Editorial

Editorial

von Margitta Matthies

Seit Deutschland seine uneingeschränkte staatliche Souveränität durch die deutsche Einheit zurück erhielt, erleben wir eine Militarisierung der Außenpolitik, von Politikern und Militärs auch mit „neuer Normalität“ bezeichnet. Was aus politischer Sicht darunter zu verstehen ist, geben die vielzitierten Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) an, die Volker Rühe im November 1992 erlassen hat: In den VPR werden die „vitalen Sicherheitsinteressen“ Deutschlands formuliert, hierzu gehört u.a. „die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt…“ ebenso wie die „Einflußnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen und gegründet auf unsere Wirtschaftskraft…“ War die Aufgabe der Bundeswehr in der alten Bundesrepublik auf die Landesverteidigung im NATO-Verbund beschränkt, so wird die veränderte Weltlage dazu benutzt, den Pfad der Landesverteidigung zu verlassen, und die neue Bundeswehr auf weltweite militärische »Krisen-Interventionen« zur Durchsetzung der strategischen Interessen vorzubereiten.

Zugleich soll das Ansehen der Bundeswehr mit dem neuen Ehrenschutzgesetz (§ 109b, Verunglimpfung der Bundeswehr), das demnächst zur Entscheidung im Bundestag ansteht, gefestigt werden (s.a. M. Singe, S. 28). Auf Kosten der freien Meinungsäußerung wollen die Protagonisten einer militärischen Machtpolitik, die Ehre der Soldaten und zugleich die Ehre der Institution Bundeswehr schützen. Dies erinnert an die Einführung des Ehrenschutzparagraphen zur Stützung der Reichswehr, mit dem 1932 Militärkritiker wie Tucholsky und Ossietzky mundtot gemacht werden sollten (s.a. M. Hepp, S. 39).

Heute verfolgt die militärische Führung das Ziel, wieder weltweit kämpfen zu können, wenn auch nicht im Alleingang, wie immer wieder öffentlich betont wird, so doch im Rahmen von Bündnissen und internationalen Organisationen, die dem Einsatz zu einer legitimierenden Rückendeckung verhelfen. Der Öffentlichkeit werden diese Ideen zum Zwecke der Gewöhnung im Rahmen einer »Salamitaktik« näher gebracht. Erst im Rückblick wird richtig klar, wie sich die äußeren Rahmenbedingungen innenpolitisch instrumentalisieren ließen, wie unter den Augen der Öffentlichkeit und doch kaum sichtbar die Grundlagen für eine nach Aufgaben, Organisation und Bewaffnung neue Bundeswehr geschaffen wurde, die mit militärischen Mitteln deutsche Machtpolitik durchsetzen soll (s.a. T. Pflüger, S. 11). Obwohl es den Militärstrategen gelungen ist, jenseits friedenspolitisch orientierter Alternativkonzepte, die »neue militärische Normalität« auf die Tagesordnung zu heben und damit die politische Debatte parteiübergreifend zu bestimmen, werden sie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit (s.a. J. Koch, S. 42) aber auch in Teilen der Bundeswehr mit Legitimations- und Akzeptanzproblemen konfrontiert.

Die Einführung des Ehrenschutzes ist nur ein Schritt, um die Akzeptanz der Bundeswehr in der Gesellschaft wieder zu verankern. Ein anderer ist das Ritual der öffentlichen Gelöbnisse, 1996 sogar in Berlin, um die militaristischen Interessen in Szene zu setzen. Die öffentliche Debatte über mögliche künftige Aufgaben der Bundeswehr, die nunmehr in politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Elementen der Sicherheit gesehen werden, ergänzt die Legitimationssuche der Militärs. In diesem Sinne verkauft sich die Bundeswehr als vermeintliche Allround-Institution gegen jegliche Nöte in der Welt. Auch die Diskussionen um den Erhalt der Wehrpflicht wird gegen den Legitimationsverfall des Militärs eingesetzt und von Teilen der Bundeswehrführung damit begründet, daß sie als Garant für die Demokratieverträglichkeit und die Integration des »Staatsbürgers in Uniform« steht. Um auch der weiblichen Hälfte der Bevölkerung die Legitimation abzuringen, schreibt sich die Bundeswehr nun die Gleichberechtigung auf die Fahnen, indem sie Frauen in ihre Reihen einbeziehen will (s.a. M. Jansen, S. 44).

Auch in Teilen der Bundeswehr wird eine kritische Diskussion über wirtschafts- und machtpolitisch bedingte Kampfeinsätze, die über die Landesverteidigung hinaus gehen, geführt. Für einen Soldaten bleibt es eine persönliche Gewissensfrage, ob er seine ethischen Auffassungen hinsichtlich des Tötens von Menschen über den im Militär eingeübten Automatismus von Befehls- und Gehorsam stellt (s.a. B. Moltmann, S. 24). Um ethische Reflexionen und Gewissensregungen in den Streitkräften zu vermeiden, werden auch in der Bundeswehr Spezial- und Eliteeinheiten aufgestellt, die durch stetes Training auf Befehl und Gehorsam fixiert werden (s.a. R. Seifert, S. 16), mit dem Ziel, daß die effektive Ausführung des militärischen Auftrags den unreflektierten Umgang und eine ethisch neutrale Einstellung zum Töten von Menschen befördert. Trotz allem bleibt aber festzuhalten, daß in Deutschland niemand zum »Mörder« werden muß, es bleibt immer eine individuelle Entscheidung, denn das Recht zur Kriegsdienstverweigerung gilt auch für Soldaten, wenn auch unter erschwerten Bedingungen.

Ihre Margitta Matthies

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von Jürgen Nieth

seit 1969 stellt die FDP ununterbrochen den Außenminister der BR Deutschland. Keine andere (west)deutsche Partei kann in einem Ministeramt auf eine derartige Kontinuität verweisen; und das in einer ausgesprochen bewegten Zeit. Mit Walter Scheel wurde die neue Ostpolitik eingeleitet; mitten in die 18jährige Amtszeit Genschers fielen die »Nachrüstungsdebatte« und der »Partnerwechsel«; kurz vor dem Ende seiner Amtszeit die Implosion des Staatssozialismus in Osteuropa und der Anschluß der DDR an die BRD. Man muß kein Befürworter der liberalen Außenpolitik sein, um ihr für diese Jahre eine erkennbare Linie und Berechenbarkeit zu konzedieren, was sich ja auch darin zeigte, daß die Entspannungspolitik den Regierungswechsel überdauerte.

Vielleicht ist es nur ein Zufall, das Genschers Abgang zusammenfiel mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, dem Zeitpunkt, zu dem das wieder »größere Deutschland« erstmals außenpolitisch – auch gegen die anderen Partner in der EG – Macht demonstrierte und sich durchsetzte (mit fatalen Folgen, wie Horst Grabert auf S. 12ff. feststellt).

Machtpolitisches Denken, im ökonomischen Bereich seit eh und je Handlungsmaxime, droht seitdem auch in der Aussen- und Militärpolitik wieder zur Richtschnur des Handelns zu werden. Von der Mitfinanzierung von Kriegen (Golf 91) über die Entsendung von Sanitätssoldaten (Kampuchea) und »Baubrigaden« (Somalia) bis hin zum militärischen Eingreifen auf dem Balkan (dem „ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr“, der an Parlament und Verfassung vorbeilief, so Reinhard Mutz auf S. 15) erleben wir eine gefährliche Entwicklung.

Dem Trend der Zeit folgend, will die FDP ihr Bekenntnis zur »Machtpolitik« jetzt auch programmatisch festschreiben. „Liberale Außenpolitik ist interessengeleitet und werteorientiert“, heißt es im neuen Programmentwurf. Wie dieses »interessengeleitet« politisch (und militärisch) interpretiert werden muß, verrät eine andere Passage: „Das Gewaltmonopol der Völkergemeinschaft ist das Friedensprinzip der Zukunft. (…) Wer es ablehnt, Frieden und Freiheit zu sichern – notfalls auch mit militärischen Mitteln –, läßt die Menschen im Stich.“ Klartext: »Das Gewaltmonopol« nicht nur als »ein« sondern als »das« Friedensprinzip schlechthin.

Und dabei bleibt offen, welche Rolle man selbst bei der (militärischen) Durchsetzung des »Gewaltmonopols« zu spielen gedenkt.

Die Debatte um die Osterweiterung der NATO macht schließlich sichtbar, wie sehr ein schlüssiges außenpolitisches Konzept fehlt. Nicht nur, das oftmals Zweifel aufkommen, wer denn für die Außenpolitik verantwortlich ist, Kinkel oder Rühe oder der Kanzler unisono. Laut Programm möchten die Liberalen eine „zügige Aufnahme von mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU und NATO“. Wie man aber gleichzeitig das dagegen opponierende Rußland in eine „europäische Sicherheitsarchitektur“ einbinden kann, das bleibt im Nebel (s. a. Berthold Meyer, S. 8).

Was dieses »interessengeleitet« ökonomisch bedeutet, hat Außenminister Kinkel mit den Worten von der Außenpolitik als „Türöffner für die Wirtschaft“ angedeutet. Zwar registriert der FDP Programmentwurf, daß „Hunger, Armut und Überbevölkerung (…) der Boden für Gewalt, Machtmißbrauch, totalitäre Ideologien (und) Fundamentalismus“ sind. Wenn aber gleichzeitig FDP-Politiker vom notwendigen „weltweiten Freihandel“ sprechen, wenn es in der Praxis nur um neue Märkte geht und nicht auch um eine globale ökonomische Verantwortung, dann wird einer Politik Vorschub geleistet, die in der 2/3-Welt die Verelendung forciert (s. a. Gottfried Wellmer, S. 24).

Nach 1968 antwortete die sozial-liberale Koalition auf die außenpolitischen Herausforderungen mit der »neuen Ostpolitik«, mit einer Anerkennung der Nachkriegsrealitäten und einem Verständnis von Sicherheit als »gemeinsamer Sicherheit«. Nach den viel einschneidenderen politischen Veränderungen am Ende der achtziger Jahre ist von einer vergleichsweise »visionären« Politik nichts zu spüren. Dabei ist die Situation nach der Implosion des Ostblocks eigentlich zwingend. Es gilt, den Realitäten Rechnung zu tragen: die Blockkonfrontation existiert nicht mehr, eine militärische Bedrohung – so sie denn je real gewesen sein sollte – auch nicht. Eine einmalige Chance um die Möglichkeiten auszuloten für einen Weg heraus aus den überkommenen Militärstrukturen, weg von der Machtpolitik und vom konfrontativen Denken hin zu einer Zivilisierung der Außenpolitik (Helmut Hugler, S. 28).

Die Demokratisierung der Außenpolitik durch Mitwirkung auch der politischen Kräfte, die nicht an den traditionellen Schalthebeln der Macht sitzen, müßte eigentlich auch zu den Maximen liberaler Politik gehören.

Die ablehnende Position der Bundesregierung gegenüber der von kirchlichen und Friedensgruppen getragenen Initiative für einen zivilen Friedensdienst in Bosnien und das, was uns heute von liberaler Seite »programmatisch« angeboten wird, stimmt nicht gerade optimistisch.

Ihr Jürgen Nieth

Ende der Nachkriegszeit

Ende der Nachkriegszeit

von Johannes M. Becker

Unabhängig von der Demokratie-Posse um den Jäger 90 und um die mit viel Medienwirbel verkaufte Beschneidung des Einzelplans 14 um gerade einmal 2,5 Prozent geht die Diskussion um die Handlungsoptionen der Bundeswehr weiter. Die Kritiker des derzeit praktizierten Vollzugs der deutschen Einigung im Inland und – noch eindringlicher – im Ausland haben es vorausgesagt: Nun wird von den gesamtdeutschen Politikmachern auch in der Militär- und Sicherheitspolitik das Ende der Nachkriegszeit gefordert.

Der konservative Bonner Professor Jacobsen, Leiter der „Unabhängigen Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr“, gab in seinem Bericht zum Jahresanfang bereits die Richtung an (FAZ vom 17.01.92).

Die FAZ ihrerseits bekräftigte die Auffassung der Jacobsen-Kommission, „daß Deutschland in seinen Bündnissen und in den Vereinten Nationen politisch und gegebenenfalls auch militärisch handlungsfähig bleiben müsse. Das Grundgesetz lege Deutschland hier keine Beschränkungen auf.“ Und weiter heißt es mit feiner Ironie: „Daß man in Bonn über Verfassungsänderungen streitet, hängt damit zusammen, daß die Beschränkungen deutscher Außenpolitik aus vier Nachkriegsjahrzehnten in den Köpfen der Politiker gewissermaßen Verfassungsrang bekamen.“ Die Bundesregierung und die konservativen Parteien werden gelobt; sie „haben sich nach schmerzhaften Lektionen aus dem stillen Winkel westdeutscher Provinz verabschiedet“.

Die „schmerzhaften Lektionen“ meinen die Schelte von seiten der US-Regierung und anderer westlicher Verbündeter für die Nichtteilnahme am als so glorreich verkauften letzten Golf-Krieg. Und provinziell verhält man sich, wenn man keine Truppen in den Krieg schickt. Die Leipziger Kommandeurstagung der Bundeswehr hat hier jüngst klare Worte gefunden. Von einem neuen Selbstbewußtsein der Soldaten war da fordernd die Rede, und daß man die Soldaten kriegsnaher ausbilden müsse.

Es reicht großen Teilen der Herrschenden nicht mehr aus, daß sich das reiche Deutschland auf andere als militärische Demonstrationen seines weltpolitischen Einflusses stützt. Die eigentlich geniale Lösung à la Kohl wird nicht mehr gewürdigt: das Kriegführen der anderen zu finanzieren – unter anderem geschmackvoll durch die Schenkung von Rüstungsgut der gerade eben mit genau den nichtkriegerischen westdeutschen Hegemonie-Mitteln zur Strecke gebrachten DDR.

Bei alledem wird hier leichtfertig vergessen, daß dieser letzte Golf-Krieg vor seinem Beginn durchaus als nicht völlig risikolos gelten konnte:

  • militärisch nicht, da hier bekanntlich namhafte Großunternehmen bis hin zum High-Tech-Konzern Daimler-Benz die Hände bei der Verbesserung u.a. der Scud-Rakete im Spiel hatten;
  • noch weniger ökologisch, da weiß man bis heute nicht recht, wem man glauben soll – den Beschwichtigern, die sagen, es sei noch einmal gut gegangen, oder den (zu befürchten: realistischeren) Ökologisten, die sagen, die Spätschäden seien unausweichlich;

Abgesehen davon hat die Kohlsche Variante immerhin der Friedensbewegung den Schneid genommen. Die Tatsache, daß die Bundeswehr nicht an den Kampfhandlungen in Irak und Kuweit beteiligt war, ist wesentlich verantwortlich dafür, daß sich heute auf Deutschlands Straßen fast nichts regt gegen den grausamen Krieg in Jugoslawien. Walter Jens' Schelte gegen die Friedensbewegung geschieht völlig zu Recht.

