Was kommt nach dem Krieg?

Was kommt nach dem Krieg?

Gaza und der Israel-Palästina-Konflikt

von René Wildangel

Eine Zwischenbilanz der Zerstörungen im Gazastreifen sowie der israelischen Planungen für die Nachkriegsrealität fällt ernüchternd aus. Durch die Intensivierung der regionalen Eskalationsdynamik zwischen Israel und Iran haben sich die Aussichten für eine Entspannung zusätzlich verschlechtert. Noch ist nicht absehbar, ob und wann überhaupt nochmal ein normales ziviles Leben im Gazastreifen möglich sein wird, doch unterschiedliche politische Szenarien werden schon länger diskutiert und teils schon praktisch umgesetzt. Was wäre notwendig, um wenigstens die Grundlagen für einen Wiederaufbau und einen politischen Horizont zu schaffen und was könnte die internationale Gemeinschaft dazu beitragen?

Bei ihrem verheerenden terroristischen Angriff ermordete die Hamas am 7. Oktober 2023 fast 1.200 Menschen im Süden Israels, darunter 695 israelische Zivilist*innen. Ca. 250 Menschen wurden entführt, der Schock im Land war enorm. Die Reaktion der israelischen Regierung kam schnell und war nachvollziehbar: Eine Militäraktion, die zukünftige Angriffe verhindern und die Geiseln befreien sollte.

Doch schon in den ersten Tagen deuteten Aussagen aus Israels rechtsgerichteter Koalition an, dass die militärische Reaktion weit darüber hinausgehen könnte. Verteidigungsminister Gallant verkündete eine Totalblockade des Gazastreifens, da man gegen „menschliche Tiere“ kämpfe. Premierminister Netanjahu sprach von der „Vernichtung“ der Hamas, andere Politiker machten die gesamte Zivilbevölkerung im Gazastreifen für die Verbrechen der Hamas mitverantwortlich (Bartov 2023). Und weitere rechtsgerichtete Politiker brachten immer radikalere Ideen vor über die Wiederbesiedlung und die dauerhafte Besatzung des Gazastreifens oder die vollständige Zerstörung bis hin zum Abwurf einer Atombombe.

Abgesehen von einer verhandelten Feuerpause Ende November 2023, in der 50 israelische Geiseln und 150 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freikamen, wurde pausenlos bombardiert. Die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen führten zu einer Zerstörung nie dagewesenen Ausmaßes.

Das betraf von Anfang an einen Großteil der zivilen Gebäude und Infrastruktur, darunter Wohngebäude, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Wirtschaftsbetriebe und Agrarflächen. Ein Großteil der Bevölkerung wurde bereits in den ersten Kriegswochen von der israelischen Armee aufgefordert, in Richtung Süden zu fliehen, so dass sich bald ein Großteil der 2,3 Millionen Einwohner*innen des Gazastreifens in Rafah und Umgebung drängte. Einige von ihnen konnten Anfang April 2024 in die nahegelegene südliche Stadt Khan Younis zurückkehren, die allerdings zu großen Teilen zerstört wurde. Die Rückkehr in den Norden wird von Israel verweigert und ist aufgrund der Schaffung regelrechter »Todeszonen« durch israelische Scharfschützen lebensgefährlich (Kubovich 2024).

Zwar gelangen Hilfsgüter im Gegensatz zu der Ankündigung von Gallant am 9. Oktober mittlerweile in den Gazastreifen, allerdings in viel zu geringem Ausmaß. Israel behindert systematisch die humanitäre Hilfe, was spätestens seit März 2024 zu einer äußerst prekären Lage führte. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen (VN) herrscht in Gaza die schlimmste Hungerkrise, seit dies weltweit gemessen wird. Hunderttausende Menschen in Gaza sind akut von einer Hungersnot und damit dem Hungertod bedroht (Vereinte Nationen 2024).

Monatelang mahnten Israels Verbündete zwar die Beachtung des humanitären Völkerrechts an, darunter die USA und die meisten EU-Staaten. Sie unternahmen aber keine konkreten Schritte, um Israel zu einer Beendigung des Militäreinsatzes oder zu einer weiteren Feuerpause zu bewegen. Auch nicht, nachdem sich die israelische Regierung weigerte, die am 25. März beschlossene Waffenstillstandsresolution im Sicherheitsrat umzusetzen, bei der erstmals die USA auf die Anwendung ihres Vetos verzichteten. Infolge des groß angelegten Angriffs des Irans auf Israel mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern vom 13. April, der als »Vergeltung« für den israelischen Angriff auf das iranische Konsulargebäude in Damaskus angekündigt wurde, ließ der internationale Druck auf die israelische Regierung zusätzlich nach.

Die Bilanz von sechs Monaten Krieg in Gaza ist verheerend: Die Eskalationsgefahr in der gesamten Region bleibt hoch. Die Geiseln konnten nicht befreit werden, viele von ihnen starben wahrscheinlich bei israelischen Angriffen. Die militärischen Fähigkeiten der Hamas konnten nicht ausgeschaltet werden. Beobachter*innen hatten bereits zu Beginn des Einsatzes darauf hingewiesen, dass die „Vernichtung“ der Hamas schon deshalb unrealistisch sei, weil sie als politische und soziale Bewegung tief verwurzelt in der Gesellschaft ist, sowie über zahlreiche Anhänger und Strukturen außerhalb Gazas verfügt. Knapp 34.000 Tote1, über 75.000 Verletzte, aber auch Hunderttausende von schwerwiegenden langfristigen Gesundheitsschäden bedrohte Menschen in Gaza hinterlassen eine tief verwundete Gesellschaft, die bereits durch 17 Jahre Isolation und Blockade traumatisiert und geschwächt war.

Angesichts der hohen zivilen Opferzahlen, gezielten Vertreibungen und Entziehung der Lebensgrundlagen wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eine von Südafrika vorgebrachte Genozid-Klage verhandelt. Im Januar erließ das Gericht vorläufige Maßnahmen, die Israel unter anderem aufforderten, jegliche Verstöße im Rahmen der Genozid-Konvention zu verhindern, die humanitäre Versorgung sicherzustellen und genozidale Hetze zu bestrafen (IGH 2024).

Wichtigste Akteure und grund­legende Zukunftsszenarien

Der wichtigste Akteur mit Blick auf Gaza ist zweifelsohne auch weiterhin der israelische Staat, der seit 1967 die Verhältnisse dort maßgeblich bestimmt. Das galt aufgrund der Kontrolle aller Grenzen sowie des Luft- und Seewegs auch nach dem israelischen Rückzug von 2005. Und Ende Februar 2024 machte Premierminister Netanjahu deutlich, dass das auch in Zukunft so bleiben soll: Demnach will Israel die langfristige Kontrolle in Sicherheitsfragen übernehmen und sich auf unbestimmte Zeit vorbehalten, militärisch zu intervenieren (Ravid 2024).

Dem entspricht die Realität, die zuletzt bereits vor Ort etabliert wurde: Die israelische Armee hat eine 1km breite Sperrzone entlang der gesamten israelischen Grenze zu Gaza eingerichtet, die weit über die vor dem 7. Oktober bestehende »Todeszone« hinausgeht. Das entspricht mit 16 % einem großen Anteil der Landfläche des kleinen Küstenstreifens, der das zukünftige Leben von über zwei Millionen Menschen weiter einengt. Zudem hat die Armee Recherchen der Tageszeitung Haaretz zufolge einen zentral gelegenen West-Ost Korridor (»Netzarim-Korridor« nach einer früher dort gelegenen israelischen Siedlung) eingerichtet, der wohl auch dauerhaft der israelischen Armee Zutritt verschaffen, eine unmittelbare Überwachung ermöglichen soll und den Gazastreifen effektiv in zwei Teile teilt (Michaeli et al. 2024). Bereits jetzt kontrolliert Israel alle Grenzübergänge nach Gaza und verzögert immer wieder die Einfuhr von Produkten. Wegen „Sicherheitsbedenken“ wird nach Recherchen von CNN aber auch willkürlich die Einfuhr von Produkten wie Schlafsäcken, Nagelklippern oder Krücken zurückgehalten, ein Hauptgrund für die langsame und unzureichende Einfuhr von Hilfsgütern (Qiblawi et al. 2024).

Dieses derzeit offensichtlich von Israel bereits vorangetriebene und favorisierte Szenario – dauerhafte Besatzung und Kontrolle sowie eine anhaltende Blockade – wäre ein Desaster, denn Wiederaufbau und Erholung wären unter diesen Bedingungen nicht möglich. Zudem widerspräche es diametral den Vorstellungen der internationalen Gemeinschaft: Von Anfang an wurde hier eine Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) debattiert.

Die PA, 1993 im Rahmen der Oslo-Verträge als Nukleus eines palästinensischen Staates geschaffen, hat den Großteil ihres Ansehens längst eingebüßt. Ihre Schwäche zeigte sich auch in der Reaktion auf den 7. Oktober: Den Angriff der populäreren Hamas, die im Gegensatz zur institutionell verkrusteten, mit Israel kooperierenden PA für sich in Anspruch nimmt, den »Widerstand« gegen die israelische Besatzung anzuführen, wollte die PA nicht verurteilen. Die Debatte über eine mögliche Übernahme der politischen Verantwortung durch die PA in Gaza fand weitgehend ohne ihre Repräsentanten in der Westbank statt. Auch die im März 2024 neu gebildete palästinensische Regierung unter Premierminister Mohammed Mustafa ist wenig inklusiv und ohne Neuwahlen fehlt ihr die notwendige Legitimität.

Wenig deutet derzeit auch auf die Stationierung einer internationalen Militär- oder Beobachterpräsenz hin, die ebenfalls als Übergangsszenario ins Spiel gebracht wurde. Zwar hat sich die israelische Regierung in Gesprächen mit den USA für die Stationierung von Truppen aus „freundlich gesinnten“ arabischen Staaten ausgesprochen. Allerdings hätte die Entsendung von Soldaten in einen von den USA und Israel diktierten Übergangsprozess eine andere Qualität als die viel beachtete arabische Beteiligung an Abschüssen der gegen Israel gerichteten iranischen Drohnen und Raketen – sie könnten dann als Handlanger einer israelischen Besatzung des Gazastreifens wahrgenommen werden. Zudem hat die Hamas bereits angekündigt, dass sie solche Truppen als „feindselig“ ansehen würde (Bar’el 2024). Wenn die Hamas aber nicht „vernichtet“ werden kann, bleibt ein Dilemma, dem sich die internationale Gemeinschaft irgendwann stellen muss: Die zukünftigen Verhältnisse im Gazastreifen können dann nicht ohne ein wie auch immer geartetes Übereinkommen mit den Islamisten gestaltet werden, bevor die PA die Macht übernimmt.

Es sind vor allem drei arabische Staaten, die aufgrund ihrer langjährigen Verflechtung mit dem Konflikt im Mittelpunkt stehen und eine positive Rolle bei Verhandlungen für die Übergangszeit spielen können:

  • Katar, als langjähriger Unterstützer der Hamas mit gleichzeitig guten Beziehungen zum Westen;
  • Ägypten, unter Präsident Al-Sisi innenpolitisch wieder zur autoritären Diktatur geworden, das mit Sorge auf die eigene Grenze mit dem Gazastreifen blickt;
  • und schließlich Jordanien: das zweite Land, das einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen hat, innenpolitisch allerdings unter Druck steht und sich als Anwalt der palästinensischen Interessen positioniert.

Diese drei Staaten sind für die Zukunft des Gazastreifens zentral und könnten eine führende Rolle in einem regional unterstützten Verhandlungsprozess übernehmen, der auch das Ziel eines palästinensischen Staates wieder in den Blick nimmt.

Denn die USA, die EU, aber auch weitere Länder sehen den 7. Oktober auch als Weckruf, die Suche nach einer Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes nicht weiter zu ignorieren. Das gilt insbesondere auch für die EU, die seit vielen Jahren die Zweistaatenlösung proklamiert, aber die Lage vor Ort auch aufgrund anderer internationaler Krisen und Konflikte über viele Jahre weitgehend ignorierte. Dabei führte sie zwar ihre Unterstützung der palästinensischen Autonomiebehörde und Verwaltung fort, aber ohne das entsprechend politisch zu begleiten.

Der israelische Premierminister hat das Ansinnen, die Schaffung eines palästinensischen Staates wieder auf die Tagesordnung zu setzen, bereits vehement abgelehnt. Das deckt sich aktuell mit der Stimmung nicht nur in der israelischen, sondern auch der palästinensischen Bevölkerung: Die Unterstützung für die Zweistaatenlösung ist dort jeweils auf dem Tiefpunkt.

Friedensperspektiven stärken, aber wie?

Kurzfristig müssen Bundesregierung und EU endlich ihren Teil dazu beitragen, den in den VN beschlossenen Waffenstillstand dauerhaft umzusetzen und – wie in der Sicherheitsrats-Resolution festgeschrieben – die Befreiung der israelischen Geiseln voranzubringen. Ein dauerhafter Waffenstillstand ist auch der beste Weg, um die regionale Eskalationsdynamik einzudämmen. Die monatelang fortgesetzten Angriffe haben zudem nicht nur überproportional Gazas Zivilbevölkerung betroffen, sondern auch die Gesundheit und das Leben der Geiseln aufs Spiel gesetzt. Auch daher protestieren seit Monaten viele Angehörige gegen den Kurs von Premierminister Netanjahu.

Eine Waffenruhe ist auch Voraussetzung für die dringend notwendige, sichere Verteilung von Hilfsgütern im gesamten Gazastreifen. Statt mit ineffektiven Abwürfen von Hilfsgütern aus der Luft zu agieren, müssen Deutschland und die EU politischen Druck ausüben, um Lieferungen über die Landgrenzen zu ermöglichen. Sonst könnten nach Schätzungen von Expert*innen über 100.000 Menschen an den Folgen von Hunger und Krankheiten sterben (Ahituv 2024). Druck wird auch benötigt, um die von Netanjahu angekündigte Rafah-Offensive zu verhindern, die katastrophale Folgen für die Zivilbevölkerung hätte. Solange das Vorgehen der israelischen Armee derart fatale Folgen für die Zivilist*innen in Gaza hat und Vorwürfe von massiven Kriegsverbrechen im Raum stehen, dürfen EU-Staaten – so sieht es der internationale Vertrag über den Waffenhandel vor – keine Waffen mehr für die Fortführung der Kriegsführung in Gaza an Israel liefern.

Nach Kriegsende geht es zunächst um eine tragfähige Lösung für Gaza. Deutschland und die EU sollten sich in Zusammenarbeit mit den USA und den VN dafür einsetzen, dass es keine Rückkehr zum Status quo vor dem 7. Oktober gibt. Denn bei einer neuerlichen Blockade droht ein neuer Kreislauf aus Waffenschmuggel und radikalen Organisationen, denen es im endgültig verelendeten Gazastreifen nicht an neuen Rekrut*innen mangeln wird.

Dabei gibt es ein positiveres Szenario für den Gazastreifen, das mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft umzusetzen wäre: Nämlich eine echte und nachhaltige Öffnung, die den Küstenstreifen wieder mit der Welt verbindet. Nur mit einer Öffnung der Grenzen wird ein Wiederaufbau überhaupt denkbar sein.

Fast alle jungen Menschen (über 50 %, also über eine Million Menschen sind jünger als 18) haben das kleine Küstengebiet noch nie in ihrem Leben verlassen. Die Isolation war bei Besuchen vor Ort seit 2007 mit Händen zu greifen und hat vielfältige negative Auswirkungen. Die Ausreise zur Behandlung schwerwiegender physischer und psychologischer Kriegsfolgen muss ermöglicht werden, da im Gazastreifen kein funktionierendes Gesundheitswesen mehr existiert und die wenigen verbliebenen Krankenhäuser keine verfügbaren Kapazitäten mehr haben.

Deutschland und die EU könnten dazu beitragen und im Rahmen einer verhandelten Übergangslösung die Kontrolle der Grenzen inklusive des Seewegs übernehmen. Die EU war bereits mit der EUBAM-Mission an der Grenze bei Rafah beteiligt und stellt Soldat*innen für die UNIFIL-Mission im Libanon. Auch der Seeweg könnte mit einer effektiven Kontrolle für den Wiederaufbau genutzt werden; dafür gilt es, Gazas Seehafen wieder aufzubauen und Gaza dauerhaft über den Seeweg an die Region des östlichen Mittelmeers anzubinden, und die vor der Küste liegenden Gasreserven für Palästina nutzbar zu machen.

Wenn die Sicherheit von der internationalen Gemeinschaft überwacht wird, darf Israel kein Vetorecht über Importe und Exporte haben. Daran scheiterte bereits der »Gaza Reconstruction Mechanism«, der nach dem Krieg 2014 unter Aufsicht der VN die Einfuhr notwendiger Materialien sichern sollte. Doch der Zugang wurde von Israel beschränkt, so dass international zugesagte Hilfsgelder nicht fließen konnten. Die Herausforderung nach dem aktuellen Krieg wird ungleich größer sein, erste Berechnungen gehen von fast 18,5 Mrd. US$ für den Wiederaufbau aus, was ungefähr dem jährlichen palästinensischen Bruttoinlandsprodukt entspricht (Weltbank 2024).

Schließlich geht es um langfristige Perspektiven für eine Konfliktlösung, auch wenn die Voraussetzungen dafür schlechter denn je erscheinen. Mit der Regierung Netanjahu, die offen für Siedlerinteressen und militärische Besatzung im Gazastreifen steht, wird es kaum einen glaubhaften Verhandlungsprozess, geschweige denn »Friedensprozess«, geben. Allerdings ist der Protest gegen die Regierung jüngst wieder enorm angewachsen und Neuwahlen sind wohl nur eine Frage der Zeit. Eine Neuorientierung in Israel könnte die Chancen für diplomatische Prozesse verbessern. Inwiefern allerdings eine neue Regierung zu Zugeständnissen bereit ist, wird von der konkreten Regierungskoalition abhängen. Denn auch wenn eine Mehrheit der Israelis Netanjahu mittlerweile ablehnt und für das Desaster des 7. Oktober mitverantwortlich macht, wird doch die derzeitige Kriegsführung von einer großen Mehrheit befürwortet. Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist da, dass sich immerhin Oppositionspolitiker*innen wie Yair Lapid für eine Rückkehr der PA ausgesprochen haben.

Deutschland und die EU gehören seit dem Oslo-Prozess zu den wichtigsten Unterstützern der palästinensischen Autonomiebehörde. Die Bundesregierung sollte neben dem Wiederaufbau in Gaza auch wieder konkrete Schritte unternehmen, um die Legitimität und Kapazität der PA zu stärken. Dazu gehört auch die diplomatische Anerkennung eines palästinensischen Staates. Die regionale Konfliktverschärfung mit dem Iran ist sogar noch ein zusätzliches Argument dafür, denn nur die Umsetzung der Zweistaatenlösung bietet Aussicht auf eine dauerhafte Normalisierung der Beziehungen aller arabischen Staaten mit Israel.

Darüber hinaus sollten die verbliebenen Friedenskräfte in Israel und Palästina und alle jene, die zur Stärkung von Demokratie und Menschenrechten beitragen, jetzt uneingeschränkt unterstützt werden. Der Impuls nach dem 7. Oktober, die Unterstützung für Palästina einzufrieren, war katastrophal, denn dies traf genau diese zivilgesellschaftlichen Akteure – und spielt letztlich dem »Widerstands«-Narrativ der Hamas in die Hände. Ähnliches gilt für das Palästinenserhilfswerk UNRWA, das für die Versorgung der Palästinenser*innen in der Region und besonders auch in Gaza eine zentrale Rolle spielt. Hier wurden nach bisher unbelegten Vorwürfen gegen einzelne Angestellte Gelder eingefroren, die für die Versorgung Hunderttausender notwendig sind.

