Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Eindrücke aus der Ukraine im Oktober 2021 – eine episodische Konfliktannäherung

von Lisa Neal

Beschreibungen des Überfalls auf die Ukraine beziehen sich oft auf geopolitische Zusammenhänge und Psychogramme Putins. Die inneren Konflikte der Ukraine stehen dabei selten im Fokus. Dennoch gehören sie zur Geschichte des bewaffneten Konflikts. Die Autorin reiste im Herbst 2021 kurz vor der Eskalation durch die Ukraine und nähert sich in Episoden den Konflikten im Land an.

Die Ukraine ist das Land, wo zuletzt Menschen für die europäische Fahne gestorben sind“, sagt eine Aktivistin in Kiew. Ich kann ihren Namen nicht nennen.

Im Oktober 2021 bin ich für zehn Tage in einem Land unterwegs, in dem seit 2014 ein von der Weltöffentlichkeit weitgehend vergessener Krieg herrscht. Heute kennt die ganze Welt die Bilder aus Butscha.

2014 erklären prorussische Separatistengruppen im Osten der Ukraine die beiden Verwaltungsgebiete Donezk und Luhansk für unabhängig. Die Separatisten sollen von Russland unterstützt sein. Russische Soldaten besetzen im Süden des Landes die autonome Region Krim. In einem international weitgehend nicht anerkannten Referendum stimmen laut der regionalen prorussischen Regierung die Bewohner*innen der Krim für einen Anschluss an Russland. Trotz eines vereinbarten Waffenstillstands kommt es immer wieder zu Schüssen (Pleines 2022). Die ukrainische Seite zeigt sich beunruhigt über die rund 90.000 russischen Soldaten nahe ihrer Grenze. Ukrainer*innen warnen die Welt vor dem, was sich zusammenbraut. Zu Recht, wie sich wenige Monate später herausstellt. Doch die Welt hört noch nicht zu.

Schon lange prägen Kämpfe um Unabhängigkeit und um die Ausrichtung nach Westen oder Osten die Geschichte der Ukraine. Der Krieg hat bis zu meinem Besuch im Oktober 2021 nach Angaben der UN-Menschenrechtsbeauftragten schätzungsweise mehr als 13.000 Todesopfer gefordert. Er knüpft an eine lange komplizierte Geschichte an.

Als Auslöser für die erneute gewaltsame Eskalation gilt die Weigerung des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im November 2013, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union doch nicht zu unterschreiben. Stattdessen will er sich nach Russland orientieren. Es kam zu landesweiten Protesten, welche ihn sein Amt kosteten. Seitdem bemühten sich die nachfolgenden Regierungen um die Aussicht auf einen EU-Beitritt. Doch damit sind nicht alle Ukrainer*innen einverstanden.

Die Gräben beschränken sich nicht auf die umkämpften Gebiete. Sie ziehen sich durch die Köpfe und Herzen der Menschen im ganzen Land. Wo und wie zeigen sie sich?

Kiew: „Heb den Müll auf, wir sind jetzt Europa“

Kiew ist eine leise, bergige Stadt. Die Blätter an den Bäumen sind goldgelb, es riecht nach warmer Herbsterde. Im Stadtbezirk Schewtschenko steht das Denkmal der Völkerfreundschaft, ein großer Steinbogen, der davorstehende Menschen auf Ameisengröße schrumpfen lässt. Er soll die »Bruderfreundschaft« mit Russland symbolisieren. Für den aktuellen Krieg ist ein blitzförmiger Bruch aufgeklebt – aber nicht eingemeißelt. Vom Bogen aus öffnet sich der Blick über den Fluss Dnepr und die nächtliche Stadt. In weiter Entfernung stehen Hochhäuser mit harten eckigen Neonlichtern. „Die Schlafstadt“, erklärt eine Ukrainerin. Die Mieten in den leisen Straßen mit Steinhäusern sind zu hoch. Wie in fast jeder Großstadt dieser Welt.

An den meisten Regierungsgebäuden hängt neben der gelb-blauen ukrainischen Fahne die europäische Flagge. „Heb den Müll auf, wir sind jetzt Europa“, heißt es aus einer anonymen Quelle. Ein europäisches Bewusstsein dringt in den letzten sechs Jahren noch mehr durch, seit es eine visumsfreie Einreise für Ukrainer*innen in die EU gibt. Wer aus dem Westen der Ukraine stammt, dem wird innerhalb des Landes schnell eine proeuropäische Gesinnung unterstellt und wer im Osten der Ukraine lebt und Russisch spricht, dem wird eine prorussische Einstellung nachgesagt. So einfach ist es nicht. Ukrainisch und Russisch gehören beide zu den Hauptsprachen des Landes. In Odessa, an der Erklärtafel zum Denkmal für die russische Zarin Katharina die Große, werden sowohl der ukrainische als auch der russische Text beide mit der ukrainischen Flagge gekennzeichnet. Weder Sprache noch Wohnort reichen aus, um die Menschen zu verorten. Die Orientierung nach Osten oder Westen hängt von persönlichen Geschichten ab, wie Ukrainer*innen mir auf dieser Reise immer wieder aus ihren Erfahrungen berichten.

Krim und Slawjansk: Wo der Krieg begann

Die Krim ist eine Halbinsel im Schwarzen Meer. Glaubt man ihren indigenen Bewohner*innen, den Krimtataren, so ist sie der schönste Ort, an dem ein Mensch leben kann. Die Mitglieder des Medschlis in Kiew – der zentralen Exekutivkörperschaft des Kurultai der Krimtataren – halten sich laut eigener Aussage mittlerweile an den Grundsatz der Gewaltfreiheit. Im Gespräch mit mir wirken sie freundlich, ein bisschen abgekämpft. In ihrer Exilvertretung in Kiew steht eine Vitrine voller Geschenke ausländischer Besucher*innen, die meisten Dinge darin sind Türkisch beschriftet. Für die sunnitischen Krimtataren ist die Krim eng mit ihrer Identität verbunden. Diese zu bewahren bedeutet, zu überleben. Heimkehren auf die Krim: Darin liegen Heilung und Glück, der Wunsch wird zu einem Gebietsanspruch (GfbV 2015). Diese Geschichte wird von Generation zu Generation beschworen. Was in Kriegen zeitweise verloren geht, ist die Sprache, die Fähigkeit, Worte für das zu finden, was als »Verlustschmerz« nicht einmal annähernd das innere Brennen oder die Leere bezeichnen kann. Auf die Frage, was mit den Russ*innen passieren soll, die nun auf der Krim leben, wenn die Krimtataren eines Tages zurückkommen, geben sie keine Antwort. Der Vorsitzende Refat Tschubarow und die anderen Medschlis hoffen, dass die Besatzung der Krim für Russland zu teuer werde und sie abziehen. Im Tauziehen um eine Ost- oder Westorientierung des Landes sind die Krimtataren die großen Verlierer*innen auf beiden Seiten.

Die ersten Schüsse 2014 fallen hunderte Kilometer weit weg von Kiew. Auf dem Weg zu diesem Ort gehen der graue Himmel und die karge Steppe ineinander über. Graubraune Häuser, leere Fabriken und Flächen, unebene Straßen, dazwischen goldene Blätter und leuchtend rote Büsche. Zu den großen Ressourcen der Ukraine gehört ihre Weite.

In Slawjansk, einer Stadt im Osten nahe der Separatistengebiete, begann der Krieg vor acht Jahren. Von den Gefechten zwischen Separatisten und ukrainischen Einheiten sind kaum noch Spuren zu finden, es ist fast alles wieder aufgebaut. Eine kleine Gedenktafel und ein Strauß gelber und roter Blumen erinnern an die Bedeutung des Ortes. Es riecht nach Abgasen und feuchtem Lehm. An einem kleinen Kiosk stehen rauchende Männer mit Mützen, die dem Treiben mäßig interessiert zuschauen. Ein pinker Sportwagen saust vorbei. Der Konflikt ist nicht ethnisch. Es ist einer zwischen Lebensentwürfen und Loyalitäten.

Landesweit: Kämpfe für einen sozial gerechteren Staat

Es gibt die Konflikte, die durch Grenzschilder, Militärposten und schussbereite Waffen erkennbar sind. Und dann gibt es die, die sich an den großen Uhren junger Politiker*innen und den Sorgenfalten der Aktivist*innen erahnen lassen, mit denen ich spreche. Die Korruption in der Ukraine sei epidemisch und überall, berichten letztere. Laut Transparency International befindet sich die Ukraine 2020 auf Platz 117 von 180 des Korruptionswahrnehmungsindex, 2012 war sie noch auf Platz 144 (Transparency International o.J.). Die Korruption war einer der Gründe, weshalb die Menschen im Winter 2013/14 gegen die Regierung von Präsident Janukowitsch protestierten (Kolb 2014). Der Durchschnittslohn in der Ukraine beträgt umgerechnet 450-500 Euro im Monat und Arbeitnehmer*innen haben einen Kündigungsschutz von zwei Wochen. Soziale Gerechtigkeit ist ein großes Anliegen – mit dem auch der derzeitige Präsident Selenskyi 2019 die Wahlen gewann.

Zu den wichtigsten Mitteln der Korruptionsbekämpfung gehören nach Einschätzung des ehemaligen Richters Mykhailo Zhernakov die Entbürokratisierung, die Erhöhung der Gehälter für Beamte und die Bemühungen um eine Justizreform. Dafür setzt sich auch die DEJURE Stiftung ein. Mitbegründer Zhernakov findet harsche Worte: Der Ukraine fehlt Rechtstaatlichkeit und sie hat das juristische System der Sowjetunion geerbt.“ Das bedeutet, dass das juristische System abhängig vom Staat ist. Laut Zhernakov müsse die Veränderung zur Unabhängigkeit graduell verlaufen. Dabei wegweisend sei das nationale Anti-Korruptionsbüro NABU samt Staatsanwalt und Anti-Korruptions-Gericht, einer Art „Anti-Korruptions-FBI“, so drückt er es aus. Aber der größte Veränderungsdruck komme von internationalen Institutionen, durch Verhandlungen mit der EU und dem Wunsch, ein NATO-Bündnispartner zu werden. Sehr zum Missfallen von Russland. Zhernakov geht das alles zu langsam. Putin, wie sich wenige Monate später herausstellt, geht es zu schnell und zu weit.

Kramatorsk: Binnenflucht und begrenzte Staatlichkeit

2014 begann mit der neuen Regierung die Dezentralisierung und damit auch ein Demokratisierungsschub in der Ukraine. Der Krieg mit den Separatisten hat viele Menschen aus den nun besetzten Gebieten im Osten vertrieben. 512.000 Binnenflüchtlinge sollen laut offiziellen Angaben der Verwaltung in den angrenzenden Gebieten leben. Erst waren sie Fremde, jetzt sind sie geduldet und die regionale Regierung baut Mietwohnungen für sie. Die Verwaltung der besetzten Gebiete ist nach Kramatorsk gezogen, von hier aus arbeitet Gouverneur Pavlo Kyrylenko. Er sagt, dass die Binnenflüchtlinge natürlich froh seien, hier zu sein, es ginge ihnen hier besser „als bei den Russen“. Doch der Aufenthalt sei nur vorübergehend. Ist der Krieg einmal beendet, dann würden sie zurückgehen. Was von ihrem Zuhause noch da sein wird, weiß niemand auf dieser Seite der Frontlinie. Es fehlen unabhängige Informationen aus den Separatistengebieten. Den Nationalismus der Menschen müsse man klug handhaben, dann sei dieser in Ordnung, sagt Kyrylenko, Hauptsache, wir bekommen die Sowjetunion aus den Köpfen der Menschen heraus.

Druschkiwka und Majorska: Folter und Minen

Nahe Kramatorsk, etwa 550 Kilometer Luftlinie südöstlich von Kiew, liegt das Dorf Druschkiwka. Es war während der Kämpfe 2014 für kurze Zeit von den Separatisten besetzt. In dieser Zeit soll der ukrainisch-orthodoxe Priester Dionissij Wassyljew für drei Tage im Juni gefangen und verhört worden sein. Er fürchtete um sein Leben und war sich sicher, dass er erschossen werden wird. Jedes Mal, wenn er die heutige Polizeistation betritt, beginnt sein Herz schneller zu schlagen, sagt er. Trotzdem macht er es immer wieder, um anderen zu erzählen, was ihm und seinen Mitgefangenen hier widerfahren ist. Er will, dass aus dem Folterkeller ein Museum wird, als Warnung und in Gedenken an die schreckliche Zeit. Es soll auch daran erinnern, dass bereits die Gestapo in diesen Räumen Menschen gefangen hielten. Im Keller ist es dunkel und kalt, der Strahl einer Taschenlampe leuchtet durch die Gänge. Dionissij zeigt, wo er verhört wurde, wo er schlief, betete und zitterte. Nicht alle wollen hören, was Dionissij zu erzählen hat, er bekomme viele Anfeindungen. Deshalb aufhören? „Niemals!“, sagt er entschieden.

Einige Kilometer weiter im Osten, in Majorska liegt einer von sieben Grenzübergängen zwischen der Separatistenzone und dem ukrainisch kontrollierten Staatsgebiet. Hinter dem Übergang, in der sogenannten »Grauen Zone« zwischen den Fronten, steht die lokale Bezirksverwaltung zu der Rayissa Griegoriwna gehen muss, um sich ihre neue Corona-Impfung bescheinigen zu lassen. Mit ihrer roten Mütze ist sie der fröhlichste Farbfleck in dieser Umgebung. Ihr Alter ist schwer erkennbar, ihr von Runzeln verkerbtes Gesicht wirkt freundlich. Gespannt schaut sie, was die Besucher*innen hier wollen, lächelt unter ihrer halb herunter gezogenen Maske und tippelt weiter. Ein Schritt ab vom Weg und sie könnte auf eine Mine treten. Denn die ganze Region ist von Minen verseucht. Über Jahre hinweg haben Menschen vor Ort die Minen entschärft. Der Krieg hat sich wortwörtlich in diese Landschaft eingegraben.

Odessa: Trauerverbot und Held*innen

Odessa riecht nach Vanille und – mit Puschkin gesagt – nach Europa. Auf manchen Bürgersteigen lösen sich die Steine, die matten Fassaden der Barock- und Jugendstilhäuser bröckeln. Der Kulikowe-Pole-Platz ist mit seinen breiten Wegen zum schnellen Überqueren gemacht. Er wird 2014 trotzdem zum Schauplatz des Konfliktes. „Sie stehlen unseren Toten ihre Blumen“ steht auf einem Papier, das dort an einem Zaun klebt. Es ist nur eine von vielen in Plastik eingeschweißten Botschaften, die über Kerzen und verblassenden Fotos von Verstorbenen hängen. Am 2. Mai 2014 kam es in Odessa zu einer Auseinandersetzung zwischen prorussischen und proukrainischen Demonstrierenden. In einem Bericht der Deutschen Welle heißt es: „Pro-russische Aktivisten und Befürworter einer Abspaltung Odessas von der Ukraine zogen sich in das Gewerkschaftshaus zurück. Ukrainische Nationalisten belagerten das Gebäude. Molotowcocktails flogen, das Haus geriet in Brand. Allein am Gewerkschaftshaus starben damals 42 Menschen“ (Trippe 2017).

Bis heute fehlt die juristische Aufarbeitung der Ereignisse, bis heute gibt es kein Denkmal für die Toten. Die Trauer darf kaum stattfinden, die Blumen der Hinterbliebenen werden weggeschmissen. Das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit wird damit nicht gefördert. Zudem vertrauten die Ukrainer*innen dem Militär oft mehr als ihren Politiker*innen und dem Justizsystem, erzählen verschiedene Aktivist*innen. Während des Krieges haben sich diverse paramilitärische Freiwilligenbataillone der ukrainischen Armee angeschlossen, darunter auch das rechtsextreme Regiment Asow. „Ich würde für mein Heimatland sterben“, sagt Victoria, Ende Zwanzig, die gerade von der Front zurückgekehrt ist und sich mit der Organisation »Come back Alive« für die Reintegration von Soldat*innen einsetzt. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei anderen Personen, scheinen militaristische Nationalismen zu blinden Flecken zu werden. Kritische Äußerungen über das Militär? Höre ich kaum, sie sind die Held*innen. Heute mehr denn je.

Wie es weitergeht, ist unklar

Die Ukraine ist im Oktober 2021 Teil der östlichen Partnerschaften der Europäischen Union, sie ist aber noch keine Beitrittskandidatin zur EU. Im Land gibt es vielerorts Hoffnungen, dass dies mittelfristig passieren wird. Die Europa-Begeisterung ist groß. Gleichzeitig gibt es viele Menschen im Land, die ihre Zukunft gemeinsam mit Russland sehen. Was ich im Rahmen meines Besuches erkenne: Was eine Chance auf Vielfalt bedeuten könnte, wird immer mehr zu einer Spaltung. Entlang dieser Spaltung und des fortdauernden Krieges verschärfen sich die Gräben. Korruption, Nationalismus und Flucht reiben das Land von innen auf. Corona hat hässliche Ungleichheiten verstärkt und größer gemacht. Hoffnung auf eine Verbesserung sehen die einen im Westen, die anderen im Osten.

Wörtliche Zitate ohne Quellenangaben stammen aus Interviews, die die Autorin im Rahmen ihrer Reise geführt hat. Diese Reportage ist u.a. durch die Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert worden. Eine inhaltliche Einflussnahme der Stiftung fand zu keinem Zeitpunkt statt.

Literatur

Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) (2015): Krimtataren geraten noch mehr unter Druck. Aktuelles, 23.11.2015.

Kolb, M. (2014): Ukraines Ex-Präsident Janukowitsch: Akten der Arroganz. Süddeutsche Zeitung, 26.02.2014.

Pleines, H. (2022): Analyse: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen: Was ist möglich? Ukraine-Analysen Nr. 261. Bundeszentrale für politische Bildung, 14.02.2022.

Transparency International (o.J.): Corruption perceptions index. Online database. transparency.org/en/cpi.

Trippe, Ch. (2017): Bis heute nicht aufgeklärt. Brand im Gewerkschaftshaus in Odessa. DW online, 01.05.2017.

Lisa Neal ist freie Autorin und promoviert zum Thema auswärtige Sicherheitspolitik der EU. Sie arbeitet am Institut für Theologie und Frieden, Hamburg, und lehrt zu Konfliktethik.

Sicherheitsrisiko KSK


Sicherheitsrisiko KSK

von Jürgen Nieth

„Ein Sturmgewehr AK-47, Tausende Patronen, kiloweise Plastiksprengstoff mit Zünder, ein SS-Liederbuch, Zeitschriften für ehemalige Angehörige der Waffen-SS, mehrere Thor-Steinar-Shirts. Was bei einem KSK-Soldaten Mitte Mai gefunden wurde, beschrieb Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) als ‚neue Dimension‘.“ (Sebastian Erb in taz, 4.7.20, S. 10)

Die »neue Dimension« hat einen Namen. „Oberstabsfeldwebel Philipp Sch. diente fast zwei Jahrzehnte beim KSK, war etliche Male in Afghanistan und bei anderen Auslandseinsätzen der Bundeswehr dabei. Im Kommando nannten ihn viele den »Nazi-Opa«, weil er schon deutlich über vierzig war.“ (Spiegel, 27.6.20, S. 29)

Und die »neue Dimension« hat eine lange Vorgeschichte.

„Chronik der Unrühmlichkeiten“

überschreibt die Welt (6.7.20, S. 8) die Geschichte rechtsextremer Vorfälle im KSK. Es ist eine lange Liste. Hier nur ein paar Auszüge.

1997 berichtete ein Soldat, der sich 1995 zur Kommandokompanie in Nagold-Calw gemeldet hatte, aus der später das KSK hervorging, über seine Lehrgänge in sieben verschiedenen Kasernen: „[E]r habe in jeder Kompanie rechtsextreme Vorgesetzte und Vorgänge erlebt. Er schildert unter anderem das Singen von Wehrmachtsliedern, Schindereien und Nazisprüche.“ Das Verteidigungsministerium bestritt die meisten Vorwürfe.

