Was kommt nach dem Krieg?
Was kommt nach dem Krieg?
Gaza und der Israel-Palästina-Konflikt
von René Wildangel
Eine Zwischenbilanz der Zerstörungen im Gazastreifen sowie der israelischen Planungen für die Nachkriegsrealität fällt ernüchternd aus. Durch die Intensivierung der regionalen Eskalationsdynamik zwischen Israel und Iran haben sich die Aussichten für eine Entspannung zusätzlich verschlechtert. Noch ist nicht absehbar, ob und wann überhaupt nochmal ein normales ziviles Leben im Gazastreifen möglich sein wird, doch unterschiedliche politische Szenarien werden schon länger diskutiert und teils schon praktisch umgesetzt. Was wäre notwendig, um wenigstens die Grundlagen für einen Wiederaufbau und einen politischen Horizont zu schaffen und was könnte die internationale Gemeinschaft dazu beitragen?
Bei ihrem verheerenden terroristischen Angriff ermordete die Hamas am 7. Oktober 2023 fast 1.200 Menschen im Süden Israels, darunter 695 israelische Zivilist*innen. Ca. 250 Menschen wurden entführt, der Schock im Land war enorm. Die Reaktion der israelischen Regierung kam schnell und war nachvollziehbar: Eine Militäraktion, die zukünftige Angriffe verhindern und die Geiseln befreien sollte.
Doch schon in den ersten Tagen deuteten Aussagen aus Israels rechtsgerichteter Koalition an, dass die militärische Reaktion weit darüber hinausgehen könnte. Verteidigungsminister Gallant verkündete eine Totalblockade des Gazastreifens, da man gegen „menschliche Tiere“ kämpfe. Premierminister Netanjahu sprach von der „Vernichtung“ der Hamas, andere Politiker machten die gesamte Zivilbevölkerung im Gazastreifen für die Verbrechen der Hamas mitverantwortlich (Bartov 2023). Und weitere rechtsgerichtete Politiker brachten immer radikalere Ideen vor über die Wiederbesiedlung und die dauerhafte Besatzung des Gazastreifens oder die vollständige Zerstörung bis hin zum Abwurf einer Atombombe.
Abgesehen von einer verhandelten Feuerpause Ende November 2023, in der 50 israelische Geiseln und 150 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freikamen, wurde pausenlos bombardiert. Die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen führten zu einer Zerstörung nie dagewesenen Ausmaßes.
Das betraf von Anfang an einen Großteil der zivilen Gebäude und Infrastruktur, darunter Wohngebäude, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Wirtschaftsbetriebe und Agrarflächen. Ein Großteil der Bevölkerung wurde bereits in den ersten Kriegswochen von der israelischen Armee aufgefordert, in Richtung Süden zu fliehen, so dass sich bald ein Großteil der 2,3 Millionen Einwohner*innen des Gazastreifens in Rafah und Umgebung drängte. Einige von ihnen konnten Anfang April 2024 in die nahegelegene südliche Stadt Khan Younis zurückkehren, die allerdings zu großen Teilen zerstört wurde. Die Rückkehr in den Norden wird von Israel verweigert und ist aufgrund der Schaffung regelrechter »Todeszonen« durch israelische Scharfschützen lebensgefährlich (Kubovich 2024).
Zwar gelangen Hilfsgüter im Gegensatz zu der Ankündigung von Gallant am 9. Oktober mittlerweile in den Gazastreifen, allerdings in viel zu geringem Ausmaß. Israel behindert systematisch die humanitäre Hilfe, was spätestens seit März 2024 zu einer äußerst prekären Lage führte. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen (VN) herrscht in Gaza die schlimmste Hungerkrise, seit dies weltweit gemessen wird. Hunderttausende Menschen in Gaza sind akut von einer Hungersnot und damit dem Hungertod bedroht (Vereinte Nationen 2024).