Zurück zur militärischen Handlungsfähigkeit. Was reitet die FAZ bei ihrem Kurs? Und warum pochen namhafte Teile der deutschen classe politique darauf, die vier Nachkriegsjahrzehnte hic et nunc enden zu lassen? Warum wird heute akzentuiert, was Helmut Schmidt als sozialdemokratischer Kanzler bereits in den 70er Jahren mit seiner Rede vom ökonomischen Riesen und politischen Zwerg und der unakzeptablen Schere zwischen beiden, wenngleich mehr als machtpolitische Utopie denn als konkrete Tagesaufgabe, anzumerken pflegte?

Mir fallen vier Gründe ein, die nicht unbedingt voneinander zu trennen sind.

  • Zum ersten will die herrschende Klasse die deutsche Vereinigung nutzen, um mit der Teilung, mit Besatzungsmächten und Rüstungsbeschränkungen, mit der verqueren Hauptstadtfrage etc. das Stigma Auschwitz abzulegen. Der deutsche Hegemoniedrang, der zwei grausame Kriege provozierte, soll vergessen gemacht werden. Dadurch wird nicht zuletzt das internationale Investitionsklima weiter verbessert. Deutschland, so der fromme Bonner Wunsch, fängt am 3. Oktober 1990 bei Null an. Warum von diesem Stigma befreit nicht mit dem militärischen Attributen einer ökonomischen Großmacht? lautet die logische Konsequenz. Was der Historikerstreit wohl doch nicht in seiner Gänze erreichte, wird nun auf's Neue angegangen.
  • Zum zweiten ist da der weltweite Abrüstungsdruck, der zwar bislang lediglich zu kleinen Makulaturen geführt hat, dessen Eigendynamik jedoch, gewinnen die eh unsicheren Kantonisten wie Dänemark, die Niederlande oder andere Staaten, gewinnen auch namhafte ausländische Industriekreise Spaß an einer grundlegenden Umleitung der Staatsressourcen und Spaß an der Rüstungskonversion, für die neuen bundesdeutschen Rüstungsgiganten bedrohlich werden kann. Man betrachte nur einmal den politischen Eiertanz des Gespanns Kohl/Stoltenberg-Rühe/Riesenhuber um das gigantomanische Investitionsgeschäft Jäger 90 oder um die bemannte/befraute Raumfahrt: hier handelt es sich um Lehrbeispiele von Lobbypolitik.
  • Drittens ist da die Option »Euro 93« zu berücksichtigen. Das politische Zusammenwachsen Europas nimmt Formen an. Sollte eine konservative Bundesregierung und ihr autorisierter Medienvertreter FAZ da Signale aus Paris, die französischen Atomwaffen könnten unter gewissen Umständen auch dem Schutz des neuen Europa dienen, mit Ignoranz begegnen. Schließlich ist auch der Wunsch der USA, sich aus Europa zurückzuziehen und die Rüstungslasten auf europäische Geldbeutel abzuwälzen, um ihrer neuen Rolle als unumstrittener Weltpolizist genügen zu können, nicht neu. Der jüngste Beschluß zum Aufbau eines „europäischen Korps“ mit deutsch-französischem Kern – eingeschlossen seine operativen Potenzen – bedeutet eine andere Qualität als seinerzeit der politische Versuchsballon deutsch-französische Brigade.
  • Schließlich, das wohl dringlichste politische Problem: die Akzeptanz der Bundeswehr ist an einem neuen Tiefpunkt angelangt. Nach den Erschütterungen der Phase der Friedensbewegung und des Aufstiegs der GRÜNEN Anfang der 80er Jahre hat die Auflösung des Feindbildes Sowjetunion/Sozialismus die Erosionen unübersehbar gemacht: nur noch zehn Prozent der deutschen Bevölkerung, so namhafte Forscher von der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, akzeptierten die Armee in ihrer heutigen Gestalt. Die Akzeptanz der Streitkräfte hat im vergangenen Jahrzehnt um über 50 Prozent abgenommen; nicht zuletzt die eskalierenden Zahlen der Wehrdienstverweigerer (1991 über 150.000) dokumentieren dies.

„Bundeswehr ohne Auftrag“, wie es Ex-General Bastian im »Freitag« (5/92) formulierte, und das Ende der Nachkriegszeit lauten also die beiden kardinalen sicherheitspolitischen Problemfelder.

Das Bonner/Frankfurter Argument zu ihrer Lösung lautet: Verantwortung übernehmen! Die neugewonnene Identität als endlich vereintes Volk nicht weiter selbst beschneiden oder beschneiden lassen um einen wesentlichen Ausweis nationaler Souveränität – eben die weltweite militärische Handlungsfähigkeit.

Die Stimmung in der Bevölkerung ist, glaubt man dem Allensbacher Barometer vom Jahresbeginn (FAZ vom 15.1.92), nicht schlecht derzeit: Auf das Schmidtsche Amputationssyndrom angesprochen, erklärten sich 45 Prozent der westdeutschen Bevölkerung im Dezember 1991, daß „Deutschland auch eine Führungsrolle in Europa übernehmen solle“ – im Oktober 1990 hatte dieser Wert lediglich bei 30 Prozent gelegen. Die ostdeutsche Bevölkerung war im dem selben Zeitraum in ihrer Befürwortung nur von 28 auf 35 Prozent angestiegen; entweder sie plagt sich noch mit anderen Problemen herum, oder ihre großdeutsche Versuchung ist doch nicht so groß, wie es der terminus technicus »Hoyerswerda« vorschnell nahelegte. (Der Kanzler hätte die Allensbacher Frage übrigens anders formuliert: er hätte vom Erwartungsdruck der Weltöffentlichkeit und von der unausweichlichen Übernahme von Verantwortung gesprochen, nachdem die Welt Deutschland die Vereinigung »geschenkt« habe.)

Da sich aber die deutschen Jungmänner durch solche Argumente und Kalküle vermutlich nicht dazu bringen werden lassen, ihre Verweigerungsanträge zurückzuziehen, wird zum wiederholten Male der Testballon Berufs-/Freiwilligenarmee steigen gelassen. Durch die Ausschaltung der Allgemeinen Wehrpflicht, der zu Beginn des Jahrhunderts schon Jean Jaurès einen demokratisierenden Charakter zusprach, spekuliert man auf die Eliminierung von kritischen Stimmen der von möglichen Kriegseinsätzen Betroffenen. Für Zeit- und Berufssoldaten wäre derartiges halt deren »Job«! Und den zu hinterfragen, liegt nach dem geleisteten Eid nicht auf der Tagesordnung, wie nicht zuletzt der aktuelle Umgang von seiten der Hardthöhe mit kritischen Offizieren zeigt. In der Tat ließe sich mit einer derartigen Armee der militärpolitische Krähwinkel leichter verlassen.

Der eskalierende Balkan-Konflikt gibt der Bonner politischen Klasse nun erneut und ernsthafter Anlaß, die Tiefe des »Wehrwillens« in der gesamtdeutschen Bevölkerung zu testen. Die Debatte ist selbst für die/den eingeweihte/n BeobachterIn unübersichtlich – wie mag's da erst im Hirn des »normalen« Wählers spuken? Was aber unmittelbar zur Durchleuchtung der Debatte beitragen mag: es ist weithin keine soziale Bewegung auszumachen, die sich über wohlklingende Appelle an die Bestimmungen unseres Grundgesetzes hinaus Gedanken macht zum ersten über die Genese des jugoslawischen Konfliktes (und über seine Profiteure) und zum zweiten über andere als militärische Formen der Konfliktregelung auf dem Balkan. Wobei doch das Beispiel Irak-Kuwait viele Menschen gelehrt haben müßte, daß militärische Gewalt, selbst von der UNO abgesegnet, hierbei höchst ungeeignet ist.

Dr. habil. Johannes M. Becker ist Privatdozent und Friedensforscher an der Philipps-Universität Marburg und Gastdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Sind Militär und Gesellschaft noch vereinbar?

Sind Militär und Gesellschaft noch vereinbar?

Die Verwundbarkeit entwickelter Industriegesellschaften als sicherheitspolitische Herausforderung

von Gerda Zellentin

Hochentwickelte Industriegesellschaften produzieren die Gefährdung ihrer eigenen Existenz selber. Sowohl im routinemäßigen Produktionsbetrieb als auch bei unvermeidlichen Unfällen generalisieren und normalisieren sie Zerstörungsgewalten, die bislang nur in Kriegen freigesetzt wurden.1

Diese These wird erhärtet durch eine Reihe empirischer Bestandsaufnahmen, die Toxikologen, Radiologen, Genforscher und Informatiker in beiden deutschen Staaten2 in den letzten Jahren vorgelegt haben.

Sie zeigen die ubiquitäre Verwendung lebensgefährdender Stoffe „in Wissenschaft und Technik, Industrie und Landwirtschaft, Gewerbe und Haushalt (auf), ihre lokale, überregionale und globale Verbreitung in Form von Produkten, Verunreinigungen und Produktionsabfällen … sowie die dabei ablaufenden … Umwandlungen dieser Substanzen im Stoffwechsel lebender Organismen im Wasser, im Boden und in der Luft in vielfältige, nicht selten noch gefährlichere Folgeprodukte…“3

In diesen Untersuchungen wird deutlich, daß die Freisetzung anthropogener toxischer Stoffe in die Biosphäre Gefahren für das Überleben auf dieser Erde erzeugt, die heute, wie Umfragen zeigen, auch von der Bevölkerung als wahrscheinlicher und berechenbarer veranschlagt werden als die nach wie vor offiziell propagierte militärische „Bedrohung aus dem Osten.“

Diese Gefahren entstehen nicht in erster Linie bei Unfällen; sie sind vielmehr Risiken des normalen Betriebes der Industrie, wo zum Zwecke der Effizienzmaximierung in zunehmendem Maße hochgefährliche A-, B- und C-Stoffe verarbeitet werden.4

Risiken sind auch in die Regelmechanismen entwickelter Industriegesellschaften eingebaut, in die hochkomplexen (zivilen und militärischen) Kommunikationsnetze, Steuerungs- und Kontrollorgane. Die Computerisierung und Automatisierung von Wirtschaft und Verwaltung mit Hilfe neuer Techniken erhöht deren Anfälligkeit für systemwidrige Fremdeinwirkungen. Ein längerer Stromausfall kann ebenso wie ein Hacker-Einbruch in entsprechende Programme zum vollständigen Kollaps gesellschaftlich notwendiger Lenkungsvorgänge führen. Wird auf diese Weise die Versorgung und Entsorgung in Industriegesellschaften lahmgelegt, ist vor allem die städtische Bevölkerung (jedoch nicht nur diese) Kälte und Entbehrung, Verschmutzung und Seuchen ausgesetzt, ohne daß sie sich – wegen fehlender Ersatzverfahren – durch Selbsthilfe aus ihrer Zwangslage befreien könnte.

Die industriegesellschaftliche Arbeitsteilung ist durch die neuen Techniken quasi entlokalisiert, somit dem Zugriff der Bürger entzogen und durch unvermittelte Kooperation schwerlich wiederherzustellen.

Hat bereits ein bloßer Stromausfall kriegsähnliche Folgen, wie G. Knies anschaulich darstellt5, so hätte eine gewaltsame Freisetzung radioaktiver oder chemischer Stoffe Massenvernichtungswirkung. In industriellen Ballungsgebieten käme es zu weiträumigen Vergiftungen, deren Ausmaß wegen der unbekannten Synergien mit anderen Stoffen und klimatischen Faktoren nicht abzuschätzen ist.

Angesichts dieser industriellen Produktion gesellschaftlicher Selbstgefährdung stellt sich die Frage, welche Funktion Militär bzw. militärische Waffengewalt beim Schutz hochverletzlicher Industriegesellschaften haben könnte. Ist das Ziel militärischer Verteidigung, nämlich die Unverletzbarkeit eines Gemeinwesens herzustellen, unter diesen Bedingungen überhaupt zu erreichen?

Evolutionstheoretisch begründete Unvereinbarkeit von Militär und Industriegesellschaft

Ein Rückblick auf die sozialwissenschaftliche Literatur der letzten 150 Jahre zeigt, daß das Verhältnis zwischen militärischer Gewalt und industriellem Wandel bzw. zwischen Industriegesellschaft und Militär bereits in den evolutionstheoretischen Arbeiten von Henri Saint Simon, Auguste Comte, Herbert Spencer, aber auch von Karl Marx und Friedrich Engels sowie von Joseph Schumpeter als tendenziell unvereinbar dargestellt wird. Sie kritisieren die fortschrittshemmende Rolle des bewaffneten Adels ihrer Zeit und verfechten eine gewaltlose Konfliktregelung als die einzig mögliche, mit bürgerlicher Emanzipation und Industrialisierung vereinbare Form der Verteidigung. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, daß militärische Gewalt aus strukturellen Gründen weder zur Expansion und Aneignung fremder Besitztümer noch zur Erhaltung entwickelter Industriegesellschaften geeignet sei.6 Wegweisend für diese Argumentation sind die Thesen Saint Simons zur gesellschaftlichen Evolution. Sie vollzieht sich, seiner Meinung nach, dergestalt, daß die leistungsorientierte, produktive Klasse (der Industriellen, Wissenschaftler, Banker und Arbeiter) an gesellschaftlicher Bedeutung zunimmt, während die Rolle der unproduktiven privilegierten „parasitären“ Adelskaste, den sozialen Wandel aufhaltend, an gesellschaftlicher Relevanz einbüßt. Dem aristokratischen Anspruch auf das bewaffnete Gewaltmonopol des Staates stellt Saint Simon den sukzessiven Funktionsverlust des Militärischen entgegen. Die Gesellschaft der Zukunft sah er bei groß angelegter Industrialisierung unter wissenschaftlicher Leitung zu materieller Prosperität gelangen, die Krieg und Militär obsolet machen würde.

Die evolutionäre Ablösung militärischer durch „industrielle Tätigkeit“ in drei Stadien gesellschaftlichen Wandels propagiert im Anschluß an St. Simon auch A. Comte. Er billigt dem Militär zu Beginn der Industrialisierung noch zeitweilige gesellschaftliche Funktionen der Verbreitung von „Regelmäßigkeit und Disziplin“7 zu. Im letzten wissenschaftlich-industriellen Stadium des gesellschaftlichen Fortschritts allerdings – das er schon zu seiner Zeit angebrochen sieht – entwickelt sich, nach Comte, eine produktivitätshemmende „Inkompatibilität“ zwischen industrieller Gesellschaft und Militär, die erst durch dessen Funktionsentleerung aufgehoben werden könne. Auch in H. Spencers Evolutionstheorie erscheinen kriegerische, zwangsgeregelte Gesellschaften auf einer Stufe geringer Komplexität. Die strukturell hochdifferenzierte Industriegesellschaft dagegen regelt ihre Güteraneignung durch industrielle Arbeit, Vertragsfreiheit und Warenaustausch, die in kriegerischen Auseinandersetzungen nur gestört werden können.

Bei Marx und Engels ist der Krieg eine Krankheit des Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase; die Inkompatibilität zwischen Militär und Gesellschaft entwickelt sich im Endstadium des historisch-materialistischen Übergangs zum Kommunismus.