2003 lobt der „damalige KSK-Kommandeur Reinhard Günzel […] die antisemitische Rede des früheren CDU- und heutigen AFD-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann. Günzel dankt Hohmann für den ‚Mut zur Wahrheit‘, er habe ‚der Mehrheit unseres Volkes eindeutig aus der Seele gesprochen‘.“ Günzel wurde daraufhin unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassen. (Am 5.7.20 heißt es dazu in der FAS auf S. 3: „Der Fall Günzel beschäftigte die Soldaten damals nicht weiter. Obwohl er entlassen war, blieb er ‚der Papa da, der wurde respektiert‘.“)

2007 versendet der KSK-Hauptmann Daniel K. „eine Drohmail […]: ‚Ich beurteile sie als Feind im Inneren und werde mein Handeln daran ausrichten, diesen Feind im Schwerpunkt zu zerschlagen.‘“ Daniel K. wurde trotz Diziplinarmaßnahme später befördert und erst zwölf Jahre später vom Dienst suspendiert.

2017 feiern 60 Elitesoldaten der 2. Einsatzkompanie den Abschied ihres Kompaniechefs: „Die Rede ist vom Werfen mit Schweineköpfen, von Hitlergrüßen und Rechtsrock.“ Es gab Disziplinarverfahren gegen mehrere Beteiligte.

Rechte Netzwerke

Alles Einzelfälle oder stecken dahinter rechte Netzwerke? Am 4.7.20 berichtet die SZ auf S. 2: Im KSK „hat es Partys gegeben, bei denen der Hitlergruß gezeigt wurde, und selbst die Vorgesetzten haben sich offenbar nicht daran gestört, dass viele ihrer Leute sich nicht als Team Grundgesetz begriffen, sondern als Team 88 feierten und inszenierten, der rechtsradikale Szenecode für Heil Hitler, weil H der achte Buchstabe des Alphabets ist – das war das Rufzeichen der Kommandozentrale. Ganz offiziell.“

In der taz (4.7.20, S. 10) heißt es: Ende 2018 sagte der Chef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), es „gebe keine rechtsextremen Netzwerke in der Bundeswehr. Und 2019: Es gebe Vernetzung aber kein Netzwerk. In dieser Woche sprach er dann von ‚Netzwerken und Strukturen‘. Die Rechtsextremisten sind aber nicht erst kürzlich mit Ufos […] in die Bundeswehr geflogen.“

AKK zieht die Reißleine

In einem Interview mit der SZ (1.7.20, S. 2) spricht die Verteidigungsministerin davon, dass sich Teile des KSK verselbstständigt hätten, „auch weil es eine toxische Führungskultur Einzelner gab“. Sie kündigte als Schlussfolgerungen an, dass „die 2. Kompanie zum 1. August ersatzlos aufgelöst [wird]. Das unbelastete Personal wird – soweit möglich – die verbleibenden Kompanien aufstocken. Andere werden aus dem KSK herausversetzt.“ Weiter soll das „System der in sich geschlossenen Ausbildung beim KSK aufgebrochen und „innerhalb des Verbandes ein Rotationsprinzip eingeführt“ werden. Das KSK wird „bis auf Weiteres keine Übungen und internationalen Einsätze und Kooperationen mehr wahrnehmen“. Kramp-Karrenbauer spricht davon, dass man beim Aufklärungsversuch zur Abschiedsfeier des Chefs der 2. Kompanie bisher „auf eine Mauer des Schweigens gestoßen [ist]. Bei manchen aus Zustimmung, bei anderen aus Angst.“ Eine Mauer, die aber Risse bekomme.

Schlussfolgerungen

Ist das KSK reformierbar und wenn ja, wie? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die neue Wehrbeauftragte des Bundesstages, Eva Högl (SPD), plädiert für die Wiedereinführung der Wehrpflicht und bekommt Widerspruch von ihren Parteivorsitzenden: Die Wehrpflicht „steht nicht im Zusammenhang mit der gefährdeten Demokratiefestigkeit einzelner Bereiche der Bundeswehr, die nie mit Wehrpflichtigen besetzt worden sind“ (ND 6.7.20, S. 5). Peter Dausend (Zeit, 9.7.20, S. 1) hält wie andere fest: „Rechtsextreme Auswüchse gab es vor der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 – und es gibt sie seitdem […] Wehrpflicht ist kein Gegengift gegen Rechtsextremismus in Uniform.“

Andere sehen in der Aufnahme von Frauen einen wichtigen Schritt, um die „Männerwelt“ des KSK aufzubrechen und die „Truppe wieder näher an die Zivilgesellschaft“ heranzuführen (Joachim Käppner in SZ 6.7.20, S. 4).

Das nd (2.7.20, S. 1) zitiert Tobias Pflüger (Linke): Das KSK „gerät seit Jahren immer wieder und auf allen Führungsebenen mit rechtsradikalen Vorfällen in die Schlagzeilen“. Die Vorfälle seien „Grund genug, einen Schlussstrich unter das Kapitel KSK zu ziehen“.

Das heute etwa 1.700 Soldaten umfassende Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr wurde 1996 nach dem Vorbild US-amerikanischer, britischer und französischer Elitetruppen aufgestellt. Es besteht „aus sechs Einsatzkompanien, vier davon als Kommandokompanien spezialisiert unter anderem auf Geiselbefreiungen und Terroristenbekämpfung“ (Spiegel 27.6.20, S. 27). Die Soldaten sind strengster Geheimhaltung verpflichtet. Über die verdeckten Einsätze werden auch nur wenige Abgeordnete des Bundestages im Geheimen informiert.

Zitierte Presseorgane: FAS – Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, nd – Neues Deutschland, DER SPIEGEL, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, DIE WELT, DIE ZEIT.

An allen Fronten – Auf allen Ebenen!


An allen Fronten – Auf allen Ebenen!

22. IMI-Kongress, Tübingen, 7.-9. Dezember 2018

von Jürgen Wagner

Der 22. Kongress der Informationsstelle Militarisierung fand, dieses Jahr etwas später als gewohnt, von 7. bis 9. Dezember 2018, wie immer in Tübingen, statt. Thema war – die Debatte um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO aufgreifend – »Deutschlands Aufrüstung: An allen Fronten – Auf allen Ebenen!«. Zwischen 70 und 140 Personen waren jeweils bei den Vorträgen präsent, insgesamt dürften über 200 Menschen Teile des Kongresses besucht haben. Viele Besucher*innen aus entfernteren Gegenden reisten bereits zur Auftaktveranstaltung am Freitagabend an, die in der Hausbar des Wohnprojekts Schellingstraße – einer ehemaligen Kaserne – stattfand. Dort wurde in einem kurzen Vortrag zu Beispielen der Konversion – also der zivilen Nutzung vormals militärischer Flächen – in die Thematik eingeführt. Anschließend gab es noch eine Art Kneipen-Quiz zu Ritualen bei der Bundeswehr, bei dem v.a. viel gelacht und eines klar wurde: Es gibt Weniges, was die Anwesenden sich vorstellen konnten und gelangweilte Soldat*innen nicht schon durchgeführt und ritualisiert hätten.

Der erste Veranstaltungsblock am Samstag beschäftigte sich mit dem Thema »Deutschland im Rüstungsfieber«. Dabei spielten der steigende Verteidigungshaushalt und die Großprojekte ebenso eine Rolle wie die planerischen Grundlagen der jüngsten Rüstungsbemühungen – »Konzeption« und »Fähigkeitsprofil« der Bundeswehr (siehe dazu Jürgen Wagner, Verschwimmende Grenze, auf S. 30 in dieser W&F-Ausgabe). Anschließend wurde auch auf die Veränderungen in der deutschen Rüstungslandschaft eingegangen. Ausführlich wurden in weiteren Panels die aktuellen Rüstungsvorhaben in den Bereichen Polizei, Informationstechnologie und Atomwaffen behandelt. Die Abendveranstaltung zur »EU auf dem Weg zur Rüstungsunion« wurde kurzfristig in einen von Aktivist*innen und Studierenden angeeigneten Hörsaal verlegt. Der Hörsaal war eine Woche zuvor im Anschluss an eine Demonstration gegen den Forschungscampus »Cyber Valley«, an dem auch die Rüstungsindustrie beteiligt ist, besetzt worden. Zu den Forderungen der Besetzenden gehörte u.a. eine Zivilklausel für die gesamte Stadt.

Der Sonntag stand zunächst ganz im Zeichen der »Gegenkonversion«, also der (Re-) Militarisierung von Flächen. Das Thema wurde zu Beginn anhand der »Militärischen Mobilität« und des geplanten NATO-Logistikkommandos in Ulm behandelt, und es wurde erläutert, wie auf dieser Basis künftig vermehrt Gelder nach militärischen Nützlichkeitserwägungen in Infrastrukturprojekte zur schnellen Verlegefähigkeit, insbesondere nach Osteuropa, gelenkt werden sollen. Im Anschluss ging es konkret um »Die militärische (Rück-) Eroberung der Fläche: (Re-) Aktivierung alter und neuer Liegenschaften«, die aktuell drei verschiedene Formen annimmt: erstens die Inbesitznahme ziviler Flächen durch das Militär, teilweise, um den Verlust von (anderen) Flächen, die einer zivilen Nutzung zugeführt werden sollen, auszugleichen; zweitens die Reaktivierung aufgegebener Flächen, Liegenschaften und Ressourcen; und drittens der Abbruch oder die Verzögerung eines Konversionsprozesses.

Das Abschlusspodium des diesjährigen Kongress fokussierte sich auf aktuellen Widerstand gegen Aufrüstung. Mit dabei waren Aktivist*innen aus Ulm gegen das geplante NATO-Logistikkommando sowie vom bundesweiten Jugendnetzwerk für politische Aktion (JunepA), vom Tübinger Bündnis gegen das »Cyber Valley« und vom Kassler antimilitaristischen Aktionsbündnis »Block War«. Abgesehen von der Darstellung der jeweiligen politischen Auseinandersetzungen und auch Erfolge, ging es darum, zu erörtern, wie die anti-militaristischen Bewegungen gestärkt werden können. Ein Fazit war, dass die Vernetzung mit Bewegungen aus anderen Spektren, wie den Wohnraumbündnissen und Naturschutzverbänden, intensiviert werden könnte.

Jürgen Wagner

Vorwärts, aber wohin?


Vorwärts, aber wohin?

von Jürgen Nieth

Deutschland und Frankreich haben genau 56 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags am 22. Januar in Aachen einen Freundschaftsvertrag unterzeichnet. „Das Abkommen sei eine Antwort auf Populismus und Nationalismus, sagte die Bundeskanzlerin; der französische Präsident sprach pathetisch von einem »Schutzschild unserer Völker gegen die neuen Stürme in der Welt«.“ „Geht es nicht eine Nummer kleiner?“, fragt Nikolas Busse in der FAZ (23.1.19, S. 1). Auch das ND (23.1.19, S. 19) titelt: „Viel Pathos gegen Populismus“. Die Schweizer NZZ (23.1.19, S. 3) setzt als Headline „Ein Zeichen gegen den Zeitgeist“. Sie sieht den Vertrag als Gegenmodell zu »Mein Land First« und „gewissermaßen als Gegen-Brexit inszeniert“.

Andere reagieren fast euphorisch. Für Nils Minkmar ist „der Vertrag von Aachen ein Wunder, […] ein Frühlingsversprechen, eine erfrischende Geste politischen Übermuts“ (Spiegel 26.1.19, S. 111). Daniel Brössler schreibt in der Süddeutschen Zeitung (23.1.19, S. 4): „Sie haben sich zur Verantwortung Frankreichs und Deutschlands bekannt für ein Europa, das bedroht von außen wie von innen in existenzieller Gefahr schwebt.“ Und für Rudolf Balmer (taz 23.1.19, S. 12) ist der Vertrag „im Kontext der gegenwärtigen EU im wörtlichen Sinne richtungsweisend – und darum trotz kleiner Fortschritte geradezu mutig“.

Auszüge aus dem Vertragstext

Artikel 3
„Beide Staaten vertiefen ihre Zusammenarbeit in
Angelegenheiten der Außenpolitik, der Verteidigung, der äußeren und inneren Sicherheit und der Entwicklung und wirken zugleich auf die Stärkung der Fähigkeit Europas hin, eigenständig zu handeln […]“

Artikel 4
(3) Beide
Staaten […] intensivieren die Erarbeitung gemeinsamer Verteidigungsprogramme und deren Ausweitung auf Partner. Hierdurch beabsichtigen sie, die Wettbewerbsfähigkeit und Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern. Sie unterstützen die engstmögliche Zusammenarbeit zwischen ihren Verteidigungsindustrien… Beide Staaten werden bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte entwickeln.“

Zweifel an der Realisierbarkeit

Für Sascha Lehnartz (Welt 22.1.19, S. 8) sind die oben zitierten Zielvorstellungen nur „schwer unter einen Hut zu bringen […] Frankreich ist eine Atommacht mit einem Präsidenten als Oberbefehlshaber, der sein Parlament im Nachhinein über seine Entscheidung informieren kann. Als ehemalige Kolonialmacht hat Frankreich nach wie vor wenig Hemmungen nationale Interessen […] bei Bedarf militärisch zu schützen […] Deutschland hat eine Parlamentsarmee […] und militärische Einsätze müssen zuallererst moralisch legitimiert werden. Der Primat der Moral gilt erst recht für Rüstungsexporte.“

Auch für die Berliner Zeitung (23.1.19, S. 4) liegen „Wunsch und Wirklichkeitin dem Aachener Vertrag „noch weit auseinander“.

Bei Nikolas Busse (FAZ 23.1.19, S. 1) liest sich das so: „Die tief ins Grundsätzliche reichende Uneinigkeit in Fragen der Verteidigung und der Rüstung, die in dem Abkommen nur mühsam überkleistert wurde, bleibt eines der großen Hindernisse für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.“ Wohin die Reise gehen soll, wird im Abschlusssatz seines Kommentars deutlich: „Hier hat vor allem die deutsche Politik die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt.“ Soll wohl heißen: mehr Bereitschaft zu Militäreinsätzen, weniger Schranken für Rüstungsexporte.

Mehr Interventionen und Rüstungsexporte?

Die Reden von Macron und Merkel in Aachen lassen hier aufhorchen.

„Künftig sollen die Streitkräfte beider Länder ihre Rüstungsgüter aus europäischer oder deutsch-französischer Produktion beziehen. Macron sagt zur Begründung, auf diese Weise könnten die Amerikaner nicht sagen, dass ihre Waffen bei einem bestimmten Militäreinsatz nicht verwendet werden dürften.“ Angela Merkel „stimmt zu, es sei Unfug, wenn die Europäer selbst »um die Welt rennen« um zwei verschiedene Kampfflugzeuge […] zu verkaufen“. Und weiter: Beim Waffenexport dürfen wir uns nicht über den Export jeder Schraube in die Haare geraten“ (Johannes Leithäuser und Michaela Wiegel in FAZ 23.1.19, S. 2).

Hans-Georg Ehrhart, Senior Fellow am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik/IFSH, schreibt dazu in einem Gastkommentar für den Freitag (24.1.19, S. 9): „Paris darf hoffen, dass Berlin künftig der interventionsfreudigeren französischen Politik folgt […] [Es] besteht die Gefahr, dass nun konservative Abgeordnete ihren Versuch wiederholen, den Parlamentsvorbehalt aufzuweichen.“

Vorwärts, aber wohin?

„Nach dem Austritt Großbritanniens wächst das Gewicht dieses Duos [FR und D] in einem Maße, das andere EU-Staaten nicht gleichgültig lassen wird […] [und] für die Entwicklung der EU so gefährlich werden [kann], wie es das Desinteresse der beiden größten Länder des Bündnisses wäre“, schreibt Gerd Appenzeller im Tagesspiegel (22.1.19, S. 1).

Kritik auch von René Heilig (ND 23.1.19, S. 1): Wer die Union retten will, kann das nicht im Duo tun. Und schon gar nicht mit einem Vertrag, in dem gemeinsame akzeptable Sozialstandards für jene, die den relativen Wohlstand in den Vertragsnationen schaffen, nicht einmal als Vision vorkommen. Dass man dafür aber viel über Militärkooperation, Rüstungsexport und Migrationsabwehr findet, macht den gemeinsamen Weg in die Zukunft wahrlich höchst suspekt.“

Die Berliner Zeitung (23.1.19, S. 4) zitiert dazu Sevim Dagdelen (MdB Die Linke): „Statt Europa als Kontinent des Friedens zu einen, vertiefen Kanzlerin Merkel und Präsident Macron mit dem binationalen Deal zur weiteren Militarisierung die Spaltung der EU.“

Ein Fragezeichen setzt Hans Georg Ehrhart vom IFSH: „Beide wollen ein Zeichen setzten für mehr Europa. Die entscheidende Frage ist aber: Soll diese sicherheitspolitisch autonome EU als Großmacht im klassischen Sinne handeln oder als Friedensmacht, die auf friedlichen Wandel und die Stärke des Rechts setzt?“ (Freitag, s. o.)

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine, Freitag, ND – Neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Spiegel, SZ – Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, Welt.

Gewalt, Geschlecht und Militär


Gewalt, Geschlecht und Militär

Die Bundeswehr auf feministischem Terrain?

von Tim Bausch und Carolina Rehrmann

Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden befasst sich in seinem Repertoire mit Themen der Gewalt und deren Folgen. Gegenwärtig werden im Rahmen der Sonderausstellung »Männlicher Krieg – Weiblicher Frieden? Gewalt und Geschlecht« auch gendersensible Exponate angeboten. Die Ausstellung konstituiert sich neben den geschlechtlichen Koordinaten auch über Aspekte der Gewalt und des Friedens. Der Zusammenhang von Gewalt und Geschlecht leuchtet ein. Schließlich sind geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Machtstrukturen und somit auch immer von Formen der (symbolischen) Gewalt geprägt. Ist Feminismus also en vogue? Was bedeutet es, wenn sich die Bundeswehr mit solchen Themen beschäftigt? Die Ausstellung mit etwa 1.000 Objekten und Werken lädt noch bis 18. Oktober 2018 dazu ein, genauer hinzuschauen.

Unser Beitrag widmet sich der aktuellen Sonderausstellung »Gewalt und Geschlecht. Männlicher Krieg – Weiblicher Frieden?« des Militärhistorischen Museums in Dresden. Bewusst nutzen wir den dort vorgefundenen Erfahrungsraum für weiterführende Gedanken zur Kunst- und Institutionskritik.

Prolog | Wissensvermittlung zwischen Repräsentation und autonomer Kritik

Nach einer kurzen theoretischen Reflexion zu den Prämissen der Gendertheorie widmen wir uns den Ausstellungsinhalten, die zunächst zusammengefasst und alsdann kritisch bewertet werden.

Leitend ist dabei die Auffassung, dass Ausstellungen als hybrides Darstellungsmedium (vgl. Muttenthaler/Wonisch 2006, S. 37) in besonderer Weise dazu geeignet sind, den*die Besucher*in über die ästhetische Verknüpfung haptischer, akustischer und visueller Elemente intellektuell und sinnlich zu stimulieren. Ausstellungen können den Raum spielerisch zur Verbindung oder auch zur Kontrastierung unterschiedlicher Narrative nutzen und dabei umkämpftes Wissen spür- und erfahrbar machen, indem sie den*die Besucher*in zu geistiger Reflexion und emotionalem Erleben einladen. Da künstlerische Interventionen mit politischer Positionierung einhergehen, sollte jede*r kritische Besucher*in sich fragen, wie sich das Grundnarrativ einer Ausstellung zur sozialen Wirklichkeit verhält.

Dementsprechend können sich Ausstellungen darauf beschränken, lediglich soziale Rangordnungen abzubilden oder Kontingenz (die Möglichkeit eines Ereignisses, bei gleichzeitiger Nichtnotwendigkeit), Multiperspektivität und Relativität betonen. Im letzteren Fall werden Hierarchien und symbolische Positionierungen etwa durch Ironisierungen, Distanzierungen und Überformungen bewusst infrage gestellt. Erst dadurch gewinnt die Kunst ihre eigentliche Autonomie (vgl. Adorno: l’art pour l’art).

In diesem Sinne verstehen wir Ausstellungen als kreative Erfahrungsräume, die idealiter nicht bloß informieren, sondern irritieren sollten, um vor allem das Marginalisierte jenseits rationalistischer Paradigmen sichtbar zu machen. Im Sinne einer Orientierung an der Trias von Emanzipation, Imagination und Utopie belassen wir es deshalb nicht bei einer deskriptiven und abstrahierten Reproduktion der Inhalte, sondern nutzen den Erfahrungsraum der Ausstellung für weiterführende Impulse und Gedanken.