Monatelang mahnten Israels Verbündete zwar die Beachtung des humanitären Völkerrechts an, darunter die USA und die meisten EU-Staaten. Sie unternahmen aber keine konkreten Schritte, um Israel zu einer Beendigung des Militäreinsatzes oder zu einer weiteren Feuerpause zu bewegen. Auch nicht, nachdem sich die israelische Regierung weigerte, die am 25. März beschlossene Waffenstillstandsresolution im Sicherheitsrat umzusetzen, bei der erstmals die USA auf die Anwendung ihres Vetos verzichteten. Infolge des groß angelegten Angriffs des Irans auf Israel mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern vom 13. April, der als »Vergeltung« für den israelischen Angriff auf das iranische Konsulargebäude in Damaskus angekündigt wurde, ließ der internationale Druck auf die israelische Regierung zusätzlich nach.
Die Bilanz von sechs Monaten Krieg in Gaza ist verheerend: Die Eskalationsgefahr in der gesamten Region bleibt hoch. Die Geiseln konnten nicht befreit werden, viele von ihnen starben wahrscheinlich bei israelischen Angriffen. Die militärischen Fähigkeiten der Hamas konnten nicht ausgeschaltet werden. Beobachter*innen hatten bereits zu Beginn des Einsatzes darauf hingewiesen, dass die „Vernichtung“ der Hamas schon deshalb unrealistisch sei, weil sie als politische und soziale Bewegung tief verwurzelt in der Gesellschaft ist, sowie über zahlreiche Anhänger und Strukturen außerhalb Gazas verfügt. Knapp 34.000 Tote1, über 75.000 Verletzte, aber auch Hunderttausende von schwerwiegenden langfristigen Gesundheitsschäden bedrohte Menschen in Gaza hinterlassen eine tief verwundete Gesellschaft, die bereits durch 17 Jahre Isolation und Blockade traumatisiert und geschwächt war.
Angesichts der hohen zivilen Opferzahlen, gezielten Vertreibungen und Entziehung der Lebensgrundlagen wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eine von Südafrika vorgebrachte Genozid-Klage verhandelt. Im Januar erließ das Gericht vorläufige Maßnahmen, die Israel unter anderem aufforderten, jegliche Verstöße im Rahmen der Genozid-Konvention zu verhindern, die humanitäre Versorgung sicherzustellen und genozidale Hetze zu bestrafen (IGH 2024).
Wichtigste Akteure und grundlegende Zukunftsszenarien
Der wichtigste Akteur mit Blick auf Gaza ist zweifelsohne auch weiterhin der israelische Staat, der seit 1967 die Verhältnisse dort maßgeblich bestimmt. Das galt aufgrund der Kontrolle aller Grenzen sowie des Luft- und Seewegs auch nach dem israelischen Rückzug von 2005. Und Ende Februar 2024 machte Premierminister Netanjahu deutlich, dass das auch in Zukunft so bleiben soll: Demnach will Israel die langfristige Kontrolle in Sicherheitsfragen übernehmen und sich auf unbestimmte Zeit vorbehalten, militärisch zu intervenieren (Ravid 2024).
Dem entspricht die Realität, die zuletzt bereits vor Ort etabliert wurde: Die israelische Armee hat eine 1km breite Sperrzone entlang der gesamten israelischen Grenze zu Gaza eingerichtet, die weit über die vor dem 7. Oktober bestehende »Todeszone« hinausgeht. Das entspricht mit 16 % einem großen Anteil der Landfläche des kleinen Küstenstreifens, der das zukünftige Leben von über zwei Millionen Menschen weiter einengt. Zudem hat die Armee Recherchen der Tageszeitung Haaretz zufolge einen zentral gelegenen West-Ost Korridor (»Netzarim-Korridor« nach einer früher dort gelegenen israelischen Siedlung) eingerichtet, der wohl auch dauerhaft der israelischen Armee Zutritt verschaffen, eine unmittelbare Überwachung ermöglichen soll und den Gazastreifen effektiv in zwei Teile teilt (Michaeli et al. 2024). Bereits jetzt kontrolliert Israel alle Grenzübergänge nach Gaza und verzögert immer wieder die Einfuhr von Produkten. Wegen „Sicherheitsbedenken“ wird nach Recherchen von CNN aber auch willkürlich die Einfuhr von Produkten wie Schlafsäcken, Nagelklippern oder Krücken zurückgehalten, ein Hauptgrund für die langsame und unzureichende Einfuhr von Hilfsgütern (Qiblawi et al. 2024).