Hinter allen diesen Unvereinbarkeitsthesen steht die politische Absicht, den Adel mit seiner Verbindung zu Militär und Krieg als fortschrittshemmend zu denunzieren. Seine unzeitgemäßen Werte – Hierarchie, Ehre, Absolutismus und Verschwendung – werden den nur unter friedlichen Bedingungen realisierbaren, der industriellen Funktionsspezialisierung adäquaten bürgerlichen Werte – Gleichheit, Gewinnmaximierung, Parlamentarismus, Sparsamkeit und Individualismus gegenübergestellt.8

Die bleibende Bedeutung der Inkompatibilitätsthesen liegt sowohl in ihrer „richtigen“, sich heute erfüllenden Vorhersage als auch und vor allem in ihrer politischen Handhabung.

Indem die Gesellschaftstheoretiker Militarisierung und Modernisierung als tendenziell unvereinbar erklärten, trugen sie dazu bei, daß die Streitkräfte als starke Bastion aristokratischer Privilegien einem dauerhaften Rechtfertigungszwang ausgesetzt wurden. Die militärischen Funktionen wie z.B. die Aneignung fremder Güter oder die Verhaltensbeeinflussung anderer Staaten wurden in einem gesamtgesellschaftlichen-ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkül verglichen mit den billigeren zivilen Mitteln zum gleichen Zweck. Die fraglose Verfügung über das Gewaltmonopol war damit aufgehoben. Dazu trug außerdem die Entstehung der Massenheere bei. Die für ihre Mobilisierung erforderliche „breite soziale Übereinstimmung über Beginn, Stoßrichtung und Regulierung der potentiellen Folgen von militärischen Aktionen konnte allenfalls noch auf der Basis sich als rein defensiv deklarierender Ideologien erfolgen.“9

Ähnlich wie damals geht es auch heute wieder darum, die evolutionäre Obsoleszens des Militärs sinnfällig zu machen. Die Mittel dazu könnten die gleichen sein: Eine Kosten-Nutzen-Analyse der Verteidigung verwundbarerer Industriegesellschaften, verbunden mit einer dezidierten Enthüllung der "parasitären" Kräfte, die am Militär profitieren.

Der Argumentationszusammenhang wäre allerdings unvollständig dargestellt, ohne die sogenannte Kompatibilitätsthese, die auf der Gegenseite, ausgehend von der Realität, ein Ergänzungsverhältnis zwischen Industriegellschaft und Militär postuliert. Adam Smith, Lorenz von Stein, Werner Sombart und Max Weber legen dar, daß Funktion und Legitimation des Militärs sich im Verlaufe der Industrialisierung und Modernisierung wandeln.

In der Anfangsphase industriegesellschaftlicher Entwicklung wird dem Militär „ein hohes Maß an Funktionalität, Produktivität und Kompatibilität zuerkannt“.10 Industrie und Verwaltung werden nach militärischen Normen und Wertvorstellungen wie Disziplin, Opferbereitschaft, Subordination organisiert, die der Integration des Militärs ebenso dienten wie der der Industriearbeiterschaft. Das Heer als „Mutterschoß der Disziplin überhaupt … die militärische Disziplin … das ideale Muster für den modernen kapitalistischen Werkstattbetrieb …“ wirken allerdings weit über die industrielle Anfangsphase hinaus. Nach Weber geht das „Umsichgreifen der Disziplinierung als eine universelle Erscheinung unaufhaltsam vor sich.“11

Militärische Disziplin wird somit zur Voraussetzung und Bestandsbedingung industrieller Arbeit und Organisation. Dementsprechend ist die Zunahme der Arbeitsproduktivität auch keineswegs ein Zeichen für die Obsoleszens des Militärs. Im Gegenteil: Die Vermehrung der Truppen entspricht der Vermehrung des Kapitals. „Die Größe der Macht des Staates“ hängt von der Heeresgröße ab.12

Trotz eines möglichen anderen Anscheins laufen diese und andere Thesen im Zusammenhang mit der „Rationalisierung“ (Weber) der Gesellschaft bzw. mit dem spätkapitalistischen „Prinzip der Verständigung“ (Sombart) – zu Ende gedacht – ebenfalls auf eine Unvereinbarkeit von Militär und Industriegesellschaft hinaus. Indem die Industrialisierung auch Waffentechnik und Kriegführung erfasst, totalisiert sich die bewaffnete Auseinandersetzung; Krieg wird gegen die Gesellschaft insgesamt als Basis militärischen Potentials geführt.13 Unter den Bedingungen der modernen „Risikogesellschaft“ (Beck) globalisieren sich die Kriegsfolgen zusätzlich: Jeder militärische Angriff hat verheerende Massenvernichtungswirkungen, die durch die Bewegungen in der Biosphäre global verbreitet werden und den Aggressor möglicherweise noch stärker treffen als sein Opfer.

Diese absehbaren Konsequenzen militärischer Modernisierung sprechen wiederum für die Inkompatibilität. Da sie die besonders für Amtsträger schwer nachzuvollziehende Vorstellung „Staat ohne Militär“ beinhaltet, wird sie umgangen mit dem Hinweis auf eine gesellschaftliche Funktionsveränderung des Militärs.

Eine zeitgemäße Theorie des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft könnte sich auf beide vorgestellten Ansätze stützen: Im Rahmen eines Phasenmodells industriegesellschaftlichen Wandels ließe sich die Verminderung der gewaltsamen Aktivitäten bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Funktionserweiterung der Streitkräfte untersuchen. In diesem Modell würde die Funktion der Güteraneignung und Bedrohung abgelöst von der militärischen Verteidigung des status quo; in der Risikogesellschaft schließlich hätte das Militär hauptsächlich Ordnungs-, Integrations- und Symbolfunktionen, die sich auf die Autonomie des Staates im internationalen System (weniger auf dessen militärische Sicherheit) bezögen.

Industriegesellschaftliche Verwundbarkeit und militärische Verteidigung

Die militärische Funktionalität der Streitkräfte ist im Zuge der wissenschaftlich-technischen Modernisierung der letzten Jahrzehnte in doppelter Hinsicht drastisch gesunken:

  • wegen der Zerstörungsgewalt moderner Waffen, die ihren Einsatz verbietet und
  • wegen der jegliche militärische Einwirkung potenzierenden lebensgefährlichen Industriestoffe und -prozesse. Diese würden, „gezündet“ durch konventionelle Waffen, eine Vernichtungswirkung entfalten, die als „Äquivalent“ zur »mutual assured destruction« (Elmar Schmähling) mit Atomwaffen gelten könnte.

Entspricht diese Beschreibung der Wirklichkeit, dann ist in verwundbaren Industriegesellschaften nur noch eine „vernichtende (militärische) Verteidigung“14 möglich; streng genommen ist jegliche Waffeneinwirkung – ob offensiv oder nach alternativer Konzeption „strukturell angriffsunfähig“ – kontraproduktiv geworden. In synergetischer Verbindung mit den gefährlichen Industriestoffen führt der Kollateralschaden zur Massenvernichtung, die sich jeglicher Berechenbarkeit entzieht. Die NATO hat sich 1983 in Montebello „aus humanen Gründen“ prinzipiell gegen die Unberechenbarkeit und für die örtliche Begrenzbarkeit (d.h. größtmögliche Zielgenauigkeit) von (Atom-) Waffen ausgesprochen. Diese Intention des Beschlusses ginge ohne die Berücksichtigung des industriegesellschaftlichen Risikopotentials verloren.15

Da in den Industriegesellschaften in West und Ost ein ungefähres Gleichgewicht an A-, B- und C- „Minen“ vorhanden ist, könnten die entsprechenden militärischen Waffen vollständig abgerüstet werden. Die Abschreckung bleibt bestehen, weil –- wie auch dem entsprechenden Gutachten für das Töpfer-Ministerium zu entnehmen ist16 – die gefährlichen Industrieanlagen mit den bisher bekannten militärischen Waffen nicht wirksam verteidigt bzw. geschützt werden können. Allein der Versuch einer militärischen Härtung gefährlicher Industrieanlagen müsste eine umfassende Militarisierung der Gesellschaft herbeiführen. Damit wird die Inkompatibilitäts-Theorie um ein neues Argument bereichert: Nicht allein die Aneignung von Gütern und Territorien mit militärischen Mitteln ist im Vergleich zur zivilen Beschaffung zu kostspielig, auch die Verteidigung, ja selbst der Schutz der gefährlichen Anlagen würde den Wohlfahrtseffekt der industriellen Produktion letztlich aufheben. Außerdem müßte selbst die stärkste militärische Sicherung gegen Terroristen, die von innen operieren, unwirksam bleiben. Strategisch gesehen dürfte diese „wechselseitig gesicherte Zerstörung“ beruhend auf einem Mix von konventionellen Waffen und zivilen A-, B- und C-Stoffen ähnliche Auswirkungen haben wie die rein militärische. Wie sich in den 60er und 70er Jahren zeigte, ist diese Konstellation günstig für Entspannung und die Annäherung der (militär) strategischen Konzeptionen beider Seiten. Da jegliche Gefechtsführung in industriell verwundbaren Gebieten zur tödlichen Gefahr für alle Lebewesen wird, ist als Überlebensstrategie nur der „planmäßige Verzicht auf Landesverteidigung“17 möglich. Als Prinzip der »Offenen Stadt« ist er bereits in der Haager Landkriegsordnung verankert. „Das Verbot der Beschießung militärisch nicht verteidigter Städte“ schützte im Zweiten Weltkrieg u.a. die Städte Rom, Brüssel, Konstanz und Bologna vor feindlicher Zerstörung. Die Tschechoslowakei verzichtet 1938 gänzlich auf die Landesverteidigung, um den absehbaren Schäden der militärischen Auseinandersetzung zu entgehen.18

Hat der Krieg als Mittel der Politik endgültig jeden Sinn verloren, ist die Sicherheit entwickelter Industriegesellschaften nur durch nichtmilitärische Verteidigung zu wahren. Ihre vornehmste Aufgabe bestünde darin, Gesellschaft und Industrie weniger verletzbar zu machen und in der Übergangsphase die allseitige Verwundbarkeit zum Anlaß für internationale Kooperation und Gemeinsame Sicherheit zu nehmen.

Ansätze zur umfassenden Sicherheit vor Kriegen und „vernichtender Verteidigung“

Gilt die Überlebensfähigkeit der Bevölkerung als oberster Wert der Sicherheitspolitik, so müssen unter den geschilderten Bedingungen struktureller Kriegsunfähigkeit die gewaltförmigen Schutzfunktionen von Militär und Rüstung durch funktionale zivile Äquivalente ersetzt werden.

Eine zivilisationsverträgliche Verteidigung hätte sich auf umfassende politische, wirtschaftliche und ökologische Sicherheitsvorkehrungen zu stützen, ibs. auf Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, Vertrauensbildung und Entspannung sowie auf Kooperationsstrukturen als Pfeiler einer künftigen europäischen Friedensordnung. Wirtschaftliche Sicherheit schützt vor politisch motivierten Eingriffen in den Handelsaustausch, ökologische Sicherheit vor Klimakatastrophen, Umweltkriminalität etc. Hier liegen große Tätigkeitsfelder, die ebenso viele wirtschaftliche Interessen und Arbeitskräfte absorbieren könnten wie die Rüstungsindustrie.

Während dieses Entmilitarisierungsprozesses bleibt die gegenseitige Abschreckung durch die verletzlichen Industrieanlagen zunächst bestehen. Der Abbau des zivilen Massenvernichtungspotentials bedarf einer ökologischen Umgestaltung der Wirtschaft, bei der die gefährlichen Stoffe und Energieträger durch sozial- und umweltverträgliche ersetzt werden. Die west-östliche Kooperation in joint ventures könnte diesen Umbau durch gemeinsame Verifikation in den gefährlichen Anlagen beschleunigen. Bisher allerdings stehen die Zeichen der Zusammenarbeit weiterhin auf quantitativem Wachstum: die mit westlicher Hilfe vorangetriebene Nuklearisierung und Chemisierung der sowjetischen Industrie dient nicht der von M. Gorbatschow propagierten umfassenden Sicherheit; die Verletzlichkeit der Industriegesellschaften in Europa kann dadurch nur potenziert werden.

In beiden deutschen Staaten wurde vorgeschlagen, Sicherheitspolitik und Militärsysteme einer Sozial- und Umweltverträglichkeitsanalyse bzw. einer Technikfolgenabschätzung zu unterziehen.19 Derartige Risikoanalysen erstrecken sich auf die zu erwartenden Folgen, die z.B. ein Waffensystem bei seiner Produktion, Dislozierung, Erprobung und Einsetzung auf Gesellschaft und Umwelt haben könnte. Unter Beteiligung betroffener Bürger werden Militärinteressen mit den Werten der ökologischen, sozialen und verfassungsmäßigen Ordnung in Einklang gebracht; der Verteidigungsauftrag wird also nicht mehr aufgrund militärischer Imperative gerechtfertigt, sondern mit ökologischen Notwendigkeiten abgestimmt.

Angesichts der Widerstände, die in der Bundesrepublik gegen die Implementierung der EG-Richtlinie über eine Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen, ist es fraglich, ob unverträgliche Rüstungen und militärische Praktiken aufgrund derartiger Analysen beeinflusst werden könnten. Zumindest aber könnten sie dazu beitragen, daß ein neues Denken über die Sicherheit verletzbarer Gesellschaften publik gemacht würde.

In einem ökologisch aufgeklärten Verhältnis zur Sicherheit könnte auch das Militär mit neuen Aufgaben betraut, auf die Verteidigung der Integrität des Landes im weitesten Sinn umgestellt und schließlich fortschreitend entmilitarisiert werden. Durch Umlenken staatlicher Nachfrage von der Rüstung in die Bereiche regionaler Wirtschafts-, Umwelt- und Entwicklungspolitik (Konversion) ließe sich das Personal im Militärbereich für eine Reihe technologischer Programme zur Rekultivierung der Erde, zum vorsorglichen Schutz des Ökosystems sowie in Katastrophenfällen einsetzen. Nach Berechnungen amerikanischer Institute20 könnten NATO und Warschauer Pakt 1/5 ihrer gegenwärtigen Militärausgaben (ohne »Sicherheitsverlust«), also 140 Milliarden Dollar in der letzten Dekade dieses Jahrhunderts zur Behebung von Umweltzerstörung und Unterentwicklung umwidmen, und zwar ibs. zur Sanierung des Bodens und der Wasserversorgung sowie zur Rekultivierung der Wälder; zur Verringerung des Treibhauseffekts, Verhinderung großer Rodungen sowie für Wiederaufforstungen; für Maßnahmen zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums auf der Erde; für Programme zur Energieeinsparung; zur Entwicklung regenerierbarer Energiequellen, zur Reduzierung der Schulden der Dritten Welt.