Sonderausstellung | Im Modus der Dekonstruktion

Die heteronormative Prämisse von der gleichsam naturgegebenen Passivität und unkontrollierten Gefühlswallung der Frau gegenüber angeborenen aggressiven Impulsen des Mannes nebst seiner Gabe zur rationalen Reflexion erscheint (auch wenn die zwei Letzteren zugegeben in einem gewissen Spannungsfeld stehen) so alt wie die Menschheit selbst. Im Kielwasser von Poststrukturalismus und Postmoderne mit ihrem Siegeszug des Hybriden, Relativen und Subjektiven machte die Genderwissenschaft derartigen Stereotypen den Garaus. So verweist sie einerseits auf die soziale Konstruktion geschlechterspezifischer Selbstverständlichkeiten und Verhaltensweisen, beispielsweise mit Blick auf die wirkmächtige Idee der ethnisch-exklusiven Nation und ihren zugewiesenen Genderrollen (so basieren die Ideen Vater Staat und Mutter Nation vornehmlich auf männlichem Kampfgeist und weiblicher Reproduktion). Andererseits macht sie die inhärenten Machtstrukturen sichtbar (vgl. Butler 1990/ 2009 und Yuval-Davis 1997).

Indes: Was einer weiß, macht einen noch lange nicht heiß. Einblicke in kritisch-reflexive Wahrheiten haben die hohen Sphären (populistischer) Machtpolitik und die alltäglichen des Normalen, Bekannten und Bequemen bisher im globalen Kontext wenig tangiert, ganz besonders nicht in den elementaren Katalysatoren der Zivilisationsgeschichte: Krieg und Frieden. Denn sind soziale Rollen nicht erst seit der Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche heute mehr denn je effektivstes Mittel für Anerkennung, erfolgreiche Performance und Gewinnmaximierung geworden, so sind klassische Genderrollen einmal mehr mit traditionellen Strukturen verbunden, die nationale Identitäten und sexuelle Beziehungen genauso formen wie sie Vormundschaft und Exklusion begründen. Kritik an der als selbstverständlich empfundenen Norm ist daher nicht nur unbequem, sondern mitunter gefährlich, weil sie zugleich an viel mehr rüttelt als an einem bis heute auch in Wissenschaftskreisen oftmals stiefmütterlich behandelten Klischee.

Zeit also, dass sich eine an Bildern und Geschichte(n) reiche Ausstellung unter dem Titel »Gewalt und Geschlecht – Männlicher Krieg, weiblicher Frieden?« dem Thema widmet. Die Sonderausstellung wird im militärhistorischen Museum in Dresden gezeigt – man hätte sich vielleicht keinen passenderen Ort vorstellen können. Erklärtes Ziel ist es, im Sinne der kritischen Dekonstruktion Mauern des herkömmlichen Denkens einzureißen und den Blick der Besucher*innen auf die vielen Facetten der historischen und gegenwärtigen Essentialisierung von Frau und Mann im Sinne der oben genannten Dichotomie zu lenken. Ausgehend von Bourdieus (2006) Sentenz von der Verankerung männlicher Hegemonie durch die »Waffen der physischen und symbolischen Gewalt« präsentiert sich die Ausstellung als bunter Querschnitt von Photographien, Gemälden und Dokumenten durch die Jahrhunderte, Kulturen und Gesellschaftsbereiche von stilisierter wie untypischer Männlichkeit und (vor allem) Weiblichkeit.

Historische Kriegsphotographien zeigen Bilder männlicher Gewalt. Sie reichen von Massakern der Nazis bis zum Apartheidregime und sensibilisieren für die Problematik sexualisierter Gewalt gegen Frauen, die entgegen tradierter Vorstellungen keineswegs nur Nebenprodukt von Krieg ist, sondern als Waffe zur Demoralisierung des Feindes und als verlockender Lohn für den Kampfgeist des Soldaten einen elementaren Bestandteil von Kriegsführung darstellt: Sie zeigen Frauen als Kriegstrophäe der Wehrmacht, Sexdienstleisterinnen der US-Armee in Vietnam oder von IS-Terroristen zwangsprostituierte Jesidinnen. Ebenso im Fokus stehen der normierte Frauenkörper als Hüter der (männlichen) Ehre und die Sanktionierung jeglichen Abweichens – im drastischsten Fall durch »Ehrenmord«.

Die Ausstellung bemüht sich um die Sichtbarmachung der dramatischen Folgen von Gewaltkonflikt, Patriarchat und Sexismus im Kontext moderner Kriegsführung mit ihrem hohen Anteil an Zivilopfern und liegt damit im Zeitgeist des friedenspolitischen Gendermain­streaming (vgl. zu Letzterem u.a. United Nations 2002). Wer die Ursprünge derartiger diskriminierender Strukturen sucht, findet endlose kulturgeschichtliche Anknüpfungspunkte. Historische Gemälde und Dokumente geben in diesem Sinne den Blick auf die tieferen Wurzeln normativer Genderrollen frei. Sie reichen von höfischen Geschlechterklischees, von Inquisition und der mittelalterlichen Züchtigung »streitsüchtiger« Frauen durch die so genannten Halsgeigen über den »Kraftmesser« als Jahrmarktattraktion für das Messen von Männlichkeit bis zu neuzeitlicher Medizin, die Frauen natürliche Neigungen zu Hysterie und anderen psychischen Leiden unterstellen wollte.

Auf Basis dieser Herleitung spannt die Ausstellung dann einen Bogen zur modernen Gesellschaft, der von Männerportraits auf Zeitschriftencovern, der traditionellen Geschlechtertrennung in bestimmten Berufsgruppen, sexueller Gewalt gegen Frauen durch digitale Medien bis zur Stilisierung von Genderrollen durch die Spielzeugindustrie reicht. Am Ende wird so den widerstrebenden Sphären der Norm eine effektive Bühne bereitet: Sie ist als Gegenstück zum ersten Ausstellungsteil konzipiert und zielt auf die Dekonstruktion des Stereotyps weiblicher Passivität und Unzulänglichkeit. Den Besucher*innen präsentieren sich Portraits weiblicher Gladiatorinnen, Frauenbilder als Märtyrerinnen in der biblischen Lehre, Regentinnen wie Katharina von Medici, Informationstafeln über die mittelalterliche Macht von Maitressen und politische Ikonen der Neuzeit und Gegenwart, wie Indira Gandhi und Benazir Bhutto, zu denen sich Peschmerga-Kämpferinnen, Modeschöpferinnen, Spitzensportlerinnen und Drohnenpilotinnen gesellen. Auch von Frauen verübte Grausamkeiten, wie die der »Hexe von Buchenwald« Ilse Koch, die taktische Nutzung der Geschlechterstereotypen durch weibliche Selbstmordattentäterinnen oder etwa der weitverbreitete Widerwille, eine Frau wie Beate Zschäpe als Akteurin rechtsextremer Mordserien anzuerkennen, werden schließlich thematisiert.

Würdigung | Kritische Einordnung und weiterführende Gedanken

Die Ausstellung bietet eine ganze Bandbreite an unterschiedlichsten Exponaten, die einem breiten Publikum die genderrelevanten Facetten von Krieg und Frieden vermitteln. Dabei verbindet sich Populärkulturelles der Gegenwart mit Historischem, soziale Lebenswelt mit Gewaltkontext, die unterschiedliche Formen struktureller und direkter Zwänge thematisieren. In diesem Sinne ist die sozialwissenschaftliche Grundierung durch Pierre Bourdieus (2006) Konzept der »symbolischen Gewalt«, wie sie im Ausstellungskatalog und in den Informationstafeln erscheint, durchaus überzeugend, auch wenn die Ausstellung sowohl in ihrer thematischen Breite als auch in der Voraussetzung wissenschaftlicher Expertise für ein breites Publikum sehr anspruchsvoll und möglicherweise zu wenig fokussiert erscheint.

Was indes mehr ins Auge sticht, ist das, was fehlt. Denn die Ausstellung tut nicht weh und wagt sich kaum in die Sphären des Sensiblen und Kontroversen – vor allem nicht in Bezug auf die Bundeswehr selbst. Auch kann man sich fragen, inwiefern eine Reifizierung (Vergegenständlichung) dessen stattfindet, was dem Anspruch nach dekonstruiert werden soll. In der Exposition steht nämlich – hier spiegelt die Ausstellung auch den thematischen Schwerpunkt der Genderwissenschaft wider – wieder einmal vor allem die Frau als Projektionsfläche männlicher Phantasien und als Sinnbild der sie umgebenden Machtstrukturen im Fokus.

Tradierte Frauenbilder als Stereotypen zu entlarven, indem man Gegenbeispiele anführt, erscheint vor diesem Hintergrund zwar folgerichtig. Eine wirkliche Dekonstruktion der impliziten Selbstverständlichkeiten im idealtypischen Verständnis von Mann und Frau bietet sich aber kaum, weil die Kritik an der zweiten Seite der Medaille weitgehend ausspart bleibt: die Sphäre idealisierter bzw. selbstverständlicher Männlichkeit. Bilder männlichen Kampfgeistes und (struktureller) Gewalt durch Männer finden sich zwar in etlichen, aber zugleich auch altbekannten, kaum irritierenden Variationen. Genau die Prämissen vermeintlich angeborener männlicher Eigenschaften (wie der Hang zu aggressiven Impulsen und die Fähigkeit zu kalter Rationalität) lassen die Kriege alternativlos und Konfliktstrukturen als natürlich erscheinen. Dies erfolgreich in Frage zu stellen, hätte (wie die Ausstellung es für die Idee des Weiblichen ja durchaus tut) bedeutet, die sozialen Konstruktionsprozesse sichtbar zu machen, die den heteronormativen Idealtypus Mann entstehen lassen.

In der Darstellung tradierter Männlichkeitskulte und der Verherrlichung von Gewalt oder über Homosexualitäts- oder Transgenderdebatten hätte sich die Ausstellung beispielsweise eines breiten Fundus an bestehenden, kritischen Diskursen bedienen können, die viel mehr Irritations- und Anregungspotential besitzen. Das gilt im vorliegenden Kontext natürlich besonders für die (De-) Konstruktion aggressiver Männlichkeit (und die verbundene Abwertung von Weiblichkeit) im Militär. Denn die auch durch kleinere Reformen im Kern unangetasteten patriarchalen Strukturen der Institution Bundeswehr und sie betreffende kritische Kontroversen bleiben hier ausgespart. Es wäre ehrlicher gewesen, das Zusammenwirken von Geschlecht und Gewalt in der eigenen Sphäre kritischer zu reflektieren, indem man das Militär als Form organisierter Gewalt und seinen latenten oder offenen Chauvinismus und Sexismus als Disziplinarmacht sichtbar macht – eine Grundproblematik, die sich auch durch die Anhebung des Frauenanteils in der Bundeswehr nicht grundsätzlich verändert hat. Eine gendersensible Ausstellung, die die Strukturen der eigenen Institution weitestgehend unkommentiert lässt – einmal mehr vor dem Hintergrund, dass das militärhistorische Museum einst lediglich der Schau von Kriegsgeräten diente – erscheint damit leicht als Imagestrategie. Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Krista Hunt (2006) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des »embedded feminism«. Darunter wird die strategische Einverleibung feministischer Diskurspositionen verstanden. Diese Form der Inkorporierung dient mächtigen Akteur*innen als Form der (Selbst-) Legitimierung eigener Ziele. Entsprechend ist hier Feminismus das Mittel zu einem anderen Zweck.

So überrascht es nicht, dass die Sonderausstellung sich in ihrem deutlichen Fokus auf Weiblichkeit und Zivilgesellschaft kaum in die festen Ausstellungskomponenten integriert. Sie bleibt so – wenn überhaupt – ein Tropfen auf dem heißen Stein. Kritisch-reflexive und holistische Ansätze, die den Einfluss von Gesellschaft, Kultur und Staatsapparat in der Konstruktion von Genderstereotypen und verbundenen Hierarchien des Militärs zeigen und um kritische Aufklärung bemüht sind, finden sich kaum. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass sich die Bundeswehr populärer, zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Debatten bedient, ohne die Sphären des für sie selbst Unbequemen zu tangieren. Solch eine Betrachtung stellt sicher, dass die kritische Kampfzone kein Terrain an militärische Akteure verliert und ist damit Symptomkosmetik statt Ursachenbekämpfung.

Das wirkt umso plausibler, wenn man die gegenwärtigen Marketingstrategien der Bundeswehr betrachtet. Sie erscheinen sowohl als Antwort auf eben jene, beispielsweise an den jüngsten Skandalen sexueller Gewalt oder dem Druck auf weibliche Rekruten (wie in der Debatte um die verunglückte Soldatin auf der Gorch Fock) entzündete, Grundsatzkritik als auch als Instrument der Attraktivitätssteigerung für die Rekrutierung neuen Personals nach der Abschaffung der Wehrpflicht. Plakate im öffentlichem Raum mit der Aufschrift Auch bei uns haben Frauen das letzte Wort: Als Chefin“ zeugen von solchen Strategien.

Neben dieser kritischen Selbstreflexion der militärischen Sphäre hätte die Ausstellung vielfältige Möglichkeiten einer Infragestellung des Selbstverständlichen über Irritation, Interaktion und schmerzhafte Denkanstöße nutzen können, die postkolonialen und postmodernen Diskursen zentralen Platz einräumen (man denke an Banksys Walled Off Hotel, siehe auch Bausch/Stein 2017). Schließlich besitzt das Darstellungsformat theoretisch die nötigen didaktischen Eigenschaften, um neue Denkbewegungen zu fördern. „In der Begegnung mit dem Unverfu¨gbaren u¨bersteigt der Besucher seine perso¨nlichen, ihn im Alltag fesselnden Beschränkungen, und bleibt doch er selbst.“ (Klein 2004: S. 163) Kritisches Denken, so könnte man sagen, bedarf eben auch immer einer Auseinandersetzung mit dem Unverfügbaren, um die Grenzen des eigenen Bewusstseins zu überschreiten oder zumindest herauszufordern. Durch die Konfrontation mit Transsexualität als Gegenstück zum Heteronormativen, durch ambi- oder polyvalente Collagen, Installationen und Filmsequenzen, die die Welt aus der Perspektive eines anderen Geschlechts konkret erfahrbar machen, oder etwa durch Illustration von politischen Protestbewegungen, die mit Genderrollen spielen, hätten solche Irritationsmomente erreicht werden können. Besucher*innen hätten so animiert werden können, die Selbstverständlichkeit des eigenen Geschlechts zu hinterfragen, indem man ihnen einen Spiegel vorhielte und so Empathie für die Wirkmacht von Geschlechterrollen motivierte. Nur so würden neue Handlungsräume sichtbar, neue Fragen aufgeworfen und kritische Diskurse für die Zukunft angestoßen.

Eine gelungene Ausstellung sollte also immer auch Kontroversen hin zu gesellschaftlichen Utopien befördern. Schließlich darf es Kritik nicht nur darum gehen, um es frei nach Marx zu formulieren, die Welt zu erklären, sondern sie zu verändern. Wissenschaft und Kunst müssen in diesem Sinne neben kritischer Reflexion immer auch den Mut besitzen, eine »Kartographie des Möglichen« (Rancière 2016) zu skizzieren.

Literatur

Bausch, T.; Stein, A. (2017): Zur Repräsentationsproblematik von Konflikten und der Macht zu definieren – Potenziale und Grenzen partizipativer und mehrperspektivischer Ausstellungsformate. In: Warnecke, A.; Reitmair-Juárez, S. (Hrsg.): Um Gottes Willen? Die ambivalente Rolle von Religionen in Konflikten. Stadtschlaining: Austrian Study Centre for Peace and Conflict Resolution, S. 68-85.

Bourdieu, P. (2013): Die männliche Herrschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Butler, J. (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge: New York [u. a.].

Butler, J. (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Klein, A. (2004): Expositum – Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld: transcript.

Krista, H. (2006): »Embedded Feminism« and the War on Terror. In: Hunt, K.; Rygiel, K. (eds.): (En)Gendering the War on Terror. War Stories and Camouflaged Politics. Hampshire & Burlington: VT.

Mutterthaler, R.; Wonisch, R. (2006): Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen. Bielefeld: transcript.

Rancière, J. (2016): Interview Thomas Claviez und Dietmar Wetzel mit Jacques Rancie`re. In: Claviez, T.; Wetzel D. (Hrsg.): Zur Aktualität von Jacques Rancie`re – Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer VS.

United Nations (2002): Gender Mainstreaming – An Overview. Office of the Special Advisor for Gender Issues and Advancement of Women: New York.

Yuval-Davis, N.: (1997): Gender and Nation. Sage Publications: New York

Tim Bausch arbeitet und promoviert am Institut für Politikwissenschaft/Lehrstuhl für Intern. Beziehungen in Jena. Als Sprecher der Jungen AFK vertritt er auch selbige Institution in der Redaktion der W&F. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben der Bewegungsforschung auch ästhetische Protestformen. 
Dr. Carolina Rehrmann arbeitet am Institut für Politikwissenschaft/Lehrstuhl für Intern. Beziehungen in Jena. Neben dieser Tätigkeit arbeitet Carolina Rehrmann außerdem am Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS). In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit (geschlechtlichen) Rollen und Rollenbildern.

Militär und Männlichkeit


Militär und Männlichkeit

Die Funktion militärischer Männlichkeitsmythen

von Sarah Steube

Das Militär ist eine vergeschlechtlichte Institution, in der Männlichkeit eine zentrale Rolle bei der Selbstkonstitution spielt. Dabei ist eine bestimmte Form von Männlichkeit im Rahmen des Militärs institutionalisiert und mystifiziert, um dessen Strukturen zu stützen. Diese können auch im Kontext hegemonialer Macht gesehen werden, da das Militär als staatliches Organ mit Gewaltmonopol eine Machtfunktion innehat. Auch in der Faszination des Militärs im zivilen Kontext, die sich in der popkulturellen Verarbeitung der Thematik oder in der Aneignung militärischer Muster zeigen, spielen die Faktoren Macht und Männlichkeit eine wichtige Rolle.

Männlichkeit im Militär soll hier in mehreren Aspekten beleuchtet werden: der Rolle des Körpers, der Integration von Frauen in das Militär und der Auswirkung militärischer auf zivile Fantasien von Männlichkeit. »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« werden in diesem Kontext weniger als grundlegende Unterschiede zwischen Männern und Frauen verstanden, sondern als Eigenschaftskomplexe, die die Zuschreibung klassisch weiblichen oder klassisch männlichen Verhaltens enthalten. So wäre zum Beispiel auch ein weiblicher Mann möglich, der sehr fürsorglich und emotional ist und somit weiblich besetzte Eigenschaften ausagiert. Weiblichkeit wird dabei als gefühlvoll, irrational, empathisch und schwach gesehen, während Männlichkeit als stark, rational und affektkontrolliert gilt, aber auch die Zuschreibung einer stark triebhaften Sexualität bekommt. Dabei folge ich einer dekonstruktivistischen Form der Kritik (Thomas 2011), die ich im Kontext des Militärs, dem viele implizite und naturalisierte Normen zugrunde liegen, als sinnvollste Kritikform erachte, da Kritik sonst letzten Endes systemimmanent bleibt.

Mythos um Körper und Männlichkeit

Der Körper spielt eine besondere Rolle, wenn man von Männlichkeit im Militär spricht. Er dient nicht nur der bloßen Erledigung der Aufgaben, sondern steht im Zentrum von Mythen über die Überwindung der Natur und die Bezwingung »weiblicher« Gefühle. Es ist ein Körper unter absoluter Kontrolle, der gestählt wird und großen Belastungen ausgesetzt ist, sowohl von außen als auch von innen, Letzteres z.B. durch die Bekämpfung von Anflügen von Schwäche, wie Angst oder Zögern (Szczepaniak 2010).

