Weniger verträglich

Weniger verträglich

Wie der Wehrdienst die Persönlichkeit beeinflusst

von Kathrin Jonkmann und Ingrid Bildstein

Dass traumatische Kriegserlebnisse tiefe emotionale Narben bei Veteranen hinterlassen können, die ihre Fähigkeit, im Leben »danach« zurechtzukommen, stark beeinflussen, ist kein Geheimnis. Eine gemeinsame Studie von Psychologen der Universität Tübingen und der Washington University in St. Louis, USA legt jetzt nahe, dass schon allein der Wehrdienst, also auch ohne einen Einsatz im Kampf, einen anhaltenden Effekt auf die Persönlichkeit des Menschen hat.

Lange Jahre herrschte in der Psychologie die Meinung vor, dass sich unsere Persönlichkeit im Laufe des Lebens nur geringfügig verändert. Die Persönlichkeit wird allgemein als einer der stabilsten und am schwersten zu ändernden menschlichen Züge angesehen. Orientiert man sich an den so genannten »Big Five« der Persönlichkeitspsychologie, so bleiben wir zeitlebens etwa gleich extravertiert, gewissenhaft, neurotisch, offen für neue Erfahrungen und sozial verträglich. Ob man studiert, heiratet oder einen Beruf ausübt, die Persönlichkeit wird davon nicht beeinflusst, so die bisherige Annahme.

Doch diese wird immer mehr in Frage gestellt. Zwei große Metaanalysen haben jüngst gezeigt, dass sich die Persönlichkeit über die gesamte Lebensspanne verändern kann: So werden wir im jungen Erwachsenenalter gewissenhafter, emotional stabiler und tendenziell verträglicher. Gleichzeitig gibt es aber bei diesen Veränderungen große Unterschiede zwischen den einzelnen Personen. Manche Menschen zeigen beispielsweise einen sehr viel stärkeren Anstieg der Gewissenhaftigkeit als andere, einige bleiben eher stabil und manche bewegen sich sogar entgegen dem allgemeinen Trend: Ihre Gewissenhaftigkeit nimmt ab. Die Wissenschaft identifiziert bedeutsame Lebenserfahrungen, die einen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung nehmen können. Eine frühere Studie hat zum Beispiel gezeigt, dass die Gewissenhaftigkeit von Abiturienten, die eine Ausbildung beginnen, stärker ansteigt als die ihrer früheren Klassenkameradinnen und -kameraden, die ein Studium aufnehmen. Letzteres hingegen schien einen positiven Einfluss auf die Verträglichkeit zu haben.

Doch wie verhält es sich mit dem Wehrdienst? Er ist ein wichtiger Wendepunkt im Leben eines jungen Menschen und könnte folglich entscheidende Auswirkungen auf die Persönlichkeit haben.

Wer entscheidet sich für den Wehrdienst?

Zunächst sollte die Studie »Military training and personality trait development: Does the military make the man or does the man make the military?«die Frage klären, ob bestimmte Eigenschaften die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich ein junger Mensch zum Wehrdienst meldet. Dazu wurden Daten von TOSCA verwendet, einer Längsschnittstudie, die am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin initiiert wurde und nun an der Universität Tübingen beheimatet ist. In TOSCA werden die Abiturkohorten der Jahre 2002 und 2006 von rund 150 zufällig ausgewählten Gymnasien in Baden-Württemberg im Abstand von zwei Jahren regelmäßig zu ihren Lebensumständen und ihrer beruflichen sowie persönlichen Entwicklung befragt. Aus diesen beiden Stichproben wurden diejenigen jungen Männer ausgesucht, die zwei Jahre nach dem Abitur angaben, entweder Wehr- oder Zivildienst absolviert zu haben. Diese 1.261 Lebensläufe wurden anschließend ausgewertet, darunter 245 von Wehrdienstleistenden.

Basierend auf dem Fünf-Faktoren-Modell, dem derzeit vorherrschenden Modell in der Persönlichkeitsforschung, wurden den Probanden Fragen zu fünf Persönlichkeitsmerkmalen (»Big Five« der Psychologie) gestellt, die als relativ dauerhaft sowie als unabhängig voneinander und von kulturellen Unterschieden gelten: Extraversion, Neurotizismus, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Extravertierte Personen suchen die Gesellschaft anderer; sie sind freundlich und herzlich, durchsetzungsfähig, selbstbewusst, begeisterungsfähig, erlebnishungrig und risikofreudig. Neurotizismus zeichnet sich aus durch Ängstlichkeit, Reizbarkeit und Verletzlichkeit, einer Neigung zu übermäßigen Sorgen und Depressionen, einer ausgeprägten sozialen Befangenheit, Impulsivität und niedriger Frustrationstoleranz. Personen, deren Offenheit ausgeprägt ist, sind intellektuell neugierig und denken gerne über Ideen, Kunst oder Musik nach. Sie sind unkonventionell, flexibel, fantasievoll und suchen neue abwechslungsreiche und intellektuell anregende Situationen. Verträgliche Personen sind auf der Suche nach sozialer Harmonie und haben eine positive Sichtweise auf andere Menschen. Sie sind gutherzig und bescheiden, unkompliziert und einfühlsam, selbstlos und hilfsbereit, kooperativ und außerdem bereit, Kompromisse einzugehen. Gewissenhafte Menschen schließlich sind diszipliniert und ehrgeizig, ordentlich und pflichtbewusst und treffen Entscheidung nicht impulsiv, sondern wohl überlegt.

Die Ergebnisse der Befragung zeigten, dass sich anhand dieser Persönlichkeitsmerkmale tatsächlich bis zu einem bestimmten Grad vorhersagen lässt, ob jemand Wehr- oder Zivildienst absolviert. Für den Zivildienst entschieden sich nämlich in etwas stärkerem Maße Personen, die sich selbst als »verträglich« beschrieben. Diese jungen Männer wiesen auch eine höhere Offenheit auf, d.h. sie mochten intellektuelle Herausforderungen, waren etwas weniger an Fakten orientiert und interessierten sich beispielsweise verstärkt für Kunst. Junge Erwachsene, die sich für den Militärdienst entschieden, beschrieben sich dafür als gelassener, ausgeglichener, optimistischer, sicherer im Umgang mit anderen und verfügten über eine hohe Frustrationstoleranz. Wer Wehrdienst leistete, war also bis zu einem gewissen Grad auch von der Persönlichkeit abhängig – allerdings waren die dokumentierten Unterschiede nicht besonders stark ausgeprägt.

Veränderungen der Persönlichkeit

Beeinflusst der Wehrdienst aber auch seinerseits langfristig die Persönlichkeit? Da es vielfältige Gründe für Veränderungen der Persönlichkeit geben kann, ist es kompliziert, diese nachzuvollziehen. Methodisch wurde der Weg gewählt, so genannte »statistische Zwillinge« unter den Wehr- und Zivildienstleistenden zu finden, also Personen, die aus ähnlichem Elternhaus stammten, ähnliche Bildungsaspirationen aufwiesen und in einer Vielzahl psychologischer Merkmale vergleichbar waren und sich daher mit gleicher Wahrscheinlichkeit für oder gegen den Wehrdienst entscheiden würden. So sollte ausgeschlossen werden, dass etwa Effekte der unterschiedlichen Ausbildung und nicht des Wehrdienstes auf die Persönlichkeit verändernd wirkten.

Zwei Jahre nach dem Abitur, also nach Abschluss des Wehr- oder Zivildienstes, wurden die jungen Männer erneut befragt. Die Ergebnisse zeigten, dass der zuletzt gerade noch neun Monate dauernde Wehrdienst die individuelle Persönlichkeit junger Bundeswehrrekruten tatsächlich nachhaltig beeinflusste. War das Persönlichkeitsmerkmal Verträglichkeit bei den Zivildienstleistenden und den Rekruten, die als »statistische Zwillinge« identifiziert wurden, vor dem Wehrdienst vergleichbar stark ausgeprägt, so lag nach dem Wehrdienst die soziale Verträglichkeit der ehemaligen Rekruten statistisch signifikant unter der der Zivildienstleistenden. Zwar wurden beide Gruppen in dieser Lebensphase insgesamt verträglicher – bei den Rekruten fiel dieser Anstieg jedoch geringer aus. Ausgeschlossen werden kann, dass diese Unterschiedlichkeit der Persönlichkeitsveränderung weniger dem Militärdienst geschuldet war, sondern vielmehr mit den meist sozialen Tätigkeiten des Zivildienstes zusammenhingen: Die ehemaligen Zivildienstleistenden erwiesen sich nicht verträglicher als Gleichaltrige, die gar keinen Dienst geleistet hatten.

Nachhaltige Auswirkungen

Aber was passiert nun langfristig mit den Soldaten, nachdem sie das Militär verlassen haben? Man könnte schließlich annehmen, die Persönlichkeitsveränderung wäre nur temporär, und die Rekruten holten den Unterschied in Sachen Verträglichkeit in den Jahren nach dem Wehrdienst wieder auf. Doch weitere Analysen vier und sechs Jahre nach dem Schulabschluss zeigten, dass dies nicht der Fall war. Im Gegenteil: Der Trend setzte sich noch mindestens vier weitere Jahre fort. Die etwas niedrigere Verträglichkeit der ehemaligen Soldaten im Vergleich mit ihren Altersgenossen bestand also auch noch Jahre später, als die Teilnehmer bereits ihr Studium, ihre Ausbildung oder ihren Beruf aufgenommen hatten. Es handelt sich demnach nicht nur um einen kurzzeitigen Effekt, sondern um langfristige Auswirkungen des Wehrdiensts auf das Persönlichkeitsmerkmal der Verträglichkeit.

Welchen Einfluss dieser Unterschied wiederum auf das Leben der ehemaligen Soldaten hat, lässt sich noch nicht absehen. Kumulative Auswirkungen könnten von Bedeutung sein. Schließlich kann sich die Verträglichkeit direkt auf etliche wichtige Lebensereignisse auswirken, wie zum Beispiel auf die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Eine niedrige Verträglichkeit könnte eine Belastung für Freundschaften und Partnerschaften darstellen, da sich durch dieses Persönlichkeitsmerkmal möglicherweise das Konfliktpotenzial erhöht. Andererseits muss diese menschliche Eigenschaft nicht zwingend negative Konsequenzen haben: So ist es wahrscheinlicher, dass Menschen, die weniger kompromissbereit sind, die Karriereleiter erklimmen und bessere Aufstiegschancen im Beruf haben.

Für die psychologische Grundlagenforschung war es bedeutsam, mit der Studie nachgewiesen zu haben, dass der Wehrdienst diese lang anhaltenden Auswirkungen auf den Menschen haben kann. Das Ergebnis zeigt allerdings auch, wie robust die Persönlichkeit eines Menschen ist: Schließlich wurde nur eine der fünf großen Persönlichkeitseigenschaften durch diese Erfahrung beeinflusst.

Welcher Part des militärischen Lebens genau diese Veränderungen der Persönlichkeit bewirkt, hat die Studie nicht ermittelt. Es lässt sich allerdings vermuten, dass es um ein Zusammenspiel von zwei Faktoren geht: Zum einen sind Verhaltensweisen, die eine niedrigere Verträglichkeit anzeigen, ein explizites Trainingsziel, um Soldaten optimal auf Kampfeinsätze vorzubereiten. Zum anderen stellt das Militär eine Umgebung dar, in der Personen mit bestimmten Eigenschaften zusammenkommen, also einen Kontext, in dem tendenziell unverträglichere, weniger offene und emotional stabilere Personen aufeinander treffen, die sich dann gegenseitig in ihren Persönlichkeitsmerkmalen bestärken.

Verstärkung des Effekts nach dem Wegfall der Wehrpflicht?

Es ist anzunehmen, dass nach Wegfall der obligatorischen Frage »Wehr- oder Zivildienst?« junge Erwachsene eine Entscheidung für den Militärdienst jetzt deutlich bewusster treffen als früher. Verstärken sich also die beschriebenen Selektionseffekte, da die Gruppe der Wehrdienstleistenden noch homogener wird und dies wiederum beeinflusst, was im Kontext Militär erlebt wird? Und verstärken sich damit womöglich auch die Unterschiede in der Persönlichkeit zwischen Berufssoldaten und Normalbevölkerung? Um dies herauszufinden, sind weitere Forschungsarbeiten notwendig.

Literatur

Jackson, J. J., Thoemmes, F., Jonkmann, K., Lüdtke, O., and Trautwein, U. (2012): Military training and personality trait development: Does the military make the man or does the man make the military? Psychological Science 23, S.270-277.

Prof. Dr. Kathrin Jonkmann ist Juniorprofessorin in der Abteilung Empirische Bildungsforschung und Pädagogische Psychologie sowie Fakultätsmitglied der Exzellenz-Graduiertenschule LEAD der Universität Tübingen. Dipl.-Kulturwirtin Ingrid Bildstein ist Mitarbeiterin der Abteilung Empirische Bildungsforschung und Pädagogische Psychologie sowie der Exzellenz-Graduiertenschule LEAD der Universität Tübingen.

Der bejubelte Putsch

Der bejubelte Putsch

von Jürgen Nieth

Wenn das Militär einen gewählten Präsidenten absetzt, nennt man das normalerweise einen Militärputsch. Im Fall Ägypten vermeiden die meisten Regierungen jedoch dieses Wort. „Verwirrte westliche Politiker kritisierten die Mittel, aber lobten den Zweck; scheuten das Wort Putsch und sprachen lieber von einer Militärintervention, unternommen um schlimmeres zu verhindern.“ (Spiegel 28/2013, S.75). Kritik und Verständnis, das ist auch der Tenor vieler Kommentare in den deutschen Tageszeitungen.

Kritik und Verständnis

„Ein Militärputsch im Namen der Demokratie? Es fällt schwer zu glauben, dass es tatsächlich das ist, was gerade in Ägypten passiert […] Doch so wenig wünschenswert ein Machtwechsel auf den Spitzen von Bajonetten sein mag: Unter allen schlechten Optionen könnte diese noch die beste sein.“ (Markus Ziener im Handelsblatt, 05.07.13, S.14) „Manche Beobachter sprechen bereits von einem Putsch. Sie liegen nicht ganz falsch und nicht ganz richtig. Nicht ganz falsch liegen sie, weil die Armee den demokratisch gewählten Präsidenten unter Arrest gestellt hat […], nicht ganz richtig, weil das Militär nicht sämtliche Hebel der Macht ergriffen hat.“ (Jacques Schuster in Die Welt, 05.07.13, S.1) „Was aussieht wie ein Putsch und ausgeführt wird wie ein Putsch, ist auch ein Putsch.“ Aber: „Die Armee als einzig noch funktionierende Institution des Landes hatte kaum eine andere Wahl als einzugreifen.“ (Tomas Avenarius in Süddeutsche Zeitung, 05.07.13, S.4) „Die Armee drängt sich nicht in eine neue politische Verantwortung […] [sie] entzieht sich aber auch nicht ihrer Verantwortung als der einzigen Institution, der die Ägypter nach einer Umfrage vertrauen.“ (Rainer Hermann in FAZ, 04.07.13, S.1)

Die Abkehr von den Muslimbrüdern

Die Absetzung von Präsident Mursi durch das Militär wurde nicht nur auf dem Tahrir-Platz begeistert gefeiert. Alle Kommentare gehen davon aus, dass die Mehrheit der ÄgypterInnen den Rücktritt Mursis wollte. Als Gründe dafür werden vor allem zwei Entwicklungen genannt. „Die Wurzel der Proteste“ lässt sich nach Markus Ziener (Handelsblatt, 05.07.13, S.14) an den „ökonomischen Kennziffern ablesen. Nach 14 Prozent im Jahr 2009 sind es nach einem im Mai vorgelegten Bericht der Vereinten Nationen nun 17 Prozent der Bevölkerung, die täglich darum kämpfen, genügend Essen auf den Tisch stellen zu können. Über 30 Prozent der Kleinkinder leiden unter Mangelernährung – 2005 waren es noch 23 Prozent. Zwei von fünf Ägyptern müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen.“ Laut Tagesspiegel (08.07.13, S.1) ist die Bevölkerung „bitterarm und ungebildet. Die Schulsysteme verkommen und sind total überlastet, weil viele der Reichen keine Steuer bezahlen.“ Als zweiten Grund für den Ansehensverlust der Muslimbrüder nennt der Tagesspiegel (04.07.13, S.1) die „autoritäre Überrumpelungstaktik“, mit der alle anderen gesellschaftlichen Kräfte von der „Mitgestaltung der postrevolutionären Charta ausgeschlossen [wurden] […] Bei ihren ideologischen Großzielen einer islamistischen Staatsordnung und einer Islamisierung der Gesellschaft waren [die Muslimbrüder] nie zu Kompromissen mit der liberalen muslimischen Minderheit oder den koptischen Christen bereit.“

Die falschen Freunde

Die Politik der Muslimbrüder war die Ursache für die Massenproteste gegen Mursi. Doch nicht die Demonstranten haben ihn aus dem Amt gejagt, das Militär hat ihn gestürzt. Der Jubel auf der Straße wird deshalb in einigen Kommentaren sehr kritisch beurteilt. Für Tomas Avenarius (SZ, 05.07.13, S.4 ) ist die „Sorglosigkeit der Ägypter beim Sturz ihres ersten frei gewählten Staatschefs […] erschreckend“. Sonja Zekri (SZ 08.07.13, S.4) bezeichnet den „vom Volk ersehnte[n] Putsch“ sogar als „ein Fest für al-Qaida. Aus Syrien und dem Irak donnert die Gruppe ihre Verachtung für Demokratie in die Welt. Nur das Schwert bringe Wandel, nur Munitionskartons, nicht Wahlurnen.“ Für Silke Mertins (taz, 05.07.13, S.1) haben die Mursi-Gegner „einen Pyrrhussieg errungen. Die Generäle sind für die demokratische Bewegung die falschen Freunde. Sie sind keine Demokraten und sie sind erst recht keine Garanten einer demokratischen Entwicklung.“

Mertins verweist darauf, dass die Armee ein „Staat im Staate“ ist und dass jede „demokratische Regierung, die versuchen würde, die Privilegien des Militärs anzutasten […], alsbald ebenfalls unter Hausarrest und Anklage stehen“ könnte. Ähnlich kritisch sieht das der Tagesspiegel (08.07.13, S.1): „Die Generäle sorgen sich um ihr Firmenimperium, was bis zu 40 Prozent der Wirtschaftsleistung Ägyptens auf die Waage bringt. Sie sind der größte Landbesitzer weit und breit. Sie produzieren alles, von Trinkwasserflaschen über Kühlschränke bis zu Autos und Flachbildschirmen. Wehrpflichtige beuten sie als billige Arbeitskräfte in ihren Fabriken aus […] Sie haben deshalb kein Interesse daran, dass sich in ihrer bis ins Mark korrupten Gesellschaft irgendetwas ändert.“

Ausblick

Der Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, sieht Ägypten nach wie vor „nicht auf dem Weg in einen Bürgerkrieg“. Er befürchtet aber „Unruhen, die das Land weiterhin blockieren“ (FR, 09.0713, S.10). Richard Herzinger (Die Welt, 08.07.13, S.3) ist da viel optimistischer. Er sieht in der ägyptischen Entwicklung „eine Niederlage von historischer Dimension“ nicht nur für die „Moslembruderschaft, sondern für die gesamte Bewegung des radikalen politischen Islam in der Region“. Für ihn ist es möglich, dass das ägyptische Beispiel „namentlich den säkularen Kräften in Tunesien, Syrien und Libyen […] enorm Auftrieb geben“ könnte.