Dieses derzeit offensichtlich von Israel bereits vorangetriebene und favorisierte Szenario – dauerhafte Besatzung und Kontrolle sowie eine anhaltende Blockade – wäre ein Desaster, denn Wiederaufbau und Erholung wären unter diesen Bedingungen nicht möglich. Zudem widerspräche es diametral den Vorstellungen der internationalen Gemeinschaft: Von Anfang an wurde hier eine Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) debattiert.
Die PA, 1993 im Rahmen der Oslo-Verträge als Nukleus eines palästinensischen Staates geschaffen, hat den Großteil ihres Ansehens längst eingebüßt. Ihre Schwäche zeigte sich auch in der Reaktion auf den 7. Oktober: Den Angriff der populäreren Hamas, die im Gegensatz zur institutionell verkrusteten, mit Israel kooperierenden PA für sich in Anspruch nimmt, den »Widerstand« gegen die israelische Besatzung anzuführen, wollte die PA nicht verurteilen. Die Debatte über eine mögliche Übernahme der politischen Verantwortung durch die PA in Gaza fand weitgehend ohne ihre Repräsentanten in der Westbank statt. Auch die im März 2024 neu gebildete palästinensische Regierung unter Premierminister Mohammed Mustafa ist wenig inklusiv und ohne Neuwahlen fehlt ihr die notwendige Legitimität.
Wenig deutet derzeit auch auf die Stationierung einer internationalen Militär- oder Beobachterpräsenz hin, die ebenfalls als Übergangsszenario ins Spiel gebracht wurde. Zwar hat sich die israelische Regierung in Gesprächen mit den USA für die Stationierung von Truppen aus „freundlich gesinnten“ arabischen Staaten ausgesprochen. Allerdings hätte die Entsendung von Soldaten in einen von den USA und Israel diktierten Übergangsprozess eine andere Qualität als die viel beachtete arabische Beteiligung an Abschüssen der gegen Israel gerichteten iranischen Drohnen und Raketen – sie könnten dann als Handlanger einer israelischen Besatzung des Gazastreifens wahrgenommen werden. Zudem hat die Hamas bereits angekündigt, dass sie solche Truppen als „feindselig“ ansehen würde (Bar’el 2024). Wenn die Hamas aber nicht „vernichtet“ werden kann, bleibt ein Dilemma, dem sich die internationale Gemeinschaft irgendwann stellen muss: Die zukünftigen Verhältnisse im Gazastreifen können dann nicht ohne ein wie auch immer geartetes Übereinkommen mit den Islamisten gestaltet werden, bevor die PA die Macht übernimmt.
Es sind vor allem drei arabische Staaten, die aufgrund ihrer langjährigen Verflechtung mit dem Konflikt im Mittelpunkt stehen und eine positive Rolle bei Verhandlungen für die Übergangszeit spielen können:
- Katar, als langjähriger Unterstützer der Hamas mit gleichzeitig guten Beziehungen zum Westen;
- Ägypten, unter Präsident Al-Sisi innenpolitisch wieder zur autoritären Diktatur geworden, das mit Sorge auf die eigene Grenze mit dem Gazastreifen blickt;
- und schließlich Jordanien: das zweite Land, das einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen hat, innenpolitisch allerdings unter Druck steht und sich als Anwalt der palästinensischen Interessen positioniert.