Schließlich sollten die derzeit auf verschiedenen Ebenen laufenden rechtlichen Bemühungen um Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorangetrieben werden. Die Bundesregierung betont einerseits ihre Unterstützung für den Internationalen Gerichtshof (IGH) und den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), greift aber andererseits immer wieder deren Urteilen vor, wenn es um den engen Verbündeten Israel geht.2 Nur wenn verantwortliche Akteure auf beiden Seiten für begangene Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden und der Zustand der Straflosigkeit endet, besteht die Hoffnung, dass sich die jetzige Katastrophe nicht wiederholt.

Anmerkungen

1) In deutschen Medien werden diese oft nur mit dem Zusatz verwendet, die Zahlen könnten nicht „unabhängig überprüft werden“; die VN und viele Expert*innen weisen aber darauf hin, dass diese Angaben des Gesundheitsministeriums, das von der Hamas geführt wird, in der Vergangenheit zuverlässig waren; wahrscheinlich sind sie angesichts der zahlreichen Vermissten eher zu niedrig.

2) „Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit zum Beispiel nach Beginn der Verhandlungen zur südafrikanischen Genozid-Klage vor dem IGH im Januar 2024.

Literatur

Ahituv, N. (2024): Epidemics, Famine, Untreated Wounds: Things Are About to Get Much Worse in Gaza. Haaretz, 6.4.2024.

Bar’el, Z. (2024): Israel‘s ‚Multinational Force‘ Pitch for Postwar Gaza Is Little More Than Wishful Thinking. Haaretz, 1.4.2024.

Bartov, O. (2024): Der Angriff der Hamas und Israels Krieg in Gaza. Heinrich-Böll-Stiftung, 18. Dezember 2023.

IGH (2024): Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel). Request for the indication of provisional measures. Unofficial Summary 2024/1, 26.1.2024.

Kubovich, Y. (2024): Israel Created ‚Kill Zones‘ in Gaza. Anyone Who Crosses Into Them Is Shot. Haaretz 31.3.2024.

Michaeli, Y. et al. (2024): Buffer Zone and Control Corridor: What the Israeli Army‘s Entrenchment in Gaza Looks Like. Haaretz, 28.3.2024.

Qiblawi, T. et al. (2024): Anesthetics, crutches, dates. Inside Israel’s ghost list of items arbitrarily denied entry into Gaza. CNN, 1.3.2024.

Ravid, B. (2024): Bibi‘s post-war plan: No reconstruction in Gaza without demilitarization. Axios, 22.2.2024.

Vereinte Nationen (2024): Imminent famine in northern Gaza is ‘entirely man-made disaster’: Guterres. UN News, 18.3.2024.

Weltbank (2024): Joint World Bank, UN Report Assesses Damage to Gaza’s Infrastructure. Pressemitteilung, 2.4.2024.

René Wildangel ist Historiker und Publizist. Er lehrt derzeit an der International Hellenic University in Thessaloniki. Er studierte in Jerusalem und Damaskus und publiziert regelmäßig zu Nahost-Themen.

Haushalts-Déjà-vu

Haushalts-Déjà-vu

Heute und vor 40 Jahren: Weniger Geld für Soziales, Spendierhosen für die Streitkräfte

von Herbert Wulf

Mit der »Zeitenwende« wird der militärischen Priorität im Haushalt fast alles untergeordnet. Trotz drängender sozialer Probleme steigt, wie schon früher, der Haushalt für die Bundeswehr. Neben den Steigerungen des regulären Haushalts gibt es ein »Sondervermögen« von 100 Mrd. €. Es ist ein Mythos, dass der Zustand der Streitkräfte aufgrund mangelnder Finanzen so miserabel ist. Vielmehr sind Bürokratie, Überteuerung deutscher Waffen und Fixierung auf Hochtechnologie die Ursache. Solange es keine solide friedens- und sicherheitspolitische Diskussion gibt, wird sich hieran kaum etwas ändern.

Wenige Tage nach Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz die »Zeitenwende«. Da die Grundfesten der europäischen Sicherheitspolitik erschüttert waren, musste der Schalter sofort umgelegt werden. Die von ihm konstatierte Vernachlässigung der Bundeswehr sollte revidiert werden, um endlich die der NATO zugesagte Verpflichtung einzuhalten, 2 % des Bruttosozialproduktes für die Streitkräfte auszugeben. Um dieses Ziel zu erreichen und gleichzeitig die im Grundgesetz verankerte »schwarze Null« zu halten, müssen leider andere Ausgaben gekürzt oder zumindest in Grenzen gehalten werden: Kindergrundsicherung, Demokratieförderung, Pflege, Entwicklungshilfe usw. Überall wird gespart und gekürzt, nur nicht beim Etat der Bundeswehr.

Ist das das Resultat der propagierten »Zeitenwende«? Soll diese Politik die Probleme Deutschlands lösen: die wirtschaftliche Schwäche, den schleppend umgesetzten Klimaschutz, Wohnungsnot, Bildungsnotstand, Krankenhausdefizite, die beschämend langsame Digitalisierung?

Déjà-Vu: Rüstung und Sozialabbau vor 40 Jahren

Liebe Leser*innen, hier unkommentiert sechs Zitate aus dem allerersten Heft von Wissenschaft und Frieden im Jahr 1983, also vor genau 40 Jahren:

„Kürzungen im Verteidigungshaushalt vorzunehmen und soziale und wirtschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, mangelnde Studienplätze, zu große Klassen in den Schulen, steigende Gesundheitskosten, Wohnungsnot, Energieversorgungsengpässe, Unterentwicklung in der dritten Welt usw., durch kräftige Ausgabenerhöhungen bei den zuständigen Ressorts anzupacken – diese Möglichkeit wird in den westlichen Industrieländern von der politischen Führung nirgendwo ernsthaft in Erwägung gezogen.“

„In der Bundesrepublik ist die Umschichtung knapper staatlicher Mittel zugunsten des Militärapparates keine pessimistische Zukunftsahnung, sondern Realität.“

Für Rüstung „mußten immer wieder zusätzliche Finanzmittel bereitgestellt werden. Finanziert wurden die drei außerplanmäßigen Erhöhungen […] durch Kürzungen vor allem in den Haushalten Verkehr, Arbeit und Soziales, Forschung und Entwicklung; Rüstungsmehrausgaben schlagen sich also auch bei uns unmittelbar in gekürzten Ausgaben in anderen Bereichen nieder.“

„Der Haushalt ‚Verteidigung‘ stieg überdurchschnittlich. Von Kürzungen wie gelegentlich in der Presse behauptet – kann keine Rede sein…“

„Während die Politik des Sozialabbaus bei gleichzeitiger Aufrüstung in den USA meist mit einer offensiven Ideologie von den Konservativen vertreten wird, ging man in der Bundesrepublik zunächst verschämt daran, Sozialleistungen und Arbeitslosenunterstützung zu kürzen und sprach verharmlosend von der Beseitigung bestimmter Auswüchse. Inzwischen wird aber auch bei uns das ‚Anspruchsdenken‘ gegeißelt und ‚Opferbereitschaft‘ verlangt, um die Rahmenbedingungen für einen Aufschwung zu schaffen.“

„Auch heute geht es also um mehr als eine oberflächliche ‚Sparpolitik‘; eine staatlich geförderte Haushaltsstrategie dient der Pflege des privatwirtschaftlichen Wachstums mit der Betonung von Großtechnologie, Rüstung und internationaler wirtschaftlicher Expansion. Daß durch diese Politik das soziale System verletzt und die Lebensqualität der Bevölkerung verschlechtert wird, ist in den Hintergrund gedrängt worden.“ (alle zitiert nach Wulf 1983)

Manche der Aussagen und Analysen klingen wie Echtzeit 2023. Die Parallelen zu heute sind offensichtlich.

Zeitenwende oder Panikpolitik?

Anfang September 2023 debattierte der Bundestag den Haushaltsentwurf 2024. Bereits im Vorfeld hatte Finanzminister Christian Linder eines deutlich gemacht: Eine weitere Umverteilung zugunsten des Sozialstaates dürfe es nicht mehr geben. Bei der beschlossenen Kindergrundsicherung handele es sich um die letzte sozialpolitische Reform für die nächsten Jahre. Eine kritische Kolumne in der Süddeutschen Zeitung bringt die Essenz dieser Politik auf den Punkt: „Die mickrigen Beträge für Kindergrundsicherung sind eine Schande. Wer die Sozialpolitik einfriert, friert die Demokratie ein […]. Das Ergebnis dieser Debatte ist ärmlich: Der Betrag, der für diese Sicherung nach langem Hin und Her in der Ampelkoalition ausgegeben werden soll, verhöhnt den Namen ‚Grundsicherung‘ – es sind 2,4 Milliarden. Damit wird gesichert, dass alles so bleibt, wie es ist: Die armen Kinder bleiben am Rand der Gesellschaft.“ (Prantl 2023) Auch beim Klimaschutz fehlen die Mittel und die Bundesregierung verheddert sich im Streit über den richtigen Weg.

Der militärischen Priorität wird im Haushalt für die kommenden Jahre fast alles untergeordnet. Bei Kürzungen ist der Verteidigungsetat ausdrücklich ausgeschlossen (BMF 2023). Es beginnt schon mit dem Namen »Sondervermögen Bundeswehr«. Außerhalb des regulären Haushaltes 100 Mrd. € für die Bundeswehr bereitzustellen und diese weitgehend kreditfinanzierte Maßnahme als »Vermögen« zu bezeichnen, kann man getrost als Orwellschen »Neusprech« bezeichnen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist durch den Krieg Russlands eine dringende Notwendigkeit. Auch die Bundeswehr, als Rückgrat der Verteidigung, bedarf der Reform und neuer strategischer Ausrichtung (vgl. Unterseher in dieser Ausgabe). Doch dies vor allem durch mehr Geld in Angriff zu nehmen, führt zur Verschwendung knapper Ressourcen. Jetzt ist vorrangig eine friedenspolitische und strategische Debatte über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr nötig, nicht aber eine riesige Geldspritze.

Natürlich kann die Bundeswehr mehr finanzielle Mittel gebrauchen, um Panzer, Hubschrauber, Schiffe, Kampfflugzeuge oder Drohnen zu beschaffen. Aber für welchen Zweck? Um weiterhin Auslands­einsätze zu ermöglichen oder sie effizienter zu gestalten? Die Auslandseinsätze sind nach den Erfahrungen in Afghanistan und Mali gescheitert. Geht es jetzt um den in unserer Verfassung verankerten Auftrag zur Landesverteidigung? Um die Ostflanke der NATO? Um Solidarität mit der Ukraine? Und soll dies im Rahmen einer auch militärisch unterfütterten Rolle der EU passieren, wie schon länger vom französischen Präsidenten Macron gefordert wird? Oder geht es etwa sogar zusammen mit den USA um den Stopp der chinesischen Marineaktivitäten im Südchinesischen Meer? Oder gegen die Iraner in der Straße von Hormus, wenn »unsere« Ölversorgung bedroht werden sollte? Angesichts der völlig neuen sicherheitspolitischen Lage muss zunächst einmal das Aufgabenspektrum der Bundeswehr geklärt sein, bevor Geld mit vollen Händen ausgegeben wird (Wulf 2022).

Es gibt überhaupt keinen Grund, überstürzt ein so riesiges »Sondervermögen Bundeswehr« zu initiieren. Der Krieg in der Ukraine wird dadurch keinen Tag früher enden und die Neuausrichtung der Bundeswehr geschieht ebenso wenig kurzfristig.

Wider die Mythen

Aber, so heißt es, die Bundeswehr ist unterfinanziert; sie wurde kaputt gespart. Kampfflugzeuge sind nur bedingt einsatzfähig, U-Boote tauchen nicht, die schon lange avisierten Fregatten werden nicht ausgeliefert, Hubschrauber und Lufttransportkapazitäten sind Mangelware. Ersatzteile fehlen an allen Ecken und Enden. Die Maschinengewehre taugten nicht bei den hohen Temperaturen in Afghanistan und Mali. Es fehlt an warmer Kleidung und Zelten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dies ist aber nicht eine Folge fehlender Finanzierung.

Die deutschen Ausgaben für Verteidigung (nach NATO-Kriterien) stiegen seit 2014 von 34,7 Mrd. € auf 57,7 Mrd. € im Jahr 2022 (vgl. NATO 2023a, S. 157). Das ist ein satter Anstieg um 66 % in acht Jahren. Es ist ein Mythos, dass die Bundeswehr schlecht ausgerüstet ist, weil sie zu wenig Geld bekommt. Im Haushalt 2024 ist für die Bundeswehr eine Erhöhung des Etats um 1,7 Mrd. € vorgesehen. „Aus dem Sondervermögen Bundeswehr stehen darüber hinaus rund 19,2 Milliarden Euro bereit.“ (BMVG 2023)

Mangelnde Finanzen sind nicht das eigentliche Problem, sondern verkrustete Strukturen bei der Beschaffung, strukturelle Defizite bei Entwicklung, Produktion und Beschaffung und erhebliche zeitliche Verzögerungen bei der Auslieferung der bestellten Waffen.

Beispiele zum Beleg dieser miserablen Lage gibt es allenthalben. Die Probleme des Lufttransportflugzeugs A400 sind ein Paradebeispiel für verzögerte und überteuerte Lieferung, zudem unterhalb der zugesagten Leistungen. Seit sich das Parlament erstmals mit dem Transportflugzeug befasste, hat sich das Vorhaben um mehr als zwölf Jahre verzögert. Noch immer sind die Flugzeuge nicht ausgereift, ein Armutszeugnis für den Hersteller. Dies ist nicht das einzige Gerät, mit dem sich die Luftfahrtindustrie verhoben hat und damit die Bundeswehr in Schwierigkeiten bringt. Deutliche Parallelen zeigen sich beim deutsch-französischen Transporthubschrauber NH90. Das Verteidigungsministerium bezifferte 2018 die durchschnittlichen zeitlichen Verzögerungen bei Großprojekten auf fünf Jahre und drei Monate.

Dieser Zustand hat sich anscheinend durch die »Zeitenwende« überhaupt nicht verändert. Der jüngste »Schildbürgerstreich« (wie ihn die Tagesschau am 26.9.2023 bezeichnete) ist der Kauf digitaler Funkgeräte, die für 1,3 Mrd. € von einem deutschen Hersteller beschafft wurden, obwohl nicht gewährleistet ist, dass die Geräte in den vorgesehenen Fahrzeugen überhaupt eingebaut werden können.

Zweifellos bedarf also die Bundeswehrbeschaffung dringend einer gründlichen Reform. Sie ist auch schon mehrfach angekündigt worden. Doch die bisherigen Reformvorhaben wurden nur kümmerlich umgesetzt. Es gibt vor allem drei Gründe für die Misere der Bundeswehr:

(1) Bürokratische Strukturen verkomplizieren und verzögern die Beschaffungsabläufe. Rund 11.000 Mitarbeiter*innen arbeiten beim Bundesamt für Beschaffung der Bundeswehr. Mitte 2023 betrug die Zahl der Soldat*innen (Berufs- und Zeitsoldat*innen sowie Wehrdienstleistende) 181.000. Ein Verhältnis von einem Mitarbeiter des Beschaffungsamtes für 16 Soldat*innen. Vielleicht könnte man hier den Rotstift ansetzen.

(2) Beschaffung überteuerter deutscher Waffen: Es hat zwar oft Bekenntnisse zur Auswahl der besten Systeme für die Bundeswehr gegeben. In der Praxis wurde aber immer darauf geachtet, dass deutsche Firmen möglichst bei der Auftragsvergabe berücksichtigt werden, auch wenn dann bei der Leistungsfähigkeit der Systeme, bei den Terminen der Auslieferung und auch beim Preis Kompromisse gemacht werden mussten.

(3) Rüstungsbarock: Bei der Beschaffung von Rüstung existiert ein Hang zur Verwendung von Hochtechnologie, ein Trend, der in den USA und der dortigen Rüstungswirtschaft auch als »over engineering«, »gold plating« oder als »Rüstungsbarock« beschrieben wird (Kaldor 1981). Immer mehr Technologie wird in ein Waffensystem gepackt. Dies geschieht einerseits, weil die Streitkräfte auf dem neuesten Stand der Technik sein möchten, und andererseits, weil die Rüstungsindustrie zur Selbstüberschätzung der eigenen technologischen Leistungsfähigkeit neigt. Das Ergebnis: Wegen der immer neuen technologischen Anforderungen »muss« die Industrie den ursprünglich anvisierten Preis des Waffensystems anheben. Michael Brzoska spricht vom „Hang zum Unmöglichen“ und konstatiert neben der Interessenallianz auch „Interessenkollisionen zwischen Militär und Rüstungsindustrie“ (Brzoska 2020, S. 158).

Das 2 %-Ziel: Tanz um das goldene Kalb

Fehlende Finanzen sind, wenn überhaupt, also nur ein Teil des Problems. Deshalb ist es auch falsch, jetzt den Schwur zu tun, in Zukunft das 2 %-Ziel der NATO nicht nur einzuhalten, sondern zu übertreffen. Das ist Symbolpolitik.

Es ist grundsätzlich falsch, eine volkswirtschaftliche Größe wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zum zentralen Kriterium verteidigungs- und sicherheitspolitischer Entscheidungen zu machen. In der Logik dieses 2 %-Ziels liegt das sicherheitspolitisch absurde Ergebnis, dass in einer florierenden Wirtschaft dieses Ziel schwer zu erreichen ist, bei wirtschaftlichem Niedergang aber fast automatisch erzielt wird. Als Satiriker könnte man fragen: Hatte die Ampelregierung beim Versprechen an die NATO etwa den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands im Blick?

Deutlich wird diese Absurdität am Beispiel Griechenland. Das Land erreichte 2018 mit Verteidigungsausgaben in Höhe von 2,3 Prozent das NATO-Ziel locker, obwohl der Haushalt für die Streitkräfte in den Jahren davor schrumpfte. Inzwischen gibt Griechenland 3,0 Prozent des Bruttosozialproduktes für die Streitkräfte aus (vgl. NATO 2023b, S. 3). Das Schrumpfen der Wirtschaft war in Griechenland eben noch ausgeprägter als die Kürzungen im Verteidigungsetat während der Krise. Das 2 %-Ziel ist daher ein untaugliches Kriterium für sachorientierte sicherheitspolitische Entscheidungen. Es ist ein Fetisch. Der Fraktionsvorsitzende der SPD Rolf Mützenich formulierte im Juli 2019: Es ist „ein Tanz ums goldene Kalb.“ (Wulf 2019).

Der richtige Weg wäre, die heutigen und mögliche künftige Herausforderungen und Gefährdungen zu benennen und die zur Abwehr erforderlichen Kapazitäten aufzubauen. Dies mag zwar erforderliche Ausrüstung für die Bundeswehr mit einbeziehen, fokussiert dann aber nicht nur militärische Kapazitäten. Dies setzt aber eine strategische und friedenspolitische Debatte voraus, die nicht mit der bloßen Verabschiedung einer Nationalen Sicherheitsstrategie erledigt ist. Hieraus ergibt sich dann auch der finanzielle Rahmen, der gegebenenfalls unter oder auch über 2 % des Bruttoinlandsproduktes liegen kann. Jetzt aber wird das Pferd von hinten aufgezäumt: Zuerst werden Finanzmittel bereitgestellt, um dann anschließend zu entscheiden, wozu sie eingesetzt werden sollen.

