Die Macht- und Militärpolitik der Bundesrepublik
Die Macht- und Militärpolitik der Bundesrepublik
von Detlef Bald
Herausgegeben von W&F in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V.
Der Paradigmenwechsel von der Verteidigung zur Intervention
Fünfzig Jahre Bundeswehr – das Jubiläum wurde im Jahr 2005 mit großem öffentlichen Gepränge gefeiert. Das parteiübergreifende Wort von der »Erfolgsgeschichte einer Armee in der Demokratie« überstrahlte gleichermaßen die staatlichen und parlamentarischen Repräsentanten beim morgendlichen ökumenischen Festgottesdienst im Berliner Dom wie beim Großen Zapfenstreich im abendlichen Dunkel vor dem Reichstag.1 Diese Feiern rahmten den Reigen der monatelangen Festveranstaltungen ein, deuteten das Selbstbewusstsein der öffentlichen Anerkennung und zollten, wie es allenthalben lautete, der »Armee im Einsatz« den gehörigen Respekt. Dabei wird kaum wahrgenommen, dass der in den Scheinwerfern der Medien glänzende Pomp der aktuellen Feierlichkeiten durch polizeiliche weiträumige Absperrungen unter Ausschluss der Bevölkerung in Szene gesetzt und somit eine eigenartige Akzeptanz des Militärs behauptet, aber als Distanz offenkundig wird. Ein Blick auf das Gründungsjahr 1955 zeigt, dass damals nahezu zwei Drittel der Bevölkerung ihre Aufstellung ablehnten und dass „selbst die Mehrheit derer, die meinen, Deutschland brauche eine Armee, …keine ausgesprochenen Freunde des Militärs“2 waren. Konrad Adenauer war entsetzt über den verbreiteten Widerstand, der sich in dem Slogan äußerte: „Nie wieder deutsche Soldaten!“, volkstümlich auch verstanden als: »Militär bedeutet Krieg«. Die Erinnerung daran war noch wach: „Krieg gehört für die meisten zum Furchtbarsten, was sie sich vorstellen können, sowohl für ihr eigenes Leben als auch für Deutschland.“3 Aus friedenswissenschaftlicher Sicht wird darauf im Jubiläumsjahr Bezug genommen. Da heißt es: „Grundsätzliche Kritik tut Not, und die politische Analyse aus antimilitaristischer Perspektive muss den historischen Rückblick einschließen. Was sich zeigt, sind Kontinuitäten deutscher militaristischer Politik und ihrer Umsetzung durch das Militär.“4 Solche harschen Worte geben aber ein Bild der Bundeswehr der Gegenwart ab, das augenscheinlich in der offiziell reklamierten »Erfolgsgeschichte« einer demokratischen Armee kaum vorkommt. Diese widersprüchlichen Einschätzungen lassen sich am besten beurteilen, wenn die bestimmenden Faktoren der Militärpolitik und -geschichte der Bonner Republik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kategorial und komparativ analysiert werden.
Das Paradigma des Kalten Krieges
Das internationale System
Das Jahr 1945 bietet für das deutsche Militär im Unterschied zu anderen staatlichen Institutionen am ehesten die Voraussetzungen der »Stunde Null«. Nach der Kapitulation im Mai 1945 löste der Alliierte Kontrollrat im Vollzug der Potsdamer Beschlüsse am 2. August 1945 alle Einrichtungen der Wehrmacht – »völlig und endgültig« – auf, damit der »Hort des Militarismus« ein für alle Male ausgelöscht werde. Es handelte sich um eine Entscheidung ex negativo. Die Alliierten wollten verhindern, dass deutsche Machtpotentiale, die ein Jahrhundert lang mit expansiven Strategien die Nachbarn bedrohten, erneut den Frieden gefährdeten.5
Die »Stunde Null« verlangte nach der Demilitarisierung auf Dauer die Abkehr von jeder Übersteigerung des Militärischen nach innen und außen, nicht aber den Verzicht auf Militär. Die Alliierten gestanden daher den Deutschen wohl Militär zu, mochten ihnen aber nicht die Verfügungsgewalt über diese Streitkräfte übertragen. Sie wurden von außen domestiziert. Hier gab es den ersten Bruch mit nationalstaatlichen Traditionen: die Bundeswehr wurde international vollständig integriert entworfen. Die Kompetenzen der deutschen, der politischen und militärischen Leitung waren strukturell gewissermaßen amputiert. Im Ernstfall hätten Bundeskanzler wie Generalinspekteur praktisch nicht über direkte Einsätze deutscher Verbände entscheiden können. Die Konstellation der Nachkriegszeit war ausschlaggebend für Existenz und Entwicklung der Bonner Republik und nota bene für ihr Machtmittel, die Bundeswehr. Die Alliierten des Krieges, an ihrer Spitze im Westen die USA (und im Osten die Sowjetunion), beherrschten die besatzungsrechtliche Ordnung in Deutschland. Die Bundesrepublik übernahm viele Vorbehaltsrechte des Besatzungsstatuts und legitimierte im Mai 1955 im völkerrechtlichen Werk der Pariser und Bonner Verträge diese alliierte Suprematie für die weitere Zukunft. Was in Potsdam 1945 von den Alliierten als einseitiges Diktat verabredet worden war, fand so in angepasster Form und in ausdrücklichem »Einverständnis« (Generalvertrag) der Deutschen seine Gültigkeit bis 1990.
Im Generalvertrag übertrugen die Alliierten den Deutschen die „volle Macht eines souveränen Staates«, also keineswegs die volle Souveränität, sondern wie es im englischen Text hieß, die „full authority«. Zugleich sicherten sie sich Vorbehaltsrechte und schränkten kaum verbrämt – aber deutlich – die Souveränität der Bonner Republik ein, um „die von den Drei Mächten bisher ausgeübten und innegehabten und weiterhin beizubehaltenden Rechte“ für das eigene Militär auf deutschem Boden geltend zu machen.6 Ihre Suprematie setzte den Rahmen für die Bundeswehr. Seit 1955 gab es die doppelte Signatur alliierter Truppen: einerseits die unter NATO-Befehl und andererseits die unter nationalem Befehl stehenden Einheiten. Die »nationalen« Verbände der USA, Großbritanniens und Frankreichs (und im Osten die sowjetischen auf dem Boden der DDR) hatten einen grundsätzlich anderen Status, mit eigenen, im Truppenvertrag, in Protokollen und Noten verbrieften Rechten und Befugnissen.7 Diese »alliierte« Signatur bedeutete eine gespaltene Machthierarchie in Deutschland, hier also: die der ehemaligen Besatzungsmächte über die deutsche Politik bzw. gegenüber einem Regierungshandeln, das nach Souveränität strebte. Im Westen hatten die Drei diese höchste Kompetenz, im Osten allein die Sowjetunion, aber alle Vier behielten Potsdamer Reservatsrechte für Deutschland als Ganzes bis 1990. Machtpolitisch kann in dieser Struktur der Suprematie der höchste Ausdruck der »Eindämmung« deutscher Hoheitsgewalt gesehen werden.8
Für die Bonner Republik ergab sich das Dilemma, immer wieder an die Grenzen der Unabhängigkeit zu stoßen. Im politischen Alltagsgeschäft traf es besonders das Kanzleramt, das Außenministerium sowie das Verteidigungsministerium. Aber auch das Innenministerium war wegen der Kompetenz der Krisen- und Notstandsplanung, die bis 1968 in den Händen der Alliierten lag, davon betroffen.9 In Berlin wurde die »nationale« Befugnis der Alliierten am deutlichsten, da in den Regelungen des Jahres 1955 die Stadt weiterhin den Status eines Besatzungsgebietes behielt. Nach dieser Völkerrechts- und Verfassungslage hatte die Bundeswehr mit der Verteidigung Berlins nichts zu tun. Da galten alliierte Kompetenzen.
Die internationale Kontrolle und Eindämmung
Das Vertragssystem der NATO und WEU, das die Kontexte und Bedingtheiten für die Bundeswehr vorgab, kann als eine Art Staatsräson bezeichnet werden. Insofern könnte man die ambivalenten Verhältnisse dieser historischen Phase der deutschen Militärgeschichte nach 1950 in Anlehnung an zeitgenössische Sprachstile als »embedded history« bezeichnen.10 Die Auswirkungen waren weitreichend. Die Bundeswehr wurde in ein komplexes internationales Kontrollregime eingebunden, das seit den fünfziger Jahren alle Materialien, Waffenbestände und Kasernenanlagen durch Vor-Ort-Inspektionen quantitativ überprüfte. Der Westen suchte Planungssicherheit vor den Deutschen, um mit den Deutschen die Stabilität des Kalten Krieges in Europa zu gewährleisten.
Die »Eindämmung« wurde auch militär- und sicherheitspolitisch – also die qualitative Seite militärischer Potentiale – von den Amerikanern strikt umgesetzt. Nach den abschließenden Verhandlungen über den Beitritt der Deutschen zum Bündnis im Oktober 1954 wurde die nur wenige Jahre zuvor errichtete Organisationsstruktur der NATO umgemodelt und festgelegt, dass nahezu alle wichtigen Daten über operative Konzepte, Einsatzplanungen usw. der anglo-amerikanischen Verfügungsgewalt – das Paradebeispiel der Aktenklassifizierung: »for American eyes only« -vorbehalten blieben. In der internationalen Stabsarbeit war so z.B. für deutsche Offiziere der Tatbestand der informatorischen Diskriminierung gegeben; wichtige Befehlsstränge wurden entsprechend konzipiert. Das wog um so schwerer, als eigenständige Stabsorganisationen (»Generalstab«) zur Planung militärischer Einsätze den Deutschen verwehrt waren. Auch im Bündnis behielten die USA das Sagen. Nur auf der nachgeordneten Leitungsebene taktischer Umsetzung gab es die Befugnis, nach den jeweils gültigen Doktrinen und vorgegeben Direktiven die Befehle für den Ernstfall vorzubereiten. Es brauchte lange Jahre, bevor aus partnerschaftlicher Kooperation Vertrauenswürdigkeit und Anerkennung entstand oder erst nach zähen Verhandlungen eine andere Mitwirkung erreicht wurde. Asymmetrische Verhältnisse innerhalb des westlichen Bündnisses kennzeichnen also in den ersten Jahrzehnten den Status der Bundeswehr.
Kontinuität zum Zweiten Weltkrieg existierte im militärstrategischen Ansatz der USA und ihrer Militärdoktrin. Die erste globale Nuklearstrategie der »massiven Vergeltung« war ganz im Geiste des Zweiten Weltkriegs entworfen. Die damaligen extremen, mit moderner Technologie organisierten Zerstörungen und die Vernichtungsoperationen wurden noch »optimiert«. Es erfolgte eine Diversifizierung des militärischen Denkens. Stalingrad, Tokio oder Dresden sowie Hiroshima und Nagasaki mochten Metaphern der Barbarei und der Vernichtung sein – Überschreitungen moralischer und völkerrechtlicher Grenzen, aber für die militärischen Experten wurden sie nach dem Krieg Beispiele künftiger und global berechenbarer Kriegführung.11 Dabei wurden die Doktrinen und Operationen der Wehrmacht wieder hoffähig, da ihre Effizienz gegen die Rote Armee – nun im Kalten Krieg – attraktiv erschien. In akribischer Arbeit hatten deutsche Stabsoffiziere die Erfahrungen des »Ostfeldzuges« für die USA aufbereitet.12 Die Kooperation funktionierte. Die konventionelle Kriegführung wurde modernisiert, allerdings der Einsatz von Atomwaffen systematisch integriert. Die USA benötigten nur wenig Zeit, diesen »revolutionären Wandel in der militärischen Denkart« konzeptionell aufzugreifen; schon 1947 waren die Weichen für die entsprechende Rüstungspolitik, Taktik und Strategie des Kalten Krieges gestellt.13 Die Auswirkungen via NATO für die Bundeswehr kamen schnell und massiv.
Diese Ordnung des Anfangs war der Bonner Regierung vorgegeben. Westbindung bedeutete Wertebindung, Freiheit bedingte Machtbindung. Kanzler Adenauer koppelte den Akt der Staatswerdung an die Aufstellung des Militärs. Die Wiederaufrüstung war für ihn die Voraussetzung zur Erlangung der Souveränität.14 Adenauer hatte sein Handeln von Beginn an darauf gerichtet, die Demilitarisierung umzukehren und zu einer Remilitarisierung zu gelangen. Wenigen ist aufgefallen, dass er z.B. schon „1947 das Instrument der Armee als ein wesentliches Element staatlicher Souveränität betrachtete.“15 Die Absicht des Kanzlers, seine Vorstellung vom »Wesen eines Staates« umzusetzen und eigenständig von der »Wehrhoheit« Gebrauch zu machen, konnte unter den gegebenen Umständen keinen vollen Erfolg haben.16 Die Einsicht, ein Staat gelte sonst eben nichts, führte deshalb zu vielfältigen Aktivitäten mit der Devise »Wandel durch Integration«, um die militärischen Fesseln abzuschütteln bzw. den politischen Spielraum zu erweitern. Schon 1950 war der erste Etappenerfolg zu verzeichnen. Die Alliierten akzeptierten, dass das Kanzleramt eine Geheimplanung zur Aufrüstung in Auftrag gab. Im Oktober 1950 wurde die Himmeroder Denkschrift fertiggestellt.17 Doch der Gleichklang der Interessen von Washington und Bonn brauchte seine Zeit, die neue Gestalt des Militärs in der Ära Adenauer entstehen zu lassen.
Die ehemaligen Generale und Admirale der Wehrmacht, die in Himmerod die militärische Zukunft entwarfen, hatten ganz das Ideal einer »neuen Wehrmacht«, wie sie die spätere Bundeswehr nannten, vor Augen. Nach dem Muster der Vernichtungsdoktrin des »Totalen Krieges« im Osten kam eine »Worst-Case«-Verteidigung zustande, welche die operativen Maximen des Generalstabs der Wehrmacht in das Panorama des Kalten Krieges stellte und eine europaweite „Gesamtverteidigung von den Dardanellen bis nach Skandinavien“ ins Visier nahm. Eine echte Massenarmee vom Typ mobiles und motorisiertes Expeditionsheer sollte „von vornherein offensiv“ und im Hinterland des Gegners mit Atombomben vorgehen können.18 Das war die Quintessenz dessen, was in der Folgezeit »Vorwärtsverteidigung« genannt wurde und im Einklang mit der massiven Vergeltung (massive retaliation) stand. Insofern war es für Kanzleramt und militärische Führung nur plausibel, für die deutschen Formationen Atomwaffen anzustreben. Die nukleare Einsatzbefugnis, gewissermaßen der zweite Schlüssel zur Freigabe im Ernstfall, blieb in amerikanischer »nationaler« Hand.
Mehr als ein Jahrzehnt lang litten die deutsch-amerikanischen Beziehungen darunter, dass im Rahmen der Integration ins Bündnis die Bonner Politik versuchte, an den Stellschrauben des Atomwaffeneinsatzes zu drehen. Das Zugriffsrecht wurde den Deutschen verweigert. Der Höhepunkt der Friktionen kam aus dem Bonner Drängen, den Wandel der Strategie hin zur »flexiblen Reaktion« zu verhindern. Diese Entwicklung leiteten die USA ein, weil nach dem Sputnik-Schock 1957 deutlich wurde, dass es für sie ein »Fenster der Verwundbarkeit« durch sowjetische Atomwaffen gab. Helfen sollte die Option der politischen Deeskalation von Krisen und Konflikten. Für die Bundeswehr hieß dies: Atombomben, auch die für die Artillerie des Heeres, sollten nicht mehr massiv sondern selektiver und flexibler die Verteidigung absichern. Bonn aber suchte an den alten Verhältnissen festzuhalten. Daher kam es während der Berlinkrise 1961 zu einer scharfen Zuspitzung, als die politisch Verantwortlichen, Kanzler Adenauer, Minister Strauß sowie die militärische Führung, u.a. auch der Vertreter bei der NATO, Generalmajor Johannes Steinhoff, in Washington wiederholt intervenierten. Sie forderten, nach der alten Doktrin massiv vorzugehen, auch deutsche Divisionen einzusetzen oder gegebenenfalls eine Atomwaffe als Warnsignal »against no target« über der Ostsee oder einem Truppenübungsplatz in der DDR zur Explosion zu bringen. Ende November noch betonte Strauß in den USA, die Deutschen bestünden auf mehr Mitsprache beim Einsatz der Atomwaffen. Dieses Vorgehen rechtfertigten beteiligte deutsche Diplomaten später auf Anfrage, sie hätten in Washington „nicht den Verdacht bestärken dürfen, dass sie risikoscheu“ seien.19
Im Ergebnis folgte aus dem deutsch-amerikanischen Kompetenzgerangel, dass die USA (1.) die eindeutigen Zuständigkeiten, die ihnen als Alliierte zugesichert waren und besonders im Besatzungsstatut von (West-) Berlin zutage traten, nicht antasten ließen und dass sie (2.) ihre politischen Interessen, die deutschen militärischen Potentiale zu »zähmen«, strikt weiter verfolgten. Die Berlin-Krise war die Lehrstunde, sich weiter in die Sicherheitsarchitektur des Westens einzupassen. Deutsche Bemühungen, diese Grenzen aufzuweichen oder zu verschieben, wurden schlussendlich in die Schranken gewiesen. Latente Widerstandskräfte erlahmten schließlich. Natürlich gab es gewisse pragmatische Verbesserungen hier und dort. Der Harmel-Bericht von 1967, militärische Macht und »Entspannung«, nach amerikanischem Verständnis also vor allem (nur) die politische Deeskalation von Krisen, mit einander zu verbinden, wies die Richtung. Das Paradigma der Bonner Sicherheitspolitik war neben »Potsdam« eben auch durch den Antagonismus des Kalten Krieges justiert – und allein von Bonn aus nicht auflösbar.
