Die Macht- und Militärpolitik der Bundesrepublik

Die Macht- und Militärpolitik der Bundesrepublik

von Detlef Bald

Herausgegeben von W&F in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V.

Der Paradigmenwechsel von der Verteidigung zur Intervention

Fünfzig Jahre Bundeswehr – das Jubiläum wurde im Jahr 2005 mit großem öffentlichen Gepränge gefeiert. Das parteiübergreifende Wort von der »Erfolgsgeschichte einer Armee in der Demokratie« überstrahlte gleichermaßen die staatlichen und parlamentarischen Repräsentanten beim morgendlichen ökumenischen Festgottesdienst im Berliner Dom wie beim Großen Zapfenstreich im abendlichen Dunkel vor dem Reichstag.1 Diese Feiern rahmten den Reigen der monatelangen Festveranstaltungen ein, deuteten das Selbstbewusstsein der öffentlichen Anerkennung und zollten, wie es allenthalben lautete, der »Armee im Einsatz« den gehörigen Respekt. Dabei wird kaum wahrgenommen, dass der in den Scheinwerfern der Medien glänzende Pomp der aktuellen Feierlichkeiten durch polizeiliche weiträumige Absperrungen unter Ausschluss der Bevölkerung in Szene gesetzt und somit eine eigenartige Akzeptanz des Militärs behauptet, aber als Distanz offenkundig wird. Ein Blick auf das Gründungsjahr 1955 zeigt, dass damals nahezu zwei Drittel der Bevölkerung ihre Aufstellung ablehnten und dass „selbst die Mehrheit derer, die meinen, Deutschland brauche eine Armee, …keine ausgesprochenen Freunde des Militärs“2 waren. Konrad Adenauer war entsetzt über den verbreiteten Widerstand, der sich in dem Slogan äußerte: „Nie wieder deutsche Soldaten!“, volkstümlich auch verstanden als: »Militär bedeutet Krieg«. Die Erinnerung daran war noch wach: „Krieg gehört für die meisten zum Furchtbarsten, was sie sich vorstellen können, sowohl für ihr eigenes Leben als auch für Deutschland.“3 Aus friedenswissenschaftlicher Sicht wird darauf im Jubiläumsjahr Bezug genommen. Da heißt es: „Grundsätzliche Kritik tut Not, und die politische Analyse aus antimilitaristischer Perspektive muss den historischen Rückblick einschließen. Was sich zeigt, sind Kontinuitäten deutscher militaristischer Politik und ihrer Umsetzung durch das Militär.“4 Solche harschen Worte geben aber ein Bild der Bundeswehr der Gegenwart ab, das augenscheinlich in der offiziell reklamierten »Erfolgsgeschichte« einer demokratischen Armee kaum vorkommt. Diese widersprüchlichen Einschätzungen lassen sich am besten beurteilen, wenn die bestimmenden Faktoren der Militärpolitik und -geschichte der Bonner Republik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kategorial und komparativ analysiert werden.

Das Paradigma des Kalten Krieges

Das internationale System

Das Jahr 1945 bietet für das deutsche Militär im Unterschied zu anderen staatlichen Institutionen am ehesten die Voraussetzungen der »Stunde Null«. Nach der Kapitulation im Mai 1945 löste der Alliierte Kontrollrat im Vollzug der Potsdamer Beschlüsse am 2. August 1945 alle Einrichtungen der Wehrmacht – »völlig und endgültig« – auf, damit der »Hort des Militarismus« ein für alle Male ausgelöscht werde. Es handelte sich um eine Entscheidung ex negativo. Die Alliierten wollten verhindern, dass deutsche Machtpotentiale, die ein Jahrhundert lang mit expansiven Strategien die Nachbarn bedrohten, erneut den Frieden gefährdeten.5

Die »Stunde Null« verlangte nach der Demilitarisierung auf Dauer die Abkehr von jeder Übersteigerung des Militärischen nach innen und außen, nicht aber den Verzicht auf Militär. Die Alliierten gestanden daher den Deutschen wohl Militär zu, mochten ihnen aber nicht die Verfügungsgewalt über diese Streitkräfte übertragen. Sie wurden von außen domestiziert. Hier gab es den ersten Bruch mit nationalstaatlichen Traditionen: die Bundeswehr wurde international vollständig integriert entworfen. Die Kompetenzen der deutschen, der politischen und militärischen Leitung waren strukturell gewissermaßen amputiert. Im Ernstfall hätten Bundeskanzler wie Generalinspekteur praktisch nicht über direkte Einsätze deutscher Verbände entscheiden können. Die Konstellation der Nachkriegszeit war ausschlaggebend für Existenz und Entwicklung der Bonner Republik und nota bene für ihr Machtmittel, die Bundeswehr. Die Alliierten des Krieges, an ihrer Spitze im Westen die USA (und im Osten die Sowjetunion), beherrschten die besatzungsrechtliche Ordnung in Deutschland. Die Bundesrepublik übernahm viele Vorbehaltsrechte des Besatzungsstatuts und legitimierte im Mai 1955 im völkerrechtlichen Werk der Pariser und Bonner Verträge diese alliierte Suprematie für die weitere Zukunft. Was in Potsdam 1945 von den Alliierten als einseitiges Diktat verabredet worden war, fand so in angepasster Form und in ausdrücklichem »Einverständnis« (Generalvertrag) der Deutschen seine Gültigkeit bis 1990.

Im Generalvertrag übertrugen die Alliierten den Deutschen die „volle Macht eines souveränen Staates«, also keineswegs die volle Souveränität, sondern wie es im englischen Text hieß, die „full authority«. Zugleich sicherten sie sich Vorbehaltsrechte und schränkten kaum verbrämt – aber deutlich – die Souveränität der Bonner Republik ein, um „die von den Drei Mächten bisher ausgeübten und innegehabten und weiterhin beizubehaltenden Rechte“ für das eigene Militär auf deutschem Boden geltend zu machen.6 Ihre Suprematie setzte den Rahmen für die Bundeswehr. Seit 1955 gab es die doppelte Signatur alliierter Truppen: einerseits die unter NATO-Befehl und andererseits die unter nationalem Befehl stehenden Einheiten. Die »nationalen« Verbände der USA, Großbritanniens und Frankreichs (und im Osten die sowjetischen auf dem Boden der DDR) hatten einen grundsätzlich anderen Status, mit eigenen, im Truppenvertrag, in Protokollen und Noten verbrieften Rechten und Befugnissen.7 Diese »alliierte« Signatur bedeutete eine gespaltene Machthierarchie in Deutschland, hier also: die der ehemaligen Besatzungsmächte über die deutsche Politik bzw. gegenüber einem Regierungshandeln, das nach Souveränität strebte. Im Westen hatten die Drei diese höchste Kompetenz, im Osten allein die Sowjetunion, aber alle Vier behielten Potsdamer Reservatsrechte für Deutschland als Ganzes bis 1990. Machtpolitisch kann in dieser Struktur der Suprematie der höchste Ausdruck der »Eindämmung« deutscher Hoheitsgewalt gesehen werden.8

Für die Bonner Republik ergab sich das Dilemma, immer wieder an die Grenzen der Unabhängigkeit zu stoßen. Im politischen Alltagsgeschäft traf es besonders das Kanzleramt, das Außenministerium sowie das Verteidigungsministerium. Aber auch das Innenministerium war wegen der Kompetenz der Krisen- und Notstandsplanung, die bis 1968 in den Händen der Alliierten lag, davon betroffen.9 In Berlin wurde die »nationale« Befugnis der Alliierten am deutlichsten, da in den Regelungen des Jahres 1955 die Stadt weiterhin den Status eines Besatzungsgebietes behielt. Nach dieser Völkerrechts- und Verfassungslage hatte die Bundeswehr mit der Verteidigung Berlins nichts zu tun. Da galten alliierte Kompetenzen.

Die internationale Kontrolle und Eindämmung

Das Vertragssystem der NATO und WEU, das die Kontexte und Bedingtheiten für die Bundeswehr vorgab, kann als eine Art Staatsräson bezeichnet werden. Insofern könnte man die ambivalenten Verhältnisse dieser historischen Phase der deutschen Militärgeschichte nach 1950 in Anlehnung an zeitgenössische Sprachstile als »embedded history« bezeichnen.10 Die Auswirkungen waren weitreichend. Die Bundeswehr wurde in ein komplexes internationales Kontrollregime eingebunden, das seit den fünfziger Jahren alle Materialien, Waffenbestände und Kasernenanlagen durch Vor-Ort-Inspektionen quantitativ überprüfte. Der Westen suchte Planungssicherheit vor den Deutschen, um mit den Deutschen die Stabilität des Kalten Krieges in Europa zu gewährleisten.

Die »Eindämmung« wurde auch militär- und sicherheitspolitisch – also die qualitative Seite militärischer Potentiale – von den Amerikanern strikt umgesetzt. Nach den abschließenden Verhandlungen über den Beitritt der Deutschen zum Bündnis im Oktober 1954 wurde die nur wenige Jahre zuvor errichtete Organisationsstruktur der NATO umgemodelt und festgelegt, dass nahezu alle wichtigen Daten über operative Konzepte, Einsatzplanungen usw. der anglo-amerikanischen Verfügungsgewalt – das Paradebeispiel der Aktenklassifizierung: »for American eyes only« -vorbehalten blieben. In der internationalen Stabsarbeit war so z.B. für deutsche Offiziere der Tatbestand der informatorischen Diskriminierung gegeben; wichtige Befehlsstränge wurden entsprechend konzipiert. Das wog um so schwerer, als eigenständige Stabsorganisationen (»Generalstab«) zur Planung militärischer Einsätze den Deutschen verwehrt waren. Auch im Bündnis behielten die USA das Sagen. Nur auf der nachgeordneten Leitungsebene taktischer Umsetzung gab es die Befugnis, nach den jeweils gültigen Doktrinen und vorgegeben Direktiven die Befehle für den Ernstfall vorzubereiten. Es brauchte lange Jahre, bevor aus partnerschaftlicher Kooperation Vertrauenswürdigkeit und Anerkennung entstand oder erst nach zähen Verhandlungen eine andere Mitwirkung erreicht wurde. Asymmetrische Verhältnisse innerhalb des westlichen Bündnisses kennzeichnen also in den ersten Jahrzehnten den Status der Bundeswehr.

Kontinuität zum Zweiten Weltkrieg existierte im militärstrategischen Ansatz der USA und ihrer Militärdoktrin. Die erste globale Nuklearstrategie der »massiven Vergeltung« war ganz im Geiste des Zweiten Weltkriegs entworfen. Die damaligen extremen, mit moderner Technologie organisierten Zerstörungen und die Vernichtungsoperationen wurden noch »optimiert«. Es erfolgte eine Diversifizierung des militärischen Denkens. Stalingrad, Tokio oder Dresden sowie Hiroshima und Nagasaki mochten Metaphern der Barbarei und der Vernichtung sein – Überschreitungen moralischer und völkerrechtlicher Grenzen, aber für die militärischen Experten wurden sie nach dem Krieg Beispiele künftiger und global berechenbarer Kriegführung.11 Dabei wurden die Doktrinen und Operationen der Wehrmacht wieder hoffähig, da ihre Effizienz gegen die Rote Armee – nun im Kalten Krieg – attraktiv erschien. In akribischer Arbeit hatten deutsche Stabsoffiziere die Erfahrungen des »Ostfeldzuges« für die USA aufbereitet.12 Die Kooperation funktionierte. Die konventionelle Kriegführung wurde modernisiert, allerdings der Einsatz von Atomwaffen systematisch integriert. Die USA benötigten nur wenig Zeit, diesen »revolutionären Wandel in der militärischen Denkart« konzeptionell aufzugreifen; schon 1947 waren die Weichen für die entsprechende Rüstungspolitik, Taktik und Strategie des Kalten Krieges gestellt.13 Die Auswirkungen via NATO für die Bundeswehr kamen schnell und massiv.

Diese Ordnung des Anfangs war der Bonner Regierung vorgegeben. Westbindung bedeutete Wertebindung, Freiheit bedingte Machtbindung. Kanzler Adenauer koppelte den Akt der Staatswerdung an die Aufstellung des Militärs. Die Wiederaufrüstung war für ihn die Voraussetzung zur Erlangung der Souveränität.14 Adenauer hatte sein Handeln von Beginn an darauf gerichtet, die Demilitarisierung umzukehren und zu einer Remilitarisierung zu gelangen. Wenigen ist aufgefallen, dass er z.B. schon „1947 das Instrument der Armee als ein wesentliches Element staatlicher Souveränität betrachtete.“15 Die Absicht des Kanzlers, seine Vorstellung vom »Wesen eines Staates« umzusetzen und eigenständig von der »Wehrhoheit« Gebrauch zu machen, konnte unter den gegebenen Umständen keinen vollen Erfolg haben.16 Die Einsicht, ein Staat gelte sonst eben nichts, führte deshalb zu vielfältigen Aktivitäten mit der Devise »Wandel durch Integration«, um die militärischen Fesseln abzuschütteln bzw. den politischen Spielraum zu erweitern. Schon 1950 war der erste Etappenerfolg zu verzeichnen. Die Alliierten akzeptierten, dass das Kanzleramt eine Geheimplanung zur Aufrüstung in Auftrag gab. Im Oktober 1950 wurde die Himmeroder Denkschrift fertiggestellt.17 Doch der Gleichklang der Interessen von Washington und Bonn brauchte seine Zeit, die neue Gestalt des Militärs in der Ära Adenauer entstehen zu lassen.

Die ehemaligen Generale und Admirale der Wehrmacht, die in Himmerod die militärische Zukunft entwarfen, hatten ganz das Ideal einer »neuen Wehrmacht«, wie sie die spätere Bundeswehr nannten, vor Augen. Nach dem Muster der Vernichtungsdoktrin des »Totalen Krieges« im Osten kam eine »Worst-Case«-Verteidigung zustande, welche die operativen Maximen des Generalstabs der Wehrmacht in das Panorama des Kalten Krieges stellte und eine europaweite „Gesamtverteidigung von den Dardanellen bis nach Skandinavien“ ins Visier nahm. Eine echte Massenarmee vom Typ mobiles und motorisiertes Expeditionsheer sollte „von vornherein offensiv“ und im Hinterland des Gegners mit Atombomben vorgehen können.18 Das war die Quintessenz dessen, was in der Folgezeit »Vorwärtsverteidigung« genannt wurde und im Einklang mit der massiven Vergeltung (massive retaliation) stand. Insofern war es für Kanzleramt und militärische Führung nur plausibel, für die deutschen Formationen Atomwaffen anzustreben. Die nukleare Einsatzbefugnis, gewissermaßen der zweite Schlüssel zur Freigabe im Ernstfall, blieb in amerikanischer »nationaler« Hand.

Mehr als ein Jahrzehnt lang litten die deutsch-amerikanischen Beziehungen darunter, dass im Rahmen der Integration ins Bündnis die Bonner Politik versuchte, an den Stellschrauben des Atomwaffeneinsatzes zu drehen. Das Zugriffsrecht wurde den Deutschen verweigert. Der Höhepunkt der Friktionen kam aus dem Bonner Drängen, den Wandel der Strategie hin zur »flexiblen Reaktion« zu verhindern. Diese Entwicklung leiteten die USA ein, weil nach dem Sputnik-Schock 1957 deutlich wurde, dass es für sie ein »Fenster der Verwundbarkeit« durch sowjetische Atomwaffen gab. Helfen sollte die Option der politischen Deeskalation von Krisen und Konflikten. Für die Bundeswehr hieß dies: Atombomben, auch die für die Artillerie des Heeres, sollten nicht mehr massiv sondern selektiver und flexibler die Verteidigung absichern. Bonn aber suchte an den alten Verhältnissen festzuhalten. Daher kam es während der Berlinkrise 1961 zu einer scharfen Zuspitzung, als die politisch Verantwortlichen, Kanzler Adenauer, Minister Strauß sowie die militärische Führung, u.a. auch der Vertreter bei der NATO, Generalmajor Johannes Steinhoff, in Washington wiederholt intervenierten. Sie forderten, nach der alten Doktrin massiv vorzugehen, auch deutsche Divisionen einzusetzen oder gegebenenfalls eine Atomwaffe als Warnsignal »against no target« über der Ostsee oder einem Truppenübungsplatz in der DDR zur Explosion zu bringen. Ende November noch betonte Strauß in den USA, die Deutschen bestünden auf mehr Mitsprache beim Einsatz der Atomwaffen. Dieses Vorgehen rechtfertigten beteiligte deutsche Diplomaten später auf Anfrage, sie hätten in Washington „nicht den Verdacht bestärken dürfen, dass sie risikoscheu“ seien.19

Im Ergebnis folgte aus dem deutsch-amerikanischen Kompetenzgerangel, dass die USA (1.) die eindeutigen Zuständigkeiten, die ihnen als Alliierte zugesichert waren und besonders im Besatzungsstatut von (West-) Berlin zutage traten, nicht antasten ließen und dass sie (2.) ihre politischen Interessen, die deutschen militärischen Potentiale zu »zähmen«, strikt weiter verfolgten. Die Berlin-Krise war die Lehrstunde, sich weiter in die Sicherheitsarchitektur des Westens einzupassen. Deutsche Bemühungen, diese Grenzen aufzuweichen oder zu verschieben, wurden schlussendlich in die Schranken gewiesen. Latente Widerstandskräfte erlahmten schließlich. Natürlich gab es gewisse pragmatische Verbesserungen hier und dort. Der Harmel-Bericht von 1967, militärische Macht und »Entspannung«, nach amerikanischem Verständnis also vor allem (nur) die politische Deeskalation von Krisen, mit einander zu verbinden, wies die Richtung. Das Paradigma der Bonner Sicherheitspolitik war neben »Potsdam« eben auch durch den Antagonismus des Kalten Krieges justiert – und allein von Bonn aus nicht auflösbar.

Das Dilemma der Atombewaffnung

Nicht erst 1961, in der historischen Situation der Berlin-Krise, wurde das Dilemma einer nuklear integrierten Verteidigung in Deutschland offenbar, im Ernstfall das zu vernichten, was als Ziel jeglicher Verteidigung zu erhalten galt. Die mögliche Weggabelung wurde nicht genutzt oder, wenn es eine Politikalternative denn wirklich gegeben hat, vertan. Jedenfalls hatten grundsätzlich andere Optionen der Verteidigung mit Adenauer keine Chancen. Daher wurden alternative konventionelle, defensiv orientierte oder durch Milizkomponenten bestimmte Konzepte seit 1950 verworfen und ihre Vertreter zuletzt 1955 – nur Graf Schwerin und Bogislaw von Bonin seien namentlich erwähnt20 – aus dem Personalstamm der Bundeswehr entfernt. Seitdem war die Hoffnung auf nukleare Stabilität die eigentliche Garantie der Sicherheit. Sicherheit durch Atomwaffen hing von der mit dieser Doktrin verbundenen, aber immer unkalkulierbaren Glaubwürdigkeit der Abschreckung ab. Das Sicherheitsdilemma Deutschlands blieb bestehen, auch wenn eine militärische Ratio forderte, die Atomwaffen nur »vernünftig« und nur dann einzusetzen, „wenn andere Mittel zum Erreichen des taktischen Zieles nicht ausreichen.“ Von dieser Position aus kritisierte Generalinspekteur Ulrich de Maizière „den geplanten großzügigen, fast unbekümmerten Einsatz atomarer Gefechtsfeldwaffen im jeweiligen Verteidigungsraum.“21 Im Durchschnitt der Jahre war die Bundeswehr mit 4.000 Atombomben ausgestattet, 1992 betrug ihre Anzahl noch 2.500.

Obwohl allgemein zugängliche wissenschaftliche Analysen schon 1971 erkannten, dass bei einem auch nur geringen Einsatz dieser Waffen ein zivilisiertes Überleben in Mitteleuropa für Jahrhunderte nicht mehr möglich wäre, gab es keine Wende in der Atombewaffnung.22 Die Kategorien des integrierten Atomwaffeneinsatzes blieben im Ernstfall gültige Maxime der Verteidigung. Die Tatsache, dass die Atomwaffen das vernichteten, was es zu verteidigen gilt, und dass Deutschland daher in einem flächendeckenden Atomkrieg nicht verteidigungsfähig ist, setzte sich in der Führung der Bundeswehr nicht durch. Sie suchte dem Dilemma zu entgehen, indem sie auf dem Automatismus des eskalatorischen Verbunds der Atomstrategie bestand. Es gab kein Entkommen aus der Falle der Rüstungsspirale der Abschreckung mit der gespaltenen Sicherheit, bei der Fiktion und Realität so nah bei einander lagen. Die Kontinuität ist unübersehbar. Der Denkhorizont des »Totalen Krieges«, der der Generalstabsschule der Weltkriege entstammte, begleitete die Modernisierung der Rüstung und die militärischen Doktrinen bis zum Ende des Kalten Krieges.

Die Bildung eines genuin militärischen Milieus

Das Paradigma der Militärgeschichte des Kalten Krieges hat noch seine innenpolitischen Flanken. Der Primat der demokratischen Politik und die zivil-militärischen Beziehungen sind vor dem Hintergrund der deutschen Militärgeschichte zwei wichtige Aspekte des »Militarismus der neueren Geschichte«, nämlich als Verfassungsproblem und als „Belastung des sozialen Lebens.“23 Die Einbindung des Militärs in das parlamentarische Regierungssystem erfolgte in der »Wehrgesetzgebung« von 1954 bis 1957. Gerade diese formale institutionelle Verankerungen im System der Bundesorgane spiegelt tatsächlich diesen Neuanfang als Lehre aus der Geschichte wider. Die Erfahrungen der Weimarer Republik, als die Reichswehr sich eine weitgehende Eigenständigkeit – »Staat im Staate« – reservieren konnte, und der Militarismus im Kaiserreich sowie im NS-Regime begründeten die strikte Geltung des Grundgesetzes und der politischen Verantwortung. Jede, auch nur symbolische persönliche Zuordnung (via Kaiser oder Führer) wurde gegenüber sachlichem Verwaltungshandeln und rechtsstaatlicher Bindung aufgegeben. Die radikalen Einschnitte trennten das Neue scharf vom Alten. Das Prinzip einer »legislatorisch gesteuerten Verwaltung«, um die Willensbildung des Parlaments dauerhaft umzusetzen, konnte nach schwierigen Phasen der Umsetzung Erfolge zeitigen, da eine zivile, mit Juristen besetzte Verwaltung die formalen Vorgaben schließlich umsetzte.24

Der Primat staatlicher Einbindung fand im Militär leichter Akzeptanz als die parlamentarischen Zuständigkeiten. Die formale Zuordnung wurde in den fünfziger und sechziger Jahren nur bedingt angenommen. Denn die junge Republik zeigte ein anderes Selbstverständnis. In traditionalistisch obrigkeitlicher Manier nahm das Militär einen Sonderstatus ein. Wie wäre es sonst zu verstehen, dass Regierung und Bundestag die Kompetenzen nach der Verfassung wenig und erst allmählich Stück für Stück wahrzunehmen bereit waren. Das betraf sowohl das Budgetrecht, das Recht auf Auskunft im Bundestagsausschuss oder die Respektierung des Wehrbeauftragten. Dieser Neuanfang wirkte mittelfristig lähmend, da auch Minister, z.B. Strauß, ihre Distanz zur parlamentarischen Kontrolle nicht verbargen und offen als zivile Einmischung desavouierten.25 Bis zu Beginn der siebziger Jahre forderten Vertreter der Militärelite entsprechende Änderungen des Grundgesetzes, wie eine im Einzelnen wechselvolle Militärgeschichte zeigt.

Die »Belastung des sozialen Lebens« als letzter Faktor des Paradigmas der Militärgeschichte nach 1945 stand von Anfang an unter öffentlichen Erwartungen und internationalem Druck. Die Abkehr von militaristischen Traditionen und Kontinuitäten sowie die Absage an das genuin militärische Milieu der sozialen Abkapselung und an antiparlamentarische Haltungen schien daher klar. In Widerspruch dazu hielten wichtige Repräsentanten der ehemaligen Wehrmacht das traditionalistische Selbstverständnis eines Militärs »sui generis« hoch. Hinter diesem Begriff verbirgt sich das Streben nach einer traditionalistischen sozialen und normativen Sonderstellung gegenüber Staat und Gesellschaft. Diese Welt des Primats des Militärischen stand am Anfang der Bundeswehr und wies der praktischen Politik im Amt Blank und beim Aufbau nach 1955 die Richtung. Schon die Himmeroder Denkschrift von 1950, die »Magna Charta« einer »neuen Wehrmacht«, dokumentiert diese Tendenzen einer politisch sauberen Vergangenheit im Nationalsozialismus und »zeitlos« gültiger militärischer Traditionen. Die Vergangenheit wurde entsorgt. Neben der Militärstruktur und den operativen Maximen (wie oben dargelegt) folgte auch die normative Fixierung der Bundeswehr dem Soldatenbild einer idealisierten Vergangenheit. Es wurden Traditionslinien aufgemacht, die die Grundwerte der Bonner Verfassung konterkarierten. Rückblickend wird dies gerne als »Gründungskompromiss« beschworen, was die Verhältnisse verfälscht und eine Gründungslegende des demokratischen Neuanfangs aufpoliert.

Der in diesem Dokument von Himmerod vorhandene Reformansatz von Wolf Graf von Baudissin orientierte sich an den rechtsstaatlichen, freiheitlichen und pluralistischen Werten des Grundgesetzes. Doch Baudissin konnte nur isolierte, marginale und unsystematische Einsprengsel einfügen.26 Die Geschichte der »Inneren Führung« ist daher im Anfang eine Geschichte des Defizits. Die Politik für den inneren Aufbau der Bundeswehr folgte also zunächst restaurativen und sogar reaktionären Leitbildern. Die Folgen für Norm und Realität waren verheerend. Als 1966 die Gewerkschaften erstmals in Kasernen werben durften, traten Generalinspekteur Heinz Trettner und mehrere Generäle aus Protest zurück; als der Inspekteur der Luftwaffe Johannes Steinhoff 1968 die „zeitlose Gültigkeit“ des „vorbildlichen Führertums“ von Offizieren der Wehrmacht lobte,27 fand er nur Beifall; als im Frühjahr 1969 Generalmajor Hellmut Grashey den Offizieren des 20. Juli die Ehre absprach und pointiert feststellte, nun könne man „endlich“ die „Maske“ der „Inneren Führung“ ablegen, erfuhr er an der Führungsakademie Beifall; als etwa zur gleichen Zeit der Inspekteur des Heeres, Albert Schnez, eine von der obersten militärischen Führung gebilligte Studie vorlegte, die eine „Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach militärischem Vorbild einklagte, zeigte sich das Substrat des »Sui-generis«-Denkens in aller Klarheit. Ein Journalist bezeichnete die Manifestation des Ewig-Gestrigen mit den Worten: „Die Restaurateure bliesen zum letzten Gefecht.“28 Ein anderer fand die Bewertung: „Ins Kaiserreich ließe sich auch diese Bundeswehr hervorragend integrieren.“29 Dieses Urteil über zwanzig Jahre Militäraufbau in der Bonner Republik ist nicht einmal polemisch. Selbst alte Generäle waren zutiefst vom Zustand der Bundeswehr enttäuscht; die Nationalkonservativen Hans Speidel und Adolf Heusinger sowie der Reformer Graf Baudissin stimmten darin überein, dass die Reform des Militärs in der Bonner Republik „gescheitert“ sei.30

Die Ära Adenauer hat die weitere Entwicklung der Militärgeschichte beträchtlich belastet, da der Traditionalismus seit Himmerod mit antipluralistischen und geschichtsklitternden Parolen einen sanktionierten Status gefunden hat. So wurde die Opposition zur Militärreform in die Bundeswehr regelrecht eingebaut und der Konflikt zur Demokratisierung gemäß der »Wehrgesetzgebung« und dem entsprechenden Konzept der »Inneren Führung« installiert. Im Militär konnte die Gegenposition zur Reform Erfolg haben, da sie auch als Bestandteil einer dezidierten Vergangenheits- und Geschichtspolitik auf den Ebenen der Politik festzustellen ist.31 So bildeten sich zwei „Fronten, die sich in der einen oder anderen Form“ äußerten und auch politisch die Gestalt der Bundeswehr immer wieder zwiespältig kennzeichnete.32 Die legislatorisch gesteuerte Militärreform hatte über Jahre nur formale Relevanz, sie wurde lange nicht als legitimer Rahmen der Existenz des Militärs angenommen. Die immanenten Widersprüche waren auch für die Militärführung konstitutiv.33 Diese Problematik ist stark zu betonen, da die Geschichte der Bundeswehr nicht nur in der zweiten Reformphase zu Beginn der siebziger Jahre sondern bis in die Gegenwart (nach dem Umbruch 1990) von der Auseinandersetzung um diese beiden soldatischen Leitbilder bestimmt ist.

Der Paradigmenwechsel nach 1990

Die Machtgeometrie über den Atlantik beherrschte auch nach 1990 die Militärgeschichte. Die alliierten Rechte, wie sie in Potsdam 1945 formuliert worden waren, gestalteten den Übergang vom besatzungsrechtlich »penetrierten System« hin zur Souveränität des vereinten Deutschland.34 Keine originären Rechte fremder Herrschaft beschränkten die Souveränität und also die Hoheit über das Militär. Die Doktrin von der Bedrohung aus dem Osten, die wesentlich Legitimität und Identität der alten Bundeswehr geprägt hatte, verlor schließlich jegliche Bedeutung. Verteidigungsauftrag und gesellschaftlicher Konsens erkannten eine Friedensdividende: Frieden und Sicherheit im Haus Europa unter Einschluss Russlands. Die am 19. November 1990 unterzeichnete »Charta für ein neues Europa« signalisierte den epochalen Umbruch der Sicherheitsarchitektur. Deutschland war nur noch von Freunden umgeben.

Ein neues Kapitel der Militärgeschichte wurde aufgeschlagen. Am Tag nach der Einigung ertönte bei Kanzler Helmut Kohl ein bis dahin ungewohnter Klang staatlicher Politik. Im Bundestag erklang die Terminologie der »internationalen Verantwortung« und der »nationalen Interessen« dieses Landes. Publizistisch wurde Deutschland als europäische Macht mit Begriffen beschworen wie „Großmacht wider Willen«, »Zentralmacht Europas«.35 War es Versuchung oder Realismus, als US-Präsident George Bush den Deutschen eine „partnership in leadership“ anbot?

Die Instrumentalisierung der NATO

Die Parameter der neuen Sicherheitspolitik wurden auf der NATO-Tagung am 6. Juli 1990 sichtbar. In dieser Londoner Erklärung wurde der »Blick in ein neues Jahrhundert gerichtet«, für die das Bündnis die treibende Kraft des Wandels sein werde. Da die Sowjetunion nicht mehr das Feindbild darstelle, wurde die etablierte Militärkonzeption der Integration taktischer Nuklearwaffen aufgegeben. Die Prestigewaffen der Phase des Kalten Krieges, Tausende von Atombomben wurden bis 1995 aus den Beständen der Bundeswehr entfernt und zerstört. Das Gebiet Mitteleuropas, die höchst gerüstete Zone in der Welt, war unverhofft gewaltig demilitarisiert worden. Bis 1995 zogen etwa 900.000 ausländische Soldaten ab. Es handelte sich um alliierte und Bündnistruppen, darunter auf dem Gebiet der DDR 400.000 sowjetische Soldaten. Dann wurden infolge der Wiener Abrüstungsverträge von Bundeswehr und NVA Zehntausende schwerer Waffen (Panzer, Haubitzen usw.) verschrottet. Die deutschen Soldaten von nominell 495.000 plus 180.000, also 675.000 Personen (1990 war das Personal real 445.000 plus 90.000, also 535.000), wurden in Etappen von 370.000 auf 270.000 (2005) dezimiert. Die bis 1990 errichtete Militärstruktur wurde quantitativ beseitigt. Bezeichnende militärische »Fähigkeiten« waren über Nacht obsolet geworden.

Die NATO gab auch für die zweite Hauptphase der Geschichte der Bundeswehr den Rahmen vor. Den Wendepunkt markiert das am 8. November 1991 in Rom verabschiedete »Neue Strategische Konzept«. Darin wurde zunächst bekräftig, beim Aufbau einer dauerhaften Friedensordnung in Europa eine »Schlüsselrolle« spielen zu wollen. Dafür sei eine neuartige Form der Kooperation und der Integration Ost- und Mitteleuropas sowie ein weitreichender Umbau der Organisations- und Befehlsstruktur erforderlich. Der Stellenwert dieser Strategie, die anstelle der nuklearen Ausrichtung (der MC 14-Planungen) gegen die Warschauer-Vertrags-Staaten trat, wird erkennbar, weil in diesem von den Amerikanern vorgefertigten Militärkonzept der globale Interventionsanspruch – erstmals für die NATO – formuliert wurde: „Im Gegensatz zur Hauptbedrohung der Vergangenheit sind die beiden Sicherheitsrisiken der Allianz ihrer Natur nach vielgestaltig und kommen aus allen Richtungen, was dazu führt, dass sie schwer vorherzusehen und vielgestaltig sind.“36 Als »vitale Interessen« wurden ökonomischer Wohlstand und globale Rohstoffversorgung benannt, die »out of area«, d.h. außerhalb des gültigen NATO-Verteidigungsbereichs, gesichert werden müssten: „Die Sicherheit des Bündnisses muss jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken berührt werden…“37 Neben den lebenswichtigen Ressourcen wurden unter den globalen Risiken vor allem Terrorattacken aufgezählt. Mit diesem Dokument bereiteten die USA die Plattform, mit militärischem Denken ihre Fähigkeit als Siegermacht des Kalten Krieges im Verbund mit den NATO-Partnern weltweit einzusetzen.38

Die römischen Beschlüsse der NATO hatten für die Bundeswehr noch weitere Auswirkungen. Im Blick auf gesicherte Kontrolle bzw. erwünschte Kalkulierbarkeit deutscher Militärverbände wurde, um zugleich auf die nach 1990 gegebene deutsche Souveränität Rücksicht zu nehmen, eine Lösung gefunden. Im Prozess der Einigung war in manchen Nachbarländern die Sorge vor deutscher Macht erneut aufgetaucht. Auch die Schwierigkeiten der Regierung Kohl, die Ostgrenze Deutschlands verbindlich anzuerkennen, brachten Unruhe. So konnten diese Probleme geradezu elegant eingefangen werden, indem die »zukünftigen Streitkräfte« auf der Ebene der Großverbände (Divisionen/Korps) multinational zu führen seien. Auf diese Weise konnte die multinationale Kooperation mit internationaler Transparenz verbunden werden. Nach einigen Erprobungszeiten nahm man sogar Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrages (Polen, Tschechien) in diese Form der militärischen Integration auf.

Die deutschen Interessen an Interventionen.

Die Bundeswehr war auf Interventionen »out of area« nicht unvorbereitet. Der Umschwung erfolgte bereits Jahre vor der neuen Politik in der NATO und vor dem Fall der Mauer. In einem bekannt gewordenen Dokument hatte die militärische Führung schon 1987 ein Gutachten erstellen lassen, unter welchen Umständen „Einsätze im Rahmen nationaler maritimer Krisenoperationen außerhalb des NATO-Vertragsgebietes“ zulässig seien. Die „Wahrung deutscher Interessen“ wurde als hoch brisant eingestuft, jedoch könnten Truppen jederzeit zu „humanitärer und Katastrophenhilfe“ entsandt werden, Waffeneinsatz sei auch zum Schutz von Handelsschiffen möglich.39 Nach diesem Vorgeplänkel einer prinzipiellen Öffnung des Einsatzspektrums der Bundeswehr kam schon bald eine Grundsatzerklärung. Noch galt als offizieller Konsens das, was »Kultur der Zurückhaltung« genannt wurde, die Deutschen würden militärische Interventionen außer zur Verteidigung ablehnen. Im Februar 1989 gab der für Strategie und Sicherheitspolitik im Ministerium auf der Hardthöhe zuständige Generalmajor Klaus Naumann, der spätere Generalinspekteur, die ersten öffentlichen Signale: „Die deutsche Einschätzung der Rolle militärischer Macht ist es, die unsere Situation im Bündnis so ungeheuer erschwert. Staaten, die aus Tradition ein gewachsenes und gesundes Verhältnis zur Macht haben, sehen die Zukunft der Rolle militärischer Macht im globalen Kontext weit nüchterner, weit objektiver als wir. In diesem zusammenwachsenden Europa, das in einer interdependenten Welt entsteht, und das immer, in jeder seiner Handlungen, globalen Kontext zu berücksichteigen hat, muss man Macht in allen Facetten ausüben können.“ Naumann bedauerte, dass infolge der historischen Erfahrungen, aber auch wegen eines „Versöhnungs- und Friedenspathos“ die „legitime Anwendung“ von Gewalt diskreditiert sei. Solange dieser Widerspruch nicht aufgelöst sei, werde die Bonner Republik in Europa eine „untergeordnete Rolle spielen.“40 Ein neues Konzept militärisch gestützter Interessenwahrnehmung deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik war entworfen, bevor die Welt im Zusammenbruch des Ostblocks die Wende im sicherheitspolitischen Denken fühlte.

Kaum war die Mauer in Berlin gefallen, wurde der neue Ansatz vorgestellt. Ganz im Sinne des Friedensgedankens sprach Generalinspekteur Dieter Wellershoff schon 1990 den »erweiterten Sicherheitsbegriff« – schlicht und einfach – aus: „Helfen, retten, schützen!“ sei die einzige Ausrichtung der Bundeswehr, wo immer dies erforderlich sei.41 Die Argumente wurden eingängig vorgetragen: „Und wir können nicht tatenlos bleiben, wenn anderswo Frieden gebrochen, das Völkerrecht mit Füßen getreten und Menschenrechte verletzt werden. Wir müssen bereit sein, Mitverantwortung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt zu übernehmen.“42 Wer mochte sich diesem menschlich-moralischem Appell verschließen! Der Nachsatz des Ministers Volker Rühe, es ginge um Einsätze „im Dienst der Völkergemeinschaft«, eben nicht nur im Auftrag der Vereinten Nationen, war unmissverständlich. Diese Aussagen werden so ausführlich zitiert, da es notwendig erscheint zu verdeutlichen, dass bereits im Zuge der Einigung Deutschlands die sicherheitspolitisch Verantwortlichen in Militär und Politik für das Interventionskonzept aktiv und offen geworben haben. Es war schon zu Zeiten der Bonner Republik so weit vorangetrieben worden, dass es anlässlich der Geburtsstunde der Berliner Republik in den Grundzügen öffentlich vorgestellt werden konnte.

Im Januar 1992 erfolgte die amtliche Neuausrichtung des Auftrags der Bundeswehr. Das Spektrum für die »Armee im Einsatz« fand sich mit globalen »Herausforderungen« umschrieben. Nationale Interessen wurden herausgestellt, um militärische Fähigkeiten umfassend einzusetzen. Die Zielrichtung wurde präzisiert: „Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität; die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und der Zugang zu strategischen Rohstoffen.“43 Die Forderung nach „ungehindertem Zugang zu den Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ stieß zwar auf heftigen Protest der SPD-Opposition im Bundestag und wurde auch zum Erbe deutscher kolonialer Weltmachtträume gerechnet. Aber die wenigen Proteste änderten nichts an der anvisierten Zielsetzung, den »Umbau« der Bundeswehr einzuleiten. Es war kein gerader, aber ein direkter Weg, der von diesen Grundentscheidungen zur Neugestaltung der Bundeswehr hin zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien von Minister Peter Struck vom 21. Mai 2003 führten, die durch das populäre Wort, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, Aufsehen erregten. Im Einklang mit der ausformulierten NATO-Strategie wurde das Aufgabenfeld der Risiken für die Bundeswehr vage umrissen, „Krisen und Konflikte, Bedrohungen und deren Ursachen im erweiterten geographischen Umfeld“ (Ziffer 47) zu verhindern oder zu bekämpfen. Kollektiv, also im Zusammenwirken mit anderen Mächten, solle deutsches Militär auf diese „Anforderungen“ reagieren, „aus welcher Richtung sie auch kommen mögen.“ In terminologischer Unübersichtlichkeit sollte mit militärischen Mitteln Sicherheit hergestellt werden, „wo immer diese gefährdet ist.“

Rationalität und Effektivität der Bundeswehr leiten sich von diesem Einsatzspektrum ab und verlangen entsprechende operative Doktrinen, Rüstungsverbünde und Ausbildungskonzepte. Symbolträchtig an der Spitze dieser Modernisierung lässt sich da das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam benennen. Hier verwirklichte sich erstmals nach 1945 wieder, was legendär der Generalstab als operative Planungs- und Führungseinrichtung leistete oder in gewisser analoger Funktion das Oberkommando der Wehrmacht. Typisch für diese neuzeitliche Organisation können die aufgetretenen Friktionen gelten, die zugeordneten Führungskommandos von Heer, Marine und Luftwaffe einzubinden. In traditionalistischem Verständnis wird die »Souveränität« der Teilstreitkräfte hoch gehalten.

Die zivilistische Parole des Rettens ist inzwischen entfallen, nun heißt es plastisch: „Kämpfen, stabilisieren, helfen!“ Der postnationale Typ vom Militär der Moderne hat damit seinen Eingang ins deutsche Militärkonzept gefunden, zumal es Struck gelungen war, die konservativen traditionalistischen Vertreter im Heer auszuspielen, die ihre großen und schwerfälligen Panzertruppen der Kalten-Kriegs-Konzeption erhalten wollten. Struck vermochte es, sich gegen heftiges Widerstreben durchzusetzen, auch wenn noch im Januar 2006 zwei höchste Generale – der Inspekteur der Streitkräftebasis, Hans Heinrich Dieter, und der stellvertretende Inspekteur des Heeres, Jürgen Ruwe – wegen latenter Opposition ihren Hut nehmen mussten. Nach der Übergangszeit von mehr als zehn Jahren war 2003 endgültig Schluss mit der alten Bundeswehr. Im Zuge der weiteren Konkretisierung dieses Militärkonzeptes fiel 2004 eine merkwürdige Veränderung auf. Der Leitbegriff »Reform« tauchte nicht mehr auf, stattdessen fand sich für die zukünftige Militärpolitik die unspezifische Bezeichnung »Transformation«. Sie „bestimmt Denken, Ausbildung, Konzepte, Organisation und Ausrüstung, sie schafft etwas völlig Neues. Der Transformationsprozess bietet die Gelegenheit, die Bundeswehr durch innovative Lösungsansätze effizienter zu gestalten.“44

Die traditionalistische Kontinuität und Rechtslastigkeit.

Die innere Lage der Bundeswehr blieb von der Änderung des politischen Paradigmas der militärisch gestützten Außenpolitik nicht unberührt. Schon 1991 trat der Einschnitt markant hervor, als die Parole „Der Krieg ist der Ernstfall“ die neue Ausrichtung eingängig und symbolträchtig widerspiegelte. Da konnte man das Leitwort von Gustav Heinemann, der Frieden sei der Ernstfall, endlich umkehren: „Auf die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr hin ist also alles auszurichten, Ausbildung, Ausrüstung und Struktur. Ethos, Erziehung, Sinnvermittlung und Motivation müssen sie mit einschließen…“45 Ein Kämpferkult wurde geboren, ähnlich wie in den fünfziger Jahren kam wieder auf: „Kämpfen können und kämpfen wollen!“ 1994 wurde zu einem wichtigen Jahr der inneren Formierung der Bundeswehr. Die Abwicklung der NVA war praktisch abgeschlossen, die ausländischen Truppen aus Ost und West waren abgezogen, jetzt konnte militärische Souveränität erfahren werden. Die Armee suchte sich zu festigen, daher sollten störende Einflüsse fern gehalten werden. Das Heer schritt voran, dem Leitbild vom »Staatsbürger in Uniform« den Todesstoß zu geben. Pluralität im Militär und Integration in die Gesellschaft – die alten Ideale der »Inneren Führung« von Baudissin – wurden verfemt. In der Weisung zum Leitbild des Offiziers wurde erklärt, Militär und Gesellschaft seien unvereinbare Gegensätze. Sie hätten jeweils „unterschiedliche Werthierarchien, Leitbilder, Normen und Verhaltensweisen.“ Während hier die Verhältnisse der „freiheitlichen, pluralistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ gelten würden, stünden „dagegen“ auf militärischer Seite die Normen der „hierarchisch aufgebauten Armee“ mit ihrem Leitbild der „Ein- und Unterordnung.“46 Diese Weisung des damaligen Inspekteurs des Heeres und späteren Generalinspekteurs Bagger ging nach alter Weise von normativer Abkapselung und sozialer Abgeschlossenheit des Militärs aus – ein korporativer Körper sui generis.47

Der Leiter des Heeresamtes, Generalmajor Jürgen Reichardt, setzte noch eins drauf, als er 1998 die innere Ordnung nach dem NS-Prinzip der »Gefolgschaftstreue« formen wollte. Skurrile Extreme traten hervor, als dessen Dienststelle Publikationen förderte, in denen „Geist und Haltung der SS-Leibstandarte Adolf Hitler“ gelobt und ihr Kommandeur als tapferer vorbildlicher Offizier gefeiert wurde. Ein historischer Revisionismus machte rechte Traditionen zugänglich, das Erbe der Generale Halder und Seeckt wurde beschworen und „die gesamte Tradition des preußisch-deutschen Generalstabs für den Generalstabsdienst der Bundeswehr als verbindlich“ erklärt. Die Hardthöhe honorierte den traditionalistischen Autor und versetzte ihn an die Führungsakademie, zuständig für Ausbildung und Lehre; dann wurde ihm das Kommando einer Division übertragen.