Mehr Geld ist nicht gleich mehr militärische Leistungsfähigkeit oder Effizienz. Die Höhe des Haushaltes oder des Prozentsatzes am BIP sagen überhaupt nichts über die militärischen Fähigkeiten der Streitkräfte aus. Plakativ ausgedrückt: Mehr Geld ist nicht gleich mehr Sicherheit. Bei aller Dramatik der Ereignisse seit Februar 2022 sollte man jetzt nicht in Panik oder Schockstarre Entscheidungen treffen. Ausgaben für die Streitkräfte stellen noch keine wirksame Sicherheitspolitik dar. Es ist für den Zusammenhalt und die Sicherheit unserer Gesellschaft im Inneren und für die Kooperation im Äußeren keine kluge und überzeugende Politik, im sozialen Bereich und in friedens- und entwicklungspolitischen Haushaltstiteln zu kürzen.

Literatur

Brzoska, M. (2020): Mythos: „Die Bundeswehr ist schlecht ausgerüstet, weil sie zu wenig Geld bekommt“. Die Friedens-Warte 92(3-4), S. 157-161.

Bundesministerium der Finanzen (BMF) (2023): Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2024 und Finanzplan bis 2027. Für eine verantwortungsvolle und zukunftsorientierte Finanzpolitik: Ausgaben priorisieren, Investitionen stärken. Pressemitteilung 09/2023, 5.7.2023.

Bundesministerium der Verteidigung (BMVG) (2023): Verteidigungsetat 2024 wächst um 1,7 Milliarden Euro – NATO-Quote wird erreicht. Aktuelles, 06.07.2023.

Kaldor, M. (1981): Rüstungsbarock. Das Arsenal der Zerstörung und das Ende der militärischen Techno-Logik. Berlin: Rotbuch.

NATO (2023a): The Secretary General’s Annual Report 2022. Brüssel.

NATO (2023b): Defence Expenditure of NATO Countries (2014-2023). Pressemitteilung, 7.7.2023.

Prantl, H. (2023): Kinder sind wichtiger als die schwarze Null. Süddeutsche Zeitung, 1. September 2023.

Wulf, H. (1983): Sozialabbau und Rüstung. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 1/1983, S. 11ff.

Wulf, H. (2019): Das goldene Kalb der AKK. IPG-Journal, 25.7.2019.

Wulf, H. (2022): Panikpolitik. IPG-Journal, 15.3.2022.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist ehemaliger Leiter des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC). Er ist heute Fellow am BICC und am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Essen/Duisburg. Er war von 2001 bis 2008 Vorsitzender von W&F.

Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Eindrücke aus der Ukraine im Oktober 2021 – eine episodische Konfliktannäherung

von Lisa Neal

Beschreibungen des Überfalls auf die Ukraine beziehen sich oft auf geopolitische Zusammenhänge und Psychogramme Putins. Die inneren Konflikte der Ukraine stehen dabei selten im Fokus. Dennoch gehören sie zur Geschichte des bewaffneten Konflikts. Die Autorin reiste im Herbst 2021 kurz vor der Eskalation durch die Ukraine und nähert sich in Episoden den Konflikten im Land an.

Die Ukraine ist das Land, wo zuletzt Menschen für die europäische Fahne gestorben sind“, sagt eine Aktivistin in Kiew. Ich kann ihren Namen nicht nennen.

Im Oktober 2021 bin ich für zehn Tage in einem Land unterwegs, in dem seit 2014 ein von der Weltöffentlichkeit weitgehend vergessener Krieg herrscht. Heute kennt die ganze Welt die Bilder aus Butscha.

2014 erklären prorussische Separatistengruppen im Osten der Ukraine die beiden Verwaltungsgebiete Donezk und Luhansk für unabhängig. Die Separatisten sollen von Russland unterstützt sein. Russische Soldaten besetzen im Süden des Landes die autonome Region Krim. In einem international weitgehend nicht anerkannten Referendum stimmen laut der regionalen prorussischen Regierung die Bewohner*innen der Krim für einen Anschluss an Russland. Trotz eines vereinbarten Waffenstillstands kommt es immer wieder zu Schüssen (Pleines 2022). Die ukrainische Seite zeigt sich beunruhigt über die rund 90.000 russischen Soldaten nahe ihrer Grenze. Ukrainer*innen warnen die Welt vor dem, was sich zusammenbraut. Zu Recht, wie sich wenige Monate später herausstellt. Doch die Welt hört noch nicht zu.

Schon lange prägen Kämpfe um Unabhängigkeit und um die Ausrichtung nach Westen oder Osten die Geschichte der Ukraine. Der Krieg hat bis zu meinem Besuch im Oktober 2021 nach Angaben der UN-Menschenrechtsbeauftragten schätzungsweise mehr als 13.000 Todesopfer gefordert. Er knüpft an eine lange komplizierte Geschichte an.

Als Auslöser für die erneute gewaltsame Eskalation gilt die Weigerung des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im November 2013, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union doch nicht zu unterschreiben. Stattdessen will er sich nach Russland orientieren. Es kam zu landesweiten Protesten, welche ihn sein Amt kosteten. Seitdem bemühten sich die nachfolgenden Regierungen um die Aussicht auf einen EU-Beitritt. Doch damit sind nicht alle Ukrainer*innen einverstanden.

Die Gräben beschränken sich nicht auf die umkämpften Gebiete. Sie ziehen sich durch die Köpfe und Herzen der Menschen im ganzen Land. Wo und wie zeigen sie sich?

Kiew: „Heb den Müll auf, wir sind jetzt Europa“

Kiew ist eine leise, bergige Stadt. Die Blätter an den Bäumen sind goldgelb, es riecht nach warmer Herbsterde. Im Stadtbezirk Schewtschenko steht das Denkmal der Völkerfreundschaft, ein großer Steinbogen, der davorstehende Menschen auf Ameisengröße schrumpfen lässt. Er soll die »Bruderfreundschaft« mit Russland symbolisieren. Für den aktuellen Krieg ist ein blitzförmiger Bruch aufgeklebt – aber nicht eingemeißelt. Vom Bogen aus öffnet sich der Blick über den Fluss Dnepr und die nächtliche Stadt. In weiter Entfernung stehen Hochhäuser mit harten eckigen Neonlichtern. „Die Schlafstadt“, erklärt eine Ukrainerin. Die Mieten in den leisen Straßen mit Steinhäusern sind zu hoch. Wie in fast jeder Großstadt dieser Welt.

An den meisten Regierungsgebäuden hängt neben der gelb-blauen ukrainischen Fahne die europäische Flagge. „Heb den Müll auf, wir sind jetzt Europa“, heißt es aus einer anonymen Quelle. Ein europäisches Bewusstsein dringt in den letzten sechs Jahren noch mehr durch, seit es eine visumsfreie Einreise für Ukrainer*innen in die EU gibt. Wer aus dem Westen der Ukraine stammt, dem wird innerhalb des Landes schnell eine proeuropäische Gesinnung unterstellt und wer im Osten der Ukraine lebt und Russisch spricht, dem wird eine prorussische Einstellung nachgesagt. So einfach ist es nicht. Ukrainisch und Russisch gehören beide zu den Hauptsprachen des Landes. In Odessa, an der Erklärtafel zum Denkmal für die russische Zarin Katharina die Große, werden sowohl der ukrainische als auch der russische Text beide mit der ukrainischen Flagge gekennzeichnet. Weder Sprache noch Wohnort reichen aus, um die Menschen zu verorten. Die Orientierung nach Osten oder Westen hängt von persönlichen Geschichten ab, wie Ukrainer*innen mir auf dieser Reise immer wieder aus ihren Erfahrungen berichten.

Krim und Slawjansk: Wo der Krieg begann

Die Krim ist eine Halbinsel im Schwarzen Meer. Glaubt man ihren indigenen Bewohner*innen, den Krimtataren, so ist sie der schönste Ort, an dem ein Mensch leben kann. Die Mitglieder des Medschlis in Kiew – der zentralen Exekutivkörperschaft des Kurultai der Krimtataren – halten sich laut eigener Aussage mittlerweile an den Grundsatz der Gewaltfreiheit. Im Gespräch mit mir wirken sie freundlich, ein bisschen abgekämpft. In ihrer Exilvertretung in Kiew steht eine Vitrine voller Geschenke ausländischer Besucher*innen, die meisten Dinge darin sind Türkisch beschriftet. Für die sunnitischen Krimtataren ist die Krim eng mit ihrer Identität verbunden. Diese zu bewahren bedeutet, zu überleben. Heimkehren auf die Krim: Darin liegen Heilung und Glück, der Wunsch wird zu einem Gebietsanspruch (GfbV 2015). Diese Geschichte wird von Generation zu Generation beschworen. Was in Kriegen zeitweise verloren geht, ist die Sprache, die Fähigkeit, Worte für das zu finden, was als »Verlustschmerz« nicht einmal annähernd das innere Brennen oder die Leere bezeichnen kann. Auf die Frage, was mit den Russ*innen passieren soll, die nun auf der Krim leben, wenn die Krimtataren eines Tages zurückkommen, geben sie keine Antwort. Der Vorsitzende Refat Tschubarow und die anderen Medschlis hoffen, dass die Besatzung der Krim für Russland zu teuer werde und sie abziehen. Im Tauziehen um eine Ost- oder Westorientierung des Landes sind die Krimtataren die großen Verlierer*innen auf beiden Seiten.

Die ersten Schüsse 2014 fallen hunderte Kilometer weit weg von Kiew. Auf dem Weg zu diesem Ort gehen der graue Himmel und die karge Steppe ineinander über. Graubraune Häuser, leere Fabriken und Flächen, unebene Straßen, dazwischen goldene Blätter und leuchtend rote Büsche. Zu den großen Ressourcen der Ukraine gehört ihre Weite.

In Slawjansk, einer Stadt im Osten nahe der Separatistengebiete, begann der Krieg vor acht Jahren. Von den Gefechten zwischen Separatisten und ukrainischen Einheiten sind kaum noch Spuren zu finden, es ist fast alles wieder aufgebaut. Eine kleine Gedenktafel und ein Strauß gelber und roter Blumen erinnern an die Bedeutung des Ortes. Es riecht nach Abgasen und feuchtem Lehm. An einem kleinen Kiosk stehen rauchende Männer mit Mützen, die dem Treiben mäßig interessiert zuschauen. Ein pinker Sportwagen saust vorbei. Der Konflikt ist nicht ethnisch. Es ist einer zwischen Lebensentwürfen und Loyalitäten.

Landesweit: Kämpfe für einen sozial gerechteren Staat

Es gibt die Konflikte, die durch Grenzschilder, Militärposten und schussbereite Waffen erkennbar sind. Und dann gibt es die, die sich an den großen Uhren junger Politiker*innen und den Sorgenfalten der Aktivist*innen erahnen lassen, mit denen ich spreche. Die Korruption in der Ukraine sei epidemisch und überall, berichten letztere. Laut Transparency International befindet sich die Ukraine 2020 auf Platz 117 von 180 des Korruptionswahrnehmungsindex, 2012 war sie noch auf Platz 144 (Transparency International o.J.). Die Korruption war einer der Gründe, weshalb die Menschen im Winter 2013/14 gegen die Regierung von Präsident Janukowitsch protestierten (Kolb 2014). Der Durchschnittslohn in der Ukraine beträgt umgerechnet 450-500 Euro im Monat und Arbeitnehmer*innen haben einen Kündigungsschutz von zwei Wochen. Soziale Gerechtigkeit ist ein großes Anliegen – mit dem auch der derzeitige Präsident Selenskyi 2019 die Wahlen gewann.

Zu den wichtigsten Mitteln der Korruptionsbekämpfung gehören nach Einschätzung des ehemaligen Richters Mykhailo Zhernakov die Entbürokratisierung, die Erhöhung der Gehälter für Beamte und die Bemühungen um eine Justizreform. Dafür setzt sich auch die DEJURE Stiftung ein. Mitbegründer Zhernakov findet harsche Worte: Der Ukraine fehlt Rechtstaatlichkeit und sie hat das juristische System der Sowjetunion geerbt.“ Das bedeutet, dass das juristische System abhängig vom Staat ist. Laut Zhernakov müsse die Veränderung zur Unabhängigkeit graduell verlaufen. Dabei wegweisend sei das nationale Anti-Korruptionsbüro NABU samt Staatsanwalt und Anti-Korruptions-Gericht, einer Art „Anti-Korruptions-FBI“, so drückt er es aus. Aber der größte Veränderungsdruck komme von internationalen Institutionen, durch Verhandlungen mit der EU und dem Wunsch, ein NATO-Bündnispartner zu werden. Sehr zum Missfallen von Russland. Zhernakov geht das alles zu langsam. Putin, wie sich wenige Monate später herausstellt, geht es zu schnell und zu weit.

Kramatorsk: Binnenflucht und begrenzte Staatlichkeit

2014 begann mit der neuen Regierung die Dezentralisierung und damit auch ein Demokratisierungsschub in der Ukraine. Der Krieg mit den Separatisten hat viele Menschen aus den nun besetzten Gebieten im Osten vertrieben. 512.000 Binnenflüchtlinge sollen laut offiziellen Angaben der Verwaltung in den angrenzenden Gebieten leben. Erst waren sie Fremde, jetzt sind sie geduldet und die regionale Regierung baut Mietwohnungen für sie. Die Verwaltung der besetzten Gebiete ist nach Kramatorsk gezogen, von hier aus arbeitet Gouverneur Pavlo Kyrylenko. Er sagt, dass die Binnenflüchtlinge natürlich froh seien, hier zu sein, es ginge ihnen hier besser „als bei den Russen“. Doch der Aufenthalt sei nur vorübergehend. Ist der Krieg einmal beendet, dann würden sie zurückgehen. Was von ihrem Zuhause noch da sein wird, weiß niemand auf dieser Seite der Frontlinie. Es fehlen unabhängige Informationen aus den Separatistengebieten. Den Nationalismus der Menschen müsse man klug handhaben, dann sei dieser in Ordnung, sagt Kyrylenko, Hauptsache, wir bekommen die Sowjetunion aus den Köpfen der Menschen heraus.

Druschkiwka und Majorska: Folter und Minen

Nahe Kramatorsk, etwa 550 Kilometer Luftlinie südöstlich von Kiew, liegt das Dorf Druschkiwka. Es war während der Kämpfe 2014 für kurze Zeit von den Separatisten besetzt. In dieser Zeit soll der ukrainisch-orthodoxe Priester Dionissij Wassyljew für drei Tage im Juni gefangen und verhört worden sein. Er fürchtete um sein Leben und war sich sicher, dass er erschossen werden wird. Jedes Mal, wenn er die heutige Polizeistation betritt, beginnt sein Herz schneller zu schlagen, sagt er. Trotzdem macht er es immer wieder, um anderen zu erzählen, was ihm und seinen Mitgefangenen hier widerfahren ist. Er will, dass aus dem Folterkeller ein Museum wird, als Warnung und in Gedenken an die schreckliche Zeit. Es soll auch daran erinnern, dass bereits die Gestapo in diesen Räumen Menschen gefangen hielten. Im Keller ist es dunkel und kalt, der Strahl einer Taschenlampe leuchtet durch die Gänge. Dionissij zeigt, wo er verhört wurde, wo er schlief, betete und zitterte. Nicht alle wollen hören, was Dionissij zu erzählen hat, er bekomme viele Anfeindungen. Deshalb aufhören? „Niemals!“, sagt er entschieden.

Einige Kilometer weiter im Osten, in Majorska liegt einer von sieben Grenzübergängen zwischen der Separatistenzone und dem ukrainisch kontrollierten Staatsgebiet. Hinter dem Übergang, in der sogenannten »Grauen Zone« zwischen den Fronten, steht die lokale Bezirksverwaltung zu der Rayissa Griegoriwna gehen muss, um sich ihre neue Corona-Impfung bescheinigen zu lassen. Mit ihrer roten Mütze ist sie der fröhlichste Farbfleck in dieser Umgebung. Ihr Alter ist schwer erkennbar, ihr von Runzeln verkerbtes Gesicht wirkt freundlich. Gespannt schaut sie, was die Besucher*innen hier wollen, lächelt unter ihrer halb herunter gezogenen Maske und tippelt weiter. Ein Schritt ab vom Weg und sie könnte auf eine Mine treten. Denn die ganze Region ist von Minen verseucht. Über Jahre hinweg haben Menschen vor Ort die Minen entschärft. Der Krieg hat sich wortwörtlich in diese Landschaft eingegraben.

Odessa: Trauerverbot und Held*innen

Odessa riecht nach Vanille und – mit Puschkin gesagt – nach Europa. Auf manchen Bürgersteigen lösen sich die Steine, die matten Fassaden der Barock- und Jugendstilhäuser bröckeln. Der Kulikowe-Pole-Platz ist mit seinen breiten Wegen zum schnellen Überqueren gemacht. Er wird 2014 trotzdem zum Schauplatz des Konfliktes. „Sie stehlen unseren Toten ihre Blumen“ steht auf einem Papier, das dort an einem Zaun klebt. Es ist nur eine von vielen in Plastik eingeschweißten Botschaften, die über Kerzen und verblassenden Fotos von Verstorbenen hängen. Am 2. Mai 2014 kam es in Odessa zu einer Auseinandersetzung zwischen prorussischen und proukrainischen Demonstrierenden. In einem Bericht der Deutschen Welle heißt es: „Pro-russische Aktivisten und Befürworter einer Abspaltung Odessas von der Ukraine zogen sich in das Gewerkschaftshaus zurück. Ukrainische Nationalisten belagerten das Gebäude. Molotowcocktails flogen, das Haus geriet in Brand. Allein am Gewerkschaftshaus starben damals 42 Menschen“ (Trippe 2017).

Bis heute fehlt die juristische Aufarbeitung der Ereignisse, bis heute gibt es kein Denkmal für die Toten. Die Trauer darf kaum stattfinden, die Blumen der Hinterbliebenen werden weggeschmissen. Das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit wird damit nicht gefördert. Zudem vertrauten die Ukrainer*innen dem Militär oft mehr als ihren Politiker*innen und dem Justizsystem, erzählen verschiedene Aktivist*innen. Während des Krieges haben sich diverse paramilitärische Freiwilligenbataillone der ukrainischen Armee angeschlossen, darunter auch das rechtsextreme Regiment Asow. „Ich würde für mein Heimatland sterben“, sagt Victoria, Ende Zwanzig, die gerade von der Front zurückgekehrt ist und sich mit der Organisation »Come back Alive« für die Reintegration von Soldat*innen einsetzt. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei anderen Personen, scheinen militaristische Nationalismen zu blinden Flecken zu werden. Kritische Äußerungen über das Militär? Höre ich kaum, sie sind die Held*innen. Heute mehr denn je.

Wie es weitergeht, ist unklar

Die Ukraine ist im Oktober 2021 Teil der östlichen Partnerschaften der Europäischen Union, sie ist aber noch keine Beitrittskandidatin zur EU. Im Land gibt es vielerorts Hoffnungen, dass dies mittelfristig passieren wird. Die Europa-Begeisterung ist groß. Gleichzeitig gibt es viele Menschen im Land, die ihre Zukunft gemeinsam mit Russland sehen. Was ich im Rahmen meines Besuches erkenne: Was eine Chance auf Vielfalt bedeuten könnte, wird immer mehr zu einer Spaltung. Entlang dieser Spaltung und des fortdauernden Krieges verschärfen sich die Gräben. Korruption, Nationalismus und Flucht reiben das Land von innen auf. Corona hat hässliche Ungleichheiten verstärkt und größer gemacht. Hoffnung auf eine Verbesserung sehen die einen im Westen, die anderen im Osten.

Wörtliche Zitate ohne Quellenangaben stammen aus Interviews, die die Autorin im Rahmen ihrer Reise geführt hat. Diese Reportage ist u.a. durch die Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert worden. Eine inhaltliche Einflussnahme der Stiftung fand zu keinem Zeitpunkt statt.

Literatur

Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) (2015): Krimtataren geraten noch mehr unter Druck. Aktuelles, 23.11.2015.