Viel skeptischer ist da Rainer Hermann (FAZ 09.07.13, S.1): „In Ägypten haben der Militärputsch und die Absetzung von Präsident Mursi die Probleme des Landes nicht gelöst, sie haben sie, im Gegenteil, noch verschärft […] Eine nationale Aussöhnung rückt in die Ferne, die Spaltung in der ägyptischen Gesellschaft vertieft sich, die Zeit für eine politische Lösung läuft davon.“ Skepsis auch beim in Kairo lebenden Auslandskorrespondenten der taz, Karim El-Gawhary: „Der heutige Tag [mit den tödlichen Schüssen auf Moslembrüder] wird zwei Entwicklungen einleiten, die für Ägypten gefährlich sind. Er wird endgültig eine Radikalisierung des politischen Islam auslösen. Und dazu führen, dass sich in einem unregierbaren Land die Armee noch mehr in der Politik verstrickt.“ (taz, 09.07.13, S.1)

Jürgen Nieth

Pooling und Sharing

Pooling und Sharing

Der geteilte Krieg und das Ende der Demokratie

von Claudia Haydt

In der NATO wie beim militärischen Arm der Europäischen Union geht der Trend hin zur gemeinsamen Nutzung bestimmter Ressourcen. Begründet wird dies vor allem mit budgetären Zwängen, vorbereitet wurde es aber schon vor der Finanzkrise. Was zunächst plausibel klingen mag – nicht jedes Land hält teures Gerät und hoch spezialisiertes Personal vor, sondern bringt diese in einen Pool zur gemeinsamen Nutzung ein –, hat Folgen für den Einsatz des nationalen Militärs, die öffentlich bislang kaum diskutiert werden.

Die Wirtschaftskrise ist auch bei den Militärhaushalten der Europäischen Union angekommen – zumindest wenn man den Verlautbarungen zahlreicher Politiker oder Think-Tanks Glauben schenkten mag. Seit Beginn der Banken- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 wird die Debatte über militärische Integration innerhalb der Europäischen Union vor allem unter Verweis auf die schrumpfenden finanziellen Ressourcen der Mitgliedsstaaten vorangetrieben.

Zentral ist dabei die Gent-Initiative, die die belgische EU-Präsidentschaft im Jahre 2010 ins Leben rief. Hier wurde nach Wegen gesucht, wie aus der Europäischen Union ein effektiverer und handlungsfähigerer militärischer Akteur werden könnte als bisher. Die Gent-Initiative – das Motto ist »Pooling und Sharing«1 – geht dabei Hand in Hand mit vergleichbaren Bemühungen der NATO, die dort »multinational approach« oder »smart defense« heißen.

Für die engere Kooperation hat die Europäische Verteidigungsagentur (European Defence Agency/EDA) die nationalen Fähigkeiten nach drei Kriterien überprüft. Zum einen wurde beleuchtet, wie nationale Fähigkeiten so umgestaltet werden können, dass sie in Zukunft eine stärkere militärische Zusammenarbeit (Interoperabilität) ermöglichen, zum Beispiel im Rahmen der Europäischen Eingreiftruppe. Zweitens sollen die nationalen Fähigkeiten auf ihre Rolle bei der zukünftigen europäischen Aufgabenteilung untersucht werden, um die Duplizierung spezialisierter und teurer Fähigkeiten (etwa für die Luftbetankung) oder Systeme (z.B. Flugzeugträger) zu vermeiden. Schließlich sollen die nationalen Fähigkeiten identifiziert werden, die sich für die Erstellung EU-weiter Pools und deren gemeinsame Nutzung eignen.2 Wie weit Letzteres bereits gediehen ist und welche Auswirkungen dies auf die demokratische Kontrolle von Militärpolitik hat, soll im Folgenden erläutert werden. Vorab lohnt sich jedoch ein kurzer Blick auf die Frage, wie weit die europäischen Militäretats tatsächlich von Kürzungen betroffen sind.

Sparen beim Militär?

Es fällt auf, dass die Klagen über Kürzungen beim Militär in keinem Verhältnis zu den realen Kürzungen in den EUropäischen öffentlichen Haushalten stehen. Die Stiftung Wissenschaft und Politik warnt gar, „die Finanzkrise demilitarisiert Europa“.3 Die SWP stützt sich dabei auf Daten der Europäischen Verteidigungsagentur, die einen Überblick über die Entwicklung der Verteidigungsausgaben bis zum Jahr 2010 geben.4 Die Verteidigungsagentur wie die SWP konstatieren einen europaweiten Rückgang der Militärausgaben und argumentieren dabei vor allem mit dem starken Rückgang der Militärbudgets in den neuen NATO-Mitgliedsstaaten im Osten Europas. Dass diese jedoch in den Jahren zuvor zur Vorbereitung des NATO-Beitrittes zu Lasten ihrer Sozialsysteme ihre Ausgaben im Militärbereich massiv gesteigert hatten und ihre Militäretats auch nach den aktuellen Kürzungen längst nicht wieder auf das Niveau aus der Zeit vor dem NATO-Beitritt gesunken sind, das verschweigen SWP und EDA. Die Zahlen über dramatisch sinkende Verteidigungsausgaben treffen daher nur begrenzt zu.

Als Beispiel sei hier Deutschland genannt, das einen gewichtigen Teil des gesamteuropäischen Verteidigungsbudgets stellt. So konstatiert die EDA einen deutlichen Rückgang der deutschen Militärausgaben von 36,1 Mrd. Euro im Jahr 2009 auf 33,5 Mrd. Euro im Jahr 2010. Nach den offiziellen Zahlen im deutschen Bundeshaushalt lagen die Ausgaben 2009 und 2010 jeweils bei etwa 31,1 Mrd., es ist aber bekannt, dass diese Angaben nur begrenzt stimmen. Wesentlich zuverlässiger sind die Zahlen, die die Bundesregierung an die NATO meldet; demgemäß wurden 2009 etwa 33,5 Mrd. Euro fürs deutsche Militär ausgegeben, 2010 mit 34 Mrd. Euro etwas mehr. Seitdem sind die deutschen Militärausgaben weiter gestiegen und werden im Jahr 2013 gemäß dem Kabinettsentwurf des Verteidigungshaushaltes etwa 36,9 Mrd. Euro betragen.5 Es bleibt also ein Rätsel, auf welcher Grundlage die »Demilitarisierung Europas« konstatiert werden kann.

Teurer globaler Interventionismus

Zuverlässiger als bei den Militäretats scheinen die Angaben der EDA bei der Frage nach den Kosten für Militärinterventionen der EU-Mitgliedsstaaten zu sein. Dabei fällt auf, dass sowohl die Gesamtkosten für globale Kriegs- und Besatzungseinsätze kontinuierlich gestiegen sind (von 6,6 Mrd. Euro in 2006 auf 10,4 Mrd. Euro in 2010) als auch die Kosten pro eingesetztem Soldaten, die sich von 79.000 Euro im Jahr 2006 auf 157.000 Euro im Jahr 2010 fast verdoppelt haben. Da die Personalkosten in etwa gleich geblieben sind, geht der Anstieg der Interventionskosten vor allem auf die immer teurere Ausstattung, entsprechend steigende Wartungskosten, den höheren Munitions- und Treibstoffverbrauch und eine intensivere und stärker technisierte Kriegsführung zurück. Durch den zunehmenden Einsatz von unbemannten Drohnen und weiterem Hightech-Kriegsgerät wird die Kostenexplosion wohl weiter zunehmen. Will die EU also ihre Fähigkeit zur globalen Kriegsführung erhalten oder gar ausbauen, wird sie dafür zukünftig noch mehr Geld brauchen als bisher. Die »knappen Mittel« der EU-Militärs sind also in erster Linie eine Konsequenz ihrer globalen Militärinterventionen und ihrer machtpolitischen Ambitionen.

Die »Krise« wird offenbar als Argument genutzt, um die militärische Integration von EU und NATO, die bereits seit Langem geplant, aber ohne tatsächlichen oder imaginierten Notstand politisch nicht durchsetzbar war, auf ein einheitliches Niveau fortzusetzen.6 Die »Krise« wird somit zur »Chance« für die Militärpolitik der EU.

EUropäisches Lufttransportkommando als Fallbeispiel

Welche militärischen und politischen Konsequenzen das »Pooling und Sharing« haben kann, lässt sich beispielhaft am »europäischen strategischen Lufttransportkommando« (European Air Transport Command/EATC) zeigen. Mit dem EATC soll eine von drei vermeintlichen »Fähigkeitslücken« geschlossen werden. Zum Aufgabenspektrum des Kommandos gehören die Mobilität im Einsatz, der Schutz der Soldaten bei Militäreinsätzen und vor allem die Bereitstellung von Transportkapazitäten für die Verlegung von Streitkräften und Gerätschaften in die Einsatzgebiete. Das EATC ist also ein zentrales Projekt, um die Kriegsfähigkeit der EUropäischen Streitkräfte zu verbessern. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat es seine Arbeit vor mehr als einem Jahr aufgenommen.

Das EATC ist verantwortlich für gemeinsame militärische Lufttransporte mit Flugzeugen, nicht jedoch mit Hubschraubern. Das europäische Kommando führt zwar keine »kinetischen Einsätze«, also keine direkten Kampfeinsätze, durch, transportiert aber Rüstung, Munition und Soldaten im direkten Kontext von Kriegen. Wie bei den meisten multinationalen Militärprojekten müssen die Einzelstaaten bei der Einrichtung des gemeinsamen Transportkommandos zumindest auf einen Teil ihrer nationale Souveränitätsrechte verzichten. Das ist einer der Gründe, weshalb die konkrete Umsetzung vieler Integrationsprojekte länger dauert als von Seiten der EUropäischen Militärstrategen geplant. Die grundsätzliche Bedeutung dessen, was bereits umgesetzt wurde, darf dennoch nicht unterschätzt werden.

2007 einigten sich Belgien, Deutschland, Frankreich und die Niederlande auf ein EATC-Konzept. Im September 2010 wurde das EATC in Eindhoven (Niederlande) aufgestellt. Luxemburg, das ursprünglich seine Bereitschaft zur Teilnahme signalisiert hatte, wird voraussichtlich erst 2013 beitreten. Um das EATC langfristig zu etablieren, soll 2013/14 ein Staatsvertrag abgeschlossen werden, und damit auch Nicht-NATO-Staaten integriert werden können, wurde bewusst eine Lösung außerhalb der NATO-Struktur gesucht. Es wird unter anderem mit dem Beitritt von Österreich, Spanien und der Türkei gerechnet.

Der deutsche Beitrag zum EATC besteht momentan aus 72 Soldaten und einem Zivilmitarbeiter, die in der Zentrale in Eindhoven eingesetzt werden. Im November 2011 wurden zudem etwa 70 deutsche Transportflugzeuge dem gemeinsamen Transportkommando unterstellt. Die Flugzeuge werden jeweils von nationalen Besatzungen geflogen, transportieren aber Frachten für sämtliche teilnehmende Streitkräfte. Dem EATC wurden fünf A310 zugeordnet, beim Rest handelt es sich um C-160 und C-160 ESS. In Zukunft sollen auch die von EADS produzierten Airbus A400M im Rahmen des EATC eingesetzt werden. Obwohl die volle Funktionsfähigkeit des Transportkommandos erst im Mai 2011 erreicht wurde, hat es im Jahr 2011 bereits umfangreiche Transportleistungen abgewickelt: Insgesamt fanden 7.712 Flüge statt, 3.650 davon waren deutsche Flüge.

Flüge, die für eine andere Nation durchgeführt werden, werden nicht bezahlt, sondern lediglich erfasst. Durch den Einsatz des jeweils passenden Flugzeuges mit der jeweils passenden Transportkapazität wird aber in Summe auf einen Effizienzgewinn gehofft.

Libyen und Afghanistan – Kriegsbeteiligung als Routineaufgabe

Die Transportflugzeuge werden nicht nur in Europa eingesetzt, sondern routinemäßig auch „auf dem afrikanischen und amerikanischen Kontinent“.7 Konkret wurden bisher der Libyenkrieg, die französische Intervention in der Elfenbeinküste und der Afghanistankrieg über das EATC unterstützt. Die Flüge für den ISAF-Einsatz in Afghanistan werden von deutschen Flugzeugen über Termes/Usbekistan und von französischen Flugzeugen über Duschanbe/Tadschikistan abgewickelt. Angesichts der seit November 2011 geschlossenen Grenze zu Pakistan haben diese Transportrouten zentrale strategische Bedeutung.

Nach Angaben aus dem Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung im Europaparlament8 wurden im Verlauf des Libyenkrieges 11.000 Soldaten und 3.300 Tonnen Ausrüstung durch das EATC transportiert. Der größte Teil dieser Transporte wurde mit französischen Maschinen abgewickelt, deutsche SoldatInnen haben aber immerhin etwa 10% der Transporte durchgeführt. Zusätzlich unterstützten in der Zentrale in Eindhoven weitere Bundeswehrangehörige den Libyenkrieg.

Dabei war Deutschland am Libyenkrieg offiziell gar nicht beteiligt. Der Bundestag erteilte folglich auch kein Mandat für die Teilnahme deutscher Soldaten an diesem Krieg. Dennoch waren über hundert deutsche Soldaten in NATO-Stäben eingesetzt, die explizit für die Unterstützung des Libyen-Krieges eingerichtet worden waren. Die Parlamentsbeteiligung und damit die demokratische Kontrolle der Bundeswehr werden durch solche indirekten Kriegseinsätze im Zuge der militärischen Integration immer weiter ausgehöhlt.

Das Ende der Parlamentsarmee

Das EATC ist zwar nicht das einzige militärische Integrationsprojekt der EU, es gehört jedoch neben dem prominentesten Beispiel, den Europäischen Battlegroups, zu den am weitesten vorangeschrittenen Projekten für das »Pooling« europäischer militärischer Ressourcen. Während das EATC sich bereits als »kriegstauglich« erwiesen hat, steht dieser »Praxistest« den Battlegroups eventuell bald bevor. Diese meist multinationalen Gefechtsverbände mit 1.500 bis 3.000 Soldaten stehen für jeweils ein halbes Jahr für globale Militärinterventionen zur Verfügung. Das Ziel, die Battlegroups innerhalb von weniger als zehn Tagen einsetzen zu können, ist nach Auskunft des Vorsitzenden des EU-Militärkomitees Haakan Syrén inzwischen erreicht.9

Deutschland hat in drei weiteren Projekten die Federführung übernommen: bei der Errichtung eines multinationalen Hauptquartiers in Ulm (Multinational Joint Headquarter), beim Aufbau eines Pools von Flugzeugen zur Überwachung des Seeraumes sowie bei einer Militärgeographischen Unterstützungsgruppe. Jedes dieser multinationalen Projekte könnte vor einem Militäreinsatz zumindest theoretisch durch ein nationales Veto gestoppt werden. In den meisten Ländern müsste das Veto von der Regierung kommen, nur in wenigen Ländern hat das Parlament dabei die entscheidende Stimme. Parlamentarische Entscheidung bedeuten immer auch öffentliche Debatten über Sinn und Unsinn von Einsätzen. Deswegen sieht der Lissabon-Vertrag der EU in Protokoll 10 auch vor, die parlamentarischen Entscheidungswege im Zuge der »ständigen strukturierten Zusammenarbeit« »anzupassen«, so dass einer kurzfristigen Verfügbarkeit der nationalen Militärbeiträge nichts mehr im Wege steht.

Die Möglichkeit für Grundsatzentscheidungen über Krieg und Frieden werden zunehmend durch Effizienzerwägungen ausgehebelt, wie die Vorschläge von Andreas Schockenhoff, dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zeigen: „Wichtig ist, dass wir wie unsere Verbündeten auf Kommando-, Logistik, Aufklärungs- oder Ausbildungseinheiten, die »geteilt« werden, verlässlich zugreifen können. […] Eine wirkungsvolle GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] wird die militärischen Fähigkeiten der einzelnen Staaten in so starkem Maße zusammenlegen und unter geteilte Führung stellen, dass es nicht möglich sein wird, nationale Vorbehalte als Einzelmeinung durchzusetzen. Deutsche Soldaten könnten damit in einen EU-Einsatz gehen, den die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag allein aus eigener Initiative nicht beschlossen hätten.“10

Fazit

Das EATC und andere »Pooling-und-Sharing«-Projekte stellen Schritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Armee dar. Wer diese will, spricht sich damit für einen Abschied von der Parlamentsarmee aus. Die Bundeswehr im Einsatz ist bereits heute, mit den noch existierenden Möglichkeit der Parlamentsbeteiligung, kaum zu kontrollieren. Doch je mehr eine europäische Armee Realität wird, umso stärker werden die letzten Kontrollmöglichkeiten verschwinden. Bereits schon die Tatsache, dass in der Öffentlichkeit nur über das angebliche Sparpotential einer EUropäischen Integration, nicht aber über das Demokratieproblem diskutiert wird, sollte nachdenklich stimmen. Einen konkreten Vorgeschmack auf die Auswirkungen der militärischen Integrationspolitik liefert das EATC, in dessen Rahmen Bundeswehrangehörige umfangreiche Kriegsunterstützung leisten – ohne öffentliche Debatte, ohne vorherige Information der Abgeordneten und ohne Entscheidung des Bundestages.

Anmerkungen

1) Vgl. European Defence Agency: EDA’s Pooling and Sharing. Fact Sheet vom 20.1.2012.

2) Insgesamt wurden vom EU-Militärstab 18 Projekte mit Potential für eine engere Kooperation identifiziert, auf die hier aber nicht im Einzelnen eingegangen werden kann.

3) Claudia Major: Mehr Europa in der NATO. SWP-Aktuell 2012/A 52, September 2012.

4) European Defence Agency: Defence Data Portal – 2005-2010; eda.europa.eu/DefenceData.

5) Bundesministerium der Verteidigung: Erläuterungen und Vergleiche zum Regierungsentwurf des Verteidigungshaushalts 2013, August 2012, S.32.

6) Vgl. » Schlussfolgerungen zur Bündelung und gemeinsamen Nutzung militärischer Fähigkeiten« in: Rat der Europäischen Union: Mitteilungen an die Presse. 3157. Tagung des Rates, Auswärtige Angelegenheiten, Brüssel, den 22. und 23. März 2012.

7) Mitteilung Staatssekretär Thomas Kossendey an den Verteidigungsausschuss vom 6.3.2012, S.4.

8) PowerPoint-Präsentation von Generalmajor Jochen Both, 29.11.2011.

9) Myrto Hatzigeorgopoulos: The Role of EU Battlegroups in European Defense. ISIS Europe, European Security Review no 56, June 2012, S.1f.