Das Dilemma der Atombewaffnung
Nicht erst 1961, in der historischen Situation der Berlin-Krise, wurde das Dilemma einer nuklear integrierten Verteidigung in Deutschland offenbar, im Ernstfall das zu vernichten, was als Ziel jeglicher Verteidigung zu erhalten galt. Die mögliche Weggabelung wurde nicht genutzt oder, wenn es eine Politikalternative denn wirklich gegeben hat, vertan. Jedenfalls hatten grundsätzlich andere Optionen der Verteidigung mit Adenauer keine Chancen. Daher wurden alternative konventionelle, defensiv orientierte oder durch Milizkomponenten bestimmte Konzepte seit 1950 verworfen und ihre Vertreter zuletzt 1955 – nur Graf Schwerin und Bogislaw von Bonin seien namentlich erwähnt20 – aus dem Personalstamm der Bundeswehr entfernt. Seitdem war die Hoffnung auf nukleare Stabilität die eigentliche Garantie der Sicherheit. Sicherheit durch Atomwaffen hing von der mit dieser Doktrin verbundenen, aber immer unkalkulierbaren Glaubwürdigkeit der Abschreckung ab. Das Sicherheitsdilemma Deutschlands blieb bestehen, auch wenn eine militärische Ratio forderte, die Atomwaffen nur »vernünftig« und nur dann einzusetzen, „wenn andere Mittel zum Erreichen des taktischen Zieles nicht ausreichen.“ Von dieser Position aus kritisierte Generalinspekteur Ulrich de Maizière „den geplanten großzügigen, fast unbekümmerten Einsatz atomarer Gefechtsfeldwaffen im jeweiligen Verteidigungsraum.“21 Im Durchschnitt der Jahre war die Bundeswehr mit 4.000 Atombomben ausgestattet, 1992 betrug ihre Anzahl noch 2.500.
Obwohl allgemein zugängliche wissenschaftliche Analysen schon 1971 erkannten, dass bei einem auch nur geringen Einsatz dieser Waffen ein zivilisiertes Überleben in Mitteleuropa für Jahrhunderte nicht mehr möglich wäre, gab es keine Wende in der Atombewaffnung.22 Die Kategorien des integrierten Atomwaffeneinsatzes blieben im Ernstfall gültige Maxime der Verteidigung. Die Tatsache, dass die Atomwaffen das vernichteten, was es zu verteidigen gilt, und dass Deutschland daher in einem flächendeckenden Atomkrieg nicht verteidigungsfähig ist, setzte sich in der Führung der Bundeswehr nicht durch. Sie suchte dem Dilemma zu entgehen, indem sie auf dem Automatismus des eskalatorischen Verbunds der Atomstrategie bestand. Es gab kein Entkommen aus der Falle der Rüstungsspirale der Abschreckung mit der gespaltenen Sicherheit, bei der Fiktion und Realität so nah bei einander lagen. Die Kontinuität ist unübersehbar. Der Denkhorizont des »Totalen Krieges«, der der Generalstabsschule der Weltkriege entstammte, begleitete die Modernisierung der Rüstung und die militärischen Doktrinen bis zum Ende des Kalten Krieges.
Die Bildung eines genuin militärischen Milieus
Das Paradigma der Militärgeschichte des Kalten Krieges hat noch seine innenpolitischen Flanken. Der Primat der demokratischen Politik und die zivil-militärischen Beziehungen sind vor dem Hintergrund der deutschen Militärgeschichte zwei wichtige Aspekte des »Militarismus der neueren Geschichte«, nämlich als Verfassungsproblem und als „Belastung des sozialen Lebens.“23 Die Einbindung des Militärs in das parlamentarische Regierungssystem erfolgte in der »Wehrgesetzgebung« von 1954 bis 1957. Gerade diese formale institutionelle Verankerungen im System der Bundesorgane spiegelt tatsächlich diesen Neuanfang als Lehre aus der Geschichte wider. Die Erfahrungen der Weimarer Republik, als die Reichswehr sich eine weitgehende Eigenständigkeit – »Staat im Staate« – reservieren konnte, und der Militarismus im Kaiserreich sowie im NS-Regime begründeten die strikte Geltung des Grundgesetzes und der politischen Verantwortung. Jede, auch nur symbolische persönliche Zuordnung (via Kaiser oder Führer) wurde gegenüber sachlichem Verwaltungshandeln und rechtsstaatlicher Bindung aufgegeben. Die radikalen Einschnitte trennten das Neue scharf vom Alten. Das Prinzip einer »legislatorisch gesteuerten Verwaltung«, um die Willensbildung des Parlaments dauerhaft umzusetzen, konnte nach schwierigen Phasen der Umsetzung Erfolge zeitigen, da eine zivile, mit Juristen besetzte Verwaltung die formalen Vorgaben schließlich umsetzte.24
Der Primat staatlicher Einbindung fand im Militär leichter Akzeptanz als die parlamentarischen Zuständigkeiten. Die formale Zuordnung wurde in den fünfziger und sechziger Jahren nur bedingt angenommen. Denn die junge Republik zeigte ein anderes Selbstverständnis. In traditionalistisch obrigkeitlicher Manier nahm das Militär einen Sonderstatus ein. Wie wäre es sonst zu verstehen, dass Regierung und Bundestag die Kompetenzen nach der Verfassung wenig und erst allmählich Stück für Stück wahrzunehmen bereit waren. Das betraf sowohl das Budgetrecht, das Recht auf Auskunft im Bundestagsausschuss oder die Respektierung des Wehrbeauftragten. Dieser Neuanfang wirkte mittelfristig lähmend, da auch Minister, z.B. Strauß, ihre Distanz zur parlamentarischen Kontrolle nicht verbargen und offen als zivile Einmischung desavouierten.25 Bis zu Beginn der siebziger Jahre forderten Vertreter der Militärelite entsprechende Änderungen des Grundgesetzes, wie eine im Einzelnen wechselvolle Militärgeschichte zeigt.
Die »Belastung des sozialen Lebens« als letzter Faktor des Paradigmas der Militärgeschichte nach 1945 stand von Anfang an unter öffentlichen Erwartungen und internationalem Druck. Die Abkehr von militaristischen Traditionen und Kontinuitäten sowie die Absage an das genuin militärische Milieu der sozialen Abkapselung und an antiparlamentarische Haltungen schien daher klar. In Widerspruch dazu hielten wichtige Repräsentanten der ehemaligen Wehrmacht das traditionalistische Selbstverständnis eines Militärs »sui generis« hoch. Hinter diesem Begriff verbirgt sich das Streben nach einer traditionalistischen sozialen und normativen Sonderstellung gegenüber Staat und Gesellschaft. Diese Welt des Primats des Militärischen stand am Anfang der Bundeswehr und wies der praktischen Politik im Amt Blank und beim Aufbau nach 1955 die Richtung. Schon die Himmeroder Denkschrift von 1950, die »Magna Charta« einer »neuen Wehrmacht«, dokumentiert diese Tendenzen einer politisch sauberen Vergangenheit im Nationalsozialismus und »zeitlos« gültiger militärischer Traditionen. Die Vergangenheit wurde entsorgt. Neben der Militärstruktur und den operativen Maximen (wie oben dargelegt) folgte auch die normative Fixierung der Bundeswehr dem Soldatenbild einer idealisierten Vergangenheit. Es wurden Traditionslinien aufgemacht, die die Grundwerte der Bonner Verfassung konterkarierten. Rückblickend wird dies gerne als »Gründungskompromiss« beschworen, was die Verhältnisse verfälscht und eine Gründungslegende des demokratischen Neuanfangs aufpoliert.
Der in diesem Dokument von Himmerod vorhandene Reformansatz von Wolf Graf von Baudissin orientierte sich an den rechtsstaatlichen, freiheitlichen und pluralistischen Werten des Grundgesetzes. Doch Baudissin konnte nur isolierte, marginale und unsystematische Einsprengsel einfügen.26 Die Geschichte der »Inneren Führung« ist daher im Anfang eine Geschichte des Defizits. Die Politik für den inneren Aufbau der Bundeswehr folgte also zunächst restaurativen und sogar reaktionären Leitbildern. Die Folgen für Norm und Realität waren verheerend. Als 1966 die Gewerkschaften erstmals in Kasernen werben durften, traten Generalinspekteur Heinz Trettner und mehrere Generäle aus Protest zurück; als der Inspekteur der Luftwaffe Johannes Steinhoff 1968 die „zeitlose Gültigkeit“ des „vorbildlichen Führertums“ von Offizieren der Wehrmacht lobte,27 fand er nur Beifall; als im Frühjahr 1969 Generalmajor Hellmut Grashey den Offizieren des 20. Juli die Ehre absprach und pointiert feststellte, nun könne man „endlich“ die „Maske“ der „Inneren Führung“ ablegen, erfuhr er an der Führungsakademie Beifall; als etwa zur gleichen Zeit der Inspekteur des Heeres, Albert Schnez, eine von der obersten militärischen Führung gebilligte Studie vorlegte, die eine „Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach militärischem Vorbild einklagte, zeigte sich das Substrat des »Sui-generis«-Denkens in aller Klarheit. Ein Journalist bezeichnete die Manifestation des Ewig-Gestrigen mit den Worten: „Die Restaurateure bliesen zum letzten Gefecht.“28 Ein anderer fand die Bewertung: „Ins Kaiserreich ließe sich auch diese Bundeswehr hervorragend integrieren.“29 Dieses Urteil über zwanzig Jahre Militäraufbau in der Bonner Republik ist nicht einmal polemisch. Selbst alte Generäle waren zutiefst vom Zustand der Bundeswehr enttäuscht; die Nationalkonservativen Hans Speidel und Adolf Heusinger sowie der Reformer Graf Baudissin stimmten darin überein, dass die Reform des Militärs in der Bonner Republik „gescheitert“ sei.30
Die Ära Adenauer hat die weitere Entwicklung der Militärgeschichte beträchtlich belastet, da der Traditionalismus seit Himmerod mit antipluralistischen und geschichtsklitternden Parolen einen sanktionierten Status gefunden hat. So wurde die Opposition zur Militärreform in die Bundeswehr regelrecht eingebaut und der Konflikt zur Demokratisierung gemäß der »Wehrgesetzgebung« und dem entsprechenden Konzept der »Inneren Führung« installiert. Im Militär konnte die Gegenposition zur Reform Erfolg haben, da sie auch als Bestandteil einer dezidierten Vergangenheits- und Geschichtspolitik auf den Ebenen der Politik festzustellen ist.31 So bildeten sich zwei „Fronten, die sich in der einen oder anderen Form“ äußerten und auch politisch die Gestalt der Bundeswehr immer wieder zwiespältig kennzeichnete.32 Die legislatorisch gesteuerte Militärreform hatte über Jahre nur formale Relevanz, sie wurde lange nicht als legitimer Rahmen der Existenz des Militärs angenommen. Die immanenten Widersprüche waren auch für die Militärführung konstitutiv.33 Diese Problematik ist stark zu betonen, da die Geschichte der Bundeswehr nicht nur in der zweiten Reformphase zu Beginn der siebziger Jahre sondern bis in die Gegenwart (nach dem Umbruch 1990) von der Auseinandersetzung um diese beiden soldatischen Leitbilder bestimmt ist.
Der Paradigmenwechsel nach 1990
Die Machtgeometrie über den Atlantik beherrschte auch nach 1990 die Militärgeschichte. Die alliierten Rechte, wie sie in Potsdam 1945 formuliert worden waren, gestalteten den Übergang vom besatzungsrechtlich »penetrierten System« hin zur Souveränität des vereinten Deutschland.34 Keine originären Rechte fremder Herrschaft beschränkten die Souveränität und also die Hoheit über das Militär. Die Doktrin von der Bedrohung aus dem Osten, die wesentlich Legitimität und Identität der alten Bundeswehr geprägt hatte, verlor schließlich jegliche Bedeutung. Verteidigungsauftrag und gesellschaftlicher Konsens erkannten eine Friedensdividende: Frieden und Sicherheit im Haus Europa unter Einschluss Russlands. Die am 19. November 1990 unterzeichnete »Charta für ein neues Europa« signalisierte den epochalen Umbruch der Sicherheitsarchitektur. Deutschland war nur noch von Freunden umgeben.
Ein neues Kapitel der Militärgeschichte wurde aufgeschlagen. Am Tag nach der Einigung ertönte bei Kanzler Helmut Kohl ein bis dahin ungewohnter Klang staatlicher Politik. Im Bundestag erklang die Terminologie der »internationalen Verantwortung« und der »nationalen Interessen« dieses Landes. Publizistisch wurde Deutschland als europäische Macht mit Begriffen beschworen wie „Großmacht wider Willen«, »Zentralmacht Europas«.35 War es Versuchung oder Realismus, als US-Präsident George Bush den Deutschen eine „partnership in leadership“ anbot?
Die Instrumentalisierung der NATO
Die Parameter der neuen Sicherheitspolitik wurden auf der NATO-Tagung am 6. Juli 1990 sichtbar. In dieser Londoner Erklärung wurde der »Blick in ein neues Jahrhundert gerichtet«, für die das Bündnis die treibende Kraft des Wandels sein werde. Da die Sowjetunion nicht mehr das Feindbild darstelle, wurde die etablierte Militärkonzeption der Integration taktischer Nuklearwaffen aufgegeben. Die Prestigewaffen der Phase des Kalten Krieges, Tausende von Atombomben wurden bis 1995 aus den Beständen der Bundeswehr entfernt und zerstört. Das Gebiet Mitteleuropas, die höchst gerüstete Zone in der Welt, war unverhofft gewaltig demilitarisiert worden. Bis 1995 zogen etwa 900.000 ausländische Soldaten ab. Es handelte sich um alliierte und Bündnistruppen, darunter auf dem Gebiet der DDR 400.000 sowjetische Soldaten. Dann wurden infolge der Wiener Abrüstungsverträge von Bundeswehr und NVA Zehntausende schwerer Waffen (Panzer, Haubitzen usw.) verschrottet. Die deutschen Soldaten von nominell 495.000 plus 180.000, also 675.000 Personen (1990 war das Personal real 445.000 plus 90.000, also 535.000), wurden in Etappen von 370.000 auf 270.000 (2005) dezimiert. Die bis 1990 errichtete Militärstruktur wurde quantitativ beseitigt. Bezeichnende militärische »Fähigkeiten« waren über Nacht obsolet geworden.
Die NATO gab auch für die zweite Hauptphase der Geschichte der Bundeswehr den Rahmen vor. Den Wendepunkt markiert das am 8. November 1991 in Rom verabschiedete »Neue Strategische Konzept«. Darin wurde zunächst bekräftig, beim Aufbau einer dauerhaften Friedensordnung in Europa eine »Schlüsselrolle« spielen zu wollen. Dafür sei eine neuartige Form der Kooperation und der Integration Ost- und Mitteleuropas sowie ein weitreichender Umbau der Organisations- und Befehlsstruktur erforderlich. Der Stellenwert dieser Strategie, die anstelle der nuklearen Ausrichtung (der MC 14-Planungen) gegen die Warschauer-Vertrags-Staaten trat, wird erkennbar, weil in diesem von den Amerikanern vorgefertigten Militärkonzept der globale Interventionsanspruch – erstmals für die NATO – formuliert wurde: „Im Gegensatz zur Hauptbedrohung der Vergangenheit sind die beiden Sicherheitsrisiken der Allianz ihrer Natur nach vielgestaltig und kommen aus allen Richtungen, was dazu führt, dass sie schwer vorherzusehen und vielgestaltig sind.“36 Als »vitale Interessen« wurden ökonomischer Wohlstand und globale Rohstoffversorgung benannt, die »out of area«, d.h. außerhalb des gültigen NATO-Verteidigungsbereichs, gesichert werden müssten: „Die Sicherheit des Bündnisses muss jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken berührt werden…“37 Neben den lebenswichtigen Ressourcen wurden unter den globalen Risiken vor allem Terrorattacken aufgezählt. Mit diesem Dokument bereiteten die USA die Plattform, mit militärischem Denken ihre Fähigkeit als Siegermacht des Kalten Krieges im Verbund mit den NATO-Partnern weltweit einzusetzen.38
Die römischen Beschlüsse der NATO hatten für die Bundeswehr noch weitere Auswirkungen. Im Blick auf gesicherte Kontrolle bzw. erwünschte Kalkulierbarkeit deutscher Militärverbände wurde, um zugleich auf die nach 1990 gegebene deutsche Souveränität Rücksicht zu nehmen, eine Lösung gefunden. Im Prozess der Einigung war in manchen Nachbarländern die Sorge vor deutscher Macht erneut aufgetaucht. Auch die Schwierigkeiten der Regierung Kohl, die Ostgrenze Deutschlands verbindlich anzuerkennen, brachten Unruhe. So konnten diese Probleme geradezu elegant eingefangen werden, indem die »zukünftigen Streitkräfte« auf der Ebene der Großverbände (Divisionen/Korps) multinational zu führen seien. Auf diese Weise konnte die multinationale Kooperation mit internationaler Transparenz verbunden werden. Nach einigen Erprobungszeiten nahm man sogar Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrages (Polen, Tschechien) in diese Form der militärischen Integration auf.