Kolb, M. (2014): Ukraines Ex-Präsident Janukowitsch: Akten der Arroganz. Süddeutsche Zeitung, 26.02.2014.

Pleines, H. (2022): Analyse: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen: Was ist möglich? Ukraine-Analysen Nr. 261. Bundeszentrale für politische Bildung, 14.02.2022.

Transparency International (o.J.): Corruption perceptions index. Online database. transparency.org/en/cpi.

Trippe, Ch. (2017): Bis heute nicht aufgeklärt. Brand im Gewerkschaftshaus in Odessa. DW online, 01.05.2017.

Lisa Neal ist freie Autorin und promoviert zum Thema auswärtige Sicherheitspolitik der EU. Sie arbeitet am Institut für Theologie und Frieden, Hamburg, und lehrt zu Konfliktethik.

Sicherheitsrisiko KSK


Sicherheitsrisiko KSK

von Jürgen Nieth

„Ein Sturmgewehr AK-47, Tausende Patronen, kiloweise Plastiksprengstoff mit Zünder, ein SS-Liederbuch, Zeitschriften für ehemalige Angehörige der Waffen-SS, mehrere Thor-Steinar-Shirts. Was bei einem KSK-Soldaten Mitte Mai gefunden wurde, beschrieb Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) als ‚neue Dimension‘.“ (Sebastian Erb in taz, 4.7.20, S. 10)

Die »neue Dimension« hat einen Namen. „Oberstabsfeldwebel Philipp Sch. diente fast zwei Jahrzehnte beim KSK, war etliche Male in Afghanistan und bei anderen Auslandseinsätzen der Bundeswehr dabei. Im Kommando nannten ihn viele den »Nazi-Opa«, weil er schon deutlich über vierzig war.“ (Spiegel, 27.6.20, S. 29)

Und die »neue Dimension« hat eine lange Vorgeschichte.

„Chronik der Unrühmlichkeiten“

überschreibt die Welt (6.7.20, S. 8) die Geschichte rechtsextremer Vorfälle im KSK. Es ist eine lange Liste. Hier nur ein paar Auszüge.

1997 berichtete ein Soldat, der sich 1995 zur Kommandokompanie in Nagold-Calw gemeldet hatte, aus der später das KSK hervorging, über seine Lehrgänge in sieben verschiedenen Kasernen: „[E]r habe in jeder Kompanie rechtsextreme Vorgesetzte und Vorgänge erlebt. Er schildert unter anderem das Singen von Wehrmachtsliedern, Schindereien und Nazisprüche.“ Das Verteidigungsministerium bestritt die meisten Vorwürfe.

2003 lobt der „damalige KSK-Kommandeur Reinhard Günzel […] die antisemitische Rede des früheren CDU- und heutigen AFD-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann. Günzel dankt Hohmann für den ‚Mut zur Wahrheit‘, er habe ‚der Mehrheit unseres Volkes eindeutig aus der Seele gesprochen‘.“ Günzel wurde daraufhin unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassen. (Am 5.7.20 heißt es dazu in der FAS auf S. 3: „Der Fall Günzel beschäftigte die Soldaten damals nicht weiter. Obwohl er entlassen war, blieb er ‚der Papa da, der wurde respektiert‘.“)

2007 versendet der KSK-Hauptmann Daniel K. „eine Drohmail […]: ‚Ich beurteile sie als Feind im Inneren und werde mein Handeln daran ausrichten, diesen Feind im Schwerpunkt zu zerschlagen.‘“ Daniel K. wurde trotz Diziplinarmaßnahme später befördert und erst zwölf Jahre später vom Dienst suspendiert.

2017 feiern 60 Elitesoldaten der 2. Einsatzkompanie den Abschied ihres Kompaniechefs: „Die Rede ist vom Werfen mit Schweineköpfen, von Hitlergrüßen und Rechtsrock.“ Es gab Disziplinarverfahren gegen mehrere Beteiligte.

Rechte Netzwerke

Alles Einzelfälle oder stecken dahinter rechte Netzwerke? Am 4.7.20 berichtet die SZ auf S. 2: Im KSK „hat es Partys gegeben, bei denen der Hitlergruß gezeigt wurde, und selbst die Vorgesetzten haben sich offenbar nicht daran gestört, dass viele ihrer Leute sich nicht als Team Grundgesetz begriffen, sondern als Team 88 feierten und inszenierten, der rechtsradikale Szenecode für Heil Hitler, weil H der achte Buchstabe des Alphabets ist – das war das Rufzeichen der Kommandozentrale. Ganz offiziell.“

In der taz (4.7.20, S. 10) heißt es: Ende 2018 sagte der Chef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), es „gebe keine rechtsextremen Netzwerke in der Bundeswehr. Und 2019: Es gebe Vernetzung aber kein Netzwerk. In dieser Woche sprach er dann von ‚Netzwerken und Strukturen‘. Die Rechtsextremisten sind aber nicht erst kürzlich mit Ufos […] in die Bundeswehr geflogen.“

AKK zieht die Reißleine

In einem Interview mit der SZ (1.7.20, S. 2) spricht die Verteidigungsministerin davon, dass sich Teile des KSK verselbstständigt hätten, „auch weil es eine toxische Führungskultur Einzelner gab“. Sie kündigte als Schlussfolgerungen an, dass „die 2. Kompanie zum 1. August ersatzlos aufgelöst [wird]. Das unbelastete Personal wird – soweit möglich – die verbleibenden Kompanien aufstocken. Andere werden aus dem KSK herausversetzt.“ Weiter soll das „System der in sich geschlossenen Ausbildung beim KSK aufgebrochen und „innerhalb des Verbandes ein Rotationsprinzip eingeführt“ werden. Das KSK wird „bis auf Weiteres keine Übungen und internationalen Einsätze und Kooperationen mehr wahrnehmen“. Kramp-Karrenbauer spricht davon, dass man beim Aufklärungsversuch zur Abschiedsfeier des Chefs der 2. Kompanie bisher „auf eine Mauer des Schweigens gestoßen [ist]. Bei manchen aus Zustimmung, bei anderen aus Angst.“ Eine Mauer, die aber Risse bekomme.

Schlussfolgerungen

Ist das KSK reformierbar und wenn ja, wie? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die neue Wehrbeauftragte des Bundesstages, Eva Högl (SPD), plädiert für die Wiedereinführung der Wehrpflicht und bekommt Widerspruch von ihren Parteivorsitzenden: Die Wehrpflicht „steht nicht im Zusammenhang mit der gefährdeten Demokratiefestigkeit einzelner Bereiche der Bundeswehr, die nie mit Wehrpflichtigen besetzt worden sind“ (ND 6.7.20, S. 5). Peter Dausend (Zeit, 9.7.20, S. 1) hält wie andere fest: „Rechtsextreme Auswüchse gab es vor der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 – und es gibt sie seitdem […] Wehrpflicht ist kein Gegengift gegen Rechtsextremismus in Uniform.“

Andere sehen in der Aufnahme von Frauen einen wichtigen Schritt, um die „Männerwelt“ des KSK aufzubrechen und die „Truppe wieder näher an die Zivilgesellschaft“ heranzuführen (Joachim Käppner in SZ 6.7.20, S. 4).

Das nd (2.7.20, S. 1) zitiert Tobias Pflüger (Linke): Das KSK „gerät seit Jahren immer wieder und auf allen Führungsebenen mit rechtsradikalen Vorfällen in die Schlagzeilen“. Die Vorfälle seien „Grund genug, einen Schlussstrich unter das Kapitel KSK zu ziehen“.

Das heute etwa 1.700 Soldaten umfassende Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr wurde 1996 nach dem Vorbild US-amerikanischer, britischer und französischer Elitetruppen aufgestellt. Es besteht „aus sechs Einsatzkompanien, vier davon als Kommandokompanien spezialisiert unter anderem auf Geiselbefreiungen und Terroristenbekämpfung“ (Spiegel 27.6.20, S. 27). Die Soldaten sind strengster Geheimhaltung verpflichtet. Über die verdeckten Einsätze werden auch nur wenige Abgeordnete des Bundestages im Geheimen informiert.

Zitierte Presseorgane: FAS – Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, nd – Neues Deutschland, DER SPIEGEL, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, DIE WELT, DIE ZEIT.

An allen Fronten – Auf allen Ebenen!


An allen Fronten – Auf allen Ebenen!

22. IMI-Kongress, Tübingen, 7.-9. Dezember 2018

von Jürgen Wagner

Der 22. Kongress der Informationsstelle Militarisierung fand, dieses Jahr etwas später als gewohnt, von 7. bis 9. Dezember 2018, wie immer in Tübingen, statt. Thema war – die Debatte um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO aufgreifend – »Deutschlands Aufrüstung: An allen Fronten – Auf allen Ebenen!«. Zwischen 70 und 140 Personen waren jeweils bei den Vorträgen präsent, insgesamt dürften über 200 Menschen Teile des Kongresses besucht haben. Viele Besucher*innen aus entfernteren Gegenden reisten bereits zur Auftaktveranstaltung am Freitagabend an, die in der Hausbar des Wohnprojekts Schellingstraße – einer ehemaligen Kaserne – stattfand. Dort wurde in einem kurzen Vortrag zu Beispielen der Konversion – also der zivilen Nutzung vormals militärischer Flächen – in die Thematik eingeführt. Anschließend gab es noch eine Art Kneipen-Quiz zu Ritualen bei der Bundeswehr, bei dem v.a. viel gelacht und eines klar wurde: Es gibt Weniges, was die Anwesenden sich vorstellen konnten und gelangweilte Soldat*innen nicht schon durchgeführt und ritualisiert hätten.

Der erste Veranstaltungsblock am Samstag beschäftigte sich mit dem Thema »Deutschland im Rüstungsfieber«. Dabei spielten der steigende Verteidigungshaushalt und die Großprojekte ebenso eine Rolle wie die planerischen Grundlagen der jüngsten Rüstungsbemühungen – »Konzeption« und »Fähigkeitsprofil« der Bundeswehr (siehe dazu Jürgen Wagner, Verschwimmende Grenze, auf S. 30 in dieser W&F-Ausgabe). Anschließend wurde auch auf die Veränderungen in der deutschen Rüstungslandschaft eingegangen. Ausführlich wurden in weiteren Panels die aktuellen Rüstungsvorhaben in den Bereichen Polizei, Informationstechnologie und Atomwaffen behandelt. Die Abendveranstaltung zur »EU auf dem Weg zur Rüstungsunion« wurde kurzfristig in einen von Aktivist*innen und Studierenden angeeigneten Hörsaal verlegt. Der Hörsaal war eine Woche zuvor im Anschluss an eine Demonstration gegen den Forschungscampus »Cyber Valley«, an dem auch die Rüstungsindustrie beteiligt ist, besetzt worden. Zu den Forderungen der Besetzenden gehörte u.a. eine Zivilklausel für die gesamte Stadt.

Der Sonntag stand zunächst ganz im Zeichen der »Gegenkonversion«, also der (Re-) Militarisierung von Flächen. Das Thema wurde zu Beginn anhand der »Militärischen Mobilität« und des geplanten NATO-Logistikkommandos in Ulm behandelt, und es wurde erläutert, wie auf dieser Basis künftig vermehrt Gelder nach militärischen Nützlichkeitserwägungen in Infrastrukturprojekte zur schnellen Verlegefähigkeit, insbesondere nach Osteuropa, gelenkt werden sollen. Im Anschluss ging es konkret um »Die militärische (Rück-) Eroberung der Fläche: (Re-) Aktivierung alter und neuer Liegenschaften«, die aktuell drei verschiedene Formen annimmt: erstens die Inbesitznahme ziviler Flächen durch das Militär, teilweise, um den Verlust von (anderen) Flächen, die einer zivilen Nutzung zugeführt werden sollen, auszugleichen; zweitens die Reaktivierung aufgegebener Flächen, Liegenschaften und Ressourcen; und drittens der Abbruch oder die Verzögerung eines Konversionsprozesses.

Das Abschlusspodium des diesjährigen Kongress fokussierte sich auf aktuellen Widerstand gegen Aufrüstung. Mit dabei waren Aktivist*innen aus Ulm gegen das geplante NATO-Logistikkommando sowie vom bundesweiten Jugendnetzwerk für politische Aktion (JunepA), vom Tübinger Bündnis gegen das »Cyber Valley« und vom Kassler antimilitaristischen Aktionsbündnis »Block War«. Abgesehen von der Darstellung der jeweiligen politischen Auseinandersetzungen und auch Erfolge, ging es darum, zu erörtern, wie die anti-militaristischen Bewegungen gestärkt werden können. Ein Fazit war, dass die Vernetzung mit Bewegungen aus anderen Spektren, wie den Wohnraumbündnissen und Naturschutzverbänden, intensiviert werden könnte.

Jürgen Wagner

Vorwärts, aber wohin?


Vorwärts, aber wohin?

von Jürgen Nieth

Deutschland und Frankreich haben genau 56 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags am 22. Januar in Aachen einen Freundschaftsvertrag unterzeichnet. „Das Abkommen sei eine Antwort auf Populismus und Nationalismus, sagte die Bundeskanzlerin; der französische Präsident sprach pathetisch von einem »Schutzschild unserer Völker gegen die neuen Stürme in der Welt«.“ „Geht es nicht eine Nummer kleiner?“, fragt Nikolas Busse in der FAZ (23.1.19, S. 1). Auch das ND (23.1.19, S. 19) titelt: „Viel Pathos gegen Populismus“. Die Schweizer NZZ (23.1.19, S. 3) setzt als Headline „Ein Zeichen gegen den Zeitgeist“. Sie sieht den Vertrag als Gegenmodell zu »Mein Land First« und „gewissermaßen als Gegen-Brexit inszeniert“.

Andere reagieren fast euphorisch. Für Nils Minkmar ist „der Vertrag von Aachen ein Wunder, […] ein Frühlingsversprechen, eine erfrischende Geste politischen Übermuts“ (Spiegel 26.1.19, S. 111). Daniel Brössler schreibt in der Süddeutschen Zeitung (23.1.19, S. 4): „Sie haben sich zur Verantwortung Frankreichs und Deutschlands bekannt für ein Europa, das bedroht von außen wie von innen in existenzieller Gefahr schwebt.“ Und für Rudolf Balmer (taz 23.1.19, S. 12) ist der Vertrag „im Kontext der gegenwärtigen EU im wörtlichen Sinne richtungsweisend – und darum trotz kleiner Fortschritte geradezu mutig“.

Auszüge aus dem Vertragstext

Artikel 3
„Beide Staaten vertiefen ihre Zusammenarbeit in
Angelegenheiten der Außenpolitik, der Verteidigung, der äußeren und inneren Sicherheit und der Entwicklung und wirken zugleich auf die Stärkung der Fähigkeit Europas hin, eigenständig zu handeln […]“

Artikel 4
(3) Beide
Staaten […] intensivieren die Erarbeitung gemeinsamer Verteidigungsprogramme und deren Ausweitung auf Partner. Hierdurch beabsichtigen sie, die Wettbewerbsfähigkeit und Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern. Sie unterstützen die engstmögliche Zusammenarbeit zwischen ihren Verteidigungsindustrien… Beide Staaten werden bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte entwickeln.“

Zweifel an der Realisierbarkeit

Für Sascha Lehnartz (Welt 22.1.19, S. 8) sind die oben zitierten Zielvorstellungen nur „schwer unter einen Hut zu bringen […] Frankreich ist eine Atommacht mit einem Präsidenten als Oberbefehlshaber, der sein Parlament im Nachhinein über seine Entscheidung informieren kann. Als ehemalige Kolonialmacht hat Frankreich nach wie vor wenig Hemmungen nationale Interessen […] bei Bedarf militärisch zu schützen […] Deutschland hat eine Parlamentsarmee […] und militärische Einsätze müssen zuallererst moralisch legitimiert werden. Der Primat der Moral gilt erst recht für Rüstungsexporte.“

Auch für die Berliner Zeitung (23.1.19, S. 4) liegen „Wunsch und Wirklichkeitin dem Aachener Vertrag „noch weit auseinander“.

Bei Nikolas Busse (FAZ 23.1.19, S. 1) liest sich das so: „Die tief ins Grundsätzliche reichende Uneinigkeit in Fragen der Verteidigung und der Rüstung, die in dem Abkommen nur mühsam überkleistert wurde, bleibt eines der großen Hindernisse für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.“ Wohin die Reise gehen soll, wird im Abschlusssatz seines Kommentars deutlich: „Hier hat vor allem die deutsche Politik die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt.“ Soll wohl heißen: mehr Bereitschaft zu Militäreinsätzen, weniger Schranken für Rüstungsexporte.

Mehr Interventionen und Rüstungsexporte?

Die Reden von Macron und Merkel in Aachen lassen hier aufhorchen.

„Künftig sollen die Streitkräfte beider Länder ihre Rüstungsgüter aus europäischer oder deutsch-französischer Produktion beziehen. Macron sagt zur Begründung, auf diese Weise könnten die Amerikaner nicht sagen, dass ihre Waffen bei einem bestimmten Militäreinsatz nicht verwendet werden dürften.“ Angela Merkel „stimmt zu, es sei Unfug, wenn die Europäer selbst »um die Welt rennen« um zwei verschiedene Kampfflugzeuge […] zu verkaufen“. Und weiter: Beim Waffenexport dürfen wir uns nicht über den Export jeder Schraube in die Haare geraten“ (Johannes Leithäuser und Michaela Wiegel in FAZ 23.1.19, S. 2).

Hans-Georg Ehrhart, Senior Fellow am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik/IFSH, schreibt dazu in einem Gastkommentar für den Freitag (24.1.19, S. 9): „Paris darf hoffen, dass Berlin künftig der interventionsfreudigeren französischen Politik folgt […] [Es] besteht die Gefahr, dass nun konservative Abgeordnete ihren Versuch wiederholen, den Parlamentsvorbehalt aufzuweichen.“

Vorwärts, aber wohin?

„Nach dem Austritt Großbritanniens wächst das Gewicht dieses Duos [FR und D] in einem Maße, das andere EU-Staaten nicht gleichgültig lassen wird […] [und] für die Entwicklung der EU so gefährlich werden [kann], wie es das Desinteresse der beiden größten Länder des Bündnisses wäre“, schreibt Gerd Appenzeller im Tagesspiegel (22.1.19, S. 1).

Kritik auch von René Heilig (ND 23.1.19, S. 1): Wer die Union retten will, kann das nicht im Duo tun. Und schon gar nicht mit einem Vertrag, in dem gemeinsame akzeptable Sozialstandards für jene, die den relativen Wohlstand in den Vertragsnationen schaffen, nicht einmal als Vision vorkommen. Dass man dafür aber viel über Militärkooperation, Rüstungsexport und Migrationsabwehr findet, macht den gemeinsamen Weg in die Zukunft wahrlich höchst suspekt.“

Die Berliner Zeitung (23.1.19, S. 4) zitiert dazu Sevim Dagdelen (MdB Die Linke): „Statt Europa als Kontinent des Friedens zu einen, vertiefen Kanzlerin Merkel und Präsident Macron mit dem binationalen Deal zur weiteren Militarisierung die Spaltung der EU.“

Ein Fragezeichen setzt Hans Georg Ehrhart vom IFSH: „Beide wollen ein Zeichen setzten für mehr Europa. Die entscheidende Frage ist aber: Soll diese sicherheitspolitisch autonome EU als Großmacht im klassischen Sinne handeln oder als Friedensmacht, die auf friedlichen Wandel und die Stärke des Rechts setzt?“ (Freitag, s. o.)

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine, Freitag, ND – Neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Spiegel, SZ – Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, Welt.