Die Maximen dieser exklusiven militärischen Eigenwelt zeigten Wirkung. Einen ersten auffälligen Höhepunkt gab es 1997, als nach dem Bericht des Wehrbeauftragten 185 Fälle von Rechtsextremismus an 140 Standorten zu verzeichnen waren. Die Rechtslastigkeit und Auffassungen rechtsextremer Art nahmen gerade bei jüngeren Offizieren zu, bis zu 25 Prozent im Jahr 1999. Dazu hieß es: „Besondere Ausprägung erfahren nationalistisches und fremdendistanzierendes Gedankengut, Merkmale, die als die zentralen Dimensionen gerade auch für Rechtsextremismus gelten.“ Darüber hinaus fanden sich in dieser Gruppe, die Disziplin und Autorität sehr hoch achtete, politische Überzeugungen, die „bereits bestimmte Missachtungen der demokratischen Prinzipien und Regeln“ erkennen ließen.48 Die Übergriffe von Coesfeld im Jahr 2004 stehen für ähnliche Grenzüberschreitungen, hier als drakonische Schinderei nach 08/15-Manier. Wehrpflichtige wurden in Städtenahkampf und gemäß Folterexzessen aus dem Irak-Krieg geschult. Der Boden der Brutalität und Verrohung ermöglichte schlimme Verwerfungen verdrehter »kriegsnaher« Ausbildungsmaximen. In über 20 Kasernen zeigte sich ein düsteres Klima der organisierten Unterdrückung und zwangsweisen Einpassung in ein Kollektiv der Gewaltübung. Wie in der Mitte der neunziger Jahre war auch diese Affäre von entsprechenden Positionen aus der Generalität begleitet. Ein Heeresinspekteur versuchte 2004 die Vergangenheit revisionistisch zu interpretieren, sein Nachfolger begeisterte sich für »archaische Kämpfer« als Vorbild für den Kriegertyp der neuen Armee, andere Generale diffamierten das Leitbild der »Inneren Führung« als „unglückliche Konstruktion«. Der Kommandeur der Elitetruppe für Spezialeinsätze (KSK) knüpfte „wegen der besonderen soldatischen Elemente“ Traditionslinien zu den als Beste der Wehrmacht angesehenen Ritterkreuzträgern.49

Ein anderer Aspekt, der gerne übersehen wird, gibt wichtige Hinweise auf militärisch-gesellschaftliche Beziehungen. Dabei geht es um die Annahme, die Bundeswehr werde von der Gesellschaft als normal akzeptiert.50 Die Wehrpflicht ist das Beispiel. An ihr wird hauptsächlich festgehalten, um Zeit- und Berufssoldaten für die Bundeswehr zu rekrutieren. Die Zeichen der Ablehnung verweisen auf erhebliche Dissonanzen der jungen Generation zum Militär, werden aber von Politik und Militär bemäntelt. Seit Mitte der neunziger Jahre liegen signifikante statistische Daten vor: die Zahl der 135.000 Wehrpflichtigen war seitdem immer geringer als die der 146.000 Wehrdienstverweigerer (1994). Der Trend verfestigte sich weiter: 160.569 im Jahr 1995, sogar 189.644 im Jahr 2002. Bemerkenswert ist, dass in all den Jahren gleichermaßen einige tausend Soldaten und Reservisten – nachträglich – den Wehrdienst verweigerten. Nach eigenem Selbstverständnis müssten sie besser Kriegsdienstverweigerer genannt werden, weil sie gegen die Auslandseinsätze (Kosovo- und Irakkrieg) protestieren. Die Wehrpflicht lässt eine Erosion der gesellschaftlichen Legitimität der »Armee im Einsatz« erkennen.

Ein Milieu der militärischen Eigenwelt und kommunikativer Eigenheiten hat sich seit den neunziger Jahren in der Bundeswehr verfestigt. Die militärische Führung distanzierte sich von der Gesellschaft, aber zugleich auch von den Werten und den Zielen der Militärreform, die der Bundeswehr bei ihrer Gründung auf den Weg mitgegeben war.51 Das Konzept der »Inneren Führung«, orientiert an den Grundwerten der freiheitlichen Verfassung, wird formal insgesamt natürlich nicht bestritten. Äußerungen zur Geschichtspolitik und Weisungen aus der obersten Führungsetage haben allerdings eine enorme Deformation im Alltag des Militärs begünstigt. Am Vorabend der 50-Jahr-Feiern der Bundeswehr zeigten sich massiv »gegenkulturelle Tendenzen« mit Anzeichen einer militärischen Parallelkultur. Die Bundeswehr schottete sich allmählich von der Pluralität und Zivilität der Gesellschaft ab. Nimmt man Äußerungen der Militärelite zum Maßstab, waren es gerade herausgehobene wichtige Repräsentanten der Bundeswehr, welche die Eigenwertigkeit eines Denkens in »Sui-generis«-Kategorien untermauerten.

Die Leichtigkeit beim Umgehen mit der Gültigkeit des Rechts.

Schließlich wurde das rechtliche Fundament für internationale Einsätze der Bundeswehr gewendet. Dabei ist vorauszuschicken, dass kaum neue Rechtsmaterie der alten hinzugefügt wurde, sondern dass die Geltung gegebener nationaler und internationaler Rechtsnormen durch neue Interpretationen verändert wurde. Die Handlungsräume der Politik wurden erweitert. Auf der staatlichen Ebene hat das Grundgesetz an Verbindlichkeit verloren. Ihm liegt schon in der Präambel die große Idee zugrunde, der deutsche Staat werde dem Frieden der Welt dienen. Im Parlamentarischen Rat hatte der spätere Bundespräsident Heuss diese Ausrichtung der Verfassung mit der kriegerischen und militaristischen Vergangenheit begründet, die den »exzeptionellen Charakter« dieser friedensgebundenen Politik ausmache. Sie hatte jene »Kultur der Zurückhaltung« im Konsens der Gesellschaft ausgemacht, deutsches Militär werde niemals gegen einen anderen Staat eingesetzt. Dem entsprach, militärische Hilfs- und Schutzmissionen im Auftrag der Vereinten Nationen – die sogenannten Blauhelm-Einsätze – zu unterstützen. Das war früher selbstverständlich. In die »Militärpolitischen Grundlagen« vom Januar 1991, in denen weltweite Einsätze gemäß dem »erweiterten Sicherheitsbegriff« erstmals für möglich erklärt wurden, war entsprechend der Satz eingefügt: „Die Bundeswehr hat den Auftrag, im Zusammenwirken mit anderen staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräften Deutschlands… nach klarstellender Ergänzung des Grundgesetzes an kollektiven Einsätzen… teilzunehmen.“ Kampfeinsätze und die Entsendung »out of area« wurden damals von allen Parteien, außer von Teilen der CDU und dem Wehrpolitischen Arbeitskreis der CSU, abgelehnt. Die grundrechtliche Klärung fand nicht statt.

Statt einer Ergänzung des Grundgesetzes genügte vielen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. April 1994. Jener Teil des Urteils, der die deutsche Beteiligung an friedenssichernden UN-Operationen als verfassungsrechtlich legal feststellte, war erwartet worden. Doch dass den Militärbündnissen NATO und WEU die gleiche Völkerrechtsqualität wie der UNO – »ein System kollektiver Sicherheit« – zuerkannt wurde, führte zu Irritationen. Das Gericht legitimierte Einsätze im Auftrag der NATO oder WEU. Es definierte die Bündnisse um, erklärte die wörtliche Bindung der Verträge, welche die Zielsetzung der Verteidigung und die geographisch-regionale Reichweite festlegten, de facto für obsolet. Die Regierung nutze die nun gegebene »informelle Funktionserweiterung« des Völkerrechts, um qua Bündnis weltweit mit Militär zu handeln.52 Auf dieser Basis wurde der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr im Kosovo 1999 legitimiert.53

Der Tatbestand legaler Waffeneinsätze der Bundeswehr im Ausland und besonders »out of area«, also außerhalb des Bündnisgebietes, ist nach Geist und Wortlaut von Grundgesetz und Bündnisvertrag höchst problematisch. Allerdings wurde seit Beginn der neunziger Jahre die alte Eindeutigkeit unter Hinweis auf den »erweiterten Sicherheitsbegriff« aufgeweicht. Mit Bedacht schlugen Politiker und Militärs diesen Weg ein. Die Kritik, eine „verlotterte Politik“ mit einem „missbräuchlichen Verfassungsgebaren“ zu betreiben, scherte sie nicht.54 So erfolgte auf der Basis von Protokollen und Deklamationen nationaler und internationaler Gremien Schritt für Schritt eine Uminterpretation, bis nach einiger Zeit ein neues sicherheitspolitisches Selbstverständnis des Interventionismus entstanden war. Das geflügelte Wort des Ministers Struck, Deutschlands werde „am Hindukusch“ verteidigt, entspricht genau diesem Umgang mit der Rechtslage. So wurde das Völkerrecht transformiert. Die Stärke des Rechts wich dem Recht auf Stärke.55 Die Spannung der konkurrierenden Rechtsverständnisse besteht weiterhin fort.

Die Bundesregierung allerdings war bestrebt, die Schwächen der alten Legalität aufzuheben. Dazu diente der für diese Zwecke von deutscher Seite stark beeinflusste Entwurf der Europäischen Verfassung. In deren Text wurde eine breite Palette an Interventionen vorgestellt, die von humanitären Aufgaben, Rettungseinsätzen und Konfliktverhütung bis zu „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen“ und der „Bekämpfung des Terrorismus“ reicht.56 Die inhaltliche Übereinstimmung zwischen der NATO-Strategie, den Verteidigungspolitischen Richtlinien und der EU-Agenda ist kaum zufällig. Die Bedeutung für Deutschland liegt darin, dass diese europäische Beschlussebene die offene Flanke der völkerrechtlichen Legalisierung und Legitimierung militärischer Einsätze sichern würde. Die übergeordnete Dimension der EU-Verfassung könnte die heiklen Schwächen und Widersprüche der bestehenden Rechtslage der Entsendung »out-of-area« abmildern, wenn nicht aufheben.57 Das bestehende Völkerrecht gewänne mit dieser EU-Verfassung bzw. eines Sondervertrags mit diesen inhaltlichen Festlegungen eine neue Qualität, ohne dass die Sonderproblematik nach der unzweideutigen Geltung des Grundgesetzes mit seinem Friedensgebot damit gelöst wäre.58

Schließlich wurde das Thema des Einsatzes der Bundeswehr im Innern auf die Tagesordnung gesetzt. Im Januar 2003 bereits vernahm die erstaunte deutsche Öffentlichkeit, die Bundeswehr müsse zum Schutz von Personen und Objekten vor terroristischen Bedrohungen im Innern eingesetzt werden können. Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident, und Wolfgang Schäuble, damals Bundestagsabgeordneter, forderten dafür eine Änderung des Grundgesetzes.59 Beide bildeten die Speerspitze einer Lobby, um – in der Zeit der Fertigstellung der Verteidigungspolitischen Richtlinien des Ministers Struck – die Aufgaben der Bundeswehr auszuweiten. Sie hatten Erfolg. Erstmals erhielt die Bundeswehr im Mai 2003 den Auftrag, sich auf Einsätze im Innern vorzubereiten: „Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption.“ (Ziffer 80) Die »zahlreichen« Aufgaben sind nicht einzeln, enumerativ fest gehalten sondern pauschal unter Schutz der „Bevölkerung“ und der „lebenswichtigen Infrastruktur des Landes“ vor Terrorismus und „asymmetrischen Bedrohungen“ subsumiert. Die Einsatzoptionen gelten „immer dann«, wenn „nur“ die Bundeswehr über die „erforderlichen Fähigkeiten“ verfügt.

Das ist die Lage gemäß diesem administrativen und nicht parlamentarischen Akt, dem Erlass von Minister Struck. In historischer Perspektive ist ein qualitativer Punkt – das Tabu der Nachkriegsgeschichte -außer Kraft gesetzt, das Militär nicht im Innern einzusetzen. Welche dienstrechtlichen Konsequenzen sich daran fügen und welche gesellschaftlichen oder politischen Umstände für die Einsätze konkret gemeint sind, bleibt bei diesen diffusen amtlichen Worten offen. Doch damit nicht genug. Kaum war Schäuble im Herbst 2005 zum Innenminister ernannt, setzte er den Einsatz der Bundeswehr anlässlich der Fußballweltmeisterschaft auf die innenpolitische Agenda.60 Er erwies sich als treibende Kraft, für diesen Zweck das Grundgesetz zu ändern. Flankiert wurden diese Initiativen durch das Konzept, eine »sicherheitspolitische Dienstpflicht« als Teil eines erweiterten innenpolitischen Sicherheitsbegriffs durchzusetzen.61 Stoiber hatte sich in einem entsprechenden Gesetzentwurf bereits 2004 dafür eingesetzt. Seit der Bildung der Großen Koalition wurde dann pausenlos, pragmatisch und scheibchenweise dieses Ziel propagiert. Nach den Planungen des Verteidigungsministeriums sollen mindestens 7.000 Soldaten – Sanitäts- und Küchenpersonal mit »zivilen« Hilfsdiensten, aber auch militärische Spezialkräfte zum Schutz vor biologischen und chemischen Kampfstoffen – eingesetzt werden.62 Das Projekt – Einsatz des Militärs im Innern – wird vorbereitet. Bereits im Jahr 1993 hatte sich Schäuble, damals Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien im Bundestag, in einem Brief an die Fraktionsabgeordneten gewandt. Darin waren diese Ziele schon aufgeführt. Wegen „weltweiter Wanderungsbewegungen und internationalem Terrorismus“ würden die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit „verwischen“ ; daher müssten die „perfektionistischen Beschränkungen“ des Grundgesetzes aufgehoben werden.63 Da Struck als Minister einen entsprechenden Auftrag der Bundeswehr bereits 2003 erteilt hat, wird die SPD unter seinem Fraktionsvorsitz die entsprechenden Pläne der CDU/CSU kaum verhindern wollen, sondern gewiss mittragen.

Der Paradigmenwechsel des Auftrags der Bundeswehr nach 1990 ist gravierend. Innen- und außenpolitisch wurden die Grenzen erweitert, die einem geziemenden Machtbegriff Geltung verschafften. Nachdenkenswert ist, dass die Erfahrungen der deutschen Geschichte in ihrem normativen Gehalt nun so verstanden werden, dass das Militär als politisches Instrument offenbar einen anstrebenswerten, hohen Stellenwert gewonnen hat. Ein nationales Verständnis von Staat, Politik und Macht hat den Wandel bestimmt. Die Lehre von 1990 scheint zu sein, die deutsche Macht der Berliner Republik im Bewusstsein souveränen Handelns auszugestalten.

Deutsche Orientierung an einer militärgestützten Politik

Die Bonner Republik wurde mit Militär begründet. Die 1955 erlangte Staatlichkeit war direkt an die »Wiederbewaffnung« gekoppelt. Auch die zeitgleich konzipierte Atombewaffnung hatte im Verständnis des ersten Bundeskanzlers außergewöhnliche Bedeutung für das internationale Prestige dieses Landes – nach Westen wie nach Osten. Unter allen Kanzlern wurde der nationale Status auf militärische Potentiale gegründet. Kanzler Adenauer folgte als Realpolitiker den Spuren eines Bismarckschen Staatskonzepts, das sogar Kanzler Brandt in seiner Vision der Entspannungspolitik nicht aus den Augen verlor, sondern mit der Devise höherer Aufwendungen für die Sicherheit eine neue internationale Stabilität ausbalancierte. Der Kalte Krieg selbst war von Beginn an bis zu den neunziger Jahren eine Phase der Hochrüstung, nur vergleichbar mit der aus der Geschichte bekannten Zeitspanne, in Hochspannungszeiten Armeen für den Einsatz zu mobilisieren. Im Kalten Krieg war dies der permanente Zustand.

Die Aufwendungen für die Bundeswehr wurden damit begründet, dass Deutschland am intensivsten von einem expansiven Osten bedroht sei, da es sich im Schnittpunkt der antagonistischen Bedrohung in Europa entlang der Grenze an der Elbe befand. Deutsche Politik aus Bonn war daher von Beginn an eine Politik, die sich am simplifizierenden Actio-reactio-Schema orientierte. Der Begriff der »Kultur der Zurückhaltung« würde falsch verstanden und zu einem Friedensmythos verklärt, wenn der hohe Grad an militärgestützter Außenpolitik übersehen würde; Zurückhaltung meint im Kern nur, dass eigenständige deutsche Militärpolitik nicht zugestanden war. Auch wenn kein ernster Konflikt einen Militäreinsatz im Rahmen der Verteidigung erzwungen hat, hatte das Militär in der gesamten Epoche der Bonner Republik für die Handlungsfähigkeit nach außen einen sehr hohen Stellenwert. Das entsprach dem machtdefinierten Denken seit Moltke, den Staat durch Hochrüstung im Frieden zu sichern, um so abzuschrecken.

Die Demokratisierung des Militärs erfolgte in den ersten beiden Jahrzehnten nur rudimentär, weitgehend formalistisch. Sie wurde der Effizienz und Funktionalität untergeordnet. Die Militärpolitik entschied sich für das Vorbild der Wehrmacht als vorbildliche Tradition, nicht nur de facto sondern ausdrücklich mitgetragen von den Bedenken mancher Politiker wie Strauß. Das erklärt die Leichtigkeit, wie in Strategie oder Tradition, in Ausbildung oder Auftreten restaurative Prinzipien die modernisierte »neue Wehrmacht« prägten. Ein eigentümlich vermengtes Milieu aus Facetten militaristischer Haltungen und in Maßen antidemokratischer bzw. antipluralistischer Einsprengsel entstand und führte dazu, dass entsprechende inhaltliche Diskrepanzen zwischen Traditionalismus und Reformorientierung die Bundeswehr in all den fünfzig Jahren ihrer Existenz begleiteten. Diese »Frontstellung«, wie Baudissin früh erkannte, darf nicht mit der Antinomie von konservativ versus liberal missverstanden werden, da es sich um gegensätzliche Militärkonzepte handelt. Diese Ambivalenz belastete die Militärgeschichte seit dem geheimen, dem Parlament unbekannten Gründungsplan (aus Himmerod) von 1950, der schon im Amt Blank zur Folie der Entscheidungen wurde.

Das Jahr 1990 markiert tatsächlich einen Wendepunkt in der Militärpolitik. Das alte, von den Alliierten im wesentlichen vorgegebene und mitbestimmte Paradigma hat seine Relevanz verloren. »National« und »staatlich« wurden mit erweiterten, auch traditionellen Inhalten gefüllt. Die Bundeswehr hat einen gewandelten und politisch expliziten Status erhalten. In einem internationalen Geflecht zwischen Washington, Brüssel und Bonn wurde das vorbereitete geopolitische Interventionskonzept des »erweiterten Sicherheitsbegriffs« gleich nach der Einigung präsentiert. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat diesen Wandel mitgetragen – ein anderer Teil hat Protest und Widerstehen deutlicher entwickelt, wie beispielsweise die Daten der Kriegsdienstverweigerung anzeigen. Die Akzeptanz der Einsätze »out of area« hat die Kritiker der militärgestützten Außenpolitik erstaunt; sie mussten feststellen, dass sich „die Militarisierung schon zu stark in allen gesellschaftlichen Bereichen festgesetzt“ hätte.64 Der »Umbau« der Bundeswehr der Berliner Republik ist unter größten Mühen und mit vielfachen Kontroversen vollzogen worden. Die Führung versuchte ihre Interessen mit hergebrachten Konzepten durchzusetzen, Konsens und Konsolidierung mit Hilfe von sozialer Anpassung und persönlicher Disziplinierung zu erzwingen. Das Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« verlor dabei nicht nur an Bedeutung, sondern es wurde in Wort und Schrift von Vertretern der Generalität bekämpft und an den Rand geschoben. Dabei wurde öffentlichen Initiativen und Anstößen aus der Zivilgesellschaft, militaristisch belastete Traditionsnamen aus den Kasernen zu tilgen (wie im Februar 2006 in Fürstenfeldbruck), in Maßen statt gegeben, aber zeitgleich wurde eine traditionalistische Vergangenheits- und Traditionspolitik sowie die legendengleiche Glättung der Bundeswehrgeschichte der frühen Jahre verfolgt. Diese leistete vielen rechten und rechtslastigen Ereignissen und Machtfantasien Vorschub. Ein militärisches Milieu hat sich ausgebreitet, zu dem es passt, dass – als folkloristisches Apercu – im Jubiläumsjahr 2005 das Degen tragen für Offiziere gefordert wurde.

Von anderer Qualität ist die seit einem Jahrzehnt vorgetragene Politik, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. In kleinen Etappen vorbereitet – schon seit 1994 von dem Fraktionsvorsitzenden der CDU, Wolfgang Schäuble, angestrebt und nun vom Innenminister Schäuble betrieben -, soll die Fußballweltmeisterschaft 2006 genutzt werden, um solche Sicherheitsbedürfnisse plausibel erscheinen zu lassen. Auf diesem Wege wird das Paradigma der Sicherheitspolitik der Berliner Republik nachhaltig neu bestimmt. Die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – der Slogan des Kaiserreichs: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!“ – werden die Politik wohl nicht zögern lassen, dieses Tabu der Bonner Republik zu brechen. Kennzeichen der neuen Politik der Berliner Republik, Auftrag und Struktur der Bundeswehr zu transformieren, ist nach innen und nach außen eine schleichende Militarisierung.

Politik gegen die Demokratisierung der Bundeswehr

Restaurativer Traditionalismus in der Bonner Republik

Die Neugründung der beiden deutschen Staaten war in Ost und West mit der Kernfrage verbunden, in wie weit mit dem freiheitlichen Neuanfang eine Abkehr von Nationalsozialismus und Militarismus vollzogen wurde. Das Kriegsende leitete die Wende ein. Die totale Kapitulation der Wehrmacht und das Ende des NS-Regimes gaben den Anstoß. Das Jahr 1945 wies dem Militär im Unterschied zu anderen staatlichen Institutionen am ehesten die Richtung, einen Neubeginn zu wagen. Eine »Stunde Null« war gegeben, Fakten waren geschaffen. Zu den Fakten zählte die Entscheidung des Alliierten Kontrollrates vom 2. August 1945, im Vollzug der Potsdamer Beschlüsse der Siegermächte alle militärischen Einrichtungen der Wehrmacht – »völlig und endgültig« – aufzulösen und ihre Einrichtungen ein für alle Male auszulöschen. Die internationale Entscheidung zerschlug ex negativo die militärischen Strukturen deutscher Machtpotentiale. Begründet wurde dies historisch damit, dass von dort – dem »Hort des Militarismus« – ein Jahrhundert lang der Frieden in Europa bedroht worden war. Dieser Typ eines historischen Sonderweges sollte für alle Zukunft ausgeschlossen sein. In einem ersten Schritt wurde die Wehrmacht aufgelöst. Im Begriff der »Stunde Null« war damit zugleich der zweite Schritt verbunden, die eigene Vergangenheit, den Militarismus und die NS-Militärpolitik der Wehrmacht in Krieg und Besatzung zu reflektieren – eine »Stunde Null« der historisch-politischen Besinnung. Umkehr war das Gebot.

Zukunft und Format jedes Militärs in Deutschland sollten grundsätzlich auf ein neues Fundament gestellt werden. Die Besinnung verlangte die Orientierung an den Wertvorstellungen von Demokratie und Republik. Die Abkehr vom Militarismus der Geschichte fußte auf der Ethik des politischen Handelns. Eine militärische Restauration durfte im Militär der Nachkriegszeit keinen Platz haben. Mit dieser Einschätzung der Völkergemeinschaft korrespondierte auf deutscher Seite die Haltung vieler, denen Friedrich Meinecke Ausdruck mit dem Wort verlieh, die deutsche Katastrophe verlange einen „radikalen Bruch mit unserer militärischen Vergangenheit«.1 Dies bekräftigte Gerhard Ritter auf dem Historikertag 1953, als er im Vergleich mit dem preußisch-deutschen Militarismus des 19. Jahrhunderts feststellte, die Wehrmacht habe den extremsten Militarismus der deutschen Geschichte – „niemals ist die Militarisierung alles Lebens so radikal durchgeführt“ worden – verkörpert.2 Damit richtete er den Blick auf die Rolle des Militärs in der Innenpolitik, der sich ebenso der Sozialwissenschaftler Leopold von Wiese widmete. Unübertroffen deutete auch Hans Herzfeld die »Selbstgesetzlichkeit« des Militärischen im NS-System als politisches Konzept der Radikalisierung des modernen Militarismus.3

Die »Stunde Null« schloss daher dem Sinn nach nicht das Militär an sich aus, sondern verlangte insbesondere die Abkehr von allen Übersteigerungen des Militärischen. Als daher seit 1950 die Aufstellung von Streitkräften mit der durch Besatzungsstatut reglementierten Bonner Regierung politisch verhandelt wurde, gaben die Alliierten in Konsequenz der Potsdamer Beschlüsse dieses Militär nicht unter alleinige deutsche Verfügungsgewalt. Einsatzleitung und Rüstungskontrolle der Bundeswehr wurden an NATO und WEU übertragen. Jede eigenständige Aktion nach außen wurde strukturell unterbunden und daher die Bundeswehr international vollständig integriert. Nach innen jedoch hatte die politische und militärische Spitze der Bundeswehr die Zuständigkeit, die Verhältnisse nach eigener Maßgabe zu regulieren und die Vergangenheits- und Traditionspolitik zu bestimmen.4 Daher entstand das Problem, dass über Jahrzehnte von relevanten Vertretern der Bundeswehr Traditionslinien zum Militarismus aufgebaut wurden. Um solche Beispiele geht es hier.

Die Militärpolitik des Traditionalismus

Um sich dem Thema angemessen nähern zu können, ist zur notwendigen Abgrenzung voraus zu schicken, dass nach dem Krieg in der jungen Bundesrepublik der Militarismus im allgemeinen keine Akzeptanz genoss; vielmehr war das Wort des damaligen Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, verbreitet: „Der Militarismus ist tot.“ Dennoch findet sich das Phänomen – im Begriff der »Wieder-Bewaffnung » zufällig zu erkennen -, dass einzelne Faktoren und Elemente aus militaristischen Zeiten aufgegriffen und für die Gestaltung der Entwicklung der Bundeswehr genutzt wurden, ohne in notwendiger Weise kritisch das Vergangene zu prüfen, ob es mit den Grundwerten der jungen Bundesrepublik ausreichend übereinstimme. So wurde die Militärpolitik des Generals Hans von Seeckt beim Aufbau der Streitkräfte hoch geschätzt. Da schien die politische Brisanz nur am Rande eine Rolle zu spielen, dass er in der Weimarer Republik für die antidemokratische Politik des Militärs vom »Staat im Staate« große Verantwortung trug. Unter dieser Perspektive hätte ein Seeckt niemals ein Vorbild für die Bundeswehr sein können. In diesem Beispiel wird eine militärinterne Vergangenheitspolitik des Traditionalismus erkennbar, die nicht im Einklang mit den Grundwerten der Verfassung steht. Gerade sie hatte eine geschichtsklitternde Schlagseite, die restaurative Elemente aus den Epochen des Militarismus in die Innenpolitik der jungen Republik holte.

In diesem Beitrag wird besonders dieser Vergangenheitspolitik des Militärs der Bonner Republik Aufmerksamkeit geschenkt. An drei Beispielen aus den Jahren 1950/55, 1969 und 1982 wird aufgezeigt, wie restaurative Kontinuitäten von Vertretern des militärpolitischen Traditionalismus hergestellt und vertreten wurden. Die gewählten Beispiele illustrieren Initiativen aus der Militärelite, die mit einigem Erfolg wirkungsvoll ihre Interessen, ihre Programme und Konzepte voran brachte. Die Wege und Initiativen, diese anlässlich politischer Ereignisse in der Bundeswehr zu realisieren, verweisen auf jeweils einzigartige Situationen, mit eigenem Gewicht und gemäß der jeweiligen politischen Konstellation selbständig darzustellen. In diesem Beitrag können sie nur mit ein paar Strichen gezeichnet werden. Zugleich bieten diese drei typischen Beispiele traditionalistischer Politik einen eigentümlichen Zusammenhang; in ihrer Abfolge beziehen sie sich auch bemerkenswert auf einander.

Der ehemalige Offizier der Wehrmacht und General der Bundeswehr, Gerd Schmückle, hat den Begriff Traditionalismus eingeführt, um die Gegenposition zur Reform der »Inneren Führung« zu kennzeichnen.5 Man kann darüber streiten, ob »Traditionalismus« glücklich gewählt ist, doch er hat sich eingebürgert und bezeichnet treffend einige charakteristische Merkmale einer Militärpolitik, die im direkten Rückgriff auf historische Vorbilder die Ausrichtung der Bundeswehr zu konstruieren sucht – vom Soldatenbild bis zu operativen Maximen.6 Der Traditionalismus ist inhaltlich umfassend angelegt und bezieht sich auf mehrere Ebenen der Militärpolitik: in Distanz zur pluralistischen Gesellschaft strebt er nach einer einheitlichen Eigenwelt des Militärs, indem Anpassung und Unterordnung, Stärke und Disziplin im Innern betont werden; das zielt auf personelle Homogenisierung und politisch-korporative Geschlossenheit. Dazu werden historische Verhältnisse verharmlost und vor allem von ihren politischen und gesellschaftlichen Belastungen befreit, um so benennbare Faktoren aus Zeiten des Militarismus und des Untertanenstaates in »sauberer« Form zum Vorbild zu nehmen. Das findet sich in der Bundeswehr beispielsweise bei der sozialen Protektion in der Personalpolitik, der institutionellen Stellung des Militärs im System der politischen Repräsentanz oder der Ausrichtung der Ausbildung gemäß einem Sui-generis-Denken usw. Solche Ausprägungen aber stehen mit der Wertordnung des Grundgesetzes in Konflikt bzw. sind damit grundsätzlich nicht vereinbar. Sie unterminieren wenigstens die Zielsetzungen der aufgeklärten politischen Kultur der freiheitlichen Grundordnung dieser Republik, gerade weil immer wieder Facetten des Alten vom Traditionalismus in der Bundeswehr rekultiviert und reaktiviert wurden. Wenn man erinnert, dass 1945 eine Abkehr von denjenigen Symbolen, Denkfiguren und Institutionen geklärt war, die den Militarismus genährt hatten, ist es brisant, dass Einzelfaktoren des Militarismus erneut Einfluss gewannen. Auch der große Reformer der Bundeswehr, Wolf Graf von Baudissin, erfuhr den Kampf des Traditionalismus gegen die demokratische Reformpolitik und bezeichnete ihn als tatsächlich bedrohliche „wirklichkeitsfremde, gefährliche Ideologie«.7

Der Traditionalismus der Bundeswehr hat einen doppelten Bezug zur innenpolitischen Dimension des Militarismus. Zum einen handelt es sich um die zivil-militärischen Beziehungen, also um die Entwicklung des militärischen Milieus nach der Art des Sui-generis-Denkens mit der Ideologie der sozialen Abkapselung sowie der pluralistischen Vorbehalte. In Summe zielen sie auf gegenkulturelle Entwicklungen im Militär. Diese Faktoren des Militarismus der Geschichte werden auch als „Belastung des sozialen Lebens“ bezeichnet.8 Dem »Militarismus als Verfassungsproblem«, die andere Seite des innenpolitischen Militarismus, sollte in der Bonner Republik der Boden entzogen sein. Die Bundeswehr wurde strikt in das parlamentarische Regierungssystem eingebunden, wie es sich im Grundgesetz in Verbindung mit der »Wehrgesetzgebung« von 1954 bis 1957 manifestiert. Die legalistisch angelegte Reform und die Verankerungen im System der Bundesorgane begründeten den Neuanfang, gewiss eine Lehre aus der Geschichte. Die Dominanz des Militärischen im Kaiserreich und im NS-System, aber auch in der Weimarer Republik, als die Reichswehr sich eine Eigenständigkeit – »Staat im Staate« – reservieren konnte, sollte endgültig vorüber sein. Die Geschichte der Bundeswehr zeigt, dass der Traditionalismus sich mit dem Reformentwurf des Militärs der Bundesrepublik nicht abfinden konnte.

Das Beispiel von 1950: die Himmeroder Denkschrift

Die Geschichte der Bundeswehr fängt mit der Geheimplanung vom Oktober 1950 an, als die Himmeroder Denkschrift verfasst wurde. Sie gilt als die »Magna Charta« der »neuen Wehrmacht« der Bonner Republik und ist doch das erste Dokument des Traditionalismus. Wie selbstverständlich stellte man sich in die Kontinuität zur Wehrmacht. Die Vergangenheit wurde politisch von allen Verbrechen im Nationalsozialismus gesäubert, im Weltkrieg schienen vermeintlich ewig gültige militärische Tugenden erfahrbar. So konstruierte man das Bild des Militärs der Zukunft und fixierte Militärstruktur, operative Maximen und auch das Soldatenbild normativ an einer künstlichen und idealisierten Vergangenheit. Nicht bloß die entsprechenden, zum Teil schwülstigen und abgehobenen Formulierungen über „Ehre«, den „Wehrwillen des Volkes“ oder die „Rehabilitierung der Wehrmacht“ verweisen auf die ideologischen Aspekte, sondern die Tatsache, dass es diesem Denken an der Unterscheidung von Militär und Militarismus in der deutschen Geschichte mangelte. Dafür war gerade Hermann Foertsch, jener prominente NS-General, verantwortlich, da er sein Bild des »inneren Gefüges« von 1942 von der alten auf die »neue Wehrmacht« übertrug. Trotz solcher Zeugnisse wird Himmerod als »Gründungskompromiss« der Bundeswehr gefeiert. Dieses Wort verfälscht Geschichte und dient dazu, die Gründungslegende des demokratischen Anfangs zu konstruieren, obwohl der Geist der Uneinsichtigen offensichtlich war: „Die Denkkategorien und Sprachfiguren (…) entstammen fast ausschließlich der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Zweiten Weltkriegs.“9

Die wenigen Reformsätze in der Himmeroder Denkschrift stammten ausschließlich von Baudissin. Er konnte Kernaussagen zur Geltung der rechtsstaatlichen, freiheitlichen und pluralistischen Grundwerte der Verfassung im Militär formulieren. Sie waren marginale Einsprengsel, von denen aus Baudissin mit langem Atem das Konzept der Militärreform mit dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« entwickelte und dafür in Politik, Parlament und Gesellschaft kämpfte.10 Er und seine Mitstreiter waren schon im Amt Blank praktisch isoliert; die Papiere wurden gefiltert und kontrolliert.11 Nicht alle Mitarbeiter seines Arbeitsstabes waren auch Mitstreiter. Heinz Karst, der Arbeitsgruppe »Inneres Gefüge« zugeordnet, ist ein Beispiel dafür. Im August 1955 inszenierte er einen Eklat: In Abwesenheit von Baudissin legte er anlässlich der Beratung der Wehrgesetze im Bundestag eine Denkschrift – »Karstiade« genannt – vor, in der er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen im Namen der »Gruppe Innere Führung« für die Position der Traditionalisten eintrat. Dabei wandte er sich „entschieden gegen jeden Zivilkult“ im Militär. Der Primat ziviler und parlamentarischer Politiker vor den Militärs werde „bei den Soldaten nur als Diffamierung ausgelegt.“ Karsts Distanz zur »Inneren Führung« erleichterte es ihm, Baudissin persönlich zu provozieren. Die »Karstiade« war im Kern ein politisches Pamphlet gegen den demokratischen Neubeginn, der, als „eisiges Misstrauen“ des Parlaments gegen Soldaten bezeichnet, auf wenig Zustimmung stieß. Der Vorrang der Zivilisten“ – gemeint waren Minister und Staatssekretäre, aber auch die Existenz von »zivilen« Abteilungen im Ministerium – vor der Generalität sei untragbar, die Streitkräfte bedürften eines „wachsamen Vertrauens“ statt „misstrauischer Kontrollen“ von Parlament und Öffentlichkeit. Karst wies darauf hin, dass der „bei Fortgang dieser Entwicklung“ der „sicherste Weg (sei, um) Militarismus herbeizuführen und damit die Demokratie wirklich zu gefährden«.12

Der politische Skandal der »Karstiade« lag, auf den Punkt gebracht, darin dass er während des Gesetzgebungsverfahrens eine machtpolitische Revision forderte. Der Primat der Politik sollte zugunsten des Militärs aufgegeben werden. Die „Rechtmäßigkeit eines zivil-ministerialen Kontrollrechts über das Militär“ wurde in Frage gestellt.13 Karst fand den Beifall der Kameraden und im Ministerium, da er dem verbreiteten Traditionalismus öffentlich Ausdruck verlieh. Es war eine Affäre ersten Ranges, dass er, ein Mitarbeiter Baudissins, den politischen Rahmen der Militärreform leugnete. Die Geschichte der »Inneren Führung« ist daher im Anfang eine Geschichte der Distanzierung, eine Geschichte der Diffamierung und des Defizits. Damit übertraf das Militär das allgemeine Klima der Ära Adenauer, das schon durch eine dezidierte revisionistische Vergangenheitspolitik auffiel.14 Militärreform und Traditionalismus standen kontrovers einander gegenüber; sie bildeten zwei „Fronten, die sich in der einen oder anderen Form“ dauerhaft politisch durchsetzten und dazu beitrugen, die Bundeswehr immer wieder zwiespältig, grau changierend zu kennzeichnen.15

Der Anfangserfolg des Traditionalismus hatte gravierende Auswirkungen. Der innere Aufbau der Bundeswehr folgte restaurativen und sogar reaktionären Leitbildern. Die Ausbildung im Heer etwa verwirklichte das Modell der frühen dreißiger Jahre; die Führungsakademie orientierte sich an der Ausbildung zum Generalstab von 1936.16 Die soziale Rekrutierung folgte dem Vorbild der Reichswehr, die eigentlich das Ideal des Kaiserreichs von 1890 angestrebt hatte.17 Als 1966 die Gewerkschaften erstmals in Kasernen werben durften, traten Generäle aus Protest zurück; als 1969 der General der Gebirgsjäger und stellvertretende Inspekteur des Heeres, Hellmut Grashey, den Offizieren des 20. Juli die Ehre absprach, erfuhr er an der Führungsakademie Beifall; als dann General Schnez, Inspekteur des Heeres, im Einklang mit der obersten Führung in der Geheimstudie die Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach militärischem Vorbild einklagte, zeigte sich das traditionalistische Substrat des Sui-generis-Denkens in aller Klarheit.18Das Desaster nach zwanzig Jahren Militäraufbau der Bonner Republik war erschreckend: Generale der Gründungszeit – sowohl die nationalkonservativen Hans Speidel und Adolf Heusinger als auch der liberale Baudissin – stimmten darin überein, die Reform des Militärs sei in der Bonner Republik gescheitert.19

Das Beispiel von 1969: Das Papier der Hauptleute von Unna

In der historischen Situation, als die Ära Brandt mit Reformen im Innern und mit der Öffnung nach Osten durch die Entspannungspolitik Bewegung in die erstarrten Verhältnisse der Ära Adenauer brachte, schlug auch für die Bundeswehr die Stunde vertiefter demokratischer Reformen.20 Politisch hatte der gerade gewählte Bundespräsident Gustav Heinemann mit seinem Wort: „Der Frieden ist der Ernstfall“ aufmerken lassen. In konservativen Kreisen erzeugte dies eine Welle der Empörung. Die oberste militärische Führung, die mit der Studie des Inspekteurs des Heeres, Albert Schnez, im Sommer 1969 noch geglaubt hatte, eine zivil-militärische Plattform traditionalistischen Gedankenguts geschaffen zu haben, war angesichts der epochalen Wende alarmiert. Die »Schnez-Studie«, die ein Grundsatzdokument des eigenen Selbstverständnisses und der zukünftigen Militärpolitik sein sollte, stieß auf heftige Kritik; sie musste dann unter diesem Druck praktisch aus dem Verkehr gezogen werden. Auf jeden Fall war sie diskreditiert.

Die »Alten« lancierten deshalb ein Nachfolgepapier. Gegen den Wechsel in der Regierung gingen sie in die Offensive. Das Ziel war, die Reformen des Ministers Helmut Schmidt zu verhindern. Dessen Politik empfanden sie als unvereinbar mit ihrem Profil und sie nahmen sie wie einen Fehdehandschuh auf. Auf der Hardthöhe hatten sich viele prominente Traditionalisten eingenistet; Karst konnte sich eloquent als Sprachrohr nach vorne spielen. Gerade hatte er seine Bekenntnisse zum Militär der Zukunft publiziert und das bislang umgehängte Mäntelchen des Mitstreiters der »Inneren Führung« abgestreift und bekannt, „Freiheit und Demokratie sind keine letzten Werte.“21 Im Frühjahr 1969 prahlte er, die »Innere Führung« sei auf „den Klippen“ zerschellt, „weil sie letztlich ein Widerspruch in sich selbst war, da sie eine unsoldatische Armee konstruieren wollte.“22 In Augustdorf und Detmold besprachen die Generale das Vorgehen; Karst, der General für Erziehung und Bildung im Heer, übernahm für das neue Papier die Aufgabe, „die Passagen, die die politischen Äußerungen beinhalten,“ zu formulieren.23 Inhaltlich wurde geklotzt und – taktisch raffiniert – ein gröberer Aufguss der »Schnez-Studie« gefertigt. Ein anderer Beteiligter an der »Schnez-Studie«, der Kommandeur der Division in Unna, stand für die praktische Vernunft. Er, General Eike Middeldorf, gab dann im Kommandostab in Unna seinen Hauptleuten den Auftrag, als aktive Offiziere der Panzertruppe eine Kritik der Unzulänglichkeiten der militärischen Praxis für diese Denkschrift aufzuschreiben. Das »Unna-Papier« fokussierte diese verschiedenen Autoren und Interessen zu einem eminent politischen Gegenentwurf, um gegen die »linke« Politik des zu dem Zeitpunkt gerade designierten Ministers Front zu machen.24 Dabei wurde die Legalität der Regierung gegen die Legitimität der Praktiker gestellt. Jedes Vertrauen zu dieser Politik sei geschwunden. Die Reformpolitik wurde in Seecktscher Manier – ein historisch schwerwiegender Vorgang – als „Politisierung der Armee“ abgelehnt. Heftiger noch wurde die Ost- und Entspannungspolitik attackiert, da sie die „Verharmlosung der wahren Zielsetzung“ der sowjetischen Politik betriebe. Entspannung gefährde die Existenz der Bundeswehr und bilde „die Gefahr für Geist, Gefüge und Bestand der Armee.“ Der Primat der Politik wurde abgelehnt, aber auch die sozialliberale Regierung wegen der anvisierten Reformen nicht akzeptiert. In kaum kaschierter Form wurden die Vorbehalte des Traditionalismus gegenüber Parlament und Demokratie herausgestellt.

Konsequenzen wurden gefordert. Erst einmal sollte die politische Leitung im Ministerium boykottiert werden. Kooperation mit ihr war unzulässig. Das Verbot sollte die Besprechungen und Beziehungen der Generalität auf der Hardthöhe treffen. Das »Unna-Papier« ging aufs Ganze: „Das Eigengewicht militärischer Entscheidung darf nicht durch opportunistische Haltung und eine zunehmend politische Hörigkeit militärischer Führer gefährdet werden…“ Es ist schon wert, diese Worte aus der Feder von Generälen ernst zu nehmen und im Licht der Loyalität des Generalinspekteurs de Maizière und weiterer Generäle zur neuen Regierung zu betrachten: sie seien opportunistisch und hörig. Sie wurden desavouiert, ja wohl auch diffamiert.

Die Formulierungen dieser Passagen des »Unna-Papiers« enthalten den grundsätzlichen Anspruch des Militärs nach mehr Macht im Staate. Die schwersten Geschütze zielten auf den Primat von Parlament und Politik. Die „Verantwortung vor Staat und Auftrag“ des Militärs begründe „das Eigengewicht militärischer Entscheidung.“ Mit der Forderung nach einem höheren Status der militärischen Repräsentanten in Staat und Gesellschaft griff das »Unna-Papier« Ansprüche auf, die schon vom ehemaligen Generalinspekteur Heinz Trettner und von Inspekteur Schnez erhoben worden waren. Die Balance im Regierungssystem sollte deutlich zugunsten von mehr »Eigengewicht« für das Militär verändert werden. Das »Unna-Papier« wollte zumindest die politische Parität: einen »gleichberechtigten Dialog« zwischen Militär und Politik. Nach traditionalistischem Politikbegriff konnte der Primat der Politik in der Auslegung des Grundgesetzes nicht akzeptiert werden.

Das mentale und ideologische Muster des Sui-generis-Denkens wurde im »Unna-Papier« voll abgedeckt: der Soldat sei „in erster Linie Kämpfer«, daher müsse alles der „Schaffung kampfkräftiger Verbände“ dienen. Die „Erziehung des Soldaten“ sei auf den „Kampfwert des Soldaten“ auszurichten. Dem habe sich die „Integration in die Gesellschaft“ ebenso wie die »Innere Führung« unterzuordnen. Daher fanden „die gesamten Reformpläne“ der Bundesregierung nur Ablehnung, vor allem die Reform des Bildungssystems. Stattdessen müsse militärische Erziehung Härte und Kampf vermitteln, im Gefechtsdrill sei das wichtigste »Disziplinierungsmittel« des Soldaten zu sehen. Der Vorgesetzte benötige größere dienstliche Macht, er müsse Arreststrafen ohne richterliche Zustimmung, einschließlich »verschärften Arrests« verfügen können. Da dem die rechtsstaatliche Geltung des Grundgesetzes entgegenstehe, müsse eine eigenständige »Wehrjustiz« wieder eingeführt werden, damit schlussendlich „wieder ein frisch-fröhlicher Geist in die Truppe kommt.“ Weiter sollten die individuellen Grundrechte aufgehoben und die Zuständigkeiten des Wehrbeauftragten beschnitten werden. Im »Unna-Papier« fehlte keine Forderung nach einem genuinen militärischen Milieu. Das traditionalistische Credo aus Weimarer Zeiten tauchte wie selbstverständlich im Fazit des »Unna-Papiers« auf: „In dieser Form ist »Demokratisierung der Armee« nicht nur unangebracht, sondern schädlich.“

Erste Entwürfe und Passagen des »Unna-Papiers« kursierten schnell auf den Etagen der Hardthöhe. Sie boten die Sprachregelung für die so genannte sachliche Auseinandersetzung mit der neuen Reformpolitik. Die Vehemenz des restaurativen Umbruchs und des politischen Anspruchs in Unna, der Fantasien an Revolte und Putsch frei setzte, war noch nicht verflogen, als im Dezember 1970 die letzte Fassung verbreitet wurde. Bundestagsabgeordnete fürchteten, die Bundeswehr werde sich mit Gewalt als „Retter des Vaterlandes“ aufspielen.25 Ein wenig später wurde das »Unna-Papier« der Öffentlichkeit zugänglich. Das Ministerium suchte zu beschwichtigen. Minister Schmidt verlangte Besprechungen. In einer anderen Runde bemühte sich der Generalinspekteur persönlich um die Hauptleute. Sie gewannen den Eindruck, de Maizière fände ihre Aussagen und Thesen „vollinhaltlich begrüßenswert.“ Bemerkenswert ist, dass ein Referent im Führungsstab des Heeres Mut bezeugte und eine kritische Stellungnahme der Spitze des Hauses vorlegte. Allerdings kassierte Inspekteur Schnez, der das »Unna-Papier« allerorten „sehr positiv“ bewertete, sogleich diese Äußerung. Er vertrat weiterhin seine traditionalistische Position gegen die Regierungspolitik.