10) Schockenhoff, Andreas/Kiesewetter, Roderich: Impulse für Europas Sicherheitspolitik. Internationale Politik, September/Oktober 2012, S.88-97.

Claudia Haydt ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Ihr Forschungsschwerpunkt ist deutsche und europäische Außen- und Militärpolitik.

Innere Bilder, die krank machen

Innere Bilder, die krank machen

von Margarete Hecker

Der amerikanische Sergeant Robert Bales ist nach mehreren Jahren Kriegseinsatz im Irak und Afghanistan zum Massenmörder an Zivilisten geworden. Er soll ursprünglich freiwillig in die Armee eingetreten und ein guter Soldat und Kamerad gewesen sein. Wenn man solche Nachrichten hört, fragt man sich unwillkürlich, was treibt Männer, die jahrelangen Kriegseinsatz in fremden Ländern und Kulturen leisten müssen, zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen?

Kann es sein, dass sie diesen Krieg nicht mehr als gerecht und sinnvoll empfinden? Kann es sein, dass der erfolglose Versuch, in einer fremden Kultur unter verfeindeten Gruppen Frieden zu stiften, die Psyche der Soldaten zermürbt? Ist ihnen vielleicht der Glaube an die Sinnhaftigkeit ihres militärischen Einsatzes verloren gegangen? Die Traumaforscherin Judith Herman schreibt in ihrem Buch »Narben der Gewalt« (2000), dem Erfahrungen aus dem Vietnamkrieg zugrunde liegen: „Traumatische Ereignisse vernichten die Vorstellung des Opfers von Geborgenheit, das Bewusstsein seines eigenen Wertes und die Überzeugung, dass der Schöpfung eine sinnvolle Ordnung zugrunde liegt.“ Werden Soldaten somit selbst zu Opfern? Wenn Menschen längere Zeit in Todesangst leben müssen, wenn sie Gewalthandlungen, plötzlichen Tod, Verstümmelungen und Zerstörung um sich herum erleben, liegt es nahe, dass sie den Glauben an eine gerechte, sinnvolle Ordnung des Lebens verlieren. Kann es sein, dass der Sergeant Robert Bales, der sich nach mehreren Jahren aktivem Kampfeinsatz in ein ruhigeres Land versetzen lassen wollte, was abgelehnt wurde, selber ein Zeichen gesetzt hat, und anstatt die Zivilbevölkerung vor Terror zu schützen, nachts sechzehn Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, erschossen hat, also zum Mörder wurde?

Inzwischen ist das Kriegstrauma von heimgekehrten Soldaten, die posttraumatische Belastungsstörung, eine anerkannte medizinische Diagnose; ein hoher Prozentsatz auch der deutschen Soldaten, die aus dem Kriegseinsatz zurückkehren, leidet darunter. Viele von ihnen sind suizidal. Die Therapien sind langwierig und gelingen nicht immer zufriedenstellend.

Unsere deutsche Erfahrung aus dem Zweiten Weltkrieg steht der älteren Generation immer noch sehr deutlich vor Augen. Auch die überlebenden Männer waren in jungen Jahren Gewalt, plötzlichem Tod, Verstümmelung und Zerstörung ausgesetzt. Es war oft niemand da, um diese Eindrücke zu besprechen, das erfahrene Leid und die traumatischen Verluste erträglicher zu machen. Oft kommen erst jetzt, 67 Jahre nach Kriegsende, diese inneren Bilder ins Bewusstsein. Es sind Bilder, die krank machen können, nicht nur körperlich, auch seelisch und geistig. Sie können auch noch krank machen, nachdem sie viele Jahre bei den Überlebenden eingekapselt waren. Das gilt für Holocaustopfer gleichermaßen wie für deutsche Überlebende der Bombennächte oder der Flüchtlingskarawanen auf den eisigen Straßen in Richtung Westen im Winter 1944/45.

Manche Erfahrungen sind damals nie ausgesprochen oder mit anderen Menschen geteilt worden. Sie leben aber in den Kindern, Enkeln und Urenkeln weiter. Es scheint, dass erst jetzt die Zeit reif ist, die Fülle der verdrängten traumatischen Erfahrungen von Opfer- bzw. Täterschaft aus der Verdrängung zurückzuholen. Sabine Bode hat mir ihren Büchern »Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« (2004) und » Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation« (2009) einen sehr eindrucksvollen und lebendigen Beitrag zu dieser Thematik geleistet. Die von ihr beschriebenen Fallgeschichten zeigen sehr deutlich, wie zerstörerisch die Kriegserlebnisse auch nach zwei oder drei Generationen weiterwirken und nicht zur Ruhe finden lassen. Junge Menschen haben das Gefühl, buchstäblich keinen sicheren Boden unter den Füßen zu haben, obwohl sie im relativen Wohlstand aufgewachsen sind, eine gute Ausbildung genossen haben, Eigentumswohnung oder Häuser von ihren Großeltern erben. Dennoch erleben sie keine Lebensfreude, keine Sinnerfüllung.

Man kann nur hoffen, dass Robert Bales ein gerechter Prozess erwartet, dass seine Belastungsstörung als solche erkannt und beim Namen genannt wird und dass er nicht seinen Kindern die unerträgliche Belastung als seelisches Trauma weitergibt. Emmy Werner, eine amerikanische Professorin für Entwicklungspsychologie, die in ihrer Jugend die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs in Deutschland miterlebt hat und später in ihren Forschungen den Begriff »Resilienz« (Gedeihen trotz widriger Umstände) geprägt hat, sagt am Schluss ihrer neuesten Untersuchung zur Situation von Kriegskindern aus aller Welt: „war is not good for children“.

Margarete Hecker war ca. 30 Jahre Professorin an der Evangelischen Hochschule Darmstadt mit dem Aufgabengebiet Weiterbildung von Sozialarbeitern in systemischer Familienberatung. Ein besonderes Anliegen sind ihr weiterhin die Aufarbeitung der Familien- und Sozialgeschichte der Nachkriegszeit, die Situation der Kinder und Enkel der Kriegsgeneration sowie Migrantenschicksale. Website unter nieder-modau.de.

Die Finger überall im Spiel

Die Finger überall im Spiel

Deutsche Polizei- und Militärhilfe

von Jonna Schürkes

In vielen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens rebellieren seit Monaten hunderttausende Menschen gegen zu hohe Lebensmittelpreise, ökonomische Perspektivlosigkeit, fehlende politische Partizipation sowie staatliche Repression und Terror. Der Westen hat nicht nur entschieden zur desaströsen wirtschaftlichen und sozialen Lage dieser Staaten beigetragen, er hat es den autoritären Regimen mit seiner Polizei- und Militärhilfe maßgeblich mit ermöglicht, sich über Jahrzehnte an der Macht zu halten. Auch die aktuellen Proteste werden in manchen Ländern u.a. mit vom Westen vermitteltem Know-how und Equipment brutal niedergeschlagen. Im Zusammenhang mit den Aufständen im arabischen Raum wurde im Bundestag und vereinzelt auch in den Medien über die Unterstützung der Sicherheitskräfte berichtet, das Ausmaß dieser Hilfen und welche Regime auf diese Art von Deutschland unterstützt werden, ist allerdings weitgehend unbekannt.

Bei der polizeilichen und militärischen Ausstattungs- und Ausbildungshilfe (ASH und ABH) handelt es sich um ein zunehmend wichtiges, hochgradig vielschichtiges und äußerst intransparentes Instrument der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Allein in den letzten sieben Jahren erhielten über 100 Staaten außerhalb der Europäischen Union militärische und/oder polizeiliche ABH und ASH von Deutschland.

Bei ABH handelt es sich im Allgemeinen um Fortbildungen für ausländische Sicherheitskräfte in Deutschland oder im jeweiligen Herkunftsland. Polizisten werden von der Bundespolizei (BPol) oder dem Bundeskriminalamt (BKA) an deren Ausbildungszentren in Deutschland oder vor Ort aus- und weitergebildet; bei Soldaten erfolgt die ABH in Einrichtungen der Bundeswehr oder bei gemeinsamen Übungen.

Im Rahmen der ASH liefert die Bundesregierung meist Fahrzeuge, technisches und medizinisches Gerät bzw. finanziert den Aufbau von Infrastrukturen für die Sicherheitskräfte (bspw. Funknetze, Schulungszentren etc.). ASH geht in der Regel mit ABH einher, da mit der Ausstattung Polizisten oder Soldaten »mitgeliefert« werden, die die Ausbildung an dem Gerät übernehmen.

Im Folgenden soll dargestellt werden, dass die Polizei- und Militärhilfe den sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen Deutschlands dient und dass dabei die Unterstützung von Repressionsorganen, die teilweise schwere Menschenrechtsverletzungen begehen, zumindest billigend in Kauf genommen wird.

Ziel: Bevölkerungskontrolle und Einfluss

Den jüngst erschienenen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) ist zu entnehmen, dass die Bedrohungen, denen sich Deutschland heute ausgesetzt sieht, vor allem von so genannten scheiternden oder gescheiterten Staaten ausgehen.1 Ein Staat gilt als gescheitert, wenn er seine Ordnungsfunktion nicht mehr wahrnehmen kann oder will, d.h. wenn er nicht (mehr) in der Lage ist, sein Territorium bzw. seine Bevölkerung zu kontrollieren. Den VPR zufolge stellt diese unkontrollierte Bevölkerung in Form von Piraterie, Terrorismus, »illegaler« Migration, Verbreitung von Epidemien, Organisierter Kriminalität oder schlicht »Instabilität« die neue Bedrohung für die ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen der westlichen Welt dar.

Zur Bekämpfung der Ursachen dieser Phänomene –meist Armut bzw. die ungleiche Verteilung von Reichtümern – müsste der Westen seine Politik gegenüber diesen Staaten ganz grundsätzlich verändern. Stattdessen lautet die Lösung, die »gefährlichen« oder »störenden« Bevölkerungsgruppen repressiv zu kontrollieren. Dazu werden lokale Sicherheitskräfte ausgerüstet, ausgebildet und bezahlt.2

Das mit ABH/ASH verfolgte Ziel ist allerdings nicht auf den Aufbau von Sicherheitskräften beschränkt, vielmehr geht es darum, von Deutschland aus dauerhaft Einfluss auf das Handeln dieser Kräfte zu nehmen und Ansprechpartner in entscheidenden Positionen zu haben, die Informationen weitergeben und Vorgaben umsetzten können. So entsteht ein globales Netzwerk von Sicherheitsakteuren, auf das im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann. Ebenfalls eine Rolle spielt dabei, dass ABH und ASH für solche Regime quasi nebenbei eine Belohnung für ihre Kooperation auf ganz unterschiedlichen Ebenen ist.

Auch wenn der militärischen und polizeilichen ABH und ASH in vielerlei Hinsicht ähnliche Interessen zugrunde liegen, so lohnt es sich dennoch, beide getrennt voneinander zu betrachten, zumal es deutliche Unterschiede bezüglich der Auswahl der Empfängerstaaten gibt.

Polizeiliche Ausbildungshilfe

Deutsche Polizeihilfe ist dem Bundesinnenministerium zufolge Teil der so genannten Vorverlagerungsstrategie, die zum Ziel hat, die „polizeiliche Abwehrlinie in die Ursprungs- und Transitländer der organisierten Kriminalität und der Rauschgiftkriminalität sowie in die Herkunfts-, Rekrutierungs-, Aktions- und Rückzugsregionen des internationalen Terrorismus“ zu verlegen. „Dies bedeutet, dass Hilfeleistungen danach bewertet werden, ob sie die polizeiliche Tätigkeit im Empfängerland strukturell, organisatorisch oder materiell deutlich verbessern können, und/oder ob sie positive polizeiliche Auswirkungen auf die Bundesrepublik haben oder ob sie helfen, die Kriminalitätsrate in unserem Lande zu senken.“ 3 Entsprechend ergeben sich unterschiedliche Zuständigkeiten und gewisse regionale Schwerpunktsetzungen.

Tabelle 1: Anzahl der Fortbildungen durch BPol und BKA nach Regionen (2008 bis Mai 2011)

BKA BPol
EU-Beitrittskandidaten 9 33
Teilnehmer der Europäischen
Nachbarschaftspolitik (ENP)
16 23
Russland 3 51
Naher Osten (außer ENP) 12 20
Afrika (außer ENP) 35
Lateinamerika 39
Asien 35 23*
* ausschließlich China

Quelle: Auswertung verschiedener Anfragen der Linksfraktion im Bundestag zum Thema
»Polizei- und Zolleinsätze im Ausland«

Tabelle 2: Anzahl der Einzelkurse an Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr nach Herkunfts­regionen der teil­nehmenden Soldaten (2007-2010)

Russland 9
Lateinamerika 142
Naher Osten (außer ENP) 191
EU-Beitrittskandidaten 641
Afrika (außer ENP) 831
Asien 1044
ENP 1421
Quelle: BT-Drs. 17/3783 vom 15.11.2010

Die Bundespolizei (BPol) hat zwischen 2008 und 2010 insgesamt 129 Kurse zur Fortbildung ausländischer Polizeien in Deutschland und den entsprechenden Partnerländern durchgeführt, wobei die Anzahl der durchgeführten Kurse in diesem Zeitraum deutlich gestiegen ist (2008: 21; 2009: 45; 2010:63).4 Die Polizisten stammen zum Großteil aus EU-Nachbarländern, bei denen es sich entweder um EU-Beitrittskandidaten oder Teilnehmer der »Östlichen Partnerschaft« handelt. Diese Polizisten werden meist in der Erkennung von Dokumentenfälschung, der Verhinderung der grenzüberschreitenden Kriminalität (zu der auch die »illegale Migration« gehört) und der Sicherung von Küsten, Flughäfen und Landesgrenzen fortgebildet.

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat im gleichen Zeitraum 142 Fortbildungen veranstaltet, vorwiegend in Subsahara-Afrika, Lateinamerika und Asien und weniger in der direkten EU-Nachbarschaft. In Afrika wurden in erster Linie Polizisten aus westafrikanischen Staaten unterstützt. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass diese Region als Umschlagplatz für Drogen aus Südamerika und als Transitregion von Migranten aus der Südsahara auf ihrem Weg nach Europa gilt und daher auch für die europäische Bekämpfung der »illegalen« Migration und des Drogenhandels von Interesse ist. Der Rest der Kurse fand nahezu ausschließlich in ostafrikanischen Staaten (Kenia, Uganda, Äthiopien) statt, alles Verbündete der EU und Deutschlands, v.a. bei dem Versuch, Somalia und damit u.a. die Piraterie am Horn von Afrika unter Kontrolle zu bekommen.

In Lateinamerika werden mit Polizeihilfe größtenteils Regierungen unterstützt, die ohnehin sehr enge Beziehungen zur EU unterhalten (v.a. Kolumbien, Peru, Mexiko); Länder mit linken Regierungen (Bolivien, Venezuela etc.) hingegen erhalten nur vereinzelt Fortbildungen.

Die Lehrgänge des BKA konzentrieren sich vor allem auf die Bekämpfung der »internationalen Kriminalität«: Drogenhandel, Terrorismus, Internetkriminalität etc. Zunehmend gibt es aber auch Kurse zu polizeilichen Ermittlungs-, Fahndungs- und Auswertungsmethoden, also zu sehr grundlegenden Aspekten der Polizeiarbeit, auf die das BKA somit vermehrt Einfluss nimmt.

Militärische Ausbildungshilfe

Anders als bei der Polizeihilfe können bei der militärischen ABH keine regionalen Schwerpunkte festgestellt werden, vielmehr wird sie der Bundesregierung zufolge ganz allgemein solchen Staaten gewährt, „deren Stabilität im deutschen Interesse liegt“.5 Dementsprechend nahmen zwischen 2007 und 2010 bis zu 43006 Soldaten aus 76 Staaten außerhalb der EU an Lehrgängen in Schulungseinrichtungen der Bundeswehr teil.

Die Militärhilfe dient der Herstellung persönlicher Kontakte zwischen deutschen und ausländischen Militärs, erweist sich daneben aber auch für die zahlreichen Militäreinsätze der NATO und der EU von Nutzen, indem Soldaten aus Drittstaaten für diese Einsätze trainiert werden. So wurden für den EU-Militäreinsatz in Bosnien 2007 beispielsweise 70 albanische Soldaten in Deutschland ausgebildet.7 Ebenfalls 2007 wurden 300 georgische Soldaten in Deutschland für die NATO-Truppen im Kosovo (KFOR) trainiert, die dann auch unter deutschem Kommando eingesetzt wurden. 2008 sollten 150 weitere Soldaten folgen, deren Ausbildung allerdings abgebrochen wurde, da sich Georgien aus dem KFOR-Einsatz zurückzog. Der Abzug der Truppen ist wohl in erster Linie auf den Konflikt Georgiens mit Russland, der im Sommer 2008 eskalierte, zurückzuführen, kam allerdings auch den Bedürfnissen der NATO entgegen, denn – so erklärte das georgische Verteidigungsministerium – die Soldaten sollten zukünftig im Rahmen von ISAF in Afghanistan eingesetzt werden8.

Die in Deutschland ausgebildeten afrikanischen Soldaten sollen v.a. für Einsätze der Afrikanischen Union und ihrer Regionalorganisationen zur Verfügung stehen.9 Die Kontakte, die bei den Lehrgängen entstehen, und die finanzielle, logistische und nachrichtendienstliche Abhängigkeit dieser Truppen von der EU gibt Einfluss auf die Entscheidung, wann und wo diese Truppen eingesetzt werden.10

Aber auch bei ihren eigenen Auslandseinsätzen profitiert die Bundeswehr von der militärischen ABH. In ungewohnt deutlicher Weise erklärte die Bundesregierung im November 2010: „Darüber hinaus ist es Ziel, die Bundeswehr bei ihren weltweiten Einsätzen zu unterstützen. Hierzu zählt z. B. die AH [Ausbildungshilfe] an Einsatzländer der Bundeswehr zur Absicherung der Gewährung von Stationierungs-, Überflug- sowie Hafennutzungsrechten oder zur Unterstützung von »Exit-Strategien« der Bundeswehr.“ 11

Ausstattungshilfe – Exporthilfe für die Rüstungsindustrie

ASH wird weit weniger Staaten gewährt als ABH, gewinnt aber laut dem dritten Umsetzungsbericht zum Aktionsplan »Zivile Konfliktbearbeitung« an Bedeutung. Darin heißt es, dass „die Ausstattungshilfe [sich] zu einem wichtigen und effektiven Instrument unserer auswärtigen Beziehungen entwickelt“ hat, das offenbar weiter ausgebaut wird. So wurden zwischen 2005 und 2008 militärische ASH im Wert von 19,3 Mio. Euro geleistet, für den Zeitraum zwischen 2009 und 2012 sind 32 Mio. Euro angesetzt. Wird ASH gewährleistet, so werden Beratergruppen – bestehend aus Bundeswehrsoldaten – »mitgeliefert«, die dann über Jahre oder Jahrzehnte im Land stationiert bleiben (im Senegal befindet sich beispielsweise seit 1986 eine fünfköpfige Beratergruppe).