Das Militär unter den Bedingungen struktureller Verteidigungsunfähigkeit von Industriegesellschaften

Die Tatsache der hochgradigen Verwundbarkeit von Industriegesellschaften wird von denjenigen, die sie zur Sprache bringen, nicht selten als ein »Sachzwang« zur gewaltverminderten Verteidigung bzw. zur Friedfertigkeit dargestellt. Ein derartiges, aufgrund eindeutiger Eigengesetzlichkeit bestimmtes Handeln ist indessen fragwürdig. Soziale Probleme haben stets mehrere Lösungen. Dies zeigt sich vor allem an der Reaktion von Militär und Industrie. Je deutlicher das Legitimationsdefizit militärischer Sicherheitspolitik, sowie die Dysfunktionalität des Militärs angesichts der industriellen Verwundbarkeit in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, desto größer sind die Anstrengungen, den letztlich militärauflösenden Tendenzen entgegenzuwirken.

Als ebenso komplexe wie immobile Organisation zeigt das Militär die Tendenz, jeglichen Neuerungen zunächst mit Obstruktion und Widerstand zu begegnen. (Das zeigte sich z.B. beim Übergang von der Kavallerie zur motorisierten Truppe, bei der Einführung einer separaten Luftwaffe, von Flugzeugträgern und atomgetriebenen U-Booten, bei der Ablösung bemannter Bomber durch Raketen etc.) Der Immobilismus wird zusätzlich durch die Militärdoktrinen gestärkt; diese sind kodifizierte Erfahrungen aus vergangenen Kriegen, die stets von Neuem analysiert werden. Eine Änderung der Doktrin in Friedenszeiten, die nicht im "Ernstfall" zu testen ist, führt zu Unsicherheit und Konfusion, zumal wenn sie die Obsoleszens von Waffen postuliert. Steht außerdem die Frage des eigenen Status und Prestiges auf dem Spiel, neigt das Militär dazu, seine Sicherheitsaufgaben zu vernachlässigen.21 In diesem Sinne wird der Öffentlichkeit das lebenswichtige Problem der strukturellen Verteidigungsunfähigkeit vorenthalten.

„Man könnte diese das Gesetz der umgekehrten Bedeutung von Gefahr und institutioneller Wahrnehmung nennen: Je weitreichender, offensichtlicher und unbeherrschbarer Gefahren werden, desto bedeutungsloser sind sie in den Sicherheitsdarstellungen offizieller Instanzen, die alle verfügbaren Instrumente – Expertenurteile, Grenzwerte – nutzen, um die Harmlosigkeit des Gefährlichen zu behaupten und in staatlichen Definitionsmonopolen abzusichern.“22 Ganz in diesem Sinne wird in der Sicherheitspolitik weiterhin so getan, als ginge es um Schutz vor militärischer Bedrohung, als sei militärische Schadensbegrenzung machbar. Dieser Realitätsverzerrung stehen auf der anderen Seite sehr bedeutsame Bemerkungen aus der Bundesregierung über neue Funktionen der Streitkräfte gegenüber. Sie dienen, so heißt es außerhalb der militärischen Strategieumsetzung

  • der Sicherung der Unabhängigkeit und Souveränität bzw. der Verbesserung der Stellung im internationalen System,
  • der Sicherung der nationalstaatlichen Identität und
  • der ökonomischen und sozialen Sicherung des Status der Streitkräfte sowie schließlich im Ost-West-Konflikt
  • der Darstellung der gesellschaftlich-politischen Überlegenheit23.

Werden diese Funktionen verbunden mit den genannten Aufgaben im weltweiten Natur- und Katastrophenschutz so entstehen sinnvolle Möglichkeiten für eine disziplinierte Truppe, sich in Wettbewerb und Kooperation mit anderen nationalen Verbänden zu bewähren24 und den Gefahren der verletzbaren Industriegesellschaften in friedensverträglicher Weise zu begegnen. Es gilt eine Friedenspolitik zu konzipieren, die u.a. die nichtmilitärischen Fähigkeiten der Streitkräfte für eine zivile Gesellschaft nutzbar macht.

Anmerkungen

1 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Ffm 1986, S.7 Zurück

2 Tübinger Kongreß der Naturwissenschaftler v. Dez. 1988 Zurück

3 C. Alsen u. O. Wassermann, Die gesellschaftliche Relevanz der Umwelttoxikologie, IIUG-rep., WZB Berlin, 86-5, S. 28 Zurück

4 Kh. Lohs, Risikopotential Chemie, in: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 1`89, S. 37 ff. Zurück

5 G. Knies, Friedfertigkeit durch zivile Verwundbarkeit, in: S+F 3/1987, S. 205 ff. Zurück

6 vgl. zum folgenden: Gerhard Wachtler (Hrsg.), Militär, Krieg, Gesellschaft. Ffm 1983. Zurück

7 W.R. Vogt, Zivil-militärisches Verhältnis. Stichwort in: E Lippert, G. Wachtler. Frieden. Opladen 1988 Zurück

8 Kurt Lang, Military, in: International Encyclopedia of the Social Sciences 10, S. 307 Zurück

9 Wachtler, a.a.O., S. 16 Zurück

10 Vogt, a.a.O., S. 437-38 Zurück

11 zit. bei Wachtler, a.a.O., S. 108 ff. Zurück

12 a.a.O., S. 74 Zurück

13 K. Knorr, Military Power Potential, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, a.a.O., S. 327 Zurück

14 D. Fischer, W. Nolte, J. Öberg, Frieden gewinnen, Freiburg 1987 Zurück

15 A. Mechtersheimer/E. Schmidt-Eenboom, Die strukturelle Nichtverteidigungsmöglichkeit hochindustrieller Länder, Expose, Starnberg, Dez. 1987 Zurück

16 Gutachten für den Bundesumweltminister, Januar 1989 Zurück

17 Fischer u.a., a.a.O., S. 110 Zurück

18 a.a.O. Zurück

19 vgl. hierzu G. Bächler, Friedensfähigkeit von Demokratien. Demokratisierung der Sicherheitspolitik und strukturelle Angriffsunfähigkeit, in: Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, H. 29 und M. Schmidt u. W. Schwarz, Das gemeinsame Haus Europa, in: IPW-Berichte 9 u. 10/88 Zurück

20 Institute for Resource and Security Studies und Institute for Peace and International Security, Mass. zusammen mit dem World Watch Institute, Wash. DC; zit. in: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 5/88, S. 4 Zurück

21 L.I Radway, Militarism, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, a.a.O., S. 301 Zurück

22 U. Beck, Gegengifte, Ffm. 1988, S. 154 Zurück

23 s. der ehemalige Bundesminister der Verteidigung R. Scholz in Die ZEIT v. 7.10.88, S. 8 sowie E. Lippert, U. Schönborn, G. Wachtler, Gesellschaftliche und politische Konsequenzen alternativer Verteidigungskonzepte, in: C. F. v. Weizsäcker (Hrsg.), Die Praxis der defensiven Verteidigung, Hameln 1984, S. 197 Zurück

24 W. Graf Baudissin, Die Kriegsbezogenheit der Bundeswehr in Frage stellen, in: FR v. 17.1.89 Zurück

Dr. Gerda Zellentin ist Hochschullehrerin an der Bergischen Universität Wuppertal im Fach Politische Wissenschaften.

Der Patriarchen eiserner Griff

Der Patriarchen eiserner Griff

Der Grundstein der Generalsherrschaft liegt im antikolonialen Kampf

von Rainer Werning

Seid freundlich zu Tieren, indem ihr sie nicht esst“. Diese Inschrift zierte jahrelang ein nach jedem Monsun bleicher werdendes Hinweisschild nahe dem Bahnhofsgebäude von Mandalay, der zweitgrößten Stadt Birmas, einst die prunkvolle Residenz der Könige des Landes. Dass der Buddhismus das Töten von Kreaturen aus dem Tierreich untersagt, war den Birmanen, die mehrheitlich buddhistisch sind, seit je bekannt. Heute müssen die über 50 Millionen EinwohnerInnen des Landes erneut feststellen, dass die seit 45 Jahren ununterbrochen herrschenden Militärs keinen Deut geneigt sind, es auch mit der Menschenliebe genau zu nehmen.

Knapp 20 Jahre nach der ersten machtvollen Bewegung für Freiheit und Demokratie in dem einst wirtschaftlich florierenden südostasiatischen Land deutet vieles darauf hin, dass die amtierende Militärjunta unter General Than Shwe (74) auch diesmal unerbittlich alles niederkartätscht, was ihre Despotie in Frage stellt. Bedeutsame innen- wie außenpolitische Entwicklungen und Konstellationen – darunter der Militarismus und die geostrategische Lage des Landes – können die Militärmachthaber nutzen, um sich missliebiger Widersacher zu entledigen und gesellschaftspolitische Alternativen zu vereiteln. Immerhin gibt es in Staat, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur keinen Bereich, in dem nicht die Tentakeln des dominanten Militärs spürbar sind.

Pro-japanisches Paktieren

Nach drei anglo-birmanischen Kriegen im 19. Jahrhundert wurde Birma von Großbritannien annektiert und 1862 dem Vizekönig von Indien als Provinz Indiens unterstellt. Rasch entwickelte sich das Land zu einem der wichtigsten Reisexporteure Asiens und erlangte auch aufgrund seiner Holz-, Kautschuk- und Erdölressourcen eine kolonialwirtschaftliche Bedeutung. Gegen die britische Vormacht formierten sich insbesondere in den 1930er Jahren Kräfte, die politische Unabhängigkeit und eine sozialistische Wirtschaftsordnung forderten. Wichtige Vertreter der Dobama Asiayone (»Wir-Birmamen-Vereinigung«) waren die in der Hauptstadt Rangun ausgebildeten Studenten U Nu und Aung San, der Vater der Friedensnobelpreisträgerin und Ikone der heutigen Demokratiebewegung, Aung San Suu Kyi. Mit dem Eigennamen »Thakin« (»Herr« oder »Meister«) drückten sie die angestrebte Gleichstellung mit den Europäern aus, die mit »Thakin« angeredet wurden.

Bereits vor der japanischen Invasion in Südostasien hatten sich »Thakin«-Führer, darunter auch Aung San, bereit erklärt, eine bewaffnete Armee unter der Ägide des japanischen Kaiserreiches aufzustellen – gemäß der Devise: Der Feind meines Feindes (in diesem Fall Großbritannien) ist mein Freund. Das militaristische Japan drapierte seine eigenen Vorherrschaftspläne in Asien und im Pazifik mit dem Konzept der »Größeren Ostasiatischen Gemeinsamen Wohlstandssphäre«. Es sah sich als »Licht, Lenker und Beschützer Asiens« im Kampf gegen westlichen Kolonialismus und Imperialismus.

Die Gruppe der anfänglich 30 »Thakin«-Führer bezeichnete sich auch als »30 Kameraden« und bildete – eine Zeitlang geschult auf der japanisch okkupierten chinesischen Insel Hainan – unter Aufsicht japanischer Verbindungsoffiziere den Kern der »Burma Independence Army« (BIA). Als Tokio im August 1943 ein Vasallenregime in Birma installierte, war Aung San im Rang eines japanischen Generalmajors Kommandeur der »Burma Defence Army«, der BIA-Nachfolgeorganisation, und er übernahm das Verteidigungsressort und wurde Oberbefehlshaber dieser pro-japanischen Regierung.

Wie Sukarno, der spätere Gründungsvater Indonesiens, zählte Aung San anfänglich zu den glühendsten Bewunderern Japans in Südostasien. Im Einklang mit Japan, das die Region nach seinem Ebenbilde umgestalten und deren Bevölkerungen in gefügige Untertanen verwandeln wollte, strebten Aung San und Sukarno einen rigiden Zentralstaat an. Eine verhängnisvolle Weichenstellung, zumal in Vielvölkerstaaten wie Birma und Indonesien, wo jeweils die Birmanisierung beziehungsweise Javanisierung als raison d’etre postkolonialen Nationalismus begriffen und militärisch exekutiert wurde.

Erst als der menschenverachtende Kurs des japanischen Militarismus im Laufe des Krieges immer offensichtlicher wurde, beteiligte sich Aung San am Aufbau der »Antifaschistischen Volksfreiheitsliga«, die mit den Anfang 1945 vorrückenden britischen Truppen sympathisierte. Schließlich konnte Aung San im Januar 1947 in London mit Premierminister Clement Attlee ein Abkommen über die formelle Unabhängigkeit Birmas am 4. Januar 1948 unterzeichnen. Der zum Premierminister auserkorene Aung San wurde im Juli 1947 im Auftrag eines politischen Widersachers ermordet, weshalb die Position schließlich seinem Mitstreiter U Nu zufiel.

Militarismus als Staatstugend

Landesweite Revolten, das Erstarken der Kommunistischen Partei Birmas und Aufstände seitens ethnischer Minderheiten wie der Shan, Kachin, Mon und Karen veranlassten einen der »30 Kameraden« zum Militärputsch. Generalleutnant Shu Maung, der sich den nom de guerre Bo Ne Win (»Befehlshaber Strahlende Sonne«) zugelegt hatte, schuf ein eisernes Militärregime, dem er unangefochten von März 1962 bis zum Sommer 1988 als Chef der Streitkräfte, Vorsitzender des Revolutionsrates, Premierminister der Revolutionsregierung und später als Präsident der Sozialistischen Republik der Union von Burma vorstand. Gleichzeitig gründete er als neue Staatspartei die »Burma Sozialistische Programmpartei« (BSPP), die er ebenfalls 26 Jahre lang führte. Doch diese Partei und der Kurs Ne Wins waren faschistoid und xenophobisch.

Die ersten Opfer dieser drakonischen Politik waren die StudentInnen. In der Hauptstadt Rangun ließen Gefolgsleute des neuen Machthabers im Sommer 1962 sogar das Gebäude der historischen »Rangoon University Student Union« (RUSU) sprengen. Landesweit blieben Hochschulen geschlossen, so dass sich Tausende Studierende im Hinterland Guerillaeinheiten anschlossen oder im Ausland, vorzugsweise im benachbarten Thailand, Asyl suchten.

Gegen verschiedene Guerillaeinheiten ging das Militär mit äußerster Brutalität vor; BewohnerInnen ganzer Dörfer, selbst Kinder, wurden zwangsweise als Helfer in die Kriegführung eingebunden. Wie in keinem anderen südostasiatischen Land entstand ein allgegenwärtiges, höchst effizientes Blockwartsystem, in das selbst buddhistische Bonzen integriert wurden. Informanten und Spitzel hätschelte das System ebenso wie bereitwillige Investoren, wenn diese sich nur verpflichteten, Mitglieder der Junta ausreichend zu schmieren. Während diese in Saus und Braus lebten, sich regelmäßig in Singapur medizinischen Checks unterzogen und ihrer engsten Klientel lukrative Geschäfte zuschanzten, lebte das Gros der Bevölkerung an oder unterhalb der Schwelle des Existenzminimums.

1988 schien sich das Blatt zu wenden. Lautstark waren die Proteste und Demonstrationen gegen das Regime in der Metropole Rangun zu vernehmen. Zwar waren die Tage Ne Wins gezählt, nicht aber die des Militärs. „Um die Auflösung der Union zu verhindern“, so Ne Wins Nachfolger, General Saw Maung, werde ein Staatsrat zur Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung (SLORC) die Geschicke des Landes lenken, das seit 1989 Myanmar heißt. Aus kosmetischen Gründen wurde der SLORC Ende 1997 in Staatsrat für Frieden und Entwicklung (SPDC) umbenannt. Dieser wird vom heutigen Machthaber Than Shwe geführt.