Diese drei Staaten sind für die Zukunft des Gazastreifens zentral und könnten eine führende Rolle in einem regional unterstützten Verhandlungsprozess übernehmen, der auch das Ziel eines palästinensischen Staates wieder in den Blick nimmt.
Denn die USA, die EU, aber auch weitere Länder sehen den 7. Oktober auch als Weckruf, die Suche nach einer Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes nicht weiter zu ignorieren. Das gilt insbesondere auch für die EU, die seit vielen Jahren die Zweistaatenlösung proklamiert, aber die Lage vor Ort auch aufgrund anderer internationaler Krisen und Konflikte über viele Jahre weitgehend ignorierte. Dabei führte sie zwar ihre Unterstützung der palästinensischen Autonomiebehörde und Verwaltung fort, aber ohne das entsprechend politisch zu begleiten.
Der israelische Premierminister hat das Ansinnen, die Schaffung eines palästinensischen Staates wieder auf die Tagesordnung zu setzen, bereits vehement abgelehnt. Das deckt sich aktuell mit der Stimmung nicht nur in der israelischen, sondern auch der palästinensischen Bevölkerung: Die Unterstützung für die Zweistaatenlösung ist dort jeweils auf dem Tiefpunkt.
Friedensperspektiven stärken, aber wie?
Kurzfristig müssen Bundesregierung und EU endlich ihren Teil dazu beitragen, den in den VN beschlossenen Waffenstillstand dauerhaft umzusetzen und – wie in der Sicherheitsrats-Resolution festgeschrieben – die Befreiung der israelischen Geiseln voranzubringen. Ein dauerhafter Waffenstillstand ist auch der beste Weg, um die regionale Eskalationsdynamik einzudämmen. Die monatelang fortgesetzten Angriffe haben zudem nicht nur überproportional Gazas Zivilbevölkerung betroffen, sondern auch die Gesundheit und das Leben der Geiseln aufs Spiel gesetzt. Auch daher protestieren seit Monaten viele Angehörige gegen den Kurs von Premierminister Netanjahu.
Eine Waffenruhe ist auch Voraussetzung für die dringend notwendige, sichere Verteilung von Hilfsgütern im gesamten Gazastreifen. Statt mit ineffektiven Abwürfen von Hilfsgütern aus der Luft zu agieren, müssen Deutschland und die EU politischen Druck ausüben, um Lieferungen über die Landgrenzen zu ermöglichen. Sonst könnten nach Schätzungen von Expert*innen über 100.000 Menschen an den Folgen von Hunger und Krankheiten sterben (Ahituv 2024). Druck wird auch benötigt, um die von Netanjahu angekündigte Rafah-Offensive zu verhindern, die katastrophale Folgen für die Zivilbevölkerung hätte. Solange das Vorgehen der israelischen Armee derart fatale Folgen für die Zivilist*innen in Gaza hat und Vorwürfe von massiven Kriegsverbrechen im Raum stehen, dürfen EU-Staaten – so sieht es der internationale Vertrag über den Waffenhandel vor – keine Waffen mehr für die Fortführung der Kriegsführung in Gaza an Israel liefern.
Nach Kriegsende geht es zunächst um eine tragfähige Lösung für Gaza. Deutschland und die EU sollten sich in Zusammenarbeit mit den USA und den VN dafür einsetzen, dass es keine Rückkehr zum Status quo vor dem 7. Oktober gibt. Denn bei einer neuerlichen Blockade droht ein neuer Kreislauf aus Waffenschmuggel und radikalen Organisationen, denen es im endgültig verelendeten Gazastreifen nicht an neuen Rekrut*innen mangeln wird.
Dabei gibt es ein positiveres Szenario für den Gazastreifen, das mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft umzusetzen wäre: Nämlich eine echte und nachhaltige Öffnung, die den Küstenstreifen wieder mit der Welt verbindet. Nur mit einer Öffnung der Grenzen wird ein Wiederaufbau überhaupt denkbar sein.