ASH produziert langfristige Abhängigkeit, denn die Empfänger der Ausrüstung müssen auf den technischen Support der Hersteller aus den »Geberländern« zurückgreifen und werden so als zukünftige Kunden eben jener Technologie gewonnen. ASH ist damit immer auch eine versteckte Subvention für die deutschen Produzenten polizeilicher und militärischer Ausrüstung. In letzter Zeit wurden allerdings Fälle bekannt, die besonders deutlich zeigen, dass ASH und ABH als Exporthilfe für deutsche und europäische Rüstungsfirmen fungieren.12

So machte das Nachrichtenmagazin »Fakt« Anfang April 2011 einen bemerkenswerten Deal publik: Der europäische Rüstungskonzern EADS erhielt 2009 vom saudi-arabischen Regime den Auftrag, eine Grenzanlage rund um das Königreich aufzubauen.13 Allerdings ist der Deal nur zustande gekommen, weil die Bundesregierung gleichzeitig die Entsendung von Bundespolizisten zur Ausbildung der saudi-arabischen Grenzpolizei angeboten hat. Seither sind ständig bis zu 44 Bundespolizisten vor Ort, die bis heute 1674 saudi-arabische Grenzpolizisten fortbildeten, laut Fakt jedoch weniger in für Grenzpolizisten typischen Bereichen wie „Pass- und Gepäckkontrollen“, sondern vielmehr im „Umgang mit so genannten Großlagen, wie Demonstrationen und Aufständen“ sowie „im Besetzen und Durchsuchen von Häusern“. Aufschlussreich ist an diesem Deal auch, wie sehr sich die Bundesregierung und EADS verrenken, um die Unterstützung durch die Bundespolizei überhaupt möglich zu machen. EADS kann die BPol nicht direkt bezahlen, da Polizisten vonseiten Dritter keine Entlohnung annehmen dürfen. Daher zahlt EADS die Honorare der BPol ausgerechnet an die Durchführungsorganisation der deutschen Entwicklungshilfe (GIZ), die diese dann wiederum an die Polizisten überweist: „Die Deckung der […] auslandsbedingten Mehrkosten der BPOL erfolgt, indem EADS die erhaltenen Mittel im Rahmen einer Zahlungsvereinbarung an die GIZ weiterleitet. Die GIZ leistet – wie im Vertrag zwischen dem Bundesministerium des Innern und der GIZ geregelt – die Zahlungen an die Trainer der BPOL […]“ 14

Intransparent und Menschen verachtend

Auch wenn die Bundesregierung bei der Beantwortung von Kleinen Anfragen im Bundestag erwähnte, dass Bundespolizisten saudi-arabische Grenzpolizisten fortbilden, wurden die genauen Hintergründe und das Ausmaß des Deals erst durch »Fakt« bekannt. Diese vollkommen unzureichende Informationspolitik der Bundesregierung ist im Bereich der ASH und ABH symptomatisch, so dass eine Kontrolle dieses wichtigen sicherheitspolitischen Instruments durch das Parlament oder die Öffentlichkeit kaum möglich ist.

Überdies will die Bundesregierung nicht so genau wissen, wie die in Deutschland ausgebildeten Soldaten und Polizisten in ihren Herkunftsländern anschließend eingesetzt werden. Eine entsprechende Evaluation lehnt sie ab, um die Beziehungen mit den jeweiligen Staaten nicht zu gefährden: „Diesbezüglich verbindliche Vorgaben könnten sich entlang der Idee von Förderung demokratischer Streitkräfte als kontraproduktiv erweisen und als Bevormundung aufgefasst werden.“ 15 So dringt nur selten nach außen, was die Soldaten mit ihrem in Deutschland erworbenen Wissen tun. Ein Fall allerdings wurde doch bekannt: Moussa Dadis Camara putschte sich im Dezember 2008 in Guinea an die Macht. Er und andere am Putsch beteiligte Militärs hatten an mehreren Ausbildungslehrgängen an der Führungsakademie der Bundeswehr teilgenommen und dort unter anderem Deutsch gelernt, weswegen sie sich bei der Vorbereitung des Putsches vor allem auf Deutsch verständigt hatten. International bekannt wurde Camara nach der brutalen Niederschlagung von Protesten gegen seine Regierung, bei der ca. 150 Menschen getötet wurden und für die Camara laut einem UN-Bericht die Hauptverantwortung trägt.16

Ob es sich bei den Fall Camara um einen bedauerlichen Einzelfall handelt, kann aufgrund der fehlenden Informationen kaum bewertet werden. Die Bundesregierung behauptet zwar im Bundestag, die ABH hätte die Menschenrechtslage in den Empfängerländern verbessert, sie ist aber nicht in der Lage ist, diese Aussage zu belegen: „Eine isolierte Einzelbetrachtung im Hinblick auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit ist ebenfalls nicht möglich und gehört nicht zu den originären Aufgaben der AH [Ausbildungshilfe].“ 17

Gelegentlich wird allerdings offen zugestanden, dass eine Zusammenarbeit teilweise auch mit Sicherheitskräften erfolgt, die sich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig machen. Der CDU-Abgeordnete Armin Schuster, der den oben erwähnten Deal zwischen BPol, EADS und dem saudi-arabischen Regime mit in die Wege geleitet hatte, erklärte auf die Frage, ob es denn angebracht sei, die dortigen Repressionsorgane zu unterstützen: „Wenn sie mit einem Land im Bereich Terrorismusbekämpfung zusammenarbeiten wollen, dann müssen sie auch investieren. Für mich ist das das Eine-Hand-wäscht–die-andere-Prinzip.“ 18

Nach einem ähnlichen Prinzip agieren die Verbindungsbeamten des BKA (2011 waren 65 dieser Verbindungsbeamten in 50 Staaten im Einsatz19), die in der Regel die polizeiliche ASH und ABH einfädeln und begleiten. Verbindungsbeamte sind über mehrere Jahre in den entsprechenden Ländern stationiert und pflegen enge Kontakte zu den Sicherheitskräften vor Ort, werten Informationen aus, leiten sie weiter und sind an der Arbeit der lokalen Polizei direkt beteiligt (Anwesenheit bei Vernehmung und Durchsuchungen, Mithilfe bei Fahndungen etc.).20 Dabei wird nicht erwartet, dass sie die Sicherheitskräfte kritisieren, selbst wenn diese schwere Menschenrechtsverletzungen begehen. Kritik schadet vielmehr, wie der ehemalige BKA-Beamte Dieter Schenk, der selbst als Verbindungsbeamter eingesetzt war, eindrücklich beschreibt: „Verbindungsbeamte sind von Amts wegen verpflichtet, engen Kontakt zu Sicherheitsinstitutionen des Gastlandes zu halten. Das sind nicht immer nur die Polizeibehörden, sondern vielfach Geheimdienste und militärische Stellen mit Exekutivbefugnissen. Es entspricht den Gepflogenheiten, sich gegenseitig regelmäßig einzuladen und sich »Freundschafts«-Geschenke zu machen. […] Es wird nicht unterstellt, dass BKA-Verbindungsbeamte keine Distanz zu Folterregime haben und es wird nicht angezweifelt, dass sie eine rechtsstaatliche Einstellung haben. Sie können aber nur schwer den Spagat bewältigen, dies einerseits zur Geltung zu bringen und andererseits die Einladung des Geheimdienstchefs zur Beförderungsfeier oder zum Grillabend oder zum gemeinsamen Übungsschießen auszuschlagen. Jedenfalls kommt man nicht mit »vornehmer Zurückhaltung« an Informationen, gerät vielmehr ins Abseits, ist erfolglos und hat als Verbindungsbeamter versagt.“ 21

Fazit

Die ABH und ASH dienen deutschen ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen. Dass mit dieser »Hilfe« autoritäre Regime unterstützt und Sicherheitskräfte aufgebaut werden, die repressiv gegen Bevölkerungsgruppen vorgehen, wird von der Bundesregierung billigend in Lauf genommen, gelegentlich gar bewusst unterstützt (bspw. im Bereich der Migrationskontrolle).

Auch die brutale Niederschlagung der Proteste in Nordafrika und im Nahen Osten hat nicht zur Folge, dass Deutschland die Unterstützung der Repressionsorgane autoritärer Staaten einstellt, im Gegenteil. Dass die westliche Welt von den Protesten überrascht wurde und eine Zeitlang kaum Möglichkeiten hatte, auf die Ereignisse Einfluss zu nehmen, könnte zur Folge haben, dass man sich nun noch stärker als zuvor darum bemüht, engere Kontakte zu den Sicherheitskräften zu knüpfen. In diesem Sinn ist wohl der Plan der Bundesregierung zu verstehen, in Libyen die Polizeiausbildung zu übernehmen, sobald es die Lage zulasse, wie Bundeskanzlerin Merkel Anfang Juni 2011 erklärte.22 Auch die Fortführung des Einsatzes der Bundespolizei in Saudi-Arabien bis mindestens Ende 2012 deutet in eine ähnliche Richtung.

Anmerkungen

1) Verteidigungspolitische Richtlinien: Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten. Berlin, 18. Mai 2011, S.2.

2) Vgl. Joanna Schürkes: »Statebuilding light«. In: Wissenschaft & Frieden 4/2010.

3) Bundesministerium des Inneren – Themen: Europa – Sicherheit – Polizeiliche Zusammenarbeit; bmi.bund.de.

4) Soweit nicht anders angegeben, stammen alle folgenden Daten aus einer Auswertung verschiedener Anfragen der Linksfraktion im Bundestag zum Thema »Polizei- und Zolleinsätze im Ausland«.

5) BT-Drs. 17/3783 vom 15.11.2010.

6) Ebd.: Die genaue Anzahl der Soldaten kann nicht ermittelt werden, da der Anfrage nicht zu entnehmen ist, wie viele Soldaten an mehreren Lehrgängen teilgenommen haben.

7) Ebd.

8) Georgia announces withdrawal of peacekeepers from Kosovo. RIA Novosti, 14.04.2008. Anfang 2010 wurde 175 georgische Soldaten in Afghanistan stationiert; im Juni 2010 wurde die Truppe auf über 900 Soldaten aufgestockt.

9) BT-Drs. 17/3783 vom 15.11.2010.

10) Vgl. Kevin Gurka, Christoph Marischka und Joanna Schürkes: Arming Africa. In: Krisenmanagement. »Sicherheitsarchitektur« im globalen Ausnahmezustand. Dokumentation des 12. IMI-Kongresses, Tübingen, 2010.

11) BT-Drs. 17/3783 vom 15.11.2010.

12) Vgl. BT-Drs. 17/5721 vom 05.05.2011.

13) Heikles Know-How aus Deutschland. Fakt vom 30.05.2011.

14) BT-Drs. 17/6102 vom 06.06.2011.

15) BT-Drs. 17/3783 vom 15.11.2010.

16) Der »deutsche Putsch« und das Stadion-Massaker. Süddeutsche Zeitung vom 23.12.2009.

17) BT-Drs. 17/3783 vom 15.11.2010.

18) Heikles Know-How aus Deutschland. Fakt vom 30.05.2011.

19) BT-Drs. 17/5830 vom 30.05.2011.

20) Dieter Schenk: Jemand muss das Schweigen brechen. In: Martin H. W. Möllers und Robert Chr. van Ooyen: Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2010/2011. Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft.

21) Ebd.

22) Libyen: Regierung prüft Beteiligung am Wiederaufbau. Focus-online, 08.06.2011.

Joanna Schürkes ist Politikwissenschaftlerin und im Beirat der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI).

Bundeswehr – sparen oder rüsten?

Bundeswehr – sparen oder rüsten?

von Alexander Neu

Die Bundeswehr wird reformiert. Ziel ist es, sie zu verkleinern. Allerdings ist das Leitmotiv nicht friedenspolitischer, sondern bellizistischer Natur. Die Bundeswehr soll künftig zwar kleiner, dafür aber professioneller, also schlagkräftiger, einsatzflexibel und global mobil sein. Dabei gibt es allerdings ein Problem: Die Bundeswehr soll auch sparen. Der Autor untersucht, ob sich diese unterschiedlichen Anforderungen miteinander verbinden lassen und mit welchen Mogelpackungen gerechnet werden muss.

Unter dem Titel »Die Grundpfeiler unserer Zukunft stärken« präsentierte am 7. Mai 2010 die schwarz-gelbe Regierungskoalition ihr »Sparpaket« über rund 80 Mrd. Euro für den Zeitraum 2011-2014. Die Bundeswehr soll sich daran mit 8,3 Mrd. Euro beteiligen. Diese verteilen sich auf

den Verwaltungsbereich, der zwischen 2011 und 2014 4,3 Mrd. Euro sparen soll und

die Streitkräftereform, die 2013 und 2014 vier Mrd. Euro bringen soll.

Die im April 2010 einberufene Strukturkommission der Bundeswehr, deren Aufgabe es ist, die Bundeswehr „Vom Einsatz her denken[d]“ militärisch zu optimieren und zu professionalisieren,1 soll diese Einsparungen bei der Ausarbeitung ihres Reformkonzepts berücksichtigen.

Forderungen an eine Interventionsarmee

Die heutige Bundeswehr wurde zwar in den letzten 20 Jahren sukzessive von einer Verteidigungsarmee zur einer Interventionsarmee (»Einsatzarmee«) transformiert, jedoch kam es nie zu dem großen Wurf, der den qualitativen Wandel der Bundeswehr angesichts der „volatile[n] sicherheitspolitische[n] Welt [, die] nach Flexibilität bei gleich bleibend hoher Einsatzfähigkeit und Leistungsqualität“ verlangt, abgeschlossen hätte.2 In den Augen der Vertreter eines imperialistischen Außenpolitikverständnisses klafft zwischen militärischem Anspruch und tatsächlichen Fähigkeiten eine zu große Lücke. Die Bundeswehr ist für die Umsetzung dieses Außenpolitikverständnises „zu groß, falsch zusammengesetzt und zunehmend unmodern“.3

Die Bundeswehr ist derzeit lediglich in der Lage, 7.000 bis maximal 10.000 SoldatInnen »durchhaltefähig« in militärische Abenteuer zu schicken. Und das bei einem »Verteidigungshaushalt« (Einzelplan 14) mit 31,5 Mrd. Euro. Legt man richtigerweise die »NATO-Kriterien«, die alle militärischen Kosten berücksichtigen, als Maßstab zu Grunde, kommen weitere 2,7 Mrd. Euro hinzu.4

Betrachtet man die Ausgabenverteilung innerhalb des »Einzelplan 14«, so wird deutlich, dass die Personalkosten, einschließlich der Versorgungskosten,5 mit 16,5 Mrd. Euro 52% ausmachen. Nimmt man dazu die laufenden Betriebskosten in Höhe von 8,4 Mrd. Euro, so bleiben für Investitionen in die Bundeswehr – d.h. Forschung, Entwicklung und Beschaffung von Waffensystemen etc. – weniger als 7 Mrd. Euro im Haushaltsjahr 2011. Dieses Verhältnis von Personal- und Betriebskosten versus Investitionsbudget entspricht nicht den Erfordernissen einer modernen und professionellen Interventionsarmee. Es müsse, so der Bericht der Strukturkommission, möglich sein, „die Zahl der 7.000 Soldatinnen und Soldaten, die sich derzeit im Einsatz befinden, durchhaltefähig wenigstens zu verdoppeln“.6 Um dieses Ziel zu erreichen, gelte es, die Bundeswehr personell zu verschlanken und die freiwerdenden Gelder einerseits in eine professionelle Berufsarmee und andererseits in den Kriegsszenarien entsprechende Waffensysteme zu investieren. Drittens muss gemäß den o.g. Vorgaben gespart werden.7

Aussetzung der Wehrpflicht

Um die Bundeswehr zu »professionalisieren«, wurde auf Druck des ehemaligen Verteidigungsministers K.-T. zu Guttenberg die Wehrpflicht im März dieses Jahres ausgesetzt. Stattdessen setzt man jetzt auf das System der »Freiwillig Wehrdienst Leistenden« (FWDL). Als Zielgröße formulierte der aktuelle Verteidigungsminister de Maizière am 18. Mai einen Mindestbedarf von 5.000 FWDLern.8 Für bis zu weitere 10.000 Interessierte sei die Tür zur Bundeswehr offen. Die Formel des künftigen uniformierten Personalumfangs lautet unter Berücksichtigung der »Berufssoldaten«, »Soldaten auf Zeit« und »Reservisten«: 170.00 (BS, SZ, Res) + 5.000 FWD + X (<10.000 FWD) = 185.000

Die FWDLer sind zunächst für sechs Monate freiwillig Grundwehrdienstleistende (»Probezeit«). Ab dem siebten Monat beginnt der »freiwillig zusätzliche Wehrdienst«. Die Dienstzeit für FWDLer beträgt höchstens 23 Monate, um unterhalb der Mindestzeit von SoldatInnen auf Zeit zu bleiben. FWDLer können bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr eingesetzt werden. Ein Spareffekt wird mit der Aussetzung der Wehrpflicht nicht erreicht, da die »Einsparung« für die Finanzierung der FWDL genutzt werden soll.9

Das System der FWDL dient als Rekrutierungsinstrument für die beiden anderen Beschäftigungskategorien »Soldaten auf Zeit« und »Berufssoldaten«. Allerdings scheint sich die Bundesregierung im Hinblick auf die »Attraktivität« der Bundeswehr für junge Menschen verkalkuliert zu haben. So sind laut Spiegel im März und April dieses Jahres 498.000 Personen angeschrieben worden, aber nur 1.800 hätten ihr Interesse signalisiert.10

Jetzt will die Bundeswehr die Nachwuchsrekrutierung intensivieren. Sie verhandelt mit den Kultusministerien der Bundesländer über den Zugang zu Schulen11 und arbeitet eng zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit.12

Zudem hat das Verteidigungsministerium eine Werbeagentur angeheuert, die im gesamten Jahr 2011 eine Kampagne über diverse Medien, u.a. die BILD-Zeitung, führen wird. Sollten die Werbemaßnahmen intensiviert sowie Attraktivierungsmaßnahmen, wie z.B. höhere Gehälter und Prämien für die SoldatInnen, beschlossen werden, dürfte die Reform die Personalkosten pro Kopf wesentlich erhöhen. Schon jetzt wird in entsprechenden Bundeswehrblättern über ein »Attraktivitätsprogramm« diskutiert, das über zwei Mrd. Euro jährlich kostet.13

Personalreduktion

Ist die Aussetzung der Wehrpflicht bereits von Guttenberg durchgesetzt worden, so haben die weiteren Reformschritte der Bundeswehr erst mit der Veröffentlichung der »Neuausrichtung der Bundeswehr« und den aktualisierten »Verteidigungspolitischen Richtlinien« konkrete Form erhalten.

Bereits der Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr vom 7. Juni 2010 favorisierte unter Beachtung der »Planungsparameter« (Einsatzauftrag, Bündnisfähigkeit und -verpflichtungen, Professionalität, Durchhaltefähigkeit, Flexibilität, Demographie/Attraktivität der Bundeswehr und Wirtschaftlichkeit/Finanzierbarkeit) ein Modell mit einer Zielgröße von 163.500 SoldatInnen, das bis 2016 umgesetzt werden sollte.14

Diese Zielgröße wurde aufgrund des politischen Drucks – nicht zuletzt durch die SPD15 – auf 185.000 aufgestockt.