Die Hardthöhe befand sich in der größten Führungskrise seit ihrer Gründung. Der damalige Generalinspekteur Ulrich de Maizière meinte im Nachhinein, die Bundeswehr wäre in diesen Monaten auf einen »Knickpunkt« ihrer Geschichte zugesteuert. Mit dem »Unna-Papier« hatte die alte Garde die Initiative ergriffen, die Gleichberechtigung von Minister und Militär zu fordern, ein Gegenhalten gegen die Reformpolitik zu organisieren und Minister Schmidt den Schneid ab zukaufen. Mit Bedacht urteilte de Maizière, die Traditionalisten hinter dem »Unna-Papier« hätten „sozusagen eine neue Reform präsentieren“ wollen. Es zeugt von Formulierungsgabe, mit dem Begriff »neue Reform« dieses traditionalistische Militärkonzept gegen die Demokratisierung der Bundeswehr zu neutralisieren. Es sollte den Skandal verharmlosen. Doch de Maizière sprach die politische Brisanz noch an: dies sei „das letzte Mal“ gewesen, dass die Auseinandersetzung in Militär und Politik um das Schicksal der »Inneren Führung« und um die demokratische Gestalt der Bundeswehr zu einer „verhältnismäßig starken Konfrontation“ zwischen Reformern und Traditionalisten geführt hätte.26

Zeigte Minister Schmidt die notwendige Kraft an Courage gegenüber der traditionalistischen Gruppe in der etablierten Militärelite? Erfasste er den grundsätzlichen Charakter des Widerstandes hinter dem »Unna-Papier« zutreffend oder missdeutete er ihn als konservative Opposition gegen die Sozialdemokratie? Es erscheint verwunderlich, dass er anlässlich einer öffentlichen Erörterung des »Unna-Papiers« erklärte, das „Engagement, was letztlich dahinter steckt, respektieren“ zu wollen.27 Eine vorgelegte ideologiekritische Analyse ließ er unbeachtet.28 War dies ein Zugeständnis an die Erfordernisse politischer Stabilität, damit der Druck der Traditionalisten nicht wie ein Vulkan ausbrach? Seine Reaktionen geben Rätsel auf. Wollte er den wichtigsten Kontrahenten, Inspekteur Schnez, im Amt belassen, um sein Wirken kontrollieren zu können? Aber wenn es, wie de Maizière hinter den Kulissen beobachtete, diese letzte harte Konfrontation gab, dann hätte die Reformpolitik de facto sich am Ende durchgesetzt. Doch die Politik machte den Traditionalisten in der Sache zu große Konzessionen. Das Dokument der Panzermänner und der Generale von Unna erfüllte den Zweck, dass sich die Gegner der Reform – klamm-heimlich – auf dieser Basis verständigen konnten, von der aus sie im aktuellen Geschäft die Umsetzung der Reform verschleppten und die Reichweite der Reformziele begrenzten.29 Mittelfristig motivierte es die Gegenkräfte. Schmidt hat diesen Aspekt der Militärpolitik im »Unna-Papier« nicht hinlänglich beachtet. Denn in der obersten Etage der Bundeswehrführung wurde weiterhin gegen den Stachel gelöckt. Schon 1973 konnte wieder nach altem Duktus ein Generalmajor in einer Zeitschrift der Bundeswehr schreiben: „Die Gesellschaft ist nicht das Maß aller Dinge.“30 Oder 1975, als ein Generalmajor an der Parade des Sieges der Faschisten in Madrid teilnahm.31

Das Beispiel von 1982: Die Munitionierung der konservativen Wende

Die »geistig-moralische Wende« der Regierung des Kanzlers Helmut Kohl kam im Herbst 1982. Die Verwirklichung dieses Leitbegriffs der Politik ins Militärische übernahm Manfred Wörner. Er beriet sich auf der Hardthöhe mit ehemaligen Generälen. Die »Lodenmantelfraktion« der Alten hatte als führenden Kopf Heinz Karst. Er hatte die Strippen gezogen. Nun zogen sie nicht nur auf die Hardthöhe sondern auch durch die Säle der Stäbe, der Akademien und Schulen der Bundeswehr und predigten das Ethos der Vergangenheit: die ideologischen Ziehväter des Traditionalismus aus der Gründerzeit der Bundeswehr wurden von der Söhnegeneration reaktiviert. Die bekannten »Schnez-Söhne« hatten bei Wörner das Sagen.32 Ihre Gedanken prägten die »geistige Wende« im Militär.

Bislang war unbekannt, dass Karst für die Wendepolitik noch eine ganz besondere Rolle spielte. Er hatte die Quintessenz seiner traditionalistischen Position zu Papier gebracht und eine 50seitige Studie für den designierten Minister Wörner verfasst, in der er den »Zustand« der Bundeswehr darlegte und eine »Therapie« als Leitidee einer zukünftigen Politik verschrieb. Nach seinen Angaben hatte er diese Studie „im Herbst 1982“ in einer „Zeit des Schwebezustandes zwischen der alten und der neuen Regierung“ übergeben.33 Diese »Karst-Studie« ist das richtungsweisende Dokument der Gesinnungswende, das in diesem historischen Knotenpunkt präsentiert und politisch einflussreich wurde. Jahre später wurde sie anonym der Öffentlichkeit zugespielt und wegen der Übereinstimmung mit der amtlichen Politik als eigenständige Arbeit des Planungsstabs des Ministeriums in ihrem parteipolitischen Gehalt präsentiert.34 Die »Karst-Studie« gründete ausdrücklich auf der »Schnez-Studie«. Berater und Planungsstab des Ministers folgten ihren Grundlinien wie selbstverständlich.35

Auch die Generalstabsoffiziere Dieter Farwick und Dieter Stockfisch beispielsweise, wichtige Vertreter aus der »Söhne-Generation« in Wörners Umfeld, begründeten ihre Kompetenz mit der Kenntnis der »Schnez-Studie«. Erwähnenswert ist, dass Baudissin in einem frühen Briefwechsel Hubatschek auf die Folgen seiner traditionalistischen Politik aufmerksam machte. Er warnte davor, die Ziele der »Inneren Führung« plakativ abzulehnen und die „Integration in die pluralistische Gesellschaft“ als ein „verhängnisvolles Konzept«, weil es zur „Desintegration aus der militärischen Gemeinschaft“ führe, zu bekämpfen. Das Ziel der Wendepolitik, eine soziale Abschottung sowie ein korporatives Eigen- und Sonderleben im Militär zu verfolgen, sei falsch. Baudissin war besorgt, dass Hubatschek gleich nach Übernahme seines Amtes erklärt hatte, die „spezifisch soldatischen Normen“ wieder beleben zu wollen.36 Er unterstrich den Trugschluss einer sozialen Homogenität durch Abschottungstendenzen und Antipluralismus. Jede Militärpolitik der Bonner Republik dürfe niemals Abklatsch der Seecktschen Ziele der Weimarer Republik sein oder sich über ähnliche Rekultivierungen in den fünfziger Jahren legitimieren wollen. Baudissin empörte sich über derartige Tendenzen der Wendepolitik, aber stellte betrübt fest, „dass es den Graben zwischen »Fortschrittlern« und »Traditionalisten« bis heute gibt, dass er also keine selbst errichtete Kulisse ist.“37

Die »Karst-Studie« war eminent politisch formuliert. Ihre Gegnerschaft zu den Werten der sozialliberalen Koalition wurde nicht verdeckt sondern unverbrämt bekannt. Dort lagen die Wurzeln allen Übels: „Es ist der Geist der Truppe«, der unter den Reformen von Schmidt gelitten habe; die Bundeswehr sei zu einer „Friedensarmee“ gemäß dem Wort Heinemanns, der Frieden sei der Ernstfall, verkommen. Die Front gegen die Sozialdemokratie durchzog die Seiten: Ursache für die als desolat bezeichnete Lage der Bundeswehr sei die sozialdemokratische Ämterpatronage: „Die »Baracke« hat die Bundeswehr noch in der Hand“38. Da zeigte sich der taktische Schachzug der traditionalistischen Argumentation, Demokratisierung des Militärs mit sozialdemokratischer Politik gleichzusetzen. Karst schlug auf die Partei ein, meinte aber nur die Verwirklichung der Grundwerte der Verfassung im Militär. Die Zielsetzung dieser Politik, die Integration von Militär und Gesellschaft sowie das Konzept der »Inneren Führung« für die Bundeswehr zu wollen, führe in die Irre und habe nur den nivellierenden Pluralismus und damit die „totale Vergesellschaftung“ des Militärs zu verantworten. Die Politik der Sozialdemokratie habe in den vergangenen 13 Jahren weitreichende fatale Folgen gehabt, da „der antisoldatische Affekt, der „Zivilismus“ Pate stand.“ 39 Dem gegenüber betonte die »Karst-Studie« den höheren Wert des Militärischen über die zivil-militärischen Verhältnisse: „Nur wenn die Gesellschaft sich mit dem Verfassungsauftrag der Bundeswehr identifiziert, sind die Soldaten integriert.“40 Die Begriffe wurden inhaltlich einfach umgepolt. Das Muster des Traditionalismus griff vollständig, jede Demokratisierung des Militärs abzulehnen und entsprechend das Übel in der Sozialdemokratie und in der »Inneren Führung« zu finden. Mit dem Ideal, das Militär als „Spiegelbild der Gesellschaft“ zu formen, sei es nun vorbei: „Der Wertepluralismus (…) eroberte auch die Bundeswehr und löste eine tragfähige Basis gemeinsamer Wertvorstellungen auf.“ Dank der Wendepolitik sei das „Ende der Zivilisierung“ des Militärs in Sicht.41

Die »Karst-Studie« machte noch einen Nebenkriegsschauplatz gegen einige wissenschaftliche Einrichtungen der Bundeswehr auf. Sie wurden unter Ideologieverdacht gestellt, die Reformen von Schmidt unterstützt zu haben. Schon das »Unna-Papier« hatte gegen einzelne Professoren Stellung bezogen. Nun ging es gegen das Militärgeschichtliche Forschungsamt (damals Freiburg) und das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (damals München). Mit dem Thema Tradition der Wehrmacht wurde eine Kampagne wegen mangelnder Objektivität in der Forschung in Gang gesetzt. Das Amt hätte die Geschichte der Wehrmacht im Nationalsozialismus manipuliert und „das deutsche Militär diffamiert“ sowie „das Ansehen des deutschen Soldaten (…) böswillig“ angegriffen.42 Es gab Friktionen zwischen der Hardthöhe und den Forschern, da Bonn die wissenschaftliche Freiheit zu begrenzen suchte.43 Am Rande wurde daher gefordert, Manfred Messerschmidt, den international renommierten Historiker, als Leitenden Wissenschaftler abzulösen.44 Gegen das SOWI, das bekanntlich unter Thomas Ellwein wichtige Grundlagen für die Bildungsreform von Minister Schmidt erarbeitet hatte, gab es eine ähnliche Diffamierung. Eine Stellungnahme verstieg sich zu der kühnen Behauptung, diese Forschungen „würden die Integration von Bundeswehr und Gesellschaft beeinträchtigen und die Identifikationsschwierigkeiten der Soldaten mit ihrem Auftrag“ erhöhen.45 Bonner Eingriffe, die Freiheit der Wissenschaft einzuhegen, führten zur Ablösung des Institutsleiters, Ralf Zoll, der an die Universität Marburg wechselte. Die anvisierte Auflösung des Instituts aber gelang nicht.

Allem voran in der »Karst-Studie« stand das Diktum, „soldatische und erzieherische Elementaria“ seien vonnöten.46 In traditionalistischer Manier war damit der Ruf nach realistischer bzw. kriegsnaher Ausbildung verbunden. Richtungsweisend wurde das alte Feindbild des Kalten Krieges mit Hinweis auf die „Realität der Bedrohung“ reaktiviert; die „unvermeidliche Orientierung am Gegner» verstand die »Karst-Studie« als Voraussetzung, um den Aufbau einer einsatzfähigen „Kriegsbundeswehr“ einzuklagen. »Kriegsbundeswehr« – der Leitbegriff dieser Wende-Studie – war schon eine bemerkenswerte Wortschöpfung. Die »Karst-Studie« ging noch auf Strategie und Rüstung der Bundeswehr ein. Gegenüber dem Dilemma der nuklearen Verteidigung, das zu vernichten, was es zu verteidigen gelte, fand sie die Lösung, dass vor allem Glaubwürdigkeit die Soldaten erfassen müsste. Aus dem Dilemma der nuklearen Kriegführung in Europa führe nur die mentale Stärke der Soldaten heraus: „Bei selektivem Einsatz von Atomsprengkörpern wäre Verteidigung noch durchzuführen (…). Die Streitkräfte können im Verteidigungsfall nur mit entschlossenem Willen zum Sieg am Ort ihres Gefechts kämpfen. Anders kann überhaupt keine Truppe ihre Waffen gebrauchen.“47 Nur „soldatische Erziehung“ könne die Zweifel am nuklearen Einsatz ausräumen. Der „Irrweg“ der „einseitigen Ausbildung des Menschen über die Ratio“ sei zu beenden, Härte und Drill seien bei einem Atomkrieg unerlässlich, da nur „allein eine so erzogene und zusammengeschweißte Kampfgemeinschaft bestehen kann!“48 In Konsequenz dessen müssten sich die Universitäten der Bundeswehr in Militärakademien wandeln: „Auch wenn sich linke Medien und Geister gegen die Akademielösung wehren und von Kadettenanstalt raunen, so wäre sie ideal.“49

Kontinuitätslinien des Traditionalismus

Die drei Beispiele des Traditionalismus sind drei Beispiele aus der Geschichte der Bundeswehr. Die Jahresdaten der Dokumente scheinen auf den ersten Blick eher zufällig zu sein, aber sie repräsentieren Eckdaten der Geschichte der Bundesrepublik. 1950 ging es in Himmerod um die Geheimplanung des Militärs; 1955 korrespondiert inhaltlich ganz eng damit, da der Aufbau der Bundeswehr von Regierung und Parlament konkret begonnen wurde. 1969 markiert mit der ersten sozialdemokratisch geführten Regierung den Beginn der großen inneren, nachholenden Reform des Militärs, gegen die in Unna angeschrieben wurde. 1982 stellte sich ein konservativer Kanzler in Bonn die Aufgabe, die Auswirkungen dieser Reform zu revidieren. Alle Jahresdaten sind politische Schnittstellen, in denen langfristige, strukturrelevante Beschlüsse über die Entwicklung der Bundeswehr anstanden. Die Papiere der Traditionalisten wurden zum Zweck der politischen Einflussnahme verfasst.

In den drei zentralen Dokumenten, die stark programmatischen Charakter haben, lassen sich inhaltliche Bereiche einkreisen. Erstens: Das Plädoyer für ein Soldatentum mit eigenen Werten und ewigen Tugenden, gestärkt und gewissermaßen gestählt durch eine lange historische Tradition »sauberer« Werte, zuletzt in den Kämpfen der Wehrmacht zu würdigen. Sie fordern daher ein genuines militärisches Milieu, in Haltung und Geist von der zivilen Gesellschaft geschieden, eine Zurückweisung der Geltung wesentlicher Werte der Verfassung. Infolgedessen markiert die Militärreform der »Inneren Führung« und des »Staatsbürgers in Uniform« das Gegenkonzept zu dieser Militärpolitik. Aus der Position dieser Traditionalisten sind der Primat parlamentarischer Regierungen, das Prinzip der Kongruenz (Baudissin) und der Integration von Militär und Gesellschaft in vieler Hinsicht falsch und gefährlich, abzulehnen und zu bekämpfen. Andernfalls würde das Selbstbild des gesellschaftlichen Sonderstatus und der korporativen Kampfgemeinschaft aufgeweicht werden. Rekrutierung und Ausbildung, Meinungsbildung und politische Toleranz in den Streitkräften unterliegen dieser Militärpolitik. Diese Dokumente haben viele Phasen der Bundeswehr mitbestimmt, je nach dem, ob ihr Einfluss direkt Erfolge verzeichnen konnte wie 1950/55 und 1982 oder dann 1969 dazu diente, das Konzept der »Inneren Führung« in seiner Reichweite zu begrenzen. Die so betriebene Militärpolitik hat Relevanz für die Geschichte der Bundesrepublik, da sie nicht nur das Phänomen einer Übergangsphase direkt nach dem Krieg war, sondern in der langen Nachkriegszeit als »Belastung des sozialen Lebens« auffällt.

Ein zweiter Bereich betrifft die operative Kriegführung, auch die Strategie. Da erstaunt, wie sehr Maximen des Kontinent weit geführten »Ostfeldzuges« der Wehrmacht über die Assimilation via US-Armee in der NATO weiter existierten. Im Umkehrschluss brauchte es entsprechende umfangreiche Rüstungen; die Standards der Hochrüstung des Kalten Krieges verstanden sich zugleich als notwendiges Minimum jeglicher Abschreckung. Nicht allein in Himmerod (1950) stand für die »neue Wehrmacht« der Gedanke der Raum greifenden Vernichtung im Vordergrund; auch noch in den Dokumenten von Unna (1969) und Bonn (1982) faszinierten die Schrecken der vernichtenden Atomkriegführung. Die Auswirkungen der nuklearen Verteidigung führten sogar bei dem Traditionalisten des letzten Dokuments von 1982 – der Zeit der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss – nicht zur Besinnung. Die Dogmen der Kriegführung der seit Ludendorff propagierten Formel vom »totalen Krieg« wirkten bis in die achtziger Jahre nach.

Der dritte Bereich, der dem Primat der Politik gilt, verblüfft. Es ist ja da die Auffassung verbreitet, in diesem Zusammenhang gäbe es bei der Bundeswehr keine Probleme: Bonn sei insofern nicht Weimar, als die Bonner Republik sich ihr Militär selbst geschaffen habe und nicht wie in Weimar, ein kaiserlich konstituiertes Militär hätte übernehmen müssen. Tatsache ist jedoch, dass die institutionelle Eingliederung des Militärs in das demokratisch bestimmte Regierungssystem offensichtlich manchen Traditionalisten ein Dorn im Auge war. Bereits 1950/55 wurde der vom Grundgesetz her gegebene Primat der Politik nur bedingt hingenommen. Ein ausgeprägter Anspruch auf höhere Repräsentanz des Militärs in der Politik ist unverkennbar. Die Forderung, den Primat der Politik aufzuheben und ein System der Parität im Verhältnis zu den vom Parlament gewählten und legitimierten Politikern einzuführen, wurde aufgestellt. Zivile Leitung im Ministerium wie in der Bundeswehrverwaltung war verdächtig. Noch in Unna zeigte sich, dass es weniger um Image oder Prestige ging als um den Status erhöhter Machtteilhabe des Militärs. In das demokratische Regierungssystem sollten auch 1969 Einschnitte in das Grundgesetz mit weit reichenden Konsequenzen erfolgen. Die Weimarer Verhältnissen waren überhaupt kein Tabu. Im dritten, dem Bonner Papier stand dies nur latent zur Debatte, es wurde mehr Respekt im Staat und mehr Akzeptanz in der Gesellschaft eingefordert.

Bei der Analyse dieser drei Dokumente aus traditionalistischer Feder ergab sich die spannende Erkenntnis, dass diese auch über die Biographie eines Soldaten mit einander in Verbindung stehen. Heinz Karst vereinigte starke intellektuelle mit rhetorischen Fähigkeiten, seine persönliche Ausstrahlung im kleinen Kreis und die straffe Haltung vor jedem Plenum zeichneten ihn als aufrechten Soldaten. Damit machte er Eindruck. Karst hatte sich als junger Offizier und Mitarbeiter von Baudissin noch als Vertreter der Militärreform gerieren können, aber in der entscheidenden Situation 1955 wechselte er demonstrativ die Front hin zur etablierten Militärelite der Traditionalisten. Als General gehörte er leitend zu jener Gruppe, die den Vorspann der »Schnez-Studie« und im »Unna-Papier« das politische Konzept gegen die drohende Umsetzung weiterer Reformen im Innern zimmerte. Sein Einsatz für die traditionalistische Ausrichtung der Bundeswehr geriet bis zur bissigen Schärfe seinen Kontrahenten gegenüber, als er den Erfolg der Reformen von Schmidt ahnte. Im Hintergrund des rechtskonservativen Parteien-Spektrums knüpfte er ein militärisch-politisches Expertennetzwerk, das ihn 1982 als General außer Diensten befugte, mit Hilfe solcher Seilschaften und mit seiner programmatisch formulierten Studie »endlich« die Wende in der Militärpolitik richtungsweisend zu begleiten und daneben die Traditionsdebatte anzuheizen.

Der militärpolitische Traditionalismus hatte in der Bundesrepublik großen Einfluss, da er am Anfang gewissermaßen in die Bundeswehr inkorporiert wurde. Er war sanktioniert und konnte doch nicht verhindern, dass die Militärreform legalisiert wurde. Er suchte sich mit Verbindungslinien in den Wertehorizont der Vergangenheit zu legitimieren, obwohl diese Militärgeschichte weitgehend eine Geschichte des Militarismus war. In der Übergangsepoche vom Kriegsende zur Republik bleibt es nachvollziehbar, dass Vergangenes noch einmal komprimiert in Erscheinung trat. Noch nach Jahrzehnten wirkte der Traditionalismus fort und wurde immer wieder generiert. Dies ist ein Problem der Bundeswehr, aber allerdings auch ein Ereignis der Geschichte der Bundesrepublik. Sie ist damit konfrontiert, dass es nicht nur in den Anfängen der Bundeswehr sondern während langer Jahrzehnte eine „so bereitwillige wie schmerzhafte Rückkehr zu diesem Traditionsfundus (…) in der Tat“ gab.50 Manche dieser Elemente konnten den Alltag der Bundeswehr gestalten. Doch so sehr diese Politik mit den Wurzeln aus militaristischen Zeiten beschworen wurde, gelang es nicht, die Gestalt der Bundeswehr so weit nach »sauberen« Vorbildern der Vergangenheit zu bestimmen, dass der Militarismus als solcher wieder Früchte tragen konnte.

Wesentliche Prinzipien der Demokratisierung des Militärs wurden vom Traditionalismus – in all den Parolen und Programmen – geleugnet. Als politischer und historischer Revisionismus hatte er folglich Schwierigkeiten, sich ganz auf den Boden der freiheitlichen Grundordnung zu stellen. Er bot nie und bietet auch heute kein alternatives Militärkonzept für die Bundesrepublik Deutschland. Seine Einflüsse hatten politisch und soziokulturell negative, manchmal fatale Auswirkungen. Er nutzte Schnittmengen mit dem rechtskonservativen Parteienspektrum, fand immer wieder Anhänger und hinterlässt bis in die Gegenwart seine Spuren. Dies erklärt den spannungsreichen Spagat zwischen Norm und Wirklichkeit, an dem die Bundeswehr im Innern leidet.51 Gerade deshalb begründen allein die Werte der Verfassung auch in Zukunft die notwendige neue Kultur des Friedens und der Sicherheit im Militär.

Anmerkungen

Der Paradigmenwechsel von der Verteidigung zur Intervention

1) Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin 11. Nov. 2005, S. 131.

2) Gerhard Schmidtchen: Wozu dient die Bundeswehr?, in: Der Spiegel, 29/1956, S. 30; vgl. die Umfragedaten bei Detlef Bald: Die Atombewaffnung der Bundeswehr. Militär, Öffentlichkeit und Politik in der Ära Adenauer, Bremen 1994, S. 100 ff.

3) Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.): Die Ablehnung des Militärs. Eine psychologische Studie der Motive, Allensbach 1961, S. 1, 4.

4) Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (Hg.): Am Hindukusch und anderswo. Die Bundeswehr – Von der Wiederbewaffnung in den Krieg, Köln 2005, S. 8.

5) Vgl. den Teil: Politik gegen die Demokratisierung des Militärs.

6) Zitiert bei Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955 – 2005, München 2005, S. 40.

7) Vgl. Pariser- und Bonner Verträge. Pariser Protokoll, revidierte Bonner Verträge, Saarabkommen und ergänzende Dokumente, München 1955; Wolfgang Däubler: Stationierung und Grundgesetz. Was sagen Völkerrecht und Verfassungsrecht? Reinbek 1982.

8) Rolf Steininger u.a. (Hg.): Die doppelte Eindämmung. Europäische Sicherheit und die deutsche Frage in den Fünfzigern, München 1993; vgl. H.-J. Rupieper: Der besetzte Verbündete. Die amerikanische Deutschlandpolitik von 1949 bis 1955, Opladen 1991.

9) Vgl. Dieter Sterzel (Hg.): Kritik der Notstandsgesetze. Mit dem Text der Notstandsverfassung, Frankfurt/M. 1968; Thomas Ellwein, Joachim J. Hess: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. Opladen 1987, S. 427 ff.

10) Klaus Naumann: Machtasymmetrie und Sicherheitsdilemma. Ein Rückblick auf die Bundeswehr des Kalten Krieges, in: Mittelweg 36, Jg. 14, 6/2005, S. 17.

11) Vgl. Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001; Jehuda Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht, Frankfurt/M. 1967; Detlef Bald: Hiroshima, 6. August 1945. Die nukleare Bedrohung, München 1999; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): 200 Tage und 1 Jahrhundert. Gewalt und Destruktivität im Spiegel des Jahres 1945, Hamburg 1995.

12) Weiterführende Literatur bei Bald: Bundeswehr, S. 21 ff.

13) Hinweis auf das epochale Dokument NSC 68, ausführlich bei Bernd Greiner: Atomtests und amerikanische Militärstrategie. Ein Dokument aus dem Jahre 1947, in: 1999, 1 (1986). S. 120.

14) Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Frankfurt/M. 1967, S. 77.

15) Zitat von Antonius John, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik (Hg.): Nach-Denken. Über Konrad Adenauer und seine Politik, Bonn 1993, S. 145.

16) Konrad Adenauer: »Wir haben es geschaffen«. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1953-1957. Düsseldorf 1990, S. 510.

17) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 28 ff.

18) Vgl. das Dokument bei Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus (Hg.): Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950 und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977.

19) Im Zusammenhang und mit Literaturhinweisen siehe Bald: Hiroshima, S. 121 ff., hier S. 124.

20) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 53; ein Beispiel mit Dokumenten des Milizkonzepts von Schwerin bei Detlef Bald: Miliz als Vorbild?, Baden-Baden 1987, S. 71 ff.

21) Ulrich de Maizière: In der Pflicht. Lebensbericht eines deutschen Soldaten im 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Herford 1989, S. 229.

22) Vgl. Carl-Friedrich von Weizsäcker (Hg.): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971.

23) Jürgen Kocka: 1945. Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern, Heinrich August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt/M. 1979, S. 157.

24) Edwin Czerwick: Demokratisierung und öffentliche Verwaltung in Deutschland. Von Weimar zur Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, 2/2002, S. 183 ff.

25) Vgl. Georg Picht (Hg.): Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr. 3 Folgen, Witten 1966; René König (Hg.): Beiträge zur Militärsoziologie, Sonderheft 12, Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1968.

26) Vgl. Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995; zu Wolf Graf von Baudissin und die Zivilisierung des Militärs auch: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff.; Detlef Bald, Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hg.): Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär, Baden-Baden 1999.

27) Inspekteur Johannes Steinhoff anlässlich des Stapellaufs des Zerstörers Mölders, 13. April 1968.

28) Bernd C. Hesslein (Hg.): Die unbewältigte Vergangenheit der Bundeswehr. Fünf Offiziere zur Krise der Inneren Führung, Reinbek 1977, S. 24.

29) Armin Halle: Vortrag in Tutzing, 19. April 1970, zitiert in Bald, Bundeswehr, S. 69.

30) Befragung von 1969 bei Klaus Reinhardt, Generalstabsausbildung in der Bundeswehr, Bonn, Herford 1977.

31) Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

32) Wolf Graf von Baudissin: Abschiedsvorlesung, 18. Juni 1986, Universität Hamburg, in: Ders., Dagmar Gräfin Baudissin: »…als wären wir nie getrennt gewesen«. Briefe 1941-1947, hrsg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001, S. 267.

33) Wido Mosen: Bundeswehr – Elite der Nation? Determinanten und Funktionen elitärer Selbseinschätzung von Bundeswehrsoldaten, Neuwied, Berlin 1970, S. 329; Oskar Negt: In Erwartung der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer, Carl Nedelmann: Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit, München 1967, S. 210; vgl. Jakob Moneta u.a.: Bundeswehr in der Demokratie. Macht ohne Kontrolle?, Frankfurt/M. 1974, S. XIII (Einleitung von Imanuel Geiss).

34) Wolfram F. Hanrieder: Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, 2. Aufl. Paderborn 1995; Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, München 1992.

35) Vgl. Christian Hacke: Weltmacht wider Willen. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1993; Hans-Peter Schwarz: Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994

36) Das Neue Strategische Konzept des Bündnisses, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 128, 13. Nov. 1991, S. 1039.

37) NATO-Gipfelkonferenz in Rom. Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit, ebenda, S. 1033.

38) Vgl. Jo Angerer, Erich Schmidt-Eenboom (Hg.): Siegermacht NATO. Dachverband der neuen Weltordnung, Berg/Starnberger See 1993.

39) Dokument vom 16. Okt. 1987 bei Caroline Thomas, Randolph Nikutta: Bundeswehr und Grundgesetz. Zur neuen Rolle der militärischen Interventionen in der Außenpolitik, in: Militärpolitik Dokumentation, Jg. 13, Bd. 78/79, 1990, Frankfurt/M. 1991, S. 70 ff.

40) Klaus Naumann, Ansprache in Hamburg, 27. Febr. 1989, in: Mittler-Brief 3/1989, S. 3.

41) Vgl. Dieter Wellershoff (Hg.): Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel, Bonn 1991.

42) Volker Rühe: Betr.: Bundeswehr. Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel, Berlin 1993, S. 165.

43) Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr, Bonn Januar 1992.

44) Bundesministerium der Verteidigung (Hg.): Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr, Berlin 10. Aug. 2004.

45) Johann Adolf Graf von Kielmansegg: Der Krieg ist der Ernstfall, in: Truppenpraxis 3/1991, S. 304 ff.

46) Hartmut Bagger: Anforderungen an den Offizier des Heeres, Bonn 29. Juli 1994.

47) Die folgenden Zitate und weitere Einzelheiten in dem Heft »Bundeswehr – quo vadis« der Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 1997; Detlef Bald: Zwischen Gründungskompromiss und Neotraditionalismus. Militär und Gesellschaft in der Berliner Republik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 24, 1999, S. 99 ff.

48) Arwed Bonnemann, Christine Posner: Die politischen Orientierungen der Studenten an den Universitäten der Bundeswehr im Vergleich zu Studenten an öffentlichen Hochschulen, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 20, 2002, S. 49 f.; Paul Schäfer: Bundeswehr und Rechtsextremismus, Dossier/Beilage Nr. 28, in: Wissenschaft und Frieden, Jg. 16, 1998; zu »hochgradig rechtslastigen« Tendenzen vgl. Elmar Wiesendahl: Rechtsextremismus in der Bundeswehr, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 16, 1998, S. 244.

49) Zitatbelege bei Bald: Bundeswehr, S. 184 ff.

50) Vgl. zusammenfassend Berthold Meyer: Die Dauerkontroverse um die Wehrpflicht – ein Beispiel für Konfliktverwaltung, Frankfurt/M. 2005 (HSFK-Report 11/2005).

51) Vgl. Jürgen Groß: Demokratische Streitkräfte, Baden-Baden 2005; Detlef Bald, Andreas Prüfert (Hg.): Innere Führung. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform, Baden-Baden 2002.

52) Caroline Thomas, Randolf Nikutta: Anything goes. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12. 7, 1994. Ein Kommentar, in: Wissenschaft und Frieden, 3/1994.

53) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 162 ff.; Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000.

54) Vgl. Dieter S. Lutz (Hg.): Deutsche Soldaten weltweit? Blauhelme, Eingreiftruppen, »out of area«- Der Streit um unsere sicherheitspolitische Zukunft, Reinbek 1993, S. 8.

55) Vgl. Dieter S. Lutz, Hans J. Giessmann (Hg.): Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, Baden-Baden 2003.

56) Art III-210, vgl. auch Art I-40.

57) Vgl. Wolfgang Wagner: Für Europa sterben? Die demokratische Legitimität der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Frankfurt/M. 2004.

58) Vgl. Lothar Schröter (Hg.): Europa und Militär. Europäische Friedenspolitik oder Militarisierung der EU? Schkeuditz 2005.

59) FAZ, 30. Jan. 2003, 1. Febr. 2003.

60) Vgl. Wolfgang Schäuble: Soldaten vor die Fußballstadien, in: SZ, 16. Dez. 2005.

61) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 35 und 87 a), Bundesrat, Drucksache 181/04, 5. März 2004.

62) Vgl. Peter Blechschmidt, Annette Ramelsberger: Pläne des Verteidigungsministeriums, in: SZ, 9. Febr. 2006.

63) Zitiert in FR, 22. Dez. 1993.

64) Pflüger: Bundeswehr, S. 110.

Restaurativer Traditionalismus in der Bonner Republik

1) Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, 5. Aufl. Wiesbaden 1955, S. 156.

2) Vgl. Gerhard Ritter: Das Problem des Militarismus in Deutschland, in Historische Zeitschrift, 177/1954, S. 46f.; Manfred Messerschmidt: Das Gesicht des Militarismus in der Zeit des Nationalsozialismus, in Wolfram Wette (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945, Berlin 2005, S. 265 ff.; zur Sozial- und Strukturgeschichte der militaristischen Vergangenheit in der Wehrmacht vgl. Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann (Hg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 349 ff.

3) Hans Herzfeld: Der Militarismus als Problem der Neueren Geschichte, in Schola I, 9/1946, S. 41 ff.

4) Vgl. Detlef Bald, Johannes Klotz, Wolfram Wette: Mythos Bundeswehr. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege in der Bundeswehr, Berlin 2001.

5) Vgl. Gerd Schmückle: Kommiss a.D., Stuttgart 1971.

6) Vgl. meinen Ansatz, wichtige Merkmale des historischen Geschehens zu benennen: Detlef Bald:Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005, München 2005; ders.: Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden 1994, S. 53 ff.; auch: Kämpfe um die Dominanz des Militärischen, in Bald, Klotz, Wette: Mythos Wehrmacht, S. 17 ff.

7) Gespräch mit Wolf Graf von Baudissin, in Axel Eggebrecht (Hg.): Die zornigen alten Männer. Gedanken über Deutschland seit 1945, Reinbek 1979, S. 216. Zum Überblick der Reformpolitik vgl. Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995.

8) Jürgen Kocka: 1945. Neubeginn oder Restauration?, in Carola Stern, Heinrich August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt/M. 1979, S. 157; vgl. zum neuesten Stand der Diskussion Wolfram Wette (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland, Berlin 2005.

9) Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus (Hg.): Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977, Einleitung.

10) Vgl. Anmerkung 6 und 7; zu Wolf Graf von Baudissin und die Zivilisierung des Militärs auch: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff.; Detlef Bald, Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hg.): Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär, Baden-Baden 1999.

11) Vgl. Dietrich Genschel: Wehrreform und Reaktion. Die Vorbereitungen der Inneren Führung 1951-1956, Hamburg 1972, S. 149 ff.

12) BA-MA (Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg) Bw 9/2527-113 Heinz Karst: Bedenken über die innenpolitische Entwicklung der Vorbereitungen für den Aufbau der Streitkräfte, 1. Aug. 1955; der politische Horizont wird in der von Karst verfassten Schrift deutlich: Vom künftigen deutschen Soldaten, Bonn 1955.

13) BA-MA Bw N 717/5 Tagebuch Innere Führung, 24. Aug. und 14. Sept. 1955.

14) Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

15) Wolf Graf von Baudissin. Abschiedsvorlesung, 18. Juni 1986, Universität Hamburg, in: Ders.. Dagmar Gräfin Baudissin: »…als wären wir nie getrennt gewesen«. Briefe 1941-1947, hrsg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001, S. 267.

16) Vgl. Mathias Jopp: Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel des Bildungswesens in der Bundeswehr, Frankfurt/M. 1983; Detlef Bald: Generalstabsausbildung in der Demokratie. Die Führungsakademie der Bundeswehr zwischen Traditionalismus und Reform, Koblenz 1984.

17) Vgl. Detlef Bald: Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982.

18) Vgl. Wido Mosen: Bundeswehr – Elite der Nation? Determinanten und Funktionen elitärer Selbsteinschätzung von Bundeswehrsoldaten, Neuwied, Berlin 1970, S. 329; Oskar Negt: In Erwartung der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer, Carl Nedelmann: Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit, München 1967, S. 210.

19) Klaus Reinhardt: Generalstabsausbildung in der Bundeswehr, Bonn, Herford 1977.

20) Zur Militärreform in der Ära Brandt vgl. Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack, Martin Rink (Hg.): Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr, Freiburg/Br. 2005, S. 341 ff.

21) Heinz Karst: Das Bild vom Soldaten. Versuch eines Umrisses, Boppard 1967, S. 50.

22) IfZ (Institut für Zeitgeschichte München) ED 447/4 H. Karst an Prof. Hausmann, 8. Jan. 1969; Hamburger Morgenpost, 26. April 1969.

23) IfZ ED 437,109 Interview K. von Schubert mit Generalmajor R. von Rosen, 9. Dez. 1982.

24) Text bei Klaus Heßler: Militär, Gehorsam, Meinung, Berlin 1971, S. 115 ff.; leichter zugänglich bei Klaus von Schubert (Hg.): Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Dokumentation 1945-1977, Teil 2, Bonn 1978, S. 447 ff.

25) Vgl. Jakob Moneta u.a.: Bundeswehr in der Demokratie. Macht ohne Kontrolle?, Frankfurt/M. 1974, S. XIII (Imanuel Geiss in der Einleitung).

26) IfZ ED 437/108 Interview K. von Schubert mit U. de Maizière, 1982.

27) IfZ ED 437/114, 33 Wortprotokoll von der Tagung des Bundesministers der Verteidigung mit Hauptleuten (…), 10. Mai 1971.

28) Vgl. die Kritik eines Offiziers: IfZ ED 447/47 Leutnant J. B., Stellungnahme zu den Hauptmanns-Thesen, 1. Mai 1971. Er schreibt: „Schaut man sich die Geschichte der Bundeswehr an, so ist sie die eines verdeckten oder unverdeckten Grabenkampfes zwischen Reformern und Traditionalisten. (…) Diese zwei Denkschulen, die von Anfang an in der Bundeswehr einen kalten Krieg probten, die eine angetreten unter dem Gesichtspunkt militärischer Schlagkraft und Unvereinbarkeit von Militär und Gesellschaft, die andere unter dem der Friedenssicherung durch Abschreckung und der prinzipiellen Vereinbarkeit von Militär und Gesellschaft, bilden sozusagen systemimmanente Krisenherde, solange sich die Bundeswehr in Absprache mit der Gesellschaft nicht für ein Bild entscheidet.“

29) Vgl. Detlef Bald: Bundeswehr und gesellschaftlicher Aufbruch 1968. Die Widerstände des Militärs in Unna gegen die Demokratisierung, in: Westfälische Forschungen, 48/1998, S. 297 ff.

30) Generalmajor von Reichert, in: Wehrkunde, 8/1973, S. 398.

31) IfZ ED 447/4 Genlt. Horst Hildebrandt in Madrid, 27. Mai 1975.

32) Kurt Kister: Innere Führung ohne Überzeugung, in: Franz H.U. Borkenhagen (Hg.): Bundeswehr. Demokratie in oliv? Streitkräfte im Wandel, Berlin 1986, S. 162 f.

33) Heinz Karst: Zustand und Therapie in Geist und Haltung der Bundeswehr, 11. Jan. 1983. Die hier zitierte Fassung datiert von diesem Datum. Karst teilte am 6. April 1983 dem Ministerium, Fü S I, mit, Manfred Wörner habe sein Exemplar früher, im „Herbst 1982“, vor der Ernennung zum Minister erhalten.

34) Heinz Vielain: Bundeswehr in der Hand der SPD, in: Welt am Sonntag, 25. März 1984.

35) Vgl. Dieter Farwick, Gerhard Hubatschek: Die strategische Erpressung – eine sicherheitspolitische Lösung, München 1981.

36) Gerhard Hubatschek: Wertewandel in der Bundeswehr, in: Die Welt, 11. Nov. 1982, S. 7.

37) IfZ ED 437/114-23 W. Graf Baudissin an G. Hubatschek, 21. Febr. 1983.

38) Karst-Studie, S. 14 f.

39) Karst-Studie, S. 49.

40) Karst-Studie, S. 3.

41) Dieter Stockfisch: Das Ethos des Soldaten heute, in Truppenpraxis, 5/1983, S. 329; Dieter Farwick: Die Innenansicht der Bundeswehr, in Criticon, Jan./Febr. 1982.

42) Rolf Elble: Einleitung, in Soldat im Volk, Sept. 1984, S. 4.

43) Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum »Historikerstreit«, München 1988, S. 194 ff.; Detlef Bald, Martin Kutz, Manfred Messerschmidt, Wolfram Wette: Zurück, marsch, marsch!, in Die Zeit, 6. Mai 1994, S. 52.

44) Vgl. Wolfram Wette: Die Bundeswehr im Banne des Vorbildes Wehrmacht, in: Bald, Klotz, Wette: Mythos Wehrmacht, S. 87 ff.

45) IfZ ED 437/114-50 Fü S I 6 an Parl. Staatssekretär, 22. Juni 1983 (Bezug: Bericht von F.W. Steege vom Psychologischen Dienst).

46) Vorbemerkung, Karst-Studie, S. 1.

111) Karst-Studie, S. 4 f.

112) Karst-Studie, S. 8.

49) Karst-Studie, S. 33.

50) Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 982.

51) Vgl. Detlef Bald, Andreas Prüfert (Hg.): Innere Führung. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform, Baden-Baden 2002.

Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor und ist Mitglied der Forschungsgruppe »Demokratisierung von Streitkräften im Kontext europäischer Sicherheit« am Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH).

4 Jahre Rot-Grün

Eine friedenspolitische Bilanz

4 Jahre Rot-Grün

von Michael Brzoska / Heiner Busch / Regina Hagen / Jakob Knab / Otfried Nassauer / Jürgen Nieth / Tobias Pflüger / Kathrin Vogler

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft & Frieden e.V. (IWIF)

zum Anfang | In der Gewaltlogik gefangen

Unter Rot-Grün wuchs die Bedeutung des Militärischen

von Jürgen Nieth

„Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“. Mit diesen Worten beginnt Kapitel XI (»Europäische Einigung, internationale Partnerschaft, Sicherheit und Frieden«) der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom Oktober 1998. Und weiter heißt es: „Die neue Bundesregierung wird die Grundlinien bisheriger deutscher Außenpolitik weiterentwickeln: die friedliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Nachbarn, die Pflege der transatlantischen Beziehungen, die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Union… die besondere Verantwortung für Demokratie und Stabilität in Mittel-, Ost- und Südosteuropa… Grundlagen sind dabei die Beachtung des Völkerrechts und das Eintreten für Menschenrechte, Dialogbereitschaft, Gewaltverzicht und Vertrauensbildung. Die Bundesregierung begreift die internationale Zusammenarbeit als Politik der globalen Zukunftssicherung.“

Wenngleich das Friedensthema nicht gerade an herausragender Stelle dieses ersten Rot-Grünen-Dokuments steht – danach folgt nur noch der Punkt »Kooperation der Parteien« – waren die Hoffnungen in großen Teilen der Bevölkerung, vor allem bei den friedenspolitisch Engagierten, groß, schließlich war der eine Koalitionspartner aus der Umwelt- und Friedensbewegung hervorgegangen, waren Teile der Regierungsmannschaft selbst aktiv in der Friedensbewegung der 80er Jahre. Auch die Regierungsvereinbarung selbst weckte Erwartungen. Zum Beispiel wenn es da heißt:

  • Die Bundesregierung wird „sich mit aller Kraft um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregelung bemühen. Sie wird sich dabei von der Verpflichtung zur weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, zu einem ökonomischen, ökologischen und sozial gerechten Interessenausgleich der Weltregionen und zur weltweiten Einhaltung der Menschenrechte leiten lassen.“
  • „Die neue Bundesregierung wird im Rahmen der anstehenden NATO-Reform darauf hinwirken, die Aufgaben der NATO jenseits der Bündnisverpflichtung an die Normen und Standards der VN und der OSZE zu binden.“
  • „Die kontrollierte Abrüstung von atomaren, chemischen und bakteriologischen Massenvernichtungswaffen bleibt eine der wichtigsten Aufgaben globaler Friedenssicherung. Die neue Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest.“
  • Oder wenn sich die neue Bundesregierung dazu bekennt, dass „die Rüstungsobergrenzen deutlich unter das heutige Niveau zu senken sind“, dass unter Umständen auch ein „einseitiger Abrüstungsschritt… eine sinnvolle Abrüstungsdynamik in Gang setzen“ kann; dass der deutsche Rüstungsexport außerhalb der NATO und EU „restriktiv gehandhabt“ werden soll.1

Hoffnungsvolle Signale waren auch die Ankündigungen, dass die unter der Kohl-Regierung fast bis auf Null zurückgefahrene Förderung der Friedensforschung wieder aufgenommen wird, dass der Zivile Friedensdienst endlich ernst genommen und unterstützt wird.

Die Ernüchterung

Die Ernüchterung kam schneller als erwartet: Die Regierung war noch kein halbes Jahr im Amt, da beteiligten sich deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder an einem Angriffskrieg, von Ende März bis fast Mitte Juni 1999 bombardierten u.a. ECR-Tornados der Bundeswehr unter Bruch des Völkerrechts die Republik Jugoslawien. An die Stelle des versprochenen Einsatzes für „Krisenprävention und… friedliche Konfliktregelung“ rückte das Streben nach militärischer Mitsprache und Machtdemonstration auch außerhalb des NATO-Gebietes. Statt die „NATO… an die Normen und Standards der VN und der OSZE zu binden“, wurden VN und OSZE vor der Bombardierung Jugoslawiens nicht einmal gefragt und damit entscheidend geschwächt. Statt beizutragen zu einer „weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen,“ wurde der Krieg wieder zur Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, wurde internationales Recht gebrochen.

Sicher gab es damals in dieser Region aufgrund der dauernden Menschenrechtsverletzungen internationalen Handlungsdruck, doch Kenner der Situation, wie das langjährige Mitglied der OSZE-Mission, der Ex-Bundeswehr-General Heinz Loquai, sprechen bis heute von einem „vermeidbaren Krieg“ und bringen dafür zahlreiche Belege.2 Zwischen den internen Lageberichten des Auswärtigen Amtes und der Regierungspropaganda lagen Welten. Während intern noch zehn Tage vor Beginn der Bombardierungen lediglich von „Zusammenstößen zwischen UCK und Sicherheitskräften“ gesprochen wurde, die „bislang nicht die Intensität der Kämpfe vom Frühjahr/Sommer 1998 erreicht haben“,3wurden in der Öffentlichkeit zur Legitimation des Krieges Fakten verschwiegen, verdreht und notfalls auch erfunden. So der sogenannte »Hufeisenplan«, der zum Beleg für die geplante Vertreibung der Kosovaren durch jugoslawisches Militär herhalten musste und den es so wohl nie gab. „Diese Grafiken sind entstanden im deutschen Verteidigungsministerium.“ 4 Oder z.B. die Gräuelmärchen des Verteidigungsministers vom „Konzentrationslager im Stadion“, von Serben, die Schwangeren Frauen „die Bäuche aufgeschlitzt und die Föten gegrillt“ hätten.5 Es gibt viele Beispiele, bei denen sich die Frage stellt, ob die Regierenden wussten, dass es sich um Lügen handelt, ob diese bewusst in Umlauf gebracht wurden, um den Krieg in der deutschen Öffentlichkeit zu rechtfertigen oder ob die Herren Minister »nur« ihnen untergeschobene Falschinformationen ungeprüft weiterverbreitet haben. Im jedem Fall wäre später eine Aufarbeitung und Korrektur notwendig gewesen. Sie blieb aus, wie insgesamt die eigentlich unbedingt notwendige und „die vielfach von offizieller Seite vor und während des Krieges versprochene breite und intensive Diskussion der Konsequenzen und Lehren aus dem militärischen Eingreifen der NATO bis heute nicht stattgefunden hat.“6 Die Aufarbeitung des »Weges in den Krieg« und eine Untersuchung möglicher alternativer Strategien blieb aus; statt auf die Entwicklung ziviler Konfliktlösungsvarianten richtete sich in der Folgezeit das Denken und Handeln auf die Steigerung der militärischen Leistungsfähigkeit. Der Krieg gegen Jugoslawien wurde so zum Wendepunkt in der deutschen Außen- und Militärpolitik.