»Heimstatt der Könige«

Than Shwe, um den sich allerlei Gerüchte ranken, arbeitete sich nachweislich als Experte psychologischer Kriegführung und als Leiter von so genannten Aufstandsbekämpfungsoperationen im Osten des Landes an die Spitze der Militärhierarchie. Auf ihn ging auch die Anregung zurück, die Hauptstadt von Rangun (heute Yangon) ins etwa 400 Kilometer weiter nördlich gelegene Naypyidaw zu verlegen. Naypyidaw heißt »Heimstatt der Könige« oder »Königliche Residenz«.

Dort schottet sich die Junta nun in unwirtlichem Terrain vom Volk ab. Sie misstraut dem Moloch Rangun mit seinen überbordenden sozialen Problemen, fürchtet die Hafenstadt als möglichen Dreh- und Angelpunkt eines Irak ähnlichen Regimewechsels und sieht sich näher dem großen politischen Verbündeten und potentesten Wirtschaftspartner, der Volksrepublik China, die bereits der größte Abnehmer seiner Gas- und Ölvorkommen ist. Analysten in der Region gehen davon aus, dass sich bald der Norden Birmas als bedeutsames Investitionsgebiet Chinas empfiehlt, um von dort sowie von der Hafenstadt Rangun aus seine Exporte nach Südasien, in den Nahen und Mittleren Osten sowie nach Europa drastisch zu erhöhen.

Ebenso wenig wie sich Zahnpasta zurück in die Tube pressen lässt, so wird sich der Einfluss des Militärs im Lande auf absehbare Zeit nicht eindämmen lassen. Birma rangiert heute auf Platz 10 der weltweiten Liste des Militärs mit zirka 490.000 Mann unter Waffen. Mit Hilfe der 1967 in der thailändischen Metropole Bangkok gegründeten (und damals strikt antikommunistisch ausgerichteten) Vereinigung südostasiatischer Staaten (ASEAN), deren Mitglied es seit genau einem Jahrzehnt ist, sowie als verlässlichster anti-US-amerikanischer Verbündeter Chinas in der Region, wird Birma alles unternehmen, um dem internationalen Big Business seine Pforten weiter zu öffnen. Aus Deutschland sind in dem südostasiatischen Land beispielsweise Hapag-Lloyd, Siemens und das Logistikunternehmen Schenker engagiert. Als Auslöser für die jüngsten landesweiten Proteste und Demonstrationen wurden drastische Preissteigerungen für Benzin und Lebensmittel verantwortlich gemacht. Zur gleichen Zeit wurde indes alles getan, um den reibungslosen Zufluss von Öl- und Gaslieferungen in Chinas südliche Provinz Yunnan zu garantieren.

Dr. Rainer Werning kennt Birma durch regelmäßige Besuche seit 1969; er ist Politologe und Publizist mit den Schwerpunkten Südost- und Ostasien

Eine britische Sicht

Eine britische Sicht

Die Europäische Verfassung – der so genannte »Reformvertrag«

von Rae Street

Im Oktober 2007 haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU beim Gipfel in Lissabon auf den endgültigen Vertragstext des EU-Reformvertrages verständigt. In der Substanz ist dieser gegenüber dem EU-Verfassungsvertrag nahezu unverändert.

Die Bestimmungen der Verfassung bezüglich der Implementierung einer »gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« sind nun in den »Reformvertrag« aufgenommen worden und es scheint kein Zweifel am Willen zu bestehen, die EU als Militärmacht zu stärken. Die EU-Politik wird mit der NATO kompatibel sein, die sich noch immer zu strategischen Ansätzen wie »nukleare Mindestabschreckung« und »Ersteinsatz von Atomwaffen« bekennt. Militarismus kommt auch bereits in der 2004 gegründeten Europäischen Verteidigungsagentur zum Ausdruck: immer mehr Geld für Rüstung und die Erforschung von High-Tech-Waffen, ganz zu schweigen von der Förderung der Rüstungsverkäufe.

Viele von uns, die sich darum sorgen, mehr Frieden und Stabilität in die Welt zu bringen, suchen nach Wegen, um ein ent-militarisiertes Europa zu erreichen; ein atomwaffenfreies Europa, ein Europa ohne fremdes Militär und ohne so genannte »Raketenabwehr-Basen« und Nuklearwaffenstützpunkte und eine Reduzierung der Aufwendungen für Rüstung. Bedauerlicherweise ist nicht zu erkennen, dass der Reformvertrag in diesem Sinne Ergebnisse verspricht.

Während der letzten Jahrzehnte haben wir beobachten können, wie die EU zu einer eigenständigen Militärmacht gemacht wurde. Für viele derjenigen, die für Frieden und soziale Gerechtigkeit eintreten, war dies eine Zeit voller Schwierigkeiten und Enttäuschungen. Schließlich gab es nach dem Zweiten Weltkrieg einmal einen großen Traum, als die ursprünglichen Gründer der EU und die durch den Krieg erschütterten Menschen Europas die Schaffung von Institutionen erhofften, durch die die Kriegsursachen beseitigt würden. Es stimmt, dass wir durch das starke Bekenntnis des Europarates zu den Menschenrechten ermutigt wurden und dass heute beispielsweise die Todesstrafe überall in seinen Mitgliedsstaaten abgeschafft ist. Gegenwärtig führt der Europarat entsprechende Kampagnen in Japan und den USA durch, in den einzigen Staaten mit Beobachterstatus beim Europarat, in denen die Todesstrafe noch in Kraft ist. Dies ist ein gutes Beispiel für eine europäische Kooperation gegen eine barbarische Form der Bestrafung.

Allerdings verhält sich die Sache hinsichtlich der EU selbst anders. Ich bin seit dreißig Jahren in der englischen Kampagne für nukleare Abrüstung (CND) aktiv, die international für ihr Friedenssymbol bekannt ist. In den letzten Jahren ist die Opposition der CND und anderer Gruppen für Frieden und soziale Gerechtigkeit, von Gewerkschaftsgruppen und vielen politischen Initiativen – die Opposition der extremen Rechten in Großbritannien lasse ich hier außen vor, da sie ganz anderen Motiven entspringt – gegen die Außen- und Verteidigungspolitik der EU gewachsen.

Die Verträge von Maastricht und Amsterdam führten zur Herausbildung eines europäischen Superstaates mit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik und Armee. Es sei daran erinnert, dass im Maastricht-Vertrag von 1992 eine »gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« vereinbart wurde, die – so hieß es unter Titel V – „sämtliche Fragen [umfasst], welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.“ Anlässlich des Gipfeltreffens in Amsterdam im Juli 1997 hatten die Außenminister der EU bereits detaillierter ausgearbeitet, wie die EU in Verbindung mit der WEU (Westeuropäische Union) bei der Entwicklung der gemeinsamen Verteidigung kooperieren könnte. Außerdem, und dies war besonders betrüblich für die CND, wurde die WEU mit ihren Atomwaffen zu einem „integralen Teil der Entwicklung der EU“ erklärt. Zugleich wurde von Seiten der Minister erklärt, dass die WEU einen aktiven Beitrag im Rahmen der Verteidigungsplanung der EU spielen solle. Zwar hat die WEU inzwischen als eigenständige Organisation aufgehört zu existieren, aber eine eindeutige Politik bezüglich der Nuklearwaffen gibt es bisher nicht.

Mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 wurde vereinbart, dass die EU auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat eine eigenständige Außenpolitik verfolgt. Beim Gipfel in Köln (2000) erklärte der Europäische Rat, dass die „EU eine umfassende Rolle auf der internationalen Bühne spielen wird. Zu diesem Zweck beabsichtigen wir, der Europäischen Union die notwendigen Mittel und Fähigkeiten zu geben, um den Verantwortlichkeiten für eine gemeinsame Europäische Politik der Verteidigung und Sicherheit entsprechen zu können… Wir sind überzeugt, dass der Rat die Möglichkeit haben sollte, entsprechend der ganzen Bandbreite von Aufgaben der Konfliktprävention und des Konfliktmanagements… den »Petersberg-Aufgaben« zu entscheiden“. Die »Petersberg-Aufgaben« waren ursprünglich als humanitäre und Notfall-Aufgaben, Friedenserhaltung und als Aufgaben für Kampfeinheiten für das Krisenmanagement, einschließlich Friedenserzwingung, definiert worden. Dies kann erstrebenswert sein, es war jedoch immer und wird auch in Zukunft insofern gefährlich bleiben als die Frage auftaucht, wer darüber entscheidet, was als »humanitär« gilt und wo eine Intervention stattfinden soll.

Dies galt beispielsweise für den Beginn der Aufstellung einer Europäischen Armee, besser bekannt als »Schnelle Eingreiftruppe« (European Rapid Reaction, ERR). Die ERR und die »Europäischen Kampfgruppen« wurden beim europäischen Ministertreffen in Helsinki 1999 ins Leben gerufen. Obwohl sie zahlenmäßig klein sind, ihr Auftrag begrenzt sein wird und sie von UN Generalsekretär Kofi Annan positiv bewertet wurden, so legen sie doch die Grundlage für eine stärkere Militärmacht; zudem gibt es keine demokratische Kontrolle über ihre Entsendung.

Zeitgleich hat der Europäische Rat auch deutlich gemacht, dass er „entschlossen ist, die Restrukturierung der Europäischen Verteidigungsindustrien der beteiligten Staaten zu pflegen“ und dass „er sich um weiteren Fortschritt in der Abstimmung der militärischen Bedarfe und der Planung und Beschaffung von Waffen bemühen wird“. Kann eine solche »Pflege« als Hilfe für das Wachstum der europäischen Rüstungsindustrien verstanden werden? Kann die Lobbytätigkeit dieser Industrie gegenüber der EU als ein treibender Faktor für eine europäische Militärmacht angesehen werden? Es hat immer Stimmen gegeben, die – insbesondere unter Verweis auf die Knappheit der Ressourcen – von der Notwendigkeit gesprochen haben, dass Europa für den Schutz seiner Interessen das Militär benötigt. Die Europäische Verteidigungsagentur wurde im Juli 2004 vom Ministerrat ins Leben gerufen – ohne Gedanken an ein demokratisches Mandat. Aber sie hat Eingang in die Verfassung gefunden. Ihre Aufgabe war die „Verbesserung der Verteidigungsmöglichkeiten“. Das mag sein; aber zugleich wurde ein Markt geschaffen mit einem Budget von Euro 30 Milliarden im Jahr. Es gibt eine Abteilung für Forschung und Technologie: im Ergebnis ein Paradies für die europäischen Waffenhersteller und -händler.

EU und NATO

Selbstverständlich gibt es auch zwischen den militärisch ausgerichteten Regierungen Spannungen, wenn es um die Gestaltung der EU-Militärpolitik geht. Die Regierung Großbritanniens mit ihrer engen Beziehung zur US-Administration würde gerne die NATO in den Vordergrund rücken; die französische Regierung möchte im allgemeinen eine europäische Verteidigung, die unabhängig von den USA ist. Dennoch hat die Regierung Großbritanniens nie jemals die Frage aufgeworfen, die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« zu verlassen – wie es etwa Dänemark getan hat. Großbritannien mit seinen großen Rüstungsunternehmen wollte auf jeden Fall wie jeder andere Staat auch an diesem »Markt« teilhaben. Der Militärisch-Industrielle-Komplex mag der Gewinner sein, wer aber sind die Verlierer? Dies ist die Mehrheit der BürgerInnen Europas, besonders jedoch die Unterprivilegierten, die massive Kürzungen bei den Sozialleistungen hinnehmen mussten. Großbritannien, das Land mit dem größten Verteidigungs-(d.h. Militär)-Budget in Europa (gegenwärtig über $ 66 Milliarden) hat eine zunehmende Einkommenslücke zwischen den Reichen und den Armen, die größte seit den 1920er Jahren, wie einige schätzen.

Betrachten wir die Verfassung, wie sie dem Europäischen Rat 2003 vorgelegt wurde. Dort heißt es in Artikel 41 schwarz auf weiß, dass „die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine zunehmende Gestaltung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU umfassen soll. Dies führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sofern der Europäische Rat dies übereinstimmend beschließt“. Dies wären jedoch keine echten demokratischen Entscheidungen. Die Entscheidungen würden vom Ministerrat getroffen, der einstimmig auf der Grundlage einer Entschließung der Außenminister der EU oder eines Mitgliedsstaates handeln würde. Die gewählten RepräsentantInnen, die Mitglieder des Europäischen Parlaments, wären an die Seitenlinie verbannt. Im Kern der EU besteht ein Defizit an Demokratie.

Dennoch sind es häufig die Überlegungen und Entschließungen des Parlaments sowie des Europarates, die KriegsgegnerInnen Anlass zur Hoffnung geben. Es ist beispielsweise das Europäische Parlament, das die Mitgliedsstaaten bereits dreimal zu einem Moratorium hinsichtlich des Einsatzes von Uranmunition aufgefordert hat – letztlich mit dem Ziel der Verbannung dieser Waffe. Da es jedoch über wenig realen Einfluss verfügt, wurde dieses Ansinnen von Großbritannien, das neben den USA das erste Land war, das diese Waffen im Kampf eingesetzt hat und auch noch im Golfkrieg 2003 verwendet hat, vollständig ignoriert. Punkt 8 des Artikels besagt: „Das Europäische Parlament soll regelmäßig über die wesentlichen Aspekte und grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik konsultiert und über die Fortschritte informiert werden.“ Es hätte auch hinzugefügt werden können: „… aber weder der Ministerrat noch die Mitgliedsstaaten müssen den Resolutionen des Parlaments irgendeine Beachtung schenken“.

Die NATO musste Erwähnung finden und so hält die Verfassung fest, dass die »Verpflichtungen« gewisser Mitgliedsstaaten, die „ihre gemeinsame Verteidigung gemäß des Nordatlantikvertrages in der NATO realisiert sehen, mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik abgestimmt realisiert werden sollen.“ Das ist eine nichts sagende Formulierung. Es gibt keine Erwähnung der EU-Position zu Nuklearwaffen, während die NATO-Politik seit der »Strategic Review« von 1999 in der »nuklearen Mindestabschreckung« unverändert einen Grundbaustein „zur Sicherung des Friedens“ sieht. Großbritannien und Frankreich sind beides Atomwaffenstaaten. Und tatsächlich ist das große TRIDENT-Atomwaffen-U-Bootsystem, von dem Großbritannien über vier verfügt, in die NATO »integriert«. Diese hält an einer Politik des »Ersteinsatzes« von Atomwaffen fest. Jedes NATO-Mitglied ist zur Sicherstellung der »Interoperationalität« verpflichtet, so dass alle NATO-Mitgliedsstaaten de facto Nuklearwaffenstaaten sind. Die NATO verfügt über sechs nuklear bestückte Basen in Europa – von Lakenheath im Osten Englands bis hinunter nach Incirlik in der Türkei.