Guttenberg hatte seinem Nachfolger in seiner Rücktrittserklärung verkündet, es gehöre sich, „ein weitgehend bestelltes Haus zu hinterlassen. […] Das Konzept der Reform steht.“16 Zwischenzeitlich zeigt sich aber, Guttenbergs Reformkonzept wurde auf Sand gebaut. Die personelle Zielmarke ist angesichts des Spardrucks von 8,3 Mrd. Euro im Zeitraum 2011 bis 2014 nicht zu realisieren. In einem internen Papier, das die BILD-Zeitung zitiert, heißt es, die Finanzierung erlaube lediglich einen Personalumfang von 158.000 SoldatInnen.17

Eine Studie der Bundeswehr-Universität München von Ende Januar stellt fest, der tatsächliche Finanzbedarf zur Umsetzung des guttenbergschen Reformmodells im Zeitraum 2011 bis 2014 liege bei 124,9 Mrd. Euro, die mittelfristige Finanzplanung sehe jedoch nur 119,6 Mrd. Euro vor. Das anvisierte Sparziel von 8,3 Mrd. Euro werde damit um ca. fünf Mrd. Euro verfehlt.18

De Maizières neue Formel mit der Obergrenze von 185.000 SoldatInnen weicht jedoch nicht von den Vorstellungen Guttenbergs ab. Lediglich die Zahl der FWDLer wird volatiler gehandhabt. Wie er damit die Sparvorgabe realisieren will, soll erst im Rahmen des Kabinettsentwurfs zum Bundeshaushaltsgesetz 2012 im Juli deutlich werden.

Einsparungen bei Rüstungsprojekten

Wesentlich langsamer als die personelle Reform der Bundeswehr wird die Einsparung durch Streichung von zu beschaffenden und außer Dienst zu stellenden Waffensystemen verlaufen. Im Hinblick auf den Verzicht von bei der Rüstungsindustrie georderten Waffensystemen sind angesichts verbindlicher Verträge mehrere Varianten denkbar, angefangen beim gänzlichen oder partiellen Ausstieg aus dem jeweiligen Vertrag mit entsprechenden Konventionalstrafen für den Steuerzahler über die Streckung von Entwicklung/Produktion und Erwerb über einen längeren Zeitraum bis zum Weiterverkauf, d.h. Export, der produzierten bzw. der zu produzierenden Stückzahlen, was unter friedenspolitischer Perspektive mehr als problematisch ist. Die Einsparpotentiale können somit, wenn überhaupt, nur langfristig erreicht werden.

Im ersten Halbjahr 2010 wurde durch eine extra errichtete Arbeitsgruppe im Verteidigungsministerium eine »Priorisierung Materialinvestition – Handlungsempfehlung« erarbeitet. Die Empfehlungen sollten in das Reformkonzept der Strukturkommission aufgenommen werden.19 Die Handlungsempfehlung ist eine Streichliste von derzeit in Dienst stehenden wie zu beschaffenden Waffensystemen. Die hierdurch erreichbare Einsparung solle im Zeitraum 2011-2014 ca. 2,76 Mrd. Euro umfassen, langfristig sogar nahezu zehn Mrd. Euro.20 Die von de Maizière vorgestellten »Eckpunkte für die Neuausrichtung der Bundeswehr«21 knüpfen an der Priorisierungsmethode an, wonach „alle gegenwärtigen Beschaffungs- und Ausrüstungsvorhaben“ auf den Prüfstand kommen. Ausgangspunkt ist das »erforderliche« Fähigkeitsprofil.

Bei den zu beschaffenden großen Waffensystemen wird der vollständige Verzicht – so der bisherige Informationsstand – nicht als Option in Betracht gezogen, vielmehr sollen bei zwei Großprojekten die Stückzahlen reduziert und die überflüssigen Mengen exportiert werden.

Politisch entschieden oder beabsichtigt ist bereits

das Projekt A400M: Anstatt 60 Flugzeuge sollen es nun 53 sein, von denen 13 für den Export vorgesehen sind, so dass 40 Maschinen im Bestand der Bundeswehr verbleiben. Allerdings führt die Stückzahlminderung auf 53 offensichtlich nicht zu einem Spareffekt, da die geringere Zahl in den Nachverhandlungen nichts an dem Endpreis von 8,3 Mrd. Euro geändert hat. Ob die 13 zum Export bestimmten sich tatsächlich verkaufen lassen, ist außerdem fraglich.22

Projekt Eurofighter: Die ursprüngliche Stückzahl von 180 soll auf 143 begrenzt werden. Die übrigen 37 Eurofighter sollen möglichst exportiert werden. Indien zeigt verstärktes Interesse an dem Erwerb von 120 Maschinen.23

Zu anderen Großprojekten wie die Hubschrauberprojekte Tiger (80 Stück) und NH90 (122 Stück) sowie den Schützenpanzer Puma (410 Stück) liegen noch keine Informationen über Ausstiegs- oder Reduktionsentscheidungen vor. Auch über eine Verkleinerung oder einen Ausstieg aus milliardenschweren maritimen Waffensystemen wie der Fregatte 124 oder der Korvette 131 gibt es noch keine belastbaren Informationen.

Fazit

Angesichts des Dilemmas der Reform, einerseits die Bundeswehr mit einer Personalstärke von 175.000 bis zu 185.000 SoldatInnen und entsprechenden Waffensystemen für Interventionskriege zu »professionalisieren« und andererseits die Sparvorgabe von 8,3 Mrd. Euro zu realisieren, bleiben, wenn man in diesem Sicherheitsverständnis verhaftet bleiben will, nur zwei Optionen:

Die Bundesregierung konzediert der Bundeswehr, sich aus der Konsolidierung des Haushaltes partiell zurückzuziehen, was angesichts der Schuldenbremse dann die übrigen Ressorts zusätzlich zu tragen hätten. Erste Spekulationen sprechen davon, dass die Kosten für die »Auslandseinsätze« (jährlich etwas über eine Mrd. Euro) und/oder die Versorgungskosten (jährlich knapp vier Mrd. Euro) partiell oder in Gänze auf andere Haushaltspläne umgeschichtet werden könnten. Würde so verfahren, würde der »Einzelplan 14« im Zeitraum 2011 bis 2014 ggf. sogar noch ein Plus einfahren, da über die 8,3 Mrd. Euro hinaus Gelder frei würden. Die freigewordenen Gelder würden nicht eingespart, sondern wohl zur »Modernisierung« eingesetzt. Auch werden Stimmen lauter, die eine Anschubfinanzierung zur Reform fordern, was die Sparauflage gänzlich ad absurdum führte.24

Die Bundeswehr wird personell und materiell soweit reduziert, dass das Sparziel von 8,3 Mrd. Euro realisiert werden kann. Allerdings unterläuft dieser Ansatz die deutsche sicherheitspolitische Philosophie der militärischen Machtprojektion zwecks Sicherung nationaler und westlicher geopolitischer und geoökonomischer Interessen – kurzum, der Militarisierung der Außenpolitik würden engere fiskalische Grenzen gesetzt.

Eine dritte Option, jenseits der politisch-militärischen Logik, wäre der sicherheitspolitische Paradigmenwechsel hin zu einer echten Friedenspolitik, die sich ausschließlich auf die im Grundgesetz vorgeschriebene territoriale Landesverteidigung besinnt.

Dieser Paradigmenwechsel würde angesichts des außerordentlich positiven sicherheitspolitischen Umfeldes Deutschlands die Notwendigkeit der Existenz der Bundeswehr – zumindest aber ihre Größenordnung – massiv in Frage stellen: „Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Mitteleuropas und damit Deutschlands mit konventionellen militärischen Mitteln besteht heute nicht mehr“, so der oberste Soldat, Generalinspekteur Wieker.25 Nun, dann wäre es auch folgerichtig, die entsprechenden friedenspolitischen und finanziellen Konsequenzen daraus zu ziehen.

Anmerkungen

1) Bericht der Strukturkommission der Bundeswehr Oktober 2010: Vom Einsatz her denken, S.3 u. 10.

2) Ebd., S.18.

3) Bericht der Weizsäcker-Kommission (2000): Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr, S.13; zitiert nach: Bericht der Strukturkommission (FN 1), S.3.

4) Diese Kosten mit militärischer Relevanz sind in anderen Einzelplänen des Bundeshaushaltes gelistet.

5) Für ehemalige SoldatInnen und ehemalige MitarbeiterInnen der Bundeswehr.

6) Bericht der Strukturkommission (FN 1), S.10.

7) Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010, S.15f.

8) Thomas de Maizière: Eckpunkte Neuausrichtung der Bundeswehr. Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten. 18. Mai 2011, S.2.

9) Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011 (Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 – WehrRÄndG 2011) vom 21. 02. 2011; Drucksachennr. 17/4821.

10) Rekrutenmangel. Freiwillig zum Bund? Nein, danke! Spiegel Online, 21. April 2011.

11) Umstrittene Nachwuchsgewinnung. Streit um den Einsatz von Wehrdienstberatern an Schulen. Aus: NDR Info: Das Forum »Streitkräfte und Strategien«, 26. März 2011. Siehe auch den Artikel von Michael Schulze von Glaßer: Rekrutierung nach der Wehrpflicht. In dieser Ausgabe von W&F.

12) Kooperation gefestigt. Vereinbarung regelt die Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit. In: »aktuell«, Zeitung der Bundeswehr, Nr. 6 vom 15. Februar 2010, S.4.

13) Die Revision der Revision. In: loyal, Nr. 04/2011, S.6 ff.

14) Bericht des Generalinspekteurs (FN 7), S.25 ff.

15) Bundeswehrreform – SPD stellt Bündnisfähigkeit infrage. FOCUS online, 14. August 2010.

16) Rücktrittserklärung Guttenbergs im Wortlaut: Ich habe die Grenzen meiner Kräfte erreicht. Süddeutsche online, 01. März 2011.

17) Alarm-Papier aus dem Verteidigungsministerium. Bundeswehr wird kaputt gespart! BILD online, 20. April 2011.

18) Prof. Dr. J. Schnell, GenLt. a. D.: Ist die Reform der Bundeswehr mit den voraussichtlich bereitgestellten Haushaltsmitteln des 44. Finanzplans finanzierbar? – Abschätzungen und begründete Vermutungen. Universität der Bundeswehr München, Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften, Professur für Sicherheits- und Militärökonomie/Streitkräftemanagement, 28. Januar 2011.

19) Bericht des Generalinspekteurs (siehe FN 7), S.20.

20) Priorisierung der Ausrüstung. geopowers.com vom 30. April 2011.

21) Eckpunkte für die Neuausrichtung der Bundeswehr (siehe FN8) S.4.

22) Militärtransporter A400M. Weniger Flugzeuge für das gleiche Geld. FOCUS online, 25.01.2011.

23) Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Christian Schmidt vom 17. Januar 2011 auf die Frage von Paul Schäfer, MdB DIE LINKE; Bundestag Drucksachennr. 17/4494 sowie »Eurofighter nimmt wichtige Hürde bei Ausschreibung in Indien«, Ria Novosti, 28. April 2011.

24) Wehrbeauftragter Königshaus fordert Anschubfinanzierung für Bundeswehr-Reform. Soldatenglück.de, 25. April 2011.

25) Bericht des Generalinspekteurs (siehe FN 7), S.6.

Dr. Alexander S. Neu ist Referent für Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE und Mitglied der W&F-Redaktion.

Eine große Reform?

Eine große Reform?

Zur demokratischen Legitimation der Militärreform 2011

von Detlef Bald

Die Bundeswehr ist in die Jahre gekommen. Aus einem politischen Instrument zur Verteidigung des Landes wurde in den letzten zwei Jahrzehnten eine »Armee im Einsatz«. Minister Peter Struck wollte 2003 mit dem Wort, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, die bestehende Ambiguität – der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf, wie das Grundgesetz es gebietet, und plant gleichzeitig für Einsätze in der globalen Ferne – aufheben.1 Doch er hat die Problematik der Legitimität solcher Aufträge damit nicht lösen können, sondern nur kaschiert. »Armee im Einsatz«, das ist heute die Realität. Doch welche Folgen hat das für die demokratische Einbindung des Militärs?

Das Militär der Gegenwart soll modern sein. Das ist nicht neu. Die Bonner Republik wurde mit Militär begründet. Kanzler Konrad Adenauer folgte den Spuren eines Bismarckschen nationalen Staatsbildes, nach dem ein Staat ohne Militär nicht denkbar sei. Soweit die internationale Seite für Analysten der Sicherheitspolitik geradezu selbstverständlich erscheint, so leicht vernachlässigen manche Experten die Bedingungen der demokratischen Einbindung des Militärs. Bei der Bundeswehr ging es von Anfang darum, sie auf eine freiheitlich-demokratische Werteverfassung festzulegen, nach innen wie nach außen, gegenüber Staat, Gesellschaft und Politik. Eine solche Orientierung war nach 1945 unabdingbar, um die Wurzeln und Spuren des historischen Militarismus abzulegen. Diese epochale Umwälzung, den Primat des Militärischen einzudämmen und schließlich aufzugeben, fand im Begriff des »Staatsbürgers in Uniform« ihren Ausdruck.

Die staats- und verfassungsrechtliche Unterordnung garantierte die Oberhoheit der politischen Organe der Republik, die parlamentarische Kontrolle sowie den Primat der zivilen Regierung. Auch das Militär wurde verfassungsmäßig der strikten Rechtsstaatlichkeit und öffentlichen Gerichtsbarkeit unterworfen; Gleichheit und Gleichberechtigung sichern den Soldatinnen und Soldaten aufgrund der sozial offenen Rekrutierungskriterien, prüfbarer Ausbildung und leistungsbezogener Aufstiegsbedingungen einen Berufsrahmen, der wie im zivilen Leben eine gesellschaftliche Pluralität gewährt. Auf diese Weise soll die alte militaristische, sozial-selektive Abschottung und das nach »ewigen« Werten eigenständige, enge, militärische Milieu überwunden werden. Das Ideal vom »Staatsbürger in Uniform« ist umfassend und bietet für die Bundeswehr den anspruchsvollen Maßstab im demokratischen Prozess dieser Republik. Er verlangt, jede Form einer politischen »Staat-im-Staate«-Macht und gesellschaftlichen Isolierung zu verhindern. Dieses Konzept, intern »Innere Führung« genannt, sollte »zeitgemäß« zweierlei leisten: die Fortentwicklung von Beruf und Soldatenbild im Konsens militärischer Traditionen und zugleich die Konformität mit den politisch-gesellschaftlichen Werten der Verfassung.

Um die Akzeptanz und Geltung der »Inneren Führung« wurde von Anfang an gerungen. Die alten Kräfte gaben nicht so einfach auf. Seit den Planungen der »neuen Wehrmacht« 1950 in Bonn wurde das konstituierende Beharrungsvermögen des Alten, das sich vehement gegen die demokratischen Reformen richtete, spürbar. Die interne Waage neigte sich trotz der Wehrgesetze bedenklich zum Traditionalismus – eine Hypothek für lange Zeit. Sie bildeten den Grund für die erste Reform der Bundeswehr am Ende der sechziger Jahre.2

Die Misere des Militärs war nahezu unbeschreiblich. Der Bundeswehr insgesamt wurde eine mangelhafte Professionalität bescheinigt, da sogar die Beherrschung der modernen Waffensysteme hinter den Standards her hinkte. Hunderte von Unfällen mit Todesfolgen mahnten ebenso wie zahllose Affären und Skandale. Drill- und 08/15-Methoden verklärten den Mythos der Wehrmacht. Der Traditionalismus bot ein Zerrbild des demokratischen Aufbruchs. Die »Innere Führung« war nur formal eingerichtet, wie der Wehrbeauftragte krass aufzeigte. Auch dominierten verkrustete Hierarchiestrukturen, hinter denen die Militärführung die parlamentarische Kontrolle und den Primat der Politik aufweichten. Erst Helmut Schmidt setzte als Verteidigungsminister neue Akzente für berufliche Effizienz, für die Geltung des Wertekanons der Verfassung im Militär, für die Öffnung zur Gesellschaft sowie für die Akzeptanz des Primat der Politik.3

Das Strukturdilemma

Die Defizitanalysen über den Zustand der Bundeswehr bewegen seit Jahrzehnten die Experten, aber nicht die Politik. Selbst als im Jahr 2000 eine Kommission unter Leitung des Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker beklagte „Die Bundeswehr ist… nicht im Gleichgewicht. Sie ist zu groß, falsch zusammengesetzt und zunehmend unmodern“, fand dies Urteil keine Resonanz.

Worin liegt das Hauptproblem? Das Dilemma ist ein Konzeptmangel. Zwei gravierende Faktoren wirken, indem sie den jeweils anderen verschärfen. Mit der deutschen Einigung am 3. Oktober 1990 war die Bundeswehr ohne Gegner und in einer neuartigen Friedensordnung von Freunden umringt. Generalinspekteur Dieter Wellershoff hing noch die Vision an, „Helfen, retten, schützen!“ seien die Aufgaben der Zukunft.4 Doch derartige globale humanitäre Blauhelmmissionen erfüllten nicht die Version einer deutschen „Verantwortung in der Welt“, die Kanzler Helmut Kohl schon am 4. Oktober 1990 vor dem Bundestag proklamiert hatte. Damit konzentrierte er die „militärpolitischen und militärstrategischen Grundlagen“ vom Januar 19925 auf nationale Interessen, zu denen auch der „Zugang zu strategischen Rohstoffen“ gehörte. Die zweite Belastung des Bundeswehrkonzepts resultiert aus der seit Jahrzehnten zu beobachtenden technologischen Entwicklung der Rüstung, der Computerisierung sowie der Kommunikation, die eine nahezu radikale Umstrukturierung verlangt. Ein neuer Typ des Militärs zeigt seine Konturen.6 Auch auf diesem Feld blieb die Bundeswehr im Schatten ihrer Kalten-Kriegs-Ideologie verhaftet.

Behinderungstaktik in Politik und Militär

Das Projekt des »Umbaus«, vor zwanzig Jahren in Gang gesetzt, scheiterte, weil die traditionalistischen Kräfte in Heer, Marine und Luftwaffe den alten Kriegstyp der Massenarmee und der Waffensysteme des Kalten Krieges nicht aufzugeben bereit waren. Die Kontroll- und Leitungskompetenz der Politik ist über Jahrzehnte erodiert. Es gelang ihr weder, die allfällige Modernisierung in Auftrag, Ausbildung, noch Rüstung der Bundeswehr umzusetzen.7

Besonders augenfällig wurde das Durcheinander in der zwanzig Jahre währenden Kette von Affären, die das militärische Milieu in den Fokus der Aufmerksamkeit stellen. Als Folge der Gegensätze innerhalb der militärischen Führung und der politischen Verzagtheit wurden Soldatenbild und -selbstverständnis hin und her gerissen. Das Ende des Kalten Krieges nutzte die konservative Mehrheit, um die Bundeswehr »realitätsnah« auszurichten. Nur, sie wählte die falsche Richtung, sie suchte traditionalistisch den Kurs in die Vergangenheit. Hieß es im Kalten Krieg noch „Kämpfen können, um nicht eingesetzt zu werden“, galt nun die Parole „Kämpfen können und kämpfen wollen“. Ethos und Erziehung zielten auf „die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr“. In der Ausbildung trat erneut die Tradition zur Wehrmacht hervor; sogar der Ostfeldzug wurde entpolitisiert und blieb Vorbild in der operativen sowie der taktischen Lehre an der Führungsakademie. Das hatte Folgen für die Mentalität. Die massiven Auseinandersetzungen um die Ausstellung zur Wehrmacht –»Vernichtungskrieg« – erklären sich vor diesem Hintergrund. Noch 2008 spielte die Wehrmacht sogar in der Grundausbildung der Wehrpflichtigen eine unglaubliche Rolle, indem Kriegsbeispiele und NS-Lehrsätze in den Unterricht kamen.