Fast alle jungen Menschen (über 50 %, also über eine Million Menschen sind jünger als 18) haben das kleine Küstengebiet noch nie in ihrem Leben verlassen. Die Isolation war bei Besuchen vor Ort seit 2007 mit Händen zu greifen und hat vielfältige negative Auswirkungen. Die Ausreise zur Behandlung schwerwiegender physischer und psychologischer Kriegsfolgen muss ermöglicht werden, da im Gazastreifen kein funktionierendes Gesundheitswesen mehr existiert und die wenigen verbliebenen Krankenhäuser keine verfügbaren Kapazitäten mehr haben.
Deutschland und die EU könnten dazu beitragen und im Rahmen einer verhandelten Übergangslösung die Kontrolle der Grenzen inklusive des Seewegs übernehmen. Die EU war bereits mit der EUBAM-Mission an der Grenze bei Rafah beteiligt und stellt Soldat*innen für die UNIFIL-Mission im Libanon. Auch der Seeweg könnte mit einer effektiven Kontrolle für den Wiederaufbau genutzt werden; dafür gilt es, Gazas Seehafen wieder aufzubauen und Gaza dauerhaft über den Seeweg an die Region des östlichen Mittelmeers anzubinden, und die vor der Küste liegenden Gasreserven für Palästina nutzbar zu machen.
Wenn die Sicherheit von der internationalen Gemeinschaft überwacht wird, darf Israel kein Vetorecht über Importe und Exporte haben. Daran scheiterte bereits der »Gaza Reconstruction Mechanism«, der nach dem Krieg 2014 unter Aufsicht der VN die Einfuhr notwendiger Materialien sichern sollte. Doch der Zugang wurde von Israel beschränkt, so dass international zugesagte Hilfsgelder nicht fließen konnten. Die Herausforderung nach dem aktuellen Krieg wird ungleich größer sein, erste Berechnungen gehen von fast 18,5 Mrd. US$ für den Wiederaufbau aus, was ungefähr dem jährlichen palästinensischen Bruttoinlandsprodukt entspricht (Weltbank 2024).
Schließlich geht es um langfristige Perspektiven für eine Konfliktlösung, auch wenn die Voraussetzungen dafür schlechter denn je erscheinen. Mit der Regierung Netanjahu, die offen für Siedlerinteressen und militärische Besatzung im Gazastreifen steht, wird es kaum einen glaubhaften Verhandlungsprozess, geschweige denn »Friedensprozess«, geben. Allerdings ist der Protest gegen die Regierung jüngst wieder enorm angewachsen und Neuwahlen sind wohl nur eine Frage der Zeit. Eine Neuorientierung in Israel könnte die Chancen für diplomatische Prozesse verbessern. Inwiefern allerdings eine neue Regierung zu Zugeständnissen bereit ist, wird von der konkreten Regierungskoalition abhängen. Denn auch wenn eine Mehrheit der Israelis Netanjahu mittlerweile ablehnt und für das Desaster des 7. Oktober mitverantwortlich macht, wird doch die derzeitige Kriegsführung von einer großen Mehrheit befürwortet. Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist da, dass sich immerhin Oppositionspolitiker*innen wie Yair Lapid für eine Rückkehr der PA ausgesprochen haben.
Deutschland und die EU gehören seit dem Oslo-Prozess zu den wichtigsten Unterstützern der palästinensischen Autonomiebehörde. Die Bundesregierung sollte neben dem Wiederaufbau in Gaza auch wieder konkrete Schritte unternehmen, um die Legitimität und Kapazität der PA zu stärken. Dazu gehört auch die diplomatische Anerkennung eines palästinensischen Staates. Die regionale Konfliktverschärfung mit dem Iran ist sogar noch ein zusätzliches Argument dafür, denn nur die Umsetzung der Zweistaatenlösung bietet Aussicht auf eine dauerhafte Normalisierung der Beziehungen aller arabischen Staaten mit Israel.