Auch der Drill im Rahmen der militärischen Ausbildung ist körperlicher Art. Der Körper wird dazu trainiert, Befehle auszuführen und in Extremsituationen zu gehorchen. Dies funktioniert vor allem durch eine ständige Überforderung, die wenig Raum für eigenständiges Denken lässt (Euskirchen 2005). Es bleibt keine Zeit, Befehle zu reflektieren und über deren Sinnhaftigkeit nachzudenken. Über den Körper wird so auch der Geist diszipliniert, da dieser sich dem Körper unterordnen muss. Sowohl offizielle als auch inoffizielle Rituale führen dazu, die Individuen zu einem »Körper«, der gemeinsam denkt und handelt, zu verschmelzen. Die Soldaten*innen werden soweit normiert, dass sie sich dem Zweck des Militärs optimal unterordnen lassen. Hierzu trägt auch die Uniformierung und die Fortbewegung im Gleichschritt bei. Diese Körperhaftigkeit ist eine explizit männliche.

Frauen im Militär können nicht ohne weiteres mit diesem Körper verschmelzen, da sie in ihrer Weiblichkeit als Störfaktor in der männlich strukturierten Organisation wahrgenommen werden. Eine Frau als Soldatin widerspricht dem Bild der Frau als schützenswertes, zerbrechliches Objekt. Zudem gefährdet die Sexualisierung der Frauen im Einsatz die als ungeschlechtlich geltenden Werte der Kameradschaft, in deren Kontext auch die Tabuisierung von Homosexualität verortbar ist. Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden häufig auf den Körper bezogen: Frauen dürfen z.B. lange Haare tragen, da eine Frau mit militärisch kurzem Haarschnitt dem Ideal von Weiblichkeit nicht entsprechen würde, obwohl praktische Gründe im Einsatz gegen diese Richtlinie sprechen (Dittmer 2009).

Frauen im Militär – Darstellung auf YouTube

Durch die Öffnung des Militärs für Frauen muss sich das Militär nun nicht mehr nur den weiblich besetzten Eigenschaften seiner männlichen Mitglieder stellen, sondern auch der Aufgabe, Frauen in ein männliches System einzugliedern, was die selbstkonstituierte Männlichkeit des Militärs zusätzlich herausfordert. Wenn Frauen den Soldatinnenberuf ergreifen, stören sie dieses Prinzip und irritieren naturalisierte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Dabei verändern sich auch die Diskurse, und neue Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit gewinnen an Bedeutung, zum Beispiel der »Beschützerinstinkt« der Männer gegenüber Frauen, der vor der formalen Integration von Soldatinnen in das Militär keine Relevanz besaß (Apelt 2015).

Die Strategien von Frauen, mit Männlichkeit und Weiblichkeit umzugehen, sollen im Folgenden am Beispiel von zwei Soldatinnen in der Episode »Frauen-Power« der Bundeswehr-Reihe »Mali« auf YouTube aufgezeigt werden. Hier zeigen sich die Rollen, die Frauen innerhalb des Militärs einnehmen, so, wie sie von der Bundeswehr selbst dargestellt werden (Bundeswehr Exklusive 2017).

Die erste der beiden Frauen beschreibt sich in ihrer Unterstützungsrolle und hebt spezifisch weibliche Qualitäten hervor: „Also ich hab mir sagen lassen […], es ist angenehm, eine Frau dabei zu haben, da ich immer ein offenes Ohr für meine Kameraden habe. Deswegen finds ich als Frau tatsächlich auch wichtig, da dabei zu sein.“ (Hauptfeldwebel Christiane, Air Marshall, 3:20) Die zweite Soldatin schlägt einen anderen Weg ein, indem sie sich explizit aller Weiblichkeit entledigt und sich somit eine männliche Identität als Soldat aneignet, die von den anderen als gleichwertig akzeptiert werden kann. „Wenn die Männer feststellen, dass man ein Soldat ist, dann wird man auch akzeptiert.“ (Hauptfeldwebel Pauline, Gruppenführerin Luftumschlaggruppe, 3:41) Hierbei soll auch die Resonanz der YouTube Zuschauer*innen nicht unerwähnt bleiben: Das Verhältnis zwischen »Likes« und »Dislikes« war im Verhältnis zu anderen Filmen der Reihe deutlich zugunsten der »Dislikes« verschoben. Bei den Fans der Reihe scheinen Frauen im Militär also ein Thema zu sein, das negativ konnotiert ist. Auch gab es Kommentare, die der Bundeswehr die Absicht unterstellten, die »natürlichen« Eigenschaften von Männern und Frauen zu leugnen.

Sowohl die Soldatinnen als auch die Kommentator*innen naturalisieren Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Dabei spielt die Körperlichkeit eine große Rolle. Der weibliche Körper wird dabei als eine potenzielle Schwachstelle gesehen, die bei einem Einsatz ein Hindernis darstellt. In Mythen werden Frauen vor allem als Daheimgebliebene charakterisiert, um die sich der Soldat sorgt (Szczepaniak 2010). Die Sorge, eine »weibliche« Eigenschaft, wird dabei als etwas dargestellt, das zugunsten männlicher Stärke und Tatkraft überwunden werden muss. Die Vorstellung von Männlichkeit als stark und rational dient so als Schutzmechanismus gegenüber der eigenen Emotionalität. Durch deren Tabuisierung werden viele Aufgaben der Soldatinnen und Soldaten in einem Einsatz überhaupt erst möglich. Sich in Lebensgefahr zu bringen, andere Menschen zu verletzen oder zu töten passt nicht zusammen mit weiblichen Eigenschaften, wie Empathie oder Hilfsbedürftigkeit. Hier erweisen sich männliche Mythen, wie Heldentum und Ehre, als funktionaler, um die notwendige Überwindung eigener Affekte und Wünsche zu ermöglichen. Dies dient auch der Unterordnung des Individuums unter die Institution Militär. Aus der Abwertung von Intuitionen und Emotionen folgt ein Rückbezug auf durch das Militär institutionalisierte Wahrheiten und ein sukzessiver Abbau eigenständigen Denkens. Das Weibliche kann im Militär auch nach der Integration von Frauen keinen dem Männlichen gleichwertigen Platz einnehmen, da es die Funktionalität dieser Institution untergraben würde.

Männlichkeitsmythen: Heldentum und Schwäche

Viele Männlichkeitsmythen haben ihren Ursprung im Militär und beziehen sich auf eine Form der Kriegsführung, in der »Mann gegen Mann« gekämpft wird. Dies wird zum Beispiel greifbar in Filmen, wie »Der Soldat James Ryan« oder »American Sniper«, der Kämpfe gegen kleinere gegnerische Gruppen zeigt. Während die Gegner zum Teil mit unlauteren Mitteln kämpfen (z.B. Kinder und Frauen instrumentalisieren), haben die eigenen Soldaten in der filmischen Darstellung einen hohen Kriegsethos und fühlen sich ihrem Vaterland und ihren Kameraden verpflichtet. Die technologisierten Kriege der Neuzeit, in denen vermehrt mit Drohnen gekämpft wird, entsprechen dagegen nicht dem Männlichkeitsbild des tapferen Soldaten (Spreen 2010), da die Körperlichkeit des Männerkultes auch mittels der drohenden Zerstörung des Körpers durch den Tod konstituiert wird.

Soldaten, die sich dieser drohenden Zerstörung entziehen oder angesichts der Gefahr Schwäche zeigen, wird ihre Männlichkeit abgesprochen. So wurden im Ersten Weltkrieg Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung bei einfachen Soldaten im herrschenden Diskurs als männliche Form von Hysterie – einer sehr weiblich besetzten psychischen Störung – diagnostiziert. Höhere Offiziere dagegen bekamen die Diagnose »Neurasthenie«, die einen edlen Charakter beschreibt, der sich überarbeitet hat (Lamott und Lempa 2011) – neben Genderaspekten wirkt hier auch eine Dualität aufgrund von Klassenzuschreibungen. Durch diesen Ausschluss von Soldaten, die nicht dem Ideal entsprechen, bleibt das Bild von militärischer Männlichkeit intakt. Bei Offizieren hingegen kommt es zu einer Umbewertung der Symptome als von äußeren Faktoren verursacht, sodass die Männlichkeit des Militärs nicht torpediert wird.

Durch die Heroisierung kriegerischer Handlungen, insbesondere des Todes, werden auch die eigentlichen strukturellen Gewaltstrukturen verschleiert. Der Kampf für das Vaterland war insbesondere in vergangenen Kriegen eine abstrakte Bezugsstruktur, an der Handlungen ausgerichtet waren. In neuen Kriegen, in denen zumindest formal humanitäre Gründe im Vordergrund stehen, wird das Militär stattdessen als Held zur Rettung der lokalen Bevölkerung inszeniert. Beide Bezugsstrukturen werden innerhalb des Militärs kaum genauer beleuchtet oder in ihrer Legitimität angezweifelt. Das edle Gemüt der eigenen Soldat*innen kann nur am Anderen konstituiert werden, wenn die Anderen den Tod verdient haben, entweder aufgrund von Taten gegenüber dem Vaterland der Soldaten oder gegenüber einer unschuldigen Zivilbevölkerung. In Kriegsfilmen bleibt dieses Andere gesichtslos, anders als die eigenen Soldat*innen, die auch in Momenten gezeigt werden, in denen sie Angst oder Sehnsucht nach ihrer Familie zeigen und diese zugunsten des Kampfes beiseite schieben. Gerade diese Überwindung der eigenen Schwäche und Weiblichkeit zugunsten männlicher Werte, wie Kameradschaft, ist der Kern des männlichen Mythos, da sie Affektkontrolle selbst in Extremsituationen beweist.

Verflechtung von zivilen und militärischen Männlichkeitsmythen

Die Vermischung von Militärischem und Zivilem in der popkulturellen Verarbeitung gilt auch für Gender-Aspekte. Während Soldaten zu Helden stilisiert werden, nehmen Frauen in diesem Kontext hauptsächlich unterstützende Rollen ein, die ihre Weiblichkeit unterstreichen (Thomas 2009). Dabei stellt die popkulturelle Verarbeitung der Thematik Militär eine Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte dar. Gerade weil zum Teil auch Ressourcen des Militärs in die Produktion einfließen, zeigen Filme nicht die Realität eines Einsatzes, sondern eine romantisierte Version davon (Thomas 2009). Mitunter werden Filme und Spiele (z.B. »Americas Army«) vom Militär gezielt zu Rekrutierungszwecken auf den Markt gebracht, oder es werden zumindest durch die Kontrolle von Ressourcen die Inhalte mit beeinflusst. Die Hauptcharaktere sind dabei meist männlich; steht ein weiblicher Charakter im Fokus, wie zum Beispiel bei dem beliebten Spiel »Tomb Raider«, ist dieser meist sehr sexualisiert und wäre technisch gesehen aufgrund unpassender Ausstattung nicht für einen Kampfeinsatz geeignet – Lara Croft trägt bei ihren Einsätzen kaum mehr als Unterwäsche. Während bei männlichen Hauptcharakteren der Fokus also auf einer eher der Realität entsprechenden Darstellung des Soldaten liegt, wird bei weiblichen Charakteren die Imagination eines realitätsgetreuen Spielerlebnisses zugunsten einer sexualisierten Darstellung durchbrochen. Die popkulturelle Verarbeitung der Thematik Militär bietet somit nicht nur Deutungsangebote bezüglich der Bewertung des Einsatzes an sich und der Rolle des Militärs, sondern auch zu den Geschlechterrollen (Virchow 2010).

Mythen um Soldaten haben somit das Potential, verunsicherte Männlichkeitsvorstellungen zu stärken. Das militärische Männlichkeitsideal, in dem starke Männer die zuhause bleibenden Frauen beschützen, ist durch Spiele und Filme auch für die Zivilgesellschaft zugänglich.

Fazit

Die Form von Männlichkeit, die im militärischen, aber auch im zivilen Kontext das Ideal darstellt, festigt bestehende Machtstrukturen. Durch den Ausschluss abweichender Männlichkeit aus dem Ideal und die Klassifikation als verweiblicht kann das Männlichkeitsbild intakt bleiben. In der totalen Institution, die das Militär darstellt, wird das Ideal von Männlichkeit dazu benutzt, Machtstrukturen zu legitimieren und über die Implementierung von Heldenmythen eine Kritik am Einsatz selbst zu verunmöglichen.

Die Männlichkeit der Institution Militär ist nicht allein auf das Geschlecht ihrer Mitglieder zurückzuführen, weswegen die Öffnung des Militärs für Frauen nicht zu einer stärkeren Akzeptanz weiblicher Eigenschaften führt, jedoch entsteht durch die formale Gleichstellung eine Verschiebung der Diskurse.

Literatur

Apelt, M. (2015): Der lange Abschied von der männlichen Organisation – Geschlechterverhältnisse zwischen Formalität und Informalität am Beispiel des Militärs. In: Von Groddeck, V.; Wilz, S.M. (Hrsg.): Formalität und Informalität in Organisationen. Wiesbaden: Springer VS, S. 215-237.

Bundeswehr Exclusive (2017): Frauen Power Mali Special. Verfügbar unter: youtube.com/watch?v=kKdRAQh_hNY.

Dittmer, C. (2009): Gender Trouble in der Bundeswehr – Eine Studie zu Identitätskonstruktionen und Geschlechterordnungen unter besonderer Berücksichtigung von Auslandseinsätzen. Bielefeld: transcript.

Euskirchen, M. (2005): Militärrituale – Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments. Köln: PapyRossa.

Lamott, F.; Lempa, G. (2011): Zwischen Anerkennung und Zurückweisung – Das Kriegstrauma im politischen Kontext. Forum Psychoanalyse, Jg. 27, No. 3., S. 263-277.

Spreen, D. (2010): Die Konstitutionsfunktion des Krieges – Konstitutionstheoretische Zugänge zum Krieg in der deutschen Gegenwartssoziologie. In: Appelt, M. (Hrsg.): Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 107-139.

Szczepaniak, M. (2010): »Helden in Fels und Eis« – Militärische Männlichkeit und Kälteerfahrung im Ersten Weltkrieg. Colloquia Germanica, Jg. 43, No. 1, S. 63-77.

Thomas, T. (2009): Gender Management, Popular Culture And The Military. In: Schubert, R. (ed.): War Isn’t Hell, It’s Entertainment – Essays on Visual Media and the Representation of Conflict. North Carolina: McFarland, S 97-115.

Thomas, T. (2011): Poststrukturalistische Kritik als Praxis der Grenzüberschreitung. In: Thomas, T.; Hobuß, S.; Kruse, M. (Hrsg.): Dekonstruktion und Evidenz – Ver(un)sicherungen in Medienkulturen. Sulzbach/Taunus: Helmer.

Virchow, F. (2010): Militär und Medien. In: Appelt, M. (Hrsg.): Forschungsthema: Militär – Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 107-139.

Sarah Steube ist Studentin der Psychologie und der Transdisziplinären Friedensstudien an der Universität Klagenfurt.

My mind has been under occupation


My mind has been under occupation

Der (türkische) Militarismus und seine Folgen

von Serdar M. Degirmencioglu

Militarismus ist für den Autor nicht nur Ursache für Kriege, sondern auch eine Doktrin, die die Herzen und das Denken der Menschen besetzt. Er erzählt, wie der Militarismus sein eigenes Denken immer mehr besetzte, und beklagt, dass sich die Zunft der Psycholog*innen diesem Thema weitgehend verweigert. Am Beispiel der Türkei schildert er auch, wie der Militarismus in das Berufsleben der Menschen eingreift und dieses zerstört.

Die Besetzung meines Denkens begann 2003, etwa zu der Zeit, als die Invasion des Irak stattfand. Am 20. März, als die Luftangriffe begannen, fuhr ich mit einem Freund aus den Vereinigten Staaten zu einem Jugend-Friedenszentrum in der Nähe von Istanbul. Seine Frau, Kinder, Eltern und alle Bekannte machten sich große Sorgen. Und sie hatten recht. Wenn ein Krieg begonnen wird, werden Menschen verletzt. Krieg bedeutet Leiden. Ihre Besorgnis hielt an, bis mein Freund wieder zurück nach Hause kam.

Einige Monate später reiste ich zur New Mexico Highlands University in Las Vegas, um an der 9. Konferenz der Society for Community Research and Action teilzunehmen. Die Invasion war in meinem Denken. Und sie war auch im Denken anderer, die sich aber nicht trauten, ihre Gedanken zu äußern. Die Diskussionen fanden woanders statt, z.B. auf den Wänden der Toilette (Degirmencioglu 2003).

Ich konnte mich während der Konferenz nicht konzentrieren und ging in ein Nebengebäude. Es war das Studierendenzentrum. Im Gebäude stieß ich auf eine Wand, die mit Briefen und Botschaften bedeckt war. Es waren die Stimmen der Kinder und Jugendlichen der Stadt. Die Botschaft war immer die selbe: „Wir lieben Dich. Wir wollen Dich zurückhaben.“ Las Vegas gehörte zu den Orten, an denen junge Männer und Frauen nicht viele Optionen hatten. Viele wurden in die Armee rekrutiert. Ihre Photos hingen überall. Ich war den Tränen nahe. Das Studierendenzentrum war leer. Meine Kollg*innen waren im anderen Gebäude. Ich war der einzige Mensch, der die Schreie der Brüder und Schwestern dieser Rekruten hörte. Ich musste diese Stimmen mitnehmen. Diese Stimmen mussten Gehör finden.

Jungen Menschen eine Stimme zu geben war mir keine unbekannte Aufgabe. Im Dezember 2000 hatte ich die Kampagne »Höre meine Stimme: Ich habe auch eine Stimme« gestartet und Kinder (6-11 Jahre) und Jugendliche (bis 18 Jahre) gebeten, Botschaften an den Ministerpräsidenten zu schicken und ihm zu schreiben, was ihnen in den Sinn kam. Der Ministerpräsident musste als oberster Regierungsrepräsentant die Meinung aller Bürger*innen berücksichtigen, auch die der jungen. Die Reaktion war überwältigend. Junge Menschen waren begierig, ihre Meinung zu Gehör zu bringen. Eine Auswahl der Botschaften, die ich erhielt, wurde später in einem Buch veröffentlicht (Degirmencioglu 2006).

Junge Menschen verdienen es, gehört zu werden. Sie verdienen die Chance, in ihren Gemeinschaften und der Gesellschaft entscheidenden Einfluss zu nehmen. Das sind die Grundbedingungen für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Es gibt aber hohe Hürden. Eine dieser Hürden ist sicherlich der Militarismus.

Der Klang der Freiheit

Militarismus ist eine Doktrin, die Menschen nicht nur gegenüber Stimmen des Friedens taub macht, sondern auch gegenüber den Stimmen ihrer Gemeinschaft – den Stimmen von Frauen, von Kindern, von Behinderten, von Unterdrückten. Die Blockaden, die Militarismus im Denken der Menschen aufbaut, können offenkundig oder subtil sein. Aber sie sind sehr real und haben sehr ernste Folgen. Die schiere Absurdität von Militarismus spiegelt sich oft in militärischen Parolen wider, z.B. „Der Lärm, den Du hörst, ist der Klang der Freiheit.“

Ich stolperte über diesen Slogan in einem Buch, das aufzeigt, wie imperiale Pläne und der Militarismus den Irak zerstörten. Der Journalist Rajiv Chandresekaran (2007) erzählt in erschreckenden Details die Geschichte der Coalition Provisional Authority (CPA, Provisorischen Behörde der Koalition) – das war der Mechanismus zur Beherrschung des Irak. Während der Irak erledigt wurde, gab es in Baghdad täglich Presse-Briefings, um der Welt zu erzählen, dass sich das Leben in Irak jeden Tag verbessert.