Gewalt, Geschlecht und Militär


Gewalt, Geschlecht und Militär

Die Bundeswehr auf feministischem Terrain?

von Tim Bausch und Carolina Rehrmann

Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden befasst sich in seinem Repertoire mit Themen der Gewalt und deren Folgen. Gegenwärtig werden im Rahmen der Sonderausstellung »Männlicher Krieg – Weiblicher Frieden? Gewalt und Geschlecht« auch gendersensible Exponate angeboten. Die Ausstellung konstituiert sich neben den geschlechtlichen Koordinaten auch über Aspekte der Gewalt und des Friedens. Der Zusammenhang von Gewalt und Geschlecht leuchtet ein. Schließlich sind geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Machtstrukturen und somit auch immer von Formen der (symbolischen) Gewalt geprägt. Ist Feminismus also en vogue? Was bedeutet es, wenn sich die Bundeswehr mit solchen Themen beschäftigt? Die Ausstellung mit etwa 1.000 Objekten und Werken lädt noch bis 18. Oktober 2018 dazu ein, genauer hinzuschauen.

Unser Beitrag widmet sich der aktuellen Sonderausstellung »Gewalt und Geschlecht. Männlicher Krieg – Weiblicher Frieden?« des Militärhistorischen Museums in Dresden. Bewusst nutzen wir den dort vorgefundenen Erfahrungsraum für weiterführende Gedanken zur Kunst- und Institutionskritik.

Prolog | Wissensvermittlung zwischen Repräsentation und autonomer Kritik

Nach einer kurzen theoretischen Reflexion zu den Prämissen der Gendertheorie widmen wir uns den Ausstellungsinhalten, die zunächst zusammengefasst und alsdann kritisch bewertet werden.

Leitend ist dabei die Auffassung, dass Ausstellungen als hybrides Darstellungsmedium (vgl. Muttenthaler/Wonisch 2006, S. 37) in besonderer Weise dazu geeignet sind, den*die Besucher*in über die ästhetische Verknüpfung haptischer, akustischer und visueller Elemente intellektuell und sinnlich zu stimulieren. Ausstellungen können den Raum spielerisch zur Verbindung oder auch zur Kontrastierung unterschiedlicher Narrative nutzen und dabei umkämpftes Wissen spür- und erfahrbar machen, indem sie den*die Besucher*in zu geistiger Reflexion und emotionalem Erleben einladen. Da künstlerische Interventionen mit politischer Positionierung einhergehen, sollte jede*r kritische Besucher*in sich fragen, wie sich das Grundnarrativ einer Ausstellung zur sozialen Wirklichkeit verhält.

Dementsprechend können sich Ausstellungen darauf beschränken, lediglich soziale Rangordnungen abzubilden oder Kontingenz (die Möglichkeit eines Ereignisses, bei gleichzeitiger Nichtnotwendigkeit), Multiperspektivität und Relativität betonen. Im letzteren Fall werden Hierarchien und symbolische Positionierungen etwa durch Ironisierungen, Distanzierungen und Überformungen bewusst infrage gestellt. Erst dadurch gewinnt die Kunst ihre eigentliche Autonomie (vgl. Adorno: l’art pour l’art).

In diesem Sinne verstehen wir Ausstellungen als kreative Erfahrungsräume, die idealiter nicht bloß informieren, sondern irritieren sollten, um vor allem das Marginalisierte jenseits rationalistischer Paradigmen sichtbar zu machen. Im Sinne einer Orientierung an der Trias von Emanzipation, Imagination und Utopie belassen wir es deshalb nicht bei einer deskriptiven und abstrahierten Reproduktion der Inhalte, sondern nutzen den Erfahrungsraum der Ausstellung für weiterführende Impulse und Gedanken.

Sonderausstellung | Im Modus der Dekonstruktion

Die heteronormative Prämisse von der gleichsam naturgegebenen Passivität und unkontrollierten Gefühlswallung der Frau gegenüber angeborenen aggressiven Impulsen des Mannes nebst seiner Gabe zur rationalen Reflexion erscheint (auch wenn die zwei Letzteren zugegeben in einem gewissen Spannungsfeld stehen) so alt wie die Menschheit selbst. Im Kielwasser von Poststrukturalismus und Postmoderne mit ihrem Siegeszug des Hybriden, Relativen und Subjektiven machte die Genderwissenschaft derartigen Stereotypen den Garaus. So verweist sie einerseits auf die soziale Konstruktion geschlechterspezifischer Selbstverständlichkeiten und Verhaltensweisen, beispielsweise mit Blick auf die wirkmächtige Idee der ethnisch-exklusiven Nation und ihren zugewiesenen Genderrollen (so basieren die Ideen Vater Staat und Mutter Nation vornehmlich auf männlichem Kampfgeist und weiblicher Reproduktion). Andererseits macht sie die inhärenten Machtstrukturen sichtbar (vgl. Butler 1990/ 2009 und Yuval-Davis 1997).

Indes: Was einer weiß, macht einen noch lange nicht heiß. Einblicke in kritisch-reflexive Wahrheiten haben die hohen Sphären (populistischer) Machtpolitik und die alltäglichen des Normalen, Bekannten und Bequemen bisher im globalen Kontext wenig tangiert, ganz besonders nicht in den elementaren Katalysatoren der Zivilisationsgeschichte: Krieg und Frieden. Denn sind soziale Rollen nicht erst seit der Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche heute mehr denn je effektivstes Mittel für Anerkennung, erfolgreiche Performance und Gewinnmaximierung geworden, so sind klassische Genderrollen einmal mehr mit traditionellen Strukturen verbunden, die nationale Identitäten und sexuelle Beziehungen genauso formen wie sie Vormundschaft und Exklusion begründen. Kritik an der als selbstverständlich empfundenen Norm ist daher nicht nur unbequem, sondern mitunter gefährlich, weil sie zugleich an viel mehr rüttelt als an einem bis heute auch in Wissenschaftskreisen oftmals stiefmütterlich behandelten Klischee.

Zeit also, dass sich eine an Bildern und Geschichte(n) reiche Ausstellung unter dem Titel »Gewalt und Geschlecht – Männlicher Krieg, weiblicher Frieden?« dem Thema widmet. Die Sonderausstellung wird im militärhistorischen Museum in Dresden gezeigt – man hätte sich vielleicht keinen passenderen Ort vorstellen können. Erklärtes Ziel ist es, im Sinne der kritischen Dekonstruktion Mauern des herkömmlichen Denkens einzureißen und den Blick der Besucher*innen auf die vielen Facetten der historischen und gegenwärtigen Essentialisierung von Frau und Mann im Sinne der oben genannten Dichotomie zu lenken. Ausgehend von Bourdieus (2006) Sentenz von der Verankerung männlicher Hegemonie durch die »Waffen der physischen und symbolischen Gewalt« präsentiert sich die Ausstellung als bunter Querschnitt von Photographien, Gemälden und Dokumenten durch die Jahrhunderte, Kulturen und Gesellschaftsbereiche von stilisierter wie untypischer Männlichkeit und (vor allem) Weiblichkeit.

Historische Kriegsphotographien zeigen Bilder männlicher Gewalt. Sie reichen von Massakern der Nazis bis zum Apartheidregime und sensibilisieren für die Problematik sexualisierter Gewalt gegen Frauen, die entgegen tradierter Vorstellungen keineswegs nur Nebenprodukt von Krieg ist, sondern als Waffe zur Demoralisierung des Feindes und als verlockender Lohn für den Kampfgeist des Soldaten einen elementaren Bestandteil von Kriegsführung darstellt: Sie zeigen Frauen als Kriegstrophäe der Wehrmacht, Sexdienstleisterinnen der US-Armee in Vietnam oder von IS-Terroristen zwangsprostituierte Jesidinnen. Ebenso im Fokus stehen der normierte Frauenkörper als Hüter der (männlichen) Ehre und die Sanktionierung jeglichen Abweichens – im drastischsten Fall durch »Ehrenmord«.

Die Ausstellung bemüht sich um die Sichtbarmachung der dramatischen Folgen von Gewaltkonflikt, Patriarchat und Sexismus im Kontext moderner Kriegsführung mit ihrem hohen Anteil an Zivilopfern und liegt damit im Zeitgeist des friedenspolitischen Gendermain­streaming (vgl. zu Letzterem u.a. United Nations 2002). Wer die Ursprünge derartiger diskriminierender Strukturen sucht, findet endlose kulturgeschichtliche Anknüpfungspunkte. Historische Gemälde und Dokumente geben in diesem Sinne den Blick auf die tieferen Wurzeln normativer Genderrollen frei. Sie reichen von höfischen Geschlechterklischees, von Inquisition und der mittelalterlichen Züchtigung »streitsüchtiger« Frauen durch die so genannten Halsgeigen über den »Kraftmesser« als Jahrmarktattraktion für das Messen von Männlichkeit bis zu neuzeitlicher Medizin, die Frauen natürliche Neigungen zu Hysterie und anderen psychischen Leiden unterstellen wollte.

Auf Basis dieser Herleitung spannt die Ausstellung dann einen Bogen zur modernen Gesellschaft, der von Männerportraits auf Zeitschriftencovern, der traditionellen Geschlechtertrennung in bestimmten Berufsgruppen, sexueller Gewalt gegen Frauen durch digitale Medien bis zur Stilisierung von Genderrollen durch die Spielzeugindustrie reicht. Am Ende wird so den widerstrebenden Sphären der Norm eine effektive Bühne bereitet: Sie ist als Gegenstück zum ersten Ausstellungsteil konzipiert und zielt auf die Dekonstruktion des Stereotyps weiblicher Passivität und Unzulänglichkeit. Den Besucher*innen präsentieren sich Portraits weiblicher Gladiatorinnen, Frauenbilder als Märtyrerinnen in der biblischen Lehre, Regentinnen wie Katharina von Medici, Informationstafeln über die mittelalterliche Macht von Maitressen und politische Ikonen der Neuzeit und Gegenwart, wie Indira Gandhi und Benazir Bhutto, zu denen sich Peschmerga-Kämpferinnen, Modeschöpferinnen, Spitzensportlerinnen und Drohnenpilotinnen gesellen. Auch von Frauen verübte Grausamkeiten, wie die der »Hexe von Buchenwald« Ilse Koch, die taktische Nutzung der Geschlechterstereotypen durch weibliche Selbstmordattentäterinnen oder etwa der weitverbreitete Widerwille, eine Frau wie Beate Zschäpe als Akteurin rechtsextremer Mordserien anzuerkennen, werden schließlich thematisiert.

Würdigung | Kritische Einordnung und weiterführende Gedanken

Die Ausstellung bietet eine ganze Bandbreite an unterschiedlichsten Exponaten, die einem breiten Publikum die genderrelevanten Facetten von Krieg und Frieden vermitteln. Dabei verbindet sich Populärkulturelles der Gegenwart mit Historischem, soziale Lebenswelt mit Gewaltkontext, die unterschiedliche Formen struktureller und direkter Zwänge thematisieren. In diesem Sinne ist die sozialwissenschaftliche Grundierung durch Pierre Bourdieus (2006) Konzept der »symbolischen Gewalt«, wie sie im Ausstellungskatalog und in den Informationstafeln erscheint, durchaus überzeugend, auch wenn die Ausstellung sowohl in ihrer thematischen Breite als auch in der Voraussetzung wissenschaftlicher Expertise für ein breites Publikum sehr anspruchsvoll und möglicherweise zu wenig fokussiert erscheint.

Was indes mehr ins Auge sticht, ist das, was fehlt. Denn die Ausstellung tut nicht weh und wagt sich kaum in die Sphären des Sensiblen und Kontroversen – vor allem nicht in Bezug auf die Bundeswehr selbst. Auch kann man sich fragen, inwiefern eine Reifizierung (Vergegenständlichung) dessen stattfindet, was dem Anspruch nach dekonstruiert werden soll. In der Exposition steht nämlich – hier spiegelt die Ausstellung auch den thematischen Schwerpunkt der Genderwissenschaft wider – wieder einmal vor allem die Frau als Projektionsfläche männlicher Phantasien und als Sinnbild der sie umgebenden Machtstrukturen im Fokus.

Tradierte Frauenbilder als Stereotypen zu entlarven, indem man Gegenbeispiele anführt, erscheint vor diesem Hintergrund zwar folgerichtig. Eine wirkliche Dekonstruktion der impliziten Selbstverständlichkeiten im idealtypischen Verständnis von Mann und Frau bietet sich aber kaum, weil die Kritik an der zweiten Seite der Medaille weitgehend ausspart bleibt: die Sphäre idealisierter bzw. selbstverständlicher Männlichkeit. Bilder männlichen Kampfgeistes und (struktureller) Gewalt durch Männer finden sich zwar in etlichen, aber zugleich auch altbekannten, kaum irritierenden Variationen. Genau die Prämissen vermeintlich angeborener männlicher Eigenschaften (wie der Hang zu aggressiven Impulsen und die Fähigkeit zu kalter Rationalität) lassen die Kriege alternativlos und Konfliktstrukturen als natürlich erscheinen. Dies erfolgreich in Frage zu stellen, hätte (wie die Ausstellung es für die Idee des Weiblichen ja durchaus tut) bedeutet, die sozialen Konstruktionsprozesse sichtbar zu machen, die den heteronormativen Idealtypus Mann entstehen lassen.

In der Darstellung tradierter Männlichkeitskulte und der Verherrlichung von Gewalt oder über Homosexualitäts- oder Transgenderdebatten hätte sich die Ausstellung beispielsweise eines breiten Fundus an bestehenden, kritischen Diskursen bedienen können, die viel mehr Irritations- und Anregungspotential besitzen. Das gilt im vorliegenden Kontext natürlich besonders für die (De-) Konstruktion aggressiver Männlichkeit (und die verbundene Abwertung von Weiblichkeit) im Militär. Denn die auch durch kleinere Reformen im Kern unangetasteten patriarchalen Strukturen der Institution Bundeswehr und sie betreffende kritische Kontroversen bleiben hier ausgespart. Es wäre ehrlicher gewesen, das Zusammenwirken von Geschlecht und Gewalt in der eigenen Sphäre kritischer zu reflektieren, indem man das Militär als Form organisierter Gewalt und seinen latenten oder offenen Chauvinismus und Sexismus als Disziplinarmacht sichtbar macht – eine Grundproblematik, die sich auch durch die Anhebung des Frauenanteils in der Bundeswehr nicht grundsätzlich verändert hat. Eine gendersensible Ausstellung, die die Strukturen der eigenen Institution weitestgehend unkommentiert lässt – einmal mehr vor dem Hintergrund, dass das militärhistorische Museum einst lediglich der Schau von Kriegsgeräten diente – erscheint damit leicht als Imagestrategie. Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Krista Hunt (2006) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des »embedded feminism«. Darunter wird die strategische Einverleibung feministischer Diskurspositionen verstanden. Diese Form der Inkorporierung dient mächtigen Akteur*innen als Form der (Selbst-) Legitimierung eigener Ziele. Entsprechend ist hier Feminismus das Mittel zu einem anderen Zweck.

So überrascht es nicht, dass die Sonderausstellung sich in ihrem deutlichen Fokus auf Weiblichkeit und Zivilgesellschaft kaum in die festen Ausstellungskomponenten integriert. Sie bleibt so – wenn überhaupt – ein Tropfen auf dem heißen Stein. Kritisch-reflexive und holistische Ansätze, die den Einfluss von Gesellschaft, Kultur und Staatsapparat in der Konstruktion von Genderstereotypen und verbundenen Hierarchien des Militärs zeigen und um kritische Aufklärung bemüht sind, finden sich kaum. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass sich die Bundeswehr populärer, zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Debatten bedient, ohne die Sphären des für sie selbst Unbequemen zu tangieren. Solch eine Betrachtung stellt sicher, dass die kritische Kampfzone kein Terrain an militärische Akteure verliert und ist damit Symptomkosmetik statt Ursachenbekämpfung.

Das wirkt umso plausibler, wenn man die gegenwärtigen Marketingstrategien der Bundeswehr betrachtet. Sie erscheinen sowohl als Antwort auf eben jene, beispielsweise an den jüngsten Skandalen sexueller Gewalt oder dem Druck auf weibliche Rekruten (wie in der Debatte um die verunglückte Soldatin auf der Gorch Fock) entzündete, Grundsatzkritik als auch als Instrument der Attraktivitätssteigerung für die Rekrutierung neuen Personals nach der Abschaffung der Wehrpflicht. Plakate im öffentlichem Raum mit der Aufschrift Auch bei uns haben Frauen das letzte Wort: Als Chefin“ zeugen von solchen Strategien.

Neben dieser kritischen Selbstreflexion der militärischen Sphäre hätte die Ausstellung vielfältige Möglichkeiten einer Infragestellung des Selbstverständlichen über Irritation, Interaktion und schmerzhafte Denkanstöße nutzen können, die postkolonialen und postmodernen Diskursen zentralen Platz einräumen (man denke an Banksys Walled Off Hotel, siehe auch Bausch/Stein 2017). Schließlich besitzt das Darstellungsformat theoretisch die nötigen didaktischen Eigenschaften, um neue Denkbewegungen zu fördern. „In der Begegnung mit dem Unverfu¨gbaren u¨bersteigt der Besucher seine perso¨nlichen, ihn im Alltag fesselnden Beschränkungen, und bleibt doch er selbst.“ (Klein 2004: S. 163) Kritisches Denken, so könnte man sagen, bedarf eben auch immer einer Auseinandersetzung mit dem Unverfügbaren, um die Grenzen des eigenen Bewusstseins zu überschreiten oder zumindest herauszufordern. Durch die Konfrontation mit Transsexualität als Gegenstück zum Heteronormativen, durch ambi- oder polyvalente Collagen, Installationen und Filmsequenzen, die die Welt aus der Perspektive eines anderen Geschlechts konkret erfahrbar machen, oder etwa durch Illustration von politischen Protestbewegungen, die mit Genderrollen spielen, hätten solche Irritationsmomente erreicht werden können. Besucher*innen hätten so animiert werden können, die Selbstverständlichkeit des eigenen Geschlechts zu hinterfragen, indem man ihnen einen Spiegel vorhielte und so Empathie für die Wirkmacht von Geschlechterrollen motivierte. Nur so würden neue Handlungsräume sichtbar, neue Fragen aufgeworfen und kritische Diskurse für die Zukunft angestoßen.

Eine gelungene Ausstellung sollte also immer auch Kontroversen hin zu gesellschaftlichen Utopien befördern. Schließlich darf es Kritik nicht nur darum gehen, um es frei nach Marx zu formulieren, die Welt zu erklären, sondern sie zu verändern. Wissenschaft und Kunst müssen in diesem Sinne neben kritischer Reflexion immer auch den Mut besitzen, eine »Kartographie des Möglichen« (Rancière 2016) zu skizzieren.

Literatur

Bausch, T.; Stein, A. (2017): Zur Repräsentationsproblematik von Konflikten und der Macht zu definieren – Potenziale und Grenzen partizipativer und mehrperspektivischer Ausstellungsformate. In: Warnecke, A.; Reitmair-Juárez, S. (Hrsg.): Um Gottes Willen? Die ambivalente Rolle von Religionen in Konflikten. Stadtschlaining: Austrian Study Centre for Peace and Conflict Resolution, S. 68-85.

Bourdieu, P. (2013): Die männliche Herrschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Butler, J. (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge: New York [u. a.].

Butler, J. (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Klein, A. (2004): Expositum – Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld: transcript.

Krista, H. (2006): »Embedded Feminism« and the War on Terror. In: Hunt, K.; Rygiel, K. (eds.): (En)Gendering the War on Terror. War Stories and Camouflaged Politics. Hampshire & Burlington: VT.

Mutterthaler, R.; Wonisch, R. (2006): Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen. Bielefeld: transcript.

Rancière, J. (2016): Interview Thomas Claviez und Dietmar Wetzel mit Jacques Rancie`re. In: Claviez, T.; Wetzel D. (Hrsg.): Zur Aktualität von Jacques Rancie`re – Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer VS.

