tschetschenienkrieges.

Die frühzeitig erkannte Notwendigkeit einer Militärreform scheiterte an den katastrophalen Folgen politischer, administrativer und ökonomischer Umbrüche. Die bisher durchgeführten Reformschritte haben den Niedergang der Streitkräfte verlangsamt, aber noch nicht gestoppt.

Das Empfinden der russischen Führung, dass das Niveau und die Maßstäbe der Bedrohung im militärischen Bereich anwachsen, bestimmt zweifellos ihr weiteres Vorgehen. Der verfügbare Handlungsspielraum bleibt aber zunächst äußerst beschränkt. Aus der militärischen Logik heraus erhöhen sich dadurch Rolle und spezifisches Gewicht der Abschreckung. Die herkömmlichen Kräfte und Mittel einer strategischen Abschreckung sind – gemessen am US-amerikanischen Potenzial – schwach. Die Streitkräfte, die für die Verteidigung des Riesenlandes zur Verfügung stehen, befinden sich in einem desolaten Zustand. Das sind die Gründe für die in letzter Zeit russischerseits immer wieder betonte Notwendigkeit einer glaubhaften atomaren Abschreckung.

Die Militärreform als eine komplexe Abfolge gut durchdachter Einzelschritte wird in dem Maße vorankommen, wie es gelingen wird, die russische Wirtschaft anzukurbeln. Von einer russischen Gefahr kann im überschaubaren Zeitraum nicht die Rede sein. Dennoch sollte sich der Westen hüten Russland zu demütigen. Der Weg zu gutnachbarlichen Beziehungen führt, wie gehabt, über eine vertrauensbildende Politik, die es versteht russische Befindlichkeiten zu berücksichtigen und Misstrauen abzubauen.

Militärbezirke
Abb.1: Neufestlegung der Militärbezirke
Strategische Richtung Militärbezirk Stab
Westl. strateg. Richtung Moskauer MB Moskau
Nordwestl. strat. Richtung Leningrader MB St. Petersburg
Südwestliche strat. Richtung Nordkaukasischer MB Rostow am Don
Zentral-asiat. strat. Richtung Wolga-Ural-MB Samara
Sibirische strat. Richtung Sibirischer MB Tschita
Fernöstliche strat. Richtung Fernost-MB Chabarowsk
Abb.2: Anpassung der Grenzziehung der Militärbezirke an die entscheidenden strategischen Richtungen

Anmerkungen

1) Jede TSK wurde von einem Oberbefehlshaber kommandiert, der sich in seiner Führungstätigkeit auf einen Hauptstab der TSK stützte. Die Hauptstäbe der TSK waren dem Generalstab nachgeordnet.

2) Sergej Sokut in »Nezawisimaja Gaseta« Nr.1/2000

Dr. Karl Harms war als Oberst der NVA über sechs Jahre im Stab der Vereinten Streitkräfte in Moskau tätig. Er arbeitet heute als Publizist in Berlin.