Die deutschen Interessen an Interventionen.
Die Bundeswehr war auf Interventionen »out of area« nicht unvorbereitet. Der Umschwung erfolgte bereits Jahre vor der neuen Politik in der NATO und vor dem Fall der Mauer. In einem bekannt gewordenen Dokument hatte die militärische Führung schon 1987 ein Gutachten erstellen lassen, unter welchen Umständen „Einsätze im Rahmen nationaler maritimer Krisenoperationen außerhalb des NATO-Vertragsgebietes“ zulässig seien. Die „Wahrung deutscher Interessen“ wurde als hoch brisant eingestuft, jedoch könnten Truppen jederzeit zu „humanitärer und Katastrophenhilfe“ entsandt werden, Waffeneinsatz sei auch zum Schutz von Handelsschiffen möglich.39 Nach diesem Vorgeplänkel einer prinzipiellen Öffnung des Einsatzspektrums der Bundeswehr kam schon bald eine Grundsatzerklärung. Noch galt als offizieller Konsens das, was »Kultur der Zurückhaltung« genannt wurde, die Deutschen würden militärische Interventionen außer zur Verteidigung ablehnen. Im Februar 1989 gab der für Strategie und Sicherheitspolitik im Ministerium auf der Hardthöhe zuständige Generalmajor Klaus Naumann, der spätere Generalinspekteur, die ersten öffentlichen Signale: „Die deutsche Einschätzung der Rolle militärischer Macht ist es, die unsere Situation im Bündnis so ungeheuer erschwert. Staaten, die aus Tradition ein gewachsenes und gesundes Verhältnis zur Macht haben, sehen die Zukunft der Rolle militärischer Macht im globalen Kontext weit nüchterner, weit objektiver als wir. In diesem zusammenwachsenden Europa, das in einer interdependenten Welt entsteht, und das immer, in jeder seiner Handlungen, globalen Kontext zu berücksichteigen hat, muss man Macht in allen Facetten ausüben können.“ Naumann bedauerte, dass infolge der historischen Erfahrungen, aber auch wegen eines „Versöhnungs- und Friedenspathos“ die „legitime Anwendung“ von Gewalt diskreditiert sei. Solange dieser Widerspruch nicht aufgelöst sei, werde die Bonner Republik in Europa eine „untergeordnete Rolle spielen.“40 Ein neues Konzept militärisch gestützter Interessenwahrnehmung deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik war entworfen, bevor die Welt im Zusammenbruch des Ostblocks die Wende im sicherheitspolitischen Denken fühlte.
Kaum war die Mauer in Berlin gefallen, wurde der neue Ansatz vorgestellt. Ganz im Sinne des Friedensgedankens sprach Generalinspekteur Dieter Wellershoff schon 1990 den »erweiterten Sicherheitsbegriff« – schlicht und einfach – aus: „Helfen, retten, schützen!“ sei die einzige Ausrichtung der Bundeswehr, wo immer dies erforderlich sei.41 Die Argumente wurden eingängig vorgetragen: „Und wir können nicht tatenlos bleiben, wenn anderswo Frieden gebrochen, das Völkerrecht mit Füßen getreten und Menschenrechte verletzt werden. Wir müssen bereit sein, Mitverantwortung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt zu übernehmen.“42 Wer mochte sich diesem menschlich-moralischem Appell verschließen! Der Nachsatz des Ministers Volker Rühe, es ginge um Einsätze „im Dienst der Völkergemeinschaft«, eben nicht nur im Auftrag der Vereinten Nationen, war unmissverständlich. Diese Aussagen werden so ausführlich zitiert, da es notwendig erscheint zu verdeutlichen, dass bereits im Zuge der Einigung Deutschlands die sicherheitspolitisch Verantwortlichen in Militär und Politik für das Interventionskonzept aktiv und offen geworben haben. Es war schon zu Zeiten der Bonner Republik so weit vorangetrieben worden, dass es anlässlich der Geburtsstunde der Berliner Republik in den Grundzügen öffentlich vorgestellt werden konnte.
Im Januar 1992 erfolgte die amtliche Neuausrichtung des Auftrags der Bundeswehr. Das Spektrum für die »Armee im Einsatz« fand sich mit globalen »Herausforderungen« umschrieben. Nationale Interessen wurden herausgestellt, um militärische Fähigkeiten umfassend einzusetzen. Die Zielrichtung wurde präzisiert: „Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität; die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und der Zugang zu strategischen Rohstoffen.“43 Die Forderung nach „ungehindertem Zugang zu den Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ stieß zwar auf heftigen Protest der SPD-Opposition im Bundestag und wurde auch zum Erbe deutscher kolonialer Weltmachtträume gerechnet. Aber die wenigen Proteste änderten nichts an der anvisierten Zielsetzung, den »Umbau« der Bundeswehr einzuleiten. Es war kein gerader, aber ein direkter Weg, der von diesen Grundentscheidungen zur Neugestaltung der Bundeswehr hin zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien von Minister Peter Struck vom 21. Mai 2003 führten, die durch das populäre Wort, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, Aufsehen erregten. Im Einklang mit der ausformulierten NATO-Strategie wurde das Aufgabenfeld der Risiken für die Bundeswehr vage umrissen, „Krisen und Konflikte, Bedrohungen und deren Ursachen im erweiterten geographischen Umfeld“ (Ziffer 47) zu verhindern oder zu bekämpfen. Kollektiv, also im Zusammenwirken mit anderen Mächten, solle deutsches Militär auf diese „Anforderungen“ reagieren, „aus welcher Richtung sie auch kommen mögen.“ In terminologischer Unübersichtlichkeit sollte mit militärischen Mitteln Sicherheit hergestellt werden, „wo immer diese gefährdet ist.“
Rationalität und Effektivität der Bundeswehr leiten sich von diesem Einsatzspektrum ab und verlangen entsprechende operative Doktrinen, Rüstungsverbünde und Ausbildungskonzepte. Symbolträchtig an der Spitze dieser Modernisierung lässt sich da das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam benennen. Hier verwirklichte sich erstmals nach 1945 wieder, was legendär der Generalstab als operative Planungs- und Führungseinrichtung leistete oder in gewisser analoger Funktion das Oberkommando der Wehrmacht. Typisch für diese neuzeitliche Organisation können die aufgetretenen Friktionen gelten, die zugeordneten Führungskommandos von Heer, Marine und Luftwaffe einzubinden. In traditionalistischem Verständnis wird die »Souveränität« der Teilstreitkräfte hoch gehalten.
Die zivilistische Parole des Rettens ist inzwischen entfallen, nun heißt es plastisch: „Kämpfen, stabilisieren, helfen!“ Der postnationale Typ vom Militär der Moderne hat damit seinen Eingang ins deutsche Militärkonzept gefunden, zumal es Struck gelungen war, die konservativen traditionalistischen Vertreter im Heer auszuspielen, die ihre großen und schwerfälligen Panzertruppen der Kalten-Kriegs-Konzeption erhalten wollten. Struck vermochte es, sich gegen heftiges Widerstreben durchzusetzen, auch wenn noch im Januar 2006 zwei höchste Generale – der Inspekteur der Streitkräftebasis, Hans Heinrich Dieter, und der stellvertretende Inspekteur des Heeres, Jürgen Ruwe – wegen latenter Opposition ihren Hut nehmen mussten. Nach der Übergangszeit von mehr als zehn Jahren war 2003 endgültig Schluss mit der alten Bundeswehr. Im Zuge der weiteren Konkretisierung dieses Militärkonzeptes fiel 2004 eine merkwürdige Veränderung auf. Der Leitbegriff »Reform« tauchte nicht mehr auf, stattdessen fand sich für die zukünftige Militärpolitik die unspezifische Bezeichnung »Transformation«. Sie „bestimmt Denken, Ausbildung, Konzepte, Organisation und Ausrüstung, sie schafft etwas völlig Neues. Der Transformationsprozess bietet die Gelegenheit, die Bundeswehr durch innovative Lösungsansätze effizienter zu gestalten.“44
Die traditionalistische Kontinuität und Rechtslastigkeit.
Die innere Lage der Bundeswehr blieb von der Änderung des politischen Paradigmas der militärisch gestützten Außenpolitik nicht unberührt. Schon 1991 trat der Einschnitt markant hervor, als die Parole „Der Krieg ist der Ernstfall“ die neue Ausrichtung eingängig und symbolträchtig widerspiegelte. Da konnte man das Leitwort von Gustav Heinemann, der Frieden sei der Ernstfall, endlich umkehren: „Auf die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr hin ist also alles auszurichten, Ausbildung, Ausrüstung und Struktur. Ethos, Erziehung, Sinnvermittlung und Motivation müssen sie mit einschließen…“45 Ein Kämpferkult wurde geboren, ähnlich wie in den fünfziger Jahren kam wieder auf: „Kämpfen können und kämpfen wollen!“ 1994 wurde zu einem wichtigen Jahr der inneren Formierung der Bundeswehr. Die Abwicklung der NVA war praktisch abgeschlossen, die ausländischen Truppen aus Ost und West waren abgezogen, jetzt konnte militärische Souveränität erfahren werden. Die Armee suchte sich zu festigen, daher sollten störende Einflüsse fern gehalten werden. Das Heer schritt voran, dem Leitbild vom »Staatsbürger in Uniform« den Todesstoß zu geben. Pluralität im Militär und Integration in die Gesellschaft – die alten Ideale der »Inneren Führung« von Baudissin – wurden verfemt. In der Weisung zum Leitbild des Offiziers wurde erklärt, Militär und Gesellschaft seien unvereinbare Gegensätze. Sie hätten jeweils „unterschiedliche Werthierarchien, Leitbilder, Normen und Verhaltensweisen.“ Während hier die Verhältnisse der „freiheitlichen, pluralistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ gelten würden, stünden „dagegen“ auf militärischer Seite die Normen der „hierarchisch aufgebauten Armee“ mit ihrem Leitbild der „Ein- und Unterordnung.“46 Diese Weisung des damaligen Inspekteurs des Heeres und späteren Generalinspekteurs Bagger ging nach alter Weise von normativer Abkapselung und sozialer Abgeschlossenheit des Militärs aus – ein korporativer Körper sui generis.47
Der Leiter des Heeresamtes, Generalmajor Jürgen Reichardt, setzte noch eins drauf, als er 1998 die innere Ordnung nach dem NS-Prinzip der »Gefolgschaftstreue« formen wollte. Skurrile Extreme traten hervor, als dessen Dienststelle Publikationen förderte, in denen „Geist und Haltung der SS-Leibstandarte Adolf Hitler“ gelobt und ihr Kommandeur als tapferer vorbildlicher Offizier gefeiert wurde. Ein historischer Revisionismus machte rechte Traditionen zugänglich, das Erbe der Generale Halder und Seeckt wurde beschworen und „die gesamte Tradition des preußisch-deutschen Generalstabs für den Generalstabsdienst der Bundeswehr als verbindlich“ erklärt. Die Hardthöhe honorierte den traditionalistischen Autor und versetzte ihn an die Führungsakademie, zuständig für Ausbildung und Lehre; dann wurde ihm das Kommando einer Division übertragen.
Die Maximen dieser exklusiven militärischen Eigenwelt zeigten Wirkung. Einen ersten auffälligen Höhepunkt gab es 1997, als nach dem Bericht des Wehrbeauftragten 185 Fälle von Rechtsextremismus an 140 Standorten zu verzeichnen waren. Die Rechtslastigkeit und Auffassungen rechtsextremer Art nahmen gerade bei jüngeren Offizieren zu, bis zu 25 Prozent im Jahr 1999. Dazu hieß es: „Besondere Ausprägung erfahren nationalistisches und fremdendistanzierendes Gedankengut, Merkmale, die als die zentralen Dimensionen gerade auch für Rechtsextremismus gelten.“ Darüber hinaus fanden sich in dieser Gruppe, die Disziplin und Autorität sehr hoch achtete, politische Überzeugungen, die „bereits bestimmte Missachtungen der demokratischen Prinzipien und Regeln“ erkennen ließen.48 Die Übergriffe von Coesfeld im Jahr 2004 stehen für ähnliche Grenzüberschreitungen, hier als drakonische Schinderei nach 08/15-Manier. Wehrpflichtige wurden in Städtenahkampf und gemäß Folterexzessen aus dem Irak-Krieg geschult. Der Boden der Brutalität und Verrohung ermöglichte schlimme Verwerfungen verdrehter »kriegsnaher« Ausbildungsmaximen. In über 20 Kasernen zeigte sich ein düsteres Klima der organisierten Unterdrückung und zwangsweisen Einpassung in ein Kollektiv der Gewaltübung. Wie in der Mitte der neunziger Jahre war auch diese Affäre von entsprechenden Positionen aus der Generalität begleitet. Ein Heeresinspekteur versuchte 2004 die Vergangenheit revisionistisch zu interpretieren, sein Nachfolger begeisterte sich für »archaische Kämpfer« als Vorbild für den Kriegertyp der neuen Armee, andere Generale diffamierten das Leitbild der »Inneren Führung« als „unglückliche Konstruktion«. Der Kommandeur der Elitetruppe für Spezialeinsätze (KSK) knüpfte „wegen der besonderen soldatischen Elemente“ Traditionslinien zu den als Beste der Wehrmacht angesehenen Ritterkreuzträgern.49
Ein anderer Aspekt, der gerne übersehen wird, gibt wichtige Hinweise auf militärisch-gesellschaftliche Beziehungen. Dabei geht es um die Annahme, die Bundeswehr werde von der Gesellschaft als normal akzeptiert.50 Die Wehrpflicht ist das Beispiel. An ihr wird hauptsächlich festgehalten, um Zeit- und Berufssoldaten für die Bundeswehr zu rekrutieren. Die Zeichen der Ablehnung verweisen auf erhebliche Dissonanzen der jungen Generation zum Militär, werden aber von Politik und Militär bemäntelt. Seit Mitte der neunziger Jahre liegen signifikante statistische Daten vor: die Zahl der 135.000 Wehrpflichtigen war seitdem immer geringer als die der 146.000 Wehrdienstverweigerer (1994). Der Trend verfestigte sich weiter: 160.569 im Jahr 1995, sogar 189.644 im Jahr 2002. Bemerkenswert ist, dass in all den Jahren gleichermaßen einige tausend Soldaten und Reservisten – nachträglich – den Wehrdienst verweigerten. Nach eigenem Selbstverständnis müssten sie besser Kriegsdienstverweigerer genannt werden, weil sie gegen die Auslandseinsätze (Kosovo- und Irakkrieg) protestieren. Die Wehrpflicht lässt eine Erosion der gesellschaftlichen Legitimität der »Armee im Einsatz« erkennen.
Ein Milieu der militärischen Eigenwelt und kommunikativer Eigenheiten hat sich seit den neunziger Jahren in der Bundeswehr verfestigt. Die militärische Führung distanzierte sich von der Gesellschaft, aber zugleich auch von den Werten und den Zielen der Militärreform, die der Bundeswehr bei ihrer Gründung auf den Weg mitgegeben war.51 Das Konzept der »Inneren Führung«, orientiert an den Grundwerten der freiheitlichen Verfassung, wird formal insgesamt natürlich nicht bestritten. Äußerungen zur Geschichtspolitik und Weisungen aus der obersten Führungsetage haben allerdings eine enorme Deformation im Alltag des Militärs begünstigt. Am Vorabend der 50-Jahr-Feiern der Bundeswehr zeigten sich massiv »gegenkulturelle Tendenzen« mit Anzeichen einer militärischen Parallelkultur. Die Bundeswehr schottete sich allmählich von der Pluralität und Zivilität der Gesellschaft ab. Nimmt man Äußerungen der Militärelite zum Maßstab, waren es gerade herausgehobene wichtige Repräsentanten der Bundeswehr, welche die Eigenwertigkeit eines Denkens in »Sui-generis«-Kategorien untermauerten.
Die Leichtigkeit beim Umgehen mit der Gültigkeit des Rechts.