United Nations (2002): Gender Mainstreaming – An Overview. Office of the Special Advisor for Gender Issues and Advancement of Women: New York.

Yuval-Davis, N.: (1997): Gender and Nation. Sage Publications: New York

Tim Bausch arbeitet und promoviert am Institut für Politikwissenschaft/Lehrstuhl für Intern. Beziehungen in Jena. Als Sprecher der Jungen AFK vertritt er auch selbige Institution in der Redaktion der W&F. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben der Bewegungsforschung auch ästhetische Protestformen. 
Dr. Carolina Rehrmann arbeitet am Institut für Politikwissenschaft/Lehrstuhl für Intern. Beziehungen in Jena. Neben dieser Tätigkeit arbeitet Carolina Rehrmann außerdem am Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS). In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit (geschlechtlichen) Rollen und Rollenbildern.

Militär und Männlichkeit


Militär und Männlichkeit

Die Funktion militärischer Männlichkeitsmythen

von Sarah Steube

Das Militär ist eine vergeschlechtlichte Institution, in der Männlichkeit eine zentrale Rolle bei der Selbstkonstitution spielt. Dabei ist eine bestimmte Form von Männlichkeit im Rahmen des Militärs institutionalisiert und mystifiziert, um dessen Strukturen zu stützen. Diese können auch im Kontext hegemonialer Macht gesehen werden, da das Militär als staatliches Organ mit Gewaltmonopol eine Machtfunktion innehat. Auch in der Faszination des Militärs im zivilen Kontext, die sich in der popkulturellen Verarbeitung der Thematik oder in der Aneignung militärischer Muster zeigen, spielen die Faktoren Macht und Männlichkeit eine wichtige Rolle.

Männlichkeit im Militär soll hier in mehreren Aspekten beleuchtet werden: der Rolle des Körpers, der Integration von Frauen in das Militär und der Auswirkung militärischer auf zivile Fantasien von Männlichkeit. »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« werden in diesem Kontext weniger als grundlegende Unterschiede zwischen Männern und Frauen verstanden, sondern als Eigenschaftskomplexe, die die Zuschreibung klassisch weiblichen oder klassisch männlichen Verhaltens enthalten. So wäre zum Beispiel auch ein weiblicher Mann möglich, der sehr fürsorglich und emotional ist und somit weiblich besetzte Eigenschaften ausagiert. Weiblichkeit wird dabei als gefühlvoll, irrational, empathisch und schwach gesehen, während Männlichkeit als stark, rational und affektkontrolliert gilt, aber auch die Zuschreibung einer stark triebhaften Sexualität bekommt. Dabei folge ich einer dekonstruktivistischen Form der Kritik (Thomas 2011), die ich im Kontext des Militärs, dem viele implizite und naturalisierte Normen zugrunde liegen, als sinnvollste Kritikform erachte, da Kritik sonst letzten Endes systemimmanent bleibt.

Mythos um Körper und Männlichkeit

Der Körper spielt eine besondere Rolle, wenn man von Männlichkeit im Militär spricht. Er dient nicht nur der bloßen Erledigung der Aufgaben, sondern steht im Zentrum von Mythen über die Überwindung der Natur und die Bezwingung »weiblicher« Gefühle. Es ist ein Körper unter absoluter Kontrolle, der gestählt wird und großen Belastungen ausgesetzt ist, sowohl von außen als auch von innen, Letzteres z.B. durch die Bekämpfung von Anflügen von Schwäche, wie Angst oder Zögern (Szczepaniak 2010).

Auch der Drill im Rahmen der militärischen Ausbildung ist körperlicher Art. Der Körper wird dazu trainiert, Befehle auszuführen und in Extremsituationen zu gehorchen. Dies funktioniert vor allem durch eine ständige Überforderung, die wenig Raum für eigenständiges Denken lässt (Euskirchen 2005). Es bleibt keine Zeit, Befehle zu reflektieren und über deren Sinnhaftigkeit nachzudenken. Über den Körper wird so auch der Geist diszipliniert, da dieser sich dem Körper unterordnen muss. Sowohl offizielle als auch inoffizielle Rituale führen dazu, die Individuen zu einem »Körper«, der gemeinsam denkt und handelt, zu verschmelzen. Die Soldaten*innen werden soweit normiert, dass sie sich dem Zweck des Militärs optimal unterordnen lassen. Hierzu trägt auch die Uniformierung und die Fortbewegung im Gleichschritt bei. Diese Körperhaftigkeit ist eine explizit männliche.

Frauen im Militär können nicht ohne weiteres mit diesem Körper verschmelzen, da sie in ihrer Weiblichkeit als Störfaktor in der männlich strukturierten Organisation wahrgenommen werden. Eine Frau als Soldatin widerspricht dem Bild der Frau als schützenswertes, zerbrechliches Objekt. Zudem gefährdet die Sexualisierung der Frauen im Einsatz die als ungeschlechtlich geltenden Werte der Kameradschaft, in deren Kontext auch die Tabuisierung von Homosexualität verortbar ist. Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden häufig auf den Körper bezogen: Frauen dürfen z.B. lange Haare tragen, da eine Frau mit militärisch kurzem Haarschnitt dem Ideal von Weiblichkeit nicht entsprechen würde, obwohl praktische Gründe im Einsatz gegen diese Richtlinie sprechen (Dittmer 2009).

Frauen im Militär – Darstellung auf YouTube

Durch die Öffnung des Militärs für Frauen muss sich das Militär nun nicht mehr nur den weiblich besetzten Eigenschaften seiner männlichen Mitglieder stellen, sondern auch der Aufgabe, Frauen in ein männliches System einzugliedern, was die selbstkonstituierte Männlichkeit des Militärs zusätzlich herausfordert. Wenn Frauen den Soldatinnenberuf ergreifen, stören sie dieses Prinzip und irritieren naturalisierte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Dabei verändern sich auch die Diskurse, und neue Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit gewinnen an Bedeutung, zum Beispiel der »Beschützerinstinkt« der Männer gegenüber Frauen, der vor der formalen Integration von Soldatinnen in das Militär keine Relevanz besaß (Apelt 2015).

Die Strategien von Frauen, mit Männlichkeit und Weiblichkeit umzugehen, sollen im Folgenden am Beispiel von zwei Soldatinnen in der Episode »Frauen-Power« der Bundeswehr-Reihe »Mali« auf YouTube aufgezeigt werden. Hier zeigen sich die Rollen, die Frauen innerhalb des Militärs einnehmen, so, wie sie von der Bundeswehr selbst dargestellt werden (Bundeswehr Exklusive 2017).

Die erste der beiden Frauen beschreibt sich in ihrer Unterstützungsrolle und hebt spezifisch weibliche Qualitäten hervor: „Also ich hab mir sagen lassen […], es ist angenehm, eine Frau dabei zu haben, da ich immer ein offenes Ohr für meine Kameraden habe. Deswegen finds ich als Frau tatsächlich auch wichtig, da dabei zu sein.“ (Hauptfeldwebel Christiane, Air Marshall, 3:20) Die zweite Soldatin schlägt einen anderen Weg ein, indem sie sich explizit aller Weiblichkeit entledigt und sich somit eine männliche Identität als Soldat aneignet, die von den anderen als gleichwertig akzeptiert werden kann. „Wenn die Männer feststellen, dass man ein Soldat ist, dann wird man auch akzeptiert.“ (Hauptfeldwebel Pauline, Gruppenführerin Luftumschlaggruppe, 3:41) Hierbei soll auch die Resonanz der YouTube Zuschauer*innen nicht unerwähnt bleiben: Das Verhältnis zwischen »Likes« und »Dislikes« war im Verhältnis zu anderen Filmen der Reihe deutlich zugunsten der »Dislikes« verschoben. Bei den Fans der Reihe scheinen Frauen im Militär also ein Thema zu sein, das negativ konnotiert ist. Auch gab es Kommentare, die der Bundeswehr die Absicht unterstellten, die »natürlichen« Eigenschaften von Männern und Frauen zu leugnen.

Sowohl die Soldatinnen als auch die Kommentator*innen naturalisieren Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Dabei spielt die Körperlichkeit eine große Rolle. Der weibliche Körper wird dabei als eine potenzielle Schwachstelle gesehen, die bei einem Einsatz ein Hindernis darstellt. In Mythen werden Frauen vor allem als Daheimgebliebene charakterisiert, um die sich der Soldat sorgt (Szczepaniak 2010). Die Sorge, eine »weibliche« Eigenschaft, wird dabei als etwas dargestellt, das zugunsten männlicher Stärke und Tatkraft überwunden werden muss. Die Vorstellung von Männlichkeit als stark und rational dient so als Schutzmechanismus gegenüber der eigenen Emotionalität. Durch deren Tabuisierung werden viele Aufgaben der Soldatinnen und Soldaten in einem Einsatz überhaupt erst möglich. Sich in Lebensgefahr zu bringen, andere Menschen zu verletzen oder zu töten passt nicht zusammen mit weiblichen Eigenschaften, wie Empathie oder Hilfsbedürftigkeit. Hier erweisen sich männliche Mythen, wie Heldentum und Ehre, als funktionaler, um die notwendige Überwindung eigener Affekte und Wünsche zu ermöglichen. Dies dient auch der Unterordnung des Individuums unter die Institution Militär. Aus der Abwertung von Intuitionen und Emotionen folgt ein Rückbezug auf durch das Militär institutionalisierte Wahrheiten und ein sukzessiver Abbau eigenständigen Denkens. Das Weibliche kann im Militär auch nach der Integration von Frauen keinen dem Männlichen gleichwertigen Platz einnehmen, da es die Funktionalität dieser Institution untergraben würde.

Männlichkeitsmythen: Heldentum und Schwäche

Viele Männlichkeitsmythen haben ihren Ursprung im Militär und beziehen sich auf eine Form der Kriegsführung, in der »Mann gegen Mann« gekämpft wird. Dies wird zum Beispiel greifbar in Filmen, wie »Der Soldat James Ryan« oder »American Sniper«, der Kämpfe gegen kleinere gegnerische Gruppen zeigt. Während die Gegner zum Teil mit unlauteren Mitteln kämpfen (z.B. Kinder und Frauen instrumentalisieren), haben die eigenen Soldaten in der filmischen Darstellung einen hohen Kriegsethos und fühlen sich ihrem Vaterland und ihren Kameraden verpflichtet. Die technologisierten Kriege der Neuzeit, in denen vermehrt mit Drohnen gekämpft wird, entsprechen dagegen nicht dem Männlichkeitsbild des tapferen Soldaten (Spreen 2010), da die Körperlichkeit des Männerkultes auch mittels der drohenden Zerstörung des Körpers durch den Tod konstituiert wird.

Soldaten, die sich dieser drohenden Zerstörung entziehen oder angesichts der Gefahr Schwäche zeigen, wird ihre Männlichkeit abgesprochen. So wurden im Ersten Weltkrieg Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung bei einfachen Soldaten im herrschenden Diskurs als männliche Form von Hysterie – einer sehr weiblich besetzten psychischen Störung – diagnostiziert. Höhere Offiziere dagegen bekamen die Diagnose »Neurasthenie«, die einen edlen Charakter beschreibt, der sich überarbeitet hat (Lamott und Lempa 2011) – neben Genderaspekten wirkt hier auch eine Dualität aufgrund von Klassenzuschreibungen. Durch diesen Ausschluss von Soldaten, die nicht dem Ideal entsprechen, bleibt das Bild von militärischer Männlichkeit intakt. Bei Offizieren hingegen kommt es zu einer Umbewertung der Symptome als von äußeren Faktoren verursacht, sodass die Männlichkeit des Militärs nicht torpediert wird.

Durch die Heroisierung kriegerischer Handlungen, insbesondere des Todes, werden auch die eigentlichen strukturellen Gewaltstrukturen verschleiert. Der Kampf für das Vaterland war insbesondere in vergangenen Kriegen eine abstrakte Bezugsstruktur, an der Handlungen ausgerichtet waren. In neuen Kriegen, in denen zumindest formal humanitäre Gründe im Vordergrund stehen, wird das Militär stattdessen als Held zur Rettung der lokalen Bevölkerung inszeniert. Beide Bezugsstrukturen werden innerhalb des Militärs kaum genauer beleuchtet oder in ihrer Legitimität angezweifelt. Das edle Gemüt der eigenen Soldat*innen kann nur am Anderen konstituiert werden, wenn die Anderen den Tod verdient haben, entweder aufgrund von Taten gegenüber dem Vaterland der Soldaten oder gegenüber einer unschuldigen Zivilbevölkerung. In Kriegsfilmen bleibt dieses Andere gesichtslos, anders als die eigenen Soldat*innen, die auch in Momenten gezeigt werden, in denen sie Angst oder Sehnsucht nach ihrer Familie zeigen und diese zugunsten des Kampfes beiseite schieben. Gerade diese Überwindung der eigenen Schwäche und Weiblichkeit zugunsten männlicher Werte, wie Kameradschaft, ist der Kern des männlichen Mythos, da sie Affektkontrolle selbst in Extremsituationen beweist.

Verflechtung von zivilen und militärischen Männlichkeitsmythen

Die Vermischung von Militärischem und Zivilem in der popkulturellen Verarbeitung gilt auch für Gender-Aspekte. Während Soldaten zu Helden stilisiert werden, nehmen Frauen in diesem Kontext hauptsächlich unterstützende Rollen ein, die ihre Weiblichkeit unterstreichen (Thomas 2009). Dabei stellt die popkulturelle Verarbeitung der Thematik Militär eine Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte dar. Gerade weil zum Teil auch Ressourcen des Militärs in die Produktion einfließen, zeigen Filme nicht die Realität eines Einsatzes, sondern eine romantisierte Version davon (Thomas 2009). Mitunter werden Filme und Spiele (z.B. »Americas Army«) vom Militär gezielt zu Rekrutierungszwecken auf den Markt gebracht, oder es werden zumindest durch die Kontrolle von Ressourcen die Inhalte mit beeinflusst. Die Hauptcharaktere sind dabei meist männlich; steht ein weiblicher Charakter im Fokus, wie zum Beispiel bei dem beliebten Spiel »Tomb Raider«, ist dieser meist sehr sexualisiert und wäre technisch gesehen aufgrund unpassender Ausstattung nicht für einen Kampfeinsatz geeignet – Lara Croft trägt bei ihren Einsätzen kaum mehr als Unterwäsche. Während bei männlichen Hauptcharakteren der Fokus also auf einer eher der Realität entsprechenden Darstellung des Soldaten liegt, wird bei weiblichen Charakteren die Imagination eines realitätsgetreuen Spielerlebnisses zugunsten einer sexualisierten Darstellung durchbrochen. Die popkulturelle Verarbeitung der Thematik Militär bietet somit nicht nur Deutungsangebote bezüglich der Bewertung des Einsatzes an sich und der Rolle des Militärs, sondern auch zu den Geschlechterrollen (Virchow 2010).

Mythen um Soldaten haben somit das Potential, verunsicherte Männlichkeitsvorstellungen zu stärken. Das militärische Männlichkeitsideal, in dem starke Männer die zuhause bleibenden Frauen beschützen, ist durch Spiele und Filme auch für die Zivilgesellschaft zugänglich.

Fazit

Die Form von Männlichkeit, die im militärischen, aber auch im zivilen Kontext das Ideal darstellt, festigt bestehende Machtstrukturen. Durch den Ausschluss abweichender Männlichkeit aus dem Ideal und die Klassifikation als verweiblicht kann das Männlichkeitsbild intakt bleiben. In der totalen Institution, die das Militär darstellt, wird das Ideal von Männlichkeit dazu benutzt, Machtstrukturen zu legitimieren und über die Implementierung von Heldenmythen eine Kritik am Einsatz selbst zu verunmöglichen.

Die Männlichkeit der Institution Militär ist nicht allein auf das Geschlecht ihrer Mitglieder zurückzuführen, weswegen die Öffnung des Militärs für Frauen nicht zu einer stärkeren Akzeptanz weiblicher Eigenschaften führt, jedoch entsteht durch die formale Gleichstellung eine Verschiebung der Diskurse.

Literatur

Apelt, M. (2015): Der lange Abschied von der männlichen Organisation – Geschlechterverhältnisse zwischen Formalität und Informalität am Beispiel des Militärs. In: Von Groddeck, V.; Wilz, S.M. (Hrsg.): Formalität und Informalität in Organisationen. Wiesbaden: Springer VS, S. 215-237.

Bundeswehr Exclusive (2017): Frauen Power Mali Special. Verfügbar unter: youtube.com/watch?v=kKdRAQh_hNY.

Dittmer, C. (2009): Gender Trouble in der Bundeswehr – Eine Studie zu Identitätskonstruktionen und Geschlechterordnungen unter besonderer Berücksichtigung von Auslandseinsätzen. Bielefeld: transcript.

Euskirchen, M. (2005): Militärrituale – Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments. Köln: PapyRossa.

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Spreen, D. (2010): Die Konstitutionsfunktion des Krieges – Konstitutionstheoretische Zugänge zum Krieg in der deutschen Gegenwartssoziologie. In: Appelt, M. (Hrsg.): Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 107-139.

Szczepaniak, M. (2010): »Helden in Fels und Eis« – Militärische Männlichkeit und Kälteerfahrung im Ersten Weltkrieg. Colloquia Germanica, Jg. 43, No. 1, S. 63-77.

Thomas, T. (2009): Gender Management, Popular Culture And The Military. In: Schubert, R. (ed.): War Isn’t Hell, It’s Entertainment – Essays on Visual Media and the Representation of Conflict. North Carolina: McFarland, S 97-115.

Thomas, T. (2011): Poststrukturalistische Kritik als Praxis der Grenzüberschreitung. In: Thomas, T.; Hobuß, S.; Kruse, M. (Hrsg.): Dekonstruktion und Evidenz – Ver(un)sicherungen in Medienkulturen. Sulzbach/Taunus: Helmer.

Virchow, F. (2010): Militär und Medien. In: Appelt, M. (Hrsg.): Forschungsthema: Militär – Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 107-139.

Sarah Steube ist Studentin der Psychologie und der Transdisziplinären Friedensstudien an der Universität Klagenfurt.

My mind has been under occupation


My mind has been under occupation

Der (türkische) Militarismus und seine Folgen

von Serdar M. Degirmencioglu

Militarismus ist für den Autor nicht nur Ursache für Kriege, sondern auch eine Doktrin, die die Herzen und das Denken der Menschen besetzt. Er erzählt, wie der Militarismus sein eigenes Denken immer mehr besetzte, und beklagt, dass sich die Zunft der Psycholog*innen diesem Thema weitgehend verweigert. Am Beispiel der Türkei schildert er auch, wie der Militarismus in das Berufsleben der Menschen eingreift und dieses zerstört.

Die Besetzung meines Denkens begann 2003, etwa zu der Zeit, als die Invasion des Irak stattfand. Am 20. März, als die Luftangriffe begannen, fuhr ich mit einem Freund aus den Vereinigten Staaten zu einem Jugend-Friedenszentrum in der Nähe von Istanbul. Seine Frau, Kinder, Eltern und alle Bekannte machten sich große Sorgen. Und sie hatten recht. Wenn ein Krieg begonnen wird, werden Menschen verletzt. Krieg bedeutet Leiden. Ihre Besorgnis hielt an, bis mein Freund wieder zurück nach Hause kam.

Einige Monate später reiste ich zur New Mexico Highlands University in Las Vegas, um an der 9. Konferenz der Society for Community Research and Action teilzunehmen. Die Invasion war in meinem Denken. Und sie war auch im Denken anderer, die sich aber nicht trauten, ihre Gedanken zu äußern. Die Diskussionen fanden woanders statt, z.B. auf den Wänden der Toilette (Degirmencioglu 2003).