Der Krieg als »Normalfall«

Die folgenden Monate wurden von einer Debatte um Strukturveränderungen der Bundeswehr dominiert. Und ob Weizsäcker-Kommission, Kirbach-Papier oder das Eckpunkte-Papier Scharpings, die Kernaussagen gleichen sich: Es geht um die Verkleinerung der Bundeswehr bei gleichzeitiger Effektivierung. Und unter Effektivierung wird vor allem eine Umorientierung verstanden: Weg von der Verteidigungsarmee, die nur im Falle eines Angriffs auf das Bündnis einsatzbereit sein muss, hin zur Interventionsarmee, die jederzeit weltweit einsatzfähig ist und dementsprechend auch hochgerüstet werden muss. Die Weizsäcker-Kommission empfahl „die deutschen Streitkräfte auf eine schnelle Reaktion in zwei gleichzeitigen Krisen hin auszurichten“ und sich darauf zu konzentrieren „Kräfte für multinational geführte Einsätze und gemeinsame europäische Kontingente bereitzustellen“ .7 Der damalige Generalinspekteur Kirbach sprach davon, dass das Einsatzgebiet der Bundeswehr „künftig vorrangig außerhalb der Grenzen Deutschlands“ liegen wird und es darum geht „eine große Operation über einen mittleren Zeitraum… oder zwei mittlere Operationen mit sehr langer Einsatzdauer… sowie mehrere kleinere Operationen von sehr kurzer bis zu sehr langer Einsatzdauer… gleichzeitig durchführen zu können.“8

Auch für den Verteidigungsminister ging es darum, an mehreren Orten gleichzeitig intervenieren zu können. Deshalb hatte für ihn „die Verbesserung der strategischen Verlegefähigkeit… erste Priorität“9

Als der Bundeskanzler im September 2001 dem US-Präsidenten die Bundeswehr für den Krieg gegen den Terrorismus anbot, mag das zum Teil aus der aktuellen Situation heraus geschehen sein, in jedem Fall aber lag es in der Kontinuität der letzten drei Jahre, in denen Krisenbewältigung fast ausschließlich militärisch gedacht wurde; drei Jahre, in denen Kriegsführungsfähigkeit mit Normalität verwechselt wurde, anstatt den Frieden und die Vermittlungsfähigkeit als das Normale und das Erstrebenswerte zu sehen.

Fazit

Sicher soll nicht verkannt werden, dass es unter Rot-Grün in einigen Bereichen friedenspolitische Maßnahmen gab, die sich positiv von der Vorregierung abhoben. Die Einrichtung einer Deutschen Stiftung Friedensforschung zählt dazu genauso wie die Förderung des Zivilen Friedensdienstes oder die Initiativen für eine Einschränkung des Handels mit Kleinwaffen. Weitere Beispiele finden sich in den Einzelbilanzen dieses Dossiers. Und doch fällt mir bei aller Wertschätzung einzelner Maßnahmen und Initiativen und auch angesichts der Tatsache, dass von Schwarz-Gelb sicher nicht mehr zu erwarten gewesen wäre, an diesem Punkte Kurt Tucholsky ein, der vor 80 Jahren textete: „Gut, das ist der Pfennig aber wo ist die Mark?“ Tucholsky fortgesetzt müsste es heute weiter heißen: Die Mark ist Milliarden und milliardenfach ins deutsche Militär geflossen. Aus der 1998 versprochenen deutlichen Absenkung der „Rüstungsobergrenzen … unter das heutige Niveau“ wurde nichts.

Und die Ökonomie sagt Entscheidendes über den Stellenwert: Nicht die Förderung des einen oder anderen Friedensprojekts, nicht der eine oder andere friedenspolitische Ansatz bestimmen die Bilanz der rot-grünen Regierung. Dominierend ist, dass sich in diesen vier Jahren Deutschland erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder an zwei Angriffskriegen beteiligt hat, dass sich heute wieder wie selbstverständlich deutsche Soldaten in Afghanistan an Kampfeinsätzen beteiligen, dass 2002 mehr Bundeswehrsoldaten außerhalb des NATO-Gebietes stationiert sind als jemals zuvor. Bestimmend ist, dass das Trio Schröder – Scharping – Fischer offensichtlich dem Irrglauben anhängt, politische Lösungen ließen sich mit militätischen Mitteln erzwingen. Da bleibt dann kaum Raum für das Versprechen der Koalitionsvereinbarung, sich mit aller Kraft „um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregelung (zu) bemühen“ und beizutragen „zur weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen.“

Anmerkungen

1) Alle vorstehenden Zitate: Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Frankfurter Rundschau, 22.10.1998.

2) Heinz Loquai: Der Kosovo Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg. Nomos Verlag, Baden-Baden, 2000.

3) Lageberichte des Auswärtigen Amtes, vor Gericht verwertet zur Ablehnung von Flüchtlingen aus dem Kosovo. AZ:514-516.80/33841, siehe auch W&F 2/99, S. 8.

4) Heinz Loquai in der Panorama-Sendung der ARD vom 18.05.2000, zitiert nach W&F, 3/2000, S. 66.

5) Der Spiegel, 26.04.99, S. 26, Interview mit Rudolf Scharping.

6) Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz: Für die politische Zukunft des Kosovos hat der Westen kein Konzept. Offener Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. FR 24.03.01.

7) Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr, Berlin, 2000, S. 53

8) Eckwerte für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Streitkräfte, S. 12

9) Die Bundeswehr – sicher ins 21. Jahrhundert – Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf, Berlin, Juni 2000

Jürgen Nieth, verantwortlicher Redakteur von W&F

zum Anfang | Rüstungskontrolle: Kaum Widerstand gegen Bush´s Kahlschlagpolitik

von Otfried Nassauer

„Eine wesentliche Aufgabe sieht die neue Bundesregierung in der präventiven Rüstungskontrolle.

Sie ergreift Initiativen, um im Rahmen der KSE-Verhandlungen die Rüstungsobergrenzen deutlich unter das heutige Niveau zu senken. Sie macht ihren Einfluss geltend, um den internationalen Regimes zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen Geltung zu verschaffen, besonders grausame Waffen wie Landminen weltweit zu verbieten und die weitere Reduktion strategischer Atomwaffen zu befördern. Zur Umsetzung der Verpflichtungen zur atomaren Abrüstung aus dem Atomwaffensperrvertrag wird sich die neue Bundesregierung für die Absenkung des Alarmstatus der Atomwaffen, sowie für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen.

Die neue Bundesregierung unterstützt Bemühungen zur Schaffung atomwaffenfreier Zonen. Sie wird eine Initiative zur Kontrolle und Begrenzung von Kleinwaffen ergreifen.“

(Aus Kapitel XI.6 Abrüstung und Rüstungskontrolle der rot-grünen Koalitionsvereinbarung vom 20.10.1998)

Kaum Außenminister, löckte Joschka Fischer den Stachel: Washington, so der Minister, möge – zumindest im Blick auf die NATO – einen Verzicht auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen bedenken. Trotz Fischers gleichzeitigem deutlichen Bekenntniss zur Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik unter Rot-Grün wurde er daraufhin politisch regelrecht »zusammengefaltet«. Binnen Tagen war klar: Alles bleibt wie es ist; die Initiative – aus amerikanischer Sicht ein Frontalangriff auf die US-Nuklearstrategie – war mausetot. Danach kamen in der Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungspolitik aus Berlin – wenn überhaupt – nur leise Töne:

  • Initiativen im Rahmen der Verhandlungen über das zweite Abkommen über konventionelle Stabilität in Europa (KSE-2), um der Stabilität Priorität gegenüber den amerikanischen Wünschen nach mehr Flexibilität zu verleihen (weitgehend gescheitert);
  • Versuche, im Rahmen einer informellen Gruppe der nichtnuklearen Fünf der NATO, die Rolle nuklearer Waffen im Kontext der NATO-Strategie zurückzudrängen zugunsten einer Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes (partiell erfolgreich);
  • Unterstützung für ein weitgehendes nukleares Teststoppabkommen (bedingt erfolgreich);
  • Unterstützung für ein Abkommen über ein Verbot der Produktion waffenfähiger Kernmaterialien und für ein Verifikationsverfahren zur Absicherung der B-Waffen-Konvention aus dem Jahre 1972 (beides gescheitert);
  • Bemühen um eine substantielle Grundlage für die erste Konferenz der Vereinten Nationen, die sich mit der Begrenzung des illegalen (aber nicht des legalen) Handels mit Kleinwaffen beschäftigen sollte (gescheitert).

Die Herausforderungen des George W. Bush

Die Zeit spielte wie so oft in der Diplomatie eine entscheidende Rolle. Vieles, was unter der Clinton-Administration in Washington auf den Weg gebracht werden konnte, gelang erst in deren letzten Monaten und bot der Bush-Administration Optionen zum Rückzug, die diese nur zu gerne nutzte.

Richard Haass, Direktor für Politische Planung im US-Außenministerium: Die neue Regierung betreibe »Multilateralismus a la carte«. „Wir werden uns jedes Abkommen einzeln anschauen und eine Entscheidung treffen.“ Das Ergebnis der bisherigen Einzelfallentscheidungen ist bildlich gesprochen eine Schneise der Verwüstung in der Rüstungskontroll-Landschaft (Daran ändert es nichts, dass die Regierung Bush erstmals einen Rüstungskontrollvertrag mit Rußland unterzeichnete. In ihm steht nichts, was die Interessen Washingtons beeinträchtigt, aber vieles, das für einen weiteren Abbau rüstungskontrollpolitischer Regeln genutzt werden kann).

Nach nur achtzehnmonatiger Amtszeit hat die neue US-Administration deutliche Zeichen gesetzt:

  • Der ABM-Vertrag wurde gekündigt und mit ihm entfallen auch viele Begrenzungen für eine künftige Militarisierung des Weltraums.
  • Die Unterschrift der USA unter die römische Konvention des Internationalen Strafgerichtshofs ist zurückgezogen worden.
  • Abgelehnt wurde das Protokoll für ein Verifikationsabkommen, mit dem das Verbotsabkommen für biologische Waffen wirksamer gemacht werden sollte; eigene Vorschläge für ein solches Protokoll präsentierte Washington nicht.
  • Verhindert wurde, dass im Juli 2001 bei der ersten UN-Konferenz über den illegalen Handel mit Kleinwaffen ein zwar nur sehr begrenztes, trotzdem aber doch sinnvolles Aktionsprogramm zur Begrenzung des Kleinwaffenhandels verabschiedet werden konnte.
  • Zurückgezogen wurde die Zusage der Regierung Clinton, bis zum Jahr 2006 auf Antipersonenminen zu verzichten und dem Ottawa-Vertrag über ein Verbot dieser Waffen beizutreten.

Die nächsten Schritte sind absehbar:

  • Auf Wunsch des Pentagons wird überprüft, ob die USA auch ihre Unterschrift unter den CTBT, den Teststopp-Vertrag, zurückziehen soll. Im Verteidigungsministerium ist man der Auffassung, der Vertrag behindere die Entwicklung einer neuen Generation nuklearer Waffen. Im Energieministerium wird z. Zt. die Vorbereitungszeit für die Wiederaufnahme nuklearer Tests signifikant verringert.
  • Auf mittlere Sicht ist damit zu rechnen, dass auch der Weltraumvertrag in Frage gestellt werden wird. Er behindert die Weltraumrüstungspläne der US-Administration.
  • Konservative Hardliner und Militärs ziehen in Zweifel, ob der INF-Vertrag, mit dem einst die nuklearen Mittelstreckenraketen in Ost und West abgebaut wurden, noch im Interesse Washingtons ist, denn er verbietet nur Washington und Moskau den Bau und Besitz auch konventioneller Mittelstreckenraketen.

Besonders problematisch aber ist, dass die Haltung der Washingtoner Administration, weit über die Rüstungskontrolle hinaus, auch in anderen Bereichen dazu beiträgt, die internationalen Beziehungen zu deregulieren. Manche in den Washingtoner Amtsstuben würden gar am liebsten die Wiener Konvention über internationale Verträge – wie viele völkerrechtliche Rechtsakte von Washington zwar unterzeichnet jedoch nie ratifiziert – durch einen Widerruf der US-Unterschrift aus dem Verkehr ziehen. Diese Konvention fordert von den Signatarstaaten eines Abkommens, das noch nicht ratifiziert ist, sich so zu verhalten als sei der Vertrag bereits in Kraft. Es darf also nicht gegen den Geist der unterzeichneten Vereinbarung verstoßen werden. Obwohl z.B. der SALT2- und der START2-Vertrag nie in Kraft getreten sind, haben sich alle Beteiligten an deren Regelungen gebunden gefühlt.

Würden die USA ihre Unterschrift unter die Wiener Konvention zurückziehen, so stünde auf einen Schlag eine Vielzahl internationaler Rüstungskontrollabkommen vor dem Aus: Allen voran das Abkommen über einen umfassenden Atomteststopp – CTBT, Verträge wie der KSE2-Vertrag über Konventionelle Stabilität in Europa oder auch die Zusatzprotokolle der Genfer Konvention, das wichtigste internationale Dokument zur Begrenzung inhumaner Kriegführung.

Beredtes Schweigen im deutschen Walde?

Dieser rasanten Entwicklung wusste die Bundesregierung wenig entgegenzusetzen. Ihre Haltung in den ersten Monaten der neuen US-Administration erweckte den Eindruck, Berlin schwanke zwischen ungläubigem Staunen, Nichtverstehen und der Hoffnung, nichts werde so heiß gegessen wie es gekocht wurde. Mantraartige Beschwörungen der Bedeutung des Multilateralismus, der fundamentalen Bedeutung von Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie rituell wiederholte Mahnungen, es gelte das rüstungskontrollpolitisch Erreichte zu erhalten, prägten die Folgezeit, in der aber schnell die Erkenntnis unvermeidlich wurde, dass es der Regierung Bush mit dem Ausstieg zumindest aus dem ABM-Vertrag Ernst war. Hoffnungen, Russland werde mehr als nur hinhaltenden Widerstand leisten, erwiesen sich bald als illusionär. Die Mahnungen wurden zur faktischen Bitte: Washington möge das rüstungskontrollpolitische Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Auch hier wurde schnell deutlich, dass dieser Bitte nicht entsprochen werden würde.

In Reaktion auf die Terroranschläge des 11. Septembers machte George W. Bush mit seiner Rede zur Lage der Nation im Januar deutlich: Terrorismus und Proliferation sind künftig wichtige Interventionsgründe; rüstungskontrollpolitische Mittel zur Proliferationsverhinderung und -verlangsamung sind vielleicht nützlich, aber nicht länger prioritär. Seither – und vor allem angesichts der rüstungskontrollpolitischen Deregulierungspolitik der US-Regierung – sucht die Bundesregierung nach probaten Mitteln zur Schadensbegrenzung. Substantielle Initiativen, um alleine oder im Kontext der Europäischen Union zu Politikkonzepten zu kommen, die Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie Proliferationsverhinderung durch Nichtverbreitungsinitiativen befördern, blieben jedoch aus. Dies blieb auch in Washington nicht verborgen. Schon Anfang dieses Jahres wusste der deutsche Botschafter in den USA, Wolfgang Ischinger, zu berichten, dass er gefragt wurde, wo denn die deutschen und europäischen Initiativen zur Stärkung der Nichtverbreitung bleiben würden.

Berlin tut sich in der Tat schwer, in dem neuen, der Rüstungskontrolle so wenig zugetanen Umfeld in Washington zu agieren. Dies ist drei Faktoren geschuldet:

  • Zum einen will die Bundesregierung nicht offen gegen den amerikanischen Partner agieren, mit Washington aber ist wenig möglich. Sie befürchtet, dass Initiativen gemeinsam mit der EU oder gar Russland seitens der USA als Affront gewertet würden.
  • Zum zweiten ahnt Berlin, dass die Regierung Bush die allermeisten – auch gutgemeinten Vorschläge – ablehnen würde, weil sie diese entweder für weniger effizient als das Mittel militärischer Intervention erachtet oder weil sie glaubt, dass neue Regeln die Handlungsfreiheit der USA beschränken.
  • Zum dritten gibt es neuartige, sehr ernstzunehmende Probleme, denen sich Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungspolitik künftig stellen müssen. Für diese fehlen weltweit noch die Antworten. Das wichtigste: Rüstungskontrollpolitik und Nichtverbreitung sind bislang Mittel in den zwischenstaatlichen Beziehungen; zurzeit gibt es keine überzeugende Antwort auf die Frage, wie diese Mittel gegenüber nichtstaatlichen Akteuren – z.B. transnationalen Terrorgruppen auf der Suche nach Massenvernichtungswaffen – griffig gemacht werden könnten.

Erstaunlich aber bleibt, dass auch jenseits der objektiven Probleme, da wo Initiativen möglich wären, fast schon Agonie zu herrschen scheint:

  • Weder Berlin noch Brüssel verfolgten ernsthaft die bereits ergriffene Initiative weiter, Nordkorea – gegebenenfalls gemeinsam mit Rußland und China – mittels wirtschaftlicher Zugeständnisse zur Aufgabe seiner Raketenprogramme und -proliferation zu bewegen.
  • Weder Berlin noch Brüssel ergriffen die Initiative, notfalls auch ohne die USA zu einer Verifikationsregelung für die B-Waffenkonvention zu kommen.
  • Weder Berlin noch Brüssel arbeiten daran, ein schlüssiges Konzept zur Stärkung von Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung zu entwickeln. Dabei wäre das ein notwendiger Schritt hin zu einer asymmetrischen, an den Stärken der eigenen Handlungsmöglichkeiten orientierten Politik Europas.

Last Waltz?

Ach ja, da war noch etwas: So gering die Rolle der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik im praktischen Handeln der Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren war, so dramatisch wird in den letzten Sitzungswochen des alten Bundestages nun aufs Tempo gedrückt. Als gelte es ein rhetorisches, rüstungskontrollpolitisches Vermächtnis zu formulieren, arbeiten die Koalitionsfraktionen nun gleich an drei Entschließungsanträgen zum Thema. Einer befasst sich mit der Notwendigkeit eines weitergehenden Verbotes von Landminen, ein zweiter mit Initiativen, um doch noch zu einem Verifikationsprotokoll für B-Waffen zu kommen und schließlich gibt es noch einen Antrag zum Thema nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.

Die ersten Entwürfe der Anträge lassen sich in substantiellen Teilen gut an. Zwar fehlen weitgehend innovative Ideen im Hinblick auf die künftig neuen rüstungskontrollpolitischen Fragestellungen. Auch zeigt sich nur punktuell, nicht aber strukturell der politische Wille, der Deregulierungspolitik der Bush-Administration konzeptionell eigenes entgegenzusetzen. Aber der größte Mangel ist ein anderer: Der neuen Dynamik zu abrüstungspolitischen Rhetorik wird kaum eine neue Dynamik abrüstungspolitischen Handelns folgen. Wie sollte sie auch? Bis zum Wahltag sind Wahlkampf und Sommerpause. Und danach werden die Karten neu gemischt.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit. Weitere Informationen: www.bits.de

zum Anfang | Die neue Triade: Atomwaffen, Raketenabwehr, Weltraumrüstung

Deutschland schweigt – und mischt mit

von Regina Hagen

„In der Koalitionsvereinbarung verpflichten sich die unterzeichnenden Parteien auf die Eckpunkte ihrer künftigen Regierungspolitik. … Auf der Ebene politischer Bekenntnisse wird die Koalitionsvereinbarung für viele Pazifisten und Friedensbewegte teilweise unerträglich sein.“ Diese Vermutung des Arbeitskreises Frieden der Grünen trog nicht.1 Die Vereinbarungen der rot-grünen Bundesregierung vom 20. Oktober 1998 blieben bezüglich der nuklearen Abrüstung tatsächlich hinter den Forderungen des grünen Wahlprogramms für die Bundestagswahl 1998 zurück. Dabei kristallisierte sich bereits heraus, welcher der beiden Koalitionspartner im weiteren Verlauf der Legislaturperiode bei sicherheitspolitischen Fragen den Ton angeben würde.2

Andererseits – im Vergleich zur Politik der Kohl-Regierung gaben die Absichtserklärungen der neuen Koalitionäre Anlass zur vorsichtigen Hoffnung. Die Regierung hält, so der Text, „an dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest und wird sich in Zusammenarbeit mit den Partnern und Verbündeten Deutschlands an Initiativen zur Umsetzung dieses Ziels beteiligen.“ Die neue Regierung werde Initiativen ergreifen, um „die weitere Reduktion strategischer Atomwaffen zu befördern“ und sich „für eine Absenkung des Alarmstatus der Atomwaffen, sowie für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen.“ Des weiteren „[unterstützt] die neue Bundesregierung Bemühungen zur Schaffung atomwaffenfreier Zonen.“3

Ersteinsatz und nukleare Teilhabe

Mit dem Beschluss vom Herbst 1998, der Teilnahme der Bundeswehr an einem Angriff gegen Rest-Jugoslawien ohne UN-Mandat zuzustimmen, wurde das Versprechen „Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“ bereits zu Beginn der Legislaturperiode ad absurdum geführt. Kurz danach schlug Außenminister Fischer auf einer Tagung der NATO-Außenminister überraschend vor, in der neuen Bündnisstrategie auf den Ersteinsatz von Kernwaffen zu verzichten. Mit seinem unkoordinierten Vorstoß fing er sich aus den USA einen derben Rüffel ein. Seine US-amerikanische Kollegin Madeleine Albright ließ keinen Zweifel, dass derart ungebührliche Äußerungen nicht tolerierbar seien.

Damit war die Chance zu einer Diskussion über die Rolle von Atomwaffen und die damit verbundenen Einsatzstrategien vertan. Fast widerstandslos schwimmt Rot-Grün seither im Strom der Entscheidungen mit, ein eigener Gestaltungswille ist nicht zu erkennen.

Wenige Monate später, im April 1999, verabschiedete die NATO mit Billigung der deutschen Regierung ihr neues Strategisches Konzept. Darin wurde für die Bündnispolitik des 21. Jahrhunderts ausdrücklich festgeschrieben: „Nukleare Streitkräfte werden weiterhin eine wesentliche Rolle spielen. … Die strategischen Nuklearstreitkräfte des Bündnisses, vor allem diejenigen der Vereinigten Staaten, bieten die oberste Garantie für die Sicherheit der Verbündeten. … Das Bündnis wird daher angemessene nukleare Streitkräfte in Europa beibehalten.“4

Nach Angaben des Berlin Information-center for Transatlantic Studies (BITS) lagern in Büchel und Ramstein nach wie vor 11 bzw. 54 freifallende Atombomben des Typs B61-11 der USA.5 Die Bomben werden von der US Air Force gewartet. Zum Einsatz kämen sie im Ernstfall, der von deutschen Soldaten unter Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen regelmäßig geübt wird, von deutschen Tornados. Gemäß Artikel II des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages von 1968 ist Deutschland verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen.“

Nukleare Abrüstung? Fehlmeldung. Ersteinsatz? Bleibt Politik des 21. Jahrhunderts. Absenkung des Alarmstatus? Ach was. Aufkündigung der nuklearen Teilhabe? Keine Rede. Diskussion über den Status der britischen und französischen Atomwaffen im militärisch zusammenwachsenden Europa? Schon gar nicht.

Raketenabwehr – mit EADS zu MEADS und darüber hinaus

Mit der Aufrechterhaltung einer einheitlichen Sicherheitszone begründete Bundeskanzler Schröder im Februar 2001 auch die Forderung nach Einbeziehung Europas in US-amerikanische Raketenabwehrpläne. Nationale Raketenabwehr für die USA, so Schröder, ließe Europa ungeschützt und führe zu einer Abkopplung auf sicherheitspolitischem, technologischem und wirtschaftlichem Gebiet.

Damit vollzog der Bundeskanzler scheinbar einen Schwenk – hatte sich Außenminister Fischer doch zuvor unter Verweis auf die destabilisierende Wirkung wiederholt gegen den Aufbau von Abwehrsystemen durch die USA gewandt. Bei näherer Betrachtung jedoch predigte die Bundesregierung zwar Zurückhaltung, versucht(e) aber selbst, nach Kräften mitzumischen.

Da ist zum einen die Einbindung Deutschlands in die Abwehrpläne der NATO. Unter dem Überbau von C³I (Command, Control, Communication, Intelligence) sollen sich die Pfeiler Gegenproliferation, (nukleare) Abschreckung und erweiterte integrierte Luftverteidigung zur »totalen Verteidigung« zusammenfügen.

Hinter dem Stichwort der »erweiterten« Luftverteidigung verbergen sich Systeme zur Abwehr gegen das gesamte Spektrum angreifender Flugkörper, von Flugzeugen über Marschflugkörper bis zu ballistischen Mittelstreckenraketen. Die Vorbereitungsphase für das NATO-System läuft, was vor allem den daran beteiligten europäischen Luft-, Raumfahrt und Rüstungskonzern EADS freut. EADS ist gleichfalls beteiligt an der Entwicklung eines zweiten europäischen Raketenabwehrsystems: An Medium Extended Air Defense System (MEADS) beteiligen sich die USA, Italien – und Deutschland.

Anstatt ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen und die skeptische Beurteilung der Folgen von Raketenabwehr auf die internationale Sicherheit und Stabilität nach außen zu vertreten, ließ sich Rot-Grün widerstandslos in den Sog der Stationierungsbeschlüsse hineinziehen. „Teilhabe an der Technologie“ (Bundeskanzler Gerhard Schröder) wurde eingefordert, herausgekommen ist die Kündigung des Raketenabwehrvertrags und damit der Wegfall eines der wichtigsten Pfeiler des internationalen Rüstungskontrollgebäudes.

Die militärische Dimension Weltraum

Das US-Weltraumkommando strebt unverhohlen die Bewaffnung des Weltraums an. Vergleichsweise bescheiden muten im Vergleich die europäischen oder deutschen Vorhaben an.

„Die Koalition unterstützt aktiv die Bemühungen um den Zusammenschluss der Europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie,“ postuliert der rot-grüne Koalitionsvertrag. In den vergangenen Jahren konnten dabei beträchtliche Fortschritte erzielt werden.

Zur EADS schlossen sich die französische Aerospatiale Matra, die spanische Casa und die deutsche DaimlerChrysler Aerospace (DASA) zusammen.

Auch am zweiten großen Zusammenschluss in Europa ist DaimlerChrysler beteiligt. DASA formte mit der französischen Matra Marconi Space und der britischen BAE Systems den neuen Giganten Astrium.

Und das dritte Konsortium, MBDA, hat sich 2001 durch die Fusion von EADS, BAE Systems und Finmeccanica (Italien) zum zweitgrößten Raketenhersteller gemausert. Meteor, Aster, Exocet, Kormoran, Roland, Milan, Trigat LR, Mistral, Mica, Patriot, Stinger, Otomat, Scalp lauten die Namen der MBDA-Raketentypen. Darüber hinaus baut die Firma Komponenten wie Gefechtsköpfe, Antriebssysteme, Lenkvorrichtungen und Startsysteme für Raketen. Tochterfirmen von MBDA bauen die neue seegestützte Mittelstreckenrakete sowie das auf U-Booten stationierten Langstreckenmodell für die nukleare Force de Frappe in Frankreich.6

Von der deutschen Regierung mit Wohlwollen betrachtet ist in der Tat eine europäische Raumfahrtindustrie entstanden.

Die europäische Raumfahrt ist aber nicht nur industriell zusammengerückt. Im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität sind zunehmend militärische Weltraumkapazitäten gefragt. Die Europäische Union will (militärischen) Zugriff auf Systeme und Fähigkeiten der zivilen European Space Agency (ESA), die laut Satzung „für ausschließlich friedliche Zwecke auf dem Gebiet der Weltraumforschung, der Weltraumtechnologie und ihrer weltraumtechnischen Anwendungen“ gegründet wurde.

Unter der Präsidentschaft der deutschen Forschungsministerin Edelgard Bulmahn beschloss der ESA-Ministerrat, „die Fähigkeiten der ESA auch für die Entwicklung der eher sicherheitsorientierten Aspekte der europäischen Weltraumpolitik einzusetzen,“ wie dies bereits in einem Bericht an das ESA-Direktorium von 1999 gefordert wurde. Vor allem zwei Programme versprechen militärischen (Neben-) Nutzen: das Satellitennavigationssystem GALILEO und das Erdbeobachtungsprogramm GMES (Global Monitoring for Environment and Security).7

Daneben will Deutschland aber auch eigenständig Satellitenaufklärung betreiben. Der licht- und wetterunabhängige Radarsatellit SAR-Lupe, gebaut unter Beteiligung von EADS von der Bremer Firma OHB, soll die vorhandenen optischen Aufklärungssysteme Frankreichs ergänzen, die unter dem Namen Helios bekannt sind. Das länderübergreifende System soll zumindest eine begrenzte Unabhängigkeit von den Daten des US-Militärs herstellen.

Einer ungebremsten Militarisierung wird damit Vorschub geleistet. Ganz richtig erkannte das grüne Wahlprogramm von 1998: „Deutschland soll ferner eine Initiative für die internationale Kontrolle militärischer Fernaufklärungsmittel starten. Diese sind in den Dienst der UNO, der Konfliktprävention und Abrüstungskontrolle zu stellen.“ Das Gegenteil geschieht. In Berlin ist man sich des Problems bewusst, verweist aber darauf, dass Deutschland angesichts der aggressiven Weltraumrüstungspläne der USA nicht untätig bleiben könne, da ansonsten ein uneinholbarer Rückstand entstehe. Diplomatische Initiativen, um den Trend aufzuhalten, sind aus Deutschland nicht bekannt.

Schulter an Schulter ins nukleare 21. Jahrhundert

Lang ist die Liste von Versäumnissen und verpassten Chancen unter Rot-Grün, die sich in das bislang beschriebene Grundraster einfügen. Exemplarisch nur vier Beispiele:

  • In den Abstimmungen zu UNO-Resolutionen, die sich mit den Themen Atomwaffen, Raketenabwehr, negative Sicherheitsgarantien usw. befassen, hat sich Deutschland häufig enthalten oder mit »nein« gestimmt. Die offene Unterstützung entsprechender Initiativen lehnt Deutschland ab, glaubt seinen Einfluss vielmehr durch vertrauliche Diplomatie geltend machen zu können. Diese Strategie wurde von Deutschland auch bei der UN-Konferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag im Frühjahr 2002 verfolgt.
  • Die dritte und damit entscheidende Betriebsgenehmigung für den Garchinger Forschungsreaktor München II (FRM-II) wurde vom Bundesumweltministerium bislang verweigert. Dass die Planung nach 1998 auf der Basis von hochangereichertem Uran weiter voranschritt, weist auf mangelnden Durchsetzungswillen. Das grüne Wahlprogramm von 1998 hatte noch postuliert: „Der Einsatz von waffenfähigem Uran in Forschungsreaktoren ist hoch problematisch und außenpolitisch bedenklich. Deshalb wird die neue Bundesregierung überprüfen, ob Möglichkeiten einer Umrüstung des Forschungsreaktors München II vom Betrieb mit hochangereichertem auf niedrigangereichertes Uran bestehen.“ Die Möglichkeit hat bestanden – und wurde verschenkt.
  • Im August 2000 stellte Siemens einen Antrag auf Überprüfung laut Außenwirtschaftsgesetz, um die Optionen für einen Export der Hanauer MOX-Brennelementefabrik nach Russland auszuloten. Die Bundesregierung hat keine außen- und sicherheitspolitischen Bedenken gegen das Vorhaben vorgebracht. Experten hatten darauf hingewiesen, dass waffentaugliches Plutonium durch die Verarbeitung zu Brennstäben nicht vor Missbrauch zu Waffenzwecken geschützt sei. Der Handel scheiterte nicht an politischem Widerstand, sondern an Geldmangel.
  • Deutschland hat nach wie vor keine vollständige Bilanz der atomwaffenfähigen Materialien aufgestellt. Waffenfähiges Uran fehlt in der Aufstellung ganz. Plutonium ist nur insofern berücksichtigt, als es in Deutschland gelagert ist. Damit sind beträchtliche Bestände, die bei der Wiederaufarbeitung abgebrannter Kernelemente in England und Frankreich anfallen und vor Ort gelagert werden, nicht berücksichtigt.

Durch diese und ähnliche Fehlleistungen werden die wenigen positiven Entscheidungen, beispielsweise die Unterzeichnung des vollständigen Atomteststopp-Vertrags, deutlich überlagert.

Verschärft hat sich die Lage zudem, als sich die deutsche Regierung als Antwort auf die Terrorattacken des 11.September für „bedingungslose Solidarität“ mit dem US-amerikanischen Bündnispartner entschied.

  • Eine offizielle Ablehnung der neuen US-amerikanischen Atomwaffendoktrin blieb aus. Die »Nuclear Posture Review« vom Januar 2002 schreibt die Aufrechterhaltung des Nuklearpotentials der USA in weite Zukunft fort, fordert die Bereitschaft zur Wiederaufnahme von Atomwaffentests, empfiehlt die Entwicklung einer neuen, kleineren Atomwaffengeneration, benennt die verlängerte »Achse des Bösen« und erweitert die Einsatzempfehlungen gegen Nicht-Atomwaffenstaaten. Kritik durch die Bundesregierung blieb aus.
  • Das Abrüstungsabkommen zwischen den USA und Russland, das die Präsidenten Bush und Putin im Mai 2002 unterzeichneten, gesteht beiden Seiten maximal 2.200 strategische Atomwaffen zu. Der Vertrag erhält beiden Ländern die Option auf den mehrfachen Overkill, sieht keine Überprüfungsmechanismen vor, muss erst 2012 erfüllt werden, lässt aber den Ausstieg mit dreimonatiger Kündigungsfrist zu. Die Bundesregierung hat diese Mogelpackung ausdrücklich begrüßt und in ihrer „historischen Bedeutung“ gewürdigt.
  • Die NATO erklärte am 6. Juni 2002 die Bereitschaft, ihre Strukturen und Verteidigungsfähigkeiten „zur Durchführung des vollen Spektrums ihrer Aufträge“ an die neuen „asymmetrischen Bedrohungen“ anzupassen. In diesem Zusammenhang maß die nukleare Planungsgruppe der NATO „den in Europa stationierten und der NATO zur Verfügung stehenden Nuklearkräften … weiter großen Wert bei. … Die NATO muss“ nach Ansicht der Verteidigungsminister „für ihre Aufträge über Streitkräfte verfügen, die schnell überall dorthin verlegt werden können, wo sie gebraucht werden.“ Eine Beschränkung der Einsätze auf das Bündnisgebiet ist endgültig nicht mehr vorgesehen. NATO-Generalsekretär George Robertson bestätigte gegenüber Journalisten ausdrücklich, dass die NATO „mit ihrer Konzentration auf den Kampf gegen Terror einen wichtigen Richtungswechsel vollzogen“ hat. Dieser Umformulierung des Bündnisauftrags stimmte die deutsche Regierung ohne öffentliche Debatte oder Befragung des Parlaments ganz nebenbei zu.

Die wenigen Beispiele zeigen: Deutschland ist außen- und sicherheitspolitisch kein eigenständiger Akteur mehr. Entscheidungen werden von den USA oder im Rahmen von EU und NATO getroffen. Ein politischer Wille der Bundesregierung mit anderer Zielrichtung ist nicht in Sicht.

Fazit

In einem Interview kurz nach Amtsantritt meinte Außenminister Fischer: „Die Frage, wozu ein Grüner Außenminister ist, beantwortet sich innerhalb von vier Jahren.“8 Im Bereich Atomwaffen, Raketenabwehr und Weltraumbewaffnung ist er diese Antwort schuldig geblieben.

Die rot-grüne Bundesregierung hat binnen kürzester Zeit jegliche Chance vertan, auf eine Änderung der Atomwaffenpolitik in der NATO, wenn nicht sogar der USA, einzuwirken. Die Rolle von Kernwaffen und die Ersteinsatzdoktrin werden nicht mehr hinterfragt, die Bündnispartner wehren sich nicht gegen die Verschärfung der Atomwaffenpolitik der USA. Dasselbe Bild bei der Raketenabwehr, die zumindest in den Plänen der USA die Bewaffnung des Weltraums mit einschließt. Die deutsche Regierung hat versäumt, eine grundsätzliche Diskussion über dieses aufwendige Rüstungsprogramm zu führen. Anstatt im Bündnis behutsam und klug, aber hartnäckig um Unterstützung zu werben und Einfluss geltend zu machen, tappt das Trio Schröder, Fischer, Scharping blindlings hinter der Führungsmacht her und beteiligt sich selbst an unsinnigen, teuren und destabilisierenden Programmen zur Raketenabwehr.

So verwundert es dann auch nicht, dass aus friedenspolitischer Sicht die Aussagen in den Wahlprogrammen 2002 der beiden Koalitionäre noch hinter der Koalitionsvereinbarung von 1998 zurückbleiben.9 Die Begriffe »Atomwaffen« oder »Raketenabwehr« sucht man dort vergeblich. Im Vergleich dazu klang das Koalitionsvorhaben vor vier Jahren fast schon konkret.

Anmerkungen

1) Angelika Beer, Winfried Nachtwei, Christian Sterzig: Friedenspolitischer Aufbruch oder Kapitulation? Zum außen- und friedenspolitischen Teil der Koalitionsvereinbarungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Arbeitsgruppe Frieden, Abrüstung, Verteidigung, 23. Oktober 1998.

2) Der entsprechende Abschnitt im Bundestagswahlprogramm 1998 von Bündnis 90/Die Grünen, lautet: „Deutschland muss für eine radikale Abrüstung der NATO eintreten: – für Abrüstungsschritte im konventionellen Bereich in Fortführung des KSE-Vertrags; – für den Verzicht auf Atomwaffen; – für den sofortigen Abzug aller Atomwaffen vom Gebiet von Nicht-Kernwaffenstaaten. Deutschland soll eine Entnuklearisierung des deutschen Gebietes beschließen und sich für eine Verschrottung aller Atomwaffen einsetzen; – für die Einbeziehung der nuklearen Potentiale Großbritanniens und Frankreichs in die START-Verhandlungen. Eine Vergemeinschaftung von Atomwaffen, indem z.B. die Verfügungsgewalt über französische und britische Atomwaffen mit anderen EU-Staaten geteilt wird, lehnen wir ab; – für die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone in Europa unter Beteiligung Deutschlands und eine Festschreibung des Verzichts auf atomare Waffen im Grundgesetz.“ Die SPD begnügte sich dagegen in ihrem Wahlprogramm 1998 mit dem Hinweis, dass „die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung Initiativen … zu einer weltweiten Reduzierung von Massenvernichtungswaffen mit dem Ziel ihrer Abschaffung ergreifen [wird.]“

3) Aufbruch und Erneuerung. Deutschlands Weg in das 21. Jahrhundert, Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und B’90/Die Grünen, Bonn, 20. Oktober 1998.

4) Das strategische Konzept des Bündnisses, Kommuniqué der North Atlantic Treaty Organisation, 24. April 1999.

5) Otfried Nassauer: NATO’s Nuclear Posture Review. Should Europe end nuclear sharing?, BITS Policy Note 02.1, April 2002,

6) Ausführliche Informationen zu den Geschäftsfeldern von EADS, Astrium und MBDA finden sich in: Group of Ethical Shareholders of EADS, ENAAT (European Network Against Arms Trade), Forum voor Vredesactie und Campagne tegen Wapenhandel, Europe‘s Absolutely Deadly Systems. EADS Ethical Shareholders‘ Report 2002, May 2002.

7) Regina Hagen und Jürgen Scheffran: Weltraum – ein Instrument europäischer Macht?, Wissenschaft & Frieden 3/2001.

8) Fischer: Man kann die Welt nicht nach eigenen Prinzipien gestalten, Interview mit der Frankfurter Rundschau, 25.11.1998.

9) „Wir wollen eine Welt ohne Massenvernichtungswaffen, denn ihr Einsatz ist durch nichts und in keiner denkbaren Situation ethisch und politisch zu rechtfertigen. Deswegen sind wir für einen bedingungslosen Verzicht auf den Einsatz dieser Waffen und für einseitige Abrüstungsmaßnahmen. Wir treten für eine Stärkung des internationalen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregimes ein und wenden uns gegen jegliche weitere Aufrüstung mit Massenvernichtungswaffen auf der Erde und im Weltraum. … Für uns als Nichtatomwaffenstaat bleibt die Verhinderung der Weiterverbreitung und die nukleare Abrüstung … ein wesentlicher Eckpfeiler unserer Politik.“ Grundsatzprogramm von B’90/DIE GRÜNEN, vom März 2002. „Die Fortsetzung einer Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle leistet Beiträge zu einer vorausschauenden Friedenspolitik. Zu einer Weiterentwicklung der vertragsgestützten Abrüstungspolitik gibt es keine Alternative. Das Ziel der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen steht bei uns weiter an erster Stelle. Die Verträge zur Non-Proliferation, das Chemiewaffenübereinkommen, das B-Waffen-Übereinkommen und das Regime der Nichtverbreitung von Trägerwaffentechnologie (MTCR) sind zu stärken. Der START-Prozess muss fortgesetzt und der Atomteststopp-Vertrag (CTBT) ratifiziert werden.“ Regierungsprogramm der SPD 2002-2006.

Regina Hagen ist Koordinatorin von INESAP und aktiv im deutschen Trägerkreis »Atomwaffen Abschaffen – Bei uns anfangen!«.

zum Anfang | Restriktivere Rüstungsexportpolitik wäre möglich gewesen

von Michael Brzoska

Noch in der Opposition war für Bündnisgrüne und Sozialdemokraten die Rüstungsexportpolitik der Regierung Kohl ein gefundenes Fressen: Fast jede zweite Woche wurde im Durchschnitt eine Anfrage in diesem Politikbereich eingereicht und immer wieder wurden einzelne Geschäfte, etwa Lieferungen in die Türkei, kritisiert. In den Wahlprogrammen beider Parteien wurde Besserung versprochen. Nach bekannt werden der Koalitionsvereinbarung vom Herbst 1998 machte sich deshalb Enttäuschung breit. SPD und B90/Grüne hatten sich nur auf relativ schwache Aussagen zum Rüstungsexport geeinigt. Keine der beiden Parteien hatte dem Thema besonderes Gewicht beigemessen. Das machte sich schon darin bemerkbar, dass Rüstungsexporte gemeinsam mit der Bundeswehr in einem gemeinsamen Unterkapitel behandelt wurden.

Welche ihrer eher bescheidenen Ankündigungen hat die Bundesregierung nach knapp vier Jahren umgesetzt?

  1. Das erste Vorhaben der Bundesregierung betraf den im Mai 1998 beschlossenen EU-Verhaltenskodex zum Rüstungsexport. Diesen wollte die Bundesregierung für die transnationale europäische Rüstungsindustrie verbindlich machen.

Dieses Ziel hat die Bundesregierung nicht erreicht, nicht erreichen können. Denn nur einstimmig könnten die Mitgliedsstaaten aus der politischen Absichtserklärung vom Mai 1998, ihre Rüstungsexportpolitik entlang von acht Kriterien stärker zu harmonisieren, ein rechtlich verbindliches Dokument machen. Eine Reihe von ihnen, wie Frankreich und Großbritannien, sind dazu (noch) nicht bereit.

Mit dem Scheitern dieser Ankündigung erübrigte sich auch der Plan der Bundesregierung, für Transparenz und Beachtung der Menschenrechte in den verbindlichen Richtlinien zu sorgen. Aber auch ohne neue Richtlinien hätte sie hier für stärkere Verbesserungen in der EU-Rüstungsexportpolitik sorgen können, was sie jedoch nicht tat. Zentrales Beispiel sind die jährlichen Berichte zum Verhaltenskodex, die nach wie vor wenig transparent sind.

Keine Erwähnung fand in der Koalitionsvereinbarung der »Letter-of-Intent«-Prozess. Im Juli 1998 hatten sich die Regierungen der wichtigsten Rüstungsherstellerländer in der EU (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweden, Spanien) verabredet, bei kooperativ hergestellten Waffen einheitliche Rüstungsexportrichtlinien anzuwenden. Das auf dieser Grundlage ausgehandelte »Rahmenabkommen« stellt einen Forschritt gegenüber der vorhergehenden Praxis dar. Unter dem Rahmenabkommen hat jedes Teilnehmerland ein Veto-Recht gegenüber einzelnen Empfängerländern, während früher de facto das Recht des Landes in Anwendung kam, aus dem die Waffe letztendlich ausgeführt wurde. Allerdings ist bisher unklar, wie transparent für Parlamente und die breite Öffentlichkeit die Zusammenarbeit der Regierungen sein wird.

  1. In einer zweiten Ankündigung versprach die Bundesregierung den deutschen Rüstungsexport außerhalb der NATO und der EU restriktiv zu handhaben. Dies wurde allgemein so verstanden, dass weniger Rüstungswaren ausgeführt werden sollten als in den Jahren zuvor. Ob dieses Ziel umgesetzt wurde, lässt sich schwer beurteilen. Für eine exakte Einschätzung fehlen die grundlegenden Informationen, zum Beispiel zu Ablehnungen von einzelnen Geschäften oder auch wichtige Details zu Genehmigungen. Folgende Informationssplitter liefern ein durchwachsenes Bild:
    • In Geldwerten gerechnet ist das Volumen des deutschen Rüstungsexportes in etwa gleichgeblieben. Das aber liegt vor allem am Export von Kriegsschiffen, deren Ausfuhr sowohl vor als auch nach dem Regierungswechsel besonders leicht genehmigt wurde.
    • Größter und umstrittenster Importeur deutscher Rüstung blieb die Türkei, ein Nato-Mitgliedsstaat.
    • Der deutsche Anteil am weltweiten Rüstungshandel ist leicht gesunken.
    • In einige Krisenregionen, insbesondere nach Afrika, sind kaum Exporte genehmigt worden.
    • Der Handel mit Kleinwaffen wurde deutlich geringer.
  2. Besondere Beachtung fand in der Koalitionsvereinbarung die Frage der Menschenrechte, insbesondere auch beim Thema Rüstungsexporte. Der Menschenrechtsstatus sollte als neues Kriterium der Rüstungsexportpolitik eingeführt werden. Dieses Versprechen hat die Bundesregierung in neuen politischen Grundsätzen zum Rüstungsexport umgesetzt, die Anfang 2000 in Kraft gesetzt wurden. Die Regelungen in den neuen Grundsätzen sind stark an die Formulierungen des EU-Verhaltenskodex angelehnt. Danach sind Lieferungen von regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen eingesetztem Gerät an Staaten, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen vorkommen, nicht genehmigungsfähig. Bei Lieferungen anderer Rüstungswaren in solche Staaten werden „strenge Maßstäbe“ angewandt. Die Interpretationsbreite dieser neuen Bestimmungen zeigte sich mehrfach am Beispiel Türkei. So wurden einzelne Exporte, wie zum Beispiel von Leopard II-Panzern, auch innerhalb der rot-grünen Koalition heftig diskutiert. Eine Entscheidung wurde der Regierung letztlich abgenommen, weil die Türkei die Beschaffung von Panzern angesichts der schlechten Wirtschaftslage im Jahr 2001 aussetzte.
  3. Ein weiteres Vorhaben war die Vorlage eines jährlichen Rüstungsexportberichtes. Auch diesen Plan hat die Bundesregierung umgesetzt. Ende 2000 wurde der erste Bericht vom Wirtschaftsministerium vorgelegt, Ende 2001 der zweite. In den Berichten legt die Bundesregierung Grundzüge der rechtlichen Lage und ihrer politischen Linie dar. Beide Berichte enthalten auch viele Zahlen, zum Beispiel die Werte der Genehmigungen von Rüstungsexporten und der tatsächlichen Ausfuhr von Kriegswaffen. Bei den Genehmigungen der Rüstungsgüter werden auch die wichtigsten Warenkategorien angegeben. Die Abgrenzung ist jedoch zu grob um wirklich schlussfolgern zu können, um was für Rüstungswaren es sich handelt. Dies ist durchaus beabsichtigt, denn die Bundesregierung sieht sich auf Grund der gesetzlichen Vorschriften zum Schutz von Betriebsgeheimnissen außer Stande genauere Angaben zu veröffentlichen. Allerdings interpretiert sie ihren Spielraum sehr eng. Der zweite Bericht enthielt einige neue Zahlen, zum Beispiel zu Kleinwaffen und Exporten gebrauchter Waffen. Aber der Weg zu einer Transparenz der Rüstungsexporte, die eine faktisch fundierte politische Bewertung erlauben würde, ist weit. Letztendlich müsste hierfür das entsprechende Gesetz (Verwaltungsverfahrensgesetz) geändert werden. Aber auch ohne eine solche Änderung könnten die Rüstungsexportberichte informativer werden.
  4. Indirekt, in ihrem Kapitel über die Entwicklungspolitik, hatte die Bundesregierung eine weitere relevante Ankündigung gemacht: Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sollte Mitglied im Bundessicherheitsrat werden, in dem über strittige Rüstungsexporte entschieden wird. Das Ministerium mit Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul an der Spitze hat diese Stellung rasch zu nutzen gewusst, um neue Gesichtspunkte in die Bewertung von Rüstungsexporten einzubringen. So argumentierte das Ministerium zum Beispiel im Fall der Lieferung von Kriegsschiffen nach Südafrika gegen eine Genehmigung, weil damit Ziele der Entwicklungspolitik gefährdet würden. Allerdings fehlt dem Ministerium der Unterbau, um ähnlich umfassend wie Wirtschaftsministerium oder Auswärtiges Amt über mögliche Empfängerländer informiert zu sein. Es gelang dem Ministerium in den Verhandlungen über die neuen politischen Grundsätze auch nicht, entwicklungspolitische Kriterien wirkungsmächtig zu verankern. Sie sind lediglich zu berücksichtigen, mehr aber auch nicht.