Beim Presse-Briefing am 24. Februar 2004, das von CPA-Sprecher Daniel Senor organisiert wurde, stellte ein irakischer Journalist eine Frage auf Arabisch. Er wollte wissen, warum die Helikopter Tag und Nacht im Tiefflug unterwegs seien. Die Kinder hätten große Angst. Sie könnten nicht schlafen. Seine Frage richtete er an Brigadegeneral Mark Kimmitt. Der antwortete so: „Was wir den Kindern von Irak sagen würden ist, dass der Lärm, den sie hören, der Klang der Freiheit ist. Diese Helikopter sind in der Luft, um Schutz, um Sicherheit zu bieten. Ganz sicher fliegen unsere Helikopter nicht absichtlich in einer Höhe, die die Kinder des Irak irritiert. Sie sind zu ihrer Sicherheit da. Sie sind zu ihrem Schutz da. Und genau so, wie meine Frau, eine Lehrerin, den Kindern im Klassenzimmer sagt, wenn sie in Fort Bragg das Artilleriefeuer hören, sie sagt dann: ‚Kinder, das ist der Klang der Freiheit.’ Ihnen scheint diese Erklärung zu gefallen. […] Sagen sie den Kindern des Irak das gleiche, dass der Lärm der Helikopter über ihrem Kopf sicherstellt, dass sie sich keine Sorgen um die Zukunft machen müssen.“ (S. 141)

Für General Kimmit kamen Helikopter und Waffen vor Kindern. Wenn das Militär sprach, hatten Kinder zuzuhören. Wenn Helikopter flogen, hatten Kinder sich daran zu gewöhnen. Wenn Waffen abgefeuert wurden, hatten Kinder das zu mögen. Krieg und die Werkzeuge des Krieges waren eine Realität. Die Welt hatte diese Realität zu akzeptieren.

Es war klar, dass der »Klang der Freiheit« lauter war als die Stimmen der Kinder im Irak. Er war auch lauter als die Stimmen der Kinder von Fort Bragg. Und er war eindeutig lauter als die Stimmen der Schwestern und Brüder in Las Vegas, die ihre Angehörigen zurück wollten. Das ist die Wahrheit. Wenn das Militär spricht, wird es gehört. Wenn Waffen sprechen, werden sie gehört. Diejenigen, die unter dem Krieg leiden, nicht.

Militarismus ist eine Doktrin, die die Herzen und das Denken besetzt. Er verwandelt sie in Steine. Wenn junge Menschen in die Armee rekrutiert werden, leiden sie. Ihre Angehörigen leiden. Und doch geht ihr Leiden im »Klang der Freiheit« unter. Und wenn eine Armee ein Land besetzt, Irak oder ein anderes, sind die Bewohner*innen gezwungen zu leiden. Und ihre Stimmen sind viel schwerer zu hören, weil der »Klang der Freiheit« lauter ist, wenn eine Invasion oder Besatzung stattfindet. Das ist der Grund, warum 14 Jahre nach der Invasion des Irak rund um die Welt nur wenig über das Leiden der Menschen im Irak veröffentlich wird. Eines ist klar: Irak ist erledigt.

Psychologie im Dienste des Militärs

Mein Denken beschäftigt sich seither mit dem Militarismus. Die Invasion des Irak half mir dabei, die Selbstzufriedenheit in der Psychologie zu erkennen. Als ich erfuhr, dass bei der Invasion des Irak Napalmbomben eingesetzt wurden, beschäftigte ich mich mit der Geschichte von Napalm und stellte fest, dass die Psychologie die Napalmbomben vollständig ignoriert hatte. Die Welt wusste von den Leiden, die Napalm verursacht, aber die Psycholog*innen interessierten sich nicht dafür. Ich veröffentlichte meine Rechercheergebnisse in Englisch und Türkisch (Degirmencioglu 2010a; 2010b). Ich reiste zu etlichen Konferenzen auf unterschiedlichen Kontinten, um die Ergebnisse bekannt zu machen (z.B. Degirmencioglu 2012). Die Psycholog*innen hörten nicht zu.

Noch schlimmer wurde es Mitte der 2000er Jahre, als klar wurde, dass die American Psychological Association (APA, Verband der Psycholog*innen in den USA) heimlich mit der Regierung von George W. Bush zusammenarbeitete, damit die Psychologie dem »Krieg gegen den Terror« besser zu Diensten sein kann. Pycholog*innen dienten dem Krieg (dem Militär und der CIA) im Irak, einem Land, das gleich neben der Türkei liegt.

Im November 2014 beauftragte der APA-Vorstand den Rechtsanwalt David Hoffmann von der Kanzlei Sidley Austin, eine »unabhängige Untersuchung« durchzuführen, ob es Beweise für die Vorwürfe gäbe, dass „APA an Aktivitäten beteiligt war, die eine heimliche Zusammenarbeit mit der Regierung Bush konstituieren, um im Krieg gegen den Terror den Einsatz »erweiterter« Befragungstechniken zu befördern, zu unterstützen oder zu ermöglichen.1

Die unabhängige Untersuchung mündete in einem Dokument, das als »Hoffmann-Bericht« bekannt wurde. Der Bericht bestätigte sämtliche Vorwürfe gegen die APA. Das änderte aber nichts daran, dass die Mainstream-Psychologie nicht zuhören wollte. Das galt für die USA, für Europa und für mein eigenes Land, die Türkei.

Den Militarismus ignorieren

Psycholog*innen in der Türkei interessieren sich kaum für Militarismus. In einem Land, in dem seit Langem die Wehrpflicht für Männer gilt, bedeutet das, dass die Psycholog*innen einer Erfahrung ausweichen, die Generation um Generation sämtliche junge Männer betrifft. Die Wehrpflicht ist natürlich nur ein Teil des Problems. Der Militarismus in der Türkei ist ein allgegenwärtiges und hartnäckiges Problem, da er sich mit Nationalismus und mit der republikanischen Tradition vermischt. Schulen sind von Militarismus geplagt (Degirmencioglu 2011), vermehrt in den letzten zehn Jahren. Die Regierungspartei will den jungen Menschen den Militarismus aufzwingen (Degirmencioglu 2013), aber Psycholog*innen interessieren sich nicht für die Indoktrinationskampagnen an den Schulen.

Militarismus befördert den bewaffneten Konflikt und nährt sich daran. Seit mehr als 30 Jahren hält der bewaffnete Konflikt zwischen den türkischen Regierungskräften und der kurdischen Guerilla-Bewegung an. Im Lauf der Jahre verschob sich der Konflikt von den ländlichen in die städtischen Gebiete. Jetzt gibt es eine städtische Volksbewegung der Kurden und eine Partei, die Demokratische Partei der Völker (HDP), die diese Bewegung im Parlament vertritt. Junge Menschen, die geboren wurden, nachdem der Konflikt in den 1980er Jahren begann, wuchsen in einer grausamen Welt auf. Viele kurdische Jugendliche, einschließlich meiner Studierenden, glauben nicht an Frieden. Sie denken, das ist ein verblassender Traum.

Militarismus gedeiht durch Tod, wenn Tod verherrlicht und in ein Privileg verwandelt wird. Das ist die Funktion des Märtyrertodes und der Mythen, die zu seiner Verherrlichung aufgebaut werden. In den 1990er Jahren, als bewaffnete Kämpfe zunahmen, nahm auch die Zahl von Soldaten, die in diesen Kämpfen getötet wurden, zu. Schnell wurden Beerdigungen gefallener Soldaten zum politischen Vehikel, um den Militarismus zu befördern, Hass und Rassismus zu säen und Wähler*innen zu gewinnen. Beerdigungen von Märtyrern wurden ein Thema, das jede größere Partei einbeziehen musste. Sozialwissenschaftler*innen hielten sich allerdings von dem Thema des Märtyrertods und wie er dem Militarismus dient fern. Ich beschloss, das Schweigen zu brechen, und arbeitete etwa drei Jahre lang an der Herausgabe eines Buches, das sich mit dem Märtyrertod auseinandersetzt. Das Buch (Degirmencioglu 2014) wurde in der Türkei von einem der großen Verlage gedruckt.

Politik des Todes

Ich sage es nicht gerne, aber auch der Tod beherrscht mein Denken.

2015 wurde der Tod eine politische Strategie in der Türkei. Das geschah nach den Wahlen im Juni des Jahres. Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) wollte die vierte Legislaturperiode in Folge die Regierung stellen. Ihr Ziel war es, eine große Mehrheit der Sitze zu erringen und Änderungen der Verfassung durchzusetzen. Letztlich sollte ein präsidiales System nach dem Vorbild der USA eingeführt werden, das Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr Macht geben würde. Der Präsident warnte vor Chaos, wenn seine Partei keine deutliche Mehrheit erhielte.

Am 7. Juni gaben die Wähler*innen jedoch der HDP genügend Stimmen, um die 10 %-Hürde zu überwinden, eine willkürliche Sperre, die seit Langem verhinderte, dass die kurdische Bewegung im Parlament vertreten war. Als die HDP die Hürde genommen hatte, verlor die AKP ihre Mehrheit, und im Parlament entstand ein Patt. Der Präsident suchte nicht nach politischen Alternativen. Stattdessen kam eine neue Strategie zum Zug. Die Friedensgespräche zwischen der Regierung und den kurdischen Guerillakräften wurden abgebrochen. In mehreren Städten wurde eine Ausgangssperre verhängt, und die Regierung ging militärisch gegen kurdische Zivilist*innen vor. Die Demonstration brutaler militärischer Macht fand die Unterstützung nationalistischer Hardliner und derer, die an den Autoritarismus glauben. Beerdigungen von Märtyrern wurden wieder zu Ereignissen mit hohem öffentlichem Stellenwert. Führende Politiker, einschließlich des Präsidenten, drängten junge Männer, den Märtyrertod zu suchen. Der Präsident rief nach vorgezogenen Wahlen. Das Blut, das im Sommer vergossen wurde, wandelte sich am 7. November in Stimmen. Die AKP gewann die zuvor verlorene Mehrheit wieder. Ende 2015 litt die Türkei unter der »Politik des Todes«, und der Frieden rückte in weite Ferne.

Invasion meines Berufslebens

Vor diesem Hintergrund unterzeichneten mehr als tausend Wissenschaftler*innen (Academics for Peace) eine Friedenspetition und riefen die Regierung auf, die gnadenlosen Angriffe im Südosten des Landes zu stoppen, die bei den Zivilist*innen zu zahllosen Verletzten und Toten führte. Die Petition wurde am 11. Januar 2016 veröffentlicht. Die Regierung antwortete mit einer Hexenjagd. Binnen einer knappen Woche erhielten die Universitäten Anweisung, mit dem Problem »umzugehen«. Viele Nachwuchswissenschaftler*innen an privaten Universitäten wurden entlassen. Viele Wissenschaftler*innen wurden gedrängt, ihre Unterschrift zurückzuziehen. Manche erhielten Todesdrohungen. An fast allen Universitäten wurden interne Untersuchungen aufgenommen.

Vier Wissenschaftler*innen wurden verhaftet, nachdem sie die Forderung nach Frieden auf einer Pressekonferenz wiederholten. Sie wurden der »terroristischen Propaganda« bezichtigt und mehr als einen Monat in Haft gehalten. Ihrem Prozess am 22. April wohnten zahlreiche Beobachter*innen nationaler und internationaler Organisationen bei. Das Gericht wies die fingierten Vorwürfe ab.

Die Hexenjagd war Teil des Regierungsplans, um die Universitäten von kritischen Stimmen zu säubern und zum Schweigen zu bringen. In manchen Privatuniversitäten nutzte die Verwaltung die Hexenjagd der Regierung, um Hochschullehrer*innen loszuwerden, die sich kritisch über die Institution oder die Arbeitsbedingungen geäußert hatten. Die Dogus-Universität, an der ich lehrte, war eine davon. Dogus war eine profitorientierte Institution, die zur Durchsetzung der Arbeitsbedingungen ein Klima der Angst aufbaute. Ich war ein Rebell, der nicht zum Klima der Universität passte. Als Vorsitzender des Fachbereichs Psychologie leistete ich vehement Widerstand gegen unrechtmäßige und unethische Maßnahmen zur Steigerung des Profits. Die Verwaltung hegte schon lange einen Groll gegen mich. Im Jahr 2013 wurde ich bereits 40 Tage nach meiner Arbeitsaufnahme gefeuert, weil ich dagegen war, den Profit anzukurbeln. 2014 musste die Kündigung aufgrund eines Gerichtsurteils zurückgenommen werden.

Die Universitätsverwaltung setzte am 18. Januar 2016, eine Woche nach der Friedenspetition, eine Untersuchung in Gang. Ich wurde vom Vorsitz entbunden, damit die Verwaltung Marionetten an den Fachbereich bringen konnten. Im März versuchte der Dekan, mich daran zu hindern, in Kairo eine Keynote-Speech zu geben. Als das misslang, kürzte er die Vergütung, die ich für die Übernahme zusätzlicher Lehrveranstaltungen erhielt. Als nächstes verhinderte die Verwaltung, dass ich zu einer Konferenz in die USA reisen konnte.

Ich rechnete damit, Mitte Juni, unmittelbar nach den Abschlussprüfungen, gefeuert zu werden. Ich ging davon aus, dass die Verwaltung diese Gelegenheit nutzen würde, mich ohne Abfindungszahlung loszuwerden – auch ein Weg, die Profite zu steigern. Aber die Verwaltung reagierte schneller: Ich wurde am 29. April entlassen. Als Rechtsgrundlage verwiesen sie auf eine Vorschrift, die es ermöglichte, öffentliche Angestellte zu entlassen, die am Arbeitsplatz offen politische Propaganda betrieben. Das traf auf meinen Fall nicht zu, aber das war egal. Die Verwaltung nutzte die anhaltende Hexenjagd als Vorwand, damit die Studierenden und die anderen denken sollten, der Druck der Regierung habe zu meiner Entlassung geführt. Im Mai reichte ich Klage gegen die Universitätsverwaltung ein, wohl wissend, dass das Verfahren dieses Mal vermutlich schwieriger werden würde. Selbst wenn ich die Klage gewinnen und meine Entlassung abgewiesen werden sollte, hatte sich das Blatt gewendet. Universitäten in der Türkei sind nun unter Besatzung, und mein Berufsleben in der Türkei ist wohl vorbei.

Universitäten unter Besatzung

Die Regierung leitete ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die »Academics for Peace« ein und übergab den Fall einem berüchtigten Staatsanwalt. Da kein Verbrechen vorliegt, gibt es keine Beweise. Die Staatsanwaltschaft beschloss, durch inkriminierende Fragen Beweise zu schaffen. Der Plan war, alle diejenigen, die die Petition unterzeichnet hatten, in die Polizeistationen einzubestellen. Die Wissenschaftler*innen würden persönlich und einzeln vorsprechen, 14 Fragen beantworten und sich so selbst belasten.

Allerdings beschlossen wir kollektiv, keine dieser Fragen zu beantworten. Eine Gruppe junger, engagierter Anwält*innen begann, uns pro bono zu beraten. Um die Einschüchterungsstrategie umzukehren, traten unsere Anwält*innen auf den Plan. Jede*r einzelne Wissenschaftler*in wurde beim Gang zur Polizei anwaltlich begleitet. Jede*r einzelne Wissenschaftler*in gab an, dass sie/er gefordert habe, Frieden zu schaffen, und dass dies unter die Meinungsfreiheit fällt. Die Polizeibeamten mussten mit »copy and paste« arbeiten: Die Aussagen waren identisch. Der Plan des Staatsanwalts geriet so zur Lachnummer. Keine einzige Frage wurde gestellt. Keine einzige Frage wurde beantwortet. Das wurde durch gemeinschaftliche Anstrengungen ermöglicht, durch die Solidarität von Wissenschaftler*innen und Anwält*innen.

Die Situation verschlechterte sich nach dem 15. Juli 2016, als ein misslungener Putschversuch es der Regierung erlaubte, Sonderbefugnisse zu erlangen. Zuerst wurden sämtliche Universitätsdekane im Land aufgefordert, sofort zurückzutreten. Dieser Schritt sollte Furcht verbreiten. Die Botschaft war laut und eindeutig: Das Regime hatte die volle Kontrolle über die Universitäten, und es fand eine Säuberung statt. Bald wurde der Notstand erklärt, und 15 Universitäten wurden wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung über Nacht geschlossen. Die Studierenden, die an diesen Universitäten eingeschrieben waren, wurden zu akademischen Waisen. Wissenschaftler*innen und Verwaltungsangestellt wurden über Nacht arbeitslos.

Am 1. September wurde ein Regierungsdekret erlassen, durch das mehr als 50.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes ihre Stelle verloren, darunter 2.356 Wissenschaftler*innen. Zu letzteren gehörten mehr als 40 Mitglieder der »Academics for Peace«.

Während die Säuberungen täglich weitergehen, ist das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit verschwunden. Die Säuberungen führen zur Auflösung der Universitäten, der Schulen und des Glaubens an die Demokratie. Die Hoffnung für Frieden schwindet. Psycholog*innen, die Militarismus, soziale Gerechtigkeit und Frieden jahrelang ignorierten, sind jetzt mit dem bevorstehenden Kollaps der Universitäten, ihrer heimatlichen Basis, konfrontiert.

Politik der Dämonisierung

Seit dem gescheiterten Putschversuch herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand, der alle drei Monate verlängert wird. Wenn eine Regierung den Ausnahmezustand erklärt, Sonderbefugnisse erlangt und per Dekret regiert, gibt es für diese Regierung keinen Grund, diese Machtbefugnisse aufzugeben und den Ausnahmezustand aufzuheben. Wenn eine Regierung nahezu die totale Kontrolle erlangt, d.h. das Parlament, das Rechtswesen, die Massenmedien und die Kommunalverwaltungen kontrolliert, gibt es für diese Regierung kaum einen Grund, sich an die Verfassung, die bestehenden Gesetze oder die Menschenrechte zu halten. So eine Regierung bewegt sich rasch Richtung Totalitarismus.

An diesem kritischen Punkt ist es vielleicht hilfreich, sich an den Fall Paraguay zu erinnern, wo sich Alfredo Stroessner 1954 als Diktator etablierte und die Macht 35 Jahre lang behielt, bis 1989. Als er an die Macht kam, erklärte er den Ausnahmezustand und verlängerte diesen während seiner gesamten Diktatur alle drei Monate. Seine Herrschaft war für Paraguay eine Katastrophe. Diese historische Lektion lehrt uns, dass die Entwicklung der Türkei hin zum Totalitarismus unvermeidlich ist. Angesichts der Fakten und des Verfassungsreferendums vom April 2017 kann das jetzige Regime in der Türkei kaum anders denn als Diktatur bezeichnet werden.

Wenn die totale politische Kontrolle in Reichweite ist, sieht sich ein diktatorisches Regime sozusagen genötigt, jegliche Opposition auszuschalten und so die Hindernisse auf dem Weg zum Totalitarismus zu beseitigen. Dementsprechend hat das jetzige Regime der Türkei sich sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch für den Militarismus entschieden. Sämtliche oppositionellen Medien gerieten in den Fokus, und die Türkei wurde zum Land mit der höchsten Zahl inhaftierter Journalist*innen. Die Regierung behauptet, diese Journalist*innen seien Verräter*innen, Spion*innen (d.h. Feinde). Die Feinde sind überall. Es können Journalist*innen sein oder Führungspersonen und Abgeordnete der HDP, die vom Volk gewählt wurden, oder Demonstrant*innen auf der Straße. Sie alle verdienen, im Gefängnis zu sein oder schlimmer.2

Die Feindrhetorik ist beabsichtigt. Recep Tayyip Erdogan, der Präsident der Turkei, nutzt absichtlich jede Gelegenheit, einen Feind zu erfinden. Ziel ist die Polarisierung der Öffentlichkeit. Der Feind ist überall, in der Türkei und außerhalb. Die Öffentlichkeit muss sich daher entscheiden, ob sie hinter dem Feind oder hinter der Regierung steht (also ihm).3 Der Feind sind ausländische Mächte, der Feind sind Russland, die Niederlande, Deutschland – der Feind ist jeder, den das Regime als Feind ansieht. Und der Feind kann nach Belieben der Regierung wechseln.

Eine Analogie, die von Erdogan wieder und wieder herangezogen wird, hat mit Verstecken zu tun. Das sind Unterschlupfe der Feinde der Türkei, und es scheint, die Türkei ist voll von ihnen. Die »Versteck«-Analogie wurde ursprünglich genutzt, um die bevorstehende Verfolgung der Gülen-Anhänger anzukündigen. Die Regierung war stark und entschlossen, „in die Verstecke“ der Gülen-Anhänger zu marschieren. So sagte Erdogan, der damals Ministerpräsident war, 2014: „Also, heute ist der 30. März. Was haben sie gesagt? Sie sagten ‚Chaos nach dem 25. März’. Stimmt. Wir sahen das Chaos. Was war dieses Chaos? Dieses Land bekam die Gelegenheit, die Verräter zu sehen, die das Außenministerium abhörten und Verrat begingen, indem sie sich in die nationale Sicherheit dieses Staates und der Menschen einmischten. Das war ihr Chaosplan. Ich habe seit Monaten gesagt, ‚Wir werden in ihre Verstecke marschieren’.“4

Ursprünglich war die Analogie auf Gülen-Anhänger beschränkt. Später wurde sie auch für andere verwendet, besonders für die kurdischen Guerilleros, die als Bestien dargestellt wurden, die sich in Höhlen verstecken. Die Regierung war stark und entschlossen, in die Höhlen zu marschieren, wo auch immer diese sein mögen.