Rechtslastige Affären und Skandale mit verzerrten Machtfantasien traten bis in die Gegenwart auf, obwohl derartige Missstände in der Mitte der neunziger Jahre zu einem Untersuchungsausschuss des Bundestages führten. Waren damals die »Einzelfälle« der Anlass, so erzeugt heute die fast gleich hohe Menge (weit über hundert) keine Irritationen mehr. Man hat sich daran gewöhnt. Auf vielfältige Weise sucht man eine falsche, nämlich korporative Geschlossenheit. Abweichler oder kritische Meinungen zu Militär oder Sicherheitspolitik werden nicht geduldet; der neuralgische Punkt ist eine umstrittene Legitimität einzelner Auslandseinsätze. Kontroverse Diskussionen, wie sie öffentlich in den Medien stattfinden, dürfen im Dienst nicht sein.8 Die Bundeswehr hat sich längst auf den Weg begeben, sich von der Gesellschaft abzukapseln. In dieses Bild passt die Weisung immerhin eines Inspekteurs, der die Grenzen zwischen Militär und Gesellschaft so zog, dass beide durch unvereinbare Normen- und Wertesysteme gekennzeichnet seien.9

All diese beklagenswerten Phänomene wirken auf das Entstehen eines spezifisch militärischen Milieus. Eine enorme Deformation im Militäralltag ist eingetreten. Mit dem Disput um das Vorbild des »archaischen Kämpfers« als Soldat der Zukunft markierte die Militärführung den Reformstau. Statt »Innere Führung« wurde ein Kämpferkult gepflegt. Generale lehnten offen die »Innere Führung« ab, denn sie sei mit dem Auftrag einer »Armee im Einsatz« nicht vereinbar, eine Erosion der Verbindlichkeit der »Inneren Führung« ist seit langem Fakt.10

Nach dieser Analyse scheint es zu passen, dass auch die Gesellschaft auf Distanz zur Bundeswehr gegangen ist. Beispiele kennen alle. Zapfenstreich oder Gelöbnisse, glänzend im Scheinwerferlicht der Medien inszeniert, setzten polizeiliche Absperrungen gegen Proteste voraus. Tatsächlich ist die Bevölkerung ausgeschlossen. Offenkundig liegen die zivil-militärischen Beziehungen im Argen.

Technokratische »Effizienz« statt Militärreform

Die heute erkennbare Ausrichtung der Bundeswehr basiert auf einem Mangel an sicherheitspolitischer Analyse. In der Ministerzeit von Karl-Theodor zu Guttenberg fand sich an keiner Stelle ein fundiertes Konzept. Geradezu exemplarisch für die unsaubere Ausgangslage, die alles Mögliche vermischt, aber keine sicherheitspolitische Expertise zu erkennen gibt, sind die »Leitlinien zur Ausplanung der neuen Bundeswehr« vom Juni 2010. Darin geht es um „Trends“ im „Sicherheitsumfeld“, die bei der „konsequenten Ausrichtung auf den Einsatz hin zu berücksichtigen“ sind. Darunter fallen z.B. „der Aufstieg neuer staatlicher Akteure“, die „auch unsere Werte, Normen und Interessen herausfordern“, oder „globale Destabilisierungsrisiken als Folge von Klimawandel“. Sie sollen „richtungsweisende Impulse“ für Einsätze der Bundeswehr geben.11 Der »Einsatz« wurde zur Devise der Politik: „Messlatte für uns alle und bei allen Entscheidungen muss der Einsatz sein.“ Vor Kommandeuren der Bundeswehr hieß es: „Denken vom Einsatz her heißt, auch künftige, bisher nicht auf der Tagesordnung stehende Einsätze in möglichst vielen Facetten vorauszudenken.“ Derart umschrieben wird »Einsatz« zum Leitbegriff der »nationalen Zielvorgabe« der Transformation.12

Der weitere zentrale Begriff war »Effizienz«, der den Bericht der Strukturkommission durchzog. Darin waren auch dringende Umgliederungen der administrativen Ebenen bezeichnet, die bislang die beharrenden, überholten Strukturen zementiert hatten.13 Aber was will »Effizienz« über die Ziele der Reform der Bundeswehr sagen? »Effizienz« kann sich kaum aus den paradoxen Aufstands- und Kriegserfahrungen am Hindukusch ableiten. Wandel ohne bestimmbare Richtung führt zur technokratischen Modernisierung.14 »Effizienz« und »Einsatz« gerinnen zur beliebigen Formel. Die Politik versäumt, plausible und nachvollziehbare, begründete und qualifizierte Kriterien für die zukünftigen Strukturen des Militärs und des Ministeriums vorzulegen. Ein technokratisches Modell betriebswirtschaftlicher Rationalisierung sowie simpler Optimierung droht: Einsatzfähigkeit als Selbstzweck – Einsatz als Fetisch.

Demokratische Leitkultur

Es fehlt der politische Maßstab. Ohne qualifizierte Ausrichtung der Militärpolitik wird Verunsicherung nach innen organisiert: Unklarheit des Soldatenbilds wird zum Programm. Das militärisch-traditionalistische Denken, das in vielen Ecken der Kasernen und Stäbe und im Ministerium herrscht, droht weiterhin den Stellenwert der »Inneren Führung« zur Disposition zu stellen. Dennoch, die Werte der »Inneren Führung« stehen als gesetzliche Vorgabe alternativlos gegen diesen Wirrwarr im Militär zur Verfügung, auch 2011. »Innere Führung« ist das Projekt, die zeitgemäße Geltung der Verfassung in der Bundeswehr zu sichern. »Innere Führung« gibt das Maß des Auftrags und der Orientierung. Am Anfang steht die Verfassung. Das Friedensgebot des Grundgesetzes muss vor Beginn und am Ende jeden Einsatzes stehen. Die Politik kann nicht umhin, die Garantiefunktion des Staates für Freiheit und Frieden auch bei Militäraktionen im internationalen Verbund, im Konsens mit der UNO und in ihrem Auftrag, zu berücksichtigen. Das hat den Geist der Ausbildung zu durchdringen. »Einsätze«, auch »komplexe Friedensmissionen« genannt, dürfen mitnichten Interventionen zur Aufstandsbekämpfung oder Unterwerfung, gar Besetzung eines Territoriums sein, sie müssen – im Sinne des Wortes – auf die Befriedung einer Region zum Wiederaufbau sowie auf friedliche Lebensbedingungen zielen. Die Fähigkeiten des Kämpfens und Helfens sind demnach nicht konträre soldatische Kompetenzen, sondern symbiotische Schlüsselqualifikationen.

Diese An- und Herausforderungen müssen in Balance stehen zu Ausbildung und Ausrüstung; Berufsidentität und -zufriedenheit ist neu zu definieren. Der militärische Beruf steckt in der Krise. Die moderne Professionalität verlangt, sich vom alten Kämpferkult zu verabschieden und Realitäten angemessen anzunehmen. Kämpfen können reicht nicht aus. Das Leitbild der »ewigen Tugenden« ist obsolet: Disziplin und Pflicht, Gehorsam, Tapferkeit und Kameradschaft begreifen sich anders als im Kalten Krieg oder beim Ostfeldzug der Wehrmacht und unterscheiden sich erst recht von den Tugenden eines Helden im antiken Epos. In Afghanistan werden die internationalen Kräfte nicht als Sieger über einen Feind gefeiert; eine Siegesparade ist auch in Berlin nicht vorstellbar.

Die Reformdokumente von 2010 orientierten sich an »erfolgsfähigen Strukturen«. Die Reform beschränkte sich auf die »hardware«, die »software« blieb außen vor. Typisch ist, dass im Abschlussbericht der Strukturkommission auf 112 Druckseiten ein einziger Satz dazu zu finden ist: „Die Innere Führung und das Prinzip des »Staatsbürgers in Uniform« sind und bleiben Ankerpunkt und Kompass für den bestehenden Wandel.“ 15 »Ankerpunkt«, das reicht. Die verbreitete Front, »Innere Führung« sei nicht kompatibel mit der »Armee im Einsatz«, wird nicht thematisiert. Für den Alltag wurde »Innere Führung« zurückgestutzt und sinnentleert, sie blieb unverstanden, nur noch ein Torso demokratischer Notwendigkeit.16 Ein simplifiziertes Verständnis von Krisen, Rohstoffen und Instabilitäten droht, die Reform zu einer schieren Revision à la Einsatz-Effizienz zu degradieren. Eine Neubelebung der leitenden Idee der »Inneren Führung« – eine Art »zweiter Gesellschaftsvertrag« – ist vonnöten.17 Nur das Gebot einer demokratiebezogenen Reform mit friedensstiftenden Aufträgen bietet Gewähr für eine breite innermilitärische und gesellschaftliche Legitimation der Reform. Legitimation verlangt Sinngebung: Die Optionen der Einsätze müssen sich nachhaltig durch »Frieden« bestimmen.

Anmerkungen

1) Vgl. Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Berlin, 21. Mai 2003.

2) Vgl. zu Einzelheiten und zur Literatur Detlef Bald (2005): Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005. München: Beck.

3) Vgl. Detlef Bald (2008): Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt. Der Primat des Politischen über das Militärische 1965-1975. Berlin: Aufbau.

4) Dieter Wellershoff (1991): Frieden ohne Macht? Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel. Bonn: Bouvier.

5) Bundesministerium für Verteidigung: Militärpolitische und Militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr. Bonn 20.1.1992

6) Vgl. Gustav Däniker (1992): Wende Golfkrieg. Vom Wesen und Gebrauch künftiger Streitkräfte, Frankfurt/M.: Report-Verlag.

7) Vgl. Klaus Naumann (2008): Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärs. Hamburg: Hamburger Edition.

8) Vgl. Detlef Bald (2009): Einsatzdoktrinen und Meinungsfreiheit in der Bundeswehr. In: Jürgen Rose: Ernstfall Angriffskrieg. Frieden schaffen mit aller Gewalt? Hannover: Ossietzky, S.255 ff.

9) Weisung von General Hartmut Bagger, Inspekteur des Heeres: Anforderungen an den Offizier des Heeres. Bonn, 29. Juli 1994.

10) Vgl. Berthold Meyer (2009): Innere Führung und Auslandseinsätze. Was wird aus dem Markenzeichen der Bundeswehr? Frankfurt/M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

11) Staatssekretär Rüdiger Wolf an den Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages. Berlin, 29. Juni 2010, Anlage.

12) Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg: Kommandeurstagung Dresden, Nov. 2010.

13) Vgl. Bericht der Strukturkommission der Bundeswehr: Vom Einsatz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effizienz. Oktober 2010, S.31 ff.

14) Paul Schäfer: »Vom Einsatz her denken« oder: Wie die Bundeswehr für Großinterventionen fit gemacht werden soll. In Wissenschaft und Frieden, 29. Jg., Heft 1-2011, S.35.

15) Strukturkommission, op.cit., S.18.

16) Detlef Bald, Hans-G. Fröhling, Jürgen Groß, Claus Freiherr von Rosen (Hrsg.) (2008): Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die Innere Führung der Bundeswehr, Baden-Baden: Nomos.

17) Harald Müller, Marco Fey, Sabine Mannitz, Niklas Schörnig (2010): Demokratie, Streitkräfte und militärische Einsätze: Der „zweite Gesellschaftsvertrag“ steht auf dem Spiel, Frankfurt/M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK-Report 10/2010.

Dr. Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr. Er arbeitet zur Zeit an sicherheitspolitischen Projekten des Instituts für Friedens- und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg und in der historischen Friedensforschung. Sein aktueller Schwerpunkt: Widerstandskreis der Weißen Rose.

»Statebuilding light«

»Statebuilding light«

Sicherheitssektorreformen als Herrschaftstechnik

von Jonna Schürkes

Angesichts der gravierenden Schwierigkeiten des Westens in Afghanistan geraten innerhalb von EU und NATO groß angelegte Stabilisierungsmissionen zunehmend in die Kritik. Der Aufbau lokaler Sicherheitskräfte, die im Interesse und unter Leitung des Westens agieren, wird aus diesem Grund zunehmend als »viel versprechende« Alternative propagiert.

Schon allein aus Kosten- und Kapazitätsgründen müssten EU und NATO ihre Ambitionen drosseln, so Lars Brozus von der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik: „Idealerweise ist stabilitätsorientiertes Statebuilding (‚Statebuilding light’) für die Staatengemeinschaft mit weniger Opfern und geringeren Kosten verbunden. Hier geht es im Kern darum, die Zielländer sicherheitspolitisch zu stabilisieren. Damit ist in erster Linie die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gemeint. […] Wer sicherheitspolitische Stabilität erreichen will, muss den Sicherheitsapparat reformieren (Stichwort Sicherheitssektorreform).“ 1

Ursprünglich stammt das Konzept der Sicherheitssektorreformen (SSR) aus der Entwicklungszusammenarbeit und verfolgte das Ziel, die Sicherheitskräfte eines Landes – also Polizei, Militär und Geheimdienste – demokratisch zu kontrollieren und für Menschenrechtsfragen zu sensibilisieren. Die Praxis zeigt aber, dass Demokratie und Menschenrechte zugunsten sicherheits- und wirtschaftspolitischer Interessen des Westens in den Hintergrund treten. Die Sicherheitskräfte des globalen Südens werden dazu ausgebildet und aufgerüstet, Auseinandersetzungen mit oppositionellen Kräften zu führen, und dies eben nicht unter der Kontrolle der Bevölkerung, sondern der »Internationalen Gemeinschaft«.

Sicherheitssektorreformen der EU

Die EU sieht sich selbst als einen der wichtigsten globalen Akteure im Bereich der Sicherheitssektorreformen. Dies sei auf die weit reichenden Erfahrungen mit SSR im Zuge der eigenen Erweiterung, die globale und langfristige Präsenz der EU in Ländern des globalen Südens (vor allem in den ehemaligen Kolonien) und ihre breite Palette geeigneter ziviler und militärischer Instrumente zurückzuführen, so die Europäische Kommission.2

Bereits in der »Europäischen Sicherheitsstrategie« von 2003 wird auf Sicherheitssektorreformen als auszubauendes Instrument zur Abwehr von Bedrohungen explizit Bezug genommen.3 In der Folgezeit wurden sowohl von der Europäischen Kommission als auch vom Rat der Europäischen Union Konzepte zur Umsetzung dieser Reformen in Drittstaaten veröffentlicht, und schließlich verfasste ebenfalls der Rat im Juni 2006 ein »Policy Framework« für SSR, in dem die beiden Dokumente vereint werden.

Im Rahmen von Reformen des Sicherheitssektors wird die Trennung ziviler und militärischer Instrumente, Aufgaben und Akteure aufgehoben. Den Befürwortern der zivil-militärischen Zusammenarbeit zufolge dienen sie auch dazu, noch verbleibende Vorbehalte – vor allem auf Seiten der entwicklungspolitischen Akteure – auszuräumen: „Reformen im Sicherheitssektor in Entwicklungsländern eignen sich hervorragend, um Trennlinien zwischen den Akteuren aufzubrechen und eine neue Kultur der Zusammenarbeit zwischen entwicklungs- und sicherheitspolitischen Akteuren zu etablieren. Dies ist der Versuch, sich mehr mit sicherheitsrelevanten Fragestellungen auseinander zu setzen […]. Wurde über Jahrzehnte eine Zusammenarbeit mit Polizei und Streitkräften von Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit abgelehnt, so werden nun zunehmend Instrumente zur Herstellung der ‚Sicherheit‘ wahrgenommen“.4 Diese Zusammenarbeit verläuft bisher auf EU-Ebene jedoch schleppend, wofür die unzureichende Kooperation zwischen dem Rat und der Kommission und zwischen den zivilen und militärischen Akteuren vor Ort verantwortlich gemacht wird.5 Dies soll sich jedoch nun mit der Schaffung des Europäischen Auswärtigen Dienstes ändern.6

Von den 28 EU-Missionen, die seit 2003 entsandt wurden, enthalten oder enthielten 18 SSR-Elemente, bei 14 von ihnen war oder ist SSR die Haupt- oder einzige Aufgabe. Exemplarisch werden nachfolgend drei dieser Missionen dargestellt, um die Probleme des SSR-Konzepts zu veranschaulichen.

EUPOL Afghanistan – Teil einer Besatzung

Die EU-Mission EUPOL Afghanistan ist Teil einer breit angelegten Reform des Sicherheitssektors von verschiedenen Akteuren vor dem Hintergrund der militärischen Besatzung des Landes. Die Eskalation des Krieges gegen die Aufständischen machte die schnelle Aufstockung der zur Verfügung stehenden Truppen notwendig, was die NATO-Staaten personell und finanziell vor große Probleme stellte. Daher wurden innerhalb kurzer Zeit lokale Sicherheitskräfte geschaffen und in den Krieg gegen die Aufständischen eingebunden, als Soldaten, Polizisten oder Milizen. Die Zielgröße für die afghanische Armee und die Polizei wurde in den letzten Jahren kontinuierlich nach oben gesetzt: Inzwischen sollen bis 2011 171.600 Soldaten und 134.000 Polizisten zur Verfügung stehen. Um die ausländischen Truppen zu entlasten, kämpfen sie in vorderster Front gegen die Aufständischen. Sie werden jedoch finanziell, logistisch und nachrichtendienstlich in Abhängigkeit gehalten, um zu verhindern, dass sie sich gegen die internationalen Truppen wenden – was nicht immer erfolgreich ist.

EUPOL Afghanistan wurde 2007 entsandt und ersetzte Deutschland in seiner Funktion als »lead nation« beim Polizeiaufbau. Die Erfolge sind ernüchternd: Laut einer Umfrage des »Integrity Watch Afghanistan« von Ende 2009 gilt die Polizei als die korrupteste Institution des Landes.7 Was in Afghanistan aufgebaut wird, ist eher eine paramilitärische Truppe als eine zivile Polizei. Eine solche wäre auf eine funktionierende Justiz angewiesen, für deren Aufbau ebenfalls EUPOL zuständig ist. In diesem Bereich geschieht jedoch so gut wie nichts.8 Wie wenig es EUPOL um eine zivile Polizei geht, zeigt sich auch an der Vorbereitung ihrer Mitarbeiter auf den Einsatz. Deutsche Polizisten, die im Rahmen von EUPOL entsandt werden, werden sechs Stunden in der Landessprache, Rechtsordnung und Kultur Afghanistans unterrichtet.9 Selbst wenn es ein funktionierendes Rechtssystem gäbe, wäre es für die Ausbilder kaum möglich, die lokalen Sicherheitskräfte entsprechend der Rechtsordnung zu unterstützen oder gar auszubilden.