Diese gemischte Bilanz wird oft schlechter bewertet, als sie tatsächlich ist. Denn häufig werden als Maßstab des Erreichten nicht die Koalitionsvereinbarungen, die weitgehend umgesetzt wurden, sondern weitergehende Äußerungen führender Koalitionspolitiker aus ihrer Oppositionszeit benutzt. Auch wurde während der Regierungsperiode von einzelnen Koalitionspolitikern immer wieder der Eindruck erweckt, man werde die Rüstungsexporte drastisch einschränken. Tatsächlich aber blieb die Rüstungsexportpolitik auch innerhalb der Regierung heftig umstritten. Besonders deutlich wurde dies im erwähnten Fall Türkei. Große Teile der SPD hielten daran fest, dass einem NATO-Mitgliedsstaat die Genehmigung für die Lieferung von Panzern nicht verwehrt werden könnte. Bündnisgrüne und eine Minderheit in der SPD hingegen argumentierten, dass die Türkei Menschenrechte verletze, den Nordteil Zyperns völkerrechtswidrig besetzt habe und das Militär nicht unter demokratische zivile Kontrolle stelle. Der Kompromiss war bekanntlich, einen Testpanzer liefern zu lassen, und die Entscheidung über die Lieferung weiterer Panzer erst später zu fällen. Sehr deutlich wurden die Differenzen auch bei der Formulierung der neuen politischen Grundsätze in der zweiten Hälfte des Jahres 1999. Wirtschafts- und Verteidigungsministerium, die keine Modifizierungen wünschten, standen dem Auswärtigen Amt und dem Entwicklungshilfeministerium gegenüber, die grundlegende Änderungen wünschten. Das Kanzleramt agierte als Schiedsrichter und vermittelte einen Kompromiss. Interessant war, dass in diesen Verhandlungen, in die auch Parlamentarier der Koalitionsfraktionen eingebunden waren, die Trennungslinien nicht hauptsächlich entlang der Parteigrenzen verliefen, sondern eher entlang der von Ministerien vertretenen Teilinteressen. Auch bei Einzelentscheidungen war es oft – soweit dies aus dem geheim tagenden Bundessicherheitsrat bekannt wurde – das sozialdemokratisch geleitete Entwicklungsministerium, das am heftigsten für Restriktivität stritt.

Wäre eine restriktivere Rüstungsexportpolitik möglich gewesen? Diese Frage kann eindeutig bejaht werden. In der Koalition waren beispielsweise die Lieferungen von Kriegsschiffen nach Südafrika, Panzern in die Türkei und Panzerbauteilen nach Israel durchaus umstritten. Aber gemessen an den Vorgängerregierungen wurde die Rüstungsexportpolitik restriktiver.

Fazit: Enttäuscht wurden in den letzten vier Jahren vor allem die Hoffnungen derjenigen, die trotz Koalitionsvereinbarung auf eine restriktivere Rüstungsexportpolitik gesetzt hatten.

Dr. Michael Brzoska ist stellvertretender Direktor des Bonner Konversionszentrums (BICC)

zum Anfang | Von deklarierter Friedenspolitik zu Kriegseinsätzen

von Tobias Pflüger

Es gibt nur wenige Politikbereiche, in denen es unter Rot-Grün substanzielle Änderungen gegenüber der Vorgängerregierung gab, und dazu gehört interessanterweise die Bundeswehr, die sich von einer Armee mit Hauptaufgabe Landesverteidigung und gelegentlichen Auslandseinsätzen zu einer „Armee im Einsatz“ , so der heutige Generalinspekteur Harald Kujat, entwickelte. Heute, im Sommer 2002, sind über 10.000 Soldaten der Bundeswehr im ständigen Auslandseinsatz. Das Spektrum reicht von sogenannten humanitären Aktionen bis hin zu Kampfeinsätzen (Kommando Spezialkräfte in Afghanistan).

Entscheidend für die Veränderung der Bundeswehr war die Beteiligung am NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien.1 Diese Kriegsteilnahme muss als Grundsatzentscheidung gewertet werden. Es sieht so aus, als wäre auch für die deutsche Armee seitdem der Krieg wieder „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ An eine Armee, die zur Interessenvertretung auch außerhalb des NATO-Gebietes und u. U. auch noch gleichzeitig an mehreren Orten einsatzbereit sein soll, gibt es aber andere Anforderungen, als an eine Armee, die nur zur Verteidigung des eigenen Territoriums und dem der Verbündeten dient.

Trotzdem blieb die Struktur der Bundeswehr nach dem Jugoslawien-Krieg vorerst erhalten, es kam damals nur zu kleinen Veränderungen: Die Gesamtzahl der Bundeswehrangehörigen wurde von 340.000 auf 324.000 korrigiert, die Anzahl der Soldaten der Krisenreaktionskräfte, die als einziges für Kampf- und Kriegseinsätze genutzt werden können und dürfen, wurde von 53.600 auf etwas über 60.000 erhöht.

Später, im Jahr 2001, wurde – so das verbindliche Ressortkonzept – die Zielgröße der Bundeswehr auf 280.000 Männer und Frauen und die Anzahl der neu so benannten Einsatzkräfte auf 150.000 festgeschrieben. Quantitativ wurde also in zwei Phasen reduziert, qualitativ aber aufgerüstet.

Bundeswehr im Auslandseinsatz: Vom Balkan bis zum Hindukusch

„Zugegeben, man verliert schon ein bisschen den Überblick, wo deutsche Soldaten im Kampf gegen den Terrorismus überall im Einsatz sind“, so Andreas Cichowitz am 28.02.2002 in den Tagesthemen der ARD. Deutsche Soldaten befinden sich derzeit in Georgien, Bosnien, Jugoslawien (Kosovo), Mazedonien, Usbekistan, in der Türkei, am Horn von Afrika (vor Somalia), in der arabischen See, im Mittelmeer, in Kuwait, in Bahrein, in Djibouti, in Kenia und in den USA (Florida) – und nicht zu vergessen in Afghanistan (im Rahmen von ISAF und in Kampfeinsätzen).

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr können in drei Kategorien eingeordnet werden: Da sind einerseits die »europäischen« Bundeswehreinsätze in Bosnien (SFOR = Stabilization Force), im Kosovo (KFOR = Kosovo Forces) und in Mazedonien (Fox). Zum zweiten gibt es die Beteiligung der Bundeswehr an der »Schutztruppe« in Kabul und näherer Umgebung (ISAF = International Security Assistance Force). Die dritte Kategorie der Bundeswehreinsätze sind alle Auslandseinsätze im Rahmen von »Enduring Freedom«, dem sogenannten Antiterroreinsatz.

Die »europäischen« Bundeswehreinsätze

Auf dem europäischen Kontinent hat die Bundeswehr derzeit am meisten Bundeswehrsoldaten stationiert.

  • Die SFOR-Einheiten sollten als Nachfolgeoperation der NATO-geführten IFOR (Implementation Force) ursprünglich nur von 1996 bis 1998 in Bosnien stationiert bleiben. Stattdessen entwickelte sich dort das erste NATO-Protektorat und damit der erste langfristige NATO-Einsatz. 2002 sind von den ursprünglich 3.000 noch 1.693 Bundeswehr-Soldaten an SFOR in Bosnien beteiligt. Der Großteil der Soldaten sitzt im Lager Rajlovac, dem Sitz des Deutschen Heereskontingentes SFOR, weitere Soldaten finden sich im Außenlager Filipovici, beim Stab in Mostar oder beim SFOR-Hauptquartier in Butmir bei Sarajevo. Das deutsche Kontingent ist Teil der Multinationalen Division Süd-Ost (MND-SE) mit Sitz in Mostar mit Kontingenten aus Frankreich, Italien, Marokko und Spanien. Das Ganze steht unter französischer Führung. An SFOR sind NATO-Staaten und 16 Nicht-NATO-Staaten beteiligt, davon 14 sogenannte PfP-Staaten, also Staaten, die am NATO-Programm »Partnership for Peace« teilnehmen, einschließlich Russland und der Ukraine.
  • Als Folge des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien wurden im Bereich Kosovo, das formal noch zu Jugoslawien gehört, aber de facto unabhängig bzw. NATO-Protektorat ist, ab dem 12.06.1999 Einheiten der KFOR stationiert. Bis zu 8.500 Bundeswehrsoldaten können bei diesem zweiten langfristigen Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan stationiert werden. Gegenwärtig sind 4.732 deutsche Soldaten im Kosovo.
  • Der Einsatz Fox in Mazedonien ist der Folgeeinsatz der Operation »Amber Fox«, der auf den Einsatz »Essential Harvest« folgte, dem NATO-Militäreinsatz, bei dem es offiziell darum ging, 3.000 Waffen von der auch in Mazedonien militärisch agierenden UCK einzusammeln. Im Rahmen von Task Force Fox sind derzeit 615 Soldaten der Bundeswehr in Mazedonien.

Der Einsatz in Afghanistan

Die Bundeswehr hat ca. 1.200 Soldaten im Rahmen von ISAF (International Security Assistance Force) im Einsatz, der »Schutztruppe« für den Großraum Kabul. Seit März 2002 hat sie dort auch die taktische Führung der Multinationalen Brigade Kabul übernommen. Damit stehen circa 4.700 Soldaten aus 18 Staaten unter dem Kommando eines deutschen Brigadegenerals. Der Einsatzradius der ISAF-Truppen ist ausdrücklich auf den Großraum Kabul beschränkt.

Der Einsatz im Rahmen von »Enduring Freedom«

Nach den brutalen Terroranschlägen des 11. September erklärte Gerhard Schröder für die Bundesregierung die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA im »Krieg gegen den Terror«. Da US-Präsident George W. Bush den »Krieg gegen den Terror« solange führen will, bis alle Terroristen »ausgeräuchert« sind, droht Deutschland mit dieser Zusage in einen permanenten lang anhaltenden Krieg einbezogen zu werden.

Der Bundestag hat dieser »Ermächtigung« zum Einsatz der Bundeswehr am 16. November 2001 unter dem Druck der Vertrauensfrage (für Gerhard Schröder) zugestimmt. Wörtlich heißt es: „Im Rahmen der Operation ENDURING FREEDOM werden bis zu 3.900 Soldaten mit entsprechender Ausrüstung bereitgestellt: ABC-Abwehrkräfte, ca. 800 Soldaten / Sanitätskräfte, ca. 250 Soldaten / Spezialkräfte, ca. 100 Soldaten / Lufttransportkräfte, ca. 500 Soldaten / Seestreitkräfte einschließlich Seeluftstreitkräfte, ca. 1800 Soldaten / erforderliche Unterstützungskräfte, ca. 450 Soldaten… Die Beteiligung mit deutschen Streitkräften an der Operation ENDURING FREEDOM ist zunächst auf zwölf Monate begrenzt… Einsatzgebiet ist das Gebiet gemäß Art. 6 des Nordatlantikvertrags, die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete… Deutsche Kräfte werden sich an etwaigen Einsätzen gegen den internationalen Terrorismus in anderen Staaten als Afghanistan nur mit Zustimmung der jeweiligen Regierung beteiligen.“

Der Beschluss bedeutet u.a.:

  • Eine Aushebelung des »Parlamentsheers«, d.h. der Festlegung, das jeder einzelne Einsatz durch das Parlament beschlossen wird,
  • die mögliche Ausdehnung des Einsatzgebietes auf ein Drittel des Globus’
  • und der mögliche Rückgriff auf alle Einsatzarten – von sogenannten humanitären Einsätzen bis hin zu Kampfeinsätzen.

Diese »Kriegsermächtigung« wurde Stück für Stück umgesetzt: Heute im Sommer 2002 befinden sich Bundeswehrsoldaten im Rahmen von »Enduring Freedom« an folgenden Orten: Luftwaffenbasis Tampa/Florida (10), Kuwait (50), Afghanistan (92), Mittelmeer (280), Arabische See/Horn von Afrika (820), Bahrein (140), Djibouti (140), Kenia (100).

Von besonderer Brisanz sind hier sicher die 92 Soldaten des Kommando Spezialkräfte bzw. aus den Einheiten der Division Spezielle Operationen in Afghanistan, von denen bekannt wurde, dass sie entgegen der am 16. November mitbeschlossenen unverbindlichen Protokollerklärung an Kampfeinsätzen beteiligt waren. Besonders risikoreich auch die Stationierung von 50 ABC-Abwehrkräften in Kuwait. Über sie sagt Friedrich Merz (CDU): „Alles ABC-Abwehrmaterial ist in Kuwait geblieben, wenn es dort in der Region zu einem Konflikt kommt, ist Deutschland dabei.“2 Das heißt den »ABC-Abwehrkräften« ist eine konkrete Funktion zugeordnet, wenn es zu dem von den USA geplanten Krieg gegen den Irak kommt.

Zusammenfassung

Unter Rot-Grün wurde die Bundeswehr neu ausgerichtet, sie hat sich zu einer Armee im Einsatz entwickelt. Inzwischen sind über 10.000 deutsche Soldaten außerhalb des NATO-Gebietes stationiert. Die Bundeswehr ist dabei, kriegsführungsfähig zu werden und sich im Kernbereich zu einer Interventionsarmee zu entwickeln. Sie hat sich unter Rot-Grün nicht nur an zwei Angriffskriegen beteiligt, sondern in Afghanistan auch an Kampfeinsätzen, bei denen offensichtlich gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen wurde (sie hat Gefangene an US-Truppen übergeben, obwohl diese die afghanischen Gefangenen nicht als Kriegsgefangene behandeln). Eine bittere Bilanz: Kriegseinsätze anstelle der im Koalitionsvertrag formulierten Friedenspolitik.

Anmerkungen

1) Der Jugoslawienkrieg und die deutsche Rolle soll hier nicht Thema sein, deshalb ein Verweis auf das Buch: Der Jugoslawienkrieg, Eine Zwischenbilanz. Hrsg. v. Johannes M. Becker und Gertrud Brücher, Münster, 2001, darin auch mein Beitrag zur Rolle der Bundeswehr im Jugoslawienkrieg.

2) Financial Times Deutschland vom 24.05.2002.

Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

zum Anfang | Traditionspflege ist Geschichtspolitik

von Jakob Knab

Vor acht Jahren beteuerte der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Rudolf Scharping, mir gegenüber: „Für Ihr ausführliches Schreiben zur Praxis der Traditionspflege durch den jetzigen Verteidigungsminister danke ich Ihnen. Ich stimme Ihnen zu, dass dieser Umgang mit der Tradition nicht hingenommen werden darf. (…) Die SPD würde sich nach einer Regierungsübernahme dieser Frage annehmen und dort Änderungen vorschlagen, wo der gültige Traditionserlass missachtet wird.“1

Ein Rückblick auf Rühes »Umgang mit der Tradition«: Sieben Jahre lang hatte die Hardthöhe einen hinhaltenden Abwehrkampf um die Traditionswürdigkeit des Nazi-Generals Dietl geführt. Erst am 9. November 1995 ordnete Rühe die überfällige Umbenennung der »Generaloberst-Dietl-Kaserne« Füssen in »Allgäu-Kaserne« an. Nach dem Regierungswechsel griff dann Staatsminister Michael Naumann mit einem gewaltigen Paukenschlag in die Debatte ein: Am 27. Januar 1999, dem Gedenktag der Befreiung von Auschwitz, erklärte er, dass Namen von Kasernen, die nach Nazi-Generälen benannt sind, umbenannt würden: „Das ändern wir jetzt. Das schwör ich ihnen. In zwei Jahren finden Sie keine mehr.“2

Eine klare Distanzierung von der Wehrmacht auch bei Generalleutnant Willmann, dem damaligen Inspekteur des Heeres: „Die Wehrmacht hat sich zum reinen Ausführungsorgan für das nationalsozialistische Regime entwickelt. Die Führung der Wehrmacht hat Hitler ihre Loyalität immer wieder, manchmal in übertriebenem Maße, bewiesen. Dies führte so weit, dass in der Wehrmacht sogar offensichtlich verbrecherische Befehle gegeben und kritiklos umgesetzt wurden.“3

In der »Willmann-Fibel« wird Feldwebel Erich Boldt als „vorbildlicher Soldat“ vorgestellt. Boldt starb 1961, als er beim Übungssprengen seinen Soldaten das Leben rettete.

Generalmajor Hans Hüttner (1885-1956) ist traditionswürdiger Kasernenpatron der Bundeswehr in Hof an der Saale. An ihm lässt sich die arbeitsteilige Täterschaft von Wehrmacht und Einsatzgruppen aufzeigen. Bei der Eroberung von Shitomir (Ukraine) kämpfte Hüttner an vorderster Front. Auf den Fersen folgten die Mordgesellen der Einsatzgruppe C, die in Shitomir ein Blutbad anrichteten. In den dienstlichen Beurteilungen gilt Hüttner als „überzeugter Nationalsozialist“ und als ein soldatischer Führer, der „vom Nationalsozialismus erfüllt ist“. Am 20. April 1943, an »Führers« Geburtstag, hielt Hüttner in Hof eine Durchhalterede: „Einmal wird auch dieser Krieg siegreich zu Ende gehen und dazu wollen wir allen unserem Führer helfen!“ Es gibt wohl beziehungsreiche Zufälle: Am 30. April 1985, dem 40. Todestag von Adolf Hitler, wurde die »General-Hüttner-Kaserne« in Hof an der Saale eingeweiht.4

Als im Frühjahr 2000 BMVg Rudolf Scharping eine Kaserne suchte, die er nach dem Judenretter und »Gerechten unter den Völkern« Feldwebel Anton Schmid (gest. 1942) benennen könnte, schlug der Führungsstab der Streitkräfte nicht etwa die »General-Hüttner-Kaserne« in Hof (Saale) zur Umbenennung vor, sondern zunächst sollte der Name der »Feldwebel-Boldt-Kaserne« in Delitzsch weichen.5

Am 8. Mai 2000 wurde dann die »Rüdel-Kaserne« in Rendsburg mit einer historisch falschen Begründung in »Feldwebel-Schmid-Kaserne« umbenannt. Alle unrichtigen Aussagen zu Rüdel gehen zurück auf diese AP-Agenturmeldung vom März 2000: „Dem Potsdamer Militärgeschichtlichen Forschungsamt zufolge gehörte der bisherige Namensgeber Rüdel als ehrenamtlicher Richter von August 1944 an dem Volksgerichtshof an. Dieser verurteilte mehr als 5000 Menschen.“6

Diese ist aber irreführend. Meine Forschung hat ergeben: Durch Entschließung vom 7. Oktober 1939 ernannte Hitler General Rüdel auf die Dauer von fünf Jahren zu einem ehrenamtlichen Mitglied des Volksgerichtshofes (VGH). General Rüdel nahm im Frühjahr 1940 an einer einzigen Verhandlung des VGH teil; sie endete aufgrund Rüdels Intervention mit einem Freispruch. Es konnte keine weitere Beteiligung General Rüdels am VGH nachgewiesen werden.

Gut gemeinte Vorstöße Scharpings in der Traditionspflege wurden von den Traditionalisten in der Bundeswehr stets ignoriert und blockiert. Bereits im Frühjahr 1999 hatte Scharping Truppe und Stäbe aufgefordert, von sich aus Vorschläge für die Umbenennung von historisch belasteten Kasernennamen zu unterbreiten. Das Ergebnis: kein einziger Vorschlag ging auf der Hardthöhe ein. Auch Scharpings Ansprache vom 20. Juli 2000 im Bendlerblock in Berlin wurde nicht rezipiert. Er hatte diese Soldaten der Wehrmacht gewürdigt: „Der Oberleutnant Albert Battel verhinderte 1942 in Galizien unter Androhung von Waffengewalt eine Mordaktion gegenüber jüdischen Bürgern. Durch die Kriegsereignisse entkam er seiner Verhaftung. Er überlebte und wurde nach dem Krieg in Israel geehrt.

Der Hauptmann Wilm Hosenfeld war Offizier der Besatzungstruppe in Warschau. Aus eigener Initiative versteckte und rettete er verfolgte polnische und jüdische Bürger. Er selbst starb 1952 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.

Ewald Kleisinger half als Offizier in Warschau verfolgten Juden. Er stellte ihnen Personalpapiere aus und verschickte sie in seine Heimatstadt, wo sie als vermeintlich christliche Fremdarbeiter überlebten. Seine Tätigkeit blieb bis Kriegsende unentdeckt. Auch Kleisinger wurde später als »Gerechter der Völker« geehrt.

Generalleutnant Theodor Groppe, Kommandant einer Infanteriedivision, wagte es Ende 1939, Ausschreitungen gegen Juden unter Androhung von Waffengewalt zu verhindern und offiziell gegen Befehle Himmlers zu protestieren. Er wurde seines Kommandos enthoben und aus dem Dienst entlassen. Nach dem 20. Juli 1944 wurde Theodor Groppe im Zuge der allgemeinen Säuberungswelle verhaftet und er entging dem Tode nur mit knapper Not.“7

Die Bundeswehr hat so ihre Probleme mit dem historisch gebildeten Staatsbürger in Uniform. Offensichtlich ist nicht einmal das historische Datum »22. Juni 1941« auf der Hardthöhe geläufig. Ausgerechnet am 22. Juni 2001 wollten die Traditionalisten der Bundeswehr den »Ball des Heeres« veranstalten. Erst zivile Proteste von außen bewirkten Einsicht beim neuen Inspekteur des Heeres: „Wie erst kürzlich zu erfahren war, muss davon ausgegangen werden, dass dem 60. Jahrestag des Kriegsbeginns zwischen Deutschland und der damaligen Sowjetunionen am 22. Juni 2001 in der Öffentlichkeit und den Medien besondere Beachtung geschenkt wird. Die zeitgleiche Veranstaltung »Ball des Heeres« erscheint mir daher nicht mehr angeraten.“8

Scharping sprach 1994 davon, dass diese „Tradition nicht hingenommen werden darf“, Naumann versprach 1999, dass alle Kasernen, die nach Nazi-Generälen benannt sind, umbenannt würden. Passiert ist – von einer Ausnahme abgesehen – nichts. Diese Kasernen sind immernoch nach Militärs benannt, die beim Angriffs- und Vernichtungskrieg mit dabei waren: General-Hüttner-Kaserne in Hof, Schulz-Kaserne in Munster, Hülsmann-Kaserne in Iserlohn, Lilienthal-Kaserne in Delmenhorst, General-Konrad-Kaserne in Bad Reichenhall, Röttiger-Kaserne in Hamburg, Peter-Bamm-Kaserne in Munster, Briesen-Kaserne in Flensburg, General-Fahnert-Kaserne in Karlsruhe, General-Henke-Kaserne in Neuwied, General-von-Seidel-Kaserne in Trier, Mölders-Kasernen in Visselhövede und Braunschweig, Schreiber-Kaserne in Immendingen, Medem-Kaserne in Holzminden, General-Heusinger-Kaserne in Hammelburg.

Offensichtlich ist auch die Debatte um die Traditionswürdigkeit des Feldmarschalls von Mackensen ein Tabu: Bei Hitlers Traditionsoffensive 1937/38 war Mackensen zum traditionswürdigen Kasernenpatron gekürt worden. Hier ein Auszug aus seinem Sündenregister: In der Schlacht von Gumbinnen hatte Mackensen in nur zwei Stunden 9000 (Neuntausend) seiner Männer in Tod und Verderben gehetzt. Er selbst sprach von »Massenmord« und »Massenschlächterei«. Den Durchbruch von Gorlice-Tarnow erzwang Mackensen mit Giftgas. Mackensen empfand Genugtuung angesichts der Ermordung Erzbergers: „Den Schädling sind wir los…“ Mackensen verdammte Stauffenbergs Tat als „fluchwürdiges Attentat“. Mitte November 1944 richtete Mackensen einen Aufruf an die Jugend, um vierzehn- bis siebzehnjährige Jungen zu „Opferbereitschaft und Fanatismus“ zu ermahnen. Mackensen hielt bis zuletzt an Adolf Hitler als »Retter« fest. Mackensen ist weiterhin Kasernenpatron der Bundeswehr in Hildesheim.9

Anmerkungen

1) Schreiben Scharpings vom 6. Juni 1994 an den Autor

2) Bonn will mehrere Kasernen umbenennen; in: Süddeutsche Zeitung vom 30. Januar 1999

3) Der Inspekteur des Heeres am 1. Dezember 1999: Wegweiser für die Traditionspflege im Heer, S. 110.

4) Ralph Giordano: Die Traditionslüge. Vom Kriegerkult in der Bundeswehr, Köln 2000, S. 336.

5) Schmid-Kaserne im vierten Versuch, in: Schleswig-Holsteinische Landeszeitung vom 20. April 2000.

6) Nach dieser AP-Meldung berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. März 2000.

7) http://www.bundeswehr.de/news/reden/reden_minister/200700.html

8) Schreiben von Generalleutnant Gert Gudera vom 9. April 2001.

9) Theodor Schwarzmüller: Zwischen Kaiser und »Führer«. Generalfeldmarschall August von Mackensen, Paderborn 1995.

Jakob Knab, Kaufbeuren, ist Gründer und Sprecher der »Initiative gegen falsche Glorie«

zum Anfang | Der Zivile Friedensdienst
Ein Lichtblick im rot-grünen Tunnel

von Kathrin Vogler

„Mit aller Kraft“ wollte sich die neu gewählte Bundesregierung „um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktprävention bemühen“, so jedenfalls steht es in der Koalitionsvereinbarung von 1998. Der grüne Militärexperte Winfried Nachtwei (MdB) erkannte darin gar die erstmalige Selbstverpflichtung einer Regierung „auf den Primat der Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung“, welche sich in einer Vielzahl von Projekten konkretisiere. Im Mittelpunkt seiner Beispielliste stehen hierbei auch die Ausbildung in Peacekeeping und -building, eine zu schaffende Infrastruktur ziviler Konfliktbearbeitung und Friedensfachdienste.1 Damit wollte Nachtwei das Gewicht ziviler Außenpolitik stärken und das Gewicht des Militärischen zurückdrängen.

Im Juni 1999 fiel mit der Verabschiedung eines Rahmenkonzepts für den Zivilen Friedensdienst durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Startschuss für den staatlich mitfinanzierten Friedensfachdienst. Gefordert worden war dieser schon Anfang 1997 von einer Reiher Prominenter unterschiedlicher politischer Couleur in der »Berliner Erklärung«, die auch wesentliche Eckpfeiler eines solchen Dienstes beschrieb. Danach sollte er „in nationalen und internationalen Konflikten mit den Methoden der gewaltfreien Konfliktaustragung (…) dazu beitragen, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern oder zu beenden oder nach gewaltsamen Konflikten Prozesse der Versöhnung in Gang zu setzen.“ 2

Dafür sollten Friedensfachkräfte in mehrmonatigen Ausbildungsgängen geschult und in subsidiärer und pluraler Trägerschaft durch Nichtregierungsorganisationen mit staatlicher Unterstützung eingesetzt werden. Vorgearbeitet hatte hierfür bereits die Landesregierung NRW mit dem von ihr finanzierten und von Friedensorganisationen unter Federführung des Forum Ziviler Friedensdienst (ZFD) und der AGDF gestalteten viermonatigen Ausbildungsgang zur »Friedensfachkraft«.

Können Deutsche Frieden schaffen?

Aus einzelnen Friedensgruppen gab es deutliche Kritik an den ZFD-Plänen, zumal wenn es um Einsätze in Ex-Jugoslawien ging. Die Deutschen seien mitverantwortlich für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien und schon deswegen nicht geeignet für einen Zivilen Friedensdienst in diesem Gebiet; für eine Friedensbewegung, die nicht fähig sei, „die Regierung des eigenen Landes von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg abzuhalten“ könne der ZFD im Ausland zur Ausweichmöglichkeit werden und von der Bundesregierung könne er als ziviles Alibi für die weitere Militarisierung der Außenpolitik missbraucht werden. Das Projekt wurde als elitär zurückgewiesen, da es den Opfern westlicher Kriegführungspolitik unterstelle, sie seien unfähig im Umgang mit Konflikten. Ganz grundsätzlich wurde auch die Berechtigung von NROs zu humanitären Einsätzen in Kriegsgebieten infrage gestellt: „Die zivilmilitärische Zusammenarbeit der Nicht-Regierungs-Organisationen (NROs) gehört als Begleitprogramm zur militärischen Intervention. (…) Die Rolle von Cap Anamur im Jugoslawienkrieg war beispielhaft. Ohne deren Organisation der Flüchtlingsunterbringung und Verteilung der Flüchtlinge in die von NATO-Soldaten vorbereitete Lager wäre eine Bombardierung des Kosovo von der Dauer und in diesem Umfang nicht möglich gewesen. In dieser militärischen Zusammenarbeit werden auch in der Zukunft – zumindest teilweise – die Aufgaben des Zivilen Friedensdienstes liegen.“3

ZFD fördert nicht die NATO

Aus der Erfahrung der vergangenen drei Jahre können diese Einschätzungen nicht bestätigt werden. Der Zivile Friedensdienst ist kein NATO-Ergänzungsbausatz. Im Gegenteil: Er fördert – wenn auch in kleinem Rahmen – friedenspolitisch sinnvolle Projekte, die sich weder anmaßen, den von Krieg betroffenen Menschen die deutsche Weltsicht aufzuzwingen, noch sich der eigenen Verantwortung an Gewaltzuständen entziehen. Einige Projekte sind eingebunden in friedens- oder entwicklungspolitische Zusammenhänge in Deutschland, die Erfahrungen der Friedensfachkräfte fließen über Berichte, Veröffentlichungen und Veranstaltungen zurück in die deutsche Öffentlichkeit und tragen hier zu einer notwendigen Sensibilisierung bei. Zivile Friedensdienste in unterschiedlicher Form existieren inzwischen in vielen weiteren europäischen Staaten, sie beginnen sich zunehmend zu koordinieren und zusammenzuarbeiten. Diese positiven Entwicklungen basieren auf dem Engagement von NROs; sie können durch staatliches Handeln behindert oder gefördert, aber nicht ersetzt werden.

Auf Drängen der Trägerorganisationen sind einige Defizite der Anfangszeit inzwischen behoben worden. So werden heute auch Staatsangehörige aus Nicht-EU-Staaten im Rahmen des ZFD ins Ausland entsandt. Eine wesentliche antimilitaristische Kritik war, dass keine ZFD-Projekte fürs Inland geplant seien. Inzwischen bildet das Forum ZFD die ersten Friedensfachkräfte für den Einsatz im Inland aus. Die Finanzierung ihrer Einsätze ist allerdings nicht klar, da sie nicht in die Zuständigkeit des BMZ fallen und nicht den bisherigen Fördergrundsätzen entsprechen.

Langsamer Start

Das größte Problem des ZFD nach drei Jahren ist aber sein geringer Umfang. Die wenigen Friedensfachkräfte im Einsatz können weder belegen, dass ihre Arbeit dem Ziel gewaltfreier Konfliktbearbeitung nutzt, noch können sie in Deutschland wirklich als positive AkteurInnen wahrgenommen werden und damit politisch gegen die Militarisierung der Außenpolitik wirken. Zu sehr sind sie mit ihren anspruchsvollen Aufgaben im Einsatzland beschäftigt, zu isoliert sind die durchschnittlich drei Friedensfachkräfte pro Einsatzland.

Heute, am Ende der Legislaturperiode, befinden sich nach offiziellen Angaben über 100 zivile Friedensfachkräfte in 38 Projekten und 32 Ländern im Einsatz. Von Null auf 100 in drei Jahren – sollte diese Beschleunigung charakteristisch für die Durchzugsstärke der rot-grünen Regierung sein, wenn es darum geht, „den Primat der Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung“ in die politische Praxis einfließen zu lassen, gibt es tatsächlich wenig Anlass für Begeisterung. Wie gering der rote wie der grüne Mainstream selbst die Erfolge auf diesem Sektor werten, erschließt sich aus den entsprechenden Passagen der aktuellen politischen Äußerungen. Der Zivile Friedensdienst taucht im Wahlprogramm der SPD nur mit einem Satz, bei den Grünen gar nicht auf. Das Projekt ist für die SPD einfach noch zu klein und zu unspektakulär, um für Vereinnahmungsversuche interessant zu sein. Für die Grünen hat es den entscheidenden Schönheitsfehler, nicht im Außenministerium angesiedelt zu sein. Diese Konstellation ist vielleicht ein großes Glück für den ZFD, dem so propagandistische Umarmungen durch den Außenminister und politisch motivierte Einmischungen in die Projekte weitgehend erspart blieben. Ein »wirksames Instrument« ziviler Konfliktaustragung ist der ZFD allerdings noch nicht. Dazu bedarf es einer dauerhaften Absicherung und einer erheblichen Ausweitung der Projekte.

„Damit der Zivile Friedensdienst über die Graswurzelebene hinaus stärker regional wirksam werden kann, sollte in den nächsten vier Jahren das Potenzial an Friedensfachkräften von 100 auf 500 gesteigert werden. Das muss einhergehen mit einer schrittweisen Steigerung der Projektförderung.“4 Dieser Forderung des Abgeordneten Nachtwei, der sich damit einer Initiative des Forum ZFD anschließt, bleibt noch hinzuzufügen, dass es nicht allein um Quantität gehen kann. Es geht nicht zuletzt auch um die Frage, welche Projekte zu welchen Bedingungen gefördert werden, und wie die Projekte mittelfristig zu echten multi- oder bilateralen Friedenskooperationen heranwachsen können. Hier sind weiterhin die Friedensorganisationen gefordert.

Alternativen: Zivil oder militärisch, Frieden oder Krieg?

Es geht darum, den ZFD langfristig zu einer echten Alternative zum Militär zu entwickeln und ihn auch in Konkurrenz zum Militär dauerhaft zu finanzieren. Das bedeutet, die zunehmenden Kosten des ZFD müssen auch durch Umverteilung aus dem Bundeswehrhaushalt finanziert werden, statt auf Kosten wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik. Nur dann kann der ZFD auf Dauer den Anspruch verwirklichen, mehr zu sein als eine gewaltfreie Ergänzung einer durch und durch gewalttätigen und einseitig interessengeleiteten Politik. Diese Perspektive bleibt allerdings bei allen aktuell vorstellbaren politischen Konstellationen Zukunftsmusik.

„Außenpolitik, die ihren Anspruch von Friedenspolitik auch in der Praxis bestmöglich einlösen will, braucht neue und erweiterte zivile Fähigkeiten. Verglichen mit einer enorm kostspieligen militärfixierten Sicherheitspolitik sind die dafür notwendigen Friedensinvestitionen ausnehmend preisgünstig und erfolgversprechend.“5 Genau deswegen findet der ZFD auch zunehmend Anhänger bei CDU/CSU und FDP. Auf dieser pragmatischen Ebene liegen seine großen Chancen in den nächsten Jahren, denn die Begehrlichkeiten der Militärs und die »Bündnisanforderungen« der USA sind von den europäischen Ländern nicht finanzierbar, ohne erhebliche soziale Spannungen zu riskieren. Mögliche Vereinnahmungsversuche durch die Regierungsparteien (welche auch immer dies nach dem 22. September sein mögen) sollten PazifistInnen und AntimilitaristInnen nicht davon abhalten, den Zivilen Friedensdienst zu unterstützen, zu verbreiten, kritisch zu begleiten und für ihre Ziele zu nutzen.

Es gibt viel Dunkel im rot-grünen Tunnel. Dies hier ist wenigstens ein Lichtblick.

Anmerkungen

1) Winni Nachtwei: Replik auf die Gemeinsame Erklärung von Friedensorganisationen, 05.11.1998, www.friedenskooperative.de/themen/lobby_05.htm

2) »Berliner Erklärung für einen Zivilen Friedensdienst«, u.a. unterzeichnet von Hildegard Hamm-Brücher, Hans Koschnik, Manfred Stolpe, Rita Süßmuth, Hans-Joachim Vogel, Antje Vollmer

3) Ralf Cüppers, Siglinde Neher: »Out of area in Zivil« – neu gelesen. www.bundeswehrabschaffen.de o.J.

4) Winfried Nachtwei: Gewalt verhüten – Frieden fördern: Rotgrüne Beiträge zur zivilen Konfliktbearbeitung, April 2002

5) Ebd.

Kathrin Vogler ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung (Minden)

zum Anfang | Terroristenhysterie zum Demokratieabbau genutzt

von Heiner Busch

„Die Anschläge vom 11. September haben es deutlich gemacht: Gegen die neue Dimension des Terrors braucht es wirksame neue Massnahmen.“ Dieser Satz findet sich nicht etwa in einer Rede des Bundesinnenministers, sondern in der »Bilanz grüner Regierungsarbeit«.1 Es ist der erste im Kapitel »Innenpolitik«. Die Partei, die sich selbst als »Bürgerrechtspartei« deklariert, versucht dort ganz im Stil und in der Werbesprache einer modernen etablierten Partei den »Grünfaktor« zu erklären: „Was zur Bekämpfung von Terroristen notwendig ist, wird getan. Deutschland bewegt sich jedoch nicht in Richtung Polizei- und Überwachungsstaat.“ Die schlimmsten Pläne des Koalitionspartners habe man abgewendet: Dank der Grünen gebe es keinen Ausbau des Bundeskriminalamts (BKA) zu einem „deutschen FBI mit geheimdienstlichen Befugnissen“ und keine Fingerabdrücke in Pässe und Personalausweise.2 Stimmt: Nicht das BKA ist der Hauptgewinner des »Terrorismusbekämpfungsgesetzes«, sondern die Geheimdienste. Statt des Fingerabdrucks wird es biometrische Daten in den Ausweisen geben. Das Ausländerzentralregister wird ausgebaut – mit vollem Zugriff für Polizei und Dienste. Mit dem Asylgeheimnis ist es faktisch vorbei, weil die Asylbehörden von sich aus Terrorismus-Verdächtige an Polizei und Dienste melden sollen. Das Sozialgeheimnis wird für Rasterfahndungen durchlöchert. Das Ausländerrecht wird verschärft, aber nicht ganz so scharf wie Schily es wollte. Die Kronzeugenregelung wird zwar (vorerst) nicht wieder eingeführt, Ende April aber beschloss der Bundestag eine Ausweitung des § 129a des Strafgesetzbuches – Unterstützung einer terroristischen Vereinigung – auf Vereinigungen im Ausland. Zu den rechtlichen Anti-Terror-Paketen kommt ein finanzielles von insgesamt drei Milliarden DM, davon 500 Millionen für das Bundesinnenministerium (BMI) und seine nachgeordneten Stellen (Bundesgrenzschutz – BGS, Bundeskriminalamt – BKA, Bundesamt für Verfassungsschutz – BfV etc.) sowie 50 Millionen für den Bundesnachrichtendienst (BND).3 Von den vielen geschluckten Kröten ist in der grünen Bilanz nicht die Rede.

Die SPD hatte sich über Jahrzehnte an der Allparteien-Koalition der Inneren Sicherheit beteiligt – nicht nur während der sozialliberalen Koalition, sondern auch nach der »geistig-moralischen Wende« Kohls. SPD-Landesinnenminister regierten in Bundesländern, deren Polizeigesetze sich kaum von denen der konservativ regierten unterscheiden. Sie regierten mit in der Innenministerkonferenz, die einen grossen Teil der Entscheidungen in Sachen Polizei und Geheimdienste für die Parlamente vorkaut. Die SPD stellte lange Zeit die Mehrheit im Bundesrat und hat dort an vielen Gesetzesprojekten (etwa den Geheimdienstgesetzen oder dem Ausländergesetz) mitgewirkt. Und sie hat – trotz Sperrminorität – zwei verheerenden Verfassungsänderungen unter der Regierung Kohl zugestimmt: Der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 1993 und dem Grossen Lauschangriff 1998. Noch Ende Juli 1998 – mitten in der heissen Wahlkampfphase – hatte die SPD ein Positionspapier zur Inneren Sicherheit vorgelegt, das einmal mehr die „gestiegene Kriminalitätsbelastung“ wiederkäute.4 Für einen grundrechtlich motivierten Schwenk der Partei gab es wahrlich keine Anzeichen.

Dass auf innen- und justizpolitischem Gebiet für sie nichts zu holen war, hatte die Spitze der Grünen Partei offenbar schon bei den Koalitionsverhandlungen akzeptiert. Das Kapitel Innenpolitik trägt deutlich die Handschrift der SPD. Das zeigt sich zu allererst an der »Leitlinie«, die man von Tony Blairs New Labour übernommen hatte: „Entschlossen gegen Kriminalität, entschlossen gegen ihre Ursachen.“5 Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs ohne wenn und aber hatte die Politik der alten Regierung gekennzeichnet, sie sollte bis auf Ausnahmen auch die Leitlinie der neuen sein. Und zwar nicht nur hinsichtlich der organisierten Kriminalität, sondern auch bei der Kleinkriminalität: „Alltagskriminalität“ sei „konsequent aber bürokratiearm zu bestrafen.“ Die Förderung der »Wiedergutmachung« und des Täter-Opfer-Ausgleichs waren allenfalls Beiwerk. An eine Entkriminalisierung z.B. des Ladendiebstahls war nicht zu denken. Einziger Lichtblick war der pragmatische Schwenk in der Drogenpolitik hin zur kontrollierten Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige. Die Modellprojekte begannen im Frühjahr 2002 mit bundesweit 1.120 Abgabeplätzen (gegenüber derzeit 3.000 in der Schweiz).6

Kontinuität ebenso bei der »Prävention«, die auch für die neue Regierung vor allem mit repressiven Mitteln und Kontrolle betrieben werden sollte: „Wir werden Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sowie kriminalpräventive Räte nachhaltig unterstützen.“ Das hieß nichts anderes, als an dem von Kanther propagierten »Sicherheitsnetz« weiter zu häkeln. Mit 13 Bundesländern schloss der BMI als BGS-Dienstherr seit 1998 solche Partnerschaften, Ende 2000 auch mit der Deutschen Bahn: Private Sicherheitsdienste und BGS-Bahnpolizei machen dort gemeinsame Sache.7

Dass am allgemeinen Ausbau des Systems der Inneren Sicherheit nicht gerüttelt würde, ergab sich aber nicht nur aus den Aussagen, sondern erst recht aus den Leerstellen der Koalitionsvereinbarung. Hier einige Beispiele:

  • Aussagen zur Schleierfahndung – unter Kanther im BGS-Gesetz verankert – sucht man dort vergebens. Aus den seither erschienenen BGS-Tätigkeitsberichten geht hervor, dass sie ausgebaut wurde.
  • Die strategische Überwachung durch den »elektronischen Staubsauger« des BND war mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 ausgedehnt worden. In der Koalitionserklärung wurde sie nicht erwähnt; seit der G-10-Gesetz-Änderung – in Kraft seit Juni 2001 – darf der BND nicht nur die über Satelliten gesteuerte, sondern auch die leitungsgebundene Telekommunikation durchfiltern.
  • Zur Beschränkung der exzessiven Telefonüberwachung (TÜ) steht nichts in der Koalitionsvereinbarung. Das vom Justizministerium beim Freiburger Max-Planck-Institut in Auftrag gegebene Gutachten, mit dem die Praxis der TÜ überprüft werden sollte, ist noch immer nicht veröffentlicht. Die Zahl der Überwachungsanordnungen ist dagegen weiter gestiegen. Die Telekommunikationsüberwachungsverordnung, die die Anbieterfirmen zur Aufbewahrung von Verbindungsdaten zwingt, war unter der Regierung Kohl gescheitert, Rot-Grün brachte sie Anfang 2002 modifiziert über die Bühne. Mit dem Anti-Terror-Gesetz haben nun auch die Geheimdienste Zugang zu diesen Daten.
  • Die DNA-Profildatei war unter Kanther mit grossem populistischem Aufwand durchgebracht worden. „In den letzten Jahren“, so lobt sich das BMI, sei sie massiv gewachsen „von einigen hundert auf inzwischen 164.000 Datensätze (Dezember 2001).“ 8
  • Demonstrationsrecht: Die Koalitionsvereinbarung enthielt keine Aussagen über eine Rücknahme des Vermummungsverbots. Kurz vor der Fußball Europa-Meisterschaft im Sommer 2000 verabschiedete der Bundestag eine Passgesetzänderung: Hooligans sollten mit Passbeschränkungen belegt werden können. Die Regelung wird mittlerweile ausgiebig gegen DemonstrantInnen angewandt. Betroffen sind insbesondere Personen, die in den im Januar 2001 eingerichteten »Gewalttäter-Dateien« des BKA erfasst sind. Verurteilungen sind dafür nicht nötig.9

Auch auf europäischer Ebene setzte die rot-grüne Regierung die Politik ihrer konservativen Vorgängerin nahtlos fort. Am 22. April 1999, neun Tage bevor mit dem Amsterdamer Vertrag die Schengen-Kooperation formal in die EU-Strukturen eingegliedert wurde, trat die deutsche Schengen-Präsidentschaft mit einer Note an ihre Partner heran: Das Schengener Abkommen sollte – nunmehr vom Rat der Innen- und Justizminister – überarbeitet werden. Zu erweitern wären insbesondere die grenzüberschreitenden verdeckten Ermittlungsmethoden. Wie das geschehen sollte, demonstrierte das BMI fünf Tage später in einem Vertrag mit dem Nicht-EU-Mitglied Schweiz, in dem die grenzüberschreitende Observation und der Austausch von verdeckten Ermittlern selbst für präventive Zwecke erlaubt werden. Das – so heisst es seitdem – sei das Muster für weitere Verträge auch im Rahmen der EU.