Schließlich wurde das rechtliche Fundament für internationale Einsätze der Bundeswehr gewendet. Dabei ist vorauszuschicken, dass kaum neue Rechtsmaterie der alten hinzugefügt wurde, sondern dass die Geltung gegebener nationaler und internationaler Rechtsnormen durch neue Interpretationen verändert wurde. Die Handlungsräume der Politik wurden erweitert. Auf der staatlichen Ebene hat das Grundgesetz an Verbindlichkeit verloren. Ihm liegt schon in der Präambel die große Idee zugrunde, der deutsche Staat werde dem Frieden der Welt dienen. Im Parlamentarischen Rat hatte der spätere Bundespräsident Heuss diese Ausrichtung der Verfassung mit der kriegerischen und militaristischen Vergangenheit begründet, die den »exzeptionellen Charakter« dieser friedensgebundenen Politik ausmache. Sie hatte jene »Kultur der Zurückhaltung« im Konsens der Gesellschaft ausgemacht, deutsches Militär werde niemals gegen einen anderen Staat eingesetzt. Dem entsprach, militärische Hilfs- und Schutzmissionen im Auftrag der Vereinten Nationen – die sogenannten Blauhelm-Einsätze – zu unterstützen. Das war früher selbstverständlich. In die »Militärpolitischen Grundlagen« vom Januar 1991, in denen weltweite Einsätze gemäß dem »erweiterten Sicherheitsbegriff« erstmals für möglich erklärt wurden, war entsprechend der Satz eingefügt: „Die Bundeswehr hat den Auftrag, im Zusammenwirken mit anderen staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräften Deutschlands… nach klarstellender Ergänzung des Grundgesetzes an kollektiven Einsätzen… teilzunehmen.“ Kampfeinsätze und die Entsendung »out of area« wurden damals von allen Parteien, außer von Teilen der CDU und dem Wehrpolitischen Arbeitskreis der CSU, abgelehnt. Die grundrechtliche Klärung fand nicht statt.
Statt einer Ergänzung des Grundgesetzes genügte vielen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. April 1994. Jener Teil des Urteils, der die deutsche Beteiligung an friedenssichernden UN-Operationen als verfassungsrechtlich legal feststellte, war erwartet worden. Doch dass den Militärbündnissen NATO und WEU die gleiche Völkerrechtsqualität wie der UNO – »ein System kollektiver Sicherheit« – zuerkannt wurde, führte zu Irritationen. Das Gericht legitimierte Einsätze im Auftrag der NATO oder WEU. Es definierte die Bündnisse um, erklärte die wörtliche Bindung der Verträge, welche die Zielsetzung der Verteidigung und die geographisch-regionale Reichweite festlegten, de facto für obsolet. Die Regierung nutze die nun gegebene »informelle Funktionserweiterung« des Völkerrechts, um qua Bündnis weltweit mit Militär zu handeln.52 Auf dieser Basis wurde der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr im Kosovo 1999 legitimiert.53
Der Tatbestand legaler Waffeneinsätze der Bundeswehr im Ausland und besonders »out of area«, also außerhalb des Bündnisgebietes, ist nach Geist und Wortlaut von Grundgesetz und Bündnisvertrag höchst problematisch. Allerdings wurde seit Beginn der neunziger Jahre die alte Eindeutigkeit unter Hinweis auf den »erweiterten Sicherheitsbegriff« aufgeweicht. Mit Bedacht schlugen Politiker und Militärs diesen Weg ein. Die Kritik, eine „verlotterte Politik“ mit einem „missbräuchlichen Verfassungsgebaren“ zu betreiben, scherte sie nicht.54 So erfolgte auf der Basis von Protokollen und Deklamationen nationaler und internationaler Gremien Schritt für Schritt eine Uminterpretation, bis nach einiger Zeit ein neues sicherheitspolitisches Selbstverständnis des Interventionismus entstanden war. Das geflügelte Wort des Ministers Struck, Deutschlands werde „am Hindukusch“ verteidigt, entspricht genau diesem Umgang mit der Rechtslage. So wurde das Völkerrecht transformiert. Die Stärke des Rechts wich dem Recht auf Stärke.55 Die Spannung der konkurrierenden Rechtsverständnisse besteht weiterhin fort.
Die Bundesregierung allerdings war bestrebt, die Schwächen der alten Legalität aufzuheben. Dazu diente der für diese Zwecke von deutscher Seite stark beeinflusste Entwurf der Europäischen Verfassung. In deren Text wurde eine breite Palette an Interventionen vorgestellt, die von humanitären Aufgaben, Rettungseinsätzen und Konfliktverhütung bis zu „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen“ und der „Bekämpfung des Terrorismus“ reicht.56 Die inhaltliche Übereinstimmung zwischen der NATO-Strategie, den Verteidigungspolitischen Richtlinien und der EU-Agenda ist kaum zufällig. Die Bedeutung für Deutschland liegt darin, dass diese europäische Beschlussebene die offene Flanke der völkerrechtlichen Legalisierung und Legitimierung militärischer Einsätze sichern würde. Die übergeordnete Dimension der EU-Verfassung könnte die heiklen Schwächen und Widersprüche der bestehenden Rechtslage der Entsendung »out-of-area« abmildern, wenn nicht aufheben.57 Das bestehende Völkerrecht gewänne mit dieser EU-Verfassung bzw. eines Sondervertrags mit diesen inhaltlichen Festlegungen eine neue Qualität, ohne dass die Sonderproblematik nach der unzweideutigen Geltung des Grundgesetzes mit seinem Friedensgebot damit gelöst wäre.58
Schließlich wurde das Thema des Einsatzes der Bundeswehr im Innern auf die Tagesordnung gesetzt. Im Januar 2003 bereits vernahm die erstaunte deutsche Öffentlichkeit, die Bundeswehr müsse zum Schutz von Personen und Objekten vor terroristischen Bedrohungen im Innern eingesetzt werden können. Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident, und Wolfgang Schäuble, damals Bundestagsabgeordneter, forderten dafür eine Änderung des Grundgesetzes.59 Beide bildeten die Speerspitze einer Lobby, um – in der Zeit der Fertigstellung der Verteidigungspolitischen Richtlinien des Ministers Struck – die Aufgaben der Bundeswehr auszuweiten. Sie hatten Erfolg. Erstmals erhielt die Bundeswehr im Mai 2003 den Auftrag, sich auf Einsätze im Innern vorzubereiten: „Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption.“ (Ziffer 80) Die »zahlreichen« Aufgaben sind nicht einzeln, enumerativ fest gehalten sondern pauschal unter Schutz der „Bevölkerung“ und der „lebenswichtigen Infrastruktur des Landes“ vor Terrorismus und „asymmetrischen Bedrohungen“ subsumiert. Die Einsatzoptionen gelten „immer dann«, wenn „nur“ die Bundeswehr über die „erforderlichen Fähigkeiten“ verfügt.
Das ist die Lage gemäß diesem administrativen und nicht parlamentarischen Akt, dem Erlass von Minister Struck. In historischer Perspektive ist ein qualitativer Punkt – das Tabu der Nachkriegsgeschichte -außer Kraft gesetzt, das Militär nicht im Innern einzusetzen. Welche dienstrechtlichen Konsequenzen sich daran fügen und welche gesellschaftlichen oder politischen Umstände für die Einsätze konkret gemeint sind, bleibt bei diesen diffusen amtlichen Worten offen. Doch damit nicht genug. Kaum war Schäuble im Herbst 2005 zum Innenminister ernannt, setzte er den Einsatz der Bundeswehr anlässlich der Fußballweltmeisterschaft auf die innenpolitische Agenda.60 Er erwies sich als treibende Kraft, für diesen Zweck das Grundgesetz zu ändern. Flankiert wurden diese Initiativen durch das Konzept, eine »sicherheitspolitische Dienstpflicht« als Teil eines erweiterten innenpolitischen Sicherheitsbegriffs durchzusetzen.61 Stoiber hatte sich in einem entsprechenden Gesetzentwurf bereits 2004 dafür eingesetzt. Seit der Bildung der Großen Koalition wurde dann pausenlos, pragmatisch und scheibchenweise dieses Ziel propagiert. Nach den Planungen des Verteidigungsministeriums sollen mindestens 7.000 Soldaten – Sanitäts- und Küchenpersonal mit »zivilen« Hilfsdiensten, aber auch militärische Spezialkräfte zum Schutz vor biologischen und chemischen Kampfstoffen – eingesetzt werden.62 Das Projekt – Einsatz des Militärs im Innern – wird vorbereitet. Bereits im Jahr 1993 hatte sich Schäuble, damals Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien im Bundestag, in einem Brief an die Fraktionsabgeordneten gewandt. Darin waren diese Ziele schon aufgeführt. Wegen „weltweiter Wanderungsbewegungen und internationalem Terrorismus“ würden die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit „verwischen“ ; daher müssten die „perfektionistischen Beschränkungen“ des Grundgesetzes aufgehoben werden.63 Da Struck als Minister einen entsprechenden Auftrag der Bundeswehr bereits 2003 erteilt hat, wird die SPD unter seinem Fraktionsvorsitz die entsprechenden Pläne der CDU/CSU kaum verhindern wollen, sondern gewiss mittragen.
Der Paradigmenwechsel des Auftrags der Bundeswehr nach 1990 ist gravierend. Innen- und außenpolitisch wurden die Grenzen erweitert, die einem geziemenden Machtbegriff Geltung verschafften. Nachdenkenswert ist, dass die Erfahrungen der deutschen Geschichte in ihrem normativen Gehalt nun so verstanden werden, dass das Militär als politisches Instrument offenbar einen anstrebenswerten, hohen Stellenwert gewonnen hat. Ein nationales Verständnis von Staat, Politik und Macht hat den Wandel bestimmt. Die Lehre von 1990 scheint zu sein, die deutsche Macht der Berliner Republik im Bewusstsein souveränen Handelns auszugestalten.
Deutsche Orientierung an einer militärgestützten Politik
Die Bonner Republik wurde mit Militär begründet. Die 1955 erlangte Staatlichkeit war direkt an die »Wiederbewaffnung« gekoppelt. Auch die zeitgleich konzipierte Atombewaffnung hatte im Verständnis des ersten Bundeskanzlers außergewöhnliche Bedeutung für das internationale Prestige dieses Landes – nach Westen wie nach Osten. Unter allen Kanzlern wurde der nationale Status auf militärische Potentiale gegründet. Kanzler Adenauer folgte als Realpolitiker den Spuren eines Bismarckschen Staatskonzepts, das sogar Kanzler Brandt in seiner Vision der Entspannungspolitik nicht aus den Augen verlor, sondern mit der Devise höherer Aufwendungen für die Sicherheit eine neue internationale Stabilität ausbalancierte. Der Kalte Krieg selbst war von Beginn an bis zu den neunziger Jahren eine Phase der Hochrüstung, nur vergleichbar mit der aus der Geschichte bekannten Zeitspanne, in Hochspannungszeiten Armeen für den Einsatz zu mobilisieren. Im Kalten Krieg war dies der permanente Zustand.
Die Aufwendungen für die Bundeswehr wurden damit begründet, dass Deutschland am intensivsten von einem expansiven Osten bedroht sei, da es sich im Schnittpunkt der antagonistischen Bedrohung in Europa entlang der Grenze an der Elbe befand. Deutsche Politik aus Bonn war daher von Beginn an eine Politik, die sich am simplifizierenden Actio-reactio-Schema orientierte. Der Begriff der »Kultur der Zurückhaltung« würde falsch verstanden und zu einem Friedensmythos verklärt, wenn der hohe Grad an militärgestützter Außenpolitik übersehen würde; Zurückhaltung meint im Kern nur, dass eigenständige deutsche Militärpolitik nicht zugestanden war. Auch wenn kein ernster Konflikt einen Militäreinsatz im Rahmen der Verteidigung erzwungen hat, hatte das Militär in der gesamten Epoche der Bonner Republik für die Handlungsfähigkeit nach außen einen sehr hohen Stellenwert. Das entsprach dem machtdefinierten Denken seit Moltke, den Staat durch Hochrüstung im Frieden zu sichern, um so abzuschrecken.
Die Demokratisierung des Militärs erfolgte in den ersten beiden Jahrzehnten nur rudimentär, weitgehend formalistisch. Sie wurde der Effizienz und Funktionalität untergeordnet. Die Militärpolitik entschied sich für das Vorbild der Wehrmacht als vorbildliche Tradition, nicht nur de facto sondern ausdrücklich mitgetragen von den Bedenken mancher Politiker wie Strauß. Das erklärt die Leichtigkeit, wie in Strategie oder Tradition, in Ausbildung oder Auftreten restaurative Prinzipien die modernisierte »neue Wehrmacht« prägten. Ein eigentümlich vermengtes Milieu aus Facetten militaristischer Haltungen und in Maßen antidemokratischer bzw. antipluralistischer Einsprengsel entstand und führte dazu, dass entsprechende inhaltliche Diskrepanzen zwischen Traditionalismus und Reformorientierung die Bundeswehr in all den fünfzig Jahren ihrer Existenz begleiteten. Diese »Frontstellung«, wie Baudissin früh erkannte, darf nicht mit der Antinomie von konservativ versus liberal missverstanden werden, da es sich um gegensätzliche Militärkonzepte handelt. Diese Ambivalenz belastete die Militärgeschichte seit dem geheimen, dem Parlament unbekannten Gründungsplan (aus Himmerod) von 1950, der schon im Amt Blank zur Folie der Entscheidungen wurde.
Das Jahr 1990 markiert tatsächlich einen Wendepunkt in der Militärpolitik. Das alte, von den Alliierten im wesentlichen vorgegebene und mitbestimmte Paradigma hat seine Relevanz verloren. »National« und »staatlich« wurden mit erweiterten, auch traditionellen Inhalten gefüllt. Die Bundeswehr hat einen gewandelten und politisch expliziten Status erhalten. In einem internationalen Geflecht zwischen Washington, Brüssel und Bonn wurde das vorbereitete geopolitische Interventionskonzept des »erweiterten Sicherheitsbegriffs« gleich nach der Einigung präsentiert. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat diesen Wandel mitgetragen – ein anderer Teil hat Protest und Widerstehen deutlicher entwickelt, wie beispielsweise die Daten der Kriegsdienstverweigerung anzeigen. Die Akzeptanz der Einsätze »out of area« hat die Kritiker der militärgestützten Außenpolitik erstaunt; sie mussten feststellen, dass sich „die Militarisierung schon zu stark in allen gesellschaftlichen Bereichen festgesetzt“ hätte.64 Der »Umbau« der Bundeswehr der Berliner Republik ist unter größten Mühen und mit vielfachen Kontroversen vollzogen worden. Die Führung versuchte ihre Interessen mit hergebrachten Konzepten durchzusetzen, Konsens und Konsolidierung mit Hilfe von sozialer Anpassung und persönlicher Disziplinierung zu erzwingen. Das Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« verlor dabei nicht nur an Bedeutung, sondern es wurde in Wort und Schrift von Vertretern der Generalität bekämpft und an den Rand geschoben. Dabei wurde öffentlichen Initiativen und Anstößen aus der Zivilgesellschaft, militaristisch belastete Traditionsnamen aus den Kasernen zu tilgen (wie im Februar 2006 in Fürstenfeldbruck), in Maßen statt gegeben, aber zeitgleich wurde eine traditionalistische Vergangenheits- und Traditionspolitik sowie die legendengleiche Glättung der Bundeswehrgeschichte der frühen Jahre verfolgt. Diese leistete vielen rechten und rechtslastigen Ereignissen und Machtfantasien Vorschub. Ein militärisches Milieu hat sich ausgebreitet, zu dem es passt, dass – als folkloristisches Apercu – im Jubiläumsjahr 2005 das Degen tragen für Offiziere gefordert wurde.
Von anderer Qualität ist die seit einem Jahrzehnt vorgetragene Politik, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. In kleinen Etappen vorbereitet – schon seit 1994 von dem Fraktionsvorsitzenden der CDU, Wolfgang Schäuble, angestrebt und nun vom Innenminister Schäuble betrieben -, soll die Fußballweltmeisterschaft 2006 genutzt werden, um solche Sicherheitsbedürfnisse plausibel erscheinen zu lassen. Auf diesem Wege wird das Paradigma der Sicherheitspolitik der Berliner Republik nachhaltig neu bestimmt. Die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – der Slogan des Kaiserreichs: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!“ – werden die Politik wohl nicht zögern lassen, dieses Tabu der Bonner Republik zu brechen. Kennzeichen der neuen Politik der Berliner Republik, Auftrag und Struktur der Bundeswehr zu transformieren, ist nach innen und nach außen eine schleichende Militarisierung.