Dies ist der Grund, warum viele BeobachterInnen der Ansicht sind, die NATO verletze Geist und Buchstaben des Atomwaffensperrvertrages. Zudem hat die NATO niemals verlauten lassen, sie wolle mit der nuklearen Abrüstung fortfahren oder gar ihre Politik ändern. Sie fährt angesichts der Dominanz durch die USA mit einer Politik fort, die zum Faktor von Unruhe und Instabilität nicht nur in Europa, sondern in der gesamten Welt wird. Die NATO hat sich nun bis an die Grenze zu Russland ausgedehnt und bereits seit langem aufgegeben, nicht »out-of-area« zu intervenieren.

Diejenigen unter uns, die gegen die NATO und deren Nuklearpolitik sind, fragen sich, was diese Politik für die EU und deren Politik bedeutet. Warum findet all dies in der Verfassung keine Erwähnung? Meinen diejenigen, die das Papier verfasst haben, tatsächlich »Kompatibilität«?

Der Reformvertrag in Großbritannien

Nachdem die Verfassung sowohl in den Niederlanden als auch in Frankreich deutlich abgelehnt worden war, begannen die Minister der EU-Mitgliedsstaaten damit, die Verfassung doch noch durch die Hintertür zu verabschieden. Sie traten nun mit dem »Reformvertrag« auf. Das ist die Verfassung unter einem anderen Namen. Im Bereich der Außenpolitik gibt es tatsächlich wenig Änderungen, außer dass es nun einen Sprecher für die Außenpolitik geben soll: den »Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«.

Wie wurde dies in Großbritannien aufgenommen? Die Labour-Partei hat in ihrem letzten Programm versprochen, dass es ein Referendum über die Europäische Verfassung geben werde. Nun weist der neue Premierminister Gordon Brown dies zurück. Beständig hat er diese Idee in Radio- und Fernsehinterviews zurückgewiesen. Er und seine Regierung seien, so sagt er, damit zufrieden, dass es im »Reformvertrag« keine Einschränkung der Souveränität Großbritanniens gebe. Allerdings hat gerade dieses Thema im September große Medienbeachtung gefunden. Zu denjenigen, die sich überraschend für eine Volksabstimmung ausgesprochen haben, gehörte die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart, die in dem Steuerungskomitee mitwirkte, das den Verfassungsentwurf produziert hat. Sie wird damit zitiert, dass „der Premierminister gesagt hat, er möchte den Leuten zuhören und sie in die Entscheidungen einbeziehen. Er spricht von der »Erneuerung der Demokratie«… Er kann dies unter Beweis stellen, indem er der Bevölkerung im Rahmen eines Referendums das letzte Wort über den Vertrag gibt“. Auch Gewerkschaften, insbesondere die GMB (Gas Workers and General Union) und die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes UNISON mit ihren 1,6 Millionen Mitgliedern fordern eine Abstimmung. Eine der besonders aktiven Gruppen, die zunehmend Gehör findet, ist die Organisation »Trade Unions Against the EU Constitution«. Weitere Gruppen sind enstanden, um eine Kampagne für ein Referendum zu beginnen, darunter die rechten Medien mit der Kampagne der Zeitung »Daily Telegraph«.

Andere Tageszeitungen, insbesondere der »Guardian« möchten eine Verabschiedung des Reformvertrages. Merkwürdigerweise enthielt die Argumentation des Chefkolumnisten des »Guardian« am 7. September einen Gedanken, der die Gegner des Vertrages alarmiert, weil er die Sicherheit nicht erhöht, sondern gefährdet. Ihm zufolge gehöre zu den gemeinsamen Anliegen der Europäer „der wieder auflebende russische Nationalismus, die Sicherheit der Energieversorgung, die Klimakrise, Immigration, die Bevölkerung mit Migrationshintergrund“. Dies wird von der gewerkschaftlichen Opposition und von vielen anderen SozialistInnen als ein direkter Aufruf zu einem »Euro-Militarismus« im Rahmen von Ressourcen-Kriegen angesehen.

So ist es denn, dass wir im globalen Norden – wieder einmal – nicht ein Europa des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit schaffen, worin die Hoffnung so vieler der Nachkriegsgeneration bestand, sondern ein Europa, das seine Stellung als reiche Region der Welt festigen möchte. Dies erweckt den Anschein eines Europa, das sich nicht in erster Linie für Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzt, sondern eines, das sich darum bemüht, die Kontrolle der Energieversorgung zu sichern, eine bedrohliche Militärmacht mit fortgeschrittener Waffentechnologie zu schaffen und dabei die Notwendigkeit der nuklearen Abrüstung zu missachten sowie die Waffenindustrie zu fördern.

Es wird interessant sein zu sehen, wohin das alles führt. Gewiss, was auch immer passieren wird, wir von den Bewegungen für Frieden und soziale Gerechtigkeit werden unsere Kampagnen für ein weniger militarisiertes und nuklear-freies Europa fortsetzen.

Rae Street ist Vizepräsidentin und Sprecherin der Campaign for Nuclear Disarmament (CND) in Großbritannien

Nach dem Brüsseler EU-Gipfel …

Nach dem Brüsseler EU-Gipfel …

von Albert Fuchs

im Juni dieses Jahres und zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft unter Angela Merkel waren nicht nur verkappte Regierungspostillen voll des Lobes. So zollte bspw. Joschka Fischer der Kanzlerin Respekt und Anerkennung; sie könne zu Recht stolz sein auf das Erreichte; habe sie doch mit vollem Einsatz gekämpft, sei ein hohes Risiko eingegangen und habe gewonnen. Andere schrieben der Kanzlerin zu, von einer tiefen europäischen Überzeugung angetrieben zu sein, oder wiesen u.a. darauf hin, dass sie jeden Gipfel akribisch vorbereite und durch eine »absolut egofreie«, zielorientierte Verhandlungsführung zu einem konzilianteren Klima beitrage. Der »sanften Gewalt« der von ihr ausgelösten neuen europäischen Dynamik könnten die Bremser und Zweifler sich nicht entziehen.

Gewiss, auch die sprichwörtliche NormalbürgerIn, deren Eindruck vom Agieren der Kanzlerin im Wesentlichen auf deren TV-Auftritten beruht, wird den Gegensatz zu dem aufdringlichen Macht-Gehabe des Basta-Kanzlers der Vorgängerregierung zu schätzen wissen. Frau Merkels Umfragewerte sprechen augenscheinlich eine deutliche Sprache. Es tut der Anerkennung eines Stilwechsels keinen Abbruch, wenn man sich von diesem Wechsel nicht blenden lässt und unter Rückgriff auf die bewährte Unterscheidung von »Ton« und »Sache« das Ergebnis wie den Weg dahin kritisch bewertet.

Nehmen wir nur die vorgeblich größte Leistung der deutschen Präsidentschaft unter Merkel, die Einigung auf eine EU-Vertragsreform, auf einen »Generalvertrag« anstelle einer Verfassung. Der irische Regierungschef, Bertie Ahern, ließ wissen, etwa 90 Prozent des am Nein der Franzosen und Niederländer gescheiterten Verfassungsvertrags blieben unverändert. Und der Hauptpromotor jenes Entwurfs, der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing, gab zu verstehen, die Inhalte würden lediglich anders dargestellt; die Regierungen hätten sich auf kosmetische Operationen verständigt, um Referenden in den Mitgliedstaaten zu umgehen. So bezieht sich denn auch das Mandat nicht auf den Verfassungsvertrag, sondern auf die Ergebnisse der Regierungskonferenz von 2004 – so dass (oder damit?) die engen Bezüge nicht unmittelbar auf der Hand liegen. Aber gerade der Inhalt war es, der in Frankreich und den Niederlanden in Frage gestellt wurde. Hinzu kommt, dass nur noch Regierungsexperten den Reformvertrag aushandeln sollen. Was an diesem Verfahren demokratisch sein soll, wird »top secret« bleiben. Man mag geltend machen, dass es ja nicht mehr um eine Verfassung gehe, sondern eben um einen multilateralen Vertrag zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten. Doch das bräuchte man vielleicht nicht als Etikettenschwindel zu empfinden, wenn nicht gleichzeitig die Inhalte weitestgehend unverändert blieben – darunter nicht zuletzt die hinlänglich bekannten materialen Demokratiedefizite – und wenn die Europäische Gemeinschaft nicht längst in einem Maße Staatsfunktionen übernommen hätte, das einen weiteren Schritt zur Verfassungsgebung bedingt.

Aus der Perspektive unserer Zeitschrift und erst recht im Hinblick auf den Schwerpunkt des vorliegenden Heftes erscheint besonders gravierend, dass nach wie vor keine parlamentarische Kontrolle der EU-Außen- und Militärpolitik vorgesehen ist. Diese demokratiewidrige Zumutung wird dadurch potenziert, dass gemäß Mandat für den neuen Vertrag, „das zweite Kapitel … die auf der RK 2004 geänderten Bestimmungen des Titels V des bestehenden EUV (einschließlich des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich)“ enthalten soll. Damit werden ausdrücklich alle Regelungen des Verfassungsvertrags für den Militärbereich in den Reformvertrag übernommen. Einzelheiten brauchen hier nicht (nochmals) erörtert zu werden. Es sei nur darin erinnert, dass demnach auch der Europäische Gerichtshof weiterhin keinerlei Kontrollbefugnis gegenüber Exekutiventscheidungen in Fragen von Krieg und Frieden hat. In Verbindung mit einem impotenten Parlament ist das mehr als die anglo-amerikanische Act of state-Doktrin; das ist die »königliche Prärogative« pur.

Stellt man in Rechnung, dass einerseits auch die amtierende Bundesregierung die Militarisierung der EU via GASP bzw. ESVP als Schlüsselprojekt einer politischen Union betreibt und dass andererseits diese Militarisierung längst auch ohne Vertrag läuft, erscheint der eingangs gewürdigte Aktionsstil der deutschen EU-Ratspräsidentin in einem ganz anderen Licht: als raffinierte Strategie zur Durchsetzung der Wiedergeburt Europas aus dem Geist der Vorherrschaft und Gewalt – vor allem in geopolitischer Perspektive. Der Widerstand gegen diese europäische Einigungsdynamik ist mehr denn je angesagt. Die zivilgesellschaftlichen Akteure aber, die trotz alledem auf die Zähmung dieser Dynamik setzen und sich auf eine Kooperation mit den Regierenden einlassen, müssen nicht nur vor ›nützlicher Idiotie‹ auf der Hut sein, sondern auch vor Selbst-Infizierung mit dem ungebrochenen Geist vermeintlicher kultureller Überlegenheit.

Albert Fuchs

Gericht und Krieg

Gericht und Krieg

Das Bundesverfassungsgericht verspielt seine Glaubwürdigkeit

von Bernd Hahnfeld

Das höchste deutsche Gericht verweigert mit dem Urteil vom 3.07.2007 (2 BvE 2/07), der Entscheidung über die Tornado-Einsätze in Afghanistan, die im Antrag mit Recht geforderte verfassungsrechtliche Prüfung. Die Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke hatte beantragt festzustellen, dass die Bundesregierung gegen das Grundgesetz verstößt, indem sie ohne Zustimmungsgesetz der Fortentwicklung des NATO-Vertrages zustimmt und sich durch die Entsendung von Tornado-Flugzeugen am erweiterten ISAF-Mandat beteiligt. In einer beispiellosen Wurstigkeit bügelt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Anträge ab, ohne die zugrunde liegenden Rechtsfragen ernsthaft zu erörtern.

Das neue Urteil ist die fatale Fortentwicklung der Adria-Entscheidung von 1994, mit der das BVerfG den Beschluss der Bundesregierung zum Adria-Einsatz der Bundeswehr verfassungsrechtlich gebilligt hatte. Dieses Ergebnis war nur möglich, indem das BVerfG sich über die bis dahin weithin anerkannte verfassungs- und völkerrechtliche Unterscheidung von Verteidigungsbündnissen und Militärpakten einerseits und von gegenseitigen kollektiven Sicherheitssystemen andererseits hinweggesetzt und systemwidrig die NATO als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit anerkannt hatte. Nur über die sich daraus ergebende Anwendung von Art. 24 Abs. 2 GG war die Teilnahme an der NATO-Militäraktion zu rechtfertigen.

Nach Art. 24 Abs. 2 GG kann sich der Bund zur Wahrung des Friedens einem System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit einordnen. Ein solches System ist zweifelsfrei die UN. Die NATO hingegen galt bis zur Adria-Entscheidung des BVerfG als reines Verteidigungsbündnis. Im Gegensatz zu einem Verteidigungsbündnis sichern Systeme der gegenseitigen kollektiven Sicherheit die Mitglieder vor Aggressionen von außerhalb und innerhalb des Systems, verpflichten zur friedlichen Streitbeilegung und stellen dafür die entsprechenden Organe und Wege bereit, so etwa den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Der NATO fehlen solche Einrichtungen. Dem BVerfG reichte jedoch die Gewissheit, dass sich die NATO dem Frieden verpflichtet fühlt.

Das neue Urteil knüpft auch an der Entscheidung des BVerfG vom 22.11. 2001 an. In dieser hat das BVerfG das »neue Strategische Konzept« der NATO vom 23./23. April 1999 nicht als Änderung des NATO-Vertrages, sondern nur als dessen Fortentwicklung und Konkretisierung bewertet, obwohl die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten die Aufgaben der NATO um „nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze“ auch außerhalb des euro-atlantischen Raumes erweitert haben. Das BVerfG hat solche Krisenreaktionseinsätze als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen, wenn das Friedensgebot des Grundgesetzes, die strikte Bindung an die UN-Charta und die Anerkennung der primären Verantwortung des UN-Sicherheitsrates beachtet werden.

Als verfassungswidrig hat das BVerfG die Fortentwicklung des NATO-Systems unter Verstoß gegen das ursprüngliche Zustimmungsgesetz oder die Fortentwicklung jenseits der von der Bundesregierung erteilten Ermächtigung bezeichnet, ohne jedoch diese Tatbestände näher zu konkretisieren.

Mit der nunmehr verkündeten Entscheidung zum Tornado-Einsatz hat das BVerfG die Bundesregierung bei Militäreinsätzen nahezu von allen verfassungsrechtlichen Beschränkungen freigestellt. Der Wortlaut und Geist des NATO-Vertrages, das Gewaltverbot der UN-Charta, das Friedensgebot des Grundgesetzes und das Primat des UN-Sicherheitsrates werden souverän übergangen, die gerichtliche Aufklärungspflicht wird missachtet. Solange die NATO behauptet, der Einsatz diene dem Frieden, gilt er als verfassungskonform. Der Verquickung von ISAF und Operation Enduring Freedom (OEF) aufgrund gemeinsamer Kommandostrukturen und Einsatzgebiete geht das BVerfG gar nicht nach. Die notwendige Beweisaufnahme zur Frage der Völkerrechtswidrigkeit der Taliban-Jagd im Rahmen der OEF und zur Beteiligung der ISAF-Einheiten an den nicht durch Notwehr gerechtfertigten Militär-Aktionen der USA hat das Gericht unterlassen. Lediglich der Generalinspekteur, General Wolfgang Schneiderhahn, ist als Zeuge vernommen worden.