Ihre Kraft bezieht die »Versteck«-Analogie natürlich aus den inhärenten Bestien. Das Regime will seine Feinde als Untermenschen, als »häßliche Ungeheuer« darstellen, die es verdienen, eliminiert zu werden. Sie verdienen nichts Besseres, weil sie per Definition »Untermenschen« sind.

Diese Strategie wurde schon von vielen anderen eingesetzt, und sie ist sehr gefährlich: „Schau zurück auf einige der tragischsten Episoden der menschlichen Geschichte, und Du wirst Worte und Bilder finden, die Menschen ihre grundlegenden menschlichen Eigenschaften absprechen. In der Nazi-Zeit stellte der Film »Der ewige Jude« Juden als Ratten dar. Im Genozid von Ruanda nannten Hutu-Offizielle Tutsis ‚Kakerlaken’, die ausgemerzt werden müssten.“ 5

Die Geschichte liefert uns viele Fälle, in denen die Porträtierung politischer Gegner als Untermenschen die Lizenz zum Töten lieferte. In der Türkei war und ist das so. Die Seiten der Online-Medien, z.B. YouTube, sind voll von Videos, in denen Guerilleros misshandelt, gefoltert oder schlicht exekutiert werden. Und dazu muss man gar keiner Guerilla-Truppe angehören. Jeder, der für »einen von denen« gehalten wird, verdient diese Behandlung. Die Titel und Kommentare solcher Videos verweisen oft auf »Untermenschen«, die eliminiert werden. Die Leichen verdienen keinen Respekt und werden daher als »Kadaver« bezeichnet. Einen Guerillero zu töten, heißt »einen Kadaver auf seine Kappe zu nehmen« usw.

Die Propaganda wird nicht einmal im Ramadan unterbrochen, der doch ein Monat der Brüderlichkeit und des Friedens sein soll. Am 7. Juni 2017 ergriff der Präsident der Türkei das Wort bei einem Fastenbrechen, das von hochrangigen Angehörigen der Sicherheitskräfte organisiert wurde. Unter Verweis auf diejenigen, die im Juli 2016 an dem Putschversuch beteiligt waren, sagte er, diese verdienten mehr als eine Gefängnisstrafe: „Wenn“, sagte er, „diese Terroristen jemals ihre Strafe abgesessen haben und aus dem Gefängnis spazieren, wird die Öffentlichkeit sie strafen: Sie werden ihnen ins Gesicht spucken und sie in der Spucke ertränken.“6

Wer immer noch nicht versteht, was in der Türkei passiert, dem sollten diese Worte genügen. Der Präsident der Türkei ist der Richter, die Geschworenen und der Staatsanwalt in einer Person. Er weiß, wer schuldig ist, wer ein Terrorist ist, wer ein Feind ist. Er weiß auch, wie der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann. Er hat kein Problem, zum Lynchen durch Spucken aufzurufen, und es wäre ihm egal, wenn aus dem Spucken etwas Drastischeres würde. Er weiß, dass Dehumanisierung ein geistiges Schlupf­loch ist, das es zulässt, dass Menschen anderen Menschen Leid antun.

Die Türkei ist eindeutig auf Crash­kurs, und die Seele des Landes wird korrumpiert zugunsten von Hegemonie und Tyrannei. Was in der Türkei passiert, ist so ungeheuerlich, so surreal, dass es sich anfühlt wie ein grauenhaft militaristischer Film, der in Endlosschleifen sinnloses Töten zeigt. Aber es ist kein Film. Es ist keine Animation. Die Türkei befindet sich mitten in der Tragödie, die jeden Tag schlimmer wird.

Militarismus zerstört akademische Freiheit

Während ich diesen Text abschließe, ist mein Denken von unterschiedlichen Kräften besetzt, von Kräften, von denen ich mir wünschte, dass sie nie existierten. Auch der Tod besetzt mein Denken. Es fand eine Invasion meines Berufslebens statt, und die Universitäten, denen ich so viel Zeit gewidmet habe, stehen unter Besatzung. Mein Heimatland wird erledigt.

Ich empfehle, dass Sie meine Worte ernst nehmen. Wenn Militarismus vorherrscht, ist die akademische Freiheit zum Verschwinden verdammt. Psycholog*innen müssen den Frieden ernstnehmen, um ihres Berufs willen, wenn nicht sogar um des Gemeinwohls willen.

Anmerkungen

1) American Psychological Association (o.J.): ­Report of the Independent Reviewer and Re­lated Materials. apa.org/independent-review/.

2) Turkey seeking up to 142 years in jail for co-head of pro-Kurdish opposition party. Deutsche Welle, 17.1.2017; dw.com.

3) “Gün, Mücadele ve Zalimlerin Üzerine En Sert Sekilde Gitme Günüdür”. Türkiye Cumhuriyeti, 16.3.2016; tccb.gov.tr.

4) FULL TEXT: Turkish PM Erdogan’s post-election »balcony speech». Hürriyet Daily News, 31.3.2014; hurriyetdailynews.com.

5) Resnick, B.: “They’re not even people”: why Eric Trump’s dehumanizing language matters – The psychology of what happens when we think our opponents are less than human is troubling. Vox, 7.6.2017; vox.com.

6) “Türkiye’yi Tacize ve Tehdide Yeltenenler, Bunun Bedelini Öder”. Türkiye Cumhuriyeti, 7.6.2017; tccb.gov.tr.

Literatur

Chandrasekaran, R. (2007). Imperial Life in the Emerald City – Inside Baghdad’s Green Zone. London: Bloomsbury Publishing.

Degirmencioglu, S.M. (2003). Impressions from the Biennial. The Community Psychologist, Vol. 36, No. 3, S. 27.

Degirmencioglu, S.M. (2005) Sesimi Duyun – Benim de Sesim Var. Ankara: Kök Yayincilik.

Degirmencioglu, S.M. (2006). Hear My Voice – I, too, have a voice. Dialogue on Participation, No. 3, S. 9.

Degirmencioglu, S.M. (2010a) The psychology of napalm – Whose side are psychologists on? Journal of Critical Psychology, Counselling and Psychotherapy, Vol. 10, No. 4, S. 196-205.

Degirmencioglu, S.M. (2010b) Napalm düstügü yeri yakar – Psikoloji kimin yaninda? Elestirel Psikoloji Bülteni, No. 3-4, S. 46-66.

Degirmencioglu, S.M. (2011). Militarism all over schools in Turkey. Broken Rifle, No. 88.

Degirmencioglu, S.M. (2012). Psychology of napalm – Why do psychologists avoid burning issues? International Congress of Psychology, Cape Town, South Africa.

Degirmencioglu, S.M. (2013). Young people in Turkey besieged by militarism – Past and pres­ent. In: Everett, O. (ed.): Sowing Seeds – The Militarization of Youth and How to Counter it. London: War Resisters’ International, S. 71-78.

Degirmencioglu, S.M. (ed.) (2014): “Öl Dediler”, Öldüm – Türkiye’de Sehitlik Mitleri. Istanbul: Iletisim Yayinlari.

Serdar M. Degirmencioglu (serdardegirmencioglu@gmail.com) war bis zu seiner Entlassung im April 2016 Professor für Entwicklungs- und Gemeindepsychologie an der Dogus-Universität in Istanbul. Seitdem war er Gastwissenschaftler an der American University in Cairo, der University of Macerata and L’Université libre de Bruxelles. Seine letzten Bücher befassen sich mit Tabus (z.B. dem Märtyrertod) und vernachlässigten Themen (z.B. profitorientierten Universitäten, psychologischen Auswirkungen von privater Verschuldung). Zur Zeit ist er Mitglied des Exekutivausschusses der »Society for the Study of Peace, Conflict, and Violence: Peace Psychology«.
Dieser Artikel wurde Anfang Juni 2017 fertiggestellt.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Erdogans Reichstagsbrand


Erdogans Reichstagsbrand

von Jürgen Nieth

„Hat es in der Türkei am 15. Juli 2016 einen Putsch gegen die Staatsführung gegeben? Ja, den gab es wohl – so wie es am 27. Februar 1933 in Berlin einen Brandanschlag auf den Reichstag gab […] [Dieser] war willkommenes Vehikel zur Etablierung der Nazi-Barbarei. Sehr Ähnliches hat sich in den abgelaufenen zwölf Monaten in der Türkei abgespielt. Nach einem Umsturzversuch, dessen Dilletantismus im Nachhinein viele Fragen aufwirft, folgten Ausnahmezustand, die Entmachtung des Parlaments, die Entlassung und/oder Verhaftung Hunderttausender, schlicht: Terror.“ (Roland Etzel, ND, 17.7.17., S. 1)

Staatsterror

Die Bilanz, die in der deutschen Presse ein Jahr nach dem Putschversuch gezogen wird, ist übereinstimmend kritisch. Kein Wunder, denn die Handlungen Erdogans und seiner Getreuen sprechen für sich: „Nach offiziellen Angaben sind bislang 50.510 Menschen verhaftet worden […] Gegen insgesamt 169.013 Menschen laufen Ermittlungsverfahren, knapp 150.000 Menschen sind aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. Über die Hälfte davon sind Lehrer, Dozenten und Professoren. Rund 150 Journalisten […] sitzen im Gefängnis, über hundert Zeitungen, TV-Sender und Radios wurden geschlossen oder aus dem Äther verbannt.“ (Jürgen Gottschlich, taz, 17.7.17., S. 3)

Andere Presseorgane nehmen Details der Verfolgungen unter die Lupe: „Bis heute wurden 4.424 Richter und Staatsanwälte suspendiert, 2.584 inhaftiert, 680 sind in Einzelhaft. Rund ein Viertel der staatlichen Justiz wurde ausgeschaltet.“ (Frank Nordhausen, BZ, 15.7.17., S. 3) „563 Mütter [sind gezwungen] […] mit ihren Säuglingen und Kindern gemeinsam die Haft zu verbringen.“ (Cüneyt Dinc, Freitag, 27.7.17., S. 8). „Ein Dutzend Universitäten und über tausend Privatschulen wurden geschlossen. Die Regierung zog die Pässe von mehreren zehntausend Menschen ein […] Fast tausend Unternehmen mit einem Gesamtumsatz von fast 20 Milliarden Dollar, deren Inhaber als Gülen-Anhänger galten, wurden verstaatlicht.“ (Markus Bernath und Susanne Güsten im Tagesspiegel, 15.7.17., S. 2) „Die Listen der jeweils neuesten Entlassungen erscheinen meist nach Mitternacht im »Resmi Gazete«, dem offiziellen Organ der Regierung […] Fieberhaft suchen Hunderttausende Türken dann nachts in den neuen Listen ihre Namen. Wenn sie ihn finden, wissen sie, dass vielleicht schon im Morgengrauen die Polizei kommen wird. Selbst wenn man sie nicht verhaftet, wird ihnen niemand mehr einen Job geben, verlieren sie ihre Krankenversicherung, werden […] ihre Kinder in der Schule gemobbt.“ (Boris Kálnoky, WaS, 16.7.17, S. 2) „Ein Abgeordneter der republikanischen Volkspartei und elf Mandatsträger der Demokratischen Partei der Völker (HDP) befinden sich seit Monaten im Gefängnis, darunter die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP […] Außerdem wurden 74 Bürgermeister der HDP inhaftiert. Für 89 Kommunen, vor allem im kurdischen Südosten, wurde von der Regierung ein Treuhänder statt des gewählten Bürgermeisters eingesetzt.“ (Jan Keetmann, ND, 21.7.17., S. 5)

Der angekündigte Putsch

„Bereits wenige Tage nach dem Putsch sprach Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von einem »kontrollierten Putsch«, was bedeutet, Erdogan habe zwar den Putschversuch gegen sich nicht selbst geplant, er habe jedoch die Kontrolle über ihn gehabt. Eine neue Chronologie der Ereignisse […] stützt diese These […] [sie zeigt], dass Erdogans Leute die Putschisten infiltriert hatten und über die Abläufe im Bilde waren.“ (Rainer Hermann, FAZ, 15.7.17., S. 8) Hermann zeigt auf, dass der pensionierte Oberst Attila Ugur bereits am 14. Juli in der regierungsnahen Zeitung »Yeni Safak« von einem bevorstehenden Putsch gesprochen habe. In der SZ (15.7.17., S. 2) verweist Christiane Schlötzer darauf, dass der „Geheimdienst (MIT) am 15. Juli bereits um 14,30 Uhr von einem Hubschrauberpiloten über einen unmittelbar bevorstehenden Staatsstreich informiert [wurde] – sieben Stunden bevor Panzer auf die Bosporusbrücke rollten.“ Gleich mehrere Zeitungen weisen darauf hin, das Erdogan selbst noch in der Nacht des Aufstandes von dem Putschversuch als einem „Geschenk Gottes, das es ermöglicht, die Armee zu säubern“ gesprochen habe, dass die Listen für zehntausende Verhaftungen vorbereitet waren und dass innerhalb von 48 Stunden 50.000 Menschen festgenommen wurden.

Erdogans Machtdemonstration

Am 15. Juli 2016 wehrten die Türken gemeinsam den Staatsstreich ab, waren Regierungs- und Oppositionspolitiker gemeinsam im Parlament Angriffen ausgesetzt. Am Jahrestag des Putsches erlebte die Türkei eine riesige Machtdemonstration Erdogans: „Sämtliche Reklametafeln waren mit Plakaten gepflastert, die Erdogans Palast gestaltet hatte, von den Minaretten erklang Sela, der Ruf zum Totengebet. Sogar auf unseren Mobiltelefonen waren Botschaften, die den Putschversuch verdammten: Wenn wir am 15. Juli 2017 eine Nummer wählten und sei es die Notrufnummer 112, dann erklang zunächst die von Erdogan persönlich eingesprochene Botschaft zum 15. Juli. Erst danach konnte man einen Krankenwagen anfordern […] Die Opposition blieb [bei den Feierlichkeiten] außen vor […] Bei der Parlamentszeremonie wurde der Opposition kein Rederecht gewährt.“ (Bülent Mumay, FAZ, 20.7.17, S. 14)

Es redete Erdogan. Er „kündigt in Istanbul unter Applaus des Publikums an, die Wiedereinführung der Todesstrafe voranzutreiben. Er schlägt vor, mutmaßliche Putschisten vor Gericht in orange Overalls zu stecken wie die Häftlinge in Guantanamo. Er ruft: »Wir werden den Verrätern den Kopf abreißen«.“ (Spiegel Nr. 30/2017, S. 27)

Fazit

Daniel Steinvorth zieht in der NZZ die Bilanz: „Währte der Putschversuch nur eine Nacht, so währt der Putsch nach dem Putsch bereits ein Jahr.“ (15.7.17., S. 12) Doch erst nach den Festnahmen des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner hat der deutsche Außenminister eine »Neuausrichtung« der deutschen Türkeipolitik gefordert. Von Taten ist außer einer Reisewarnung bisher allerdings nichts zu sehen.

Zitierte Zeitungen: BZ – Berliner Zeitung, Der Spiegel, Der Tagesspiegel, FAZ – Frankfurter Allgemeine, Freitag, ND – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, WaS – Welt am Sonntag.

Mehr Geld, weniger Sicherheit


Mehr Geld, weniger Sicherheit

Das neue deutsche Weißbuch

von Andreas Seifert

Das als Strategiedokument gedachte »Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« ist eine PR-Broschüre, die viel Bekanntes wiederholt und nur wenig Konkretes bereithält. Im Folgenden werden ein paar Schlaglichter gesetzt.

Zehn Jahre hat es gedauert, bis die Bundesregierung am 13. Juli des Jahres ein neues Weißbuch veröffentlichte.1 Zuvor gab es schon seit über einem Jahr Versuche, »Ideen« in einer Debatte zu platzieren, die sich den Anschein eines Beteiligungsprozesses gab.2 Jüngst wurde auch eine »Europäische Globalstrategie« vorgestellt (28.6.2016)3 und, unmittelbar vor Veröffentlichung des Weißbuches, die Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Warschau verbreitet (9.7.2016).4 Der zeitliche Vor- und Ablauf hatte die Erwartungen an das Weißbuch steigen lassen.

Das Weißbuch, so der eigene Anspruch, soll Auskunft über die Ziele und Inhalte der deutschen Sicherheitspolitik geben. Es soll aufklären, welche Handlungsfelder die deutsche Regierung identifiziert hat und mit welchen Maßnahmen sie ihre Interessen zu erfüllen gedenkt. Das Weißbuch wird federführend vom Verteidigungsministerium erstellt und mit anderen Ressorts abgesprochen, bevor es als Dokument der Regierung im Kabinett verabschiedet und veröffentlicht wird. Es soll die Grundlage für die weiterer Feinplanung der Bundeswehr sein und als Ausgangsdokument auch für die Planung in anderen Bereichen, beispielsweise der inneren Sicherheit, herhalten.

Mittel zum Zweck: PR-Sprache

Es gibt ein herausstechendes Merkmal – geradezu ein Alleinstellungsmerkmal – des Weißbuches: Es wirkt nicht nur wie eine überlange Rede der Verteidigungsministerin selbst, sondern es ist in weiten Strecken nicht viel mehr als die Wiederholung ihrer PR-Floskeln aus dem letzten halben Jahr. Jede*r aufmerksame Beobachter*in des Weißbuchprozesses findet in dem nun vorliegenden Text die Formulierungen ihrer ureigenen Zusammenfassungen der unterschiedlichen Workshops und Panels wieder. Im Duktus einer Unternehmensberaterin, die möglichst viele der vorgegebenen Stichwörter in einen Text packen möchte – nach Möglichkeit, ohne sich selbst irgendwo zu platzieren – wird durch die Themen geeiert und bereits vorher Beschlossenes als Ergebnis“ einer Debatte präsentiert. Da werden Dinge wie „unter einem Brennglas“ gesehen, es sollen Konzepte und Argumente in inklusiven Beteiligungsprozessen“ „geschärft“ werden, es werden „Hochwertfähigkeiten beübt“, „Lieferketten gehärtet“, „Wirkungsüberlegenheit erzielt“, mit „Ressourcenneuzuordnung“ werden „innovative Wege gegangen“ etc. Dergleichen Berater*innensprech mag »offen« und »andockfähig« für all jene klingen, die ihre Agenda in dem Papier wiedererkennen wollen (oder müssen), für alle anderen ist es eher ärgerlich. Der »Arbeitskreis Darmstädter Signal – die kritischen Soldaten« geht in seiner Stellungnahme so weit, den Weißbuchprozess als PR-Coup“ zu bezeichnen, und will mit seiner eigenen Webseite weissbuch.org einen tatsächlich offenen Debattenprozess anstoßen.

Die gewählte Sprache hat bei aller Verschrobenheit eine ganz klare Funktion: Sie soll Rationalität und die einheitliche Durchdringung aller angesprochenen Themenbereiche vermitteln. Sie soll den Anschein von Konkretisierung erwecken, wo man in den Planungen vielleicht noch gar nicht so weit ist bzw. über die konkrete Ausgestaltung, auch wenn sie schon fest liegt, keine Aussage treffen will. Für das »Konkrete«, so mag man unterstellen, gibt es angesichts dessen, dass es sich hier um ein Dokument der Diplomatie handelt, gewisse Grenzen; aber selbst die Bereiche, die in vergangenen Weißbüchern als obligatorisch galten, wurden in der Neufassung ausgelassen. So fehlen z.B. alle relevanten Kennziffern – die Zahl der Soldat*innen, der Zahl (einsatzfähiger) Großgeräte, der Zielgröße eines »adäquaten« Etats etc. –, die helfen könnten, die eingeleitete Trendwende“ (WB S. 117, 119) zu verstehen. Hier für Klarheit zu sorgen, bleibt anderen, „nachgeordneten“ Dokumenten vorbehalten (WB S. 15).