Die tatsächliche Stärke der Polizei kann nur geschätzt werden: Nach Angaben der NATO betrug sie im Mai 2010 104.459 Polizisten, der International Crisis Group zufolge waren im Februar 2010 jedoch nur 56.000 im Dienst.10 Dies liegt vor allem daran, dass viele der Polizisten nach ihrer meist sehr kurzen Ausbildung samt Waffe und Uniform desertieren oder zu den Aufständischen überlaufen. Ursache hierfür sind unter anderem die miserablen Löhne, die nicht, nicht vollständig oder verspätet ausgezahlt werden, und dies bei einem hochgradig gefährlichen Job. Die Polizisten, die bleiben, bessern ihr Gehalt durch Korruption, Erpressung und Diebstahl auf, entsprechend verhasst sind sie in der afghanischen Bevölkerung.11 Ein paramilitärischer, korrupter, überdimensionierter und aus dem afghanischen Haushalt nicht zu finanzierender Sicherheitsapparat12 ist die Basis für den autoritären Militärstaat, den der Westen in Afghanistan als Folge seiner derzeitigen Strategie hinterlassen wird.

EU-SSR Guinea Bissau – das Experiment

Eine Mission mit sowohl zivilen als auch militärischen Aufgaben, allerdings unter militärischem Kommando, startete die EU 2008 in dem kleinen westafrikanischen Staat Guinea-Bissau. EU-SSR Guinea-Bissau sollte dazu beitragen, die Ziele der »Nationalen Sicherheitsstrategie zur Sicherheitssektorreform«, die 2006 mit Unterstützung Großbritanniens erstellt worden war, zu operationalisieren, die Armee zu verkleinern und zu restrukturieren, Gendarmeriekräfte aufzubauen und die Polizei und Justiz zu reformieren.13 Zudem sollte die Mission die Grundlage für die zukünftige Ausbildung und Ausrüstung der Sicherheitskräfte durch internationale Geber schaffen.14

Das Interesse der EU an Guinea-Bissau begründet sich vor allem in der Lage des Landes. Westafrika gilt generell als Umschlagplatz für Drogen auf dem Weg von Lateinamerika nach Europa und als Ursprungs- und Durchgangsregion für die »illegale« Migration in den Norden.15 Zusätzlich zu diesen sicherheitspolitischen Interessen wurde Guinea-Bissau aufgrund seiner geringen Fläche und Bevölkerungszahl als geeigneter Staat gesehen, um diese Art der Mission auszutesten und dabei Techniken der SSR zu erproben und zu verbessern, wie einem Papier der EU-Denkfabrik European Union Institute for Security Studies (EUISS) zu entnehmen ist.16

Die Aussichten auf Erfolg waren von Anfang an nicht hoch, so dass sich der Missionschef, der spanische General Juan Esteban Verástegui, dazu hinreißen ließ, zu erklären, er werde versuchen, die Missionsziele umzusetzen, allerdings sei das so, als „erwarte man an einer Ulme Birnen“.17 Im August 2010 erklärte die EU aufgrund der politischen Ereignisse im Land das Ende der Mission: Im März 2009 wurde nicht nur Präsident João Bernardo Vieira, der der EU-Mission zugestimmt hatte und gegen den bereits im November 2008 erfolglos geputscht worden war, von Soldaten ermordet, sondern wenige Stunden zuvor auch der Militärchef Tagmé Na Wai. Das Militär revoltierte auch gegen die neue Regierung und brachte im April 2010 den Ministerpräsidenten des Landes vorübergehend in seine Gewalt, entführte den ehemaligen Oberkommandierenden der Marine aus dem Büro der Vereinten Nationen und erklärte den Generalstabschef für abgesetzt. Die daraufhin ausbrechenden Unruhen wurden von Armee-Einheiten unterdrückt.18 Der neue Generalstabschef ist General Antonio Indjai, einer der Anführer der Meuterei im April. Obwohl während EU-SSR Guinea Bissau die Sicherheitskräfte, die reformiert werden sollten, mordeten, entführten und putschten, wurde die Mission – laut dem Rat der Europäischen Union – „erfolgreich“ beendet.19

EUTM Somalia – mehr Soldaten für den Bürgerkrieg

Die jüngste der derzeitigen EU-Missionen ist EUTM Somalia, die im Mai 2010 startete. Angaben des deutschen Verteidigungsministeriums zufolge soll die Mission unter anderem den Kampf gegen Piraten vor der Küste Somalias unterstützen.20 Bis 2011 sollen 2.000 somalische Soldaten für die Übergangsregierung (TFG) durch europäische Militärs ausgebildet werden. Aufgrund der gefährlichen Situation in Somalia findet die Ausbildung in Uganda statt.

Die TFG wurde überhaupt erst 2006 mit dem Sturz der Regierung der Islamischen Gerichtshöfe (UIC) durch eine vom Westen tatkräftig unterstützte Invasion Äthiopiens an die Macht gebracht. Davor war es der UIC gelungen, dem Land zumindest eine gewisse Stabilität zu verschaffen und das Problem der Piraterie unter Kontrolle zu bringen. Seit dem Sturz der UIC haben zahlreiche Akteure – von Frankreich über die UN bis hin zu Äthiopien – einzelne Milizen bewaffnet, damit diese den Bürgerkrieg für die TFG entscheiden. Allerdings sind die meisten dieser bewaffneten und uniformierten Soldaten und Polizisten tot, verschwunden oder zu den gegnerischen Milizen übergelaufen.21 Derzeit kontrolliert die TFG trotz der Unterstützung von etwa 6.000 Soldaten der Mission der Afrikanischen Union für Somalia (AMISOM) kaum mehr als das Viertel um den Präsidentenpalast in Mogadischu.

EUTM zeigt, welche absurden Züge die Bewaffnung von Sicherheitskräften in Staaten annimmt, die sich im Bürgerkrieg befinden und wo jede Staatlichkeit fehlt. Von einer Reform eines »Sicherheitssektors« kann keine Rede sein, sondern vielmehr von der Bewaffnung einer Bürgerkriegspartei. Es gibt keine militärische Struktur in Somalia, in die die Soldaten eingegliedert werden. Sie werden als bewaffnete Gruppe nach Mogadischu verbracht, um dort ebenso wie alle anderen Gruppen um die Macht im Land zu kämpfen – nur sind sie von der EU ausgebildet, von den USA finanziert und von Uganda bewaffnet. Wie wenig die verantwortlichen Regierungen wissen, was sie dort tun, und vor allem auch wie wenig es sie interessiert, zeigen die Antworten der Bundesregierung auf Anfragen im Bundestag. So kann nicht einmal ausgeschlossen werden, dass auch Kindersoldaten im Rahmen von EUTM ausgebildet werden.22

Sicherheitskräfte im Dienste der »Internationalen Gemeinschaft«

Die EU testet derzeit verschiedene Formen der SSR aus, um ihr Instrument zu optimieren. Sie unterscheiden sich je nach Interessenslage der EU und seiner Mitgliedsstaaten in den Einsatzländern, nach dem Kontext, in den sie eingebettet sind – im Rahmen groß angelegter Stabilisierungseinsätze oder als unabhängige Missionen – und nicht zuletzt hinsichtlich der Größe der Staaten, in denen SSR durchgeführt werden. Allen gemein ist, dass es nicht darum geht, die Sicherheitskräfte unter die Kontrolle der Bevölkerung zu bringen, sondern unter die der »Internationalen Gemeinschaft«. Die verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung der Empfängerländer werden billigend in Kauf genommen. Zudem werden meist nur die Sicherheitskräfte aufgebaut. Elemente der SSR wie der Aufbau einer Justiz, die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kämpfern und die demokratische Kontrolle der Streitkräfte sind zwar in einigen Mandaten enthalten, werden aber – wenn überhaupt – nur stümperhaft ausgeführt.

Zugunsten eigener wirtschafts- und sicherheitspolitischer Interessen wird auch in Kauf genommen, autoritären Regimen die Machtmittel an die Hand gegeben, die sie dann im Sinne des Westens einsetzen sollen. Eine aktuelle Studie des »Zentrum für Transformation der Bundeswehr« zur Energiesicherheit Deutschlands fordert etwa: „Vor dem Hintergrund der immensen Kosten von umfangreichen Stabilisierungsmaßnahmen ist […] zu prüfen, ob ein gezielter Ausbau der Befähigung zur konzentrierten Ausbildung von Sicherheitskräften der zu unterstützenden Staaten eine ausreichende Befähigung bei der Unterstützung von Stabilisierungsbemühungen darstellt. Dies könnte als ‚Stabilisierung light‘ die Zahl der einzusetzenden Streitkräfte möglicherweise insgesamt erheblich verringern. […] Das Spannungsverhältnis zwischen Interessen- und Wertepolitik, die in unterschiedlichen Zeithorizonten wirksam werden, tritt besonders deutlich im Zielkonflikt zwischen kurzfristig notwendigen Kooperationen mit autoritären Regimen im Energie- und Sicherheitssektor einerseits und dem langfristigen Interesse an einem Wandel dieser Regime zutage. Dies könnte abhängig von der Energieversorgungslage zu Kompromissen bei Demokratisierungsbemühungen und politischer Konditionalität gegenüber den Staaten der Region bis hin zur Unterstützung autoritärer Regime führen.“ 23

Anmerkungen

1) Lars Brozus (2010): Statebuilding in der Legitimitätskrise. Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell, Juni 2010, S.3.

2) Europäische Kommission (2006): Ein Konzept für Unterstützungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft im Bereich Sicherheitssektorreform. KOM(2006) 253.

3) Europäische Union (2003): Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Brüssel, S.12.

4) Thomas Behm (2007): Sicherheitspolitik aus einem Guss. in: Welttrends Papiere 5, S.25-32.

5) Quentin Weiler (2009): The European Union and Security Sector Reform in Africa. BRIGG Paper 1/2009.

6) Marco Overhaus (2010): Zivil-militärisches Zusammenwirken in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie, Mai 2010.

7) Integrity Watch Afghanistan (2010): Afghan Perceptions and Experiences of Corruption. A National Survey 2010. S.71f.

8) Eva Gross (2009): Security Sector Reform in Afghanistan: the EU’s contribution. ISS-Occasional Paper, April 2009.

9) Bundestag-Drucksache 17/766 vom 22.02.2010.

10) Mark Schneider (2010): Testimony to the Commission on Wartime Contracting in Iraq and Afghanistan. 05.02.2010.

11) Andrew Wilder (2007): Cops or Robbers?, AREU, S.1.

12) Stewart, Rory /2009): The Irresistible Illusion. London Review of Books, 07.07.2009.

13) Bundestag-Drucksache 17/1888 vom 27.05.2010.

14) Damien Hell (2009): The EU mission in support of Security Sector Reform in Guinea-Bissau. in: European Union Institute for Security Studies (EUISS): European Security and Defence Policy. The first 10 years. Paris, S.369-378.

15) United Nations Office on Drugs and Crime (2010): The Globalization of Crime. A Transnational Organized Crime Threat Assessment. Wien.

16) Damien Hell (2009).

17) General Verástegui (2008): Tengo a 15 expertos en Guinea-Bissau y no hay ni para empezar. Pedimos peras al olmo. El Confidencial, 05.07.2008.

18) Bundestag-Drucksache 17/1888 vom 27.05.2010.

19) Council of the European Union (2010): The EU SSR Guinea-Bissau mission completes its mandate. Brüssel 02.08.2010.

20) Anti-Piraterie-Mission Atalanta verlängert, 17.11.2009; URL: http://www.bmvg.de.

21) Jonna Schürkes (2010): Arming Somalia. in: Ausdruck, April 2010.

22) Bundestag-Drucksache 17/2372 vom 02.07.2010.

23) Zentrum für Transformation der Bundeswehr (2010): Peak Oil – Sicherheitspolitische Implikationen knapper Ressourcen. Strausberg, Juli 2010, S.58 und 63.

Jonna Schürkes ist Politikwissenschaftlerin und im Beirat der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) aktiv.

Tod als ständiger Begleiter

Tod als ständiger Begleiter

von Jürgen Nieth

Sieben getötete Bundeswehrsoldaten in Afghanistan in nicht einmal zwei Wochen. Damit sind bis zum 17. April d. J. 43 deutsche Soldaten in Afghanistan gestorben. Laut CNN starben im selben Zeitraum 1.719 SoldatInnen der multinationalen Truppen, darunter 1.036 Amerikaner, 281 Briten und 142 Kanadier. Alleine die Zahl der 2009 bei Kämpfen und Anschlägen umgekommen afghanischen Zivilisten übertrifft diese Zahl mit 2.412 deutlich (taz 22.04.10, S.1). Doch wie schreibt Jakob Augstein in der Wochenzeitung »Der Freitag« (22.04.10, S.1): „Die Wirklichkeit des Krieges bringt die Teilung in Gut und Böse mit sich, die Überhöhung der eigenen Opfer und die Erniedrigung des Gegners.“

Kriegsrhetorik

Augstein zitiert den BW-Generalinspekteur, der von „Heimtücke und Hinterlist“ der Aufständischen spricht, einen BW-General, der die Angreifer „ruchlose und feige Männer“ nennt und fragt: „Wie »tapfer« mögen wohl die westlichen Truppen den Afghanen vorkommen, wenn sie mit unbemannten Kampf-Drohnen und überschallschnellen Präzionsbomben angreifen?“

Diese Frage stellen sich die Regierenden nicht, ihre erste Schlussfolgerung nach dem Tod der deutschen Soldaten: „Es rasseln die Panzerketten“ (Die Zeit, 15.04.10, S.14)

Mehr Waffen ins Kriegsgebiet

„Da kämpfen (so »Die Zeit«) knapp zehntausend Aufständische, verteilt über ein Land , das so groß ist wie Frankreich, gegen 130.000 Soldaten der größten Militärmacht der Welt. Die Aufständischen schießen aus Kalaschnikows, die älter sind als sie selbst, und legen improvisierte Sprengkörper in den Sand“, die Bundesregierung aber will nach den jüngsten Angriffen weitere 150 gepanzerte Fahrzeuge des Typs Eagle IV für Afghanistan bestellen, Stückpreis inklusive Ausstattung 1 Mill. Euro. Hinzu kommen zwei schwere Panzerhaubitzen 2000, Panzerabwehrraketen vom Typ Tow und zehn gepanzerte »Marder« (SZ 16.04.10, S.5)

Krieg wird jetzt Krieg genannt

Die zweite Schlussfolgerung der Bundesregierung: Krieg darf jetzt umgangssprachlich auch Krieg genannt werden. „Was wir am Karfreitag erleben mussten, bezeichnen die meisten als Krieg. Ich auch.“ So Verteidigungsminister Guttenberg bei der Trauerfeier im niedersächsischen Selsingen am 09. April (FR 10.04.10, S.4) Der Stern (22.04.10, S.51) geht auf die Korrektur ein: „Die offizielle Bezeichnung für den Krieg in Afghanistan lautet »nichtinternationaler bewaffneter Konflikt«, zuvor war der Krieg ein »Stabilisierungseinsatz«, davor – unter Rot-Grün – firmierte der Krieg sogar unter »Friedensmission«. In Wahrheit war es immer Krieg.“

Die sprachliche Nachrüstung ist sicher zum Teil dem öffentlichen Druck nach mehr Ehrlichkeit geschuldet, aber nicht nur. „Es geht um mehr als semantische Frontbegradigung“, schreibt die Zeit (22.04.10, S.3) Dass „das Partnering … mehr Gefechtssituationen mit sich bringen wird wie jene, in denen die sieben Soldaten … gestorben sind, ist zu erwarten.“

Heldentod

„Warum gibt die Kanzlerin den toten Soldaten nicht das letzte Geleit?“ fragte die Bild-Zeitung am 08.04.10. Und schob nach: „In anderen Ländern der NATO ist es durchaus üblich, dass auch die Regierungschefs sich vor den Särgen der toten Afghanistan-Soldaten verneigen.“ Die Kanzlerin war folgsam: „Ich verneige mich vor Ihnen. Deutschland verneigt sich vor Ihnen“, sprach sie anlässlich der Trauerfeier am 09.04., auf der ursprünglich Verteidigungsminister Guttenberg die Regierung alleine vertreten sollte. Dazu U. Ladurner in der Zeit (15.04.10, S.14): „Wenn schon Pathos, dann sollte Angela Merkel oder einer ihrer Minister sich auch vor dem Grab eines zivilen Aufbauhelfers verneigen. Auch sie haben über die Jahre Opfer zu beklagen – viele waren im staatlichen Auftrag da… Nur befriedigt es das Bedürfnis nach Pathos eben nicht, wenn Deutschland sich vor dem Sarg eines Ingenieurs verneigte, der in Afghanistan Brunnen baute.“

Doch was ist schon das Pathos Merkels gegenüber dem Guttenbergs? „In unserem Namen“ seien die Fallschirmjäger „am Karfreitag gefallen, ja am Karfreitag, zynisch von jenen gewählt, denen ein Menschenleben nichts, rein gar nichts zählt“, und „gottlob“ trauere Deutschland „nicht im Verborgenen, sondern in aller Öffentlichkeit“, so der Minister bei der Trauerfeier am 09.04. „Eine seiner Töchter, so… Guttenberg weiter, habe ihn an Ostern gefragt, ob die drei Soldaten »tapfere Helden unseres Landes waren und ob sie stolz auf sie sein dürfe«. Er habe diese Frage »nicht politisch, sondern einfach mit Ja beantwortet«.“ (taz 10.04.10, S.2)

Nach dem »Krieg« haben wir Dank Guttenberg also jetzt auch den »Heldentod« wieder. Da gilt es, auch die Trauerfeiern zu inszenieren.