Jedem Amtsrichter würde so ein Urteil vom Rechtsmittelgericht um die Ohren gehauen werden. Entweder würde er sein Handwerkszeug nicht beherrschen oder er hätte es bewusst nicht angewendet. Das BVerfG erfüllt den selbst formulierten Auftrag nicht, wenn es einerseits behauptet, nur wenn das NATO-Bündnis seine friedenssichernde Ausrichtung aufgebe, würde es sich von seinem Gründungsauftrag entfernen, andererseits aber vermeidet, die Verquickung der ISAF mit der nicht friedenssichernden OEF aufzuklären. Das BVerfG hat entschieden, der Organklage der Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke nicht stattzugeben; es hat diese Entscheidung nicht nachvollziehbar begründet.

Bernd Hahnfeld, Richter i.R., ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und für diese im Vorstand der Zeitschrift Wissenschaft & Frieden.

In der Luft, auf See und zu Land

In der Luft, auf See und zu Land

Militär-Hilfe »auf Teufel komm raus«

von Johannes Plotzki

Im Umfeld des G-8-Gipfels, der Anfang Juni 2007 in Heiligendamm stattfand, gab es verschiedene Einsätze der Bundeswehr. Insbesondere der Tiefflug von Tornado-Aufklärungsflugzeugen über ein Camp der globalisierungskritischen Bewegung hat für Entrüstung und ein parlamentarisches Nachspiel gesorgt.

Zusammengenommen widersprechen die Berichte über die tatsächlich während des G8-Gipfels durchgeführten Einsätze der Bundeswehr zu Land, auf See und in der Luft diametral dem, was die Bundesregierung im Vorfeld hat Glauben machen wollen. Hatte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage am 26.04.2007 verneint, die Bundeswehr an der Sicherung der Strecke zwischen dem Flughafen Rostock-Laage und dem Tagungshotel zu beteiligen, wurde das Gegenteil für jeden sichtbar, der sich während des G8-Gipfels auf der Autobahn (BAB 19) zwischen Rostock und dem Flughafen Rostock-Laage bewegte und auf den Autobahnbrücken gepanzerte Bundeswehrfahrzeuge vom Typ Fennek sah. In ihrer Antwort bekräftigte die Bundesregierung außerdem, dass »analog zur FIFA-Fußball-WM 2006 – keine Unterstützungskräfte ›in erster Reihe im Straßenbild‹ in Erscheinung treten.«1Entgegen dieser Ankündigung donnerte am 5. Juni ein Bundeswehrtornado nur 110 Meter über die Köpfe der Campbewohner von Reddelich hinweg.

Das bisherige juristische und parlamentarische Nachspiel ist bekannt: Einleitung eines Vordisziplinarverfahrens gegen den Piloten und der Bericht des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister der Verteidigung, Christian Schmidt (CDU/CSU). In seinem Bericht zählt Staatssekretär Schmidt die einzelnen Flüge der Tornados auf und erklärt, dass jeweils auf Bitten der Polizeidirektion Rostock das Aufklärungsgeschwader 51 »Immelmann« mit der Durchführung der Flüge beauftragt wurde. Die Polizeidirektion Rostock wiederum bekam von der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Kavala das Amtshilfegesuch des Landes Mecklenburg-Vorpommern an das Wehrbereichskommando 1 am 24. April diesen Jahres übermittelt. Trotzdem berichtete ein Ministeriumsvertreter im Innenausschuss am 23. Mai 2007, dass die Bundeswehr »überwiegend nur Transportaufgaben« übernehmen werde. Bei einer Fragestunde im Plenum war sogar von »ausschließlich Transportaufgaben« die Rede.2 Sprach Staatssekretär Schmidt noch von insgesamt vier Missionen, hat sich laut »Leipziger Volkszeitung« herausgestellt, dass es sieben Missionen mit möglicherweise bis zu zehn Flügen gegeben habe.3 Aufgenommen wurden bei den Flügen u.a. die Camps in Rostock, Wichmannsdorf und Reddelich.

Staatssekretär Schmidt informierte auch über den Einsatz von gepanzerten Bundeswehrfahrzeugen des Typs Fennek. Wurde deren Anforderung bereits am 13. März vom Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns durch den Verteidigungsminister am 26. April 2007 gebilligt, hieß es in der auf den 24. April datierten Antwort der Bundesregierung noch »Umfang und Intensität der Unterstützungsleistungen durch die Bundeswehr werden erst zeitnah zum G8-Gipfeltreffen endgültig absehbar sein4 Eingesetzt wurden nach Angaben des Staatssekretärs insgesamt zehn Fennek-Fahrzeuge. Drei davon innerhalb der Sperrzone, die restlichen zur Überwachung der An- und Abflugrouten an den An- und Abflugtagen, zur Überwachung der Fahrstrecken der Delegationen auf der A 19, und der landwirtschaftlichen Versuchsanstalt des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Genmais). Ein zehnter Fennek-Spürwagen war zur Koordinierung eingesetzt.

Ebenso wie der Recce-Tornado wird auch der Fennek von der Bundeswehr in Afghanistan verwendet. Die Herstellerfirma Krauss-Maffei Wegmann lobt seinen hervorragenden Einsatz für »Spähaufträge bis weit hinter feindlichen Linien.«5 Dies ermöglichen ihm Wärmebildgerät, CCD-Kamera mit hoher Auflösung samt Zoom-Objektiv und Laserentfernungsmesser. Eine Mini-Drohne ALADIN ist ebenfalls an Bord. Sie startet wie ein Modellflugzeug aus der Hand und hat eine Reichweite von rund 6.000 Metern.6

Hatte die Bundesregierung noch in ihrer bereits erwähnten Antwort angegeben, dass insgesamt 1.100 Soldaten während des G8-Gipfels eingesetzt werden, waren es nach einer Aussage des Sprechers im Verteidigungsministerium, Oberstleutnant Strunk, tatsächlich aber 2.100 Soldaten.7 Für die Öffentlichkeit unübersehbar wurde die zivil-militärische Zusammenarbeit auch im Krankenhaus von Bad Doberan. Dort kamen Soldaten des Sanitätsdienstes zur Unterstützung des zivilen Krankenhauspersonals bei der ambulanten und stationären Patientenversorgung zum Einsatz. Bei guter Sicht erkennbar waren auch die Boote der Marine vor der Küste: Sechs Verkehrsboote als Transportmittel, zwei Minenjagdboote für das Absuchen des seeseitigen Sperrgebietes, ein Minenjagdboot als Plattform für Minentaucher und eine Fregatte als Unterstützung für die Luftwaffe.8 Deutlich wird bereits beim jetzigen Erkenntnisstand, dass diese Einsätze von Heer, Luftwaffe und Marine im Innern weit über die Amtshilfe nach Art 35 (1) GG hinausgehen. Afghanistan ist überall, bewegt sich doch die Bundeswehr auch bei ihren Inlandseinsätzen zunehmend fern des Grundgesetzes.

Anmerkungen

1) Antwort der Bundesregierung (Drucksache 16/5148), 26. 04. 2007

2) Der Spiegel, 21. Juni 2007

3) Leipziger Volkszeitung, 21.6.2006

4) Spiegel online, 23. Juni 2007

5) Homepage von Krauss-Maffei Wegmann: http://www.kmweg.de/frame.php?page=31

6) Homepage Die Panzeraufklärer im Internet: http://www.pzaufkl.de/

7) Kl. Anfrage (Drucksache 16/5698) von Abgeordneten von DIE LINKE an die Bundesregierung, 14.06.07

8) Antwort der Bundesregierung, ebenda.

Johannes Plotzki ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen

Anspruch und Realität

Anspruch und Realität

Die EU auf dem Weg zur Militärmacht?

von Gabriele Rasch

Mit der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS), vorgestellt im Dezember 2003, hat sich die Europäische Union das Ziel gesetzt, „Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mit zu tragen.“ Nicht einmal vier Jahre später stehen europäische Truppen unter anderem im Sudan, im Kongo und im Libanon. Die Europäische Union demonstriert verstärkt außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit. Dass diese »neue« Handlungsfähigkeit vor allem auf einer Aufstockung militärischer Mittel beruht, bleibt dabei häufig unbeachtet. Unerwartet ist diese Entwicklung nicht. Der Vorrang des Militärischen in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ist das fragliche Resultat der EU-Politik der letzten Jahre.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wurde mit dem Vertrag von Maastricht 1992 etabliert und bildet die zweite der drei Säulen der Europäischen Union. Als grundlegende Ziele der GASP wurden 1997 mit dem Amsterdamer Vertrag folgende fünf Punkte benannt:

  • die Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen, der Unabhängigkeit und der Unversehrtheit der Union im Einklang mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen,
  • die Stärkung der Sicherheit der Union,
  • die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen,
  • die Förderung der internationalen Zusammenarbeit,
  • die Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Zur Verwirklichung dieser Ziele sollten gemeinsame Strategien entwickelt werden, in denen Zielsetzung, Dauer und die bereitzustellenden Mittel festgelegt sind.1

Der Aufgabenbereich des Amsterdamer Vertrages wurde im Juni 1999 mit der Übernahme der Petersberg-Aufgaben in die GASP deutlich erweitert. Humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben bis hin zu »friedenschaffenden« Militäreinsätzen zählten nun zum Aufgabenkatalog der GASP. Dementsprechend forderten die europäischen Staats- und Regierungschefs, die Union müsse „die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, dessen Einsatz zu beschließen“.2

Ein halbes Jahr später wurden in Helsinki die Leitlinien und Institutionen für eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) als Bestandteil der GASP verabschiedet. Es wurde ein Planziel festgesetzt, welches unter anderem den Aufbau einer militärischen Interventionsstreitmacht sowie die Schaffung neuer politischer und militärischer Gremien und Strukturen vorsah. Bis spätestens 2003 sollten die EU-Mitgliedstaaten in der Lage sein, innerhalb von 60 Tagen bis zu 60.000 Soldaten zu mobilisieren, um die »Petersberg-Aufgaben« zu erfüllen.3 Darüber hinaus beschloss der Europäische Rat im Juni 2000, seine nichtmilitärischen Fähigkeiten zur Krisenbewältigung vor allem in den Bereichen Polizei, Justiz, Zivilverwaltung und Katastrophenschutz auszubauen.4 Im Mai 2003 erklärte der Rat, dass die EU nun im gesamten Spektrum der Petersberg-Aufgaben einsatzfähig sei.

Die ESS und die Verfassung für Europa

Mit der im Dezember 2003 vorgestellten ESS »Ein sicheres Europa in einer besseren Welt« sollte der Welt demonstriert werden, dass eine außenpolitische Einigung der EU und damit ein einheitliches Handeln möglich ist. Wer allerdings die Hoffnung hatte, dass in dieser Strategie militärische und zivile Mittel gleichermaßen gewichtet werden, wurde enttäuscht. Die ESS betrachtet Sicherheit nur im eng militärischen Sinn, soziale, ökonomische, ökologische und rechtliche Faktoren bleiben ausgegrenzt. So wird zwar festgestellt, dass Konflikte sowohl militärisch als auch zivil angegangen werden müssen, die Prioritätensetzung erfolgt jedoch einseitig zugunsten militärischer Handlungsfähigkeit. Militärische Intervention wird nicht einmal als ultima ratio deklariert, stattdessen wird betont, dass „die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen“ wird. Die ESS vertritt zwar eine Orientierung auf den Multilateralismus, die Vereinten Nationen und das Völkerrecht, es fehlen jedoch eine explizite Bindung an die VN-Charta sowie die Distanzierung von Präventivkriegen. Stattdessen wird zum einen bekundet, die Vereinten Nationen in ihrem Kampf „gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt“ zu unterstützen, zum anderen wird gleichzeitig die „Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“ im Einklang mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen gefordert, welchen wiederum mit präventivem Engagement begegnet werden soll.

Militärische Prävention kollidiert jedoch mit der Charta der Vereinten Nationen. Die in der ESS formulierten Ziele der komplexen Konfliktlösung sowie der Stärkung des Völkerrechts werden demnach überlagert von dem eigenen Anspruch, „Einfluss im Weltmaßstab auszuüben“ und zu einem „raschen und wenn nötig robusten Eingreifen“ in der Lage zu sein.5

Dieser Anspruch wird durch das 2004 verabschiedete »Military Headline Goal 2010« und das im selben Jahr beschlossene »Civilian Headline Goal 2008« weiter untermauert. Mit der Umsetzung des »Military Headline Goal« verpflichten sich die EU-Staaten, bis 2010 unter anderem so genannte Battlegroups aufzubauen. Diese Gefechtstruppen sollen jeweils bis zu 1.500 Mann umfassen und innerhalb von 15 Tagen einsatzbereit sein. Des Weiteren wurde zum Beispiel die Einrichtung einer Verteidigungsagentur beschlossen. Mit der Umsetzung des »Military Headline Goal 2010« sollen so systematisch die militärischen Kapazitäten ausgebaut, Synergien zwischen Mitgliedsländern genutzt und die militärische Aktionsfähigkeit beschleunigt werden.6 Mit der Umsetzung des »Civilian Headline Goal 2008« verpflichten sich die Mitgliedstaaten scheinbar gleichermaßen zu einem verbesserten zivilen Krisenmanagement: „The EU must become more active, more capable and more effective in civilian crisis management […].“7 Betrachtet man jedoch die tatsächlichen Zielsetzungen, dann wird deutlich, dass der zivilen Seite spürbar weniger Gewicht beigemessen wird. So müssen zivile Kapazitäten lediglich innerhalb von 30 Tagen für einen Einsatz bereit sein, ein ständig verfügbarer »Pool« von zivilen Kräften, zum Beispiel mit technischen Hilfskäften und/oder administrativen Beratern, der über Katastrophenhilfe hinausgeht, fehlt gänzlich. Das vorgegebene Ziel, auch präventiv mit zivilen Mitteln auf Krisen zu reagieren, erscheint auch deshalb fraglich, weil der zivilen Seite keine eigene koordinierende Institution an die Seite gestellt wird. Die Einrichtung von Planungs- und Unterstützungskapazitäten im Ratssekretariat ist das einzige im »Civilian Headline Goal 2008» geforderte institutionelle Zugeständnis.8

Letzte Zweifel über die angestrebte Gewichtung der Mittel innerhalb von GASP und ESVP werden ausgeräumt, zieht man den Entwurf des Vertrags über eine Verfassung in Europa hinzu. Dieser Entwurf scheiterte zwar an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden, die Verfassungsabschnitte zur GASP gelten jedoch im Europäischen Rat als unumstritten. Betrachtet man sich die im Entwurf formulierten außenpolitischen Ziele der EU, so wird zwar durchaus die Friedensorientierung der Union, ihr multilateraler Handlungsansatz sowie die Bedeutung der Vereinten Nationen und des Völkerrechts betont. Die Verfassung beschäftigt sich jedoch in den die GASP betreffenden Artikel quantitativ noch stärker als die ESS mit militärischen Angelegenheiten. So wird zum Beispiel die schrittweise Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten festgeschrieben. Zu finden ist eine militärische Beistandsverpflichtung und die bereits erwähnte Forderung nach Einrichtung einer Europäischen Verteidigungsagentur. Eine parlamentarische Kontrolle der GASP sucht man hingegen vergeblich. Für das Europäische Parlament sind lediglich unbedeutende Anhörungs- und Informationsrechte vorgesehen.9 In der Verfassung wird damit die legitimatorische Voraussetzung für eine in erster Linie militärisch gestützte Außenpolitik geschaffen.