Die Sprache und auch die Auswahl der Bilder im Weißbuch legen noch etwas anderes nahe: Hier wird mit allen Tricks der Werbung an einem möglichst friedlichen Image der Bundeswehr gearbeitet. Wie die Sprache es versteht, die harten Fakten des Kriegsgeschäftes hinter wohlklingenden Floskeln zu verstecken, taugen die Bilder dazu, eine Bundeswehr zu präsentieren, die weder Waffen trägt noch in schmutzigen Kriegseinsätzen eingesetzt wird. Die Bilder zeigen besonders viele junge Frauen in Uniform und »zivile« Einsätze der Soldaten; die einzigen martialisch mit Waffen am Anschlag auftretenden Personen sind ausgerechnet Polizisten. Dies hat nichts mit der Realität der Bundeswehr zu tun, zeigt aber Parallelen zu den zur Rekrutierung verwendeten Materialien.

Drei Dokumente – eine Richtung

Ein zweites Merkmal dieses Weißbuches: Es steht nicht für sich alleine, sondern im Kontext einiger von EU und NATO beschlossener Papiere und der in Deutschland unter dem Slogan »Neue Macht – Neue Verantwortung« geführten Debatte, einschließlich des vom Auswärtigen Amt geführten »Review 2014«. Dazu gehört auch die inzwischen unter dem Label »Münchener Konsens« zusammengefasste Grundidee: die »neue« (sprich: oftmals militärische) Verantwortung, die Deutschland in der Welt wahrnehmen müsse und die ein Instrumentarium benötige, das von diplomatischen und entwicklungspolitischen Maßnahmen über Sanktionen und »Ertüchtigung« bis zum »robusten Einsatz« reicht.

Während der erste Teil des Weißbuches zur Sicherheitspolitik Deutschlands das politische Umfeld und die deutschen strategischen Prioritäten analysiert und Handlungsfelder identifiziert, wird im zweiten Teil auf die Konsequenzen für die Bundeswehr eingegangen. Der im letzten Weißbuch umstrittene Verweis auf die »Abhängigkeit« Deutschlands von internationalen Handelsrouten, Energieressourcen und Rohstoffen fehlt auch dieses Mal nicht, fällt aber angesichts der breitest angelegten Bedrohungen, denen sich Deutschland heute gegenüber sehe, kaum weiter auf – auch deshalb, weil erneut die Frage, welche Rolle die Bundeswehr eigentlich spielen soll, unbeantwortet bleibt. Die Auflistung der »Bedrohungen«, die von Terrorismus, Cyberangriffen, fragilen Staaten über Migration bis zu Klimawandel und Pandemien reichen, deutet auf einen breit angelegten Sicherheitsbegriff hin, der sich kaum mit den Mitteln des Militärs bearbeiten lässt. Scheinbar fügt sich also das Militär in seine Rolle als »Dienstleister« im »Instrumentarium« deutscher Sicherheitspolitik ein – doch mit einer nachgeordneten Rolle mag man sich im Bendlerblock dann doch nicht begnügen.

Vernetzter Ansatz – Resilienz – hybride Kriegsführung?

Mit der Verknüpfung dreier zentraler Begriffe begründet das Ministerium die Notwendigkeit, der Bundeswehr bei der Gewährleistung »unserer« Sicherheit eine federführende Rolle zuzuweisen. Ausgangspunkt ist die als unmittelbare Erfahrung interpretierte »hybride Kriegsführung« Russlands in der Ukraine bzw. im Kontext des Ukrainekonfliktes. „Hybride Bedrohungen“ setzten, so das Weißbuch generalisierend (S. 39), an den Schwachpunkten demokratischer und offener Gesellschaften an und versuchten durch Propaganda, Cyberangriffe, finanzielle Operationen oder politische Destabilisierung, aber auch durch verdeckte militärische Operationen unterhalb völkerrechtlicher Relevanz, das Land zu beeinflussen: „Hybrides Vorgehen verwischt die Grenzen zwischen Krieg und Frieden.“ Dem könne man nur begegnen, wenn eine „umfassende Verteidigungsfähigkeit“ und „Resilienz“ aufgebaut würde (ebd.).

Der schon unter den Vorgängern von Verteidigungsministerin von der Leyen entwickelte »vernetzte Ansatz«, der die enge Kooperation ziviler und militärischer Stellen vorsieht, wird damit auf eine neue Ebene gehoben. So will man in „geeigneten ressortgemeinsamen Gremien“ (S. 57) sicherstellen, dass Bundeswehrangehörige mit einbezogen werden. Die inzwischen beim Außenministerium angesiedelte Entwicklungshilfe wie auch die Cyberabwehr, die (derzeit) dem Innenministerium zugeordnet ist, sind Felder, in denen das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr künftig verstärkt an Entscheidungen beteiligt sein wollen. Sie möchten dabei nicht nur partizipieren, sondern auch ihre „Kompetenzen“ (ebd.) einbringen, selbst wenn die gegebenenfalls erst aufgebaut werden müssen. Vorläufiger Dreh- und Angelpunkt soll dabei der Bundessicherheitsrat werden, der als Gremium gestärkt werden und zukünftig als Plattform der Kommunikation zwischen den relevanten Ressorts dienen soll (WB S. 57). Die keineswegs beiläufige Erwähnung des Bundessicherheitsrates sollte aufhorchen lassen, zumal deutlich wird, dass auch die »notwendigen« Ad-hoc-Entscheidungen und Bündnisse (sprich: Kriegseinsätze) hier beschlossen werden sollen.

Der vernetzte Ansatz soll aber nicht nur als Durchdringung der Bundesverwaltung und ihrer Institutionen verstanden werden, sondern sich weiter in die Gesellschaft und Wirtschaft ausbreiten: „Gemeinsame Ausbildung und Übungen von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren für das Handeln im gesamten Krisenzyklus [soll] gefördert werden.“ (WB S. 59) Das damit geschaffene „Verständnis“ füreinander lässt sich leicht auch als Militarisierung der Gesellschaft deuten, die sich als Versicherheitlichung tarnt, alle betrifft, aber nur wenige Akteure umfassen wird, also anti-demokratische Züge trägt. Ziel ist es, die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der gesamten Gesellschaft zu erhöhen und auszubauen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die schon bekannte »zivil-militärische-Zusammenarbeit« im Rahmen des »vernetzten Ansatzes« ausgebaut werden soll, um defensive (und offensive?) Fähigkeiten für einen hybriden Kriegseinsatz zu erlangen – inklusive für den Einsatz im Inneren (WB S. 92/93, 110).

Besonders relevant wird dies für den Bereich der Cybersicherheit, der im Weißbuch breiten Raum einnimmt (WB S. 36-38, 50, 60, 82, 93, …): Soziale Medien als Informations- und Kommunikationsplattform seien besonders anfällig, die hochkomplexen Gesellschaften und ihre Wirtschaft durch ihre Vernetzung gefährdet, die Daten aller Menschen virulent – kurzum: Cyberraum sei das (!) Feld der Verteidigung der Zukunft. Bereits mit der Ankündigung eines Workshops in der Vorbereitungsphase des Weißbuches wurde dieser Bereich hervorgehoben. Mit einer parallel angelaufenen Bundeswehr-Kampagne zur Anwerbung von IT-Experten, mit der Aufstellung einer eigenen Cyber-Einheit und mit der Zusammenfassung aller betrauten Dienststellen unter derLeitung der Staatssekretärin Suder wurden vom Verteidigungsministerium hier auch schon Entscheidungen getroffen, die das Weißbuch nur unzureichend widerspiegelt.

Das Ministerium sieht in diesen Maßnahmen nur eine notwendige Konsequenz und einen überfälligen Schritt, andere sehen darin vielmehr den Anfang vom Ende eines wie auch immer von seinen Nutzern frei zu gestaltenden Internet. Die Gefahr, die hiervon ausgeht, wird sogar beschrieben: Die »Natur« des Internet und der digitalen Kommunikation setze klassischen Methoden der Zuschreibung kriegerischer oder aggressiver Handlungen Grenzen; die Konstruktion und »Verletzlichkeit« moderner Systeme, auf denen unser Leben zu großen Teilen fußt, begrenze überdies die Möglichkeiten zu ihrem »Schutz«. D.h., letztlich weiß man um die Grenzen solcher Initiativen, will aber auf alle Fälle dabei sein und rüstet nun massiv auf. Dass man damit Angriffe nicht verhindern kann, umgekehrt aber just die Kapazitäten schafft, die anderen als Anlass von Gegenwehr dienen könnten, wird billigend in Kauf genommen.

Das Vorgehen der Bundesregierung weist damit interessanterweise Parallelen zur Politik in der Volksrepublik China auf, wo man von einer internetbezogenen »Souveränität« spricht und damit nicht nur alle anderen »draußen« halten will, sondern auch versucht, die eigenen Bürger*innen einzusperren.

Ertüchtigung und
Ad-hoc-Rahmennation

Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Bestrebungen der deutschen Regierung, sich in Europa als starker Partner und Impulsgeber zu verorten. Dabei wird unter dem Stichwort „Ertüchtigung“ (WB S. 52) das fortgeführt, was bereits mit der »Merkel-Doktrin« begonnen wurde, nämlich »Partner« zu befähigen, »ihre« Probleme selbst zu lösen, indem man ihnen bei Konzeption, Aufbau und Ausstattung effektiver Sicherheits- und Repressionsapparate hilft. »Ertüchtigung« sollte dabei trotz aller positiven Beteuerungen als das kleinlaute Eingeständnis der Beschränktheit eigener Einflussmöglichkeiten gewertet werden. Die Bundesregierung betreibt hier die »Entgrenzung«, die sie anderen gern vorwirft: Die Hilfe beschränkt sich längst nicht mehr nur auf Staaten; auch nicht-staatliche Akteure können auf finanzielle, waffentechnische oder Ausbildungshilfe hoffen. Das Spektrum der »Ertüchtigung« umfasst aber auch zivile Maßnahmen: Es wirken alle möglichen Instrumente aus dem Baukasten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zusammen.

Als „Rahmennation“ innerhalb der NATO möchte die Ministerin überdies den deutschen Gestaltungsanspruch ausdehnen und anderen (kleineren) Staaten ermöglichen, sich „zum Nutzen aller“ einzubringen (WB S. 68). Deutschland übernimmt hier nur allzu gern die Führung und verbindet gleich den Wunsch damit, die anderen Staaten mögen doch (bitteschön) ihre Aufrüstungswünsche mit dem Berliner Ministerium absprechen. Dass dabei gleich auch noch der europäische Gedanke untermauert und der europäische Pfeiler innerhalb der NATO aufgewertet wird, ist ein positiver Nebeneffekt. Ein anderer ist dann wie zufällig, dass dies auch einer der Bausteine ist, mit denen man die europäische Rüstungsindustrie effizienter weiterentwickeln möchte … unter deutscher Führung.

Dazu passend analysiert die Regierung, dass es immer öfter zu Ad-hoc-Kooperationen kommen wird, an denen sich Deutschland beteiligt, um seinen Gestaltungsspielraum zu wahren (WB S. 81). Auf dem politischen Parkett ist dies ohnehin schon der Fall, und im militärischen Bereich wird es immer häufiger dazu kommen. Im Zusammenhang mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetze ist dies ein durchaus strittiger Punkt, bei dem das Ministerium letztlich argumentiert, die Vorgabe, Auslandseinsätze müssten durch den Bundestag mandatiert werden, stehe im Widerspruch zur »gestiegenen Verantwortung« Deutschlands und sei zu überprüfen.

Mehr … von allem

Mehr Personal – mehr Waffen – mehr Geld!

Der zweite Teil des Weißbuches entwickelt aus der Analyse des ersten Teiles unmittelbare und weitreichende Folgerungen für die Bundeswehr, unterlässt es aber, konkret zu werden. Das langfristige Ziel, den Verteidigungshaushalt auf die von der NATO angeregten zwei Prozent anzuheben, wird im Weißbuch bestätigt. Allerdings wird verschwiegen, dass dies die Anhebung des Etats von derzeit knapp 32,4 Mrd. Euro auf fast 50 Mrd. Euro bedeutet. Schon in den vergangenen Jahren wurde das Budget des Ministeriums massiv erhöht, und so bestand die begründete Erwartung, das Weißbuch würde die Prioritäten in der Budgetaufteilung erläutern. Diese Erwartung wurde enttäuscht: Was mit dem zusätzlichen Geld passieren soll, überlässt das Weißbuch der Interpretation der Leser*innen.

Umgekehrt gibt es aber einige interessante Bemerkungen, die konsequent aus dem »vernetzten Ansatz« heraus entwickelt wurden und einen Hinweis auf zukünftiges Vorgehen geben. So ist die an verschiedenen Stellen angesprochene »Durchlässigkeit« Richtung Wirtschaft wohl als ein Versuch zu werten, nicht nur an die bereits bekannten (und zum Teil erfolglosen) Betreiberlösungen zu denken, sondern sich verstärkt der zeitweisen oder auch projekt- und einsatzbezogenen Integration von Personal aus der Wirtschaft zuzuwenden. Dies würde sowohl die Hierarchien und Besoldungsstrukturen verändern als auch neue Prozessabläufe erfordern. Vorbild hierfür könnte das durch Beratungsunternehmen verstärkte Beschaffungswesen sein, das man als modernes Rüstungsmanagement lobt und als Vorbereitung für eine flexible, zukunftsfähige Lösung ausbauen möchte. Ob die teure Beteiligung von Wirtschaftsberatern allerdings mehr als nur die Produktion von Risikobewertungen (Transparenzkultur“, WB S. 132) bringt, ist bisher nicht bewiesen. Eine Öffnung der Bundeswehr in die Privatwirtschaft wäre aber auch in dem Feld denkbar, in dem es der Bundeswehr besonders schwer fällt, adäquates Personal zu rekrutieren: dem IT-Bereich.

Ein anderer spannender Punkt ist die Sicherstellung der von der Regierung als notwendige Basis begriffenen wehrindustriellen Kompetenzen. Hier will man nicht nur weiterhin der Industrie mit Aufträgen und Hilfestellungen beim Export beiseite stehen, sondern man sieht sich auch in der Pflicht, die technologischen Grundlagen stärker abzusichern. Die bisher schon erbrachte Forschungs- und Entwicklungsleistung sollte fortgeführt, aber – unter dem Eindruck der Veränderungen in der Forschungsorganisation und im Forschungsablauf allgemein – auch angepasst werden. Dies bedeutet einerseits, dass man an den Forschungs- und Entwicklungsleistungen anderer schneller partizipieren will, als dies in den bisherigen Strukturen möglich ist, wo die Bundeswehr erst spät als potentieller Nutzer mit der Technologie in Berührung kommt. Andererseits möchte man selbst als Motor hinter solchen Entwicklungen stehen, indem z.B. Startups gefördert werden oder man, z.B. über eine Agentur, gezielt Forschungsimpulse setzt.

Hier versucht das Ministerium also genau in die Lücke vorzudringen, die die kaum noch adäquate Forschungs- und Hochschulfinanzierung geschaffen hat – wer Schlimmes befürchtet, mag sich an die DARPA5 erinnert fühlen, die in den USA inzwischen als einer der wichtigsten Forschungsfinanziers auftritt. Flankiert wird dies von der Ankündigung, man wolle „gemeinsam mit dem Parlament eine Debatte über eine neue Risikomanagementkultur führen, die mit anspruchsvolleren Entwicklungen einhergeht“ (WB S. 132). Es bewahrheitet sich in gewisser Weise das, was von Kritiker*innen schon seit Längerem befürchtet wurde: Die Militarisierung der Forschungs- und Hochschullandschaft setzt sich fort, und notorisch unterfinanzierte Forscher*innen bekommen Gelegenheit, patriotisch zu handeln – mit Geld, das für eine tatsächliche und ernst gemeinte forschungsbasierte Risiko- und Krisenvorsorge dann aber fehlen wird.

Fazit

Das Weißbuch 2016 löst den zehn Jahre alten Vorgänger ab und passt die Inhalte der Zeit an. Es vollzieht die Salamitaktik des letzten Jahrzehnts nach und tut so, als ob das alles so sein müsste: Ausweitung der Auslandseinsätze, Bundeswehr in mehr und mehr Lebensbereichen, fortgesetzte Verschwendung für überteuerte Rüstung – alles folgerichtig und mit dem globalen Geltungsanspruch Deutschlands vereinbar. Die im Weißbuch vorgelegten Analysen zur Weltlage und zur Sicherheitslage in Deutschland ignorieren die Ursachen der Konflikte und ihre Triebkräfte. Bereits im Vorfeld des Erscheinungstermins und im Zuge der Debatte gab es Kritik an der Grundidee eines Weißbuches: Es sei ein überholtes Format bzw. schädlich für eine offene Debatte.6 Den Vorwurf, im Weißbuch könnten schon allein deshalb keine positiven, zukunftsfähigen Sicherheitskonzepte entwickelt werden, weil der Fokus der Autor*innen (des Verteidigungsministeriums) zu eng auf militärischen und gewaltbasierten Lösungsmechanismen liege, konterte das Ministerium mit dem Begriff der »menschlichen Sicherheit«.

Leider haben sich die Befürchtungen der Kritiker*innen in großen Teilen bewahrheitet. Die im Weißbuch präsentierten Lösungen zur »Sicherung« des Wohlstandes in Deutschland und Europa setzen auf eine fortschreitende Militarisierung der Gesellschaft und den massiven Ausbau der Streitkräfte. Wer immer noch glaubt, mit militärischer Technik sei ein friedliches Leben zu sichern, stürzt sich und andere direkt in den nächsten Konflikt. Das Anhäufen von Arsenalen und modernste Kriegstechnologie werden die Ursachen der Konflikte, die zu den »Bedrohungen« führen, nicht beseitigen – sie sind heute nicht einmal mehr geeignet, sie auf Abstand zu halten. »Lösungen« sind nur in einer konsequent zivil gedachten Konfliktbearbeitung zu finden.

Anmerkungen

1) Bundesministerium der Verteidigung: Ursula von der Leyen stellt das neue Weißbuch vor. 13.7.2016. Eine digitale Fassung des »Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« steht unter bmvg.de online; alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

2) Es wurde eine Webseite eingerichtet, auf der die »Bürger« ihre Meinung platzieren konnten (von denen bis heute nur ein Teil öffentlich ist), und es wurden Workshops durchgeführt, auf denen »Experten« ihre Expertise einbringen durften. Dokumentiert ist dies unter anderem in einer »Begleitbroschüre« zum Weißbuch: »Wege zum Weißbuch«.

3) Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln – Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Brüssel, 28.6.2016; verbreitet vom Generalsekretariat des Rates der Europäischen Union.

4) North Atlantic Treaty Organization: Warsaw Summit Communiqué, Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Warsaw 8-9 July 2016. Press Release (2016) 100.

5) DARPA = Defense Advanced Research Projects Agency; Forschungsagentur des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten, die mit einem jährlichen Budget von ca. drei Mrd. US$ dafür sorgt, dass die militärrelevanten Forschungsfragen auch ihren Weg in die zivilen Hochschulen finden. Im Umfang ist sie damit der Deutschen Forschungsgemeinschaft vergleichbar, die für Forschungsprojekte in Deutschland jährlich insgesamt ca. 2,8 Mrd. Euro verausgabt.

6) Z.B. die am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) angesiedelte Kommission »Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« in ihrem Positionspapier zum Weißbuch (ifsh.de).

Dr. Andreas Seifert ist langjähriges Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. und vertritt die IMI im Vorstand von W&F. Er hat zuletzt an der Erstellung des »Schwarzbuch – Kritisches Handbuch zur Aufrüstung und Einsatzorientierung der Bundeswehr« (2016, Rosa-Luxemburg-Stiftung und Fraktion DIE LINKE) mitgewirkt.

Drohnen und Helden

Drohnen und Helden

von Ulrich Bröckling

W&F druckte in der Vergangenheit wiederholt Texte zur Drohnenkriegführung. Der Autor dieses Artikels interessiert sich besonders für die vermeintliche Ferne, in der mit Raketen bewaffnete Drohnen zum Einsatz kommen – das Einsatzteam sitzt Tausende Kilometer entfernt in einem Büro in Nevada oder im Pfälzer Wald –, die gleichzeitig mit einer außerordentlichen Nähe des Kriegsgeschehens gekoppelt ist, das in Echtzeit und hoher Auflösung auf den Bildschirmen der Operatoren angezeigt wird. Diese Art der Kriegsführung hat Folgen für das Selbstbild der Soldaten.