Ich konnte mich während der Konferenz nicht konzentrieren und ging in ein Nebengebäude. Es war das Studierendenzentrum. Im Gebäude stieß ich auf eine Wand, die mit Briefen und Botschaften bedeckt war. Es waren die Stimmen der Kinder und Jugendlichen der Stadt. Die Botschaft war immer die selbe: „Wir lieben Dich. Wir wollen Dich zurückhaben.“ Las Vegas gehörte zu den Orten, an denen junge Männer und Frauen nicht viele Optionen hatten. Viele wurden in die Armee rekrutiert. Ihre Photos hingen überall. Ich war den Tränen nahe. Das Studierendenzentrum war leer. Meine Kollg*innen waren im anderen Gebäude. Ich war der einzige Mensch, der die Schreie der Brüder und Schwestern dieser Rekruten hörte. Ich musste diese Stimmen mitnehmen. Diese Stimmen mussten Gehör finden.

Jungen Menschen eine Stimme zu geben war mir keine unbekannte Aufgabe. Im Dezember 2000 hatte ich die Kampagne »Höre meine Stimme: Ich habe auch eine Stimme« gestartet und Kinder (6-11 Jahre) und Jugendliche (bis 18 Jahre) gebeten, Botschaften an den Ministerpräsidenten zu schicken und ihm zu schreiben, was ihnen in den Sinn kam. Der Ministerpräsident musste als oberster Regierungsrepräsentant die Meinung aller Bürger*innen berücksichtigen, auch die der jungen. Die Reaktion war überwältigend. Junge Menschen waren begierig, ihre Meinung zu Gehör zu bringen. Eine Auswahl der Botschaften, die ich erhielt, wurde später in einem Buch veröffentlicht (Degirmencioglu 2006).

Junge Menschen verdienen es, gehört zu werden. Sie verdienen die Chance, in ihren Gemeinschaften und der Gesellschaft entscheidenden Einfluss zu nehmen. Das sind die Grundbedingungen für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Es gibt aber hohe Hürden. Eine dieser Hürden ist sicherlich der Militarismus.

Der Klang der Freiheit

Militarismus ist eine Doktrin, die Menschen nicht nur gegenüber Stimmen des Friedens taub macht, sondern auch gegenüber den Stimmen ihrer Gemeinschaft – den Stimmen von Frauen, von Kindern, von Behinderten, von Unterdrückten. Die Blockaden, die Militarismus im Denken der Menschen aufbaut, können offenkundig oder subtil sein. Aber sie sind sehr real und haben sehr ernste Folgen. Die schiere Absurdität von Militarismus spiegelt sich oft in militärischen Parolen wider, z.B. „Der Lärm, den Du hörst, ist der Klang der Freiheit.“

Ich stolperte über diesen Slogan in einem Buch, das aufzeigt, wie imperiale Pläne und der Militarismus den Irak zerstörten. Der Journalist Rajiv Chandresekaran (2007) erzählt in erschreckenden Details die Geschichte der Coalition Provisional Authority (CPA, Provisorischen Behörde der Koalition) – das war der Mechanismus zur Beherrschung des Irak. Während der Irak erledigt wurde, gab es in Baghdad täglich Presse-Briefings, um der Welt zu erzählen, dass sich das Leben in Irak jeden Tag verbessert.

Beim Presse-Briefing am 24. Februar 2004, das von CPA-Sprecher Daniel Senor organisiert wurde, stellte ein irakischer Journalist eine Frage auf Arabisch. Er wollte wissen, warum die Helikopter Tag und Nacht im Tiefflug unterwegs seien. Die Kinder hätten große Angst. Sie könnten nicht schlafen. Seine Frage richtete er an Brigadegeneral Mark Kimmitt. Der antwortete so: „Was wir den Kindern von Irak sagen würden ist, dass der Lärm, den sie hören, der Klang der Freiheit ist. Diese Helikopter sind in der Luft, um Schutz, um Sicherheit zu bieten. Ganz sicher fliegen unsere Helikopter nicht absichtlich in einer Höhe, die die Kinder des Irak irritiert. Sie sind zu ihrer Sicherheit da. Sie sind zu ihrem Schutz da. Und genau so, wie meine Frau, eine Lehrerin, den Kindern im Klassenzimmer sagt, wenn sie in Fort Bragg das Artilleriefeuer hören, sie sagt dann: ‚Kinder, das ist der Klang der Freiheit.’ Ihnen scheint diese Erklärung zu gefallen. […] Sagen sie den Kindern des Irak das gleiche, dass der Lärm der Helikopter über ihrem Kopf sicherstellt, dass sie sich keine Sorgen um die Zukunft machen müssen.“ (S. 141)

Für General Kimmit kamen Helikopter und Waffen vor Kindern. Wenn das Militär sprach, hatten Kinder zuzuhören. Wenn Helikopter flogen, hatten Kinder sich daran zu gewöhnen. Wenn Waffen abgefeuert wurden, hatten Kinder das zu mögen. Krieg und die Werkzeuge des Krieges waren eine Realität. Die Welt hatte diese Realität zu akzeptieren.

Es war klar, dass der »Klang der Freiheit« lauter war als die Stimmen der Kinder im Irak. Er war auch lauter als die Stimmen der Kinder von Fort Bragg. Und er war eindeutig lauter als die Stimmen der Schwestern und Brüder in Las Vegas, die ihre Angehörigen zurück wollten. Das ist die Wahrheit. Wenn das Militär spricht, wird es gehört. Wenn Waffen sprechen, werden sie gehört. Diejenigen, die unter dem Krieg leiden, nicht.

Militarismus ist eine Doktrin, die die Herzen und das Denken besetzt. Er verwandelt sie in Steine. Wenn junge Menschen in die Armee rekrutiert werden, leiden sie. Ihre Angehörigen leiden. Und doch geht ihr Leiden im »Klang der Freiheit« unter. Und wenn eine Armee ein Land besetzt, Irak oder ein anderes, sind die Bewohner*innen gezwungen zu leiden. Und ihre Stimmen sind viel schwerer zu hören, weil der »Klang der Freiheit« lauter ist, wenn eine Invasion oder Besatzung stattfindet. Das ist der Grund, warum 14 Jahre nach der Invasion des Irak rund um die Welt nur wenig über das Leiden der Menschen im Irak veröffentlich wird. Eines ist klar: Irak ist erledigt.

Psychologie im Dienste des Militärs

Mein Denken beschäftigt sich seither mit dem Militarismus. Die Invasion des Irak half mir dabei, die Selbstzufriedenheit in der Psychologie zu erkennen. Als ich erfuhr, dass bei der Invasion des Irak Napalmbomben eingesetzt wurden, beschäftigte ich mich mit der Geschichte von Napalm und stellte fest, dass die Psychologie die Napalmbomben vollständig ignoriert hatte. Die Welt wusste von den Leiden, die Napalm verursacht, aber die Psycholog*innen interessierten sich nicht dafür. Ich veröffentlichte meine Rechercheergebnisse in Englisch und Türkisch (Degirmencioglu 2010a; 2010b). Ich reiste zu etlichen Konferenzen auf unterschiedlichen Kontinten, um die Ergebnisse bekannt zu machen (z.B. Degirmencioglu 2012). Die Psycholog*innen hörten nicht zu.

Noch schlimmer wurde es Mitte der 2000er Jahre, als klar wurde, dass die American Psychological Association (APA, Verband der Psycholog*innen in den USA) heimlich mit der Regierung von George W. Bush zusammenarbeitete, damit die Psychologie dem »Krieg gegen den Terror« besser zu Diensten sein kann. Pycholog*innen dienten dem Krieg (dem Militär und der CIA) im Irak, einem Land, das gleich neben der Türkei liegt.

Im November 2014 beauftragte der APA-Vorstand den Rechtsanwalt David Hoffmann von der Kanzlei Sidley Austin, eine »unabhängige Untersuchung« durchzuführen, ob es Beweise für die Vorwürfe gäbe, dass „APA an Aktivitäten beteiligt war, die eine heimliche Zusammenarbeit mit der Regierung Bush konstituieren, um im Krieg gegen den Terror den Einsatz »erweiterter« Befragungstechniken zu befördern, zu unterstützen oder zu ermöglichen.1

Die unabhängige Untersuchung mündete in einem Dokument, das als »Hoffmann-Bericht« bekannt wurde. Der Bericht bestätigte sämtliche Vorwürfe gegen die APA. Das änderte aber nichts daran, dass die Mainstream-Psychologie nicht zuhören wollte. Das galt für die USA, für Europa und für mein eigenes Land, die Türkei.

Den Militarismus ignorieren

Psycholog*innen in der Türkei interessieren sich kaum für Militarismus. In einem Land, in dem seit Langem die Wehrpflicht für Männer gilt, bedeutet das, dass die Psycholog*innen einer Erfahrung ausweichen, die Generation um Generation sämtliche junge Männer betrifft. Die Wehrpflicht ist natürlich nur ein Teil des Problems. Der Militarismus in der Türkei ist ein allgegenwärtiges und hartnäckiges Problem, da er sich mit Nationalismus und mit der republikanischen Tradition vermischt. Schulen sind von Militarismus geplagt (Degirmencioglu 2011), vermehrt in den letzten zehn Jahren. Die Regierungspartei will den jungen Menschen den Militarismus aufzwingen (Degirmencioglu 2013), aber Psycholog*innen interessieren sich nicht für die Indoktrinationskampagnen an den Schulen.

Militarismus befördert den bewaffneten Konflikt und nährt sich daran. Seit mehr als 30 Jahren hält der bewaffnete Konflikt zwischen den türkischen Regierungskräften und der kurdischen Guerilla-Bewegung an. Im Lauf der Jahre verschob sich der Konflikt von den ländlichen in die städtischen Gebiete. Jetzt gibt es eine städtische Volksbewegung der Kurden und eine Partei, die Demokratische Partei der Völker (HDP), die diese Bewegung im Parlament vertritt. Junge Menschen, die geboren wurden, nachdem der Konflikt in den 1980er Jahren begann, wuchsen in einer grausamen Welt auf. Viele kurdische Jugendliche, einschließlich meiner Studierenden, glauben nicht an Frieden. Sie denken, das ist ein verblassender Traum.

Militarismus gedeiht durch Tod, wenn Tod verherrlicht und in ein Privileg verwandelt wird. Das ist die Funktion des Märtyrertodes und der Mythen, die zu seiner Verherrlichung aufgebaut werden. In den 1990er Jahren, als bewaffnete Kämpfe zunahmen, nahm auch die Zahl von Soldaten, die in diesen Kämpfen getötet wurden, zu. Schnell wurden Beerdigungen gefallener Soldaten zum politischen Vehikel, um den Militarismus zu befördern, Hass und Rassismus zu säen und Wähler*innen zu gewinnen. Beerdigungen von Märtyrern wurden ein Thema, das jede größere Partei einbeziehen musste. Sozialwissenschaftler*innen hielten sich allerdings von dem Thema des Märtyrertods und wie er dem Militarismus dient fern. Ich beschloss, das Schweigen zu brechen, und arbeitete etwa drei Jahre lang an der Herausgabe eines Buches, das sich mit dem Märtyrertod auseinandersetzt. Das Buch (Degirmencioglu 2014) wurde in der Türkei von einem der großen Verlage gedruckt.

Politik des Todes

Ich sage es nicht gerne, aber auch der Tod beherrscht mein Denken.

2015 wurde der Tod eine politische Strategie in der Türkei. Das geschah nach den Wahlen im Juni des Jahres. Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) wollte die vierte Legislaturperiode in Folge die Regierung stellen. Ihr Ziel war es, eine große Mehrheit der Sitze zu erringen und Änderungen der Verfassung durchzusetzen. Letztlich sollte ein präsidiales System nach dem Vorbild der USA eingeführt werden, das Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr Macht geben würde. Der Präsident warnte vor Chaos, wenn seine Partei keine deutliche Mehrheit erhielte.

Am 7. Juni gaben die Wähler*innen jedoch der HDP genügend Stimmen, um die 10 %-Hürde zu überwinden, eine willkürliche Sperre, die seit Langem verhinderte, dass die kurdische Bewegung im Parlament vertreten war. Als die HDP die Hürde genommen hatte, verlor die AKP ihre Mehrheit, und im Parlament entstand ein Patt. Der Präsident suchte nicht nach politischen Alternativen. Stattdessen kam eine neue Strategie zum Zug. Die Friedensgespräche zwischen der Regierung und den kurdischen Guerillakräften wurden abgebrochen. In mehreren Städten wurde eine Ausgangssperre verhängt, und die Regierung ging militärisch gegen kurdische Zivilist*innen vor. Die Demonstration brutaler militärischer Macht fand die Unterstützung nationalistischer Hardliner und derer, die an den Autoritarismus glauben. Beerdigungen von Märtyrern wurden wieder zu Ereignissen mit hohem öffentlichem Stellenwert. Führende Politiker, einschließlich des Präsidenten, drängten junge Männer, den Märtyrertod zu suchen. Der Präsident rief nach vorgezogenen Wahlen. Das Blut, das im Sommer vergossen wurde, wandelte sich am 7. November in Stimmen. Die AKP gewann die zuvor verlorene Mehrheit wieder. Ende 2015 litt die Türkei unter der »Politik des Todes«, und der Frieden rückte in weite Ferne.

Invasion meines Berufslebens

Vor diesem Hintergrund unterzeichneten mehr als tausend Wissenschaftler*innen (Academics for Peace) eine Friedenspetition und riefen die Regierung auf, die gnadenlosen Angriffe im Südosten des Landes zu stoppen, die bei den Zivilist*innen zu zahllosen Verletzten und Toten führte. Die Petition wurde am 11. Januar 2016 veröffentlicht. Die Regierung antwortete mit einer Hexenjagd. Binnen einer knappen Woche erhielten die Universitäten Anweisung, mit dem Problem »umzugehen«. Viele Nachwuchswissenschaftler*innen an privaten Universitäten wurden entlassen. Viele Wissenschaftler*innen wurden gedrängt, ihre Unterschrift zurückzuziehen. Manche erhielten Todesdrohungen. An fast allen Universitäten wurden interne Untersuchungen aufgenommen.

Vier Wissenschaftler*innen wurden verhaftet, nachdem sie die Forderung nach Frieden auf einer Pressekonferenz wiederholten. Sie wurden der »terroristischen Propaganda« bezichtigt und mehr als einen Monat in Haft gehalten. Ihrem Prozess am 22. April wohnten zahlreiche Beobachter*innen nationaler und internationaler Organisationen bei. Das Gericht wies die fingierten Vorwürfe ab.

Die Hexenjagd war Teil des Regierungsplans, um die Universitäten von kritischen Stimmen zu säubern und zum Schweigen zu bringen. In manchen Privatuniversitäten nutzte die Verwaltung die Hexenjagd der Regierung, um Hochschullehrer*innen loszuwerden, die sich kritisch über die Institution oder die Arbeitsbedingungen geäußert hatten. Die Dogus-Universität, an der ich lehrte, war eine davon. Dogus war eine profitorientierte Institution, die zur Durchsetzung der Arbeitsbedingungen ein Klima der Angst aufbaute. Ich war ein Rebell, der nicht zum Klima der Universität passte. Als Vorsitzender des Fachbereichs Psychologie leistete ich vehement Widerstand gegen unrechtmäßige und unethische Maßnahmen zur Steigerung des Profits. Die Verwaltung hegte schon lange einen Groll gegen mich. Im Jahr 2013 wurde ich bereits 40 Tage nach meiner Arbeitsaufnahme gefeuert, weil ich dagegen war, den Profit anzukurbeln. 2014 musste die Kündigung aufgrund eines Gerichtsurteils zurückgenommen werden.

Die Universitätsverwaltung setzte am 18. Januar 2016, eine Woche nach der Friedenspetition, eine Untersuchung in Gang. Ich wurde vom Vorsitz entbunden, damit die Verwaltung Marionetten an den Fachbereich bringen konnten. Im März versuchte der Dekan, mich daran zu hindern, in Kairo eine Keynote-Speech zu geben. Als das misslang, kürzte er die Vergütung, die ich für die Übernahme zusätzlicher Lehrveranstaltungen erhielt. Als nächstes verhinderte die Verwaltung, dass ich zu einer Konferenz in die USA reisen konnte.

Ich rechnete damit, Mitte Juni, unmittelbar nach den Abschlussprüfungen, gefeuert zu werden. Ich ging davon aus, dass die Verwaltung diese Gelegenheit nutzen würde, mich ohne Abfindungszahlung loszuwerden – auch ein Weg, die Profite zu steigern. Aber die Verwaltung reagierte schneller: Ich wurde am 29. April entlassen. Als Rechtsgrundlage verwiesen sie auf eine Vorschrift, die es ermöglichte, öffentliche Angestellte zu entlassen, die am Arbeitsplatz offen politische Propaganda betrieben. Das traf auf meinen Fall nicht zu, aber das war egal. Die Verwaltung nutzte die anhaltende Hexenjagd als Vorwand, damit die Studierenden und die anderen denken sollten, der Druck der Regierung habe zu meiner Entlassung geführt. Im Mai reichte ich Klage gegen die Universitätsverwaltung ein, wohl wissend, dass das Verfahren dieses Mal vermutlich schwieriger werden würde. Selbst wenn ich die Klage gewinnen und meine Entlassung abgewiesen werden sollte, hatte sich das Blatt gewendet. Universitäten in der Türkei sind nun unter Besatzung, und mein Berufsleben in der Türkei ist wohl vorbei.

Universitäten unter Besatzung

Die Regierung leitete ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die »Academics for Peace« ein und übergab den Fall einem berüchtigten Staatsanwalt. Da kein Verbrechen vorliegt, gibt es keine Beweise. Die Staatsanwaltschaft beschloss, durch inkriminierende Fragen Beweise zu schaffen. Der Plan war, alle diejenigen, die die Petition unterzeichnet hatten, in die Polizeistationen einzubestellen. Die Wissenschaftler*innen würden persönlich und einzeln vorsprechen, 14 Fragen beantworten und sich so selbst belasten.

Allerdings beschlossen wir kollektiv, keine dieser Fragen zu beantworten. Eine Gruppe junger, engagierter Anwält*innen begann, uns pro bono zu beraten. Um die Einschüchterungsstrategie umzukehren, traten unsere Anwält*innen auf den Plan. Jede*r einzelne Wissenschaftler*in wurde beim Gang zur Polizei anwaltlich begleitet. Jede*r einzelne Wissenschaftler*in gab an, dass sie/er gefordert habe, Frieden zu schaffen, und dass dies unter die Meinungsfreiheit fällt. Die Polizeibeamten mussten mit »copy and paste« arbeiten: Die Aussagen waren identisch. Der Plan des Staatsanwalts geriet so zur Lachnummer. Keine einzige Frage wurde gestellt. Keine einzige Frage wurde beantwortet. Das wurde durch gemeinschaftliche Anstrengungen ermöglicht, durch die Solidarität von Wissenschaftler*innen und Anwält*innen.

Die Situation verschlechterte sich nach dem 15. Juli 2016, als ein misslungener Putschversuch es der Regierung erlaubte, Sonderbefugnisse zu erlangen. Zuerst wurden sämtliche Universitätsdekane im Land aufgefordert, sofort zurückzutreten. Dieser Schritt sollte Furcht verbreiten. Die Botschaft war laut und eindeutig: Das Regime hatte die volle Kontrolle über die Universitäten, und es fand eine Säuberung statt. Bald wurde der Notstand erklärt, und 15 Universitäten wurden wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung über Nacht geschlossen. Die Studierenden, die an diesen Universitäten eingeschrieben waren, wurden zu akademischen Waisen. Wissenschaftler*innen und Verwaltungsangestellt wurden über Nacht arbeitslos.