Trauerinszenierung

„Eine Trauerfeier für gefallene Soldaten ist ein öffentliches Ereignis. Die Bevölkerung soll, das ist erklärtes Ziel des Verteidigungsministeriums, Anteil nehmen am Schicksal »ihrer« Gefallenen. Das Trauern um die Opfer eines Militäreinsatzes soll in der Gesellschaft verankert werden“, schreibt die FAZ (09.04.10, S.2) ohne die Frage nach dem Warum zu stellen. Dieser Frage geht C. Semler in der taz (26.04.10, S.12) nach: „Diese Trauer wird politisch instrumentalisiert, sie wird missbraucht, um dem Tod auf dem Schlachtfeld einen höheren Sinn zu geben. So wenig es sich beim Soldatengelöbnis um ein hilfreiches, dabei harmloses Initiationsritual handelt, so wenig ist auch das feierliche Soldatenbegräbnis nur ein tröstendes Ritual des Übergangs. Beides sind militaristische Exerzitien. Und mit der rituellen Sinngebung wird die Frage weggedrängt, welchen politischen Sinn eigentlich die Präsens deutscher Truppen in Afghanistan hat.“

Tod als ständiger Begleiter

1999 nahm die Bundeswehr zum ersten mal an einem völkerrechtswidrigen Krieg (im Kosovo) teil, seit 2002 steht sie in Afghanistan (aktuell mit 4.450 SoldatInnen), mit weiteren 2.400 ist sie an einem Dutzend Einsätzen auf drei Kontinenten beteiligt. Auf der Trauerfeier für die vier zuletzt getöteten Soldaten stellte Verteidigungsminister Guttenberg die Truppe auf weitere Verluste ein: „Tod und Verwundung sind Begleiter unserer Einsätze geworden, und sie werden es auch in den nächsten Jahren sein, wohl nicht nur in Afghanistan.“ (taz 26.04.10, S.6)

Das Ehrenmal der Bundeswehr

Das Ehrenmal der Bundeswehr

von Eugen Januschke

Das Ehrenmal ist sowohl Ort als auch Ausdruck eines Gedenkkults um den Soldatentod, dessen Zweck darin besteht, Trost, Sinn, Legitimation und Motivation zu stiften. Damit zielt dieser Gedenkkult schlussendlich auf einen Erhalt bzw. eine Steigerung der Kriegsführungsfähigkeit der Bundeswehr ab. Bestimmt man diesen Gedenkkult zunächst ausschließlich über seinen Zweck, so drängt sich der Eindruck auf, dass dieser einfach dem Gedenkkult im preußisch-deutschen Militarismus entspricht. Oder sind doch Veränderungen in der Funktion des Gedenkkultes auszumachen? Wie im Folgenden gezeigt wird, können Zweck und Ziel des Gedenkkults um den Soldatentod als relativ konstant betrachtet werden, zumindest für die letzten zweihundert Jahre. Aber für die Erfüllung seines Zwecks muss dieser Gedenkkult eine Wirkung auf die Gesellschaft entfalten können. Konkret bedeutet das als Fragestellung: der Gedenkkult um den Soldatentod hat zwar einen konstanten Zweck, aber er muss vielleicht anders funktionieren, wenn sich die Gesellschaft wandelt.

Über den gesellschaftlichen Wandel existieren unterschiedliche Vorstellungen. Folgt man der Analyse Herfried Münklers, der sich konstruktiv mit der Rolle der Bundeswehr auseinandersetzt, so kann Erhellendes über die Ängste und Befürchtungen der Befürworter des Ehrenmals herausgefunden werden. Deren Kenntnis ist wichtig für die Analyse der Funktion des Ehrenmals.

Herfried Münkler, als Politikwissenschaftler Professor an der Humboldt-Universität Berlin, ist Mitglied im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Der zentrale analytische Begriff bei Münkler bezüglich der jetzigen, westlichen Gesellschaft ist »postheroisch«. Einfacher als mit dem Versuch einer Definition dieses Begriffes zu beginnen, ist es, dem Verweis der Vorsilbe »post« nachzugehen. Die Vorsilbe legt nahe, dass die Gesellschaft zuvor heroisch war. Die umfassende Mobilisierung des Volkes für die Kriegsführung bringt das berühmte »Dekret zur allgemeinen Volksbewaffnung« des französischen Konvents vom 23. August 1793 unmissverständlich zum Ausdruck: „Artikel 1. Von jetzt an bis zu dem Tage, an dem die Feinde vom Gebiet der Republik vertrieben sind, unterliegen alle Franzosen der ständigen Heeresdienstpflicht. Die jungen Männer ziehen in den Kampf, die verheirateten schmieden Waffen und befördern Verpflegung; die Frauen fertigen Zelte und Uniformen und leisten in den Lazaretten Dienst; die Kinder zupfen altes Leinenzeug zu Scharpie, die Alten lassen sich auf öffentliche Plätze tragen, um in den Kriegern Mut und Hass gegen die Könige anzustacheln und ihnen die Einheit der Republik ans Herz zu legen“.1

Dieses Dekret ist die Geburtsurkunde der heroischen Gesellschaft, zu der auch diejenige des preußisch-deutscher Militarismus gehört. Münkler bezieht sich auf Carl von Clausewitz, einen der Theoretiker der zugehörigen Kriegsführung der heroischen Gesellschaft. Mit diesem möchte Münkler (2002) den Unterschied zwischen der Kriegsführung von heroischen und postheroischen Gesellschaften verdeutlichen. Für Clausewitz ist Krieg ein Messen der physischen und moralischen Kräfte. Unter physischen Ressourcen sind die Soldaten und das militärische Material wie beispielsweise Waffen zu verstehen. Die moralischen Ressourcen beziehen sich auf die Motivation und Opferbereitschaft der Soldaten und Bevölkerung. Für die heroische Gesellschaft gilt eine relative Knappheit an den physischen Ressourcen im Vergleich zu den moralischen Ressourcen. Wo, wie im Frankreich des revolutionären Konventsdekrets, tendenziell die ganze Gesellschaft zu den Waffen greift, werden die Gewehre knapp. Die Moral hingegen steht wie ein Fels und kann getrost den nicht mehr wehrdienstfähigen Alten überlassen werden.

Das Manko der postheroischen Gesellschaften

Anders verhält sich diese Gewichtung in den postheroischen Gesellschaften der heutigen westlichen Welt. Die physischen Ressourcen sind groß, besonders im Vergleich zu den als knapp empfundenen moralischen Ressourcen. Die physischen Ressourcen der postheroischen Gesellschaften sind aber auch groß im Vergleich zu den physischen Ressourcen der Gegner der Kriege der letzten Jahre. Diese heutigen Gegner der postheroischen Gesellschaften werden als noch heroische Gesellschaften oder Gruppierungen imaginiert (vgl. Küpeli 2007, S.19). Deren physische Ressourcen sind vergleichsweise gering, aber ihre Kämpfer verfügen über eine meist ideologisch oder religiös interpretierte hohe Motivation und Opferbereitschaft.

Nun wäre der asymmetrische Krieg für die postheroischen Gesellschaften des Westens kein Problem, wenn sich der Krieg weiterhin mit Clausewitz als der physische Verbrauch der Kräfte in der Schlacht zur Erschütterung der moralischen Faktoren darstellen würde: Durch die möglichst hohe physische Abnutzung der Kräfte des Gegners bis zu deren Erschöpfung konnte schlussendlich eine moralische Erschöpfung des Gegners erreicht werden. Doch hier bieten die postheroischen Staaten ihren Gegnern eine andere Angriffsfläche, die diese Gegner geschickt zu nutzen gelernt haben: Denn bereits durch kleine physische Verluste in Form des Todes weniger eigener Soldaten befinden sich postheroische Gesellschaften in einer Stresssituation, weil sie sowieso nur über mangelnde moralische Ressourcen verfügen (vgl. Münkler 2002, S.192).

Münklers Heroismus-Empfehlung

Münklers generelle Empfehlung für die Bevölkerung der postheroischen Gesellschaften: heroische Gelassenheit. Während diese Forderung unkonkret und wenig praktikabel erscheint, hat er explizite Empfehlungen zu den Soldaten: „Heroismus ist unverzichtbar […]. Der Held ist dann gefordert, wenn postheroische Gesellschaften in Stresssituationen geraten […]. Die Gesellschaft belohnt diese Vorbilder, indem sie ihnen zuspricht, was mit Geld nicht zu haben ist – eben den Status eines Heroen. Dieser wird geehrt als einer, der für die Werte einer Gesellschaft bis zum Äußersten einsteht. Ihm wird für seine Tat eine Form der Unsterblichkeit zugebilligt, die darin besteht, dass die als Helden Ausgezeichneten öffentlich geehrt werden und ihrer feierlich gedacht wird. Das ist eine Form auch der zivilgesellschaftlichen Währung, die mit der marktwirtschaftlichen Währung konkurriert.“ (Münkler 2002a)

Damit deutet sich an, wie sich der Gedenkkult um den Soldatentod in der heroischen von der der postheroischen Gesellschaft unterscheidet. Während er in der heroischen selbstverständlich ist (vgl. Bröckling 1997, S.103), bleibt er widersprüchlich zur Alltagskultur der postheroischen. Dies wird in Münklers Zitat dadurch kenntlich, dass sich die postheroische Gesellschaft in einer Ausnahmesituation befinden muss, damit sie den Heldentopos aufruft. Im Umkehrschluss kann gefragt werden, welchen gesellschaftlichen Platz den Helden zu normalen Zeiten eingeräumt wird. Im preußisch-deutschen Militarismus als Musterbeispiel des Ausdrucks einer heroischen Gesellschaft war die gesellschaftliche Achtung des Soldaten auch in Nicht-Kriegszeiten keine Frage. Münkler muss hier für unsere postheroische Gesellschaft die Einführung einer »Konkurrenzwährung« fordern. Diese, wie er sie bezeichnenderweise nennt, »zivilgesellschaftliche Währung«, hat als wesentliche Basis den Gedenkkult um den Soldatentod.

Dennoch lässt sich vermuten, dass die Produktivität des Gedenkkults in der Münklerschen Version beiweiten nicht diejenige des preußisch-deutschen Militarismus erreichen kann. Für die heroische Gesellschaft steigert jeder tote Soldat, zumindest wenn deren Zahl nicht über alle Maßen ansteigt, die Produktion an moralischen Ressourcen (vgl. Bröckling 1997, S.103). Dagegen muss in der postheroischen Gesellschaft die zivilgesellschaftliche Währung, sprich der Gedenkkult um den toten Soldaten, mit der marktwirtschaftlichen Währung der Alltagskultur konkurrieren. Mit dieser Konkurrenz verlässt Münkler gar nicht die Logik der marktwirtschaftlichen Währung, was für den preußisch-deutschen Militarismus als heroische Gesellschaft so kaum zugetroffen haben wird.

Das Ehrenmal als symbolisches Desaster

Aus dieser Bundeswehr-konstruktiven Innensicht Münklers lässt sich die eingangs gestellte Frage nach einem Wandel in der Funktion des Gedenkkults um den Soldatentod bejahen. Auch wenn man die vorgestellte Gesellschaftsanalyse Münklers als solche nicht teilt, können einige Schlussfolgerungen bezüglich des Ehrenmals der Bundeswehr gezogen werden. So ist zu prüfen, ob das Ehrenmal als Ausdruck einer postheroischen Heldenverehrung verstanden werden kann bzw. wie das Ehrenmal in einer postheroischen Gesellschaft funktioniert.

Um den zivilgesellschaftlichen Wert dieses rechteckigen Baukörpers von 8 x 32 Metern und einer Höhe von 10 Metern aufzuwerten, wurde er in den Rang eines Denkmals von nationalem Rang erhoben. Er kann in die Kulisse für die Ehrenformationen anlässlich verschiedener offizieller Anlässe eingebunden werden, die bereits auf dem Appellplatz des Bendlerblockes regelmäßig stattfinden. Hierzu wird die öffentliche Zugänglichkeit des Ehrenmals eingeschränkt. In Kontrast zu der – sieht man von dem Bronzekleid ab – äußerlichen Belanglosigkeit steht der Versuch der Anleihe an Formen des Heroischen für das Innere. So betritt man zunächst eine Säulenhalle, die auf eine »Cella« – auch »Raum der Stille« genannt – führt. Die Gestaltung der Cella mit Oberlicht und Opferbank lehnt sich deutlich an die Form der »Neuen Wache« nach deren Umgestaltung von 1931 an, wobei allerdings inzwischen der dortige Opferstein durch eine Pieta kohlscher Prägung ersetzt wurde.

Der Raum der Stille wird zum Ort der Trauer. Das Innere dieses Raumes ist schwarz: Die realen Raumgrenzen lösen sich auf und dem Betrachter eröffnet sich ein entmaterialisierter Raum. So wie im Tod das Leben aus den Fugen gerät, erfährt die strenge Ordnung und tektonische Schichtung eine Irritation: Die letzte Bodenplatte hat sich aus der Ordnung des restlichen Ehrenmals gelöst und ist aus der Bodenebene herausgeschoben. Die Kraft, mit der sich scheinbar die Platte herausgeschoben hat, steht für das Ausmaß der Gewalt oder des Unglücks, welches ein Menschenleben hat enden lassen.2

Die Übernahme dieser Gestaltungselemente, die in der heroischen Gesellschaft eine selbstverständliche Deutung fanden, ist als hilfloses Kopieren von Formen zu deuten; von Formen, die schwerlich heute noch funktionieren. Dies liegt sicherlich nicht nur daran, dass diese Selbstverständlichkeit in der postheroischen Gesellschaft so nicht gegeben ist, sondern auch an einem veränderten ästhetischen Empfinden. Ein Oberlicht erzeugt heute nicht mehr unbedingt eine weihevolle Stimmung; zumal jedes Blitzlicht das angebliche Verschwimmen der räumlichen Grenzen der dunklen, eigentlich nur durch das Oberlicht erhellten Cella zersetzt. Die Opferbank, gefährdet als Sitzgelegenheit missverstanden zu werden, wird mangels anderer Möglichkeiten als Kranzniederlegungsstelle verstanden; ansonsten erzeugt sie kaum das Interpretationsfeld eines Altars. Jenseits dieser misslungenen Versuche, an alte Gestaltungsformen anzuknüpfen, gibt es neue symbolische Elemente: die LCD-Projektion für die Namensnennung und das Bronzekleid.

Die Nennung der Toten ist eine körperlose Schrift aus Licht. Die Darstellung wird mit einem LED-Display gelöst, das hinter transluzentem, also lichtdurchlässigem Beton in die Deckenplatte integriert ist. Die Namen erscheinen so scheinbar schwerelos im Raum.“ Etwa alle acht Sekunden ein neuer Name. Ein bisschen kurz für Münklers »Unsterblichkeit« als zivilgesellschaftliche Währung. Acht Sekunden sind kaum geeignet, Angehörige auch nur in irgendeiner Weise vergleichbar zu beeindrucken wie etwa am Vietnam Memorial in Washington, in dem die Namen auf »ewig« eingraviert sind. Diesem symbolischen Dilettantismus steht das Bronzekleid des Ehrenmals nicht nach: „Über die Stahlbetonkonstruktion ist ein feines durchbrochenes Bronzekleid gelegt. Jeder Soldat trägt eine Erkennungsmarke. Die halbe Erkennungsmarke steht für den Getöteten, für den Tod. In Anlehnung daran sind halbe Marken aus dem Bronzekleid gestanzt. Das ganze Objekt umhüllend, findet metaphorisch der alles umfassende Tod Ausdruck. Der Anordnung der ausgestanzten Marken liegt eine Codierung zugrunde, welche sich aus dem Morsealphabet ableitet. Die Stanzung stellt den Eid der Zeit- und Berufssoldaten, das Gelöbnis der Wehrdienstleistenden sowie den Amtseid der Wehrverwaltung in codierter Form dar.“ Von dieser für uninformierte BetrachterInnen unverständlichen Symbolik bleibt nur der Tod, in Form der halben Erkennungsmarken, als Ornament auf der Außenhaut des Ehrenmals übrig, denn der Morsecode ist per se für die allermeisten Menschen unverständlich. Darüber hinaus gibt es keine weitergehende erkennbare Symbolik am Äußeren des Ehrenmals. Mangels eines anderen Angebots an Symbolik verkommt damit der Soldatentod zu einer löchrigen Verzierung. In diesem symbolischen und ästhetischen Desaster hilft auch keine goldene Wand als abschließender Eindruck des inszenierten Aufenthalts im Ehrenmal mehr. „Beim Verlassen des Raumes geht der Besucher auf eine goldschimmernde Wand zu – Gold steht für das Übernatürliche und die daraus resultierende Hoffnung in allen Kulturen. Die Inschrift lautet: »Den Toten unserer Bundeswehr. Für Frieden, Recht und Freiheit.« Sie ist als glattes Relief aus der goldschimmernden Wand herausgearbeitet.

Goldfarbe allein macht im Zeitalter der inflationären Goldkettchen nichts mehr edel, und übernatürlich schon gar nicht. Hier erliegen Planer und Auftraggeber außerdem einem groben semiotischen Irrtum: Nicht Gold an sich „steht für das Übernatürliche und die daraus resultierende Hoffnung in allen Kulturen“. Vielmehr werden Gegenstände, die mit einer solchen Hoffnung bereits verbunden sind, diese unterstreichend in goldenen Behältnissen bis hin zu ganzen Bauwerken verwahrt, oder durch das Anbringen von goldenen Zusätzen aufgewertet. Bisweilen werden die hoffnungsspendenden Gegenstände selbst aus Gold gefertigt so beispielsweise Reliquienschreine zur Aufbewahrung, Kronen als Aufsatz für Thorarollen und vergoldete Buddhastatuen.

Sind die Ideenlosigkeit und der schlechte Geschmack gewollt, um gesellschaftliche Auseinandersetzung zu vermeiden? Eine solche Strategie wäre gelungen, da sich kaum jemand für das Ehrenmal interessiert. Damit ist aber keine Annahme des Ehrenmals durch eine breite Öffentlichkeit abzusehen, wie es für ein Denkmal von nationalem Rang eigentlich geboten wäre. Noch schwerer wiegt für den Auftraggeber, dass das Ehrenmal der Bundeswehr wohl kaum die Münklersche Forderung nach einer zivilgesellschaftlichen Währung erfüllen kann. Dieses Ehrenmal kann keine »Form von Unsterblichkeit« für den Soldaten herstellen.

Bleibt zu fragen, ob sich die Auftraggeber und politisch Verantwortlichen auf Dauer mit den Unzulänglichkeiten des Baues abfinden werden, zumal ein intensiveres Engagement der Bundeswehr in Kriegen vermehrt zu toten Soldaten führen wird. In Konsequenz ist absehbar, dass das jetzige Ehrenmal durch eine bedeutendere Anlage ersetzt werden wird. Dieses neue Ehrenmal wird wahrscheinlich auch dem Ortswechsel des Gelöbnisses zum 20. Juli folgen, vom Bendlerblock zum Platz der Republik, zwischen Reichstag und Kanzleramt. In diesem Sinne kann auch das Ehrenmal als weiterer Schritt zur Normalisierung der aktiven Kriegsführung durch die Bundeswehr verstanden werden. Wie das Gelöbnis zum 20. Juli wird es zunächst im Schutzbereich des Geländes des Bundesverteidigungsministeriums selbst erprobt und durchgesetzt, um später zur vollständigen Entfaltung seiner kriegslegitimatorischen Wirkung ins repräsentative Zentrum der neuen Berliner Republik zu ziehen.

Literatur

Bröckling, Ulrich (1997): Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion. München.

Giller, Joachim (1992): Demokratie und Wehrpflicht. (Reihe »Studien und Berichte« der Landesverteidigungsakademie Wien). Wien.

Küpeli, Ismail (2007): Einige Anmerkungen zu Kriegslegitimationen des 21. Jahrhunderts, in: Mühland, Rudolf u.a. (Hrsg.): Die neuen Kriege. Moers.

Münkler, Herfried (2002): Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg.

Münkler, Herfried (2002a): Interview in Focus Nr. 9, 2002.

Anmerkungen

1) Zitiert nach Giller 1992, S.40.

2) Diese und die folgenden Zitate stammen aus der Projektbeschreibung des Ehrenmals auf der Homepage des Bundesverteidigungsministeriums. Stand November 2009.

Eugen Januschke ist Semiotiker und engagiert sich in der DFG-VK Berlin-Brandenburg.