Darüber hinaus sollten die verbliebenen Friedenskräfte in Israel und Palästina und alle jene, die zur Stärkung von Demokratie und Menschenrechten beitragen, jetzt uneingeschränkt unterstützt werden. Der Impuls nach dem 7. Oktober, die Unterstützung für Palästina einzufrieren, war katastrophal, denn dies traf genau diese zivilgesellschaftlichen Akteure – und spielt letztlich dem »Widerstands«-Narrativ der Hamas in die Hände. Ähnliches gilt für das Palästinenserhilfswerk UNRWA, das für die Versorgung der Palästinenser*innen in der Region und besonders auch in Gaza eine zentrale Rolle spielt. Hier wurden nach bisher unbelegten Vorwürfen gegen einzelne Angestellte Gelder eingefroren, die für die Versorgung Hunderttausender notwendig sind.
Schließlich sollten die derzeit auf verschiedenen Ebenen laufenden rechtlichen Bemühungen um Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorangetrieben werden. Die Bundesregierung betont einerseits ihre Unterstützung für den Internationalen Gerichtshof (IGH) und den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), greift aber andererseits immer wieder deren Urteilen vor, wenn es um den engen Verbündeten Israel geht.2 Nur wenn verantwortliche Akteure auf beiden Seiten für begangene Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden und der Zustand der Straflosigkeit endet, besteht die Hoffnung, dass sich die jetzige Katastrophe nicht wiederholt.
Anmerkungen
1) In deutschen Medien werden diese oft nur mit dem Zusatz verwendet, die Zahlen könnten nicht „unabhängig überprüft werden“; die VN und viele Expert*innen weisen aber darauf hin, dass diese Angaben des Gesundheitsministeriums, das von der Hamas geführt wird, in der Vergangenheit zuverlässig waren; wahrscheinlich sind sie angesichts der zahlreichen Vermissten eher zu niedrig.
2) „Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit zum Beispiel nach Beginn der Verhandlungen zur südafrikanischen Genozid-Klage vor dem IGH im Januar 2024.
Literatur
Ahituv, N. (2024): Epidemics, Famine, Untreated Wounds: Things Are About to Get Much Worse in Gaza. Haaretz, 6.4.2024.
Bar’el, Z. (2024): Israel‘s ‚Multinational Force‘ Pitch for Postwar Gaza Is Little More Than Wishful Thinking. Haaretz, 1.4.2024.
Bartov, O. (2024): Der Angriff der Hamas und Israels Krieg in Gaza. Heinrich-Böll-Stiftung, 18. Dezember 2023.
IGH (2024): Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel). Request for the indication of provisional measures. Unofficial Summary 2024/1, 26.1.2024.
Kubovich, Y. (2024): Israel Created ‚Kill Zones‘ in Gaza. Anyone Who Crosses Into Them Is Shot. Haaretz 31.3.2024.
Michaeli, Y. et al. (2024): Buffer Zone and Control Corridor: What the Israeli Army‘s Entrenchment in Gaza Looks Like. Haaretz, 28.3.2024.
Qiblawi, T. et al. (2024): Anesthetics, crutches, dates. Inside Israel’s ghost list of items arbitrarily denied entry into Gaza. CNN, 1.3.2024.
Ravid, B. (2024): Bibi‘s post-war plan: No reconstruction in Gaza without demilitarization. Axios, 22.2.2024.
Vereinte Nationen (2024): Imminent famine in northern Gaza is ‘entirely man-made disaster’: Guterres. UN News, 18.3.2024.
Weltbank (2024): Joint World Bank, UN Report Assesses Damage to Gaza’s Infrastructure. Pressemitteilung, 2.4.2024.
René Wildangel ist Historiker und Publizist. Er lehrt derzeit an der International Hellenic University in Thessaloniki. Er studierte in Jerusalem und Damaskus und publiziert regelmäßig zu Nahost-Themen.