Am 4. Februar 2002 feuerte eine Drohne vom Typ Predator eine Hellfire-Rakete auf drei Männer in der Nähe der afghanischen Stadt Khost und tötete sie. Man vermutete, die CIA habe einen der drei wegen seiner Körpergröße und seiner grauen Haare für Osama bin Laden gehalten. Ein offensichtlicher Irrtum, wie sich bald herausstellte. Ein Pentagon-Sprecher erklärte im Nachhinein, „[w]ir sind davon überzeugt. es war ein angemessenes Ziel“, musste jedoch einräumen, „[w]ir wissen noch nicht genau, wer es war“.1 Journalisten berichteten später, bei den Getöteten habe es sich um Zivilisten gehandelt, die auf dem Gelände eines verlassenen Mudjaheddin-Camps nach Altmetall suchten.

Bei dieser Tötungsaktion handelte sich um die erste bekannt gewordene Operation einer bewaffneten Drohne. Zu Aufklärungszwecken waren die Predators schon seit 1994 eingesetzt worden, mit einem Waffensystem hatte man sie allerdings erst kurz zuvor ausgerüstet. In der Testphase hatten Experten befürchtet, der rückwärtige Feuerstrahl der Raketen könne die Leichtfluggeräte zerstören. Das geschah nicht, und damit begann der rasante Aufstieg der »Remotely Piloted Aircrafts« oder «Unmanned Combat Air Vehicles« (UCAV), so die offizielle Bezeichnung.

Die Bush-Regierung setzte in der Folge bewaffnete Drohnen in Afghanistan und Pakistan zunächst zur Tötung so genannter »high-value targets« ein, die Angriffe richteten sich gegen bekannte Talibanführer oder Mitglieder von al Kaida. Unter Obama wurde das Programm massiv ausgebaut, allein während seiner ersten Amtszeit zählte man fünfmal so viele Angriffe wie in den acht Jahren der Bush-Präsidentschaft. Inzwischen machen Drohnen ein Drittel der US-amerikanischen Kriegsluftflotte aus.2

Die US-Regierung betreibt zwei Drohnenprogramme: ein militärisches, das feindliche Kräfte in den Kriegsgebieten in Afghanistan und dem Irak bekämpft, und ein geheimes unter Verantwortung der CIA, das sich gegen Terrorverdächtige in der gesamten Welt richtet und auch in Gebieten operiert, in denen keine US-Truppen stationiert sind.3 Dokumentiert sind verdeckte Drohnenangriffe vor allem im Jemen, in Somalia und Syrien. Die Obama-Regierung weitete indes nicht nur die Einsatzgebiete aus, sondern sie erhöhte auch die Anzahl der Ziele.

Neben der Tötung namentlich bekannter Terrorverdächtiger, die auf einer vom Präsidenten unterzeichneten Todesliste aufgeführt sind, setzt sie auf »signature strikes«. Diese richten sich gegen „Gruppen von Männern, die bestimmte Signaturen tragen oder bestimmte Merkmale, die mit terroristischen Aktivitäten verbunden sind“.4 Die Identität der Zielpersonen ist zunächst noch unbekannt, »signiert« werden sie aufgrund ihres Verhaltens. Anhand einer Lebensmusteranalyse (pattern of life analysis) werden persönliche Profile angelegt, die sich aus den von den Überwachungskameras der Drohnen gesammelten Bewegungsmustern speisen, aber auch aus anderen Daten, beispielsweise aus der Auswertung von Mobilfunkverbindungen. In der Summe ergibt das Profiling ein Gesamtbild der zeitlichen, räumlichen und sozialen Verhaltensparameter eines Menschen.

Auf diese Weise wird das Töten sukzessive automatisiert; Algorithmen entscheiden, wer sterben muss.5 Welche Merkmale die Zielpersonen im Einzelnen als Verdächtige ausweisen, das bleibt geheim. Zivile Opfer werden kurzerhand wegdefiniert: Nachdem John Brennan, Obamas Berater in Sachen Terrorbekämpfung, 2011 stolz verkündet hatte, die Technik sei inzwischen so weit fortgeschritten, dass es im Jahr zuvor so gut wie keinen kollateralen Todesfall gegeben habe, deckte die New York Times auf, dass die amtlichen Dokumente alle Männer im wehrfähigen Alter, die sich im Gebiet des Drohneneinsatzes aufhalten, pauschal als Kombattanten einstuften. Korrigiert wurde dies, sofern explizite Hinweise auf die Unschuld der Getöteten auftauchten, allenfalls posthum.6

Recherchen unabhängiger Journalisten belegen demgegenüber einen hohen Anteil getöteter Zivilisten; ihr Anteil bewegt sich zwischen 12 und 35 Prozent. Allein für Pakistan gehen sie – Stand Anfang Mai 2015 – von 423 bis 962 zivilen Drohnenopfern aus, darunter zwischen 172 und 207 getötete Kinder, bei einer Gesamtzahl der Getöteten zwischen 2.449 und 3.949.7 Rechtlich gesehen ist die Politik der gezielten Tötungen höchst umstritten: Selbst Juristen, die solche Aktionen im Rahmen bewaffneter zwischenstaatlicher Konflikte durch das Völkerrecht gedeckt sehen, stufen Drohnenangriffe auf dem Gebiet von Staaten, mit denen man sich nicht im Kriegszustand befindet, als völkerrechtswidrig ein.

Die »präemptive« Tötung Verdächtiger ohne Anklage und Gerichtsurteil, die mit dem zynischen Euphemismus eines Kollateralschadens belegten Opfer unter der Zivilbevölkerung, die Traumatisierung der gesamten Bevölkerung in den betroffenen Regionen, die täglich 24 Stunden die Drohnen über sich kreisen hören und sehen und die jederzeit fürchten müssen, ohne Vorwarnung unter Raketenbeschuss zu geraten, all das gerät zum Skandal.

Geführt wird der Drohnenkrieg von US-amerikanischer Seite derzeit vor allem mit dem MQ-9 Reaper, einer Weiterentwicklung der Predator-Drohne, die für »hunt and kill«-Operationen ausgelegt ist. Mit einer Länge von elf und einer Flügelspannweite von zwanzig Metern kann diese Drohne bis zu dreißig Stunden in der Luft bleiben; sie fliegt in einer Höhe von bis zu 15.000 Metern und deckt dabei einen Einsatzradius von mehr als 3.000 Kilometern ab. Bestückt ist sie zum einen mit Hellfire Luft-Boden-Raketen und lasergesteuerten Präzisionsbomben, zum anderen mit dem Aufklärungssystem Gorgon Stare, das zahlreiche Infrarot- und Videokameras sowie Richtlaser kombiniert, bis zu 65 Streaming-Bilder gleichzeitig an unterschiedliche Adressaten sendet und es ermöglicht, eine Fläche von vier mal vier Kilometern in hoher Bildauflösung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu überwachen. Aus einer Flughöhe von 3,2 Kilometern lassen sich damit Nummernschilder entziffern. Das noch in der Planung befindliche Nachfolgesystem heißt Argus IS.

Neben einem Bodenteam, das für Start und Landung der Drohne zuständig ist, sind drei Personen für ihren Einsatz erforderlich. Diese Crew besteht aus einem Piloten, der das System fernsteuert, einem »Sensor Operator«, der die verschiedenen Kameras, Radargeräte und Sensoren bedient, und einem »Mission Intelligence Coordinator«, der die Kommunikation mit Analysten, Datenbanken und anderen Crews übernimmt.8 Während das Bodenteam auf einem Flughafen in regionaler Nähe zum Einsatzgebiet stationiert ist, sitzen die Operatoren im Schichtdienst auf einer Tausende von Kilometern entfernten Militärbasis in Nevada oder im Pfälzerwald vor ihren Bildschirmen. Die Daten werden ihnen in Echtzeit per Satellit übermittelt.

Die räumliche Distanz geht allerdings einher mit einer virtuellen Nähe: Mit dem ferngesteuerten Super-Zoom verfolgen die Drohnen-Operatoren ihre Zielpersonen über Tage, Wochen, manchmal Monate, rund um die Uhr. Sie registrieren, wann diese das Haus verlassen, wohin sie gehen, mit wem sie sich treffen. So entsteht eine einseitige, aber geradezu intime soziale Beziehung. Und wenn sie die Hellfires abgefeuert haben, sehen sie aus ebenso großer Nähe, was diese anrichten: Tod und Zerstörung in einem Umkreis von mindestens fünfzehn Metern. Anders als Bomberpiloten, die nach einem Abwurf weiterfliegen und den Schrecken, den sie bringen, niemals zu Gesicht bekommen, bleibt das elektronische Auge nach dem Treffer weiterhin auf den Punkt gerichtet, an dem die Opfer vernichtet wurden.

Es ist diese Virtualität des Tele-Kriegs, es ist der geografische Abstand zwischen waffenbewehrtem Flugobjekt und Bedienungspersonal und damit verbunden die Diskrepanz zwischen der tödlichen Gewalt, denen die Opfer der Drohnenangriffe ausgesetzt sind, und der Sicherheit der Crews in ihren »Operation Rooms«, welche diese Form der Kriegführung anstößig erscheinen lässt. Kritik kommt nicht zuletzt von militärischer Seite: Der Drohnenkrieg sei ein „»tugendloser Krieg«,der weder Mut noch Heldentum erfordert“, zitiert ein Artikel im »New Yorker« den vormaligen British Air Chief Marshall Sir Brian Burridge.9 Ein 19-jähriger Drohnenpilot berichtet von seinem ersten Angriff, bei dem er Fahrer und Beifahrer eines mit einem Maschinengewehr bestückten Pickups tötete, die eine Patrouille amerikanischer Bodentruppen in Südafghanistan beschossen: „Du fühlst Dich schlecht. Du fühlst Dich nicht ebenbürtig. Ich sitze hier heil und unversehrt, und diese Kerls da unten sind mitten drin, und ich kann mehr Wirkung haben als sie das können. Es ist fast, also, mir komme mir nicht so vor, dass ich es verdiene, wohlbehalten zu sein.“ 10

Die Strategie des gezielten Tötens widerspricht dem soldatischen Ethos mit seiner Idee eines »gerechten Kampfs«. Das Verdikt der Feigheit impliziert auch eine sexuelle Depotenzierung. So hat die offizielle Bezeichnung für die ferngesteuerten Waffensysteme – Unmanned Combat Air Vehicles – einen die Männlichkeit anzweifelnden Doppelsinn: »Unmanned« bedeutet im Englischen nicht nur unbemannt, sondern auch entmannt.11

Militärische Disziplinierung, die Fabrikation gehorsamer Soldaten, muss beides wecken, die Bereitschaft zu töten und die zu sterben, und zu diesem Zwecke werden diejenigen, die zum einen wie zum anderen willens und in der Lage sind, zu Vorbildern erhoben und als Helden verehrt. Das Ethos des fairen Kampfes liefert dafür das normative Gerüst: Die Gefahr, selbst getötet zu werden, suspendiert das allgemeine Tötungsverbot. Nur weil der Gegner mir ans Leben will und kann, so das militärische Ethos, darf und muss ich ihm das seine nehmen. Mit der kriegerischen Wirklichkeit hatten die Beschwörungen militärischen Heldentums indes niemals viel zu tun. Das Letzte, was sich Soldaten auf dem Schlachtfeld wünschen, ist ein fairer Kampf.12 Sie wollen überleben, keine Verletzungen davon tragen, nicht in Gefangenschaft geraten, vielleicht Beute machen, sich rächen, ihre Gegner außer Gefecht setzen oder einfach nur töten, und sie werden deshalb alles tun, um auf jeden Fall zu den Stärkeren gehören. Die Geschichte militärischer Rüstung lässt sich als ein einziger Versuch lesen, die Symmetrie der Konfrontation durch technische Überlegenheit zu asymmetrisieren, was durch immer neue Resymmetrisierungsversuche konterkariert wird, die wiederum neue Asymmetrisierungsanstrengungen in Gang setzen und so weiter.13

Die Drohnenkriegführung treibt die Asymmetrie von Kampf und technischer Effizienz so weit ins Extrem, dass die eine Seite ganz verschwindet. Die Spielregeln wandeln sich radikal: „Das Paradigma ist nicht jenes von zwei Kämpfern, die einander gegenüberstehen, sondern ein anderes: ein Jäger, der seinen Vorstoß macht, und eine Beute, die flieht oder sich versteckt.“ 14 Der Krieg wird zur präventiven Menschenjagd: „Es geht weniger darum, spezifische Angriffe zu erwidern, als vielmehr die Entstehung neuer Bedrohungen durch die frühzeitige Ausschaltung ihrer potenziellen Agenten zu verhindern.“ 15 Drohnen machen keine Gefangenen, und sie erlauben keine Kapitulation.

Das Besondere der »Drohnisierung« des Krieges liegt nicht in der imperialen Machtüberlegenheit, sondern im offiziellen Übergang „von einer Ethik der Aufopferung und Tapferkeit zu einer Ethik der Selbsterhaltung und mehr oder weniger akzeptierten Feigheit“.16 Für die westliche Militärpolitik wird der Schutz des Lebens der eigenen Soldaten zum absoluten Imperativ. Schon eine begrenzte Anzahl von Gefallenen – gemeint sind selbstverständlich nur Tote auf der eigenen Seite – würde die öffentliche Zustimmung zu einem Kriegseinsatz gefährden, so die militärische Begründung für die Umwertung militärischer Werte. Smarte Technologie soll deshalb übernehmen, wofür bisher Kampfeswille und Opferbereitschaft mobilisiert werden mussten.

In der Geschichte des Krieges führten neue und besonders wirkmächtige Waffen häufig auch zur Heroisierung derjenigen, die sie trugen oder lenkten – man denke nur an die Fliegerhelden des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Für die Drohnenpiloten trifft das Gegenteil zu: Sie sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, unverbesserliche »Nerds« zu sein, die ihrer puerilen Leidenschaft für Computerspiele nachgehen und vom sicheren Sessel aus die Raketen schon deshalb ohne Skrupel abfeuern, da sie zwischen virtueller und realer Welt kaum mehr zu unterscheiden wüssten. Der »Gamifizierung« des Krieges entspreche eine Playstation-Mentalität der »chair-borne rangers«, die ihre prospektiven Opfer nur als bewegte Bilder auf den Monitoren sähen. Die US Air Force klagt über ein »drone stigma«, dem die Crews ausgesetzt seien, und hat Mühe ausreichend qualifiziertes Personal zu finden: „Die meisten Piloten haben keinen Spaß daran, von einer Kiste aus zu fliegen.“ 17

Die militärischen Instanzen betonen inzwischen die besonderen psychischen Belastungen, denen die Drohnen-Operatoren ausgesetzt sein sollen. Die permanente Sorge, versehentlich Unschuldige zu treffen, sowie das emotionale Wechselbad, in der Nachtschicht per Fernsteuerung verdächtige Terrorkämpfer zu töten und am nächsten Morgen die Kinder zur Schule zu bringen, stellen demnach außergewöhnliche Stressoren dar und erhöhen das Burnout-Risiko.

Bedeutet Postheroismus also die Delegation heldenhafter Tugenden an Maschinen, die möglicherweise bald auch auf die menschliche Fernsteuerung verzichten werden? Phantasmen einer Kriegführung ohne tötende Gewalt gleichermaßen als technisches Substitut wie als geradezu hegelianische Aufhebung militärischen Heldentums. Der „prometheischen Scham“, dem unhintergehbaren Inferioritätsgefühl der Menschen angesichts der Überlegenheit der von ihnen geschaffenen technischen Werkzeuge, das der Philosoph Günther Anders den Menschen des Atomzeitalters attestierte,18 korrespondiert die ehrfürchtige Bewunderung ebendieser Werkzeuge.

Helden erzeugen die Drohnen allerdings auf ganze andere Weise: Das ferngesteuerte »targeted killing« führt dem globalisierten Dschihadismus fortlaufend neue Kämpfer zu. Sie setzen der Risikoaversion westlicher Kriegführung die Unbedingtheit ihres Todeswillens entgegen und finden dafür begeisterte Anhänger. Der »suicide bomber« ist die feindliche Komplementärfigur des Drohnenpiloten: „Auf der einen Seite das vollkommene Engagement, auf der anderen die absolute Distanzierung.“ Während im Selbstmordattentat „der Körper des Kämpfers vollständig mit seiner Waffe verschmilzt, garantiert die Drohne die radikale Trennung der beiden“.19 Der postheroische Traum einer sauberen Kriegführung gebiert heroische Ungeheuer.

Die Diagnose des postheroischen Zeitalters bedeutet daher keinesfalls ein Ende heroischer Anrufungen. Solange politische oder religiöse Mächte auf die Bereitschaft zum Selbstopfer angewiesen sind und sie schüren, wird man Helden suchen und finden. Der Streit darüber, ob militärischer Heroismus antiquiert ist und wir in der Ära des Postheroismus angekommen sind, führt deshalb nicht weiter. Schon die Frage ist falsch gestellt. In Abwandlung des bekannten Buchtitels von Bruno Latour20 müsste man stattdessen konstatieren: Wir sind nie heroisch gewesen. Wir sollten es immer nur sein. Und viel zu oft wollten wir es auch.

Anmerkungen

1) John Sifton: A Brief History of Drones. The Nation, 27.2.2012.

2) Asawin Suebsaeng: Drones – Everything You Ever Wanted to Know But Were Always Afraid to Ask- Mother Jones, 5.3.2013.

3) Jane Mayer: The Predator War – What are the risks of the C.I.A.’s covert drone program? The New Yorker, 26.10.2009.

4) Daniel Klaidman (2012): Kill or Capture – The War on Terror and the Soul of the Obama Presidency. New York: Houghton Mifflin, S.41.

5) Vgl. Nils Markwardt: Drohnenkrieg – Überwachen und vernichten. DIE ZEIT, 27.10.2014.

6) Jo Becker and Scott Shane: Secret »Kill List« Proves a Test of Obama’s Principles and Will. New York Times, 29.5.2012.

7) Das Bureau of Investigative Journalism in London dokumentiert die Zahl der Toten und Verletzten seit 2004. thebureauinvestigates.com/category/projects/drones/drones-graphs/; Stand 2. Mai 2015.

8) Peter M. Asaro: The labor of surveillance and bureaucratized killing – new subjectivities of military drone operators. Social Semiotics. 23.2.2013, S.196-224.

9) Jane Mayer, op.cit.

10) Mark Bowden: The Killing Machines – How to Think About Drones. The Atlantic, Sept. 2013.

11) Vgl. Grégoire Chamayou (2014): Ferngesteuerte Gewalt – Eine Theorie der Drohne. Wien: Passagen Verlag, S.110. Die folgenden Ausführungen verdanken Chamayous Buch zahlreiche Anregungen.

12) Mark Bowden, op.cit..

13) Vgl. Herfried Münkler (2006): Der Wandel des Krieges – Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Weilerswist: Velbrück.

14) Grégoir Chamayou, op.cit, S.44.

15) Ebenda, S.46.

16) Ebenda, S.112.

17) Lee Ferran: Drone »Stigma« Means »Less Skilled« Pilots at Controls of Deadly Robots. ABC News, 29.4.2014.

18) Günther Anders (1983): Über prometheische Scham. In: ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: C.H. Beck, S.21-95.

19) Brégoir Chamayou, op.cit., S.95-96.

20) Bruno Latour (1998): Wir sind nie modern gewesen – Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M.: Fischer TB.

Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der Sozial- und Selbsttechnologien, Gouvernementalitätsanalysen und die Soziologie des Krieges und des Militärs.
Dieser Artikel erschien in FifF Kommunikation 4-2015, eine erweiterte Fassungen des Beitrags in: Achim Aurnhammer und Ulrich Bröckling (Hrsg.) (2016): Vom Weihegefäß zur Drohne. Kulturen des Heroischen und ihre Objekte. Würzburg: Ergon Verlag. Übersetzung der englischsprachigen Zitate durch R.H.. W&F dankt für die Nachdruckrechte.