Politik gegen die Demokratisierung der Bundeswehr
Restaurativer Traditionalismus in der Bonner Republik
Die Neugründung der beiden deutschen Staaten war in Ost und West mit der Kernfrage verbunden, in wie weit mit dem freiheitlichen Neuanfang eine Abkehr von Nationalsozialismus und Militarismus vollzogen wurde. Das Kriegsende leitete die Wende ein. Die totale Kapitulation der Wehrmacht und das Ende des NS-Regimes gaben den Anstoß. Das Jahr 1945 wies dem Militär im Unterschied zu anderen staatlichen Institutionen am ehesten die Richtung, einen Neubeginn zu wagen. Eine »Stunde Null« war gegeben, Fakten waren geschaffen. Zu den Fakten zählte die Entscheidung des Alliierten Kontrollrates vom 2. August 1945, im Vollzug der Potsdamer Beschlüsse der Siegermächte alle militärischen Einrichtungen der Wehrmacht – »völlig und endgültig« – aufzulösen und ihre Einrichtungen ein für alle Male auszulöschen. Die internationale Entscheidung zerschlug ex negativo die militärischen Strukturen deutscher Machtpotentiale. Begründet wurde dies historisch damit, dass von dort – dem »Hort des Militarismus« – ein Jahrhundert lang der Frieden in Europa bedroht worden war. Dieser Typ eines historischen Sonderweges sollte für alle Zukunft ausgeschlossen sein. In einem ersten Schritt wurde die Wehrmacht aufgelöst. Im Begriff der »Stunde Null« war damit zugleich der zweite Schritt verbunden, die eigene Vergangenheit, den Militarismus und die NS-Militärpolitik der Wehrmacht in Krieg und Besatzung zu reflektieren – eine »Stunde Null« der historisch-politischen Besinnung. Umkehr war das Gebot.
Zukunft und Format jedes Militärs in Deutschland sollten grundsätzlich auf ein neues Fundament gestellt werden. Die Besinnung verlangte die Orientierung an den Wertvorstellungen von Demokratie und Republik. Die Abkehr vom Militarismus der Geschichte fußte auf der Ethik des politischen Handelns. Eine militärische Restauration durfte im Militär der Nachkriegszeit keinen Platz haben. Mit dieser Einschätzung der Völkergemeinschaft korrespondierte auf deutscher Seite die Haltung vieler, denen Friedrich Meinecke Ausdruck mit dem Wort verlieh, die deutsche Katastrophe verlange einen „radikalen Bruch mit unserer militärischen Vergangenheit«.1 Dies bekräftigte Gerhard Ritter auf dem Historikertag 1953, als er im Vergleich mit dem preußisch-deutschen Militarismus des 19. Jahrhunderts feststellte, die Wehrmacht habe den extremsten Militarismus der deutschen Geschichte – „niemals ist die Militarisierung alles Lebens so radikal durchgeführt“ worden – verkörpert.2 Damit richtete er den Blick auf die Rolle des Militärs in der Innenpolitik, der sich ebenso der Sozialwissenschaftler Leopold von Wiese widmete. Unübertroffen deutete auch Hans Herzfeld die »Selbstgesetzlichkeit« des Militärischen im NS-System als politisches Konzept der Radikalisierung des modernen Militarismus.3
Die »Stunde Null« schloss daher dem Sinn nach nicht das Militär an sich aus, sondern verlangte insbesondere die Abkehr von allen Übersteigerungen des Militärischen. Als daher seit 1950 die Aufstellung von Streitkräften mit der durch Besatzungsstatut reglementierten Bonner Regierung politisch verhandelt wurde, gaben die Alliierten in Konsequenz der Potsdamer Beschlüsse dieses Militär nicht unter alleinige deutsche Verfügungsgewalt. Einsatzleitung und Rüstungskontrolle der Bundeswehr wurden an NATO und WEU übertragen. Jede eigenständige Aktion nach außen wurde strukturell unterbunden und daher die Bundeswehr international vollständig integriert. Nach innen jedoch hatte die politische und militärische Spitze der Bundeswehr die Zuständigkeit, die Verhältnisse nach eigener Maßgabe zu regulieren und die Vergangenheits- und Traditionspolitik zu bestimmen.4 Daher entstand das Problem, dass über Jahrzehnte von relevanten Vertretern der Bundeswehr Traditionslinien zum Militarismus aufgebaut wurden. Um solche Beispiele geht es hier.
Die Militärpolitik des Traditionalismus
Um sich dem Thema angemessen nähern zu können, ist zur notwendigen Abgrenzung voraus zu schicken, dass nach dem Krieg in der jungen Bundesrepublik der Militarismus im allgemeinen keine Akzeptanz genoss; vielmehr war das Wort des damaligen Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, verbreitet: „Der Militarismus ist tot.“ Dennoch findet sich das Phänomen – im Begriff der »Wieder-Bewaffnung » zufällig zu erkennen -, dass einzelne Faktoren und Elemente aus militaristischen Zeiten aufgegriffen und für die Gestaltung der Entwicklung der Bundeswehr genutzt wurden, ohne in notwendiger Weise kritisch das Vergangene zu prüfen, ob es mit den Grundwerten der jungen Bundesrepublik ausreichend übereinstimme. So wurde die Militärpolitik des Generals Hans von Seeckt beim Aufbau der Streitkräfte hoch geschätzt. Da schien die politische Brisanz nur am Rande eine Rolle zu spielen, dass er in der Weimarer Republik für die antidemokratische Politik des Militärs vom »Staat im Staate« große Verantwortung trug. Unter dieser Perspektive hätte ein Seeckt niemals ein Vorbild für die Bundeswehr sein können. In diesem Beispiel wird eine militärinterne Vergangenheitspolitik des Traditionalismus erkennbar, die nicht im Einklang mit den Grundwerten der Verfassung steht. Gerade sie hatte eine geschichtsklitternde Schlagseite, die restaurative Elemente aus den Epochen des Militarismus in die Innenpolitik der jungen Republik holte.
In diesem Beitrag wird besonders dieser Vergangenheitspolitik des Militärs der Bonner Republik Aufmerksamkeit geschenkt. An drei Beispielen aus den Jahren 1950/55, 1969 und 1982 wird aufgezeigt, wie restaurative Kontinuitäten von Vertretern des militärpolitischen Traditionalismus hergestellt und vertreten wurden. Die gewählten Beispiele illustrieren Initiativen aus der Militärelite, die mit einigem Erfolg wirkungsvoll ihre Interessen, ihre Programme und Konzepte voran brachte. Die Wege und Initiativen, diese anlässlich politischer Ereignisse in der Bundeswehr zu realisieren, verweisen auf jeweils einzigartige Situationen, mit eigenem Gewicht und gemäß der jeweiligen politischen Konstellation selbständig darzustellen. In diesem Beitrag können sie nur mit ein paar Strichen gezeichnet werden. Zugleich bieten diese drei typischen Beispiele traditionalistischer Politik einen eigentümlichen Zusammenhang; in ihrer Abfolge beziehen sie sich auch bemerkenswert auf einander.
Der ehemalige Offizier der Wehrmacht und General der Bundeswehr, Gerd Schmückle, hat den Begriff Traditionalismus eingeführt, um die Gegenposition zur Reform der »Inneren Führung« zu kennzeichnen.5 Man kann darüber streiten, ob »Traditionalismus« glücklich gewählt ist, doch er hat sich eingebürgert und bezeichnet treffend einige charakteristische Merkmale einer Militärpolitik, die im direkten Rückgriff auf historische Vorbilder die Ausrichtung der Bundeswehr zu konstruieren sucht – vom Soldatenbild bis zu operativen Maximen.6 Der Traditionalismus ist inhaltlich umfassend angelegt und bezieht sich auf mehrere Ebenen der Militärpolitik: in Distanz zur pluralistischen Gesellschaft strebt er nach einer einheitlichen Eigenwelt des Militärs, indem Anpassung und Unterordnung, Stärke und Disziplin im Innern betont werden; das zielt auf personelle Homogenisierung und politisch-korporative Geschlossenheit. Dazu werden historische Verhältnisse verharmlost und vor allem von ihren politischen und gesellschaftlichen Belastungen befreit, um so benennbare Faktoren aus Zeiten des Militarismus und des Untertanenstaates in »sauberer« Form zum Vorbild zu nehmen. Das findet sich in der Bundeswehr beispielsweise bei der sozialen Protektion in der Personalpolitik, der institutionellen Stellung des Militärs im System der politischen Repräsentanz oder der Ausrichtung der Ausbildung gemäß einem Sui-generis-Denken usw. Solche Ausprägungen aber stehen mit der Wertordnung des Grundgesetzes in Konflikt bzw. sind damit grundsätzlich nicht vereinbar. Sie unterminieren wenigstens die Zielsetzungen der aufgeklärten politischen Kultur der freiheitlichen Grundordnung dieser Republik, gerade weil immer wieder Facetten des Alten vom Traditionalismus in der Bundeswehr rekultiviert und reaktiviert wurden. Wenn man erinnert, dass 1945 eine Abkehr von denjenigen Symbolen, Denkfiguren und Institutionen geklärt war, die den Militarismus genährt hatten, ist es brisant, dass Einzelfaktoren des Militarismus erneut Einfluss gewannen. Auch der große Reformer der Bundeswehr, Wolf Graf von Baudissin, erfuhr den Kampf des Traditionalismus gegen die demokratische Reformpolitik und bezeichnete ihn als tatsächlich bedrohliche „wirklichkeitsfremde, gefährliche Ideologie«.7
Der Traditionalismus der Bundeswehr hat einen doppelten Bezug zur innenpolitischen Dimension des Militarismus. Zum einen handelt es sich um die zivil-militärischen Beziehungen, also um die Entwicklung des militärischen Milieus nach der Art des Sui-generis-Denkens mit der Ideologie der sozialen Abkapselung sowie der pluralistischen Vorbehalte. In Summe zielen sie auf gegenkulturelle Entwicklungen im Militär. Diese Faktoren des Militarismus der Geschichte werden auch als „Belastung des sozialen Lebens“ bezeichnet.8 Dem »Militarismus als Verfassungsproblem«, die andere Seite des innenpolitischen Militarismus, sollte in der Bonner Republik der Boden entzogen sein. Die Bundeswehr wurde strikt in das parlamentarische Regierungssystem eingebunden, wie es sich im Grundgesetz in Verbindung mit der »Wehrgesetzgebung« von 1954 bis 1957 manifestiert. Die legalistisch angelegte Reform und die Verankerungen im System der Bundesorgane begründeten den Neuanfang, gewiss eine Lehre aus der Geschichte. Die Dominanz des Militärischen im Kaiserreich und im NS-System, aber auch in der Weimarer Republik, als die Reichswehr sich eine Eigenständigkeit – »Staat im Staate« – reservieren konnte, sollte endgültig vorüber sein. Die Geschichte der Bundeswehr zeigt, dass der Traditionalismus sich mit dem Reformentwurf des Militärs der Bundesrepublik nicht abfinden konnte.
Das Beispiel von 1950: die Himmeroder Denkschrift
Die Geschichte der Bundeswehr fängt mit der Geheimplanung vom Oktober 1950 an, als die Himmeroder Denkschrift verfasst wurde. Sie gilt als die »Magna Charta« der »neuen Wehrmacht« der Bonner Republik und ist doch das erste Dokument des Traditionalismus. Wie selbstverständlich stellte man sich in die Kontinuität zur Wehrmacht. Die Vergangenheit wurde politisch von allen Verbrechen im Nationalsozialismus gesäubert, im Weltkrieg schienen vermeintlich ewig gültige militärische Tugenden erfahrbar. So konstruierte man das Bild des Militärs der Zukunft und fixierte Militärstruktur, operative Maximen und auch das Soldatenbild normativ an einer künstlichen und idealisierten Vergangenheit. Nicht bloß die entsprechenden, zum Teil schwülstigen und abgehobenen Formulierungen über „Ehre«, den „Wehrwillen des Volkes“ oder die „Rehabilitierung der Wehrmacht“ verweisen auf die ideologischen Aspekte, sondern die Tatsache, dass es diesem Denken an der Unterscheidung von Militär und Militarismus in der deutschen Geschichte mangelte. Dafür war gerade Hermann Foertsch, jener prominente NS-General, verantwortlich, da er sein Bild des »inneren Gefüges« von 1942 von der alten auf die »neue Wehrmacht« übertrug. Trotz solcher Zeugnisse wird Himmerod als »Gründungskompromiss« der Bundeswehr gefeiert. Dieses Wort verfälscht Geschichte und dient dazu, die Gründungslegende des demokratischen Anfangs zu konstruieren, obwohl der Geist der Uneinsichtigen offensichtlich war: „Die Denkkategorien und Sprachfiguren (…) entstammen fast ausschließlich der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Zweiten Weltkriegs.“9
Die wenigen Reformsätze in der Himmeroder Denkschrift stammten ausschließlich von Baudissin. Er konnte Kernaussagen zur Geltung der rechtsstaatlichen, freiheitlichen und pluralistischen Grundwerte der Verfassung im Militär formulieren. Sie waren marginale Einsprengsel, von denen aus Baudissin mit langem Atem das Konzept der Militärreform mit dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« entwickelte und dafür in Politik, Parlament und Gesellschaft kämpfte.10 Er und seine Mitstreiter waren schon im Amt Blank praktisch isoliert; die Papiere wurden gefiltert und kontrolliert.11 Nicht alle Mitarbeiter seines Arbeitsstabes waren auch Mitstreiter. Heinz Karst, der Arbeitsgruppe »Inneres Gefüge« zugeordnet, ist ein Beispiel dafür. Im August 1955 inszenierte er einen Eklat: In Abwesenheit von Baudissin legte er anlässlich der Beratung der Wehrgesetze im Bundestag eine Denkschrift – »Karstiade« genannt – vor, in der er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen im Namen der »Gruppe Innere Führung« für die Position der Traditionalisten eintrat. Dabei wandte er sich „entschieden gegen jeden Zivilkult“ im Militär. Der Primat ziviler und parlamentarischer Politiker vor den Militärs werde „bei den Soldaten nur als Diffamierung ausgelegt.“ Karsts Distanz zur »Inneren Führung« erleichterte es ihm, Baudissin persönlich zu provozieren. Die »Karstiade« war im Kern ein politisches Pamphlet gegen den demokratischen Neubeginn, der, als „eisiges Misstrauen“ des Parlaments gegen Soldaten bezeichnet, auf wenig Zustimmung stieß. Der „Vorrang der Zivilisten“ – gemeint waren Minister und Staatssekretäre, aber auch die Existenz von »zivilen« Abteilungen im Ministerium – vor der Generalität sei untragbar, die Streitkräfte bedürften eines „wachsamen Vertrauens“ statt „misstrauischer Kontrollen“ von Parlament und Öffentlichkeit. Karst wies darauf hin, dass der „bei Fortgang dieser Entwicklung“ der „sicherste Weg (sei, um) Militarismus herbeizuführen und damit die Demokratie wirklich zu gefährden«.12
Der politische Skandal der »Karstiade« lag, auf den Punkt gebracht, darin dass er während des Gesetzgebungsverfahrens eine machtpolitische Revision forderte. Der Primat der Politik sollte zugunsten des Militärs aufgegeben werden. Die „Rechtmäßigkeit eines zivil-ministerialen Kontrollrechts über das Militär“ wurde in Frage gestellt.13 Karst fand den Beifall der Kameraden und im Ministerium, da er dem verbreiteten Traditionalismus öffentlich Ausdruck verlieh. Es war eine Affäre ersten Ranges, dass er, ein Mitarbeiter Baudissins, den politischen Rahmen der Militärreform leugnete. Die Geschichte der »Inneren Führung« ist daher im Anfang eine Geschichte der Distanzierung, eine Geschichte der Diffamierung und des Defizits. Damit übertraf das Militär das allgemeine Klima der Ära Adenauer, das schon durch eine dezidierte revisionistische Vergangenheitspolitik auffiel.14 Militärreform und Traditionalismus standen kontrovers einander gegenüber; sie bildeten zwei „Fronten, die sich in der einen oder anderen Form“ dauerhaft politisch durchsetzten und dazu beitrugen, die Bundeswehr immer wieder zwiespältig, grau changierend zu kennzeichnen.15
Der Anfangserfolg des Traditionalismus hatte gravierende Auswirkungen. Der innere Aufbau der Bundeswehr folgte restaurativen und sogar reaktionären Leitbildern. Die Ausbildung im Heer etwa verwirklichte das Modell der frühen dreißiger Jahre; die Führungsakademie orientierte sich an der Ausbildung zum Generalstab von 1936.16 Die soziale Rekrutierung folgte dem Vorbild der Reichswehr, die eigentlich das Ideal des Kaiserreichs von 1890 angestrebt hatte.17 Als 1966 die Gewerkschaften erstmals in Kasernen werben durften, traten Generäle aus Protest zurück; als 1969 der General der Gebirgsjäger und stellvertretende Inspekteur des Heeres, Hellmut Grashey, den Offizieren des 20. Juli die Ehre absprach, erfuhr er an der Führungsakademie Beifall; als dann General Schnez, Inspekteur des Heeres, im Einklang mit der obersten Führung in der Geheimstudie die „Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach militärischem Vorbild einklagte, zeigte sich das traditionalistische Substrat des Sui-generis-Denkens in aller Klarheit.18Das Desaster nach zwanzig Jahren Militäraufbau der Bonner Republik war erschreckend: Generale der Gründungszeit – sowohl die nationalkonservativen Hans Speidel und Adolf Heusinger als auch der liberale Baudissin – stimmten darin überein, die Reform des Militärs sei in der Bonner Republik gescheitert.19
Das Beispiel von 1969: Das Papier der Hauptleute von Unna
In der historischen Situation, als die Ära Brandt mit Reformen im Innern und mit der Öffnung nach Osten durch die Entspannungspolitik Bewegung in die erstarrten Verhältnisse der Ära Adenauer brachte, schlug auch für die Bundeswehr die Stunde vertiefter demokratischer Reformen.20 Politisch hatte der gerade gewählte Bundespräsident Gustav Heinemann mit seinem Wort: „Der Frieden ist der Ernstfall“ aufmerken lassen. In konservativen Kreisen erzeugte dies eine Welle der Empörung. Die oberste militärische Führung, die mit der Studie des Inspekteurs des Heeres, Albert Schnez, im Sommer 1969 noch geglaubt hatte, eine zivil-militärische Plattform traditionalistischen Gedankenguts geschaffen zu haben, war angesichts der epochalen Wende alarmiert. Die »Schnez-Studie«, die ein Grundsatzdokument des eigenen Selbstverständnisses und der zukünftigen Militärpolitik sein sollte, stieß auf heftige Kritik; sie musste dann unter diesem Druck praktisch aus dem Verkehr gezogen werden. Auf jeden Fall war sie diskreditiert.