Auf das deutsche Konto gehen weiter Vorschläge einer EU-Grenzpolizei oder einer EU-Bereitschaftspolizeitruppe, mit der dann u.a. Gipfeltreffen wie in Göteborg oder Genua zu schützen seien. Das BMI brüstet sich in seinem »innenpolitischen Bericht« mit seinem Beitrag zur Neukonzeption des Schengener Informationssystems (SIS2), das dann in Zukunft auch Daten über »violent troublemakers« enthalten soll.10

Insgesamt betrachtet, wird man am Ende der Legislaturperiode nicht einmal behaupten können, die rot-grüne Koalition habe anfänglich gemachte Versprechungen nicht eingehalten. Denn tatsächlich war in der Koalitionsvereinbarung das Versprechen einer anderen, an den Grundrechten orientierten Innen- und Justizpolitik, an einem Rückbau der ausufernden Befugnisse und der tatsächlichen Macht von Polizei und Geheimdiensten, nicht enthalten. Ein zukünftiger Bundesinnenminister Beckstein wird keinen Lichtschalter umlegen müssen.

Anmerkungen

1) Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion: Hätten Sie’s gewusst? Bilanz grüner Regierungsarbeit 1998-2002, Berlin März 2002, S. 12

2) ebd.

3) siehe Andrea Böhm: Anti-Terror-Programm des Bundes, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 70, Nr. 3 2001, S. 19

4) Den Rechtsstaat stärken – den Inneren Frieden wahren – die Innere Sicherheit gewährleisten. SPD-Positionspapier zur Inneren Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland, Juli 1998

5) Frankfurter Rundschau 22.10.1998

6) Süddeutsche Zeitung 28.2.2002

7) Innenpolitik Spezial: Innenpolitischer Bericht 1998-2002, S. 18f (Sonderausgabe der vom BMI herausgegebenen Zeitschrift Innenpolitik)

8) ebd., S. 14

9) siehe detaillierter Olaf Griebenow/ Heiner Busch: Nach Göteborg und Genua, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 69, Nr. 2/2001, S. 63-69; Burkhard Hirsch: Rechtlos durch geheime Staatsdatei, in: Grundrechte-Report 2002, Reinbek 2002, S. 50-58

10) Innenpolitik Spezial a.a.O. (Fn 7), S. 17

Heiner Busch ist im Arbeitsausschuss des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Halbzeit! Zwei Jahre Rot-Grün

Eine friedenspolitische Zwischenbilanz

Halbzeit! Zwei Jahre Rot-Grün

von Ulrich Albrecht / Thomas Klein / Horst Schmitthenner / Renate Backhaus / Heiko Kauffmann

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit den Veranstaltern der Konferenz
»HalbZeit – Zwei Jahre Rot-Grün – Politik braucht Einmischung«

1998: Nach 16 Jahren Kohl eine neue Regierung. Erstmals wurde Rot-Grün auf Bundesebene möglich und tatsächlich auch realisiert. Verständlich die Hoffnungen auf einen Politikwechsel:

  • auf ein Ende der Umverteilung von unten nach oben – auf mehr soziale Gerechtigkeit,
  • auf Verbesserungen im Bildungswesen, auf mehr Chancengleichheit statt Studiengebühren,
  • auf eine Außen- und Sicherheitspolitik, die sich aus den Fängen des militärischen Denkens löst, die auf zivile Konfliktlösung, Verständigung und Ausgleich setzt,
  • auf eine deutliche Abkehr von der in weiten Bereichen ausländerfeindlichen Politik der schwarz-gelben Regierung,
  • auf einen schnellen Ausstieg aus der Atomkraft und eine umfassende Förderung des Umweltschutzes …

Tatsächlich ließen die Regierungserklärung und erste Schritte – wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Debatten um die Besteuerung der Gewinne aus dem Aktienhandel, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Einführung einer Ökosteuer, der schnelle Atomausstieg, die doppelte Staatsbürgerschaft oder zumindest die erleichterte Einbürgerung – die Hoffnungen weiter keimen.
Doch leider nicht lange! Dann

  • verschwanden Wahlversprechen kommentarlos in der Versenkung wie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer,
  • wurde die Sozial- und Wirtschaftspolitik wieder dem angeblich »Machbaren« untergeordnet und die alte Politik der Umverteilung von unten nach oben fortgesetzt,
  • machte der Umweltminister beim Atomausstieg seinen Salto mortale rückwärts und sah zu, wie die Ökosteuer zweckentfremdet wurde,
  • beteiligte sich die rot-grüne Bundesregierung an dem völkerrechts- und verfassungswidrigen Krieg der NATO gegen Jugoslawien.

Die Enttäuschung war allerorten zu spüren und die Wahlniederlagen machten sie auch für die Regierenden spürbar.
Zur Halbzeit hat sich Rot-Grün wieder erholt:

  • auf Grund günstiger ökonomischer Faktoren. Steigende Exporte, sinkende Arbeitslosenzahlen und das 100 Mrd. Geschenk aus der UMTS-Versteigerung vergrößern den Spielraum und bringen positive Schlagzeilen.
  • in Folge einer skandalgeschüttelten Oppositionspartei, die ausreichend damit beschäftigt ist, nicht noch weiter im Schwarzgeldsumpf zu versinken.

Aber wie groß ist die Eigenleistung? Wie sieht die Bilanz nach zwei Jahren Rot-Grün aus? Hoffnungen sind oft trügerisch, illusorisch, aber was wurde aus den Ankündigungen der ersten Regierungstage, der Regierungsvereinbarung, aus den Versprechen der Wahlprogramme? Wie kann eine Politik aussehen, die tatsächlich mehr soziale Gerechtigkeit bringt (im Inneren wie auch international gesehen), die sich aus der Militär gestützten Machtpolitik verabschiedet, die die Zukunft der nächsten Generationen im Blick hat – also zukunftsfähig ist.

Auf dem Berliner „HalbZeit-Kongress“ treffen sich VertreterInnen aus dem gewerkschaftlichen Bereich, aus Friedens- und Umweltinitiativen, Jugendorganisationen und aus der Politik um zu bilanzieren und Vorschläge für eine andere Politik zu diskutieren. Mit dem vorliegenden Dossier möchte Wissenschaft & Frieden dazu seinen Beitrag aus friedenspolitischer Sicht leisten.

Jürgen Nieth

zum Anfang | Nachdenken über Militär in Deutschland

von Ulrich Albrecht

Die Wiedervereinigung, das Ende des Kalten Krieges, aber auch innergesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland wie die Kostenentwicklung der Sozialdienste für Kranke und Alte erzwingen die Konzipierung neuer Politikansätze, auch und gerade für die Streitkräfte. Es geht nicht lediglich um eine sektorale Reform, um eine Neubestimmung der Aufgaben der Bundeswehr und hernach um die angemessene Umstrukturierung der Truppe. Die Reform der Bundeswehr erweist sich vielmehr als verknüpft mit einer Vielzahl von allgemeinen Problemen dieser Gesellschaft. Über den Kriegsdienst ist der Zivildienst und damit ein großer Bereich der Sozialpolitik involviert. Standortentscheidungen der Streitkräfte greifen tief ins Wirtschaftsleben betroffener Kommunen ein. Soll die Bundeswehr künftig vermehrt bei der Katastrophenhilfe im Ausland sowie zu humanitären Aktionen eingesetzt werden, ist die Abstimmung mit zivilen Trägern von Nothilfe und humanitären Hilfsmaßnahmen erforderlich. Notwendig ist eigentlich ein übergreifendes Konzept, damit die Bundeswehr nicht einfach zivilen Organisationen Konkurrenz macht.

Diskurs ist aber nicht nur nötig über die Anpassung des Militärwesens an neue Zeiten und neue Probleme. Es steht auch eine Neuorientierung darüber an, von wem und wie solche Grundsatzentscheidungen wie die über die künftige Bundeswehr getroffen werden. Das nur der Exekutive oder – wie dies derzeit abläuft – einem einzelnen Ressortchef zu überlassen, verrät obrigkeitsstaatliches Denken vergangener Zeiten. Von einer rot-grünen Bundesregierung wäre so etwas eigentlich nicht zu erwarten.

In den alten angelsächsischen Demokratien untersteht das Militär seit Jahrhunderten zumindest dem Konzept nach der Legislative. In Großbritannien hat Cromwell die Herrschaft des Parlamentes über die Streitkräfte durchgesetzt, seit das Parlamentsheer 1644 mit seinen »Ironsides« (Eisenseiten) das königliche Heer bei York entscheidend besiegte. Es folgt eine wechselhafte Geschichte, aber nie haben seither die Krone und ihre Regierung formal die Oberhoheit über die Streitkräfte wiedererlangt. In den Vereinigten Staaten knüpfte man zumindest mit der Namensgebung eines der ersten Kriegsschiffe, »Old Ironsides«, an die republikanische englische Tradition an. Der Verfassung nach ist auch in den Vereinigten Staaten das Militär dem Kongress untergeordnet: Gemäß Section 8.1 des Artikels I steht es dem Kongress zu, „[to] provide for the common Defence“, „to raise and to support Armies“ und „to provide and maintain a Navy“ (Section 8.12 u. 13). Gemäß Section 8.11 liegt ferner beim Kongress das Recht, Krieg zu erklären. Der Präsident ist zwar Oberbefehlshaber (Article II, Section 2.1), das gilt aber für die Streitkräfte nur, „when called into the actual Service of the United States“.

Man mag über die faktische Kontrolle der Legislative in den USA und Großbritannien über den Gewaltapparat geteilter Meinung sein. Hervorzuheben bleibt aber das Leitprinzip, dass die Legislative, und eben nicht die Exekutive, beim Militär in der Vorhand sein soll.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung von 1994 zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine ähnliche Spur zu legen versucht und die Bundeswehr als Parlamentsheer eingestuft. Deswegen müsse der Bundestag, so die wenig beachtete Begründung dieser Entscheidung, über jeden Einsatz der Streitkräfte einzeln entscheiden. Wenn nach Auffassung des Verfassungsgerichts die Verwendung der Bundeswehr Sache des Parlamentes und nicht etwa der Regierung ist, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass nach Meinung der Verfassungshüter, würden sie angerufen, die Entscheidung über die künftige Bundeswehr im Parlament und eben nicht im Kabinett zu treffen ist. Das Parlament symbolisiert den Raum von Öffentlichkeit der Politik, während das Kabinett für das Arkanum (wörtlich: Geheimnis), die Nichtöffentlichkeit von Politik steht. Mit anderen Worten, geht die von Verteidigungsminister Scharping betriebene exekutive Neugestaltung der Bundeswehr klaglos durch, dann fällt ein Stück Demokratieentwicklung aus, welcher das Verfassungsgericht den Weg zu bereiten bestrebt war. Es geht mithin um weitaus mehr als um Fragen eines Politikfeldes, hier der Verteidigungspolitik, auch um mehr als die Lösung eines Streites um Kompetenzen zwischen Exekutive und Legislative. Mit der Militärfrage geht es zugleich um ein Stück Demokratie der Berliner Republik.

Der Bericht der sogenannten Zukunftskommission der Bundeswehr, verbunden mit dem Namen des vormaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, sollte eigentlich für eine breite und offene Debatte über die Zukunft des Militärs im neuen, dem vereinigten Deutschland führen. Dem wird regierungsseitig in vielfacher Hinsicht entgegen gearbeitet. Es handelte sich um eine Kommission des Verteidigungsministers. Versuche des Koalitionspartners, der Bündnis-Grünen, wenige eigene Kandidaten in die Kommission zu bringen (genannt wurden Otfried Nassauer und Peter Lock), wurden abgewiesen. Wie das Minderheitenvotum im Bericht der Weizsäcker-Kommission sowie Interviewäußerungen des couragierten Kommissionsmitgliedes Harald Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung anzeigen, behandelte der Verteidigungsminister die Kommission nach Gutsherrenart. Die Exekutive hat es in dieser Bundesrepublik nicht einmal nötig, die Unabhängigkeit einer sogenannten »Unabhängigen Kommission« sonderlich zu achten. Von einem Bezug auf das Parlament war schon gar nicht die Rede.

Die Hardthöhe, so das alte Synonym für das Bundesverteidigungsministerium aus Bonner Tagen, will offenbar Diskussionen über die Zukunft der Bundeswehr auf den Zeitraum dieses Jahres beschränken. Mit der Veröffentlichung eines finalen regierungsamtlichen »Weißbuches« in diesem Herbst soll die Debatte beendet sein.

Dabei steht eine gründliche Debatte an, wie es die Deutschen nach dem Ende des Kalten Krieges und ihrer Vereinigung mit dem Militär halten. Im vergangenen Jahrzehnt hat eine solche Debatte nicht stattgefunden. In dieser Sicht bildet sich derzeit eine Regenbogen-Koalition von Bundeswehr-KritikerInnen, die dem unwilligen Verteidigungsministerium und der in Regierungsloyalität verstrickten rot-grünen Bundestagsfraktion die Alternative vorhalten will, um die es eigentlich geht.

Vielleicht hilft eine persönliche Reminiszenz. Vor 25 Jahren fand ich mich selber in einer sehr vergleichbaren Situation. Die sozialliberale Koalition des Kanzlers Willy Brandt betrieb ab 1969 erkennbar Reformpolitik, innenpolitisch, gegenüber dem Osten. Nur in der Militärpolitik des Verteidigungsministers Helmut Schmidt war keine Innovation erkennbar. Ich regte damals an, neben das offizielle Weißbuch des Verteidigungsministers frech ein »Anti-Weißbuch« zu stellen, welches artikulieren sollte, worum es in der deutschen Militärpolitik eigentlich gehen sollte. Der Erfolg der Schrift1 war immens, gerade in der beginnenden Friedensbewegung.

Heute steht augenscheinlich eine Wiederholung an, ein zweites »Anti-Weißbuch« zu den etatistisch orientierten Planungen eines sozialdemokratischen Verteidigungsministers. Im Folgenden werden einige Grundlinien dieses Anti-Projektes skizziert. Die technischen Bedingungen haben sich im vergangenen Vierteljahrhundert freilich entscheidend verändert. Heute ist es das Netzwerk von friedenspolitisch engagierten Gruppierungen, nicht lediglich eine von einem Professor angeführte Arbeitsgruppe, welches an dem »Anti-Weißbuch-Projekt« arbeitet. Auch die Publikationsformen haben sich ausgeweitet: Neben dem herkömmlichen Buch, welches es gewiss auch geben wird, bietet das Internet vielfältige Möglichkeiten zur Verbreitung von kritischen Argumenten.

Kommunale Wirtschaft
und Streitkräfte

Der politische Versuch, die Debatte abzukürzen, hat vielfältige Gründe. Viele BürgermeisterInnen von Gemeinden, in denen die Bundeswehr Garnisonen unterhält, machen sich über künftige Verkleinerungen der Streitkräfte ihre eigenen Gedanken. Militärstandorte sind, wirtschaftlich gesehen, zumeist Einödstandorte. Die Gemeindeoberhäupter haben kaum Alternativen, um die Kommunen ökonomisch auf andere Standbeine zu stellen. Diese KommunalpolitikerInnen sind eine angestammte Klientel der Sozialdemokratie, die die Parteiführung nicht verprellen möchte. Der Rückzug einer Großzahl von ausländischen Soldaten aus dem Gebiet der alten Bundesrepublik hat vielen Garnisonsstädten in den vergangenen zehn Jahren erhebliche Probleme eingetragen, die nicht vergessen sind. Vor zehn Jahren waren etwas mehr als 400.000 Soldaten aus anderen NATO-Ländern in der Bundesrepublik stationiert. Heute sind es weniger als ein Viertel, die genaue Zahl liegt bei 98.020. Mit anderen Worten, die lokalen wirtschaftlichen Multiplikatorwirkungen einer Armee von der Größenordnung der heutigen Bundeswehr entfielen. Hinzuzurechnen sind weitere 165.000 deutsche Soldaten, um die die Bundeswehr im gleichen Zeitraum verschlankt wurde: Im Vertrag über die deutsche Vereinigung wurde festgehalten, dass die Stärke der Streitkräfte des neuen Deutschland eine Obergrenze von 370.000 Mann haben solle. Aus Haushaltsgründen ist diese Zahl mittlerweile auf rund 332.000 zurückgegangen. Mit anderen Worten: in den wirtschaftlichen Randzonen der alten Bundesrepublik sind im vergangenen Jahrzehnt mehr als eine halbe Million Soldaten abgezogen worden und die Verantwortlichen in den verbliebenen Militärstandorten wissen aus neuer Erfahrung, was ihnen blüht, wenn die Bundeswehr weiter verkleinert wird. Die Entwicklung lässt sich auch an der Zahl der offiziellen Standorte der Bundeswehr ablesen. Die ging in den neunziger Jahren um ziemlich genau ein Drittel zurück, von 994 im Jahre 1990 auf 640 im Jahr 2000. In den neuen Bundesländern wird das Verschwinden der Nationalen Volksarmee (173.000 Mann, andere bewaffnete »Organe« nicht mitgerechnet), vor allem aber der Abzug von 330.000 russischen Soldaten zum wirtschaftlichen Niedergang beigetragen haben, der durch den Einzug der Bundeswehr bei weitem nicht kompensiert wurde. Die KommunalpolitikerInnen in den neuen Bundesländern dürften um den Erhalt von Bundeswehrstandorten zumindest ebenso heftig kämpfen wie ihre KollegInnen im alten Bundesgebiet.

Eine zweiter Bereich, in dem es um womöglich größere öffentliche Kosten geht und in dem die Bundesregierung keine Debatte wünschen kann, ist der Zivildienst. Entfiele die Wehrpflicht, gäbe es auch keine rechtliche Grundlage mehr dafür, junge Männer zu dem länger dauernden Zivildienst einzuziehen. Die Zahl der den Wehrdienst verweigernden Zivis und der wehrpflichtig dienenden jungen Männer hält sich nunmehr in etwa die Waage, je etwa 150.000. Die Wohlfahrtsverbände müssten beim Wegfall der Wehrpflicht in der Altenpflege, bei der Versorgung von langfristig Pflegebedürftigen, bei der Betreuung Behinderter womöglich auf voll bezahlte Kräfte zurückgreifen. Die Standards in der Sorge um diese Mitmenschen haben sich dankenswerterweise erhöht. Auch steigt mit zunehmender Lebenserwartung die Zahl der Versorgungsbedürftigen. Eigentlich stünde eine grundlegende Neukonzeption der Art und Weise an, wie die deutschte Gesellschaft sich dem Problem ihres steigenden Durchschnittalters und der Folgeprobleme annimmt. Angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen und den Finanzierungsproblemen der Altenpflege ist nachvollziehbar, dass die Bundesregierung einer öffentlichen Debatte darüber ausweicht, wie ohne Zivis bei der Betreuung von Alten und Bedürftigen auszukommen wäre. Aber eben eine solche Debatte steht an. Zahlen müssen auf den Tisch: Was würde es kosten, Alten, Behinderten, langfristig Pflegebedürftigen zumindest das gleiche Maß an Betreuung zukommen zu lassen, welches sie bisher erfahren haben? Und wie wäre dieser Aufwand zu finanzieren? Anders gefasst: Verbunden mit der Entscheidung über die Zukunft der Bundeswehr sind große Entscheidungen über die Gestaltung der Sozialpolitik nötig, vergleichbar der Herausforderung, vor der einst Reichskanzler Bismarck vor der Einführung der modernen Sozialgesetzgebung in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts stand. Aber in der derzeitigen Bundesregierung ist kein Bismarck sichtbar.

Die Weizsäcker-Kommission hat diesen Komplex nicht thematisiert. Das war nicht ihr Mandat. Aber man wird die reputierlichen Mitglieder der Kommission fragen dürfen, warum sie nicht Fragen gestellt haben, wie etwa die nach den Folgen eines Endes der Wehrpflicht für den Sozialbereich. Fragen zu stellen ist die wichtigste Aufgabe solcher Kommissionen. Auf diese antworten dann die Regierungsapparate. Das Scharpingsche Verteidigungsministerium hat darauf geachtet, dass mit der Auswahl der in die Kommission zu berufenden Persönlichkeiten Trouble vermieden wurde. Das ist nicht als Kritik an den honorigen Mitgliedern dieses Gremiums gemeint. Der Minister hat aber nicht darauf Wert gelegt, in die Kommission Zeitgenossen zu holen, die etwa wie BürgermeisterInnen in Bundeswehrstandorten Fragen nach der ökonomischen Zukunft ihrer Kommunen stellen würden, wenn die Bundeswehr weiter verkleinert werden muss, oder die für die Wohlfahrtsverbände Fragen aufwerfen würden, wie sie ohne Zivis auskommen sollen. Die Beantwortung von Fragen kurzer Reichweite, Beschwichtigung, nicht die prinzipielle Lösung von Problemen, für die eigentlich die Allgemeinheit ihre Politiker bezahlt, steht auf der Tagesordnung. Die Zukunft der Bundeswehr wird viel mehr und gewichtigere Probleme aufwerfen, als gemeinhin in den Blick genommen werden.

Stefan Gose hat in einem Kommentar angesprochen, welches Forum angemessener Weise die Frage nach dem weiteren Zweck der Bundeswehr und ihrer künftigen Gestaltung erörtern sollte: „Das ist eine zutiefst politische Frage, die nicht von einer Kommission des Verteidigungsministers beantwortet werden kann. Hier sind Öffentlichkeit und Parlament gefragt.“ Und Gose verweist auf die bisherige Haltung der Sozialdemokraten: „Zu Oppositionszeiten forderte die SPD lautstark eine parlamentarische Enquète-Kommission mit öffentlicher ExpertInnenanhörung zur Bundeswehrstruktur.“ In der Tat wäre der Bundestag das angemessene Forum. Auch Soldaten wünschen seit einiger Zeit einmal eine Anhörung etwa über die Erfahrungen bei Auslandseinsätzen der Streitkräfte. Zu befürchten bleibt allerdings, dass die Regierung aus Opportunitätsgründen die Militärfrage weiterhin niedrig hängen will.

BildungspolitikerInnen beklagen, dass nunmehr die FinanzministerInnen die tatsächliche Bildungspolitik bestimmen. Angesichts des Streites um Zahlen zur Mannschaftsstärke der künftigen Bundeswehr oder über die Rüstungskosten entsteht mehr und mehr der Eindruck, dass der Bundesfinanzminister auch auf dem Felde der Sicherheitspolitik das eigentliche Sagen bekommt. Das wäre die am wenigsten wünschenswerte Entwicklung. Dem muss entgegen gewirkt werden – am besten durch eine breite politische Neubestimmung der gesellschaftlich gewünschten künftigen Rolle der Bundeswehr.

Worum es eigentlich geht

Die angekündigte Privatisierung eines Teiles der Bundeswehrverwaltung wird weitaus mehr als eine Ökonomisierung des Verteidigungsaufwandes bedeuten. „Privatisierung bleibt ein wichtiger Ansatzpunkt für mehr Effizienz“, heißt es auf der Homepage der Bundeswehr. Eine Vielzahl von Ausbildungsaufgaben ist mittlerweile an gewerbliche Träger übergeben worden, so etwa die Grundausbildung der Transportflieger. Der Verteidigungsminister will diesen Weg fortsetzen.

Die Privatisierung wirft vielfältige Fragen auf, etwa nach den künftigen Möglichkeiten parlamentarischer Kontrolle eines solchen Privatbetriebes. Die Anbindung der Streitkräfte an die Logik des Marktes stellt einen ersten Schritt dar in einem sehr viel grundsätzlicheren Wandel. Das Informationszeitalter überformt die künftige Tätigkeit des Militärs schon heute in einem Ausmaß, welches wenig wahrgenommen wird. In den USA spricht man begeistert von einer »Revolution in Military Affairs«, die herkömmliche Vorstellungen vom Soldatenberuf über den Haufen wirft. Diese Revolution sei umfassend, sie könnte zum Ende der bisherigen Leitbilder von Streitkräften und allem, was wir als ihre Besonderheiten kennen, führen. Den „Cyborg, eine Schimäre aus Mensch und Machine“ (Hans Magnus Enzensberger) haben die Militärs mit dem »Information Warrior« schon fest im Blick. Das Gewehr, dem Jargon zufolge »die Braut des Soldaten«, wird vom Laptop abgelöst. Die Computertechnologien berauben alte Handlungsmuster und Rollenverständnisse in den Streitkräften ihrer Selbstverständlichkeit. Gar das Urelement militärischer Organisation, die Befehlshierarchie, steht zur Disposition – Hierarchien werden wie in der privaten Wirtschaft abgeflacht. Auf derartige Herausforderungen an ein modernes Militär antwortet vorerst offiziell niemand. Stattdessen werden alte Zöpfe weitergeflochten. Es ist nicht nur auf die Frage zu antworten, wofür die Bundeswehr künftig gebraucht wird – es ist auch festzulegen, welche Art Streitkräfte die Bundesrepublik haben soll. Informatisierung und Privatisierung sind augenscheinlich die grundsätzlichen Wegmarken für solche Entscheidungen. Offen ist, ob diese Entwicklungen unvermeidlich sind und ob sie politisch wirklich mitgetragen werden.

Einer der Altbestände, welche absehbar auf der Strecke bleiben werden, ist die Wehrpflicht. Die Deutschen hatten mit der in ihrer Geschichte, entgegen offiziösen Darstellungen, noch immer ihre Schwierigkeiten. In Frankreich entstand die allgemeine Dienstpflicht mit der Revolution von 1789, sie blieb eng verbunden mit dem Mythos der Revolution. 1793 verordnete der Revolutionäre Konvent in mehreren Gesetzen für die Dauer des Krieges – mithin keineswegs permanent für Friedenszeiten – die allgemeine Dienstpflicht unverheirateter Männer vom 18. bis zum 25. Lebensjahre. In den napoleonischen Kriegen kam es in Deutschland wie in anderen Monarchien zu ersten Aushebungen von Soldaten gegen die französische »levée en masse«.

Mit dem »Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienst« vom 3. September 1814 wurde in Preußen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Diese Regelung wurde im Norddeutschen Bund mit dem »Gesetz, betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst« vom 9. November 1867 auf die anderen Bundesstaaten ausgedehnt und selbst das Grundgesetz spricht in dieser Tradition zuerst vom Kriegsdienst und nicht von der Wehrpflicht. Mit dem Versailler Friedensvertrag wurde 1919 die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Reich verboten. Nach dieser Zwangspause proklamierte Adolf Hitler am 16. März 1935 zwecks »Wiederwehrhaftmachung« des deutschen Volkes die allgemeine Wehrpflicht erneut. Die im Potsdamer Abkommen von 1945 von den Siegermächten verfügte „Völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands“ erbrachte nur zehn Jahre später wieder das Ende der allgemeinen Wehrpflicht. Nach dieser neuerlichen Zwangspause rekrutierte das Adenauer-Deutschland im Kalten Krieg auf der Grundlage des Wehrpflichtgesetzes vom 21. Juli 1956 über die Wehrpflicht ein Massenheer zur Abwehr der Gefahr aus dem Osten. Mit anderen Worten, die allgemeine Wehrpflicht hat in Deutschland eine vielfach gebrochene und unterbrochene Tradition. Statt sie von SiegerInnen verbieten zu lassen, könnten die Deutschen sich nunmehr selber die Freiheit nehmen, über die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht zu befinden.

Das gern zitierte Diktum des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuß, die Wehrpflicht sei das legitime Kind der Demokratie, bleibt ein dünner Versuch der Rechtfertigung (in Hitlers Drittem Reich war dann halt die Wehrpflicht ein illegitimes Kind wie andere Maßnahmen dieses Unrechtsstaates auch). Nüchtern betrachtet, handelt es sich beim Wehrdienst (auch dem Zivildienst) um unterbezahlte Zwangsarbeit, die in aristokratischen Zeiten den Untertanen abverlangt werden konnte, die aber in der Moderne keine Statt hat. Oberstleutnant Jürgen Rose spricht von „einer in höchstem Maße ungerechten Verteilung der wahren Verteidigungslasten zu Ungunsten der wehrpflichtigen Generation junger Männer, die vermittels der von ihnen erzwungenen Dienstleistung de facto eine Naturalsteuer entrichten – die Gesamtheit der Staatsbürger beutet sozusagen einen jungen Jahrgang zu seinem Vorteil aus“ (Frankfurter Rundschau vom 22. Mai).

Besonders mit Blick auf den Zivildienst ist womöglich zu reden über ein soziales Dienstjahr, welches die junge Generation, Frauen und Männer, künftig für die Gemeinschaft absolvieren. Ein solcher Dienst könnte im Bereich derjenigen Tätigkeiten erfolgen, die heute die Zivildienstler erbringen. Er könnte auch beim Technischen Hilfswerk, im Umweltschutz, in der Entwicklungszusammenarbeit, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder eben auch bei der Bundeswehr geleistet werden. Der Bochumer Theologe und Praktiker Hans-Ekkehard Bahr hat schon vor Jahren unter Betonung des Umweltschutzes auf die Möglichkeiten eines solchen »sozialen Jahres« hingewiesen.

Sicherheitspolitische Probleme

Bleiben die im engeren Sinne militärischen Fragen. Auch hier ist leider der rot-grünen Bundesregierung bislang ein Nullum an Antworten anzukreiden. Besonders die Kernfrage, der »Auftrag« der Streitkräfte, bleibt offen. Wozu wird die Bundeswehr heute benötigt?

Die Weizsäcker-Kommission stellt in ihrer »Risikoanalyse« heraus, dass Deutschland auf absehbare Zeit militärisch nicht direkt bedroht wird. Auch die NATO steht ohne Gegner da, der Bündnisfall wird nicht demnächst ausgerufen werden können. Wenn weiter »Abschreckung« erfolgen soll – gegen wen, warum mit den bisherigen Streitkräften und ihrer aus den Tagen des Kalten Krieges stammenden Rüstung?

Das verschärft die Frage nach der künftigen Aufgabe der Streitkräfte. Der erweiterte Begriff von Sicherheit, welchen die Kommission ihrem Bericht zu Grunde legt, erscheint vor allem geeignet, die Bedeutung der Truppe zu relativieren. Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtspolitik erfordern andere Akteure als Soldaten.

Das Militär in aller Welt rüstet sich nunmehr für internationale Hilfseinsätze, bevorzugt unter dem Banner der Vereinten Nationen. Fachleute sind sich einig darüber, dass das Personal für solche Operationen vielfältigen Anforderungen genügen muss. Die künftigen »Gewaltspezialisten« müssen im Training Techniken der Konfliktbewältigung lernen, sie benötigen rechtliche Kenntnisse und psychologisches Gespür. Die von der neuen Bundesregierung ins Leben gerufene Kurzausbildung von Friedensfachkräften gibt die Richtung an, wie künftig Qualifizierungen für Aufgaben der Friedenswahrung in Krisenregionen erfolgen sollten. Diese Qualifikationsprofile entsprechen eher denjenigen der Polizei, zumindest denen des Bundesgrenzschutzes, als denen der Bundeswehr. Der Arbeitskreis Darmstädter Signal, ein Zusammenschluss aktiver und ehemaliger Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr, befand jüngst: „Für Entwicklungshilfe oder polizeiliche Arbeit – wie im Kosovo – sind Streitkräfte wenig geeignet (…) Der Einsatz militärischer Mittel (stellt) die teuerste, gefährlichste und schlechteste Form der Konfliktlösung dar.“ Die Streitkräfte mit Vorrang in eine Art übergroßen Bundesgrenzschutz umzumodeln, hat aber niemand vorgeschlagen.

Für die Aufgaben der »Krisenbewältigung« (im Deutsch der Hardthöhe) werden nicht nur anders ausgebildete Kräfte gebraucht, sondern auch anderes Material. Die schweren Kampfpanzer der Bundeswehr sind nicht das wichtigste Mittel, um Konvois von Hilfslieferungen zu schützen oder miteinander streitende Ethnien zu trennen. Im Kosovo müssen die Panzerbesatzungen der Leopard II ausklügeln, welche Brücken ihre 60-Tonner noch nutzen können und erfahren so erhebliche Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit.

Idealerweise sollte die Ausrüstung von Heerestruppen für Einsätze »out of area« (des Vertragsgebiets der NATO) lufttransportfähig sein, womöglich gar aus der Luft abwerfbar. In Marinekreisen wird hervorgehoben, dass Schiffe bei internationalen Operationen eine in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommene Rolle spielen. Darf die Bundesmarine nunmehr hoffen, vom Küstenschutz loszukommen und wieder wie zu Tirpitz Zeiten mit hochseetüchtigen Dickschiffen ausgestattet zu werden? Für die Luftwaffe liegt die Option auf der Hand: Für dringliche Frachtaufgaben muss endlich das »Future Large Aircraft«, ein Schwertransporter, her. Mit anderen Worten: Mitten im Frieden zeichnet sich eine weitere Nachrüstung ab, die dem murrenden Steuerzahler mit Verweis auf die neuen Anforderungen an die Bundeswehr nahe gebracht werden wird.

Der neue militärische Interventionismus bedarf einer deutschen Antwort, besonders aus dem rot-grünen Lager. Die »humanitäre Intervention« ist keine Neuheit dieser Tage. Die europäischen Großmächte nutzten exakt diese Figur vor rund zweihundert Jahren, um dem niedergehenden osmanischen Reich zwecks Schutz von christlichen Minderheiten interessante Gebietsteile abzuzwacken. Ein Abgleich der Regionen, in denen humanitär interveniert wird, mit Wirtschaftsinteressen bleibt auch heute lehrreich, besonders im Vergleich mit jenen Regionen, in denen schreiende Verletzungen von Menschenrechten eben nicht mit Gewaltinterventionen geahndet werden.

Von französischer Seite heißt es herablassend, die Deutschen verfügten nicht über „eine Kultur der Intervention“ (ergänze: welche es in Frankreich gibt). Kann daraus folgen: die Bundesrepublik sollte nicht anstreben, zu den Traditionsmächten von militärischer Intervention, klassischen Kolonialmächten, aufzuschließen, sondern sie müsse wie andere kleine europäische Mächte auch eine andere, womöglich zivilistischere Antwort finden auf die Frage, wie mit massiven Menschenrechtsverletzungen umzugehen ist? Eine solche Antwort der Mittelmacht Bundesrepublik auf die Frage, wie Nothilfe erfolgen kann, sollte nicht von dem Tatbestand ausgehen, dass die Bundeswehr wie die Streitkräfte anderer Staaten nach neuen Aufgaben sucht. Sie sollte umgekehrt von der zu lösenden Aufgabe ausgehen, dem Schutz von Menschenrechten, und hierauf organisatorisch integrierte Antworten bestimmen. Das Militär würde in solchen Konzepten eine geringe Rolle einnehmen, an einem der Pole des Eskalationsspektrums.

Neue Antworten stehen besonders aus für die Nuklearpolitik, der Kernfrage moderner Verteidigungspolitik. Meint die Bundesregierung, Kernwaffen seien fürderhin zur Verteidigung – und gegen wen? – nötig oder meint sie dieses nicht? Sendepause. Hat sie eine Auffassung dazu, ob auch künftig US-amerikanische atomare Fliegerbomben auf den beiden deutschen Stationierungsorten in der Eifel verbleiben sollen? Die Briten haben, ohne irgendeinen NATO-Partner oder gar die gastgebenden Deutschen zu fragen, ihre atomaren Fliegerbomben auf eigene Faust abgezogen. Die letzte britische Atomwaffe verließ im Herbst 1998 das Bundesgebiet. Diese Entscheidung war schon von der konservativen Regierung getroffen worden. Warum sollte, was für englische Atombomben gilt, nicht auch gleichermaßen für US-Kernwaffen Geltung haben?

Die Weizsäcker-Kommission hat immerhin diese Bomben zur Disposition gestellt und vorgeschlagen, sie in Abrüstungsverhandlungen einzubeziehen. Harald Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Mitglied der Weizsäcker-Kommission, spricht das Verhandlungsziel aus: diese Bomben aus der Bundesrepublik zu entfernen (Frankfurter Rundschau vom 25. Mai 2000). Aber warum soll wegen der Entfernung dieser Restbomben auf deutschem Boden überhaupt verhandelt werden und mit wem? Die Russen haben nunmehr alle Atomwaffen im eigenen Lande und sie würden nur zu gern ihre immensen Vorräte weiter reduzieren, vor allem wenn es dafür Devisen gibt. Ein »bargaining chip« in Form der Preisgabe US-amerikanischer Kernwaffen in der Bundesrepublik ist für sie alles andere als interessant.

Das Detail der in der Bundesrepublik verbliebenen US-Atombomben illustriert exemplarisch das alte Denken der SicherheitspolitikerInnen. Sie meinen, hier über Verhandlungstrümpfe zu verfügen, die längst keine mehr sind. Unverdrossen schieben sie weiterhin auf ihren Schachbrettern ihre Figuren hin und her und merken nicht, dass ihre Handlungen überholt sind.

Eine breite europäische Debatte steht an

Der Verteidigungsminister wird mit seinem Vorhaben nicht durchkommen, den Bericht der Weizsäcker-Kommission von der Tagesordnung abzusetzen und ihn durch ein finales Verteidigungs-Weißbuch abzulösen. Die Neubestimmung der Rolle des Militärs ausgerechnet in Deutschland bleibt ein gesellschaftliches Großmanöver, welches ein Minister oder auch ein Kabinett nicht einfach nach Gutdünken handhaben kann. Es sind vielfältige Interessen berührt, die der Soldaten und ihrer Familienangehörigen, auch die der Rüstungsindustrie (um nur zwei anzuführen). Der Bundeswehrverband, die Interessenvertretung der Soldaten, meldet sich zu Wort. Ebenso die Friedensforschung, etwa das Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik. Die Oppositionsparteien, besonders die CDU, wollen der rot-grünen Regierung die Wende in der Bundeswehrpolitik nicht einfach durchgehen lassen. Auch die FDP meldet eigene Vorstellungen an.

Es geht um mehr als Partialinteressen und Profilierungsbemühungen von Parteien. Die Schlüsselmomente in der Entwicklung der Militärfrage im Nachkriegsdeutschland, die Wiederaufrüstung in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, die Auseinandersetzung um die atomare Bewaffnung der neuen Bundeswehr kurz danach, der Streit um die sogenannte »Nachrüstung« mit Mittelstreckenraketen bleiben Höhepunkte des innenpolitischen Disputes der Republik, sie entfalteten sich besonders in den ersten beiden Schritten zu Sternstunden des Parlamentes.

Das vereinigte Deutschland ist weiterhin damit beschäftigt, zu Klarheit zu gelangen, was die überraschend errungene Einheit politisch für sich selber und die europäischen NachbarInnen bedeutet. Besonders diese drängen nach mehr als zehn Jahren auf Antworten, nachgerade in der Militärpolitik des nunmehr so mächtigen Deutschland. Die Kohl-Regierung vermochte mit ihrem Angebot des »Weiter so« wie vor der weltpolitischen Wende nicht zu überzeugen. Die neue Bundesregierung wird nicht damit durchkommen, lediglich ihrem Fachminister die Entscheidung darüber zu überlassen, wie es mit dem Militär in Deutschland weiter geht. Sie ist von NachbarInnen umgeben, die von den Deutschen nunmehr europäische Antworten erwarten.

Verblüffend bleibt im Jahr 2000 der Versuch, die Probleme der Sicherheitspolitik nationalstaatlich deutsch angehen zu wollen. Das Fehlen einer direkten Bedrohung der Bundesrepublik gilt gleichermaßen für die europäischen NachbarInnen. Die Sorge um Krisengefahren in Regionen um die EU herum ist eine gesamteuropäische. Europäische Probleme erfordern europäische Antworten, nicht hausgemachte deutsche. Von einer dezidierten Europäisierung der Verteidigungsproblematik ist in der Berliner Republik aber nicht die Rede, weder im Ministerium noch bei der Weizsäcker-Kommission.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, welche mit dem Vertrag von Maastricht auf den Weg gebracht werden sollte, harrt weiter der Umsetzung. Hier könnten die Deutschen einen wichtigen Beitrag leisten. Eine entschiedene Europäisierung der Organisation des Verteidigungswesens würde nicht nur die deutschen Nachbarn verstärkt davon überzeugen, dass in der neuen Bundesrepublik ein anderer, neuer Geist herrscht, dass die Gefahr eines »4. Reiches« wirklich nicht gegeben ist. Eine solche dezidiert europäische Orientierung würde auch einen Motivationsschub bei den Angehörigen der Streitkräfte für ihre Tätigkeit ergeben, wie er heute in Bezug auf Aufgaben des UN-Peacekeeping schon zu verzeichnen ist.

Eine solche von deutscher Seite lancierte Europäisierung der Verteidigungspolitik müsste freilich auch die zentralen Probleme angehen, die der Fortsetzung des Maastricht-Prozesses im Bereich der Sicherheitspolitik entgegen stehen. Da ist zu allererst die Zukunft der Kernwaffen in den Händen der EU-Mitglieder Großbritannien und Frankreich anzusprechen. Gewiss ist Frankreich und Großbritannien zuallerletzt von deutscher Seite anzuraten, was mit ihren Atomwaffen in einer gemeinsamen Sicherheitspolitik zu geschehen habe. Aber von einer Macht wie der Bundesrepublik wird zu Recht erwartet, dass sie einen Politikklärungsprozess einleitet, wie mit der Kernwaffenfrage in Europa umgegangen werden könnte. Zumal die Lösungen auf der Hand liegen. Ebenso wie in sonstigen Politikbereichen nunmehr von einer »Mehrebenenpolitik« ausgegangen wird, die den europäischen Politikprozess charakterisiert, lässt sich vorstellen, dass in der Sicherheitspolitik eine Mehrebenen-Struktur zum Tragen kommt, die eben den EU-Mitgliedern Frankreich und Großbritannien – und nicht den Deutschen – eine Vorrangrolle einräumt.

Faktisch herrscht allerdings weitum Skepsis bezüglich der Europäisierung der Militärpolitik. Zwar wird es die internationale Eingreiftruppe gemäß den EU-Beschlüssen des vergangenen Jahres demnächst geben. Aber solche internationalen Verbände sind in vielfacher Gestalt schon heute vorhanden. Die Bundeswehr verweist mit einer gewissen Berechtigung auf eine Anzahl internationaler Gemeinschaftsprojekte mit den Streitkräften von Nachbarstaaten. Die Auflösung der nationale Souveränität symbolisierenden Armeen hinein in ein europäisches Integrationsprojekt steht jedoch nicht an. Der Arbeitskreis Darmstädter Signal meint gar: „Die Chance zur Entwicklung eines europäischen Systems kollektiver Sicherheit auf der Grundlage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) scheint vertan.“

Es genügt politisch nicht, sich zu einem weiten Sicherheitsbegriff zu bekennen, der etwa ökologischer Sicherheit einen höheren Rang mit Bezug auf Gefährdungen einräumt als den herkömmlichen militärischen Traditionen. Verlangt werden müssen gestalterische Konzepte, wie die neuen vieldimensionalen Gefährdungen von Sicherheit in eine kohärente Vorsorge einbezogen werden, bei der womöglich weiterhin Professionals wie Soldaten eines neuen Typus die Umsetzung des Schutzes besorgen. Die Vorgabe einer solchen Vision, die Detaillierung einer Perspektive, wie sich die Sicherung des europäischen Gemeinwesens künftig entwickeln könnte, würde ähnlich wie die positive Resonanz auf UN-Peacekeeping-Anforderungen weiter zu einer verstärkten Identifikation mit diesem öffentlichen Dienst beitragen, würde den Soldaten die Gewissheit geben, dass der Verteidigungsminister nicht lediglich Abwehrschlachten zum Bestandsschutz der Truppe führt, sondern sich tatsächlich als ihr Zukunftsminister versteht. Derzeit thematisiert Scharping Defizite der Bundeswehr in Bezug auf Vorfindliches (Bundeswehr »nicht europafähig«). Viel wichtiger sollten die Defizite in Bezug auf künftige Aufgaben sein, von den Herausforderungen des Informationszeitalters, der bewusst vorangetriebenen Europäisierung der Streitkräfte bis hin zu den Aufgaben, die sich aus der Ausweitung des Sicherheitsproblems ergeben.

Vor allem müsste sich das Parlament aus seiner Trägheit lösen und aktiv werden. Von der eh bundeswehrfrommen CDU/CSU ist da allerdings wenig zu erwarten, und die rot-grüne Mehrheitsfraktion wird sich kaum aus der Pflicht holen lassen, die Regierung zu tragen. Da auch bei der FDP kein Engagement erkennbar ist, bleibt als parlamentarischer Widerhaken lediglich die PDS – die aber selber zu schwach ist, um eine Kursänderung einleiten zu können. Bleibt als Adressatin die allgemeine friedenspolitische Öffentlichkeit, das, was von der Friedensbewegung lebendig geblieben ist.

Prof. Dr. Ulrich Albrecht lehrt am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung

zum Anfang | Statt »Waffen für die Welt« nun »restriktiv« gehandhabter Rüstungsexport?

von Thomas Klein

Die Meldung kam überraschend: „Der Bundessicherheitsrat hat der Lieferung von 1.200 Panzerfäusten an Saudi-Arabien zugestimmt. In streng vertraulicher Sitzung entschied das Gremium am 28. Juni unter Vorsitz von Bundeskanzler Gerhard Schröder mit drei zu zwei Stimmen gegen das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium für die Exportgenehmigung.“ 2

Die kritische Öffentlichkeit hatte sich zuletzt sehr auf ein anderes Geschäft konzentriert: die von der Türkei im Herbst letzten Jahres geäußerte Absicht, nach einer Testphase möglicherweise bis zu 1.000 Kampfpanzer vom Typ Leopard-2 anzuschaffen. Dass in der Zwischenzeit eine Reihe anderer, durchaus sehr heikler Rüstungslieferungen stattfanden, ist darüber etwas untergegangen. Dabei handelte es sich bei diesen Lieferungen – bzw. den erteilten Genehmigungen für demnächst anstehende Exporte – sowohl um Geschäfte, die noch unter der bei Rüstungsexportentscheidungen skrupellos agierenden Kohl-Kinkel-Regierung genehmigt worden waren, sowie um einige, die in den letzten zwei Jahren durchgewunken wurden.