Am 1. September wurde ein Regierungsdekret erlassen, durch das mehr als 50.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes ihre Stelle verloren, darunter 2.356 Wissenschaftler*innen. Zu letzteren gehörten mehr als 40 Mitglieder der »Academics for Peace«.

Während die Säuberungen täglich weitergehen, ist das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit verschwunden. Die Säuberungen führen zur Auflösung der Universitäten, der Schulen und des Glaubens an die Demokratie. Die Hoffnung für Frieden schwindet. Psycholog*innen, die Militarismus, soziale Gerechtigkeit und Frieden jahrelang ignorierten, sind jetzt mit dem bevorstehenden Kollaps der Universitäten, ihrer heimatlichen Basis, konfrontiert.

Politik der Dämonisierung

Seit dem gescheiterten Putschversuch herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand, der alle drei Monate verlängert wird. Wenn eine Regierung den Ausnahmezustand erklärt, Sonderbefugnisse erlangt und per Dekret regiert, gibt es für diese Regierung keinen Grund, diese Machtbefugnisse aufzugeben und den Ausnahmezustand aufzuheben. Wenn eine Regierung nahezu die totale Kontrolle erlangt, d.h. das Parlament, das Rechtswesen, die Massenmedien und die Kommunalverwaltungen kontrolliert, gibt es für diese Regierung kaum einen Grund, sich an die Verfassung, die bestehenden Gesetze oder die Menschenrechte zu halten. So eine Regierung bewegt sich rasch Richtung Totalitarismus.

An diesem kritischen Punkt ist es vielleicht hilfreich, sich an den Fall Paraguay zu erinnern, wo sich Alfredo Stroessner 1954 als Diktator etablierte und die Macht 35 Jahre lang behielt, bis 1989. Als er an die Macht kam, erklärte er den Ausnahmezustand und verlängerte diesen während seiner gesamten Diktatur alle drei Monate. Seine Herrschaft war für Paraguay eine Katastrophe. Diese historische Lektion lehrt uns, dass die Entwicklung der Türkei hin zum Totalitarismus unvermeidlich ist. Angesichts der Fakten und des Verfassungsreferendums vom April 2017 kann das jetzige Regime in der Türkei kaum anders denn als Diktatur bezeichnet werden.

Wenn die totale politische Kontrolle in Reichweite ist, sieht sich ein diktatorisches Regime sozusagen genötigt, jegliche Opposition auszuschalten und so die Hindernisse auf dem Weg zum Totalitarismus zu beseitigen. Dementsprechend hat das jetzige Regime der Türkei sich sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch für den Militarismus entschieden. Sämtliche oppositionellen Medien gerieten in den Fokus, und die Türkei wurde zum Land mit der höchsten Zahl inhaftierter Journalist*innen. Die Regierung behauptet, diese Journalist*innen seien Verräter*innen, Spion*innen (d.h. Feinde). Die Feinde sind überall. Es können Journalist*innen sein oder Führungspersonen und Abgeordnete der HDP, die vom Volk gewählt wurden, oder Demonstrant*innen auf der Straße. Sie alle verdienen, im Gefängnis zu sein oder schlimmer.2

Die Feindrhetorik ist beabsichtigt. Recep Tayyip Erdogan, der Präsident der Turkei, nutzt absichtlich jede Gelegenheit, einen Feind zu erfinden. Ziel ist die Polarisierung der Öffentlichkeit. Der Feind ist überall, in der Türkei und außerhalb. Die Öffentlichkeit muss sich daher entscheiden, ob sie hinter dem Feind oder hinter der Regierung steht (also ihm).3 Der Feind sind ausländische Mächte, der Feind sind Russland, die Niederlande, Deutschland – der Feind ist jeder, den das Regime als Feind ansieht. Und der Feind kann nach Belieben der Regierung wechseln.

Eine Analogie, die von Erdogan wieder und wieder herangezogen wird, hat mit Verstecken zu tun. Das sind Unterschlupfe der Feinde der Türkei, und es scheint, die Türkei ist voll von ihnen. Die »Versteck«-Analogie wurde ursprünglich genutzt, um die bevorstehende Verfolgung der Gülen-Anhänger anzukündigen. Die Regierung war stark und entschlossen, „in die Verstecke“ der Gülen-Anhänger zu marschieren. So sagte Erdogan, der damals Ministerpräsident war, 2014: „Also, heute ist der 30. März. Was haben sie gesagt? Sie sagten ‚Chaos nach dem 25. März’. Stimmt. Wir sahen das Chaos. Was war dieses Chaos? Dieses Land bekam die Gelegenheit, die Verräter zu sehen, die das Außenministerium abhörten und Verrat begingen, indem sie sich in die nationale Sicherheit dieses Staates und der Menschen einmischten. Das war ihr Chaosplan. Ich habe seit Monaten gesagt, ‚Wir werden in ihre Verstecke marschieren’.“4

Ursprünglich war die Analogie auf Gülen-Anhänger beschränkt. Später wurde sie auch für andere verwendet, besonders für die kurdischen Guerilleros, die als Bestien dargestellt wurden, die sich in Höhlen verstecken. Die Regierung war stark und entschlossen, in die Höhlen zu marschieren, wo auch immer diese sein mögen.

Ihre Kraft bezieht die »Versteck«-Analogie natürlich aus den inhärenten Bestien. Das Regime will seine Feinde als Untermenschen, als »häßliche Ungeheuer« darstellen, die es verdienen, eliminiert zu werden. Sie verdienen nichts Besseres, weil sie per Definition »Untermenschen« sind.

Diese Strategie wurde schon von vielen anderen eingesetzt, und sie ist sehr gefährlich: „Schau zurück auf einige der tragischsten Episoden der menschlichen Geschichte, und Du wirst Worte und Bilder finden, die Menschen ihre grundlegenden menschlichen Eigenschaften absprechen. In der Nazi-Zeit stellte der Film »Der ewige Jude« Juden als Ratten dar. Im Genozid von Ruanda nannten Hutu-Offizielle Tutsis ‚Kakerlaken’, die ausgemerzt werden müssten.“ 5

Die Geschichte liefert uns viele Fälle, in denen die Porträtierung politischer Gegner als Untermenschen die Lizenz zum Töten lieferte. In der Türkei war und ist das so. Die Seiten der Online-Medien, z.B. YouTube, sind voll von Videos, in denen Guerilleros misshandelt, gefoltert oder schlicht exekutiert werden. Und dazu muss man gar keiner Guerilla-Truppe angehören. Jeder, der für »einen von denen« gehalten wird, verdient diese Behandlung. Die Titel und Kommentare solcher Videos verweisen oft auf »Untermenschen«, die eliminiert werden. Die Leichen verdienen keinen Respekt und werden daher als »Kadaver« bezeichnet. Einen Guerillero zu töten, heißt »einen Kadaver auf seine Kappe zu nehmen« usw.

Die Propaganda wird nicht einmal im Ramadan unterbrochen, der doch ein Monat der Brüderlichkeit und des Friedens sein soll. Am 7. Juni 2017 ergriff der Präsident der Türkei das Wort bei einem Fastenbrechen, das von hochrangigen Angehörigen der Sicherheitskräfte organisiert wurde. Unter Verweis auf diejenigen, die im Juli 2016 an dem Putschversuch beteiligt waren, sagte er, diese verdienten mehr als eine Gefängnisstrafe: „Wenn“, sagte er, „diese Terroristen jemals ihre Strafe abgesessen haben und aus dem Gefängnis spazieren, wird die Öffentlichkeit sie strafen: Sie werden ihnen ins Gesicht spucken und sie in der Spucke ertränken.“6

Wer immer noch nicht versteht, was in der Türkei passiert, dem sollten diese Worte genügen. Der Präsident der Türkei ist der Richter, die Geschworenen und der Staatsanwalt in einer Person. Er weiß, wer schuldig ist, wer ein Terrorist ist, wer ein Feind ist. Er weiß auch, wie der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann. Er hat kein Problem, zum Lynchen durch Spucken aufzurufen, und es wäre ihm egal, wenn aus dem Spucken etwas Drastischeres würde. Er weiß, dass Dehumanisierung ein geistiges Schlupf­loch ist, das es zulässt, dass Menschen anderen Menschen Leid antun.

Die Türkei ist eindeutig auf Crash­kurs, und die Seele des Landes wird korrumpiert zugunsten von Hegemonie und Tyrannei. Was in der Türkei passiert, ist so ungeheuerlich, so surreal, dass es sich anfühlt wie ein grauenhaft militaristischer Film, der in Endlosschleifen sinnloses Töten zeigt. Aber es ist kein Film. Es ist keine Animation. Die Türkei befindet sich mitten in der Tragödie, die jeden Tag schlimmer wird.

Militarismus zerstört akademische Freiheit

Während ich diesen Text abschließe, ist mein Denken von unterschiedlichen Kräften besetzt, von Kräften, von denen ich mir wünschte, dass sie nie existierten. Auch der Tod besetzt mein Denken. Es fand eine Invasion meines Berufslebens statt, und die Universitäten, denen ich so viel Zeit gewidmet habe, stehen unter Besatzung. Mein Heimatland wird erledigt.

Ich empfehle, dass Sie meine Worte ernst nehmen. Wenn Militarismus vorherrscht, ist die akademische Freiheit zum Verschwinden verdammt. Psycholog*innen müssen den Frieden ernstnehmen, um ihres Berufs willen, wenn nicht sogar um des Gemeinwohls willen.

Anmerkungen

1) American Psychological Association (o.J.): ­Report of the Independent Reviewer and Re­lated Materials. apa.org/independent-review/.

2) Turkey seeking up to 142 years in jail for co-head of pro-Kurdish opposition party. Deutsche Welle, 17.1.2017; dw.com.

3) “Gün, Mücadele ve Zalimlerin Üzerine En Sert Sekilde Gitme Günüdür”. Türkiye Cumhuriyeti, 16.3.2016; tccb.gov.tr.

4) FULL TEXT: Turkish PM Erdogan’s post-election »balcony speech». Hürriyet Daily News, 31.3.2014; hurriyetdailynews.com.

5) Resnick, B.: “They’re not even people”: why Eric Trump’s dehumanizing language matters – The psychology of what happens when we think our opponents are less than human is troubling. Vox, 7.6.2017; vox.com.

6) “Türkiye’yi Tacize ve Tehdide Yeltenenler, Bunun Bedelini Öder”. Türkiye Cumhuriyeti, 7.6.2017; tccb.gov.tr.

Literatur

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Degirmencioglu, S.M. (2005) Sesimi Duyun – Benim de Sesim Var. Ankara: Kök Yayincilik.

Degirmencioglu, S.M. (2006). Hear My Voice – I, too, have a voice. Dialogue on Participation, No. 3, S. 9.

Degirmencioglu, S.M. (2010a) The psychology of napalm – Whose side are psychologists on? Journal of Critical Psychology, Counselling and Psychotherapy, Vol. 10, No. 4, S. 196-205.

Degirmencioglu, S.M. (2010b) Napalm düstügü yeri yakar – Psikoloji kimin yaninda? Elestirel Psikoloji Bülteni, No. 3-4, S. 46-66.

Degirmencioglu, S.M. (2011). Militarism all over schools in Turkey. Broken Rifle, No. 88.

Degirmencioglu, S.M. (2012). Psychology of napalm – Why do psychologists avoid burning issues? International Congress of Psychology, Cape Town, South Africa.

Degirmencioglu, S.M. (2013). Young people in Turkey besieged by militarism – Past and pres­ent. In: Everett, O. (ed.): Sowing Seeds – The Militarization of Youth and How to Counter it. London: War Resisters’ International, S. 71-78.

Degirmencioglu, S.M. (ed.) (2014): “Öl Dediler”, Öldüm – Türkiye’de Sehitlik Mitleri. Istanbul: Iletisim Yayinlari.

Serdar M. Degirmencioglu (serdardegirmencioglu@gmail.com) war bis zu seiner Entlassung im April 2016 Professor für Entwicklungs- und Gemeindepsychologie an der Dogus-Universität in Istanbul. Seitdem war er Gastwissenschaftler an der American University in Cairo, der University of Macerata and L’Université libre de Bruxelles. Seine letzten Bücher befassen sich mit Tabus (z.B. dem Märtyrertod) und vernachlässigten Themen (z.B. profitorientierten Universitäten, psychologischen Auswirkungen von privater Verschuldung). Zur Zeit ist er Mitglied des Exekutivausschusses der »Society for the Study of Peace, Conflict, and Violence: Peace Psychology«.
Dieser Artikel wurde Anfang Juni 2017 fertiggestellt.
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Erdogans Reichstagsbrand


Erdogans Reichstagsbrand

von Jürgen Nieth

„Hat es in der Türkei am 15. Juli 2016 einen Putsch gegen die Staatsführung gegeben? Ja, den gab es wohl – so wie es am 27. Februar 1933 in Berlin einen Brandanschlag auf den Reichstag gab […] [Dieser] war willkommenes Vehikel zur Etablierung der Nazi-Barbarei. Sehr Ähnliches hat sich in den abgelaufenen zwölf Monaten in der Türkei abgespielt. Nach einem Umsturzversuch, dessen Dilletantismus im Nachhinein viele Fragen aufwirft, folgten Ausnahmezustand, die Entmachtung des Parlaments, die Entlassung und/oder Verhaftung Hunderttausender, schlicht: Terror.“ (Roland Etzel, ND, 17.7.17., S. 1)

Staatsterror

Die Bilanz, die in der deutschen Presse ein Jahr nach dem Putschversuch gezogen wird, ist übereinstimmend kritisch. Kein Wunder, denn die Handlungen Erdogans und seiner Getreuen sprechen für sich: „Nach offiziellen Angaben sind bislang 50.510 Menschen verhaftet worden […] Gegen insgesamt 169.013 Menschen laufen Ermittlungsverfahren, knapp 150.000 Menschen sind aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. Über die Hälfte davon sind Lehrer, Dozenten und Professoren. Rund 150 Journalisten […] sitzen im Gefängnis, über hundert Zeitungen, TV-Sender und Radios wurden geschlossen oder aus dem Äther verbannt.“ (Jürgen Gottschlich, taz, 17.7.17., S. 3)

Andere Presseorgane nehmen Details der Verfolgungen unter die Lupe: „Bis heute wurden 4.424 Richter und Staatsanwälte suspendiert, 2.584 inhaftiert, 680 sind in Einzelhaft. Rund ein Viertel der staatlichen Justiz wurde ausgeschaltet.“ (Frank Nordhausen, BZ, 15.7.17., S. 3) „563 Mütter [sind gezwungen] […] mit ihren Säuglingen und Kindern gemeinsam die Haft zu verbringen.“ (Cüneyt Dinc, Freitag, 27.7.17., S. 8). „Ein Dutzend Universitäten und über tausend Privatschulen wurden geschlossen. Die Regierung zog die Pässe von mehreren zehntausend Menschen ein […] Fast tausend Unternehmen mit einem Gesamtumsatz von fast 20 Milliarden Dollar, deren Inhaber als Gülen-Anhänger galten, wurden verstaatlicht.“ (Markus Bernath und Susanne Güsten im Tagesspiegel, 15.7.17., S. 2) „Die Listen der jeweils neuesten Entlassungen erscheinen meist nach Mitternacht im »Resmi Gazete«, dem offiziellen Organ der Regierung […] Fieberhaft suchen Hunderttausende Türken dann nachts in den neuen Listen ihre Namen. Wenn sie ihn finden, wissen sie, dass vielleicht schon im Morgengrauen die Polizei kommen wird. Selbst wenn man sie nicht verhaftet, wird ihnen niemand mehr einen Job geben, verlieren sie ihre Krankenversicherung, werden […] ihre Kinder in der Schule gemobbt.“ (Boris Kálnoky, WaS, 16.7.17, S. 2) „Ein Abgeordneter der republikanischen Volkspartei und elf Mandatsträger der Demokratischen Partei der Völker (HDP) befinden sich seit Monaten im Gefängnis, darunter die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP […] Außerdem wurden 74 Bürgermeister der HDP inhaftiert. Für 89 Kommunen, vor allem im kurdischen Südosten, wurde von der Regierung ein Treuhänder statt des gewählten Bürgermeisters eingesetzt.“ (Jan Keetmann, ND, 21.7.17., S. 5)

Der angekündigte Putsch

„Bereits wenige Tage nach dem Putsch sprach Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von einem »kontrollierten Putsch«, was bedeutet, Erdogan habe zwar den Putschversuch gegen sich nicht selbst geplant, er habe jedoch die Kontrolle über ihn gehabt. Eine neue Chronologie der Ereignisse […] stützt diese These […] [sie zeigt], dass Erdogans Leute die Putschisten infiltriert hatten und über die Abläufe im Bilde waren.“ (Rainer Hermann, FAZ, 15.7.17., S. 8) Hermann zeigt auf, dass der pensionierte Oberst Attila Ugur bereits am 14. Juli in der regierungsnahen Zeitung »Yeni Safak« von einem bevorstehenden Putsch gesprochen habe. In der SZ (15.7.17., S. 2) verweist Christiane Schlötzer darauf, dass der „Geheimdienst (MIT) am 15. Juli bereits um 14,30 Uhr von einem Hubschrauberpiloten über einen unmittelbar bevorstehenden Staatsstreich informiert [wurde] – sieben Stunden bevor Panzer auf die Bosporusbrücke rollten.“ Gleich mehrere Zeitungen weisen darauf hin, das Erdogan selbst noch in der Nacht des Aufstandes von dem Putschversuch als einem „Geschenk Gottes, das es ermöglicht, die Armee zu säubern“ gesprochen habe, dass die Listen für zehntausende Verhaftungen vorbereitet waren und dass innerhalb von 48 Stunden 50.000 Menschen festgenommen wurden.

Erdogans Machtdemonstration

Am 15. Juli 2016 wehrten die Türken gemeinsam den Staatsstreich ab, waren Regierungs- und Oppositionspolitiker gemeinsam im Parlament Angriffen ausgesetzt. Am Jahrestag des Putsches erlebte die Türkei eine riesige Machtdemonstration Erdogans: „Sämtliche Reklametafeln waren mit Plakaten gepflastert, die Erdogans Palast gestaltet hatte, von den Minaretten erklang Sela, der Ruf zum Totengebet. Sogar auf unseren Mobiltelefonen waren Botschaften, die den Putschversuch verdammten: Wenn wir am 15. Juli 2017 eine Nummer wählten und sei es die Notrufnummer 112, dann erklang zunächst die von Erdogan persönlich eingesprochene Botschaft zum 15. Juli. Erst danach konnte man einen Krankenwagen anfordern […] Die Opposition blieb [bei den Feierlichkeiten] außen vor […] Bei der Parlamentszeremonie wurde der Opposition kein Rederecht gewährt.“ (Bülent Mumay, FAZ, 20.7.17, S. 14)

Es redete Erdogan. Er „kündigt in Istanbul unter Applaus des Publikums an, die Wiedereinführung der Todesstrafe voranzutreiben. Er schlägt vor, mutmaßliche Putschisten vor Gericht in orange Overalls zu stecken wie die Häftlinge in Guantanamo. Er ruft: »Wir werden den Verrätern den Kopf abreißen«.“ (Spiegel Nr. 30/2017, S. 27)

Fazit

Daniel Steinvorth zieht in der NZZ die Bilanz: „Währte der Putschversuch nur eine Nacht, so währt der Putsch nach dem Putsch bereits ein Jahr.“ (15.7.17., S. 12) Doch erst nach den Festnahmen des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner hat der deutsche Außenminister eine »Neuausrichtung« der deutschen Türkeipolitik gefordert. Von Taten ist außer einer Reisewarnung bisher allerdings nichts zu sehen.

Zitierte Zeitungen: BZ – Berliner Zeitung, Der Spiegel, Der Tagesspiegel, FAZ – Frankfurter Allgemeine, Freitag, ND – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, WaS – Welt am Sonntag.