Die »Alten« lancierten deshalb ein Nachfolgepapier. Gegen den Wechsel in der Regierung gingen sie in die Offensive. Das Ziel war, die Reformen des Ministers Helmut Schmidt zu verhindern. Dessen Politik empfanden sie als unvereinbar mit ihrem Profil und sie nahmen sie wie einen Fehdehandschuh auf. Auf der Hardthöhe hatten sich viele prominente Traditionalisten eingenistet; Karst konnte sich eloquent als Sprachrohr nach vorne spielen. Gerade hatte er seine Bekenntnisse zum Militär der Zukunft publiziert und das bislang umgehängte Mäntelchen des Mitstreiters der »Inneren Führung« abgestreift und bekannt, „Freiheit und Demokratie sind keine letzten Werte.“21 Im Frühjahr 1969 prahlte er, die »Innere Führung« sei auf „den Klippen“ zerschellt, „weil sie letztlich ein Widerspruch in sich selbst war, da sie eine unsoldatische Armee konstruieren wollte.“22 In Augustdorf und Detmold besprachen die Generale das Vorgehen; Karst, der General für Erziehung und Bildung im Heer, übernahm für das neue Papier die Aufgabe, „die Passagen, die die politischen Äußerungen beinhalten,“ zu formulieren.23 Inhaltlich wurde geklotzt und – taktisch raffiniert – ein gröberer Aufguss der »Schnez-Studie« gefertigt. Ein anderer Beteiligter an der »Schnez-Studie«, der Kommandeur der Division in Unna, stand für die praktische Vernunft. Er, General Eike Middeldorf, gab dann im Kommandostab in Unna seinen Hauptleuten den Auftrag, als aktive Offiziere der Panzertruppe eine Kritik der Unzulänglichkeiten der militärischen Praxis für diese Denkschrift aufzuschreiben. Das »Unna-Papier« fokussierte diese verschiedenen Autoren und Interessen zu einem eminent politischen Gegenentwurf, um gegen die »linke« Politik des zu dem Zeitpunkt gerade designierten Ministers Front zu machen.24 Dabei wurde die Legalität der Regierung gegen die Legitimität der Praktiker gestellt. Jedes Vertrauen zu dieser Politik sei geschwunden. Die Reformpolitik wurde in Seecktscher Manier – ein historisch schwerwiegender Vorgang – als „Politisierung der Armee“ abgelehnt. Heftiger noch wurde die Ost- und Entspannungspolitik attackiert, da sie die „Verharmlosung der wahren Zielsetzung“ der sowjetischen Politik betriebe. Entspannung gefährde die Existenz der Bundeswehr und bilde „die Gefahr für Geist, Gefüge und Bestand der Armee.“ Der Primat der Politik wurde abgelehnt, aber auch die sozialliberale Regierung wegen der anvisierten Reformen nicht akzeptiert. In kaum kaschierter Form wurden die Vorbehalte des Traditionalismus gegenüber Parlament und Demokratie herausgestellt.
Konsequenzen wurden gefordert. Erst einmal sollte die politische Leitung im Ministerium boykottiert werden. Kooperation mit ihr war unzulässig. Das Verbot sollte die Besprechungen und Beziehungen der Generalität auf der Hardthöhe treffen. Das »Unna-Papier« ging aufs Ganze: „Das Eigengewicht militärischer Entscheidung darf nicht durch opportunistische Haltung und eine zunehmend politische Hörigkeit militärischer Führer gefährdet werden…“ Es ist schon wert, diese Worte aus der Feder von Generälen ernst zu nehmen und im Licht der Loyalität des Generalinspekteurs de Maizière und weiterer Generäle zur neuen Regierung zu betrachten: sie seien opportunistisch und hörig. Sie wurden desavouiert, ja wohl auch diffamiert.
Die Formulierungen dieser Passagen des »Unna-Papiers« enthalten den grundsätzlichen Anspruch des Militärs nach mehr Macht im Staate. Die schwersten Geschütze zielten auf den Primat von Parlament und Politik. Die „Verantwortung vor Staat und Auftrag“ des Militärs begründe „das Eigengewicht militärischer Entscheidung.“ Mit der Forderung nach einem höheren Status der militärischen Repräsentanten in Staat und Gesellschaft griff das »Unna-Papier« Ansprüche auf, die schon vom ehemaligen Generalinspekteur Heinz Trettner und von Inspekteur Schnez erhoben worden waren. Die Balance im Regierungssystem sollte deutlich zugunsten von mehr »Eigengewicht« für das Militär verändert werden. Das »Unna-Papier« wollte zumindest die politische Parität: einen »gleichberechtigten Dialog« zwischen Militär und Politik. Nach traditionalistischem Politikbegriff konnte der Primat der Politik in der Auslegung des Grundgesetzes nicht akzeptiert werden.
Das mentale und ideologische Muster des Sui-generis-Denkens wurde im »Unna-Papier« voll abgedeckt: der Soldat sei „in erster Linie Kämpfer«, daher müsse alles der „Schaffung kampfkräftiger Verbände“ dienen. Die „Erziehung des Soldaten“ sei auf den „Kampfwert des Soldaten“ auszurichten. Dem habe sich die „Integration in die Gesellschaft“ ebenso wie die »Innere Führung« unterzuordnen. Daher fanden „die gesamten Reformpläne“ der Bundesregierung nur Ablehnung, vor allem die Reform des Bildungssystems. Stattdessen müsse militärische Erziehung Härte und Kampf vermitteln, im Gefechtsdrill sei das wichtigste »Disziplinierungsmittel« des Soldaten zu sehen. Der Vorgesetzte benötige größere dienstliche Macht, er müsse Arreststrafen ohne richterliche Zustimmung, einschließlich »verschärften Arrests« verfügen können. Da dem die rechtsstaatliche Geltung des Grundgesetzes entgegenstehe, müsse eine eigenständige »Wehrjustiz« wieder eingeführt werden, damit schlussendlich „wieder ein frisch-fröhlicher Geist in die Truppe kommt.“ Weiter sollten die individuellen Grundrechte aufgehoben und die Zuständigkeiten des Wehrbeauftragten beschnitten werden. Im »Unna-Papier« fehlte keine Forderung nach einem genuinen militärischen Milieu. Das traditionalistische Credo aus Weimarer Zeiten tauchte wie selbstverständlich im Fazit des »Unna-Papiers« auf: „In dieser Form ist »Demokratisierung der Armee« nicht nur unangebracht, sondern schädlich.“
Erste Entwürfe und Passagen des »Unna-Papiers« kursierten schnell auf den Etagen der Hardthöhe. Sie boten die Sprachregelung für die so genannte sachliche Auseinandersetzung mit der neuen Reformpolitik. Die Vehemenz des restaurativen Umbruchs und des politischen Anspruchs in Unna, der Fantasien an Revolte und Putsch frei setzte, war noch nicht verflogen, als im Dezember 1970 die letzte Fassung verbreitet wurde. Bundestagsabgeordnete fürchteten, die Bundeswehr werde sich mit Gewalt als „Retter des Vaterlandes“ aufspielen.25 Ein wenig später wurde das »Unna-Papier« der Öffentlichkeit zugänglich. Das Ministerium suchte zu beschwichtigen. Minister Schmidt verlangte Besprechungen. In einer anderen Runde bemühte sich der Generalinspekteur persönlich um die Hauptleute. Sie gewannen den Eindruck, de Maizière fände ihre Aussagen und Thesen „vollinhaltlich begrüßenswert.“ Bemerkenswert ist, dass ein Referent im Führungsstab des Heeres Mut bezeugte und eine kritische Stellungnahme der Spitze des Hauses vorlegte. Allerdings kassierte Inspekteur Schnez, der das »Unna-Papier« allerorten „sehr positiv“ bewertete, sogleich diese Äußerung. Er vertrat weiterhin seine traditionalistische Position gegen die Regierungspolitik.
Die Hardthöhe befand sich in der größten Führungskrise seit ihrer Gründung. Der damalige Generalinspekteur Ulrich de Maizière meinte im Nachhinein, die Bundeswehr wäre in diesen Monaten auf einen »Knickpunkt« ihrer Geschichte zugesteuert. Mit dem »Unna-Papier« hatte die alte Garde die Initiative ergriffen, die Gleichberechtigung von Minister und Militär zu fordern, ein Gegenhalten gegen die Reformpolitik zu organisieren und Minister Schmidt den Schneid ab zukaufen. Mit Bedacht urteilte de Maizière, die Traditionalisten hinter dem »Unna-Papier« hätten „sozusagen eine neue Reform präsentieren“ wollen. Es zeugt von Formulierungsgabe, mit dem Begriff »neue Reform« dieses traditionalistische Militärkonzept gegen die Demokratisierung der Bundeswehr zu neutralisieren. Es sollte den Skandal verharmlosen. Doch de Maizière sprach die politische Brisanz noch an: dies sei „das letzte Mal“ gewesen, dass die Auseinandersetzung in Militär und Politik um das Schicksal der »Inneren Führung« und um die demokratische Gestalt der Bundeswehr zu einer „verhältnismäßig starken Konfrontation“ zwischen Reformern und Traditionalisten geführt hätte.26
Zeigte Minister Schmidt die notwendige Kraft an Courage gegenüber der traditionalistischen Gruppe in der etablierten Militärelite? Erfasste er den grundsätzlichen Charakter des Widerstandes hinter dem »Unna-Papier« zutreffend oder missdeutete er ihn als konservative Opposition gegen die Sozialdemokratie? Es erscheint verwunderlich, dass er anlässlich einer öffentlichen Erörterung des »Unna-Papiers« erklärte, das „Engagement, was letztlich dahinter steckt, respektieren“ zu wollen.27 Eine vorgelegte ideologiekritische Analyse ließ er unbeachtet.28 War dies ein Zugeständnis an die Erfordernisse politischer Stabilität, damit der Druck der Traditionalisten nicht wie ein Vulkan ausbrach? Seine Reaktionen geben Rätsel auf. Wollte er den wichtigsten Kontrahenten, Inspekteur Schnez, im Amt belassen, um sein Wirken kontrollieren zu können? Aber wenn es, wie de Maizière hinter den Kulissen beobachtete, diese letzte harte Konfrontation gab, dann hätte die Reformpolitik de facto sich am Ende durchgesetzt. Doch die Politik machte den Traditionalisten in der Sache zu große Konzessionen. Das Dokument der Panzermänner und der Generale von Unna erfüllte den Zweck, dass sich die Gegner der Reform – klamm-heimlich – auf dieser Basis verständigen konnten, von der aus sie im aktuellen Geschäft die Umsetzung der Reform verschleppten und die Reichweite der Reformziele begrenzten.29 Mittelfristig motivierte es die Gegenkräfte. Schmidt hat diesen Aspekt der Militärpolitik im »Unna-Papier« nicht hinlänglich beachtet. Denn in der obersten Etage der Bundeswehrführung wurde weiterhin gegen den Stachel gelöckt. Schon 1973 konnte wieder nach altem Duktus ein Generalmajor in einer Zeitschrift der Bundeswehr schreiben: „Die Gesellschaft ist nicht das Maß aller Dinge.“30 Oder 1975, als ein Generalmajor an der Parade des Sieges der Faschisten in Madrid teilnahm.31
Das Beispiel von 1982: Die Munitionierung der konservativen Wende
Die »geistig-moralische Wende« der Regierung des Kanzlers Helmut Kohl kam im Herbst 1982. Die Verwirklichung dieses Leitbegriffs der Politik ins Militärische übernahm Manfred Wörner. Er beriet sich auf der Hardthöhe mit ehemaligen Generälen. Die »Lodenmantelfraktion« der Alten hatte als führenden Kopf Heinz Karst. Er hatte die Strippen gezogen. Nun zogen sie nicht nur auf die Hardthöhe sondern auch durch die Säle der Stäbe, der Akademien und Schulen der Bundeswehr und predigten das Ethos der Vergangenheit: die ideologischen Ziehväter des Traditionalismus aus der Gründerzeit der Bundeswehr wurden von der Söhnegeneration reaktiviert. Die bekannten »Schnez-Söhne« hatten bei Wörner das Sagen.32 Ihre Gedanken prägten die »geistige Wende« im Militär.
Bislang war unbekannt, dass Karst für die Wendepolitik noch eine ganz besondere Rolle spielte. Er hatte die Quintessenz seiner traditionalistischen Position zu Papier gebracht und eine 50seitige Studie für den designierten Minister Wörner verfasst, in der er den »Zustand« der Bundeswehr darlegte und eine »Therapie« als Leitidee einer zukünftigen Politik verschrieb. Nach seinen Angaben hatte er diese Studie „im Herbst 1982“ in einer „Zeit des Schwebezustandes zwischen der alten und der neuen Regierung“ übergeben.33 Diese »Karst-Studie« ist das richtungsweisende Dokument der Gesinnungswende, das in diesem historischen Knotenpunkt präsentiert und politisch einflussreich wurde. Jahre später wurde sie anonym der Öffentlichkeit zugespielt und wegen der Übereinstimmung mit der amtlichen Politik als eigenständige Arbeit des Planungsstabs des Ministeriums in ihrem parteipolitischen Gehalt präsentiert.34 Die »Karst-Studie« gründete ausdrücklich auf der »Schnez-Studie«. Berater und Planungsstab des Ministers folgten ihren Grundlinien wie selbstverständlich.35
Auch die Generalstabsoffiziere Dieter Farwick und Dieter Stockfisch beispielsweise, wichtige Vertreter aus der »Söhne-Generation« in Wörners Umfeld, begründeten ihre Kompetenz mit der Kenntnis der »Schnez-Studie«. Erwähnenswert ist, dass Baudissin in einem frühen Briefwechsel Hubatschek auf die Folgen seiner traditionalistischen Politik aufmerksam machte. Er warnte davor, die Ziele der »Inneren Führung« plakativ abzulehnen und die „Integration in die pluralistische Gesellschaft“ als ein „verhängnisvolles Konzept«, weil es zur „Desintegration aus der militärischen Gemeinschaft“ führe, zu bekämpfen. Das Ziel der Wendepolitik, eine soziale Abschottung sowie ein korporatives Eigen- und Sonderleben im Militär zu verfolgen, sei falsch. Baudissin war besorgt, dass Hubatschek gleich nach Übernahme seines Amtes erklärt hatte, die „spezifisch soldatischen Normen“ wieder beleben zu wollen.36 Er unterstrich den Trugschluss einer sozialen Homogenität durch Abschottungstendenzen und Antipluralismus. Jede Militärpolitik der Bonner Republik dürfe niemals Abklatsch der Seecktschen Ziele der Weimarer Republik sein oder sich über ähnliche Rekultivierungen in den fünfziger Jahren legitimieren wollen. Baudissin empörte sich über derartige Tendenzen der Wendepolitik, aber stellte betrübt fest, „dass es den Graben zwischen »Fortschrittlern« und »Traditionalisten« bis heute gibt, dass er also keine selbst errichtete Kulisse ist.“37
Die »Karst-Studie« war eminent politisch formuliert. Ihre Gegnerschaft zu den Werten der sozialliberalen Koalition wurde nicht verdeckt sondern unverbrämt bekannt. Dort lagen die Wurzeln allen Übels: „Es ist der Geist der Truppe«, der unter den Reformen von Schmidt gelitten habe; die Bundeswehr sei zu einer „Friedensarmee“ gemäß dem Wort Heinemanns, der Frieden sei der Ernstfall, verkommen. Die Front gegen die Sozialdemokratie durchzog die Seiten: Ursache für die als desolat bezeichnete Lage der Bundeswehr sei die sozialdemokratische Ämterpatronage: „Die »Baracke« hat die Bundeswehr noch in der Hand“38. Da zeigte sich der taktische Schachzug der traditionalistischen Argumentation, Demokratisierung des Militärs mit sozialdemokratischer Politik gleichzusetzen. Karst schlug auf die Partei ein, meinte aber nur die Verwirklichung der Grundwerte der Verfassung im Militär. Die Zielsetzung dieser Politik, die Integration von Militär und Gesellschaft sowie das Konzept der »Inneren Führung« für die Bundeswehr zu wollen, führe in die Irre und habe nur den nivellierenden Pluralismus und damit die „totale Vergesellschaftung“ des Militärs zu verantworten. Die Politik der Sozialdemokratie habe in den vergangenen 13 Jahren weitreichende fatale Folgen gehabt, da „der antisoldatische Affekt, der „Zivilismus“ Pate stand.“ 39 Dem gegenüber betonte die »Karst-Studie« den höheren Wert des Militärischen über die zivil-militärischen Verhältnisse: „Nur wenn die „Gesellschaft„ sich mit dem Verfassungsauftrag der Bundeswehr identifiziert, sind die Soldaten „integriert„.“40 Die Begriffe wurden inhaltlich einfach umgepolt. Das Muster des Traditionalismus griff vollständig, jede Demokratisierung des Militärs abzulehnen und entsprechend das Übel in der Sozialdemokratie und in der »Inneren Führung« zu finden. Mit dem Ideal, das Militär als „Spiegelbild der Gesellschaft“ zu formen, sei es nun vorbei: „Der Wertepluralismus (…) eroberte auch die Bundeswehr und löste eine tragfähige Basis gemeinsamer Wertvorstellungen auf.“ Dank der Wendepolitik sei das „Ende der Zivilisierung“ des Militärs in Sicht.41
Die »Karst-Studie« machte noch einen Nebenkriegsschauplatz gegen einige wissenschaftliche Einrichtungen der Bundeswehr auf. Sie wurden unter Ideologieverdacht gestellt, die Reformen von Schmidt unterstützt zu haben. Schon das »Unna-Papier« hatte gegen einzelne Professoren Stellung bezogen. Nun ging es gegen das Militärgeschichtliche Forschungsamt (damals Freiburg) und das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (damals München). Mit dem Thema Tradition der Wehrmacht wurde eine Kampagne wegen mangelnder Objektivität in der Forschung in Gang gesetzt. Das Amt hätte die Geschichte der Wehrmacht im Nationalsozialismus manipuliert und „das deutsche Militär diffamiert“ sowie „das Ansehen des deutschen Soldaten (…) böswillig“ angegriffen.42 Es gab Friktionen zwischen der Hardthöhe und den Forschern, da Bonn die wissenschaftliche Freiheit zu begrenzen suchte.43 Am Rande wurde daher gefordert, Manfred Messerschmidt, den international renommierten Historiker, als Leitenden Wissenschaftler abzulösen.44 Gegen das SOWI, das bekanntlich unter Thomas Ellwein wichtige Grundlagen für die Bildungsreform von Minister Schmidt erarbeitet hatte, gab es eine ähnliche Diffamierung. Eine Stellungnahme verstieg sich zu der kühnen Behauptung, diese Forschungen „würden die Integration von Bundeswehr und Gesellschaft beeinträchtigen und die Identifikationsschwierigkeiten der Soldaten mit ihrem Auftrag“ erhöhen.45 Bonner Eingriffe, die Freiheit der Wissenschaft einzuhegen, führten zur Ablösung des Institutsleiters, Ralf Zoll, der an die Universität Marburg wechselte. Die anvisierte Auflösung des Instituts aber gelang nicht.