Die Lieferung eines Leopard-2-Kampfpanzers – wenn auch zunächst nur zu »Testzwecken« – war tatsächlich der entscheidende Schritt, mit dem sich für alle deutlich sichtbar eine ganz erhebliche Kluft auftat zwischen den vor der Wahl getroffenen Absichtserklärungen und in SPD- und Grünen-Parteiprogrammen festgehaltenen Grundsätzen einerseits und der Politik der neuen Bundesregierung andererseits.3

Hier ist von großer Bedeutung: Im Zusammenhang mit der Entscheidung erklärte die SPD/Grüne Bundesregierung, auch sie habe – wie schon die Vorgängerregierung – keine Erkenntnisse darüber, dass die bereits im Besitz der türkischen Armee befindlichen 400 Leopard-1-Panzer und andere deutsche Waffen gegen die kurdische Bevölkerung des NATO-Landes eingesetzt wurden. Da stellt sich die zugegebenermaßen eher rhetorisch gemeinte Frage: Gedächtnisschwund in der Hauptstadt? Schließlich hatten ehemalige OppositionspolitikerInnen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wegen des wiederholt belegten Einsatzes deutscher Waffen gegen die kurdische Zivilbevölkerung 1994 eine Anzeige wegen »Beihilfe zum Völkermord« gegen den damaligen Außenminister Klaus Kinkel mit unterstützt!4 Folgerichtig charakterisierten im Herbst 1999 diverse Zeitungen diese Rüstungsexportpraxis mit dem Tenor: die rot-grüne Bundesregierung hat die Lügen der alten Bundesregierung »geerbt«. 5

Zu Oppositionszeiten hatte Rudolf Scharping unmissverständlich erklärt: „Im Übrigen habe ich nicht verstanden, dass die Bundesregierung Waffen in die Türkei liefert, von denen man ja nicht ausschließen kann, dass mit ihrer Hilfe Frauen und Kinder zusammengeschossen werden. Das ist eine gottserbärmliche Politik. Wir sind der Auffassung, dass die Waffenexporte schlicht eingestellt werden sollten und dass es eine absolut restriktive Handhabung geben muss.“ Die »gottserbärmliche Politik« scheint bei dem NATO-Partner Türkei, der nachweislich seit Jahren unter klarem Vertragsbruch deutsche Waffen einsetzt – was an sich ein sofortiges Waffenembargo zur Folge haben müsste – »automatisch« Bestandteil der deutschen Rüstungsexportpolitik zu sein, unabhängig von der politischen Zusammensetzung der Bundesregierung: »Automatisch« kann hier auch mit den offiziell gerne benutzten Begriffen »Bündnistreue«, »strategische Interessen« oder »Lastenteilung in der NATO« übersetzt werden.

Immerhin gewann mit der Leopard-2-Entscheidung die Diskussion darüber, wie die von den Regierungsparteien SPD und Bündnis90/Die Grünen im Koalitionsvertrag vereinbarte Neufassung der Richtlinien für den Rüstungsexport konkret ausgestaltet werden sollen, erheblich an Fahrt. Am 19. Januar 2000 wurden vom Bundeskabinett die von einer Arbeitsgruppe erarbeiteten Richtlinien verabschiedet.

Was ist neu an den nun gültigen Richtlinien? Angekündigt wird die Vorlage eines jährlichen Rüstungsexportberichts, in dem die Bundesregierung die Exportgenehmigungen – in Abkehr zur bisherigen Praxis – auch aufgeschlüsselt darstellen will. Damit wird der alten Forderung vieler Anti-Rüstungsexport-Initiativen entsprochen, mehr Transparenz in das »Geschäft mit dem Tod« zu bringen. Allerdings werden Rüstungsexportentscheidungen weiterhin in dem geheim tagenden »Bundessicherheitsrat« beschlossen. Verschiedene NGOs haben eine Initiative gestartet, die sich dafür ausspricht, auch hier mehr Transparenz herzustellen. 6

Neu ist auch der unmittelbare Bezug zur Situation im möglichen Empfängerland. Der liest sich so: „Der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland wird (…) besonderes Gewicht beigemessen. Genehmigungen für Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern werden grundsätzlich nicht erteilt, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass diese zur internen Repression im Sinne des EU-Verhaltenskodex für Waffenausfuhren oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden.“

Die verabschiedeten Richtlinien thematisieren auch den Endverbleib von Kriegswaffen: „Genehmigungen für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern werden nur erteilt, wenn zuvor der Endverbleib dieser Güter im Empfängerland sichergestellt ist.“

Insgesamt wird aber der Kriegswaffenexport in NATO- und EU-Staaten sowie in einige der »NATO-gleichgestellte Länder« weiter nicht eingeschränkt.

Entsprechend kritisch fielen die Stellungnahmen von Anti-Rüstungsexport-Initiativen aus, die feststellen, dass es zwar eine Reihe von Verbesserungen gibt, dass aber auch die neuen Richtlinien nicht unbedingt zu dem gewünschten und erhofften Rückgang an Waffenausfuhren führen. Gerade hinsichtlich der Ausdehnung der NATO und der EU nach Ost- und Südosteuropa sei die Formulierung der grundsätzlichen Nichteinschränkung Grundlage für einen weiterhin umfangreichen Rüstungsexport.

Die Befürchtung der Anti-Rüstungsexport-Initiativen und der sich noch friedenspolitisch engagierenden Gruppen, dass die von der neuen Regierung noch zu Oppositionszeiten geforderte Änderung der Rüstungsexportpolitik nach der Bundestagswahl keinen Niederschlag findet, wurden in der Praxis durchweg bestätigt. Bisher sind nur sehr wenige sich anbahnende Geschäfte bekannt geworden, die nicht den »Segen« des Bundessicherheitsrates erhielten. Vielmehr haben sowohl die Bestellungen Südafrikas zur Realisierung eines in der Geschichte des Landes beispiellosen Aufrüstungsprogramms, als auch die von einigen Ländern Lateinamerikas geäußerten Wünsche nach Waffen »made in Germany« sowie viele Bestellungen von Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, hier vor allem des NATO-Partners Türkei, fast ausnahmslos grünes Licht aus Berlin erhalten. Im Falle Südafrikas mit dem Argument, wenn die alte Regierung viele Waffenlieferungen an das Apartheid-Regime genehmigt habe, könne die neue Regierung nicht einer demokratischen Regierung ihre Wünsche ausschlagen. Eine ähnliche Argumentation bei den lateinamerikanischen Ländern. Nachdem die Zeit der Militärdiktaturen vorbei sei, könnten hier Waffenlieferungen nicht blockiert werden. Bei den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wird von einen stattgefundenen Demokratisierungsprozess gesprochen, dem die deutsche Rüstungsexportpolitik Rechnung tragen müsse. Alles keine überzeugenden Argumente, so werden denn in den offiziellen Darstellungen auch immer wieder die strategischen Interessen des Westens oder die angeblich mit den Rüstungsexporten verbundene Sicherung von Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik als zusätzliche Begründungen herangezogen.

In Zahlen liest sich das Ganze so: Nach Angaben des Friedensforschungsinstituts SIPRI, das den Ex- und Import konventioneller Großwaffen untersucht, nimmt die Bundesrepublik unter den weltweit größten Waffenlieferanten 1999 den vierten Rang ein. Mit Rüstungsexporten im Wert von 2,7 Milliarden Mark lag Deutschland hinter den USA, Russland und Frankreich, und noch vor Großbritannien, auch unter einer SPD-Grünen Bundesregierung in der Spitzengruppe der RüstungsexporteurInnen. 7

Da Frankreichs Exporte zuletzt rückläufig waren, könnte in der nächsten SIPRI-Statistik – sollte sich diese Tendenz verfestigen – die Bundesrepublik sogar an dritter Stelle auftauchen. Das entspricht sicher nicht dem, was sich viele AnhängerInnen und ParteigängerInnen der SPD und der Bündnisgrünen noch vor zwei Jahren vorgestellt haben. Klar ist: Das Volumen der deutschen Rüstungsexporte wird, »restriktiven Bestimmungen« und Verschärfungen zum Trotz, weiterhin auf hohem Niveau bleiben. Der genaue Rang auf den von SIPRI erstellten Listen oder in den Statistiken anderer Friedensforschungsinstitute ist dabei nicht entscheidend. Wichtig ist viel mehr die in den vorliegenden Zahlen abzulesende Tendenz und die sah im aktuellen SIPRI-Bericht so aus, dass zwei Länder erhebliche Steigerungsraten beim Rüstungsexport aufwiesen: Russland und Deutschland. 8

Die sogar zur offiziellen Losung gewordene Formel von der „Kontinuität deutscher Außenpolitik“ (Minister Fischer) bedeutet im Rüstungsexportsektor in der Praxis, dass oftmals die aus friedenspolitischer Sicht konflikt- und krisenverschärfende Politik der ehemaligen Kohl-Kinkel-Regierung fortgesetzt wird. (Beim Stichwort »Waffenlieferungen an Saudi-Arabien« hätten an sich alle Alarmglocken angehen müssen. Statt dessen ist zu befürchten, dass der eingangs geschilderten Entscheidung – Panzerfäuste für die Saudis – weitere heikle Geschäfte folgen. Und wieder einmal geht es dabei auch um Panzer).

Eine grundlegende Änderung der Rüstungsexportpolitik steht weiterhin aus. Mit den im Bundessicherheitsrat vertretenen Ministern Müller und Scharping und Kanzler Schröder wird sie – das lehrt uns die bisher anzutreffende Praxis – lediglich graue Theorie bleiben. Da zur Zeit auch nicht gerade eine machtvolle Friedensbewegung die Bundesregierung unter Druck zu setzen und angesichts der tatsächlichen Rüstungsexportpraxis in Erklärungsnöte zu stürzen vermag und an der Basis der Regierungsparteien nur wenige die Umsetzung »alter Überzeugungen und Grundsätze« einfordern, bleibt – hinsichtlich der stattgefundenen Verschärfungen der Rüstungsexportrichtlinien – nur eine sehr alte, leider immer wieder zutreffende Erkenntnis: Papier ist geduldig.

C. Thomas Klein ist Soziologe, freier Journalist und Autor. Er war einige Jahre als Geschäftsführer im Rüstungsexport-Archiv Idstein und bis vor kurzem als Presse- und Öffentlichkeitsreferent bei der bundesweiten Kampagne gegen Rüstungsexport (Wiesbaden) tätig.

zum Anfang | Systemwechsel in Rot-Grün
Zur Debatte um die Alterssicherung

von Horst Schmitthenner

Dass das Altersicherungssystem die wichtigste Säule des deutschen Sozialstaates darstellt, war bisher weitgehend unumstritten. Zweifelsfrei wurde ihm ein unverzichtbarer Beitrag zur sozialstaatlichen Verfassung unserer Gesellschaft zugeschrieben. Drei Komponenten prägen das deutsche System der Alterssicherung:

Zum Ersten beruht das deutsche Alterssicherungssystem auf mehreren Säulen: der gesetzlichen Rentenversicherung, der betrieblichen Altersvorsorge und der privaten Zusatzvorsorge. Laut Enquete-Kommission »Demographischer Wandel« des Deutschen Bundestags hat die gesetzliche Rentenversicherung einen Anteil von 78,1 Prozent an der Gesamtleistung der Alterssicherung in Deutschland (1995). Aus dieser zentralen Stellung der gesetzlichen Rentenversicherung ergibt sich bereits ihre Priorität in einer solidarischen Reformpolitik.

Zum Zweiten ist der sozialpolitische Erfolg der Rentenversicherung nicht zuletzt das Verdienst seiner tragenden Strukturprinzipien. Grundlegende Konstruktionsprinzipien, die Finanzierungstechnik und der Anpassungsmechanismus haben nicht nur ein erhebliches Maß an ökonomischer Stabilität gewährleistet. Zugleich erwies sich die Rentenversicherung als ausgesprochen flexibel, als es etwa galt, die Jahrhundertaufgabe der sofortigen Integration von etwa 5 Mio. ostdeutschen RentnerInnen zu bewältigen. Und schließlich gelang es, die im Rentenbezug stehenden Generationen an der Wohlstandssteigerung der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Lag das Nettostandardrentenniveau in den 60er Jahren in der Nähe der 60 Prozent, so stieg es bis 1980 auf 70,3 Prozent und pendelt seit den achtziger Jahren um die 70-Prozent-Marke.9 Damit sichert es nach 40 bis 45 Versicherungsjahren ein Niveau, das 1983 von einer offiziellen Alterssicherungskommission als untere Grenze eines »altersgemäßen Lebensstandards« definiert wurde.10

Schließlich ist die paritätische Finanzierung zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen ein konstitutives Strukturprinzip der deutschen Rentenversicherung. Bezog sich die paritätische Beteiligung der Arbeitgeber in den Anfangsjahren faktisch auf eine Armenfürsorge, so trug der Arbeitgeberbeitrag im Zuge der Teilhabe der RentnerInnen am gesellschaftlichen Wohlstandswachstum zunehmend zur Finanzierung eines Leistungsniveaus bei, das dem sozio-ökonomischen Entwicklungsstand der Gesellschaft entsprach. Die paritätische Finanzierung im deutschen Sozialstaat beschränkt sich also in ihrer Funktion nicht auf die Beteiligung der Arbeitgeber an einer Grundversorgung.

Der rentenpolitische Vorlauf

Die so konstruierte Rentenversicherung konnte sich bis vor geraumer Zeit der Zustimmung einer breiten gesellschaftlichen Koalition sicher sein.

Vor allem die Standortdebatte hinterließ aber ihre Spuren. Noch vor der letzten Bundestagswahl hatte die konservativ-liberale Regierungskoalition unter Norbert Blüm eine Rentenreform vorgelegt, die aufgrund ihrer Leistungskürzungen bei der SPD-geführten Opposition und den Gewerkschaften auf heftige Kritik stieß. Im Zentrum dieser Kritik standen der geplante »Demografie-Faktor«, der das Netto-Standardrentenniveau bis 2030 auf etwa 64 Prozent herab drücken sollte, sowie die geplante Ersetzung der heutigen Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente durch ein System einer Erwerbsminderungsrente.

Nach der gewonnenen Bundestagswahl machte die rot-grüne Bundesregierung einige Härten des RRG 99 rückgängig und kündigte zugleich bis zum Jahr 2000 eine grundlegende Rentenreform an. Das im Juni 1999 von Bundesarbeitsminister Walter Riester vorgelegte Rentenreformkonzept ließ jedoch bereits die Bereitschaft erkennen, mit zentralen Solidarprinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung (Aussetzung der Rentenanpassung nach der Nettolohnentwicklung, Aushebelung der paritätischen Finanzierung) und mit dem bisherigen Sozialstaatskonsens zu brechen.11 In den folgenden Monaten veränderte die Bundesregierung einzelne Regelungen des Rentenkonzepts (Abschied von der obligatorischen Privatvorsorge hin zur Förderung einer freiwilligen), blieb jedoch bei den grundsätzlichen Eckpunkten ihres Strukturkonzeptes. Zugleich begann sie »Renten-Konsens-Gespräche« mit Teilen der parlamentarischen Opposition. Die Gewerkschaften legten im Februar 2000 ihrerseits ein gemeinsames Positionspapier (Positionen des DGB zur Rentenstrukturreform)12 vor.

Der Einstieg in das »Mischsystem«

Bereits das »Altersvorsorge-Paket« ließ deutlich werden, dass die sozialdemokratisch geführte Regierung den Kräften nachzugeben bereit war, denen Norbert Blüm noch widerstanden hatte. Dies überraschte um so mehr, als die Kritik an den Blüm-Plänen und das Bekenntnis zur solidarischen Rentenversicherung unbestritten einen entscheidenden Anteil am Erfolg bei der Bundestagswahl 1998 hatten.

Schon seit Jahren zeichnete sich unter den ProtagonistInnen kapitalgedeckter Alterssicherungssysteme die Tendenz einer strategischen Neuorientierung ab. Nicht mehr die Forderung nach einem radikalen Systemwechsel, sondern die Perspektive eines »Mischsystems« rückte in den Mittelpunkt. Diese sollte aus einer paritätisch und über Beiträge finanzierten Grundrente und aus einer ausschließlich arbeitnehmerfinanzierten ergänzenden Privatvorsorge bestehen.

Dieser Strategiewandel ging teilweise sogar mit einer Entideologisierung der Debatte einher. So werden plötzlich selbst in den Zentralen des Sozialstaatsskeptizismus, etwa in der Deutschen Bundesbank, ökonomische Sachverhalte anerkannt, die zuvor immer wieder mit erbitterter Härte negiert worden waren. Dies gilt etwa für die Probleme, mit denen sich angesichts der erwarteten demographischen Strukturverschiebungen auch das Kapitaldeckungsverfahren konfrontiert sieht.

Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem sozialpolitischer Romantik gewiss unverdächtige Kreise mit lange verteidigten Mythen aufräumen, dient ein neu ernannter Arbeitsminister Fachwelt und Öffentlichkeit das Kapitaldeckungsverfahren als Antwort auf die demografischen Probleme an – und dies auch noch mit dem Gestus, »Neues« – gar »Innovatives« – zu präsentieren.

Dabei hat sich das von Bundesarbeitsminister Walter Riester vorgelegte Rentenreformkonzept weitgehend gegen sozialpolitische Prüfkriterien immunisiert. Denn nicht mehr die Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung gilt als Maßstab des Systems; vielmehr ist die gesamte »Reform« aus der Zielperspektive einer Senkung bzw. Deckelung der Beitragssätze zur Rentenversicherung formuliert. Die zentrale Stoßrichtung der rot-grünen Rentenpläne, wie sie am 30. Mai 2000 (Modell 1)13 und – leicht modifiziert am 3/4.7. 2000 (Modell 2)14 – der Öffentlichkeit unter dem Titel „Deutschland erneuern – Rentenreform 2000“ vorgestellt wurden, zielt damit auf einen Systemwechsel.

Die versorgungspolitische Stoßrichtung: Grundversorgung statt Lebensstandardsicherung

Nach den rot-grünen Rentenplänen in Modell 1 wurde das Netto-Standardrentenniveau bis 2030 für Rentenneuzugänge auf ein (nach neuen Kriterien berechnetes) Niveau von 64,2 Prozent gekürzt. Für das Jahr 2050 ergab sich ein Rentenniveau von 54 Prozent. Durch diese Einschnitte sollte der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2030 in der Größenordnung von 22 Prozent gehalten werden.

Die so aufgerissene Sicherungslücke soll durch die Einführung einer kapitalgedeckten Altersvorsorge geschlossen werden. Diese ist ohne Beteiligung der ArbeitgeberInnen durch die ArbeitnehmerInnen zu finanzieren. Der Aufbau dieser Privatvorsorge soll schrittweise ab 2001 mit Beträgen in Höhe von 0,5 Prozent bis auf 4 Prozent des Bruttolohns im Jahre 2008 erfolgen. In die neue Rentenformel soll zugleich ein „Ausgleichsfaktor« eingeführt werden. Der Ausgleichsfaktor in Modell1 verringerte bei der erstmaligen Rentenfestsetzung die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung in einer Höhe, die in Abhängigkeit von der Zahl der Jahre stand, in denen bis zum Rentenbeginn eine kapitalgedeckte Altersvorsorge aufgebaut werden konnte.

Das Herabdrücken der gesetzlichen Rente in die Nähe der Sozialhilfe und die Kürzung der über eigene Beitragsleistungen erworbenen Sozialrente um die Hälfte eines realen oder fiktiven privaten Vorsorgebetrages stießen in den Gewerkschaften auf strikte Ablehnung. Der Protest führte dazu, dass am 3. und 4. Juli 2000 ein leicht abgewandeltes Konzept vorgeschlagen wurde. Gegenüber Modell 1 unterscheidet sich Modell 2 vor allem in folgenden Punkten:

Zum einen wurde die ursprüngliche Ausgestaltung des Ausgleichsfaktors verändert. Zumindest offiziell soll die Privatvorsorge, deren Förderung eines der zentralen Ziele des gesamten Projektes sein sollte, nicht mehr zum Maßstab für die Kürzung der gesetzlichen Rente gemacht werden. Einer mitgelieferten Modellrechnung ist ein linearer Ausgleichsfaktor zu entnehmen, der ab dem Jahr 2011 die Renten für Rentenneuzugänge jährlich um 0,3 Prozent kürzen und in jährlichen Schritten bis 2030 auf 6 Prozent anwachsen soll.

Insgesamt wurde das Kürzungsvolumen in Modell 2 gegenüber Modell 1 kaum verändert, jedoch zeichnet sich eine andere Aufteilung zwischen Bestands- und Zugangsrenten ab. Für Neuzugänge nach dem Jahr 2030 sollen 64 Prozent nicht weiter unterschritten werden. Schließlich enthält Modell 2 Formulierungen, die auf den ersten Blick eine Relativierung der Beitragssatzhöhen von 20 Prozent im Jahre 2020 und 22 Prozent im Jahre 2030 nahe legen könnten.

Doch auch diese scheinbare Abkehr vom Dogma der Beitragssatzdeckelung bei 20 bzw. 22 Prozent ist mehr Kosmetik als reale Konzession. Die Soll-Formulierungen ändern nichts daran, dass alle weiteren Betrachtungen nach wie vor davon ausgehen, dass im Jahr 2030 von der Beitragsseite her lediglich 22 Prozentpunkte zur Verfügung stehen. Auch nach dem neuen Plan sinkt das Nettorentenniveau aus der gesetzlichen Rentenversicherung für Rentenneuzugänge in 2030 auf etwa 60 Prozent.15

Die verteilungspolitische Stoßrichtung: Abschied von der Parität

Die Eliminierung der Lebensstandardsicherung aus der Rentenversicherung geht mit dem Bruch eines zweiten Strukturprinzips einher. Auch die paritätische Finanzierung in der Alterssicherung wird preisgegeben. Durch die vorgesehenen Kürzungen soll der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung bis 2030 auf knapp 22 Prozent gehalten werden. Ohne diese »Reform« würde er nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums auf knapp 24 Prozent steigen, woraus sich eine paritätische Beitragslast von jeweils 12 Prozent für ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen ergäbe. Damit wäre ein Niveau von 68,6 Prozent aus der Rentenversicherung zu finanzieren, während das Gesamtversorgungsniveau in Modell 2 aber bei knapp 69 Prozent liegen wird. Während die ArbeitgeberInnen in 2030 einen Beitragssatz von knapp 11 (statt 12 Prozent) zu tragen haben, müssen die ArbeitnehmerInnen 15 Prozent (11 Prozent Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung plus 4 Prozent Privatvorsorge) aufbringen.

Der Verweis im SPD-Vorstandsbeschluss, bei der privaten Vorsorge existiere eben keine sozialstaatliche Tradition der paritätischen Finanzierung, ist für SozialdemokratfInnen schlicht peinlich. Sozialstaatliche Tradition in Deutschland ist die Beteiligung der ArbeitgeberInnen an einer Altersversorgung, die ein möglichst den Lebensstandard sicherndes Niveau gewährleistet. Bis vor wenigen Monaten bestand Konsens darüber, dass das Niveau von 70 Prozent jedenfalls nicht in größerem Umfang unterschritten werden darf. Gerade dieses Niveau soll die gesetzliche Rentenversicherung nach den rot-grünen Plänen aber nicht mehr sichern, um den Menschen einen »Anreiz« zum Aufbau einer Privatvorsorge zu geben. Die Angst der Menschen vor sozialer Unterversorgung im Alter ist Grundlage dieser den Bürger »aktivierenden« Sozialstaatspolitik.

Den Entlastungen des Bundeshaushalts ist der Aufwand gegen zu rechnen, der zur Förderung der Privatvorsorge bereit gestellt werden soll. Nach Modell 1 sollte durch eine Erweiterung des Vermögensbildungsgesetzes der Aufbau der zusätzlichen Altersvorsorge bei unterdurchschnittlichen und mittleren Einkommen nach folgenden Regeln gefördert werden: ArbeiterInnen und Angestellte mit einem zu versteuernden Einkommen bis DM 35.000/70.000 p.a. (ledig/verheiratet) sowie LohnersatzleistungsbezieherInnen sollten eine Zulage in Höhe von 50 Prozent des Aufwandes zur Altersvorsorge, maximal DM 400 jährlich erhalten. Diese Fördersumme wurde im Zuge erster Verhandlungen mit der parlamentarischen Opposition und als Reaktion auf den gesellschaftlichen Protest erhöht. BezieherInnen von Einkommen bis zu den genannten Grenzen sollen nun nach Modell 2 eine Zulage von bis zu DM 1.000 pro Jahr erhalten, vorausgesetzt, sie haben zwei oder mehr Kinder. Die Aufwendungen für die Kapitalvorsorge werden bis zu einem Höchstbetrag von 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze steuerfrei gestellt.

Die ordnungspolitische Stoßrichtung: Kapitalsystem frisst Sozialsystem

Auch die Vorstellung einer friedlichen Koexistenz der beiden Komponenten des Mischsystems ist eine politisch gewollte Illusion. Das solidarische Umlagesystem wird perspektivisch den Kürzeren ziehen. Hat das Prinzip individueller Renditemaximierung das Ziel solidarischer Risikoabsicherung als reformpolitisches Leitbild erst einmal verdrängt, wird die Wettbewerbsschwäche der Sozial- gegenüber der Kapitalrente sich schnell verstärken. Die Aufteilung der Aufgaben und mit ihnen der Zukunftschancen zwischen den beiden Systemen ist klar. Unter dem Regime eines radikalisierten Äquivalenzdenkens und individueller Kosten-Nutzen-Kalküle schlagen die sozial- und gesellschaftspolitisch höchst wertvollen Solidarelemente der GRV schnell in Fesseln im ordnungspolitischen Systemwettbewerb um.

Das Rentenkonzept enthält Umverteilungsmechanismen, die auf jeden Fall Leistungsanteile in Richtung des privaten Kapitalsystems lenken. Installiert sind diese Mechanismen zum einen in der neuen Rentenanpassungsformel, die keine Rückkehr zur Anbindung der Renten an die Nettolohnentwicklung beinhaltet. Zusätzlich zu dem bereits dämpfend auf die jährlichen Rentenanpassungen wirkenden privaten Vorsorgebetrag in Höhe von 4 Prozent werden zukünftig zwar steigende Rentenversicherungsbeiträge der BeitragszahlerInnen mindernd bei der Rentenanpassung berücksichtigt, die rentensteigernde Wirkung der Entlastung der Nettolöhne durch die geplanten Steuerreform und den prognostizierten Rückgang der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung jedoch nicht.

Der zweite Umverteilungsmechanismus verbirgt sich im Ausgleichsfaktor. Mit dem neuen Kürzungsfaktor wächst der Anteil der Privatvorsorge an der Gesamtversorgung von 0,15 Prozent in 2002 auf 12 Prozent in 2030.

Gewinner und Verlierer

Hat die rot-grüne Regierungskoalition durch ständig neu überarbeitete Modelle zu einer erheblichen Unübersichtlichkeit in der Rentendebatte beigetragen, so lassen sich die GewinnerInnen dieses Systemwechsels eindeutig benennen. Verteilungspolitische GewinnerInnen des ganzen Unternehmens sind die Arbeitgeber. Während nach heutigen Modellannahmen die Versicherten in 2030 15 Prozent ihres Bruttoeinkommens zur Sicherung eines Gesamtversorgungsniveaus von gut 68 Prozent aufbringen müssen, beträgt der Beitragssatz der ArbeitgeberInnen lediglich 11 Prozent.

Die zweite Gewinnergruppe stellen die AkteurInnen des Kapitalmarktes, bis jetzt vor allem die Versicherungskonzerne dar. Zu Recht stellt etwa die Wochenzeitschrift Die Zeit fest: „Auf bis zu 3 Billionen Mark schätzen Experten den Markt für die private Altersvorsorge – ein gigantischer Kuchen, um dessen Stücke sich Versicherer, Fondsgesellschaften, Banken und Bausparkasse balgen.“ Und mit Blick auf die geforderte Ausgestaltung der Privatvorsorge, die insbesondere die private Versicherungswirtschaft privilegiert, heißt es weiter: „Noch streiten Regierung und Opposition über die Rentenreform. Ein Gewinner aber steht schon fest: die Versicherungsbranche.“16

Systemreform statt Systemwechsel

Der rot-grüne Systemwechsel verspielt die Chance auf eine Reform, die die Potenziale der sozialen Rentenversicherung zur sozialpolitischen Bewältigung des gesellschaftlichen Strukturwandels aktiviert.

Am Beginn einer Reform muss eine ehrliche Antwort auf zwei zentrale Fragen stehen: Ist das heutige Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung ausreichend, zu hoch oder zu niedrig? Und: Sind die heutigen Verteilungsrelationen zwischen den Generationen sowie zwischen Kapital und Arbeit als gerecht anzusehen oder müssen sie verändert werden? Der Regierungsentwurf beantwortet sie eindeutig: Das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung wird offensichtlich als zu hoch eingeschätzt und die Verteilungsstruktur soll zu Lasten von BeitragszahlerInnen und RentnerInnen verschoben werden.

Der wirkliche Reformbedarf: Einstellung der Rentenversicherung auf den gesellschaftlichen Wandel

Die gewerkschaftliche Position geht von anderen Antworten aus. Sie sieht keine Spielräume bei der Senkung des Rentenniveaus und spricht sich dafür aus, die zukünftig sich verstärkenden Risikopotenziale, die insbesondere aus dem Wandel der Erwerbsarbeit entstehen, durch die Schließung von Sicherungsslücken in der gesetzlichen Rentenversicherung und eine paritätisch finanzierte, obligatorische und solidarisch ausgestaltete betriebliche Altersversorgung zu schließen. Sie setzt auf einen fairen Ausgleich zwischen den Generationen und die Beibehaltung der Parität zwischen Kapital und Arbeit. Folgende Eckpunkte sollten zu einem solchen Reformkonzept gehören:

  • Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses schmälert nicht nur die Finanzierungsbasis der sozialen Sicherungssysteme; zunehmende Arbeitslosigkeit, Teilzeitarbeit, befristete und niedrig entlohnte Erwerbsarbeit, prekäre Selbstständigkeit usw. erzeugen neue Risikopotenziale, insbesondere im Alter und bei Verlust des Arbeitsplatzes. Die Annahmen der statistischen Eckrente und damit ihr Sicherungsniveau werden zunehmend zur Fiktion.17 Auf diese Entwicklungen wäre in der Rentenpolitik mit drei Reformstrategien zu reagieren: einmal mit einer schrittweisen Ausdehnung der gesetzlichen Rentenversicherung auf alle Erwerbstätigen, zum zweiten mit einer Höherbewertung z.B. von Zeiten der Arbeitslosigkeit und drittens mit der Stärkung bedarfsorientierter Elemente der Mindestsicherung.
  • Mit Blick auf das gewandelte gesellschaftliche Rollenverständnis von Frauen erweist sich die heutige Form der Hinterbliebenenversorgung als nicht mehr zeitgemäß. Notwendig ist eine rentenpolitische Reform, die abgeleitete durch eigenständige Alterssicherungsansprüche der Frauen ersetzt.
  • Auch die Gewerkschaften sprechen sich keineswegs prinzipiell gegen zusätzliche Vorsorgemaßnahmen aus, die über die gesetzliche Rentenversicherung hinaus weisen. Bei einer Reform des Gesamtsystems gesellschaftlicher Alterssicherung legen sie jedoch die Priorität auf den Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge. Ein solcher Ausbau müsste sich an folgenden Eckpunkten orientieren:

      ArbeitgeberInnen bringen mindestens die Hälfte der Beiträge auf.

      Erworbene Anwartschaften müssen insolvenzgesichert werden und »portabel« sein.

      Die Anwartschaftsfinanzierung sollte auch in Zeiten fehlenden Einkommens (Kindererziehung, Langzeiterkrankung) erfolgen, wobei Zeiten der Arbeitslosigkeit durch die Bundesanstalt für Arbeit zu finanzieren wären.

      Schließlich wären eine angemessene Dynamisierung der Leistungen sowie die Absicherung der biometrischen Risiken vorzusehen.

Finanzierung einer solidarischen Rentenreform

Bliebe die Frage der Finanzierung einer solidarischen Rentenreform. Durch den Verband Deutscher Rentenversicherungsträger wurden Prognosen über die Entwicklung von Beitragssätzen und Rentenniveaus durchgerechnet. Eine Prognoserechnung ergab folgendes Szenario: Während sich das Rentenniveau von 70,11 Prozent im Jahre 2000 mit einem Beitragssatz von 19,3 Prozent finanzieren ließ, erforderte die Finanzierung eines Niveaus von 68,6 Prozent im Jahre 2030 einen gesamten Beitragssatz von 23,9 Prozent. Die paritätisch aufgeteilte Beitragslast von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen würde also von 9,65 Prozent (2000) auf 11,95 Prozent (2030) ansteigen, das Rentenniveau um 1,48 Prozentpunkte sinken.

Die Gewerkschaften sehen darin ein akzeptables Referenzszenario für die weiteren Reformüberlegungen. Durch eine moderate Senkung des Rentenniveaus trügen die RentenbezieherInnen zum ebenfalls relativ moderaten Beitragssatzanstieg bei. Natürlich: Auch diese Standardniveaubetrachtung lässt Versorgungsprobleme aufgrund der Einschränkungen im Leistungsrecht und des genannten Wandels der Erwerbsbiografien außer Acht. Doch sollte die zuvor skizzierte Reform der Rentenversicherung zu einer merklichen Mehrbelastung führen oder ein Beitragssatz von 24 Prozent gesellschaftlich als nicht akzeptabel angesehen werden, stünden solidarische Reformoptionen des Finanzierungssystems zur Verfügung.

  • Zum einen wären die unterschiedlichen Modelle einer Anhebung bzw. Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze (BBG) sowie der Erweiterung des versicherten Personenkreises in der gesetzliche Rentenversicherung auf ihre Finanzwirkungen zu prüfen. Zwar stünden der sofortigen Einnahmeverbesserung zeitversetzt entsprechende Mehrausgaben für zusätzliche Rentenzahlungen gegenüber. Aber man könnte mit der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze bzw. der schrittweisen Universalisierung etwa im Jahre 2015 beginnen, um die Mehreinnahmen mit Beginn der demografisch induzierten Mehrbelastungen einsetzen zu lassen. Die Mehrausgaben fielen dann Jahrzehnte später an, wenn aus demografischen Gründen mit einer Entlastung der Rentenkassen zu rechnen ist.
  • Zweitens sprechen viele Gründe für eine Neujustierung zwischen Beitragsmitteln und Steuereinnahmen in der Rentenversicherung. Hier sind zweifelsohne deutliche Spielräume vorhanden, ohne den »Beitragscharakter« des Rentenversicherungssystems in Frage zu stellen. Nach wie vor beträgt der West-Ost-Transfer in der gesetzlichen Rentenversicherung jährlich DM 17 Mrd. (1999) und werden die arbeitsmarktbedingten Mindereinnahmen bzw. Zusatzkosten auf ca. DM 35 Mrd. geschätzt. Eine Beteiligung aller StaatsbürgerInnen an der Finanzierung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe über Steuermittel wäre durchaus zu rechtfertigen.
  • Schließlich ist über eine Einbeziehung der betrieblichen Wertschöpfung in die Finanzierung der Rentenversicherung zu reden. Die Vorstellungen reichen von einem zusätzlichen Wertschöpfungsbeitrag der ArbeitgeberInnen bis zu Modellen einer generellen Umbasierung des Arbeitgeberbeitrags auf die Wertschöpfung. Die Gewerkschaften haben diese Modelle in der Vergangenheit auch deshalb nur sehr zurückhaltend bewertet, weil sie nur dann dauerhaft ergiebiger sind, wenn sie mit der paritätischen Finanzierung ( und zwar zulasten der ArbeitgeberInnen) brechen; die Umsetzung der Regierungspläne würde für weitere Reformdebatten die Lage grundlegend verändern.

Ausblick

Was immer als Pro- oder Contra-Argument gegenüber den hier genannten Maßnahmen angeführt werden mag, es sollte deutlich geworden sein: Die gegenwärtigen Pläne der Bundesregierung und ihr verteilungs- und ordnungspolitischer Paradigmenwechsel sind nicht ohne Alternativen. Es spricht für die deutsche Sozialdemokratie, dass die Beschlüsse im Parteivorstand und der Bundestagsfraktion, mit denen die Rentenpläne durchgepaukt werden sollen, alles andere als überzeugende Mehrheiten auswiesen. Sachliche Aufklärung der Bevölkerung, wie sie die beschlossene Informationskampagne der Gewerkschaften vorsieht, ist eine notwendige Maßnahme gesellschaftlicher Gegenwehr. Doch spätestens im Herbst 2000 werden intensivere, betriebliche und gesellschaftliche Aktionsformen hinzu kommen müssen. Ein geeignetes Motto für diese Aktionen wäre. »Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit, Teil 2«.

Horst Schmitthenner ist Vorstandsmitglied der IG Metall

zum Anfang | Atomausstieg in weiter Ferne
Zum Atomkompromiss zwischen Bundesregierung und Atomwirtschaft

von Renate Backhaus

Umweltverbände und Bürgerinitiativen fordern seit Jahren den Sofortausstieg aus der Atomenergienutzung. Die unbeherrschbaren Risiken beim Betrieb der Anlagen und die fehlende Entsorgung sind zwingende Gründe für diese nach wie vor richtige Forderung. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen befasst sich in seinem neuesten Gutachten 2000 mit den »Risiken der Entsorgung« und stellt dazu fest : „ Der Umweltrat hält aufgrund der Charakteristiken bestrahlter Brennelemente und der in weiten Teilen ungelösten Entsorgungsprobleme eine weitere Nutzung der Atomenergie für nicht verantwortbar.“ Dagegen hat die Bundesregierung die Frage des Atomausstieges in den letzten Monaten nur noch zu einer Debatte über Restlaufzeiten und Entschädigungen »verkommen« lassen.

Zur Erinnerung: Bereits in der Koalitionsvereinbarung wurde aus dem „sofortigen Ausstieg“ wie ihn die Grünen noch im Wahlkampf 1998 gefordert hatten, die Formulierung „die Nutzung der Atomkraft so schnell wie möglich zu beenden.“ Und während das Wahlprogramm der Grünen noch davon sprach, dass es zwar das Ziel sei, eine entschädigungsfreie Stilllegung zu erreichen, diese jedoch nicht zur Bedingung für den Atomausstieg werden dürfe, wurde inzwischen die Entschädigungsfreiheit zum unangreifbaren Dogma.

Der zwischen der Bundesregierung und den vier größten Unternehmen der Atomindustrie vereinbarte so genannte Konsens wird jetzt der Bevölkerung als Atomausstieg dargestellt. Ganz anders dagegen die Einschätzung des Deutschen Atomforums. Dessen Präsident äußerte sich nach Abschluss der Vereinbarung dahingehend, dass er „den ungestörten Betrieb der Kernkraftwerke auf Jahre hinaus gesichert sieht.“

Tatsächlich hat der zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen (EVU) gefundene »Konsens« mit dem ursprünglich von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam verfolgten Ziel, „den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie noch innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar zu regeln“ (Koalitionsvereinbarung) nur noch wenig zu tun.

Vereinbarung behindert den zügigen Umstieg auf eine nachhaltige Energieversorgung

Als besonders problematisch erweist sich die Festlegung auf über 2.600 Terawattstunden Atomstrom, die noch bis zum Abschalten des letzten Meilers erzeugt werden dürfen, ohne dass ein Enddatum festgelegt wurde, an dem das letzte Atomkraftwerk vom Netz gehen muss. Diese Strommenge wurde an Hand der fünf auslastungsstärksten Jahre seit 1990 berechnet, auf die dann noch ein Zuschlag von 5,5% Leistungserhöhung aufgeschlagen wurde. Zudem wurden für das nie genehmigungsfähige Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich weitere 107 Terrawattstunden hinzugerechnet. Selbst AtomkraftbefürworterInnen rechnen bei solchen Strommengen mit einer durchschnittlichen Gesamtlaufzeit von 34 Kalenderjahren je Atomkraftwerk und widersprechen damit der Bundesregierung, die von 32 Jahren Regellaufzeit spricht. Durch Umschichten der Atomstrommengen unrentabeler alter Meiler auf neuere Reaktoren kann deren Laufzeit dann nochmals erheblich erhöht werden. Die Atomenergie in Deutschland droht damit noch weit über das Jahr 2023 hinaus zum Hemmschuh für den Umstieg in eine nachhaltige und zukunftsweisende Energieversorgung zu werden.

Von allen Seiten wurde inzwischen bestätigt, dass die Bundesregierung in den Verhandlungen nicht auf der Abschaltung eines Atomkraftwerkes noch in dieser Legislaturperiode beharrt hat. Dem Atomkraftwerk Obrigheim, das seine genehmigte Strommenge noch vor der nächsten Bundestagswahl aufbrauchen würde, wurde ausdrücklich eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2002 eingeräumt.

Regierung gibt Handlungsspielraum bei Sicherheitsfragen ab

Interpretationsfähige Passagen zu der Frage von Sicherheitsstandards und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen lassen noch intensivere Auseinandersetzungen um die nun anstehende Novelle des Atomgesetzes erwarten. „Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandards (der AKWs) und die diesem zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie zu ändern“, lautet die Vereinbarung. Damit hat sich die Regierung eine Beschränkung bei Fragen der Sicherheit aufzwingen lassen. Der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit ist aber ein Grundrecht. Wenn es neue Erkenntnisse oder unerwartete Ereignisse gibt, muss eine verantwortlich handelnde Regierung die Sicherheitsanforderungen verstärken können. Es ist zwar nicht vereinbart worden, dass der derzeitige Sicherheitsstandard »eingefroren« wird, aber die Regierung hat im Konsenspapier zugestimmt, dass „die Kernkraftwerke und sonstigen kerntechnischen Anlagen auf einem international gesehen hohen Sicherheitsstandard betrieben werden.“ Damit verabschiedet sich die Regierung davon, ganz konkret selbst zu bestimmen, welche Anforderungen an den Stand von Wissenschaft und Technik gestellt werden, sie belässt es bei den Vorgaben der Vorgängerregierung. Bei einer verantwortbaren Bewertung der Sicherheit müssen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und nicht nur die »herrschende« Meinung herangezogen werden. Da die Risikoermittlung und -bewertung in der Hand der Bundesregierung liegt, ist die Sicherheitsphilosophie von den Gerichten nur beschränkt überprüfbar. Diese Erfahrung musste z.B. die Autorin bei dem Prozess gegen das AKW Krümmel machen. In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht stellte das Gericht fest, es sei nicht seine Sache „die dem Verordnungsgeber ( Bundesregierung) zugewiesene Aufgabe der Bewertung wissenschaftlicher Streitfragen einschließlich der Bewertung des Risikos durch eine gerichtliche Bewertung zu ersetzen“. Mit anderen Worten, es ist Aufgabe der Bundesregierung, wissenschaftliche Erkenntnisse zu bewerten und bei der Festlegung der Sicherheitsstandards zu berücksichtigen.

In Zukunft soll es laut Konsenspapier Sicherheitsüberprüfungen geben, die auf der Grundlage des PSÜ-Leifaden (Periodische Sicherheits-Überprüfung) durchgeführt werden sollen. Dieser Leifaden wurde von der ehemaligen Bundesumweltministerin Merkel entwickelt und wurde seinerzeit von den damaligen Oppositionsparteien SPD und Grünen zu Recht heftig kritisiert. Jetzt soll dieser Leitfaden nur in Absprache mit denen geändert werden, die es zu überprüfen gilt: „Bei einer Fortentwicklung des Leitfadens wird BMU (Bundesumweltministerium) die Länder, die Reaktorsicherheitskommission und die Betreiber der KKW beteiligen.“

Unzureichende Risikoabdeckung

Zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wurde im Konsens vereinbart: „Die Deckungsvorsorge wird durch die Aufstockung der sogenannten zweiten Tranche oder einer gleichwertigen Regelung auf einen Betrag von 5 Mrd. erhöht.“ Damit kommen die Betreiber zwar einer langjährigen Forderung nach Erhöhung der Deckungsvorsorge nach, der Umfang von fünf Mrd. DM ist allerdings nicht ausreichend. Die Risikostudie der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, die im Auftrage der früheren Bundesregierung erstellt wurde, ergab die Wahrscheinlichkeit eines Super-GAU durch technisches Versagen am Beispiel des Atomkraftwerkes Biblis mit einmal in 30 000 Betriebsjahren. Demnach liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei 30 jähriger Betriebszeit in einem der 19 deutschen Atomkraftwerke ein Super-GAU ereignet, bei zwei Prozent. Hinzu kommt, dass bei dieser Risikoberechnung nur technisches Versagen berücksichtigt wurde, menschliches Fehlverhalten ist darin nicht enthalten.

Ein AKW-Unfall mit massiven Radioaktivitätsfreisetzungen verursacht unvorstellbar hohe Gesundheits-, Sach- und Vermögensschäden. Nach einer Studie der renommierten Prognos-AG, erstellt 1992 noch für das damals CDU-geführte Bundeswirtschaftsministerium, betragen die Schäden mehr als 10 Billionen DM. Die von deutschen AKWs ausgehenden Gefahren für Leben, Gesundheit, Sachgüter und Vermögen sind derzeit entsprechend dem Atomgesetz nur mit einer einzigen Milliarde DM abgedeckt, also nur mit 0,01% der möglichen Schadenssumme und die Betreiber sind derzeit nur für die Hälfte der Deckungssumme (also für 500 Millionen DM) versichert.

Unter den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im sog. Konsens wurde weiter vereinbart: „Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, mit der die Nutzung der Kernenergie durch einseitige Maßnahmen diskriminiert wird. Dies gilt auch für das Steuerrecht.“ Mit dieser Zusage wird z.B. die Besteuerung von Kernbrennstäben in Frage gestellt und damit wiederum werden die veralteten Strukturen der Stromerzeugung festgeschrieben. Es bleibt offen, wie die notwendigen Verbesserungen im Strahlenschutz bewertet werden. Die Betreiber werden das möglicherweise erfolgreich als »Diskriminierung« bewerten können.

Neue Novelle zum Atomgesetz

Zur Umsetzung der Vereinbarung muss das Atomgesetz (AtG) novelliert werden. Dazu wurde im Konsenspapier beschlossen: „Die Bundesregierung wird auf der Grundlage dieser Eckpunkte (des Konsenspapiers) einen Entwurf zur Novelle des Atomgesetzes (AtG) erarbeiten. Über die Umsetzung in der AtG-Novelle wird auf der Grundlage des Regierungsentwurfes vor der Kabinettsbefassung zwischen den Verhandlungspartnern beraten.“

Es ist zu befürchten, dass sich bei diesen »Beratungen« die Betreiber durchsetzen. Mit den getroffenen Vereinbarungen und weiteren Interpretationsmöglichkeiten der Betreiber wird die Atomgesetznovelle nicht zu einem Ausstieg aus der Atomenergie führen, sondern bestenfalls ein für die Betreiber kostengünstiges, Jahrzehnte dauerndes Auslaufen mit sich bringen.

Sichere Entsorgung?

Unter dem Stichwort »Entsorgung« wurden u.a. die Aspekte Zwischenlager, Wiederaufarbeitung und Endlagerung angesprochen. Zum Thema Zwischenlager heißt es in dem Konsenspapier: „Die EVU errichten so zügig wie möglich an den Standorten der KKW (Kernkraftwerke) oder in deren Nähe Zwischenlager. Es wird gemeinsam nach Möglichkeiten gesucht, vorläufige Lagermöglichkeiten an den Standorten vor Inbetriebnahme der Zwischenlager zu schaffen.“ Durch Standortzwischenlager wird das Aktivitätsinventar am Standort drastisch erhöht und bei einem Unfall könnte möglicherweise auch das Zwischenlager mitbetroffen sein. In der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den EVU steht nichts über die Größe der Zwischenlager an den AKWs; es sollen Zwischenlager genehmigt werden, die den Restlaufzeiten der AKWs entsprechen, aber es ist kein absolutes Enddatum für die AKWs in der Vereinbarung enthalten. Die Zwischenlager sind eine Garantie für den Weiterbetrieb, da die »Entsorgung« damit gesichert ist ( ausreichende Kapazitäten für beliebige AKW-Laufzeiten, keine Transportprobleme).

Wiederaufarbeitung über 2005 hinaus?

Zur bisherigen »Entsorgungsstrategie« gehört die Wiederaufarbeitung (WAA) im Ausland. Die Risiken beim Transport zur Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield in England oder nach LaHague in Frankreich, die radioaktive Verseuchung der Umgebung der Anlagen und insbesondere das bei der WAA »übrig gebliebene« Plutonium sind Gründe genug für das sofortige Beenden dieser Risikotechnologie. Im Konsenspapier hat sich die Regierung aber mit den Betreibern darauf verständigt, dass noch bis zum „01.07.2005 abgebrannte Brennelemente zur Wiederaufarbeitung transportiert werden dürfen.“ Sämtliche Verträge, die zwischen den Betreibern der AKWs und den Betreibern der WAA geschlossen sind, können also noch abgearbeitet werden, es entfallen lediglich Optionen auf Vertragsverlängerung. Und auch nach dem 01.07.2005 wird die Wiederaufarbeitung mit all ihren Risiken fortgesetzt, die angelieferten Mengen dürfen verarbeitet werden, da lediglich für den Transport, aber nicht für die Wiederaufarbeitung ein festes Enddatum vereinbart wurde. Die ersten Konsequenzen aus dieser Konsensvereinbarung waren schon bei der Konferenz der Nordseeanrainer-Staaten Mitte des Jahres zu erleben: Dort scheiterte eine dänisch-irische Regierungsinitiative, die Wiederaufarbeitung in LaHague und Sellafield sofort auszusetzen. Stattdessen wurde nur beschlossen, die Genehmigungsverfahren für die Ableitung radioaktiver Stoffe zu verschärfen. Deutschland konnte sich der dänisch-irischen Initiative erst gar nicht anschließen, da ein sofortiger Stopp der Wiederaufarbeitung den getroffenen Vereinbarungen im Konsenspapier widersprochen hätte.

Offene Fragen zur Endlagerung

Das geplante Endlager Schacht Konrad war und ist nicht geeignet, schwach- und mittelradioaktiven Müll aufzunehmen. Während der Auslegungszeit der Unterlagen wurden rund 290.000 Einwendungen gegen dieses geplante Endlager gesammelt. In der Koalitionsvereinbarung spricht auch die Regierung davon, dass für „die Endlagerung aller Arten radioaktiver Abfälle ein einziges Endlager in tiefen geologischen Formationen ausreicht.“ Damit war klargestellt, dass die Regierung Schacht Konrad ebenfalls nicht als Endlager angesehen hat, denn die Formulierung „ein einziges Endlager“ beinhaltet, es muss ein Endlager für hochradioaktiven Müll geben, in dem auch schwach- und mittelradioaktiver Müll eingelagert werden kann. Schacht Konrad ist aber für hochradioaktiven Müll nicht geeignet und war dafür auch nie vorgesehen. In der Konsensvereinbarung heißt es aber jetzt, „dass das Planfeststellungsverfahren für Schacht Konrad abgeschlossen wird“. Das bedeutet u.a. ein Abrücken von dem Konzept, nur ein Endlager für alle Arten von radioaktiven Abfällen zu errichten. Als nächstes wird ein Planfeststellungsbeschluss für Schacht Konrad erlassen. Auf eine Einlagerung von Atommüll wird aber verzichtet, „um eine gerichtliche Überprüfung im Hauptsacheverfahren zu ermöglichen.“ Was sich so vordergründig als freundlicher Akt darstellt, ist in Wirklichkeit ein Armutszeugnis für die Regierung. Die Entscheidung, ob Schacht Konrad geeignet ist oder nicht, ob Müll eingelagert werden darf oder nicht, wird den Gerichten überlassen. Die »Verantwortung«, Schacht Konrad zu stoppen, liegt nun bei eventuellen KlägerInnen. Umliegende Gemeinden, Verbände oder Initiativen sollen hier auf dem Klageweg für die Regierung die Kohlen aus dem Feuer holen.

Als Endlager für alle Arten radioaktiver Abfälle wurde bisher nur der Salzstock in Gorleben untersucht. Die Vereinbarungen im Konsenspapier sind hierzu allerdings unzureichend und widersprechen z.T. früheren Aussagen der Bundesregierung. Hieß es in der Koalitionsvereinbarung noch: „An der Eignung des Salzstockes in Gorleben bestehen Zweifel,“ heißt es jetzt in dem mit den Betreibern getroffenen Konsensvereinbarungen: „Die bisherigen Erkenntnisse über ein dichtes Gebirge und damit die Barrierefunktion des Salzes wurden positiv bestätigt. Somit stehen die bisher gewonnnen geologischen Befunde einer Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben (…) nicht entgegen.“ Damit hat die Bundesregierung nur noch allgemeine Bedenken und ignoriert das wasserdurchlässige Deckgebirge des Salzstockes. Dieses Deckgebirge war ursprünglich als Sicherheitsbarriere gedacht, ein wasserdurchlässiges Deckgebirge kann aber niemals eine Barrierenfunktion wahrnehmen und für Millionen von Jahren einen sicheren Einschluss des Atommülls gewährleisten. Trotzdem heißt es in dem Konsenspapier: „Das Moratorium bedeutet keine Aufgabe von Gorleben als Standort für ein Endlager.“

Zwar kommt Salz als potenzielles Wirtsgestein für ein Endlager in Frage, aber auch Gesteinsformationen wie Granit oder Ton kommen in Betracht. Der Salzstock Gorleben wurde nicht nach Sicherheitskriterien ausgesucht, sondern vor allem aus politischen Gründen ausgewählt. Er liegt in einer dünnbesiedelten Gegend und lag bei der Ernennung in unmittelbarer Nähe der Grenze zur DDR. Die Erkundung des Salzstockes wird nun lt. Konsenspapier „ für mindestens 3 Jahre, längstens jedoch für 10 Jahre unterbrochen.“ Damit könnte Gorleben ohne eine Änderung des Vertrages/Konsenspapieres schon kurz nach einem möglichen Regierungswechsel 2003 weiter erkundet werden, zumal mit den obigen Aussagen der Bundesregierung die Eignungshöffigkeit bestätigt wird.

Es stellt sich die Frage, welche Aufgabe in dieser Situation ein vom Bundesumweltministerium (BMU) eingerichteter »Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte« überhaupt noch haben kann: Bei einem vorhandenen angeblich eignungshöffigen Endlagerstandort und einem weiteren zur Genehmigung freigegebenen Endlager (Schacht Konrad) entwickelt sich die Tätigkeit des Arbeitskreises – völlig unabhängig von dem fachlichen Niveau der Arbeit und ihrem rein wissenschaftlichen Stellenwert – praktisch zu einer Alibifunktion.

Die ungelöste und unlösbare Endlagerung ist einer der wichtigsten Gründe dafür, sofort aus der Atomenergienutzung auszusteigen. Jede weitere Produktion von Atommüll ist unverantwortlich. Hier sei auch an das eingangs zitierte Votum des Sachverständigenrates für Umweltfragen erinnert.

Kontrollrechte für Atomkonzerne

Neben der Vereinbarung, dass der Gesetzentwurf zur Novellierung des AtG zwischen den Verhandlungspartnern beraten wird, soll zur Umsetzung der Atomvereinbarungen eine „hochrangige Arbeitsgruppe aus drei Vertretern der beteiligten Unternehmen und drei Vertretern der Bundesregierung“ eingesetzt werden. Zur Durchführung der Atommülltransporte „richten Bundesregierung, Länder und Elektrizitätsunternehmen( EVUs ) gemeinsam eine ständige Arbeitsgruppe ein, die auch mit den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern zusammenarbeitet.“ Die Atomkonzerne haben also weitreichende Möglichkeiten erhalten, Regierungstätigkeit und hoheitliche Aufgaben zu beeinflussen. Da drängt sich die Frage auf, wer regiert eigentlich dieses Land? Bekommen Atomkonzerne Mitsprache, wie und wie schnell Castor-Transporte genehmigt werden, wie Polizeieinsätze gegen zu erwartende Demonstrationen und Blockaden vorbereitet werden? Mit diesen Schattengremien hat sich die Atomwirtschaft weitreichende Kontrollrechte auf die Regierungstätigkeit gesichert.

Fazit

Mehr als weitere 20 Jahre lang müssen die Menschen mit dem atomaren Risiko leben. Es wird noch einmal soviel Atomstrom produziert wie in allen bisherigen Betriebsjahren zusammen und die Menge des Atommülls wird sich fast verdoppeln. Die in der Koalitionsvereinbarung getroffene Aussage: „Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie wird innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar geregelt“, wurde nicht umgesetzt. Der in der Konsens-Vereinbarung enthaltene entscheidende Satz, der dieses klarstellt und dem die Bundesregierung zugestimmt hat, lautet: „Für die verbleibende Nutzungsdauer (soll) der ungestörte Betrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgung gewährleistet werden.“ Damit ist der Atomausstieg in weite Ferne gerückt, denn der sog. Konsens hat mit einem Atomausstieg nichts zu tun.

Renate Backhaus ist atompolitische Sprecherin des Bundesvorstandes des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)

zum Anfang | Die Kontinuität der Abwehr
Eine asylpolitische Halbzeit-Bilanz

von Heiko Kauffmann

Ginge es nur nach den Stichworten in der medialen Berichterstattung und nach den Schlagzeilen in den Printmedien, so könnten ungeübte BetrachterInnen des politischen Diskurses in Deutschland tatsächlich auf die Idee kommen, die Themen Migration und Asyl erlebten eine Konjunktur: »Einwanderungskommission«, »Asyl-Beirat«, »Green-Card« oder »Blue-Card«, »Bündnis für Demokratie und Toleranz« – all diese Stichworte und Leitbegriffe lassen bisher jedoch nicht einmal im Ansatz Bemühungen um eine neue menschenrechtlich orientierte Asylpolitik erkennen. Dies auch deshalb, weil einer der Haupt-Stichwortgeber, Innenminister Otto Schily, die Hoffnungen auf einen rationalen konstruktiven gesellschaftlichen Diskurs immer wieder durch seriös verbrämten Populismus untergräbt, wenn er – etwa durch falsche Zahlen, durch aus der Luft gegriffene Behauptungen von den angeblichen „Grenzen der Belastbarkeit“, durch seine Einlassung, das deutsche Asylrecht sei nicht Europa-kompatibel etc. etc. – unterschwellige Ressentiments anspricht und gefährliche Stimmungen schürt. Die Halbzeit der Legislaturperiode ist daher Anlass für eine kritische Zwischenbilanz der bisherigen Rot-Grünen Regierungsarbeit.

Nimmt man als Maßstab für diese Zwischenbilanz die Erwartungen und Forderungen von Seiten der Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen – wie sie in den »Mindestanforderungen an ein neues Asylrecht« zum Ausdruck kommen, die Parteitagsbeschlüsse von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie deren Versprechungen in der letzten Legislaturperiode und schließlich die Koalitionsvereinbarung von Rot-Grün vom 20. Oktober 1998, so muss man das ernüchternde Fazit ziehen: Nur wenig wurde versprochen – kaum etwas gehalten!

Dies sei an zehn zentralen Punkten und Vorhaben der Koalition demonstriert.

Altfallregelung

Schon bei der letzten Altfallregelung der Regierung Kohl/Kanther im März 1996 waren die Kriterien so eng gesetzt, dass zwar bis Ende 1997 diese Regelung von rund 7.800 Menschen in Anspruch genommen werden konnte. Die Zahl war jedoch weit entfernt selbst von den Erwartungen der damaligen Bundesregierung, die von 20.000 bis 30.000 Menschen gesprochen hatte.

Bei der auf der Innenministerkonferenz in Görlitz am 19. November 1999 verabschiedeten Altfallregelung, für die die Innenminister wiederum cirka 20.000 »Begünstigte« prognostiziert haben, ist davon auszugehen, dass von dieser Altfallregelung aufgrund der restriktiven Ausschlussklauseln noch weniger Menschen als 1996/1997 begünstigt werden und ein Bleiberecht erhalten. Besonders problematisch ist der »Doppelbeschluss« bei den Stichtagen – neben dem langjährigen Aufenthalt Sozialhilfe-Unabhängigkeit durch legale Erwerbstätigkeit zum 19. November 1999, die grundsätzliche Herausnahme von Flüchtlingen mit langem Aufenthalt aus dem ehemaligen Jugoslawien (Bosnien und Kosovo) und die unterschiedlichen Interpretationen und Auslegungen durch entsprechende Anwendungshinweise in den einzelnen Bundesländern. Einige Bundesländer versuchen, mit ihrem Erlass die Anwendung der ohnehin restriktiven Altfallregelung der Innenminister sogar noch zu unterlaufen. So ordnet etwa Baden-Württemberg an, bei den Ausschlussgründen grundsätzlich einen „strengen Maßstab anzulegen“, d.h. die Verwaltungspraxis legt die Voraussetzungen so aus, dass sie nur ganz wenige der Betroffenen erreichen können. Die in »innenministeriellen Schreiben« (IMS) angeordneten Vorgaben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern laufen dem IMK-Beschluss zuwider und sind so restriktiv, dass in Bayern kaum jemand unter die Altfallregelung fällt (zum Stichtag 29. Februar 2000 sind – bei Tausenden von Anträgen – gerade einmal 128 Aufenthaltsgenehmigungen erteilt worden).

Härtefallregelungen
im Ausländergesetz

Schon vor den Bundestagswahlen 1998 hat PRO ASYL zusammen mit Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften eine Härtefallregelung im Ausländergesetz gefordert, um Spielräume für humanitäre Entscheidungen in Einzelfällen herbei zu führen. Härtefallkommissionen, wie sie in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein existieren, können ohne eine solche Härtefallklausel im Gesetz aufgrund der restriktiven rechtlichen Vorgaben den Betroffenen in vielen Härtefällen nicht wirklich helfen. So gewährt das geltende Ausländer- und Asylrecht zum Beispiel keinen umfassenden Schutz bei nicht-staatlicher Verfolgung, bei geschlechtsspezifischer Verfolgung oder bei Bürgerkriegsflüchtlingen. Die rigiden Bestimmungen des Ausländerrechts verhindern allzu oft in vielen dramatischen Einzelfällen eine menschliche Lösung. Auch der von Bundesinnenminister Schily ins Gespräch gebrachte »Asyl-Beirat« kann eine Härtefallklausel im Gesetz und Härtefallkommissionen in den Bundesländern nicht ersetzen.

Ob und inwieweit es hier durch eine Novellierung im Ausländergesetz künftig zu humanitären Lösungen in Einzelfällen kommen kann, bleibt zur Halbzeit der Legislaturperiode weiter ungewiss.

Geschlechtsspezifische Verfolgung

In der Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke vom 12. Mai 1999 (BT. Drucksache 14/1058) zum Thema »Anerkennung geschlechtspezifischer Fluchtgründe« hat die Bundesregierung auch zu Forderungen in Bezug auf Gesetzesänderungen – wie von PRO ASYL, Kirchen, Verbänden und Menschenrechtsorganisationen gefordert – Stellung genommen. Dabei betont sie, frauenspezifischen Belangen im Asylverfahren werde das Bundesamt durch umfangreiche Schulungsmaßnahmen und eine entsprechende Ausgestaltung des Asylverfahrens im Einzelfall gerecht. Wie in der Koalitionsvereinbarung angekündigt seien die Verwaltungsvorschriften „mit dem Ziel der Beachtung geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe“ überarbeitet worden. Diese wurden am 7. Juni 2000 durch das Kabinett gebilligt und werden in Kürze in Kraft treten. Aber selbst wenn frauenspezifische Fluchtgründe durch die Änderungen der Verwaltungsvorschriften zu §53 Ausländergesetz stärker als bisher berücksichtigt würden, bliebe davon die besonders restriktive deutsche Interpretation des Flüchtlingsbegriffs bezüglich der Anerkennung nicht-staatlicher Verfolgung unberührt. Dass die Bundesregierung sich hier weitergehenden Forderungen nach Gesetzesänderungen verschließt, entspringt keineswegs der Sorge um einen adäquaten Schutz für verfolgte Frauen, sondern vielmehr ihrer Sorge über die Folgen der Rücknahme eines ideologischen Axioms der Flüchtlingsabwehr: So erklärt sie in ihrer Stellungnahme für die Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss und anderer (BT-Drs. 14/1083) vom 23. Juni 2000: „Im Ergebnis ist das Thema frauenspezifische Verfolgung eine besondere Ausprägung der Diskussion um die generelle Anerkennung nicht-staatlicher Verfolgung. Der Wegfall des Erfordernisses der Staatlichkeit oder staatlichen Zurechenbarkeit der Verfolgungsmaßnahmen bzw. drohenden Menschenrechtsverletzungen durch Gesetzesänderungen ließe erheblichen Zuwanderungsdruck erwarten, und zwar nur teilweise durch die betroffenen Frauen. Ein Wegfall des Erfordernisses der Staatlichkeit würde alle Asylverfahren betreffen müssen.“

Inzwischen hat der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eine Petition von Pro Asyl auf Berücksichtigung frauenspezifischer Fluchtgründe in Asylverfahren beraten und beschlossen, die von mehr als 100.000 Menschen unterstützte Forderung an das Bundesministerium des Inneren zu überweisen und den Fraktion des Bundestages zur Kenntnis zu geben. Der Petitionsausschuss regt u.a. an, die Anerkennung frauenspezifischer Fluchtgründe ausdrücklich im Ausländergesetz zu regeln und auf längere Sicht, bei der Harmonisierung des Asylrechts auf europäischer Ebene, daran zu denken, bei geschlechtsspezifischer Verfolgung einen eigenständigen Asylanspruch zu gewähren.

Angesichts der Kontinuität der Politik Schilys zu Kanther ist jedoch absehbar, welch lange Wegstrecke bezüglich der Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtgründe und der nicht-staatlichen Verfolgung noch zurückzulegen sein wird.

Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und Rücknahme der deutschen Vorbehalte

Die öffentliche »offizielle« Rücknahme der »Vorbehaltserklärung« der Vorgängerregierung und die Ankündigung einer vollständigen Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland wären wichtige Signale der neuen Bundesregierung zum 10. Jahrestag der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention gewesen. Dies war aufgrund vieler Versprechungen von PolitikerInnen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen vor dem Regierungswechsel sowie aufgrund des Entschließungsantrages des Bundestages vom 30. September 1999 (der die Bundesregierung erneut aufforderte, die Vorbehalte ihrer Vorgängerregierung zurückzunehmen) allgemein erwartet worden. Auch hier ist es der Bundesinnenminister, der Signale der Härte setzt (Beispiel: Beibehaltung des Flughafenverfahrens für Kinder). Auch unter Rot-Grün bleibt das geltende Asyl- und Ausländerrecht, das der besonderen Schutzbedürftigkeit der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und den gesetzlichen Erfordernissen des Kinderschutzes nicht gerecht wird, bisher unangetastet.

Auch die neue Bundesregierung wird ihrer Verpflichtung zum besonderen Schutz von Kinderflüchtlingen in vielen Einzelfällen bisher nicht gerecht.

Abschiebepraxis, Abschiebungshaft

Trotz der im Rot-Grünen Koalitionsvertrag angekündigten Überprüfung der Abschiebungshaft im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird auch hier die Politik der Vorgängerregierung nahtlos fortgesetzt. Abschiebungshaft bleibt auch unter Rot-Grün der Regelfall für viele Flüchtlinge und wird zu ihrer Endstation in Deutschland.

Suizide, Selbstmordversuche, der Tod von Aamir Ageeb Ende Mai 1999, der auf dem Flug von Frankfurt nach München durch »Ruhigstellung« erstickte und der Tod einer algerischen Asylbewerberin am 8. Mai 2000 in der Flüchtlingsunterkunft im Transitbereich des Rhein-Main-Flughafens werfen ein gleißendes Licht auf die Kontinuität einer Politik der Abwehr und der skandalösen Untätigkeit der verantwortlichen PolitikerInnen.

Flughafenverfahren

Die Flüchtlingstragödie der Algerierin Naimah H., die sich am 8. Mai im Transit des Flughafens das Leben nahm, ist – im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überprüft, den die Rot-Grüne Bundesregierung sich im Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht hat – ein Lehrstück über die Mängel und die Unmenschlichkeit dieses Verfahrens. Der zuständige Bundesinnenminister jedoch hat schon nach den ersten Inspektionen am Flughafen im Dezember 1998 – gegen den Willen des Koalitionspartners – verkündet, dass das Flughafenverfahren unverzichtbar sei, dass er aber der Kritik an den Bedingungen des Verfahrens für Flüchtlinge mit baulichen Verbesserungen begegnen wolle. Der Tod von Naimah H. weist einmal mehr auf das Risiko der tödlichen Folgen dieses Verfahrens hin; das Flughafenverfahren bleibt ein Eilverfahren, das auf Fehler angelegt ist, weil unter dem Druck der Fristen, in der verlangten Eilgeschwindigkeit nicht mit der notwendigen Sorgfalt und einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung verantwortlich über Menschenleben entschieden werden kann und weil der physische und psychische Druck auf Flüchtlinge unter den Bedingungen hermetischer Abriegelung und Kontrollen ständig wächst. Scharf zu kritisieren ist, dass unter Rot-Grün die Zahl derer, die sich nach rechtskräftiger Ablehnung ihres Asylverfahrens noch viele Monate lang als de-facto-Internierte aufhalten müssen oder ebenso lang in Abschiebungshaft sitzen, noch drastisch gestiegen ist. So ist die Zahl der Flüchtlinge, die sich 30 Tage und länger im Flughafen befunden haben, 1999 auf 265 gestiegen (1997:85 Flüchtlinge). Die Zahl der Flüchtlinge, die 1999 hundert Tage und länger interniert waren, ist auf 110 hochgeschnellt (1997: 7). Nach Bekanntwerden dieser Fakten im Innenausschuss ist die Kritik am Flughafenverfahren und am Verhalten des Innenministers deutlich angewachsen. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, hat deutliche Verbesserungen und die Herausnahme besonders gefährdeter Gruppen aus dem Verfahren angekündigt. Hier bleibt abzuwarten, was die Fraktionen gegen die harte Linie des Bundesinnenministers durchsetzen können.

Soziale Situation/ Asylbewerberleistungsgesetz

Flüchtlingsinitiativen, Kirchengemeinden, Menschenrechtsorganisationen und PRO ASYL haben immer wieder belegt, dass die Bedingungen des Asylverfahrens und der staatliche Umgang mit Flüchtlingen menschenrechtlichen Standards oft nicht mehr im vollen Umfang Rechnung tragen. Eingeschränkte Sozialleistungen, Ausbildungs- und Arbeitsverbote, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Angst vor Abschiebung und oft monatelange Abschiebungshaft: Beispiele für die alltägliche Verletzung der Menschenwürde in Deutschland. PRO ASYL hat mit vielen Verbänden, den Kirchen, Gewerkschaften und anderen in den »Mindeststandards für ein neues Asylrecht« eine Gesetzesinitiative zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert, da dieses gegen das Gleichheits- und Menschenwürdegebot des Grundgesetzes verstößt. Auch wenn die Regierungskoalition bezüglich des Asylbewerberleistungsgesetzes in der Koalitionsvereinbarung nichts festgelegt hat, muss dieses Thema – gerade angesichts der zur Schau getragenen Bemühungen der Koalition gegen Rechtsradikalismus und für Toleranz – immer wieder thematisiert werden; denn gerade das die »Sozialpolitik« der Ära Kohl kennzeichnende Prinzip der Spaltung und Entsolidarisierung der Gesellschaft hat dazu geführt, dass vor allem Flüchtlinge zu Menschen zweiter Klasse degradiert wurden. Dadurch ist es die verantwortliche Politik, der Staat selbst, der durch Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Flüchtlingen erhebliche Mitverantwortung am Entstehen von fremdenfeindlichen und rassistischen Stimmungen trägt. Auch das langjährige Arbeitsverbot für alle Flüchtlinge durch den Blüm-Erlass vom 15. Mai 1997 trägt dazu bei, fremdenfeindliche Vorurteile in der Bevölkerung zu verstärken. Obwohl die SPD genau diese Kritik 1997 – nach Bekanntwerden des Blüm-Erlasses – äußerte und seine Rücknahme forderte, ist es bisher (Stand: Juli 2000) noch nicht zu einer Aufhebung des Arbeitsverbotes gekommen. Immerhin gibt es auch hier Ankündigungen des innenpolitischen Sprechers der SPD, Dieter Wiefelspütz – allerdings verbunden mit einer Wartezeitregelung, auf deren Fristen sich die Koalitionspartner bisher offenbar nicht einigen konnten.

Bündnis für Demokratie
und Toleranz

PRO ASYL hat zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen scharfe Kritik an Form und Inhalt des von Innenminister Schily inszenierten und der Öffentlichkeit am 23. Mai vorgestellten »Bündnis für Demokratie und Toleranz« geübt, das mit dem unverbindlichen Slogan »Hinschauen – Helfen – Handeln« zwar den Rechtsextremismus am Rande der Gesellschaft anprangern, aber den notwendigen Diskurs über Ursachen und Konzepte sowie – dieser Eindruck muss entstehen – über die staatlichen Anteile am Rassismus durch systematische Ausgrenzung und Rechtspopulismus eher vermeiden will.

Dilettantische Planung des BMI, mangelnde Einbindung von Menschenrechtsorganisationen und NGOs bei der inhaltlichen Planung sowie fehlende Konzepte führten auch zur gemeinsamen Absage von amnesty international, Aktion Courage und PRO ASYL.

Der Bundesinnenminister hat bei der Auftaktveranstaltung des »Bündnisses« starke Worte benutzt: Eine Gesellschaft, die Fremdenhass dulde, verwirke das Recht, eine zivile Gesellschaft zu sein und gefährde den inneren Frieden.

Man fragt sich dann nur, warum Schily nicht die seit Jahren von internationalen UN-Gremien – u.a. vom UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung und vom UN-Sonderberichterstatter über Rassismus – an Deutschland bzw. seiner Asyl- und Migrationspolitik geübte Kritik ernst nimmt und ihre Empfehlungen z. B. für ein Antidiskriminierungsgesetz umsetzt.

Man muss – auch angesichts einer erschreckenden Zunahme von rechtsradikalen Aktivitäten und rassistischer Gewalt – fragen: wo war ist dieses »Schily-Bündnis« nach dem Tod von Alberto Adriano, der Opfer brutalster Gewalt wurde? Wo war es nach dem Brandanschlag in Ludwigshafen, bei dem mehrere Kinder aus dem Kosovo verletzt wurden? Ein Bündnis, das, »von oben kontrolliert«, zivilgesellschaftliches Engagement vorantreiben soll – dabei aber wesentliche Ursachen für die Entstehung von Rechtsradikalismus wie diskriminierende Gesetze oder den Rechtspopulismus aus der Mitte der Politik ignoriert, ist wenig glaubwürdig. Eine glaubwürdige Alternative für ein breites gesellschaftliches Bündnis ist das von ca. 100 Nichtregierungsorganisationen getragene »Netz gegen Rassismus«, das einen Aktionsplan gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus erarbeitet und am 15. Juni der Öffentlichkeit vorgestellt hat.

Europäische Flüchtlingspolitik

Auch im europäischen Zusammenhang geben die Äußerungen des deutschen Innenministers zur Genfer Flüchtlingskonvention und seine Abwehrhaltung gegenüber den Verfolgten Anlass zu großer Besorgnis.

Demgegenüber hatten die europäischen Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in Tampere, Oktober 1999, feierlich ihren Willen bekräftigt, die GFK weiterhin als Grundlage einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik unangetastet zu lassen und uneingeschränkt zur Geltung zu bringen. Dies musste auch als klare Absage gegenüber Versuchen verstanden werden, die GFK als überholt zu betrachten und anstelle eines einklagbaren Rechtes auf Asyl ein Gnadenrecht des Staates zur Basis der Asylgewährung zu machen. Die Beschlüsse von Tampere müsste eigentlich auch Bundesinnenminister Schily als Vorgabe für eine Harmonisierung des europäischen Asylrechts verstehen, nämlich: die Ausrichtung der Asylpolitik an der GFK und den darin festgelegten Definitionen, wer als Flüchtling zu gelten hat und Anspruch auf staatlichen Schutz genießt.

Die enge deutsche Interpretation des Flüchtlingsbegriffs bezüglich der Anerkennung nicht-staatlicher Verfolgung, die im Widerspruch zur Praxis fast aller europäischen Staaten steht und viele nach der GFK Schutzberechtigte in Deutschland in eine »Schutzlücke« fallen lässt, ist ein Haupthindernis bei der „uneingeschränkten und allumfassenden Anwendung der GFK“.

Als Beginn einer Trendwende in der Asylrechtssprechung gegen die enge Auslegung des Begriffs der politischen Verfolgung kann sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.08.2000 zur »quasi staatlichen Verfolgung« erweisen. Die praktische Reichweite für die betroffenen Flüchtlinge hängt jedoch davon ab, ob Rot-Grün bereit sein wird, politische und gesetzliche Konsequenzen aus dieser Entscheidung zu ziehen.

Solange die europäische Asylpolitik vornehmlich aus dem Blickwinkel militärischen Sicherheits- und ordnungspolitischen Abwehrdenkens der InnenministerInnen »gestaltet« wird und gleichzeitig eine »hochrangige Arbeitsgruppe« auf EU-Ebene Aktionspläne und Maßnahmen vorantreibt, die vornehmlich einer besseren Abwehr denn eines besseren Schutzes schutzsuchender Menschen dienen, bleiben auch die Erklärungen von Tampere und das Bekenntnis zur GFK in der Koalitionsvereinbarung unglaubwürdig.

Asyl im Spannungsfeld
der Einwanderungsdiskussion

Die Green-Card-Initiative von Bundeskanzler Schröder für ausländische Computer-ExpertInnen hat die Debatte um Zuwanderung neu entfacht. Die CDU/CSU verknüpfte ihr »Angebot« an die Bundesregierung, über Einwanderungsregelungen zu diskutieren, reflexhaft mit der Forderung nach Abschaffung des Asyl-Grundrechts und Bundesinnenminister Schily katzbuckelte eilfertig vor seinem bayerischen Amtsbruder Beckstein mit der Überlegung, im Zuge der Einwanderungsdebatte auch das individuelle Grundrecht auf Asyl ändern zu wollen, da es angeblich nicht »Europa-kompatibel« sei. Auch wenn ihm die KoalitionspolitikerInnen deutlich widersprachen und sich auch der Bundeskanzler und der Bundespräsident klar für den Erhalt des Grundrechts auf Asyl aussprachen, lässt Schily kaum eine Gelegenheit aus, die Themen Einwanderung und Asyl zu vermischen.

Wer jedoch die kurzsichtige Formel »Asylrecht gegen Zuwanderungsgesetz« propagiert, spielt nicht nur Flüchtlinge gegen MigrantInnen aus, er ignoriert auch die Ursachen von Flucht und Wanderungsbewegungen und stellt völkerrechtlich bindende Konventionen in Frage. Zuwanderung, die sich nach wirtschaftlichen und demografischen Interessen des Staates richtet, ist steuerbar. Die Aufnahme politisch Verfolgter richtet sich hingegen nach dem Kriterium der Schutzbedürftigkeit.

Die Unabhängigkeit der von Innenminister Schily berufenen Kommission wird daran zu messen sein, ob es ihr gelingt, einen offeneren, zukunftsorientierten Diskurs über die Gestaltung der Einwanderung zu initiieren, ohne die Fragen von Zuwanderung und Asyl zu vermischen. Ziel muss die Erarbeitung eines positiven Gesamtkonzepts für Einwanderung und Integration sein, das auch einen gesellschaftlichen Perspektivwechsel hin zu Offenheit und Toleranz einleitet.

Asylpolitische Negativ-Halbzeit-Bilanz

Nach wie vor werden Menschen, die seit Jahren hier leben und integriert sind, deren Kinder hier geboren sind und keine andere Heimat kennen als Deutschland, in ihnen fremde Länder abgeschoben; nach wie vor fehlt eine Härtefallregelung im Ausländergesetz, die humanitäre Bleiberechtsregelungen ermöglicht; nach wie vor finden verfolgte Frauen, unbegleitete Flüchtlingskinder und Opfer von Bürgerkriegen und Gewalt nicht den angemessenen Schutz; nach wie vor werden Flüchtlinge bis zu anderthalb Jahre in Haft genommen, weil sie bei uns das Recht in Anspruch genommen haben, Schutz und Lebensperspektiven zu suchen; nach wie vor sind die sozialen Lebensbedingungen für Asylsuchende so unerträglich und abschreckend, so erschwerend und zermürbend, dass die Menschenwürde vieler Flüchtlinge in Deutschland tagtäglich verletzt wird; nach wie vor werden Menschen aus Deutschland abgeschoben und dabei dem Risiko erneuter Verfolgung, der Folter und Verhaftung in ihrem Heimatland ausgesetzt.

Nach wie vor scheint der zuständige Innenminister Otto Schily entschlossen, in der Flüchtlingspolitik bruchlos die Arbeit seines Amtsvorgängers Manfred Kanther fortzusetzen. Erschreckend deutlich wurde dies insbesondere bei der Rückführung der bosnischen Kriegsflüchtlinge. Im laufenden Jahr werden, etwa zur »Halbzeit« der Bundesregierung, mehr bosnische Kriegsflüchtlinge aus Deutschland in die USA weiter gewandert sein als sich hier noch aufhalten – ca. 30.000 von einst 350.000 Menschen. Dies ist das Ergebnis der bundesdeutschen Strategie eines seit nunmehr über vier Jahren andauernden fortgesetzten Ausreisedrucks auf bosnische Flüchtlinge, der in dieser Härte und Konsequenz im europäischen Vergleich singulär geblieben ist (vgl. dazu Studie von Torsten Jäger und Jasna Rezo: Zur sozialen Struktur der bosnischen Kriegsflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Wohlfahrtsverbänden, PRO ASYL, UNHCR, Mai 2000).

Natürlich gab und gibt es in der Innen- und Asylpolitik auch hoffnungsvolle Zeichen: die Arbeit des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe um die Abgeordnete Claudia Roth, die asylrelevanten Beschlüsse des SPD-Bundesparteitages von Dezember 1999, der Einsatz vieler Abgeordneter vor Ort für »Einzelfälle« in ihrem Wahlkreis, die Arbeit der Petitionsausschüsse und Härtefall-Kommissionen, die Reform der Lageberichte und der Austausch zwischen Auswärtigem Amt und Nichtregierungsorganisationen, der Appell von über 100 Abgeordneten für einen humaneren Umgang mit Balkanflüchtlingen sowie der einstimmig gefasste Bundestagsbeschluss dazu Anfang Juli, die Arbeit der Ausländerbeauftragten, die Aufnahme von Deserteuren aus dem ehemaligen Jugoslawien – indes, diese von der »offiziellen Politik« eher abweichenden Ausnahmen und positiven Beispiele machen letztendlich nur deutlich, „wie weit sich die deutsche Innenpolitik auf dem Gebiet des Flüchtlingsrechts von humanitären Grundsätzen entfernt hat, im Bund wie in den Ländern: Infolge Abstumpfung ist diese Politik nicht mehr in der Lage zu erkennen, wo unzumutbare Härte beginnt – und sie will es auch nicht mehr erkennen.“ (Heribert Prantl, SZ vom 22./23. April 2000)

Die deutsche Innenpolitik wird noch immer von der harten Linie der Innenminister des Bundes und der Länder geprägt. Nimmt man den Koalitionsvertrag als Maßstab der bisherigen Regierungspolitik, so muss zur Halbzeit von einer asylpolitischen Negativbilanz gesprochen werden. Statt den Wählerauftrag für einen Politikwechsel anzunehmen, fährt die Regierung, unter der Verantwortung des Innenministers, im Bereich des Asylrechts weitgehend die harte Linie aus der Ära Kohl/Kanther. Für ihren Anspruch »Aufbruch und Erneuerung« fehlt der Koalition asylpolitisch bisher das Bewusstsein und der Wille, die ideologischen Verkrustungen der Vorgängerregierung aufzubrechen.

Wer aber erklärtermaßen in der Kontinuität »Kantherscher Repressionsreflexe« Innenpolitik betreibt, wird notwendige und überfällige Korrekturen dazu nur schwerlich erkennen und noch weniger die Konturen für eine menschenrechtsorientierte Asylpolitik entwickeln können.

Eine neue und humane Asylpolitik erfordert auch von der Bundesregierung und dem zuständigen Innenminister die Fähigkeit und die Bereitschaft, alten Vorurteilen neue Orientierungen entgegenzusetzen, die einen angemessenen und sensiblen Umgang des Staates mit Flüchtlingen und Minderheiten erkennen lassen.

Gerade wenn man der Gefahr eines schleichenden Rassismus und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit begegnen will, darf man nicht länger die Kontinuität zur Politik der Vorgängerregierung suchen. Dies steht dem eigenen Anspruch der Koalitionspartner an eine Politik der Zukunftsfähigkeit entgegen. Nach 16 verlorenen Jahren eines als »Fremdenabwehrrecht« instrumentalisierten Ausländer- und Asylrechts dürfen nicht weitere Restriktionen die Politik bestimmen. Gefragt und gefordert sind Mut, Dialogbereitschaft, Perspektiven und humane Visionen für eine menschenrechtsorientierte Asylpolitik!

Heiko Kauffmann ist Sprecher von PRO ASYL

Anmerkungen

1) Studiengruppe Militärpolitik, Ein Anti-Weißbuch, Reinbek b. Hamburg (Rowohlt Aktuell 1777) 1974.

2) Stern, 6.7.00

3) In einem Antrag hatte sich die SPD-Fraktion 1991 gar dafür ausgesprochen, in einer „künftigen deutschen Verfassung ein Verbot von Waffenexporten in Staaten außerhalb der NATO zu verankern“. Bei den Grünen war das Verbot von Rüstungsexporten lange Zeit fester Bestandteil des Parteiprogramms; mehr noch, die Rüstungsproduktion sollte im Zuge eines vom Bund geförderten Konversionsprogramms reduziert und langfristig zu Gunsten der Produktion von sinnvollen Gütern eingestellt werden.

4) vgl.: junge welt, 22.10.99

5) vgl.: taz, 3.3.99 (Kommentar): „Aus den größten Kritikern der Elche werden plötzlich selber welche. Klaus Kinkel wird auf jeden Fall herzlich gelacht haben, als er lesen durfte, die Bundesregierung habe keine Erkenntnisse darüber, dass aus Deutschland gelieferte Waffen auch zur Aufstandsbekämpfung im Südosten der Türkei eingesetzt würden. Das muss ihm doch bekannt vorkommen – das ist doch von ihm! Hat man im Auswärtigen Amt etwa vergessen, die Textbausteine auszutauschen?“

6) medico international u.a.: Freie Sicht auf dunkle Geschäfte. Ein Aufruf für generelle Transparenz von Rüstungsexportvorhaben, denn: „die weitreichende gesellschaftliche Bedeutung von Rüstungsexporten duldet keine Geheimhaltung.“

7) vgl. FR, 15.6.00

8) taz, 16.6.00

9) Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass es gerade in den 90er Jahren zu einer Vielzahl von Einschnitten im Leistungsrecht gekommen ist (z.B. bei der Anrechnung von Ausbildungszeiten und Zeiten der Arbeitslosigkeit, bei den Beitragszahlungen für Arbeitslose, bei der Anhebung der Altersgrenzen bzw. der Einführung von versicherungstechnischen Abschlägen), die ihre negative Wirkung in den nächsten Jahrzehnten erst voll entfalten werden.

10) Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme, Vergleich der Alterssicherungssysteme und Empfehlungen der Kommission (hrsg. v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung). Bonn 1983, S. 141.

11) Fast gleichzeitig mit der Rentenreform wurde ein »Haushaltssanierungsgesetz« beschlossen, das eine Senkung des regulären Bundeszuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung vorsah. Diese wurde zu weiten Teilen durch eine Kürzung der Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslosenhilfe-BezieherInnen aufgebracht.

12) Dokumentiert in: Soziale Sicherheit 2/2000, S. 53f.

13) Vgl. Deutschland erneuern – Rentenreform 2000, in: Soziale Sicherheit 6/2000, S. 182-185.

14) Zur Rentenreform 2000, Presseservice der SPD, v. 3.7.2000, Nr. 191/00.

15) Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger hat mittlerweile ein Niveau von 60,7 Prozent bestätigt (VDR-aktuell, v. 6.7.2000). Die Abweichung um 4 Prozentpunkte von dem durch den SPD-Parteivorstand genannten Wert von 64 Prozent ergibt sich, wenn aus der Bezugsgröße (durchschnittliche VGR-Nettoeinkommen) die vier Prozent des Beitrags zur privaten Altersicherung herausgerechnet werden. Dies ist notwendig, um einen aussagefähigen Vergleich mit dem heutigen Rentenniveau und Rechtsstand ziehen zu können.

16) M. Brost/M.-L. Hauch-Fleck, Eine Allianz fürs Leben, in: Die Zeit, Nr. 26, v. 31. Juni 2000, S. 21f., hier S. 21.

17) Bereits heute (1998) betrug die durchschnittliche Zahl an angerechneten Versicherungsjahren in Westdeutschland für Männer 39,7 und für Frauen 25,3 Jahre und in Ostdeutschland 45,9 (Männer) bzw. 34,0 (Frauen) Jahre.

Ein Weißbuch lässt Schwarz sehen

Ein Weißbuch lässt Schwarz sehen

von Paul Schäfer

Zum ersten Mal seit dreizehn Jahren hat das Bundesministerium der Verteidigung wieder ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt. Allein dies wurde schon von den Protagonisten der Regierung als Erfolg gefeiert, denn Rot-Grün war nicht zum Abschluss gekommen, weil man sich nicht über die Regelung der Wehrpflicht einigen konnte. Minister Jung konnte dennoch nahtlos anknüpfen, an die von den Vorgängerregierungen auf den Weg gebrachte neue Sicherheitsphilosophie der Bundesrepublik, an die Festlegungen zur Umwandlung (»Transformation«) der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zur Interventionstruppe. Das Weißbuch schreibt diese Entwicklungen der letzten zehn Jahre fest und ist im Wesentlichen ein Instrument zur öffentlichen Legitimierung dieses Umbauprogramms.

Dort, wo neue Akzente gesetzt werden sollten, musste zunächst zurückgesteckt werden, so bei der Eröffnung neuer Einsatzoptionen für die Streitkräfte im Inneren oder bei der Überlegung, die mit dem Grundgesetz nur schwer in Einklang zu bringende Interventionspraxis der Bundeswehr durch eine Grundgesetz-Änderung zu bereinigen. Von letzterem will man nun die Finger lassen, die Operation scheint zu riskant. Verteidigung ist weiter Kernaufgabe, heißt es, allerdings müsse sich die Bundeswehr auf die wahrscheinlichere Aufgabe der Krisenintervention konzentrieren. Ein Narr, der Schlechtes dabei denkt. Bei der innergesellschaftlichen Militarisierung indes hat Innenminister Schäuble nachgelegt. Das Tauziehen um die Ausweitung militärischer Terrorbekämpfung im Inneren geht also munter weiter.

Enttäuscht wurden diejenigen, die sich vom Weißbuch eine auf Analyse und Kosten-Nutzen-Rechnung basierende Planung der Auslandseinsätze erhofft hatten. Stattdessen geht es um Weiter So oder gar um ein Mehr an militärischem Engagement. Denn die Großkoalitionäre verknüpfen machtpolitische Ambitionen sehr direkt mit den militärischen Einsatzpotenzialen der Armee. Dieses Motiv hat sowohl im Kongo- als auch im Libanon-Einsatz mitgespielt. Die Allseits-Bereit-Phantasien haben inzwischen dazu geführt, dass Teile der Konservativen und der Rechtsliberalen befürchten, dass die Fähigkeiten der Bundeswehr überstrapaziert und wir in Konflikte hineingezogen werden, die außer Kontrolle geraten könnten. Daher hat die CSU jüngst einen Kriterienkatalog vorgelegt, der mit dem Kriterium »nationale Interessen« eine Bremse einbauen will. Der nationalistische, ja mitunter rassistische Subtext solcher Grenzziehungen ist kaum zu übersehen: Was haben wir mit den blutigen Zwistigkeiten dort hinten in Afrika zu schaffen? In der Kongo-Debatte wurde daher durch die Regierenden eine Bonanza-Spur ausgelegt, die den Nationalkonservativen den Mund wässrig machen sollte. Bis ins Detail wurden die Rohstoffe aufgeführt, derer wir für das nationale Wohl bedürfen. Wenn die strategischen Ressourcen wie Öl und Gas immer knapper werden, der Wettlauf um ihre Aneignung immer härter wird, dann müssen wir gefälligst zusehen, dass wir überall dort, wo es ans Eingemachte geht, unsere Flagge aufpflanzen und unsere Interessen »verteidigen«. Die Marine setzt diese Philosophie bereits mustergültig um und das Weißbuch schreibt diese Aufgabenbestimmung für die Streitkräfte deutlicher als zuvor fest. Insofern wird heute schon deutlich, dass der Bezug auf angeblich nationale Interessen eher zu einem Mehr als zu einem Weniger an Einsätzen führen wird.

Dass man die globale Kontrolle über die wichtigen Ressourcen mittels militärischer Überlegenheit und maritimer Dominanz erreichen will, ist kein spezieller Einfall der Bundeswehrplaner. Die NATO diskutiert nicht erst seit dem Gipfel von Riga Ende vergangenen Jahres darüber, diese Erwägungen 2008 in ein neues strategisches Konzept zu gießen. Das was die NATO gegenwärtig bereits am Horn von Afrika und im Mittelmeer praktiziert, würde damit weiterentwickelt und perfektioniert: Deutsche Fregatten und Korvetten wären dann dabei, wenn es um die effektive Überwachung und Kontrolle der Ressourcenströme aus dem Globalen Süden in die nördlichen Metropolen geht.

Manche Leserin/mancher Leser mag sich durch den Abschnitt »Zivile Krisenprävention« in die Irre führen lassen. Im ersten Entwurf war dieser Teil sehr schmal ausgefallen und wurde erst im Zuge der Ressortabstimmung etwas aufgebessert. Das kann nicht über die eigentlichen Prioritäten hinwegtäuschen. Nach wie vor gilt die möglichst umfangreiche Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen der Bundesregierung als Gradmesser ihres Einflusses in der Welt. Genau hier muss die friedenspolitische Kritik am Weißbuch ansetzen: Durch weitreichende Abrüstungsschritte und konsequentes Umdenken müssen hierzulande die Mittel freigesetzt werden, die für eine führende Rolle bei der friedensnotwendigen Energiewende (Weg vom Öl), bei der Förderung nachhaltiger Entwicklung in den vom Kapitalismus vernachlässigten Peripherien, bei der vorrangigen Unterstützung der Vereinten Nationen in der zivilen Konfliktbearbeitung benötigt werden.

In diesem Sommer wird es einige Gelegenheiten geben, um diese Alternativen auch nach der schnell verklungenen Diskussion um das Weißbuch deutlich zu machen. Friedens-, Umwelt- und entwicklungspolitische Gruppen und Bewegungen sind dazu aufgerufen, ihre Konzepte und Ideen beim G-8-Gipfel in Heiligendamm vorzustellen.

Paul Schäfer, MdB, vertritt die Fraktion »Die Linke« im Verteidigungsausschuss