Deutlich wird, dass sich die EU in den letzten Jahren zur Stärkung ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vor allem dem Aufbau der ESVP-Instrumente verschrieben hat. Die Reduzierung der GASP auf die ESVP ist dabei die Folge. Gute Ansätze für eine zivile Krisenbewältigung und für eine zivil orientierte Krisennachsorge sind zwar durchaus vorhanden, der Anspruch liegt jedoch klar auf dem Ausbau der militärischen Handlungsfähigkeit der Weltmacht EU.

Die institutionelle Wirklichkeit

Diese Zielsetzung der GASP schlägt sich deutlich im institutionellen Bereich und in den konkret zur Verfügung stehenden Einsatzkräften nieder. So sind zwar innerhalb des zweiten Pfeilers der Union militärische und zivile Strukturen angelegt, allerdings ist hier in der personellen Ausstattung und institutionellen Ausgestaltung eine Schieflage zu Gunsten der militärischen Seite festzustellen. Während der Militärausschuss, das oberste militärische Organ, über einen etwa 190 Mann starken und hochrangig besetzten Militärstab verfügt, stehen seinem Äquivalent, dem Ausschuss für zivile Aspekte des Krisenmanagements, lediglich etwa 70 Mitarbeiter zur Seite. Zur Koordinierung beider Bereiche wurde eine zivil-militärische Planungszelle geschaffen. Diese ist jedoch innerhalb des Militärstabs angesiedelt und wird von einem General geleitet. Die zivilen Strukturen der GASP werden zudem durch die in diesem Bereich bestehende Rivalität zwischen den Akteuren des zweiten Pfeilers und der Kommission geschwächt. Die Aktivitäten Letzterer sind dabei vor allem auf mittel- und langfristige Krisenprävention ausgerichtet. Die Durchführung erfolgt dabei in eigener Zuständigkeit und oftmals über Nichtregierungsorganisationen. Diese institutionelle Trennung zwischen langfristiger Krisenprävention und kurzfristigem Krisenmanagement führt dazu, dass eine Kohärenz zwischen den beiden Ansätzen fehlt.

Die Ungleichgewichtung ziviler und militärischer Mittel wird zudem ersichtlich, betrachtet man sich die neu gegründete Europäische Verteidigungsagentur. Die Agentur mit über 80 Mitarbeitern und einem Budget von etwa 20 Mio. Euro hat die Aufgabe, die Rüstungsaktivitäten der Mitgliedstaaten der Union zu koordinieren, gemeinsame Waffenbeschaffungen zu ermöglichen und die europäische Rüstungsforschung zu finanzieren. Es wird von ihr erwartet, dass auf diesem Wege die Rüstungsausgaben weitaus effizienter eingesetzt werden können. Die Hoffnung, dass es durch eine solche Bündelung von Kräften auch zur Einsparung von Mitteln kommt, die dann wiederum dem zivilen Bereich zur Verfügung gestellt werden, erfüllt sich sicher nicht. Anzumerken ist zudem, dass ein ähnlicher Mechanismus für den zivilen Bereich nicht vorgesehen ist. Hier fehlt eine entsprechend starke Lobby, um die national stark zersplitterten zivilen Strukturen in gleicher Weise zu koordinieren.

Inwieweit die EU ihrem Anspruch auf militärische Handlungsfähigkeit heute bereits gerecht wird, zeigt sich an den ihr zur Verfügung stehenden Einsatzkräften. Auf militärischer Seite stehen 60.000 Soldaten der Rapid Reaction Force, von denen wiederum ab diesem Jahr bis zu 3.000 in Form von zwei Battlegroups binnen von 15 Tagen einsatzbereit sind. Auf ziviler Seite lassen sich lediglich etwa 13.000 Experten finden, von denen wiederum etwa 1.500 binnen von 30 Tagen einsatzbereit sein sollen. Die Diskrepanz zwischen beiden Seiten wird umso deutlicher, bedenkt man, dass die zivilen Kräfte nicht in dauernder Bereitschaft stehen können, da sie zu einem großen Teil noch einer anderen Beschäftigung in ihrem Heimatland nachgehen. Die militärischen Akteure hingegen verfügen über eine Aktionsbereitschaft, einen Trainingsstand und auch über einen Grad an Logistik, der so im zivilen Bereich nicht zu finden ist und auf Grund des mangelnden politischen Willens und einer fehlenden Lobby auch in absehbarer Zeit nicht zu finden sein wird.

ESVP-Operationen

Die mit dem Anspruch auf militärische Handlungsfähigkeit verbundene ungleiche Gewichtung ziviler und militärischer Mittel spiegelt sich auch in den ESVP-Operationen wider. Die EU hat seit 2003 bereits 16 Operationen durchgeführt bzw. führt sie noch immer aus. Zwei der Operationen finden dabei in Bosnien und Herzegowina (BiH) statt: die Militärmission EUFOR ALTHEA und die Polizeimission EUPM.

ALTHEA ist die bisher größte ESVP-Operation. Mit ihr übernahm die EU 2004 die NATO-geführte Mission SFOR. ALTHEA hat das Ziel, die Einhaltung des Abkommens von Dayton sicherzustellen, sowie die Sicherheit und öffentliche Ordnung in BiH zu verbessern. EUPM wurde 2003 initiiert und 2006 mit einer follow-on Mission auf weitere zwei Jahre verlängert. Sie ist die stark verkleinerte Nachfolgerin der 1996 als Teil des Dayton Abkommens etablierten International Police Task Force. Der Fokus der EUPM liegt auf der Bekämpfung der organisierten Kriminalität sowie auf der Implementierung von strukturellen Reformen im Polizeisektor. Die simultane Durchführung beider Missionen in BiH wird häufig als ein Beispiel für den umfassenden Konfliktlösungsansatz der EU herangezogen. Von einer gelungen Kombination aus militärischen und zivilen Elementen kann indes nicht gesprochen werden. Die Zielsetzung von ALTHEA ist längst überholt, denn die tatsächlich existierenden Sicherheitsprobleme in BiH leiten sich nicht mehr aus militärischen Kampfhandlungen ab, sondern resultieren aus einer florierenden Schattenökonomie. Soldaten sind deshalb ein denkbar ungeeignetes Mittel, um die Situation im Land zu verbessern. Trotzdem verwendet die EU für ALTHEA über 71,7 Mio. Euro und setzt etwa 7.000 Soldaten ein. EUPM hingegen, welche eindeutig geeigneter für die Bekämpfung der heutigen Probleme in BiH ist, kann auf lediglich 200 Mitarbeiter und ein Budget von 9 Mio. Euro zurückgreifen. Obwohl die Bilanz der Polizeimission als durchaus positiv zu bewerten ist, befinden sich nur wenige hundert Polizisten und noch weniger weitere Zivilkräfte im Einsatz. Nicht nur das EU-Polizeikontingent wird demnach bei weitem nicht ausgeschöpft, auch auf andere zivile Mittel wird nur unzureichend zurückgegriffen. Zudem fehlt ein klares politisches und auch wirtschaftliches Konzept für das Land. Gerade in Polizeimissionen wie der EUPM liegt für die EU die Chance, sich als internationaler Akteur zu profilieren und eine alternative »Dienstleistung« für Konfliktlösungen anzubieten. Da hierbei auch Nicht-EU-Staaten mitwirken, bietet sich die Möglichkeit, einen effektiven Multilateralismus zu praktizieren. Das Festhalten an ALTHEA zeigt jedoch deutlich, dass auch bei ESVP-Operationen zivile Mittel im Schatten militärischer Handlungsfähigkeit stehen.

Ganz ähnlich gestalten sich auch die ESVP-Operationen im Kongo. In dem afrikanischen Land unterhielt die EU bis Ende letzten Jahres drei Missionen: EUSEC Kongo, EUPOL Kinshasa sowie EUFOR RD Kongo.

  • EUSEC Kongo ist eine Beratermission, die 2005 für 12 Monate initiiert und bis Juni 2007 verlängert wurde. Die Mission bietet den kongolesischen Behörden Beratung und Unterstützung bei der Reform des Sicherheitssektors und der Integration der kongolesischen Armee an. Das Budget für EUSEC Kongo beläuft sich auf 1,6 Mio. Euro, etwa 30 Personen sind im Rahmen der Mission engagiert.
  • EUPOL Kinshasa ist eine Polizeimission, welche ebenfalls 2005 begann. Sie hat als Ziel, dem Kongo beim Aufbau einer integrierten Polizeieinheit (IPU) zu helfen. Das Mandat beinhaltet zum Beispiel den Aufbau eines Schulungszentrums oder die Beteiligung am Training der IPU. Dafür stehen EUPOL Kinshasa etwa 40 Mitarbeiter und ein Budget von 4,3 Mio. Euro zur Verfügung.
  • Die bisher umfangreichste EU-Mission im Kongo, EUFOR RD Kongo, wurde im April 2006 etabliert und auf vier Monate ab dem ersten Tag der Präsidenten- und Parlamentswahlen begrenzt. Auftrag der Mission war die Absicherung der Wahlen sowie, im Falle von Unruhen, der Schutz des internationalen Flughafens in Kinshasa und die Durchführung von Evakuierungseinsätzen. Insgesamt umfasste EUFOR RD Kongo 2.400 Soldaten. Allein die Kosten für den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Mission beliefen sich auf über 33 Mio. Euro. EUFOR RD Kongo wurde am 30.11.2006 »erfolgreich« abgeschlossen.

Der Sinn des Einsatzes der Truppen muss jedoch bezweifelt werden. Die Wahlen sind zwar ruhig verlaufen, eine Demokratie ist der Kongo trotz neuer Regierung indes nicht. Das Land kann jederzeit wieder in Anarchie versinken. Es fehlt an Infrastruktur wie Straßen, einer funktionierenden Stromversorgung, sauberem Trinkwasser, Kliniken und Schulen. Das UNHCR äußert sich besorgt über lokale Ausbrüche von Gewalt vor allem im Osten des Landes, über Menschenrechtsverletzungen und hohe Übertragungsraten von HIV/Aids. Die EU hatte der Mission keinerlei mittel- und langfristiges Konzept für den Kongo an die Seite gestellt. Weder wurden die Ursachen des eigentlichen Konflikts angegangen, noch die Stabilität des Staates verbessert. Dafür wären ein umfassendes Wiederaufbauprogramm und eine Stärkung der Menschenrechts- und zivilgesellschaftlichen Gruppen von Nöten gewesen. Im Gegensatz zu EUSEC Kongo und EUPOL Kinshasa, die durchaus als friedenserhaltende Maßnahmen zu bewerten sind, diente EUFOR RD Kongo in erster Linie der zur Schaustellung der militärischen Handlungsfähigkeit der EU. Nicht zuletzt bilanziert der Kommandeur der EU-Truppen, Generalleutnant Karlheinz Viereck: Die Mission hat „das Vorurteil widerlegt, Europa könne nicht führen. Jawohl, Europa kann es. Das ist die wichtigste Botschaft.“10.

Fazit und Ausblick

Die institutionellen Entwicklungen innerhalb der GASP, der Ausbau der ESVP-Kapazitäten in den letzten Jahren und nicht zuletzt die Ausgestaltung der ESVP-Operationen machen deutlich, dass die Europäische Union auf dem besten Weg ist, ihre selbstgesetzten Führungsansprüche umfassend zu verwirklichen. Dabei soll die »Verantwortung für die globale Sicherheit« vor allem durch militärische Mittel getragen werden. Die Möglichkeiten für zivile Maßnahmen haben sich im Zuge dieser Entwicklung zwar ebenfalls verbessert, der Ausbau ziviler Mittel hinkt aber hinter dem Aufbau militärischer Handlungsfähigkeit weit hinterher. Die durchaus guten Voraussetzungen für eine zivile Außenpolitik bleiben weitgehend ungenutzt.

Vorrangig geht es längst nicht mehr um die Lösung eines Konflikts oder die Bekämpfung von Konfliktursachen, sondern um die weltweite Durchsetzung europäischer Interessen. So kann man nicht nur im Weißbuch der Bundesregierung nachlesen: „Die Sicherheitspolitik Deutschlands wird von den Werten des Grundgesetztes und dem Ziel geleitet, die Interessen unseres Landes zu wahren, […].“11 Auch im Vorschlag für ein Weißbuch der europäischen Verteidigungspolitik heißt es, dass sich die EU dafür rüsten müsse, für die Verteidigung des europäischen Wohlstandes Kriege zu führen und zu gewinnen.12 Dass dabei offensichtlich auch die Bereitschaft zur Führung von Präventivkriegen wächst, sollte zusätzlich Sorge bereiten.

Die EU ist auf dem Weg zur Militärmacht. Die Entwicklung ihrer »neuen« Handlungsfähigkeit gilt es deshalb kritisch zu beobachten.

Anmerkungen

1) Vgl. Amsterdamer Vertrag, Art.1, 10.

2) Europäischer Rat, Köln, 3./4. Juni 1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anhang III – Erklärung des Europäischen Rates zur Stärkung der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

3) Vgl. Europäischer Rat, Helsinki, 11./12. Dezember 1999, Kap. II – Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

4) Vgl. Europäischer Rat, Santa Maria da Feira, 19./20. Juni 2000, Anhang I – Bericht des Vorsitzes über die Stärkung der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

5) Vgl. Ein sicheres Europa in einer besseren Welt – Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12. Dezember 2003.

6) Vgl. Headline Goal 2010, in: EU Security and Defense. Core Documents 2004, Chaillot Papers 75/2005, S.111-16.

7) Civilian Headline Goal 2008, in: EU Security and Defense. Core Documents 2004, Chaillot Papers 75/2005, S.359-363.

8) Vgl. Civilian Headline Goal 2008, in: EU Security and Defense. Core Documents 2004, Chaillot Papers 75/2005, S.359-363.

9) Vgl. Vertrag über eine Verfassung in Europa, Titel V- Auswärtiges Handeln der Union.

10) „Europa kann es. Das ist die wichtigste Botschaft“ – Generalleutnant Karlheinz Viereck, Kommandeur der EU-Truppen im Kongo, zieht Bilanz des Einsatzes in Zentralafrika, Die Welt, 15.12.2006.

11) Weißbuch 2006 – Zur Sicherheitspolitik Deutschland und zur Zukunft der Bundeswehr, S.26-27.

12) Vgl. European Defense – A Proposal for a White Paper, Institute for Security Studies, Paris, May 2004, S.80-87; 99-116.

Gabriele Rasch ist Politikwissenschaftlerin und Historikerin