Allem voran in der »Karst-Studie« stand das Diktum, „soldatische und erzieherische Elementaria“ seien vonnöten.46 In traditionalistischer Manier war damit der Ruf nach realistischer bzw. kriegsnaher Ausbildung verbunden. Richtungsweisend wurde das alte Feindbild des Kalten Krieges mit Hinweis auf die „Realität der Bedrohung“ reaktiviert; die „unvermeidliche Orientierung am Gegner» verstand die »Karst-Studie« als Voraussetzung, um den Aufbau einer einsatzfähigen „Kriegsbundeswehr“ einzuklagen. »Kriegsbundeswehr« – der Leitbegriff dieser Wende-Studie – war schon eine bemerkenswerte Wortschöpfung. Die »Karst-Studie« ging noch auf Strategie und Rüstung der Bundeswehr ein. Gegenüber dem Dilemma der nuklearen Verteidigung, das zu vernichten, was es zu verteidigen gelte, fand sie die Lösung, dass vor allem Glaubwürdigkeit die Soldaten erfassen müsste. Aus dem Dilemma der nuklearen Kriegführung in Europa führe nur die mentale Stärke der Soldaten heraus: „Bei selektivem Einsatz von Atomsprengkörpern wäre Verteidigung noch durchzuführen (…). Die Streitkräfte können im Verteidigungsfall nur mit entschlossenem Willen zum Sieg am Ort ihres Gefechts kämpfen. Anders kann überhaupt keine Truppe ihre Waffen gebrauchen.“47 Nur „soldatische Erziehung“ könne die Zweifel am nuklearen Einsatz ausräumen. Der „Irrweg“ der „einseitigen Ausbildung des Menschen über die Ratio“ sei zu beenden, Härte und Drill seien bei einem Atomkrieg unerlässlich, da nur „allein eine so erzogene und zusammengeschweißte Kampfgemeinschaft bestehen kann!“48 In Konsequenz dessen müssten sich die Universitäten der Bundeswehr in Militärakademien wandeln: „Auch wenn sich linke Medien und Geister gegen die Akademielösung wehren und von „Kadettenanstalt„ raunen, so wäre sie ideal.“49
Kontinuitätslinien des Traditionalismus
Die drei Beispiele des Traditionalismus sind drei Beispiele aus der Geschichte der Bundeswehr. Die Jahresdaten der Dokumente scheinen auf den ersten Blick eher zufällig zu sein, aber sie repräsentieren Eckdaten der Geschichte der Bundesrepublik. 1950 ging es in Himmerod um die Geheimplanung des Militärs; 1955 korrespondiert inhaltlich ganz eng damit, da der Aufbau der Bundeswehr von Regierung und Parlament konkret begonnen wurde. 1969 markiert mit der ersten sozialdemokratisch geführten Regierung den Beginn der großen inneren, nachholenden Reform des Militärs, gegen die in Unna angeschrieben wurde. 1982 stellte sich ein konservativer Kanzler in Bonn die Aufgabe, die Auswirkungen dieser Reform zu revidieren. Alle Jahresdaten sind politische Schnittstellen, in denen langfristige, strukturrelevante Beschlüsse über die Entwicklung der Bundeswehr anstanden. Die Papiere der Traditionalisten wurden zum Zweck der politischen Einflussnahme verfasst.
In den drei zentralen Dokumenten, die stark programmatischen Charakter haben, lassen sich inhaltliche Bereiche einkreisen. Erstens: Das Plädoyer für ein Soldatentum mit eigenen Werten und ewigen Tugenden, gestärkt und gewissermaßen gestählt durch eine lange historische Tradition »sauberer« Werte, zuletzt in den Kämpfen der Wehrmacht zu würdigen. Sie fordern daher ein genuines militärisches Milieu, in Haltung und Geist von der zivilen Gesellschaft geschieden, eine Zurückweisung der Geltung wesentlicher Werte der Verfassung. Infolgedessen markiert die Militärreform der »Inneren Führung« und des »Staatsbürgers in Uniform« das Gegenkonzept zu dieser Militärpolitik. Aus der Position dieser Traditionalisten sind der Primat parlamentarischer Regierungen, das Prinzip der Kongruenz (Baudissin) und der Integration von Militär und Gesellschaft in vieler Hinsicht falsch und gefährlich, abzulehnen und zu bekämpfen. Andernfalls würde das Selbstbild des gesellschaftlichen Sonderstatus und der korporativen Kampfgemeinschaft aufgeweicht werden. Rekrutierung und Ausbildung, Meinungsbildung und politische Toleranz in den Streitkräften unterliegen dieser Militärpolitik. Diese Dokumente haben viele Phasen der Bundeswehr mitbestimmt, je nach dem, ob ihr Einfluss direkt Erfolge verzeichnen konnte wie 1950/55 und 1982 oder dann 1969 dazu diente, das Konzept der »Inneren Führung« in seiner Reichweite zu begrenzen. Die so betriebene Militärpolitik hat Relevanz für die Geschichte der Bundesrepublik, da sie nicht nur das Phänomen einer Übergangsphase direkt nach dem Krieg war, sondern in der langen Nachkriegszeit als »Belastung des sozialen Lebens« auffällt.
Ein zweiter Bereich betrifft die operative Kriegführung, auch die Strategie. Da erstaunt, wie sehr Maximen des Kontinent weit geführten »Ostfeldzuges« der Wehrmacht über die Assimilation via US-Armee in der NATO weiter existierten. Im Umkehrschluss brauchte es entsprechende umfangreiche Rüstungen; die Standards der Hochrüstung des Kalten Krieges verstanden sich zugleich als notwendiges Minimum jeglicher Abschreckung. Nicht allein in Himmerod (1950) stand für die »neue Wehrmacht« der Gedanke der Raum greifenden Vernichtung im Vordergrund; auch noch in den Dokumenten von Unna (1969) und Bonn (1982) faszinierten die Schrecken der vernichtenden Atomkriegführung. Die Auswirkungen der nuklearen Verteidigung führten sogar bei dem Traditionalisten des letzten Dokuments von 1982 – der Zeit der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss – nicht zur Besinnung. Die Dogmen der Kriegführung der seit Ludendorff propagierten Formel vom »totalen Krieg« wirkten bis in die achtziger Jahre nach.
Der dritte Bereich, der dem Primat der Politik gilt, verblüfft. Es ist ja da die Auffassung verbreitet, in diesem Zusammenhang gäbe es bei der Bundeswehr keine Probleme: Bonn sei insofern nicht Weimar, als die Bonner Republik sich ihr Militär selbst geschaffen habe und nicht wie in Weimar, ein kaiserlich konstituiertes Militär hätte übernehmen müssen. Tatsache ist jedoch, dass die institutionelle Eingliederung des Militärs in das demokratisch bestimmte Regierungssystem offensichtlich manchen Traditionalisten ein Dorn im Auge war. Bereits 1950/55 wurde der vom Grundgesetz her gegebene Primat der Politik nur bedingt hingenommen. Ein ausgeprägter Anspruch auf höhere Repräsentanz des Militärs in der Politik ist unverkennbar. Die Forderung, den Primat der Politik aufzuheben und ein System der Parität im Verhältnis zu den vom Parlament gewählten und legitimierten Politikern einzuführen, wurde aufgestellt. Zivile Leitung im Ministerium wie in der Bundeswehrverwaltung war verdächtig. Noch in Unna zeigte sich, dass es weniger um Image oder Prestige ging als um den Status erhöhter Machtteilhabe des Militärs. In das demokratische Regierungssystem sollten auch 1969 Einschnitte in das Grundgesetz mit weit reichenden Konsequenzen erfolgen. Die Weimarer Verhältnissen waren überhaupt kein Tabu. Im dritten, dem Bonner Papier stand dies nur latent zur Debatte, es wurde mehr Respekt im Staat und mehr Akzeptanz in der Gesellschaft eingefordert.
Bei der Analyse dieser drei Dokumente aus traditionalistischer Feder ergab sich die spannende Erkenntnis, dass diese auch über die Biographie eines Soldaten mit einander in Verbindung stehen. Heinz Karst vereinigte starke intellektuelle mit rhetorischen Fähigkeiten, seine persönliche Ausstrahlung im kleinen Kreis und die straffe Haltung vor jedem Plenum zeichneten ihn als aufrechten Soldaten. Damit machte er Eindruck. Karst hatte sich als junger Offizier und Mitarbeiter von Baudissin noch als Vertreter der Militärreform gerieren können, aber in der entscheidenden Situation 1955 wechselte er demonstrativ die Front hin zur etablierten Militärelite der Traditionalisten. Als General gehörte er leitend zu jener Gruppe, die den Vorspann der »Schnez-Studie« und im »Unna-Papier« das politische Konzept gegen die drohende Umsetzung weiterer Reformen im Innern zimmerte. Sein Einsatz für die traditionalistische Ausrichtung der Bundeswehr geriet bis zur bissigen Schärfe seinen Kontrahenten gegenüber, als er den Erfolg der Reformen von Schmidt ahnte. Im Hintergrund des rechtskonservativen Parteien-Spektrums knüpfte er ein militärisch-politisches Expertennetzwerk, das ihn 1982 als General außer Diensten befugte, mit Hilfe solcher Seilschaften und mit seiner programmatisch formulierten Studie »endlich« die Wende in der Militärpolitik richtungsweisend zu begleiten und daneben die Traditionsdebatte anzuheizen.
Der militärpolitische Traditionalismus hatte in der Bundesrepublik großen Einfluss, da er am Anfang gewissermaßen in die Bundeswehr inkorporiert wurde. Er war sanktioniert und konnte doch nicht verhindern, dass die Militärreform legalisiert wurde. Er suchte sich mit Verbindungslinien in den Wertehorizont der Vergangenheit zu legitimieren, obwohl diese Militärgeschichte weitgehend eine Geschichte des Militarismus war. In der Übergangsepoche vom Kriegsende zur Republik bleibt es nachvollziehbar, dass Vergangenes noch einmal komprimiert in Erscheinung trat. Noch nach Jahrzehnten wirkte der Traditionalismus fort und wurde immer wieder generiert. Dies ist ein Problem der Bundeswehr, aber allerdings auch ein Ereignis der Geschichte der Bundesrepublik. Sie ist damit konfrontiert, dass es nicht nur in den Anfängen der Bundeswehr sondern während langer Jahrzehnte eine „so bereitwillige wie schmerzhafte Rückkehr zu diesem Traditionsfundus (…) in der Tat“ gab.50 Manche dieser Elemente konnten den Alltag der Bundeswehr gestalten. Doch so sehr diese Politik mit den Wurzeln aus militaristischen Zeiten beschworen wurde, gelang es nicht, die Gestalt der Bundeswehr so weit nach »sauberen« Vorbildern der Vergangenheit zu bestimmen, dass der Militarismus als solcher wieder Früchte tragen konnte.
Wesentliche Prinzipien der Demokratisierung des Militärs wurden vom Traditionalismus – in all den Parolen und Programmen – geleugnet. Als politischer und historischer Revisionismus hatte er folglich Schwierigkeiten, sich ganz auf den Boden der freiheitlichen Grundordnung zu stellen. Er bot nie und bietet auch heute kein alternatives Militärkonzept für die Bundesrepublik Deutschland. Seine Einflüsse hatten politisch und soziokulturell negative, manchmal fatale Auswirkungen. Er nutzte Schnittmengen mit dem rechtskonservativen Parteienspektrum, fand immer wieder Anhänger und hinterlässt bis in die Gegenwart seine Spuren. Dies erklärt den spannungsreichen Spagat zwischen Norm und Wirklichkeit, an dem die Bundeswehr im Innern leidet.51 Gerade deshalb begründen allein die Werte der Verfassung auch in Zukunft die notwendige neue Kultur des Friedens und der Sicherheit im Militär.
Anmerkungen
Der Paradigmenwechsel von der Verteidigung zur Intervention
1) Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin 11. Nov. 2005, S. 131.
2) Gerhard Schmidtchen: Wozu dient die Bundeswehr?, in: Der Spiegel, 29/1956, S. 30; vgl. die Umfragedaten bei Detlef Bald: Die Atombewaffnung der Bundeswehr. Militär, Öffentlichkeit und Politik in der Ära Adenauer, Bremen 1994, S. 100 ff.
3) Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.): Die Ablehnung des Militärs. Eine psychologische Studie der Motive, Allensbach 1961, S. 1, 4.
4) Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (Hg.): Am Hindukusch und anderswo. Die Bundeswehr – Von der Wiederbewaffnung in den Krieg, Köln 2005, S. 8.
5) Vgl. den Teil: Politik gegen die Demokratisierung des Militärs.
6) Zitiert bei Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955 – 2005, München 2005, S. 40.
7) Vgl. Pariser- und Bonner Verträge. Pariser Protokoll, revidierte Bonner Verträge, Saarabkommen und ergänzende Dokumente, München 1955; Wolfgang Däubler: Stationierung und Grundgesetz. Was sagen Völkerrecht und Verfassungsrecht? Reinbek 1982.
8) Rolf Steininger u.a. (Hg.): Die doppelte Eindämmung. Europäische Sicherheit und die deutsche Frage in den Fünfzigern, München 1993; vgl. H.-J. Rupieper: Der besetzte Verbündete. Die amerikanische Deutschlandpolitik von 1949 bis 1955, Opladen 1991.
9) Vgl. Dieter Sterzel (Hg.): Kritik der Notstandsgesetze. Mit dem Text der Notstandsverfassung, Frankfurt/M. 1968; Thomas Ellwein, Joachim J. Hess: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. Opladen 1987, S. 427 ff.
10) Klaus Naumann: Machtasymmetrie und Sicherheitsdilemma. Ein Rückblick auf die Bundeswehr des Kalten Krieges, in: Mittelweg 36, Jg. 14, 6/2005, S. 17.
11) Vgl. Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001; Jehuda Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht, Frankfurt/M. 1967; Detlef Bald: Hiroshima, 6. August 1945. Die nukleare Bedrohung, München 1999; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): 200 Tage und 1 Jahrhundert. Gewalt und Destruktivität im Spiegel des Jahres 1945, Hamburg 1995.
12) Weiterführende Literatur bei Bald: Bundeswehr, S. 21 ff.
13) Hinweis auf das epochale Dokument NSC 68, ausführlich bei Bernd Greiner: Atomtests und amerikanische Militärstrategie. Ein Dokument aus dem Jahre 1947, in: 1999, 1 (1986). S. 120.
14) Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Frankfurt/M. 1967, S. 77.
15) Zitat von Antonius John, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik (Hg.): Nach-Denken. Über Konrad Adenauer und seine Politik, Bonn 1993, S. 145.
16) Konrad Adenauer: »Wir haben es geschaffen«. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1953-1957. Düsseldorf 1990, S. 510.
17) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 28 ff.
18) Vgl. das Dokument bei Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus (Hg.): Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950 und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977.
19) Im Zusammenhang und mit Literaturhinweisen siehe Bald: Hiroshima, S. 121 ff., hier S. 124.
20) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 53; ein Beispiel mit Dokumenten des Milizkonzepts von Schwerin bei Detlef Bald: Miliz als Vorbild?, Baden-Baden 1987, S. 71 ff.
21) Ulrich de Maizière: In der Pflicht. Lebensbericht eines deutschen Soldaten im 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Herford 1989, S. 229.
22) Vgl. Carl-Friedrich von Weizsäcker (Hg.): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971.
23) Jürgen Kocka: 1945. Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern, Heinrich August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt/M. 1979, S. 157.
24) Edwin Czerwick: Demokratisierung und öffentliche Verwaltung in Deutschland. Von Weimar zur Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, 2/2002, S. 183 ff.
25) Vgl. Georg Picht (Hg.): Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr. 3 Folgen, Witten 1966; René König (Hg.): Beiträge zur Militärsoziologie, Sonderheft 12, Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1968.
26) Vgl. Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995; zu Wolf Graf von Baudissin und die Zivilisierung des Militärs auch: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff.; Detlef Bald, Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hg.): Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär, Baden-Baden 1999.
27) Inspekteur Johannes Steinhoff anlässlich des Stapellaufs des Zerstörers Mölders, 13. April 1968.
28) Bernd C. Hesslein (Hg.): Die unbewältigte Vergangenheit der Bundeswehr. Fünf Offiziere zur Krise der Inneren Führung, Reinbek 1977, S. 24.
29) Armin Halle: Vortrag in Tutzing, 19. April 1970, zitiert in Bald, Bundeswehr, S. 69.
30) Befragung von 1969 bei Klaus Reinhardt, Generalstabsausbildung in der Bundeswehr, Bonn, Herford 1977.
31) Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
32) Wolf Graf von Baudissin: Abschiedsvorlesung, 18. Juni 1986, Universität Hamburg, in: Ders., Dagmar Gräfin Baudissin: »…als wären wir nie getrennt gewesen«. Briefe 1941-1947, hrsg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001, S. 267.
33) Wido Mosen: Bundeswehr – Elite der Nation? Determinanten und Funktionen elitärer Selbseinschätzung von Bundeswehrsoldaten, Neuwied, Berlin 1970, S. 329; Oskar Negt: In Erwartung der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer, Carl Nedelmann: Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit, München 1967, S. 210; vgl. Jakob Moneta u.a.: Bundeswehr in der Demokratie. Macht ohne Kontrolle?, Frankfurt/M. 1974, S. XIII (Einleitung von Imanuel Geiss).
34) Wolfram F. Hanrieder: Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, 2. Aufl. Paderborn 1995; Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, München 1992.
35) Vgl. Christian Hacke: Weltmacht wider Willen. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1993; Hans-Peter Schwarz: Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994
36) Das Neue Strategische Konzept des Bündnisses, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 128, 13. Nov. 1991, S. 1039.
37) NATO-Gipfelkonferenz in Rom. Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit, ebenda, S. 1033.
38) Vgl. Jo Angerer, Erich Schmidt-Eenboom (Hg.): Siegermacht NATO. Dachverband der neuen Weltordnung, Berg/Starnberger See 1993.
39) Dokument vom 16. Okt. 1987 bei Caroline Thomas, Randolph Nikutta: Bundeswehr und Grundgesetz. Zur neuen Rolle der militärischen Interventionen in der Außenpolitik, in: Militärpolitik Dokumentation, Jg. 13, Bd. 78/79, 1990, Frankfurt/M. 1991, S. 70 ff.
40) Klaus Naumann, Ansprache in Hamburg, 27. Febr. 1989, in: Mittler-Brief 3/1989, S. 3.
41) Vgl. Dieter Wellershoff (Hg.): Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel, Bonn 1991.
42) Volker Rühe: Betr.: Bundeswehr. Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel, Berlin 1993, S. 165.
43) Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr, Bonn Januar 1992.
44) Bundesministerium der Verteidigung (Hg.): Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr, Berlin 10. Aug. 2004.
45) Johann Adolf Graf von Kielmansegg: Der Krieg ist der Ernstfall, in: Truppenpraxis 3/1991, S. 304 ff.
46) Hartmut Bagger: Anforderungen an den Offizier des Heeres, Bonn 29. Juli 1994.
47) Die folgenden Zitate und weitere Einzelheiten in dem Heft »Bundeswehr – quo vadis« der Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 1997; Detlef Bald: Zwischen Gründungskompromiss und Neotraditionalismus. Militär und Gesellschaft in der Berliner Republik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 24, 1999, S. 99 ff.
48) Arwed Bonnemann, Christine Posner: Die politischen Orientierungen der Studenten an den Universitäten der Bundeswehr im Vergleich zu Studenten an öffentlichen Hochschulen, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 20, 2002, S. 49 f.; Paul Schäfer: Bundeswehr und Rechtsextremismus, Dossier/Beilage Nr. 28, in: Wissenschaft und Frieden, Jg. 16, 1998; zu »hochgradig rechtslastigen« Tendenzen vgl. Elmar Wiesendahl: Rechtsextremismus in der Bundeswehr, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 16, 1998, S. 244.
49) Zitatbelege bei Bald: Bundeswehr, S. 184 ff.
50) Vgl. zusammenfassend Berthold Meyer: Die Dauerkontroverse um die Wehrpflicht – ein Beispiel für Konfliktverwaltung, Frankfurt/M. 2005 (HSFK-Report 11/2005).
51) Vgl. Jürgen Groß: Demokratische Streitkräfte, Baden-Baden 2005; Detlef Bald, Andreas Prüfert (Hg.): Innere Führung. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform, Baden-Baden 2002.
52) Caroline Thomas, Randolf Nikutta: Anything goes. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12. 7, 1994. Ein Kommentar, in: Wissenschaft und Frieden, 3/1994.
53) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 162 ff.; Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000.
54) Vgl. Dieter S. Lutz (Hg.): Deutsche Soldaten weltweit? Blauhelme, Eingreiftruppen, »out of area«- Der Streit um unsere sicherheitspolitische Zukunft, Reinbek 1993, S. 8.
55) Vgl. Dieter S. Lutz, Hans J. Giessmann (Hg.): Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, Baden-Baden 2003.
56) Art III-210, vgl. auch Art I-40.
57) Vgl. Wolfgang Wagner: Für Europa sterben? Die demokratische Legitimität der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Frankfurt/M. 2004.
58) Vgl. Lothar Schröter (Hg.): Europa und Militär. Europäische Friedenspolitik oder Militarisierung der EU? Schkeuditz 2005.
59) FAZ, 30. Jan. 2003, 1. Febr. 2003.
60) Vgl. Wolfgang Schäuble: Soldaten vor die Fußballstadien, in: SZ, 16. Dez. 2005.
61) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 35 und 87 a), Bundesrat, Drucksache 181/04, 5. März 2004.
62) Vgl. Peter Blechschmidt, Annette Ramelsberger: Pläne des Verteidigungsministeriums, in: SZ, 9. Febr. 2006.
63) Zitiert in FR, 22. Dez. 1993.
64) Pflüger: Bundeswehr, S. 110.
Restaurativer Traditionalismus in der Bonner Republik
1) Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, 5. Aufl. Wiesbaden 1955, S. 156.
2) Vgl. Gerhard Ritter: Das Problem des Militarismus in Deutschland, in Historische Zeitschrift, 177/1954, S. 46f.; Manfred Messerschmidt: Das Gesicht des Militarismus in der Zeit des Nationalsozialismus, in Wolfram Wette (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945, Berlin 2005, S. 265 ff.; zur Sozial- und Strukturgeschichte der militaristischen Vergangenheit in der Wehrmacht vgl. Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann (Hg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 349 ff.
3) Hans Herzfeld: Der Militarismus als Problem der Neueren Geschichte, in Schola I, 9/1946, S. 41 ff.
4) Vgl. Detlef Bald, Johannes Klotz, Wolfram Wette: Mythos Bundeswehr. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege in der Bundeswehr, Berlin 2001.
5) Vgl. Gerd Schmückle: Kommiss a.D., Stuttgart 1971.
6) Vgl. meinen Ansatz, wichtige Merkmale des historischen Geschehens zu benennen: Detlef Bald:Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005, München 2005; ders.: Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden 1994, S. 53 ff.; auch: Kämpfe um die Dominanz des Militärischen, in Bald, Klotz, Wette: Mythos Wehrmacht, S. 17 ff.
7) Gespräch mit Wolf Graf von Baudissin, in Axel Eggebrecht (Hg.): Die zornigen alten Männer. Gedanken über Deutschland seit 1945, Reinbek 1979, S. 216. Zum Überblick der Reformpolitik vgl. Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995.
8) Jürgen Kocka: 1945. Neubeginn oder Restauration?, in Carola Stern, Heinrich August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt/M. 1979, S. 157; vgl. zum neuesten Stand der Diskussion Wolfram Wette (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland, Berlin 2005.
9) Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus (Hg.): Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977, Einleitung.
10) Vgl. Anmerkung 6 und 7; zu Wolf Graf von Baudissin und die Zivilisierung des Militärs auch: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff.; Detlef Bald, Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hg.): Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär, Baden-Baden 1999.
11) Vgl. Dietrich Genschel: Wehrreform und Reaktion. Die Vorbereitungen der Inneren Führung 1951-1956, Hamburg 1972, S. 149 ff.
12) BA-MA (Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg) Bw 9/2527-113 Heinz Karst: Bedenken über die innenpolitische Entwicklung der Vorbereitungen für den Aufbau der Streitkräfte, 1. Aug. 1955; der politische Horizont wird in der von Karst verfassten Schrift deutlich: Vom künftigen deutschen Soldaten, Bonn 1955.
13) BA-MA Bw N 717/5 Tagebuch Innere Führung, 24. Aug. und 14. Sept. 1955.
14) Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
15) Wolf Graf von Baudissin. Abschiedsvorlesung, 18. Juni 1986, Universität Hamburg, in: Ders.. Dagmar Gräfin Baudissin: »…als wären wir nie getrennt gewesen«. Briefe 1941-1947, hrsg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001, S. 267.
16) Vgl. Mathias Jopp: Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel des Bildungswesens in der Bundeswehr, Frankfurt/M. 1983; Detlef Bald: Generalstabsausbildung in der Demokratie. Die Führungsakademie der Bundeswehr zwischen Traditionalismus und Reform, Koblenz 1984.
17) Vgl. Detlef Bald: Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982.
18) Vgl. Wido Mosen: Bundeswehr – Elite der Nation? Determinanten und Funktionen elitärer Selbsteinschätzung von Bundeswehrsoldaten, Neuwied, Berlin 1970, S. 329; Oskar Negt: In Erwartung der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer, Carl Nedelmann: Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit, München 1967, S. 210.
19) Klaus Reinhardt: Generalstabsausbildung in der Bundeswehr, Bonn, Herford 1977.
20) Zur Militärreform in der Ära Brandt vgl. Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack, Martin Rink (Hg.): Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr, Freiburg/Br. 2005, S. 341 ff.
21) Heinz Karst: Das Bild vom Soldaten. Versuch eines Umrisses, Boppard 1967, S. 50.
22) IfZ (Institut für Zeitgeschichte München) ED 447/4 H. Karst an Prof. Hausmann, 8. Jan. 1969; Hamburger Morgenpost, 26. April 1969.
23) IfZ ED 437,109 Interview K. von Schubert mit Generalmajor R. von Rosen, 9. Dez. 1982.
24) Text bei Klaus Heßler: Militär, Gehorsam, Meinung, Berlin 1971, S. 115 ff.; leichter zugänglich bei Klaus von Schubert (Hg.): Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Dokumentation 1945-1977, Teil 2, Bonn 1978, S. 447 ff.
25) Vgl. Jakob Moneta u.a.: Bundeswehr in der Demokratie. Macht ohne Kontrolle?, Frankfurt/M. 1974, S. XIII (Imanuel Geiss in der Einleitung).
26) IfZ ED 437/108 Interview K. von Schubert mit U. de Maizière, 1982.
27) IfZ ED 437/114, 33 Wortprotokoll von der Tagung des Bundesministers der Verteidigung mit Hauptleuten (…), 10. Mai 1971.
28) Vgl. die Kritik eines Offiziers: IfZ ED 447/47 Leutnant J. B., Stellungnahme zu den Hauptmanns-Thesen, 1. Mai 1971. Er schreibt: „Schaut man sich die Geschichte der Bundeswehr an, so ist sie die eines verdeckten oder unverdeckten Grabenkampfes zwischen Reformern und Traditionalisten. (…) Diese zwei Denkschulen, die von Anfang an in der Bundeswehr einen kalten Krieg probten, die eine angetreten unter dem Gesichtspunkt militärischer Schlagkraft und Unvereinbarkeit von Militär und Gesellschaft, die andere unter dem der Friedenssicherung durch Abschreckung und der prinzipiellen Vereinbarkeit von Militär und Gesellschaft, bilden sozusagen systemimmanente Krisenherde, solange sich die Bundeswehr in Absprache mit der Gesellschaft nicht für ein Bild entscheidet.“
29) Vgl. Detlef Bald: Bundeswehr und gesellschaftlicher Aufbruch 1968. Die Widerstände des Militärs in Unna gegen die Demokratisierung, in: Westfälische Forschungen, 48/1998, S. 297 ff.
30) Generalmajor von Reichert, in: Wehrkunde, 8/1973, S. 398.
31) IfZ ED 447/4 Genlt. Horst Hildebrandt in Madrid, 27. Mai 1975.
32) Kurt Kister: Innere Führung ohne Überzeugung, in: Franz H.U. Borkenhagen (Hg.): Bundeswehr. Demokratie in oliv? Streitkräfte im Wandel, Berlin 1986, S. 162 f.
33) Heinz Karst: Zustand und Therapie in Geist und Haltung der Bundeswehr, 11. Jan. 1983. Die hier zitierte Fassung datiert von diesem Datum. Karst teilte am 6. April 1983 dem Ministerium, Fü S I, mit, Manfred Wörner habe sein Exemplar früher, im „Herbst 1982“, vor der Ernennung zum Minister erhalten.
34) Heinz Vielain: Bundeswehr in der Hand der SPD, in: Welt am Sonntag, 25. März 1984.
35) Vgl. Dieter Farwick, Gerhard Hubatschek: Die strategische Erpressung – eine sicherheitspolitische Lösung, München 1981.
36) Gerhard Hubatschek: Wertewandel in der Bundeswehr, in: Die Welt, 11. Nov. 1982, S. 7.
37) IfZ ED 437/114-23 W. Graf Baudissin an G. Hubatschek, 21. Febr. 1983.
38) Karst-Studie, S. 14 f.
39) Karst-Studie, S. 49.
40) Karst-Studie, S. 3.
41) Dieter Stockfisch: Das Ethos des Soldaten heute, in Truppenpraxis, 5/1983, S. 329; Dieter Farwick: Die Innenansicht der Bundeswehr, in Criticon, Jan./Febr. 1982.
42) Rolf Elble: Einleitung, in Soldat im Volk, Sept. 1984, S. 4.
43) Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum »Historikerstreit«, München 1988, S. 194 ff.; Detlef Bald, Martin Kutz, Manfred Messerschmidt, Wolfram Wette: Zurück, marsch, marsch!, in Die Zeit, 6. Mai 1994, S. 52.
44) Vgl. Wolfram Wette: Die Bundeswehr im Banne des Vorbildes Wehrmacht, in: Bald, Klotz, Wette: Mythos Wehrmacht, S. 87 ff.
45) IfZ ED 437/114-50 Fü S I 6 an Parl. Staatssekretär, 22. Juni 1983 (Bezug: Bericht von F.W. Steege vom Psychologischen Dienst).
46) Vorbemerkung, Karst-Studie, S. 1.
111) Karst-Studie, S. 4 f.
112) Karst-Studie, S. 8.
49) Karst-Studie, S. 33.
50) Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 982.
51) Vgl. Detlef Bald, Andreas Prüfert (Hg.): Innere Führung. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform, Baden-Baden 2002.
Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor und ist Mitglied der Forschungsgruppe »Demokratisierung von Streitkräften im Kontext europäischer Sicherheit« am Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH).