Jungs Jungs

Jungs Jungs

Sport, Nation und Militär

von Fabian Virchow

Anfang dieses Jahres sorgte beim Moskauer Armee-Club ZSKA Moskau (Zentralny Sportiwny Klub Armii) eine Direktive für nachhaltige Unruhe: Das Verteidigungsministerium hatte einen Erlass verkündet, demzufolge auch die in den Reihen des bereits zu Sowjetzeiten bestehenden Militärsportclubs trainierenden SoldatInnen Dienst in den russischen Streitkräften machen müssten. Zu den betroffenen Soldaten, die nie militärische Einheiten geführt hatten, aber Dienstgradabzeichen von Offizieren tragen, gehörte auch Islambek Albijew, der bei den Olympischen Spielen in China eine Goldmedaille errungen hatte. Gegen diese Initiative haben viele der betroffenen SportlerInnen protestiert, da sie ein Ende ihrer Karriere fürchten. Russland steht nicht alleine mit einem an nationalem und soldatischem Prestige und dem Ziel der Nachwuchsgewinnung orientierten System der militärischen Sportförderung.

Auch in der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit mehreren Jahrzehnten »SportsoldatInnen«, d.h. SportlerInnen, die als militärische Angehörige der Bundeswehr eine besondere Förderung erhalten, um international um Medaillen und Titel zu konkurrieren. Anlässlich der Olympischen Sommerspiele in Peking im Jahr 2008 lag der auch an Kiosken erhältlichen Bundeswehrpublikation »Y« ein 16-seitiges Dossier zu den »SportsoldatInnen« bei. Darin konstatierte Verteidigungsminister Franz Jung, dass die Bundeswehr bei der „Förderung des deutschen Spitzensports (…) eine herausragende Rolle“ 1 spiele – schließlich stelle sie mehr als 75% aller mit öffentlichen Mitteln finanzierter Förderplätze. Ihre AthletInnen hätten zudem seit 1992 bei den neun Olympischen Spielen 173 Medaillen gewonnen, das sind 44% aller von deutschen OlympiateilnehmerInnen erkämpfter Edelmetalle. Auch die im Zeitraum von 1991 bis 2007 erzielten nahezu 1.000 Welt- und Europameistertitel dienten Jung dazu, seine Aufforderung zu unterstreichen, dass die SportlerInnen ihre Zugehörigkeit zum Militär offensiv nach außen vertreten sollten.

Systemkonkurrenz als Motor

Obwohl die Unterstützung des Spitzensports nicht zu den originären Kernaufgaben der Bundeswehr gehört, gilt sie heute vielen als selbstverständlich. Dabei gab es angesichts der Indienstnahme des Sports bereits für die nazistische Expansionspolitik zunächst durchaus Skepsis gegenüber der Rolle des Sportes in der Bundeswehr. Den Sportverbänden ging es in der Konstituierungsphase der Bundeswehr offiziell nicht nur darum, einen erneuten »Missbrauch« des Sports durch das Militär auszuschließen, sondern auch um eine Art Richtlinienkompetenz und prioritäre Zuständigkeit für dieses gesellschaftliche Feld. In diesem Sinne wurde 1956 geregelt, dass die Bedingungen zum Erwerb des Deutschen Sportabzeichens auch als Leistungsmaßstab für den Sport in der Bundeswehr gelten und die Bildung von Militärsportvereinen nur dort möglich sein sollten, wo es keine zivilen Sportvereine gebe. Auf diese Weise wollte sich der Deutsche Sportbund (DSB) nicht nur der Gründung von rivalisierenden Sportvereinen erwehren, wie es sie im Nationalsozialismus beispielsweise als Luftwaffen-Sportvereine gegeben hatte; mit der Zurückweisung des »Militarismus« (»Knobelbechersport«) wurde auch die Propagierung eines »unpolitischen« Sports verbunden. Dies hinderte führende Sportfunktionäre allerdings nicht daran, sich positiv zur erneuten Aufstellung einer Armee und zur Wiederbewaffnung zu äußern.

Zu der sich in der Folgezeit entwickelnden Kooperation zwischen der Bundeswehr und dem DSB gehörten logistische Unterstützungsleistungen bei sportlichen Großveranstaltungen, so etwa 1963 beim Turnfest in Essen, sowie die gezielte Förderung des Spitzensports im Kontext der sogenannten »Systemkonkurrenz«. In der DDR hatte es bereits früh eine entsprechende systematische Förderung gegeben, in der die Nationale Volksarmee eine tragende Rolle spielte. Bereits 1956 wurde die Armeesportvereinigung Vorwärts gegründet, der zahlreiche Armeesportklubs folgten, deren Trainingsmöglichkeiten auch von Jugendlichen rege genutzt wurden. Diese Konstellation trug dazu bei, dass AthletInnen der DDR vergleichsweise gut bei den Olympischen Spielen abschnitten. Für die Förderung der Sportsoldaten stellten in der Bundesrepublik Deutschland die Olympischen Spiele in München 1972 einen wichtigen Meilenstein dar. Mit dem Beschluss des Deutsche Bundestages, der Bundeswehr per Beschluss die Option zur Einrichtung von Sportfördergruppen zu ermöglichen, wurde die Integration der Sportförderung der Bundeswehr in das System des organisierten Hochleistungssports im DSB nachdrücklich vorangetrieben. Die Verlagerung der 1957 gegründeten Sportschule der Bundeswehr vom bayerischen Sonthofen in das nordrhein-westfälische Warendorf im Jahr 1978, wo sich auf dem Gelände auch ein Olympiastützpunkt befindet, hat zur weiteren Vertiefung der Kooperation beigetragen.

Förderung und Symbiose

Schon in seiner Rede anlässlich der Grundsteinlegung der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf am 15. November 1974 äußerte der damalige Präsident des DSB, Willi Weyer, Dankbarkeit gegenüber der Bundeswehr und lobte das Bundesministerium der Verteidigung für die Offenheit gegenüber den Wünschen und Vorstellungen des DSB.2 Mit Blick auf die nur zwei Jahre zurückliegenden Olympischen Spiele in München erinnerte er daran, dass „in unseren Olympia-Mannschaften 1972 doppelt so viele Soldaten gestanden haben wie in denen des Jahres 1968“. Die von der Bundeswehr und dem DSB ergriffenen Maßnahmen seien demnach erfolgreich gewesen.

Diese systematische militärische Sportförderung hat bei der Bundeswehr Anfang des 21. Jahrhunderts den Umfang von insgesamt 25 Sportfördergruppen erreicht, denen etwa 740 SportlerInnen aus 67 Sportarten zugerechnet wurden. Zu den geförderten Sportarten zählten u.a. Fußball, Rudern, Schwimmen, Boxen, Schießen, Kanu fahren, Rugby, Minigolf, Schach und Billard. Zu den zentralen Voraussetzungen zur Aufnahme in die Sportförderung der Bundeswehr gehört ein entsprechendes Votum des jeweiligen bundesweiten Sportverbandes sowie die Bereitschaft, SoldatIn zu werden. Gehören die so ausgewählten SportlerInnen ohnehin bereits zu den Besten ihrer Disziplin, so führt das Nichterreichen der im Rahmen des Sportförderprogramms gesetzten Ziele zur Rückversetzung in die militärische Einheit und zum Verlust der mit dem Status SportsoldatIn verbundenen privilegierten Trainings- und Wettkampfmöglichkeiten.

Die militärische Sportförderung trägt maßgeblich zu den von deutschen AthletInnen erkämpften Olympischen Medaillen bei; in Salt Lake City wurden 71% der von deutschen SportlerInnen erkämpften Medaillen an Bundeswehrangehörige vergeben. Das Team der Gewichtheber bei den Spielen in Athen im Jahr 2004 setzte sich ausschließlich aus Sportlern zusammen, die im Rahmen der Sportförderung der Bundeswehr trainieren. In einigen Disziplinen, wie etwa dem Bobfahren, gehören die Sportsoldaten seit Jahren zur Weltspitze.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine enge Symbiose zwischen der Bundeswehr und den Sportverbänden im Bereich der Sportförderung entwickelt. Es besteht inzwischen eine signifikante Abhängigkeit des Spitzensports und zahlreicher SpitzensportlerInnen von der Sportförderung der Bundeswehr. Hinsichtlich der Nordischen Ski-Weltmeisterschaften hieß es von Verbandsvertretern beispielsweise: „Ohne die Bundeswehrsoldaten wäre die Weltmeisterschaft im eigenen Lande zum Nullsummenspiel geworden“. 3

Die Leistungen der SportsoldatInnen werden innerhalb der Bundeswehr umfangreich kommuniziert. Berichte von größeren Sportereignissen, an denen SportsoldatInnen teilnehmen, wie etwa die Biathlon-Weltmeisterschaften im thüringischen Oberhof, werden vom Militärsender »Radio Andernach« für die im Ausland eingesetzten Einheiten der Bundeswehr ausgestrahlt. Auf den Internet-Seiten der deutschen Streitkräfte nimmt das Thema Sport einen prominenten Platz ein, die wöchentliche Bundeswehrpublikation »aktuell« widmet mindestens eine ihrer wöchentlich meist zwölf Seiten dem Thema SportsoldatInnen, und zum Informationsangebot der Bundeswehr gehört auch eine Broschüre, die sich ausschließlich diesem Aspekt widmet.

Nachwuchswerbung

Hinsichtlich der Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben und im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Akteuren wie beispielsweise politischen Parteien oder Medien genießt die Bundeswehr in der Bevölkerung ein vergleichsweise hohes Ansehen. Dies korrespondiert jedoch nur begrenzt mit der Bereitschaft junger Menschen, der Wehrpflicht bei der Bundeswehr nachzukommen oder sich für einen längeren Zeitraum zum Militärdienst zu verpflichten. Daher hat die Bundeswehr die Palette ihrer Informations-, Werbe- und Rekrutierungsmaßnahmen beträchtlich erweitert und modernisiert, um einen qualifizierten Personalbestand sichern zu können.

Im Jahr 2002 organisierte die Bundeswehr erstmalig die »BW-Olympics«. Dabei wurden etwa eintausend junge Menschen im Alter von 16 und 17 Jahren für ein Wochenende in die Sportschule der Bundeswehr in Warendorf eingeladen, um sich bei Spaß und Musik neben der Teilnahme an Sportwettbewerben auch „über die attraktiven Karrierechancen zu informieren, die die Bundeswehr als Arbeitgeber bietet“. Die etwa 800 sportbegeisterten Jugendlichen, darunter etwa 25% junge Frauen, die im Jahr 2004 an den »BW-Olympics« teilnahmen, wurden mit Bussen auf das Kasernengelände gebracht, wo sie sich – wie Soldaten – gruppen- und zugweise aufstellen mussten, da es auch darum ging, die Bundeswehr kennen zu lernen bzw. – so eine Publikation der Bundeswehr – „die Bundeswehr als attraktiven Arbeitgeber zu präsentieren“.4 Der erste Tag endete mit einer Party, die jedoch durch die für 23 Uhr angeordnete Bettruhe zeitlich begrenzt wurde. Während des Wochenendes fanden Wettkämpfe in den Disziplinen Fußball, Schwimmen, Beach-Volleyball, Leichtathletik und Orientierungslauf statt. Da sich die Bundeswehr auf dem Gelände nicht nur mit Informationsständen präsentierte, sondern auch Waffensysteme zeigte, konnten die Jugendlichen neben einem Hubschrauber auch „eine Fliegerfaust bestaunen“ 5. Die Zielsetzung, Jugendlichen Einblicke in das soldatische Berufsbild zu geben, sie ansatzweise mit militärischen Gepflogenheiten vertraut zu machen und für den »Dienst an der Waffe« zu gewinnen, schlug sich auch in den bei den »BW-Olympics« ausgelobten Preisen nieder: Besuche bei Bundeswehr-Einheiten.

Macht dieses jugendgerechte Angebot mit einigen Gepflogenheiten des militärischen Alltags vertraut (z.B. Antreten in Formation, verordnete Bettruhe), so bleiben andere Dimensionen, insbesondere die Realität des Krieges, Zerstörung, Verwundung und (möglicher) Tod unthematisiert. Eine solche Banalisierung von Militär und Krieg stellt auch die Kampagne »BW-Beachen ‘05« dar, bei der der staatliche Gewaltapparat im Sommer 2005 in Urlaubsorten als Veranstalter eines Beach-Volleyball-Wettbewerbes mit dazu gehörendem Musikprogramm und Strandparty auftrat. Nach vier Vorausscheidungen fand das Finale in Warnemünde statt; zu den ersten drei Preisen gehörte ein Besuch der Beachvolleyball-WM 2005 in Berlin, ein Flug mit der Luftwaffe nach Sardinien sowie ein fünftägiges Sommercamp bei der Marine in Eckernförde. Da, so der Beauftragte für militärische Nachwuchsgewinnung, Generalmajor Wolfgang Otto, die Bundeswehr „in manchen Regionen nicht mehr vertreten“ sei, habe sie nur „bei solchen Veranstaltungen (…) die Möglichkeit ihrer Zielgruppe zu zeigen, dass wir mehr sind als über den Kasernenhof marschierende Soldaten“.6 Auch im Rahmen dieser Veranstaltung wurde das Sportprogramm von Informationsangeboten über Laufbahnen und Verwendungen in der Bundeswehr begleitet, und die teilnehmenden Jugendlichen erhielten zahlreiche Einblicke in militärische Abläufe und Aufgabenstellungen.

Sport und nationales »Wir«

Dass Sport wie andere Bereiche sozialen Handelns auch sozial und kulturspezifisch durchformt ist und gesellschaftliche Verhältnisse ebenso zum Ausdruck bringt, wie er sie auch reproduziert, lässt sich – hier mit Blick auf das Militär und den Krieg – historiographisch wie kultursoziologisch anhand zahlreicher Spuren in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern nachvollziehen. Einige Überlegungen zur Vermessung des in seiner Komplexität schwierig zu bestimmenden Verhältnisses von Militär, Krieg und Sport deren Bezug zur Rekonstruktion der Nation. Die SportsoldatInnen der Bundeswehr leisten nicht nur einen Beitrag als Werbeträger und Rekrutierungsmedium, sondern tragen auch zur Integrierung bei. Eine Hauptfunktion der Anteilnahme an sportlichem Geschehen besteht in „der Integrationsleistung des Sports, indem ein gruppenspezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl erweckt wird. Die Großgruppen des Staates und der Nation [hier sei ergänzt: des Militärs, F.V.] bedürfen solcher Erlebnisse, weil sie für den einzelnen nur schwer real und konkret erfahrbar sind“.7 Diesem Verständnis folgte auch zwanzig Jahre später ein Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der die Erfolge der SportsoldatInnen als Beitrag zum »nation-building« in einem Land anpries, das über Jahrzehnte geteilt gewesen sei.

Dass Sport als paradigmatisches Feld der Rekonstruktion von (Staats-)Nationen gelten kann, lässt sich an sogenannten »Nationalsportarten«8 und (internationalen) Großveranstaltungen aufzeigen. So stellen etwa die Eröffnungszeremonien der Olympischen Spiele solche kunstvoll komponierten und kommerzialisierten Erzählungen der jeweiligen Nationalgeschichte dar.9 Entsprechend wurden in der Eröffnungszeremonie der Olympischen Winterspiele in Salt Lake City, nur wenige Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, mit dem Auftritt des Kapitäns der Eishockey-Mannschaft, die zur Hochzeit des Rüstungswettlaufs zwischen der USA und der Sowjetunion das favorisierte Team der UdSSR im Kampf um die Goldmedaille 1980 bezwungen hatte, Inszenierungselemente eingewoben, deren außen- und militär(politisch)e Konnotation im aktuellen Kontext unübersehbar war.

Das Abschneiden der jeweiligen »Nationalmannschaften«, das regelmäßig an der Zahl der gewonnenen Medaillen gemessen und in tabellarischen Rankings rasch erfass- und interpretierbar gemacht wird, gilt auch als Indikator für das ‚nationale Prestige‘ eines Landes. Staatsoberhäupter interpretieren das schlechte Abschneiden der Olympiateams als „Nachlassen unserer einst bewunderten nationalen Stärke“ (John F. Kennedy) bzw. „nationale Schande“ (Charles de Gaulle). Entsprechend ist die Teilnahme an Endspielen und mehr noch deren Gewinn eine häufig genutzte Gelegenheit für die RepräsentantInnen der Staatsnation, sich und das nationale Kollektiv in Szene zu setzen.

Symbolische Rekonstruktionen

Die gesellschaftliche Reichweite des Sports als massenkulturelles Phänomen, insbesondere bei Großereignissen wie Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen, ist enorm. Die Erinnerung an sie trägt – wie die Erinnerung an Kriege – beträchtlich zur Konstruktion »nationaler Identität« bei. Der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft im Jahre 1954, mythologisiert als der »Triumph von Bern«, wurde zeitgenössisch von vielen Sportfunktionären in Deutschland als Ausdruck »wahren Deutschtums« gefeiert und in zahlreichen Medien und großen Teilen der Bevölkerung als wichtiger Schritt der Überwindung des Pariah-Status im System der internationalen Beziehungen gewertet.10 Zahlreiche Länderspielbegegnungen von Fußballnationalmannschaften bieten medial vermittelte Gelegenheiten, Erinnerungen an zwischenstaatliche Konflikte und national(istisch)e Untertöne aufzurufen.11

Fand sich aufgrund des erfolgreichen Abschneidens des Radrennfahrers Jens Voigt bei der »Tour de France« 2005 auf der Titelseite der BILD-Zeitung die Schlagzeile »Endlich wieder ein deutscher Held!«, so ist dies lediglich ein aktuelles Beispiel für die Bedeutung, die dem Sport als „nationalistische Sprache“ 12 bei der (Re-) Konstruktion »nationaler Identität« zukommt. Bedürfen Nationen als symbolische Konstruktionen der fortwährenden Reproduktion in unzähligen, meist unspektakulären Interaktionen des Alltags, so eignet sich Sport hierzu besonders gut, da an den mit ihm – in den Wettkampfarenen wie in seiner medial vermittelten Präsenz – verknüpften und sozial gelebten sowie interaktiv hergestellten Praxen einerseits eine große Zahl von Menschen partizipiert, andererseits in seinen Erzählungen offener als andernorts kulturelle und nationale Stereotypisierungen vorgenommen werden können bzw. das Ausleben nationalistischer Gefühle mindestens toleriert wird.13 „Der Sportplatz und der Kriegsschauplatz sind als Orte der Demonstration legitimer patriotischer Aggressivität miteinander verbunden“.14

Fällt der Sportler als »nationale Figur« mit dem Soldaten, der historisch ebenfalls als »nationale Figur« bzw. als »Vertreter des nationalen Interesses« konstruiert wurde15, zusammen – eben in der Figur des Sportsoldaten –, so lässt sich begründet vermuten, dass damit nicht nur die alltägliche Rekonstruktion der Nation, sondern auch die des Militärs als Institution stattfindet. Die Forderung Jungs, die deutschen SportsoldatInnen sollten sich deutlich zur Bundeswehr bekennen, zielt auch auf die Legitimierung der gegenwärtigen Militärpolitik. Massenmedial inszenierte einen solchen Zusammenhang von Sport und Militär die BILD-Zeitung: Anlässlich eines Besuchs von Spielern der deutschen Fußballnationalmannschaft bei Bundeswehrsoldaten im Einsatz schrieb sie: „Unsere Jungs bei unseren Soldaten“.

Anmerkungen

1) Dossier »Sportsoldaten«, S. II.

2) Willi Weyer: Rede anlässlich der Grundsteinlegung für die Sportschule der Bundeswehr am 15. November 1974 in Warendorf (Auszug), in: Sportschule der Bundeswehr (Hg.): Sportschule der Bundeswehr. Porträt einer Schule, Koblenz 1993: 32.

3) Vgl. Gerd Kebschull: Heimspiel alpin, in: Y. Magazin der Bundeswehr 4/2005: 90-92.

4) Nicolaas Bongaerts, (2004): ‚Wir haben gezeigt, was wir können‘, in: BW-aktuell 39 (2004) 24: 8-9, (8).

5) Andreas Meier: Die Bw-Olympix 2004, in: Hardthöhenkurier 20 (2004) 3: 38-39, (38).

6) Nathalie Poulheim & Holger Wilkens: Die Jugend im Blick, in: BW-aktuell 40 (2005) 24: 6.

7) Detlef Grieswelle: Sportsoziologie, Stuttgart 1978: Kohlhammer, S.98.

8) Roman Horak & Georg Spitaler: Sport Space and National Identity. Soccer and Skiing as Formative Forces: On the Austrian Example, in: American Behavorial Scientist 46 (2003) 11: 1506-1518.

9) Jackie Hogan: Staging the Nation. Gendered and Ethnicized Discourses of National Identity in Olympic Opening Ceremonies, in: Journal of Sport and Social Issues 27 (2003) 2: 100-123, (102).

10) Arthur Heinrich: The 1954 Soccer World Cup and the Federal Republic of Germany’s Self-Discovery, in: American Behavorial Scientist 46 (2003) 11: 1491-1505.

11) Allen L. Sack/Seljan Suster: Soccer and Croatian Nationalism. A Prelude to War, in: Journal of Sport and Social Issues 24 (2000) 3: 305-320.

12) William J. Morgan: Sports and the Making of National Identities: A Moral View, in: Journal of the Philosophy of Sport 24 (1997): 1-20, (11).

13) Samantha King: Offensive Lines: Sport-State Synergy in an Era of Perpetual War, in: Cultural Studies – Critical Methodologies 8 (2008) 4: 527-539.

14) J.A. Mangan: Foreward, in: ders. (Hg.): Shaping the Superman: Fascist Body as Political Icon – Aryan Fascism, London & Portland, OR 1999: Frank Cass, S. xi-xiii, (xii).

15) Ruth Seifert: Militär, Nation und Geschlecht: Analyse einer kulturellen Konstruktion, in: Wiener Philosophinnen Club (Hg.): Krieg/War. Eine philosophische Auseinandersetzung aus feministischer Sicht, München 1997: Fink, S.41-49, (45).

Dr. Fabian Virchow lehrt an der Universität Köln, ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift »Wissenschaft & Frieden«.

Wo viel los ist, ist auch die Bundeswehr

Wo viel los ist, ist auch die Bundeswehr

Die Bundesregierung führt die Kategorie der Amtshilfeeinsätze ein

von Frank Brendle

Das Weißbuch der Bundeswehr fordert die „Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens“, um Inlandseinsätze der Bundeswehr zu ermöglichen. An der Verfassungsänderung biss sich die große Koalition jedoch die Zähne aus. Sie ging stattdessen dazu über, Inlandseinsätze am Grundgesetz vorbei zu etablieren.

Bis 1968 bestimmte Artikel 143 des Grundgesetzes: „Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Artikel 79 erfüllt“, d.h. ein Gesetz, das seinerseits verfassungsändernd ist. Das beinhaltete die »Aussicht« einer entsprechenden Verfassungsänderung, stellte aber klar: Bis dahin waren jegliche Einsätze im Inneren untersagt, selbst im Rahmen der Katastrophenhilfe. Darin drückte sich die damals parteiübergreifende Skepsis gegenüber innenpolitischen Verwendungen des Militärs aus. Es galt zu gewährleisten, „dass die bewaffnete Macht nicht wieder zum Staat im Staate wird“ (SPD-MdB Wilhelm Mellies am 6. 3. 1955), dass „diese Streitkräfte nicht zu einer Belastung der demokratischen Entwicklung unseres Volkes werden“ (CDU-MdB Georg Kliesing am 12. 10. 1955)1.

Dennoch beauftragte der Hamburger Innensenator und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) während der Sturmflut im Jahr 1962 die Bundeswehr, gegen Plünderer vorzugehen und den Verkehr zu lenken. Schmidt erklärte später: „Wir waren damals durchaus in dem Bewusstsein, gegen Artikel 143 zu verstoßen“.2 Es ist bezeichnend für das Rechtsverständnis der damaligen Gesellschaft, das Schmidt bzw. der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß für diesen Verfassungsbruch nicht kritisiert wurden, sondern Schmidt den Nimbus des pragmatischen »Machers« erhielt. Erst 1968 wurde im Zuge der Notstandsgesetzgebung, also durch Verfassungsänderungen, die auf weitgreifende Einschränkungen der Freiheitsrechte zielten, auch die Grundlage für militärische Einsätze im Inland gelegt.

Zentral für die rechtlichen Regelungen ist seither Artikel 87a, II GG: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, sofern dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt“. Solche Ausnahmefälle beschränken sich auf die Abwehr bewaffneter Erhebungen und die »Katastrophenhilfe«-Bestimmungen des Artikels 35 II, III.

Die »rot-grüne« Bundesregierung wollte aus diesem Artikel herauslesen, dass die Bundeswehr auch zur Abwehr eines mit einem Flugzeug durchgeführten Terroranschlags eingreifen könne. Ihr Luftsicherheitsgesetz wurde im Februar 2006 allerdings vom Bundesverfassungsgericht kassiert, weil Artikel 35 der Bundeswehr gerade nicht das Recht zur Anwendung typisch militärischer Waffen verleihe. Kampfflugzeuge, Panzer usw. bleiben ausgeschlossen.

Keine Ruhe an der Inlandsfront

Seither sind die – teilweise konkurrierenden – Vorstellungen der Regierungsparteien nach einer Verfassungsänderung allesamt gescheitert. Dennoch herrscht an der Inlandsfront keine Ruhe. Das wurde vor allem beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm deutlich, der wohl zu den größten Inlandseinsätzen der BRD-Geschichte gezählt werden muss. 1100 Soldaten agierten unter dem Label »Amtshilfe«, weitere 1350 nahmen militärische Überwachungsaufgaben und »Eigensicherung«-Maßnahmen wahr. In der Praxis gab es dabei jedoch starke Überschneidungen.3

Am meisten Aufsehen erregt hat zweifellos der Aufklärungsservice für die Polizei: 15 Mal sind Tornado-Flugzeuge gestartet. Offizieller Sinn des Amtshilfeersuchens: Das Aufspüren behaupteter unterirdischer Waffenlager. Nach jedem Flug durften sich Beamte des Polizeiführungsstabs (BAO KAVALA) die Bilder ansehen und mitnehmen, 101 Bilder wurden übermittelt. Die meisten von ihnen dokumentieren allerdings den Aufbau der Protestcamps und deren Bewohner; dazu gehören einzelne Personengruppen, die z. B. als BUND-Jugend identifiziert werden; Bilder mit Titeln wie »Ansammlung«; »Menschen«, »Camp Rostock«, »Camp Wichmannsdorf«, »Camp Reddelich«.

Der Auftrag der neun eingesetzten »Fennek«-Spähpanzer lautete, „zu beobachten und Wahrnehmungen an die Polizei weiterzumelden.“ Die Panzer wurden unter anderem an den Autobahnen eingesetzt und überwachten die als gefährdet eingeschätzte landwirtschaftliche Versuchsanstalt Sanitz. Die »Fennek« waren von je drei Polizisten begleitet, die sofort über die Beobachtungen informiert wurden. Nach offiziellen Angaben sind die einzelnen Meldungen nicht dokumentiert worden.

Chef der Gewerkschaft der Polizei, Werner Kuhlmann: „Die Gefahr steckt doch auch hier darin: Sobald es darum geht, Bundeswehreinheiten hoheitsrechtliche Aufgaben zu übertragen, taucht doch sofort die Frage der Bewaffnung auf […] Ich meine, wir sollten einen ganz klaren Trennstrich ziehen und dafür sorgen, dass in Fällen der Naturkatastrophen und bei schweren Unglücksfällen die Bundeswehr […] durchaus eingesetzt werden kann, aber nicht mit Waffen und ohne hoheitsrechtliche Aufgaben.“ Kuhlmann verwies auf die Gefahr der Gewöhnung. Je mehr Inlandseinsätze es gebe, desto größer werde die Missbrauchsmöglichkeit und die Gefahr, dass „unter dem Deckmantel der Legalität“ ein Staatsstreich unternommen werde. Deswegen müsse „jeder, auch jeder Soldat […] zweifelsfrei wissen, dass Bundeswehreinheiten, die in innere Angelegenheiten eingreifen, die Verfassung brechen.“ 1

Anmerkung

1) Kuhlmann: Protokoll des Notstandshearings im Rechtsausschuss des Bundestages, 30. 11. 1967.

Amtshilfe und Einsatz

Um den Vorgang zu bewerten, muss man begrifflich zwischen »Einsatz« im Sinne des Grundgesetzes (Art. 87a II) und einer schlichten Verwendung als Amtshilfe gemäß Artikel 35 I („Die Behörden des Bundes leisten sich gegenseitig Amtshilfe.“) unterscheiden. Als Einsatz sind solche Tätigkeiten der Bundeswehr zu verstehen, die in die Grundrechte eingreifen, also »obrigkeitlichen« Charakter haben. Wie erwähnt, haben sie nur Ausnahmecharakter und müssen im Grundgesetz selbst explizit genannt werden. Die Amtshilfe-Bestimmung entspricht diesem Bestimmtheitsgebot nicht und verleiht keine Einsatzbefugnis.

Dennoch wurde die Bundeswehr im Zuge der »Terrorbekämpfung« in den 1970er Jahren zu polizeilichen Strafverfolgungsmaßnahmen eingesetzt: So hatten sich Angehörige des Militärischen Abschirmdienstes an der Fahndung nach den Schleyer-Entführern beteiligt, und im Oktober 1977 führte die Bundesmarine außerdem einen »Antiterroreinsatz« durch. Beide Einsätze waren von Art. 87a Absatz 2 nicht gedeckt und somit verfassungswidrig.4

Grundrechterelevanz

Zu klären ist dennoch die Frage: Ab wann sind Tätigkeiten der Bundeswehr grundrechtsrelevant? In Bezug auf den G8-Gipfel springt die hohe Zahl der Feldjäger ins Auge, von denen 641 – mit Pistolen bzw. gar mit Sturmgewehren des Typs G36 bewaffnet – „mobil und anlassbezogen“ 5 durch die Gegend streiften. Auch wenn sie nicht unmittelbar gegen Demonstranten vorgehen sollten, so war ihr Auftreten doch geeignet, zumindest psychologische Zwangswirkung auszuüben. Denn wer immer demonstrieren wollte, wusste um das polizeilich verhängte Demonstrationsverbot und musste Feldjäger als gegen sich gerichtet verstehen. Man spricht hier von einem »show-of-force«-Einsatz.6

Zudem spielt es eine wesentliche Rolle, dass die Bundeswehr nicht erst im Einsatz ist, wenn sie selbst in BürgerInnenrechte eingreift, sondern bereits dann, wenn sie die Polizei in einer Form unterstützt, die es dieser erst möglich macht, »obrigkeitlich« zu handeln: „Das Machtpotential der Streitkräfte wird aber auch dann eingesetzt, wenn das Militär bei Auseinandersetzungen auch ohne Ausübung von Zwang Polizeikräfte unterstützt und damit auf das Kräfteverhältnis (zwischen DemonstrantInnen und der Polizei, F. B.) einwirkt.“ 7

Diese Einschätzung geht zurück auf das von Maunz/Düring8 postulierte Neutralitätsgebot: In innenpolitischen Angelegenheiten müssen die Streitkräfte einen neutrale Rolle einnehmen.

Das war früher auch in Bundeswehrkreisen bekannt. Als in den 1980er Jahren darüber diskutiert wurde, ob die Bundeswehr die bayerische Polizei beim Vorgehen gegen Demonstranten an der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf unterstützen dürfe, wurde dies in der Zeitschrift »Bundeswehrverwaltung« als verfassungswidrig eingeschätzt:

„Doch auch Unterstützungshandlungen der Bundeswehr, es kann sich dabei generell auch nur um solche technischer oder logistischer Art handeln, sind dann rechtlich zweifelhaft, wenn sich die Unterstützungen unmittelbar auf die Demonstranten auswirken können. In diesem Fall würde die Bundeswehr zum verlängerten Arm der Polizei […] Das gilt insbesondere für Unterstützungen durch militärtypische Mittel, wie z. B. Hubschrauber, Mannschaftswagen, Spezialfahrzeuge usw. […] Wird dagegen der Polizei eine Unterstützung geleistet, die im Grunde von jedem geleistet werden könnte, wie z. B. die Bereitstellung von Unterkünften in einer Kaserne, dann liegt keine spezifische militärische Hilfeleistung vor.“ 9

Die Völkerrechtler Ralf Jahn und Norbert K. Riedel hielten schon früh fest: „Eindeutig Einsatzqualität besitzt die Zurverfügungstellung von militärischem Gerät einschließlich der sie bedienenden Soldaten, wie z. B. Aufklärungsflüge von Bundeswehrhubschraubern bei Demonstrationen. Hier wird militärisches ‚know-how’ in Anspruch genommen, das seinem Zweck nach innenpolitisch nicht neutral ist.“ 10

Vor dem G8-Gipfel geschrieben, aber wie auf diesen gemünzt hat der Jurist Jan-Peter Fiebig in seiner Dissertation festgehalten, ein Einsatz sei „gegeben, wenn Soldaten Fahrzeuge, insbesondere Luftfahrzeuge, der Streitkräfte […] zur optischen Überwachung von Großveranstaltungen und deren Umgebung verwenden und etwaige Aufklärungsergebnisse an die für unmittelbar obrigkeitliches Vorgehen vorgesehenen“ Polizeistellen weitergeben.11

Setzt man hinzu, dass der G8-Gipfel wie auch das weiträumige Demonstrationsverbot in der Öffentlichkeit höchst kontrovers diskutiert worden waren, hat die Bundeswehr als Gipfel-Logistikerin und Repressionshelferin das innenpolitische Neutralitätsgebot verletzt. Zudem sind »Fennek«-Panzer und Tornados militärische Geräte, die nach dem »Luftsicherheitsurteil« nicht im Inland verwendet werden dürfen. Dabei ist es unerheblich, ob Raketen und Bordkanonen abmontiert sind, da die Waffensysteme und die elektronische Ausstattung „zur ‚Feindaufklärung‘ […] für den Einsatz im Krieg […] konzipiert“ und daher nicht als „polizeitypische Einsatzmittel“ zu betrachten seien, so der Berliner Staatsrechter Martin Kutscha.12

Zur Unschärfe der Amtshilfe-Bestimmungen gehört, dass das verfassungsrechtliche Gebot der Subsidiarität nicht ernsthaft geprüft wird. Die Frage, ob statt der Tornados nicht auch herkömmliche Polizeihubschrauber die – angebliche – Suche nach Waffendepots rund um Heiligendamm hätten leisten können, ob es statt der »Fennek« nicht auch ein paar Polizisten mit Ferngläsern getan hätten – wurde von der Bundesregierung nicht gestellt. „Die Prüfung ist eine Sache des Landes Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen der polizeilichen Gefahrenprognose“, hieß es.13

Amtshilfeexpansion

Aufgrund dieser Unschärfen lohnt sich ein genauerer Blick auf die Entwicklungen in diesem Bereich. Der ergibt schnell: Die Bundesregierung hat Amtshilfe-Maßnahmen in den letzten Jahren geradezu explosionsartig anwachsen lassen. Den Antworten der Bundesregierung auf Anfragen der Linksfraktion zufolge hat es in den Jahren 1996-1999 nur eine einzige Amtshilfemaßnahme pro Jahr gegeben. Pikanterweise bestanden diese aus der Unterstützung der Polizeieinsätze anlässlich der Castor-Transporte. Der Polizei wurden Unterkünfte und Verpflegung zur Verfügung gestellt. Wenn auch kaum behauptet werden kann, damit sei der Polizei erst das Vorgehen gegen Demonstranten ermöglicht worden, so wäre doch zu problematisieren, inwiefern das Militär mit dieser einseitigen Positionierung im Konflikt zwischen Atomlobby und Anti-Atom-Bewegung das Neutralitätsgebot verletzt hat.

Im Jahr 2008 waren die Amtshilfezahlen auf stolze 30 angewachsen. Dazu gehören wiederum sämtliche Castor-Transporte. Genauso bemerkenswert ist, dass die Bundeswehr heute bei praktisch jedem Großereignis mit dabei ist. Der katholische Weltjugendtag, der Papstbesuch, die beiden Bush-Besuche, die Fußball-WM, der G8-Gipfel, der Nato-Gipfel – all dies sind Anlässe, bei denen es früher keine – oder allenfalls in Ausnahmen – Amtshilfeeinsätze gab. Das legt nahe, dass eine politische Strategie verfolgt wird: Wo viele Menschen zusammenkommen, da soll auch die Bundeswehr sein. Zumindest bei Gipfeln und Staatsbesuchen ist auch mit Demonstrationen zu rechnen. Die neuen ZMZ-Kommandos der Bundeswehr waren sowohl in Heiligendamm als auch während des Nato-Gipfels 2009 in die polizeilichen Planungen eingebunden und haben als de-facto-Repressionsberater über die beim Militär vorhandenen Kapazitäten informiert.

Der Expansionstrend offenbart sich auch bei einem Blick auf Unterstützungsleistungen, die Privatvereinen bzw. Unternehmen zugute kommen. Auch diese haben rasant zugenommen: Lag ihr Mittel bis zum Jahr 2007 bei knapp über 20, so hat es im vorigen Jahr 74 gegeben. Zu den Profiteuren gehören auch die Rüstungsschmiede EADS und die Münchner Sicherheitskonferenz. Meist handelt es sich aber um scheinbar harmlose Tätigkeiten wie Dienstleistungen für gemeinnützige Vereine und Unterstützung von Sportveranstaltungen.

Doch solche Einsätze sind nicht nur eine wichtige PR-Maßnahme für die Bundeswehr, sondern bergen die Gefahr einer grundsätzlichen Gewöhnung an den Anblick uniformierter Soldaten, die sich – scheinbar als kompetente Helfer – in den Alltag einbringen.

Hausrechtseinsätze

Ordnungskompetenzen nehmen Soldaten bei Hausrechtsübernahmen wahr, einem kaum bekannten Aspekt der Inlandstätigkeit. Herausragendes Beispiel ist die Münchner Sicherheitskonferenz, an der bis zum Jahr 2008 eine stetig wachsende Zahl von Feldjägern den Wachschutz im Tagungshotel übernahm (worauf nach Protesten im Jahr 2009 verzichtet wurde).

924mal wurde zwischen Januar 2005 und Januar 2009 das Hausrecht von Feldjägern verteidigt.14 Anlass sind meist militärische Veranstaltungen, die zwecks Imagepflege in den öffentlichen Raum verlegt wurden. So wurden zur Feier einer Leutnantsbeförderung in Erfurt 25 Soldaten mit Pistolen im Rathaus aufgeboten; ein Festakt zum 150jährigen Marinejubiläum wurde von 12 Feldjägern in der Frankfurter Paulskirche bewacht. Einer der größten Einsätze galt der Sicherung des »Sommerbiwaks« im Stadtpark von Hannover, mit 102 bewaffneten Soldaten.

Die Aufgabe der Feldjäger ist es, „einen sicheren und ungestörten Ablauf der Veranstaltung zu gewährleisten und das eingesetzte Personal und Material der Bundeswehr vor Übergriffen zu schützen und Schaden von nicht bundeswehrangehörigen Gästen und sonstigen Anwesenden fern zu halten.“ 15 Nun mag sich die Bundeswehr in ihren eigenen Liegenschaften selbst schützen, aber wenn sie dies in öffentlichen Gebäuden bzw. im öffentlichen Raum tut, tangiert sie offenkundig Aufgaben der Polizei. Auch dies trägt zur Militarisierung des öffentlichen Raums bei. Wer gegen solche öffentlichen Auftritte des Militärs protestieren will, muss damit rechnen, von Feldjägern gemaßregelt zu werden. Und es sei erneut darauf hingewiesen, dass schon der Anblick einer Feldjägereinheit geeignet sein kann, auf AntimilitaristInnen abschreckend – und damit grundrechterelevant – einzuwirken (»show-of-force«).

Der Gewöhnungsaspekt, der solchen Auftritten in der Öffentlichkeit innewohnt, gilt auch für die Soldaten selbst: Je öfter sie im »zivilen Alltag« eingesetzt werden, desto weniger werden sie das als ungewöhnlich empfingen. Dies ist, angesichts der Forderungen aus den Regierungsparteien nach erweiterten Möglichkeiten für Inlandseinsätze, eine erhebliche Gefahr.

Anmerkungen

1) zit. nach Jan-Peter Fiebig (2004): Der Einsatz der Bundeswehr im Innern. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von innerstaatlichen Verwendungen der Streitkräfte bei Großveranstaltungen und terroristischen Bedrohungen, Berlin, S.84f.

2) Bundestagssitzung vom 16. 5 1968.

3) Eine Aufarbeitung des G8-Einsatzes hat die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke vorgelegt: http://www.ulla-jelpke.de/news_detail.php?newsid=762

4) So der eher konservative Wolfgang Speth (1985): Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr unter besonderer Berücksichtigung sekundärer Verwendungen, München, S, 188.

5) Bericht des BMVg vom 2. Juli 2007; Verschlusssache, dokumentiert unter http://www.dfg-vk.de/thematisches/bw-inneren/2008/191.

6) Vgl. Fußnote 1, insb. S.177ff.

7) Wolfgang Grubert (1997): Verteidigungsfremde Verwendungen der Streitkräfte in Deutschland seit dem Kaiserreich außerhalb des inneren Notstandes, Frankfurt am Main, S.241.

8) Maunz/Dürig (2003): Grundgesetz-Kommentar Band 4, Rn 32ff

9) Erwin Beckert (1986): Bundeswehr und Polizei, in: Bundeswehrverwaltung, Juli 1986.

10) Die Öffentliche Verwaltung, November 1988.

11) Wie Fußnote 1, S.192.

12) Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2007.

13) BT-Drucksache 16/6046.

14) BT-Drucksache 16/12004.

15) Ebd.

Frank Brendle ist Journalist, Historiker und Landesgeschäftsführer der DFG-VK Berlin-Brandenburg.

Gegen das Volk gerüstet

Gegen das Volk gerüstet

von Volker Bräutigam

Nach dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer hatte in diesem Frühjahr 2009 auch die später bei der Wahl unterlegene Bundespräsidentenkandidatin Gesine Schwan (SPD) vor sozialen Unruhen in Deutschland als Folge der Wirtschaftskrise gewarnt. Sie löste damit in weiten Kreisen Verärgerung aus. Selbst Schwans Parteifreund, Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier (SPD), distanzierte sich von ihren Äußerungen. Ersichtlich liegt der gesamten Bundesregierung daran, keine ausufernde Debatte über die soziale Kluft und über denkbaren Widerstand dagegen aufkommen zu lassen. Hinter der Bühne aber wird ein anderes Stück vorbereitet.

Viele Mitmenschen glauben tatsächlich immer noch, es werde schon nicht alles so schlimm kommen – und falls doch, dann eher für andere als für sie. Viele schließen die Augen vor dem heraufziehenden Unheil. Die Politik der Regierung, die das inhumane und desaströse neoliberale Wirtschaftssystem mit astronomischer Staatsverschuldung stützt, ist empörend, aber von Empörung ist bisher wenig zu spüren. Die ersten Demonstrationen, die DGB-Veranstaltung am 16.05. 2009 eingeschlossen, wurden von den Konzern- und den staatsfrommen Medien klein und schäbig geschrieben, damit sie möglichst folgenlos bleiben. Aber ist tatsächlich auszuschließen, dass es bald – wie der Kabarettist Georg Schramm in der politsatirischen ZDF-Sendung »Neues aus der Anstalt« unlängst räsonierte – „flächendeckend zu Handgreiflichkeiten kommt“, weil Arbeitslosigkeit, Armut und Elend sprunghaft zunehmen?1

Vorwegnahme sozialer Unruhen

Die Bundesregierung jedenfalls bereitet sich, wie andere europäische Regierungen auch, auf den Ausbruch sozialer Unruhen vor. In aller Stille richtet sie sich auf Notlagen ein, rüstet den staatlichen Machtapparat auf und verschafft sich Mittel und Wege, einflussreiche Gegner auszuforschen. Bundespolizei und Sondereinsatzkommandos der Bundesländer trainieren schon gemeinsam mit Kollegen aus verbündeten Staaten, um »polizeiliche Großlagen« zu beherrschen. Nicht nur Übung, sondern »Ernstfall« war z.B. der grenzüberschreitende Polizeieinsatz anlässlich der NATO-Tagung am 3./4. April 2009 in Baden-Baden und Straßburg. Er verlief exakt gemäß dem schon länger vorliegenden »Drehbuch« für rein innerdeutsche Anlässe.2

Nicht nur in meinem Bundesland Schleswig-Holstein sind die Zivilschutzämter dabei, Lebensmittelkarten herstellen zu lassen und einzulagern. Im Falle einer Hyperinflation will man Produktion und Vertrieb von Versorgungsgütern zwangsbewirtschaften und rationieren. Lebensmittel gibt es dann nur mehr in kleinsten Mengen »auf Marken« wie einst zu Kriegs- und Nachkriegszeiten. Die Kreisämter sind angewiesen, für den Ausfall der Wasser- und Energieversorgung vorzuplanen.

Zugleich entfaltet die Regierung einen intensiven Ausforschungstrieb; »Terrorismus-Abwehr« als Begründung klingt immer überzeugend. Innen-Staatssekretär August Hanning verkündete vor wenigen Monaten in einem Interview mit der taz, es dürfe keine überwachungsfreien Räume mehr geben, auch nicht zum Schutz der Privatsphäre: „Wir gehen zwar davon aus, dass über Kriminalität eher im Wohnzimmer gesprochen wird. Aber wenn wir Anzeichen haben, dass ein Paar sich dazu immer ins Schlafzimmer zurückzieht, weil es sich dort sicherer fühlt, dann können wir natürlich auch dort überwachen.“ 3

Aufrüstung – nicht nur der Seelen

Ja, sie können. Mittels Mikrowellen können sie problemlos Mauern durchdringen und Innenräume sowie die darin befindlichen Personen scannen und abhören. Sensoren emittieren Mikrowellen-, Millimeterwellen- oder Terahertz-Strahlung, die – von den Zielobjekten reflektiert – geheimpolizeilich gemessen und ausgewertet wird. Einen instruktiven Überblick über einschlägige Forschungsaktivitäten gibt das Wissensmagazin »scinexx«.4 Außerdem werden Abhör-Programme entwickelt, die alle Kommunikationsnetze durchforsten, um Gruppenmitglieder per Sprachvergleich zu erfassen und auszuforschen. Die USA werden ein solches Programm – »Socio-Cultural Content in Language« (SCIL) – schon im Sommer 2009 in Betrieb nehmen.5 Aus deutscher Produktion stammt ein koffergroßes Mikrowellengerät, mit dem sich sämtliche elektronischen Geräte in einem Haus lahmlegen lassen, vor allem die Kommunikationsmittel vom Mobiltelefon über Radio und Fernsehen bis zum Computer.6

Staatliche Forschungseinrichtungen und Rüstungsindustrie arbeiten darüber hinaus an angeblich nicht-tödlichen Waffen (Non Lethal Weapons), die sich zur »unblutigen« Niederschlagung von Aufständen eignen sollen. Offizielle Bestätigungen gibt es nicht, aber vermehrte Hinweise, dass einige Polizeiverbände bereits mit solchem Gerät aufgerüstet wurden. Bundespolizei und Sondereinsatzkommandos in Berlin, Sachsen und Nordrhein-Westfalen sollen seit einem Jahr elektromagnetische Skalarwaffen im Testeinsatz haben: Waffen, die mit Mikrowellen die Zielpersonen erheblich verletzen. Großbritannien und die Schweiz haben sie schon beschafft. Produzenten und gemeinsame Vermarkter sind Rheinmetall DE-TEE (Düsseldorf) und Diehl BGT Defence (Nürnberg).

Eine der neuen »nicht-letalen« Waffen nutzt elektrischen Strom von geringer Stärke, aber mit 50.000 Volt Spannung: der Taser. Eine Pistole, die eine an dünnem Draht hängende Nadel verschießt. Über den Draht werden dem Getroffenen Stromstöße verpasst, die schwere Muskelkrämpfe auslösen. Nicht tödlich? Die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international berichtete über zahlreiche Todesfälle in den USA und in Kanada, wo der Taser schon im Polizeialltag verwendet wird.7 Bisher hat noch kein Staat sorgfältige Untersuchungen von physischen und psychischen Spätfolgen bei den vom Taser Getroffenen veranlasst. Doch was wäre Deutschland, wenn man hier nicht versuchte, auch diese Waffe zu perfektionieren? Diehl entwickelt – mit 180.000 Euro Staatszuschuss – Taser, deren Stromschläge über einen scharfen Flüssigkeitsstrahl geleitet werden.8

Bei Erfindung und Produktion neuer Waffen ist Deutschland nicht auf US-Vorbilder angewiesen. Im Gegenteil: Die USA importierten Neuentwicklungen aus Deutschland und testeten einige davon im Irak, zum Beispiel die Mikrowellen-Kanone der Firma Diehl BGT Defence – eine der Neuheiten, mit denen deutsches Militär und deutsche Polizeiverbände entweder heimlich bereits ausgerüstet wurden oder demnächst ausgestattet werden könnten. Die folgenden Angaben beruhen vor allem auf einem Bericht von Jürgen Altmann für die Deutsche Stiftung Friedensforschung.9

Das Active Denial System (ADS) nutzt – ebenso wie der Abhör- und Überwachungsscanner, von dem schon die Rede war – die Mikrowellentechnik. Ein Strahl elektromagnetischer Wellen greift angeblich nur die obersten 0,4 Millimeter der Haut an. Der Strahl der »Kanone«, die einer flachen Salatschüssel gleicht, bleibt auf viele hundert Meter gebündelt und kann die Haut einzelner Zielpersonen schmerzhaft aufheizen, im Extremfall verbrennen. Mit Prototypen des ADS haben nach Internet-Berichten die US-Truppen im Irak Menschen schon wie am Grill gebraten. Der Advanced Tactical Laser (ATL) wird von Flugzeugen aus computergesteuert abgeschossen. Der gebündelte Lichtstrahl hat angeblich eine Aufschlagsfläche von kaum Bierdeckelgröße und verursacht in Sekundenbruchteilen hochgradige Verbrennungen. Zu dieser Waffenart gehört das Pulsed Energy Projectile (PEP). Es soll mittels millisekundenkurzer infraroter Laserpulse einen mechanischen Impuls erzeugen, so dass die oberste Schicht des Ziels (Kleidung, Haut) im Nu verdampft. Eine Druckwelle aus Dampf und Restenergie wirft den Getroffenen zu Boden. Die Reichweite des PEP soll bis zu zwei Kilometer betragen. Die Wirkung wird mit der der sogenannten stumpfen Wuchtmunition verglichen. Folgewirkungen: Taubheit, Blindheit und andere.

Die Schallkanone (Long Range Acoustic Device, LRAD) ist bereits vom Pentagon geordert. Damit werden akustische Signale von 2100 bis 3100 Hertz mit maximalem Schalldruck von etwa 150 Dezibel ausgesendet. Der schrille LRAD-Ton verursacht im Nahbereich bei Mensch und Tier furchtbare Schmerzen. Er kann von einem flachen Lautsprecher aus trichterförmig auf größere Ziele gerichtet werden, auf Menschenansammlungen zum Beispiel. Auch diese angeblich nicht-letale »Kontrollwaffe« verursacht unter Umständen schwere Körperverletzungen (Zerstörung des Innenohrs sowie des Gleichgewichtssinns). Die US-Truppen verwenden sie inzwischen regelmäßig im Irak.10

Alle genannten Waffensysteme werden weiterentwickelt – auch mit dem Ziel, die Akzeptanzschwellen in der Öffentlichkeit zu senken. Über den aktuellen Stand wurde im Mai auf dem »Europäischen Symposium über nicht-tödliche Waffen« im baden-württembergischen Ettlingen diskutiert. Gastgeber war das staatliche Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT). Es kooperiert mit der Wehrtechnischen Dienststelle für Schutz- und Sondertechnik (WTD 52) der Bundeswehr. Die Dienststelle betrachtet die Erforschung und Erprobung sogenannter nicht-letaler Wirkmittel (NLW) als ihre Kernkompetenz.11

Das Symposium versammelte Experten für Aufstandsbekämpfung aus der Europäischen Union: Staatssekretäre, Militärs, Polizisten, Wissenschaftler und Vertreter der Rüstungsindustrie. Fragestellung der Konferenz: Kommen die NLW für die Polizei zur Niederschlagung von Protesten und Demonstrationen (Crowd and Riot Control, CRC) in Betracht oder für das Militär bei seinen Gewaltoperationen im Ausland? Auch der Einsatz zum Schutz von Handelsschiffen gegen Piraten und »Terroristen« sollte diskutiert werden. Man geht schließlich mit der Zeit.

Denken in Bürgerkriegs-Kategorien

Die Tagung bot auch Gelegenheit, das Thema Bundeswehr-Einsatz im Innern wieder aufzuwärmen. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Ulrich Kirsch, hat sich schon festgelegt: Unter bestimmten Bedingungen sei der Einsatz der Bundeswehr innerhalb Deutschlands nicht nur erwägenswert, sondern unumgänglich. Es seien Szenarien denkbar, auf die nur mit militärischen Mitteln reagiert werden könne.12 Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) sekundiert: Das Gebot der Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten sei nicht mehr aufrechtzuerhalten, ein Nationaler Sicherheitsrat nach US-Vorbild solle Polizei, Geheimdienste und »Heimatschutz«-Verbände der Bundeswehr koordinieren.13 Die Minister Jung und Schäuble reden schon lange so.

Und auch Forschungsministerin Annette Schavan denkt in Bürgerkriegs-Kategorien. Sie vereinbarte im März mit US-Heimatschutzministerin Janet Napolitano »wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit«.14 Von angeblich wissenschaftlichem Interesse sind Methoden zum »Aufspüren von Bedrohungen der zivilen Sicherheit«, der »Schutz von kritischen Infrastrukturen und Schlüsselressourcen« sowie »Krisenreaktion, Folgenmanagement und Schadensbegrenzung bei folgenschweren Ereignissen«. Ähnliche Abkommen wurden mit Frankreich und Israel geschlossen.

Anmerkungen

Der vorliegende Beitrag wurde bereits in der Zeitschrift Ossietzky 7 u. 8/09 veröffentlicht; für W&F wurde er vom Autor aktualisiert und vor allem um den »Apparat« ergänzt.

1) ZDF (24.03.2009): Neues aus der Anstalt. Politsatire mit Priol und Schramm.

2) Vgl. Marker, Hans J. (2001): Almanach der Vorschriften für länderübergreifende Einsätze in polizeilichen Großlagen. Haan: Wölfer.

3) Hanning, A. (2009): „Intime Geräusche werden gelöscht“ – Innen-Staatssekretär über Überwachung. taz, 14.03.2009.

4) scinexx (2008): Sicherheit durch Hightech. URL: http://www.scinexx.de.

5) Siehe http://www.linguistlist.org/issues/18/18-3875.html

6) Siehe http://www.iddd.de/umtsno/total.htm.

7) Spiegel Online (16.12.2008): Amnesty-Bericht – Taser-Einsätze forderten Hunderte Tote.

8) Entress-Fürsteneck, W. v. & Kugler, D. (2007): Softball Taser. URL: http://www.diehl.de

9) Altmann, J. (2008): Millimetre Waves, Lasers, Acoustics for Non-Lethal Weapons? Physics Analyses and Inferences. Osnabrück: Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF). URL: http://www.bundesstiftung-friedensforschung.de; s.a. http://www.steinbergrecherche.com/08waffen.htm

10) Rötzer, F. (2005): Sound-Laser. Telepolis, 22.09.2005.

11) German Foreign Policy (16.03.2009): Abgestufte Aufstandsbekämpfung. Eigener Bericht. URL: http://www.german-foreign-policy.com

12) Märkische Oderzeitung (18.01.2009): Chef des Bundeswehrverbandes für Einsatz der Bundeswehr im Innern.

13) Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2008): Übersicht über die Debatte zum Thema Nationaler Sicherheitsrat. URL: http://www.baks.bundeswehr.de/portal/a/baks; vgl. auch Adam, R. (2006): Geheimdienste in der Demokratie – unentbehrliche Stützen der Sicherheit oder konspirative Fremdkörper? Verfügbar ebenda.

14) Handelsblatt (16.03.2009): Deutschland und USA forschen gemeinsam für Sicherheit.

Volker Bräutigam war Tageszeitungs- und TV-Nachrichtenredakteur, forschte an taiwanesischen Universitäten zu Umweltschutztechnologien und schreibt seit seiner Rückkehr nach Deutschland für die Zeitschrift Ossietzky.

Embedded …?!

Embedded …?!

von Fabian Virchow

Anlässlich der jüngst in Afghanistan getöteten Bundeswehr-Soldaten flackerte erneut die Diskussion auf, ob sich das deutsche Militär dort im Krieg befinde oder als »humanitärer Aufbauhelfer« tätig sei. Während der zuständige Minister noch immer für die letztgenannte Sprachregelung eintritt, stellen sich die Erfahrungen der in Afghanistan befindlichen SoldatInnen anders dar – und die Boulevardpresse mit ihrem Flaggschiff BILD spricht dies auch deutlich aus. Die dem militärischen Feld entlehnte Metapher ist nicht zufällig gewählt, tatsächlich geht es hier um die Frage, wie die mit der Wende zur »Armee im Einsatz« notwendig auftretenden Toten in den eigenen Reihen gegenüber der Öffentlichkeit begründet werden.

Auch wenn von einer militärkritischen Einstellung weiter Teile der Bevölkerung in Deutschland schon lange nicht mehr gesprochen werden kann, so gibt es doch ein verbreitetes Unwohlsein hinsichtlich mancher Auslandseinsätze der Bundeswehr einerseits sowie ein »wohlwollendes Desinteresse« andererseits. Dieses akzeptiert zwar die Existenz der Bundeswehr und steht auch der Umwandlung des deutschen Militärs in eine »Einsatzarmee« nicht grundsätzlich negativ gegenüber, verbindet dies aber nicht mit öffentlichen Bekenntnissen oder besonderem persönlichen Engagement – im Falle junger Menschen etwa mit der Ableistung des Kriegsdienstes bei der Bundeswehr oder gar der Verpflichtung zu einer längeren Dienstzeit.

Die Umwandlung der Bundeswehr in eine »Armee im Krieg« ist – von einzelnen Phasen zugespitzer Kontroverse wie etwa im Vorfeld des Kriegseinsatzes der Bundeswehr in Jugoslawien abgesehen – erstaunlich glatt über die Bühne gegangen; das hat sicher auch damit zu tun, dass »humanitäres Handeln« regelmäßig als Begründung angeführt wurde. Dies wird auf Dauer nicht so bleiben; auch in den Kommentarspalten der konservativen Tagespresse wird gemahnt, dass diese Argumentationslinie irgendwann an ihre Grenzen stoße und doch bitte von den PolitikerInnen das »nationale Interesse« als Handlungsmotiv viel stärker betont werden möge.

Weil die Bundeswehr und die für sie politisch Verantwortlichen wissen, dass das deutsche Militär und sein Einsatz als Mittel der Außenpolitik zumindest ein gewisses Maß an Billigung und Unterstützung seitens der Bevölkerung bedürfen, wird die Präsenz in der Öffentlichkeit und bei Großveranstaltungen gesucht. Nachdem durch die Schließung etlicher Bundeswehr-Standorte das deutsche Militär in manchen Regionen nicht mehr wie selbstverständlich Teil des öffentlichen Lebens ist, soll nun durch Karrieretrucks, Beratungen in Arbeitsagenturen, Info-Stände auf Messen, Werbeanzeigen, Sportveranstaltungen, Musikwettbewerbe oder die Bereitstellung von Infrastruktur bei Großereignissen wie Kirchentagen oder internationalen Sport-Events Abhilfe geschaffen werden. Dieser Werbefeldzug der Bundeswehr zielt auf die Verbesserung der allgemeinen Akzeptanz der Streitkräfte als Institution und der jeweils konkreten Militärpolitik sowie auf die Rekrutierung von Personal.

Diese zivil-militärische Kooperation im Inland trifft nicht immer auf Zustimmung; so protestierten in Bremen PfarrerInnen dagegen, dass die Bundeswehr den Kirchentag im Juni dieses Jahres als Plattform für ihre Militärwerbung genutzt hat. Auch gegen das weitere Vordringen der Bundeswehr in die Schulen regt sich Widerstand, und gegen Großveranstaltungen wie die »Münchner Sicherheitskonferenz« oder den »Celler Dialog« wird demonstriert.

Interesse an einer zivil-militärischen Zusammenarbeit bzw. der Übernahme von Aufgaben, die jahrzehntelang vom Militär selbst erfüllt wurden, gibt es auch von Unternehmen. Im Zuge der neoliberalen Privatisierungsideologie sind auch wichtige Aufgaben, ohne die das Militär nicht funktionieren könnte, an private Unternehmen ausgegliedert worden. Eine solche Entwicklung mag von manchen als Rückzug und Bedeutungsverlust des Militärs betrachtet werden; sie stellt jedoch andererseits eine weit engere Verschränkung bisher ziviler Bereiche mit militärischen Erfordernissen und Handlungslogiken als zuvor dar. In Deutschland – aber auch im Irak – gehört die Deutsche Post mit ihrem Tochterunternehmen DHL zu den Unternehmen, die von Dienstleistungen für Militär und Krieg profitieren. Dass die meisten Unternehmen mit einem solchen Engagement nur in den einschlägigen Publikationen werben, hat sicherlich auch mit der oben bereits erwähnten Ambivalenz in der Bevölkerung gegenüber der Militarisierung der Außenpolitik zu tun.

Andere Unternehmen hingegen bedienen sich ganz offen der für manche Menschen vom Militärischen offenbar ausgehenden Faszination; zum diesjährigen »Vatertag« warb das Touristikunternehmen TUI beispielsweise mit »Panzerfahren für jedermann«; und das Angebot an Computerspielen, in denen es um Krieg, militärische Missionen und die Tötung des virtuellen Gegenübers geht, ist nahezu unüberschaubar, die Fangemeinde riesig.

So zahlreich die Protagonisten einer weiteren Verschränkung des Zivilen und des Militärischen sind, so rudimentär ist bisher die Forschung in diesem Bereich. Welche Auswirkungen etwa die wachsende Dienstleistung von DHL für das Militär in den Köpfen der dort Beschäftigten hat, ist bisher völlig unklar. Das sollte freilich auch die Gewerkschaften interessieren.

Eisenkreuz mit Eichenlaub

Eisenkreuz mit Eichenlaub

von Jürgen Nieth

Die Zustimmung der Bevölkerung zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sinkt von Monat zu Monat, die Bundesregierung aber ändert – zum Teil in aller Stille – die Einsatzregeln für den Krieg am Hindukusch.

Mehrheit für »Raus aus Afghanistan«

Unter dieser Überschrift schreibt der Stern (02.07.09, S.25): „Noch im März 2002 stand eine große Mehrheit hinter dem Engagement am Hindukusch, nur knapp ein Drittel wollte damals einen Abzug der Truppen. Nach der aktuellen Stern-Umfrage sind 61 Prozent für den Rückzug, so viele wie noch nie.“ Nach einer Umfrage von ARD und FR (FR 03.07.09, S.2) sprechen sich sogar „sieben von zehn Befragten (69 Prozent) für einen zügigen Abzug der deutschen Soldaten aus.“

Regierung für offensive Bundeswehr

In der Praxis passiert jedoch das Gegenteil: „Die Bundeswehr richtet sich immer stärker in diesem Krieg ein und geht allmählich in die Offensive.“ Der Spiegel (06.07.09, S.25) nennt dafür Beispiele: „Am 8. April wurden in einem Dokument der NATO ein paar Worte gestrichen, wichtige Worte, und niemand hat es mitbekommen. Einige dieser Wort lauten: ‚Die Anwendung tödlicher Gewalt ist verboten, solange nicht ein Angriff stattfindet oder unmittelbar bevorsteht‘. Am 3. März 2006 hatten die Deutschen diesen Satz als ‚Nationale Klarstellung‘ … dem NATO Operationsplan für Afghanistan hinzufügen lassen.“

Bei der so genannten Taschenkarte, die den deutschen Soldaten ihr Verhalten im Kampf vorschreibt, wird nach demselben Bericht eine »Umstellung« vorbereitet. „Damit würde der Abschnitt »Militärische Gewalt zur Durchsetzung des Auftrages« vor den Abschnitt »Militärische Gewalt zur Selbstverteidigung« rutschen und bekäme eine größere Bedeutung.“

Der Awacs-Einsatz

Zur weiteren Einbindung in den Krieg gehört auch der vom Bundestag am 02.07.09 mit übergroßer Mehrheit beschlossene Awacs-Einsatz in Afghanistan, nur die Linksfraktion war geschlossen dagegen. Als Grund für die Entsendung der Awacs mit weiteren 300 Bundeswehrsoldaten wird von der Regierung die Koordination des zivilen Luftverkehrs vorgegeben. Dazu schreibt das Handelsblatt (03.07.09) „Dass die Awacs-Aufklärer nur zivile Funktionen übernehmen, glaubt doch niemand. Natürlich deckt die Überwachung des Luftraums auch die Militärflüge ab.“ Für Eric Chauvistre (TAZ, 02.07.09, S.12) entspricht der Einsatz der neuen Strategie der US-Streitkräfte und dem verstärkten Einsatz von Bodentruppen.

Jungs Offensive an der Heimatfront

Die Bundesregierung reagiert auf den Widerspruch zwischen zunehmenden Kriegseinsätzen mit zunehmenden Opfern – bisher sind alleine in Afghanistan 35 deutsche Soldaten gefallen – einerseits und der wachsenden Ablehnung des Bundeswehreinsatzes in der Bevölkerung andererseits, mit vielen kleinen Schritten zur Gewöhnung an den Krieg.

„Jungs Ziel ist es, dass sich die Gesellschaft stärker zur »Armee im Einsatz« bekennt“, schreibt Werner Kolhoff in der Mainzer Rhein-Zeitung (07.07.09) Und weiter: „Die Gelöbnisse veranstaltet er neuerdings feierlich vor dem Reichstagsgebäude; das nächste am 20. Juli. Und Ende August wird ein Ehrenmal für gefallene Soldaten eingeweiht, das ebenfalls seine Idee war.“ Zu dieser Offensive gehört auch die neue »Tapferkeitsmedaille«. Die FAZ (07.07.09., S.4) zitiert die Kanzlerin: „Eine Armee im Einsatz braucht eine solche Auszeichnung“, und verweist darauf, dass seit Anfang der neunziger Jahre 260.000 Bundeswehrsoldaten im Ausland waren. Für die Welt (07.07.09., S.2) ist das »Ehrenkreuz« „ein weiterer kleiner Schritt, um diesen oft tödlichen Kampf (der Bundeswehrsoldaten) stärker als bisher ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.“

Der neue Orden…

Bisher gab es vier Stufen des Ehrenzeichens der Bundeswehr. Die Ehrenmedaille, das Ehrenkreuz in Bronze, Silber und Gold. Die Orden wurden in der Regel nach Dienstzeit vergeben. Der neue »Tapferkeitsorden« erinnert in seiner Form an das »Eiserne Kreuz«, das in der Kriegsmaschinerie der Nazis eine große Rolle spielte. Bisher hatten alle Bundesregierungen nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine Tapferkeitsmedaille verzichtet.

Mit dem neuen Orden sollen jetzt Soldaten – so Jung – geehrt werden „für einen Einsatz ‚weit über das normale Maß der Tapferkeit hinaus‘“. (AZ Mainz, 06.07.09) So wurden als Erste vier Soldaten mit dem höchsten Orden der Bundeswehr ausgezeichnet, die in Afghanistan nach einem Sprengstoffanschlag ihren Kameraden zu Hilfe eilten.

„Eine reibungslose Premiere“, schreibt dazu die Financial Times Deutschland (07.07.09., S.10). „Die vier Helden des Tages passen genau ins Bild des Aufbauhelfers in Uniform. Allerdings ist auch dem Bundeswehrestablishment klar, dass es längst Anwärter auf die neue Medaille gibt, die nicht fürs Retten, sondern fürs Kämpfen ausgezeichnet werden wollen. Schließlich ist die Bundeswehr (…) im Krieg gegen die Taliban. Ein Offizier prophezeit: ‚Das werden wir auch noch machen‘.“

…und die Kritik

Genau diese Prophezeiung spiegelt sich als Befürchtung in anderen Tageszeitungen.

»Militärische Tapferkeit« ist ein vergifteter Begriff, denn er schließt die weihevolle Überhöhung des Tötens wie des Getötetwerdens auf dem Feld der Ehre ein. Der Einwand, das Kreuz werde doch in erster Linie für Rettungstaten unter Einsatz des eigenen Lebens verliehen, zieht nicht. Denn es wäre einfach, für solche Fälle des Einsatzes eine Rettungsmedaille zu stiften. Sie böte den Vorteil, einer Rettungstat im zivilen Bereich vergleichbar zu sein.“ (Christian Semler, TAZ 07.07.09, S.4) In der FR (07.07.09., S.13) schreibt Harry Nutt: Die als erste mit der Tapferkeitsmedaille „ausgezeichneten jungen Männer brachten Zivilcourage auf, der dieser Name gerade auch dann gebührt, wenn sie in Uniform vollbracht wird. Die höchste Auszeichnung, die die Bundesrepublik für besondere Leistungen dieser Art zu vergeben hat, ist das Bundesverdienstkreuz. Wenn dieser Auszeichnung nun ein militärischer Orden hinzugefügt werden soll, ist es angebracht, dies auch als politischen Vorgang zu betrachten. Militärische Symbole bedürfen einer besonderen gesellschaftlichen Legitimation. Gerade diese aber fehlt dem neu entworfenen Ehrenkreuz, das ästhetisch und institutionell an das in der Zeit des Nationalsozialismus für immer diskreditierte Eiserne Kreuz erinnert.“

Wie friedfertig sind die Deutschen?

Wie friedfertig sind die Deutschen?

von Wolfram Wette

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viele Anzeichen dafür, dass die deutsche Gesellschaft den Militarismus, der nicht nur den Bevölkerungen der ehemaligen Feindmächte, sondern auch ihr selbst so viel Unheil gebracht hatte, gründlich satt hatte. Es herrschte damals eine radikal antimilitaristische Stimmung. Hatten die großen Kundgebungen der Friedensbewegung in der Weimarer Zeit noch unter der Parole »Nie wieder Krieg!« gestanden, so wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die sehr viel konkretere und deutlich antimilitärische Forderung »Nie wieder deutsche Soldaten!« artikuliert. Der sozialdemokratische Politiker Carlo Schmid rief 1946 aus: „Wir wollen unsere Söhne nie mehr in die Kasernen schicken!“ Und der christlich-soziale Politiker Franz Joseph Strauß, der spätere Bundesverteidigungsminister, sekundierte Carlo Schmid 1947 mit dem markigen Spruch: „Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen!“ Bekanntlich sollten diese Beteuerungen nicht von langer Dauer sein. Gleichwohl symbolisierten sie eine weit verbreitete Stimmung.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 wurden friedenspolitische Normen festgeschrieben, die es in dieser Entschiedenheit in der deutschen Verfassungsgeschichte bislang noch nicht gegeben hatte: Friedensgebot, Recht auf Kriegsdienstverweigerung, Verbot des Angriffskrieges.

Obwohl der Zeitgeist von dem zentralen Wunsch nach Frieden und der Abneigung gegen alles Militärische geprägt war, strebte die erste Regierung der Bundesrepublik Deutschland unter Kanzler Konrad Adenauer (CDU) eine Wiederbewaffnung des westdeutschen Teilstaates an. Er verstand es, seine Politik gegen den Willen der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung durchzusetzen. Das Wirtschaftswunder überlagerte und relativierte die Bedeutung der massenhaften Proteste gegen die Wiederbewaffnung. In der machtpolitisch vorgegebenen Konstellation – Kriegsrecht, Besatzungsrecht, US-Einfluss, Westintegration, Wiederbewaffnung – gerieten sämtliche außerparlamentarischen Friedensinitiativen des ersten Nachkriegsjahrzehnts unter den Druck der Feindkonstellation des Kalten Krieges. Trotz der Restauration traditioneller Machtpolitik hat sich der antimilitaristische Geist der ersten Nachkriegsjahre in Westdeutschland keineswegs verflüchtigt. Wenn man den größeren Zeitraum von einigen Jahrzehnten in den Blick nimmt, so fällt auf, dass sich in der Einstellung der Westdeutschen – auf andere Weise auch der Ostdeutschen – zu Frieden und Krieg ein tief greifender Wandlungsprozess vollzogen hat. Man könnte gar von einer stillen Revolution sprechen. Sie vollzog sich als mehrstufiger Lernprozess. Er lässt sich in erster Linie als ein Mentalitätswandel begreifen, das heißt, als eine Zivilisierung der Einstellungsmuster, Verhaltensweisen und Umgangsformen.

Von zentraler Bedeutung war die Abkehr von der tradierten Kriegsmetaphysik. Endlich begannen die Menschen in Deutschland zu verstehen, dass der Krieg kein unvermeidliches und immer wiederkehrendes »Schicksal« ist. So aber war es vielen Generationen von Deutschen »von oben«, von den politischen und militärischen Eliten, aber auch von den Kirchen, bedeutet worden. Die Abkehr der Deutschen vom Kriegsglauben stellte den entscheidenden Schritt auf dem Wege zu einer Friedenskultur dar.

Während der beiden Golf-Kriege in den 1990er Jahren fielen die – inzwischen wieder in einem gemeinsamen Staat lebenden – Deutschen weltweit durch demonstrative Friedfertigkeit auf. Als im Februar 2003 abzusehen war, dass die Regierung George W. Bush beabsichtigte, den Irak anzugreifen, protestierten in Deutschland Millionen von Menschen gegen den drohenden Krieg. In der Regel geschah dies unter dem Motto: »Krieg ist keine Lösung!«

Nach dem welthistorischen Umbruch von 1990 begannen die Bundesregierungen unter dem Einfluss der USA einen neuen Kurs zu steuern. Die Außenpolitik der militärischen Zurückhaltung wurde Schritt für Schritt aufgegeben. Im Jahre 1999 beteiligte sich Deutschland erstmals aktiv an einem Krieg, und zwar ausgerechnet an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien-Montenegro, dem sogenannten Kosovo-Krieg. Die irritierte deutsche Bevölkerung protestierte diesmal nicht, sondern nahm den Krieg hin, wahrscheinlich, weil das vorgetragene Argument des Menschenrechtsschutzes weithin überzeugte. Der Kosovo-Krieg war ein Präzedenzfall und ein Sündenfall zugleich. Er leitete die »Enttabuisierung des Militärischen« in der deutschen Außenpolitik ein.

Der neue Kurs kollidiert mit dem erreichten Stand gesellschaftlicher Friedfertigkeit in Deutschland. Das bedeutet, dass auch künftig jeder Schritt in Richtung Kriegsverhinderung und Friedensgestaltung innenpolitisch und innergesellschaftlich erkämpft werden muss. Die aus historischer Erfahrung gewachsene Friedfertigkeit ist ein hohes Gut, das nicht verspielt werden darf.

»Vernetzte Sicherheit«

»Vernetzte Sicherheit«

Technokratische Phantasien auf dem Vormarsch

von Norbert Pütter

Die gegenwärtige sicherheitspolitische Debatte ist voll von Schlagworten, die ein neues Zeitalter der Sicherheit einläuten wollen. Die »neue Sicherheitsarchitektur« ist einer dieser Begriffe. Die »Synergien«, die aktiviert werden sollen, gehören ebenso in den Kanon des aktuellen Jargons wie die Forderung nach »vernetzter Sicherheit«, die mittlerweile sowohl den deutschen, aber auch – etwas anders benannt – den gesamten westlichen Sicherheitsdiskurs prägt. Wie vielen »erfolgreichen« Begriffen ist der ihr zugrunde liegende Gedanke auf den ersten Blick so trivial, dass kaum kritische Stimmen zu vernehmen sind.

Im Kern besteht die Grundüberlegung der »Vernetzten Sicherheit« darin, dass sämtliche staatlichen oder nicht-staatlichen Akteure, die in irgendeiner Form mit Sicherheitsaspekten befasst sind, fortan eng kooperieren sollen. Aber die Vorstellung, »Sicherheit« sollte durch ein Netzwerk derer gewährleistet werden, die zu ihr beitragen können, hat weit reichende Folgen.

Sicherheitspolitischer Einheitsbrei

Die Probleme beginnen bereits damit, dass in der Diskussion um »vernetzte Sicherheit« immer weniger bestimmbar wird, welche Art von »Sicherheit« bewahrt werden soll: Geht es um den Schutz der BürgerInnen vor Kriminalität oder vor Katastrophen? Geht es um die Gefahren, die von terroristischen Anschlägen drohen? Geht es um die inneren Feinde der staatlichen Ordnung oder geht es um vom Ausland – von anderen Staaten, von aus dem Ausland operierenden Gruppen – kommende Gefahren für den Bestand des Staates? Geht es um die wirtschaftliche Stabilität, die Versorgung mit Energie etc.? Insofern stellt das Streben nach »Vernetzung« die strategische Verlängerung des ominösen »neuen Sicherheitsbegriffs« dar. Denn die erste Besonderheit der Rede von der »vernetzten Sicherheit« ist, dass sie davon ausgeht, die alten Unterscheidungen seien im Zeitalter des globalen Terrorismus hinfällig: Klimawandel, Terrorismus, »neue Kriege«, ökonomische und soziale Krisen – sie alle bedrohten »die Sicherheit« und müssten deshalb mit »vernetzten« Kräften bekämpft werden. Unter der Maßgabe »vernetzter Sicherheit« entsteht deshalb ein neuer, allumfassender Sicherheitskomplex, in dem die Unterscheidungen nach Schutzgütern (physische, materielle, soziale, staatliche), nach Gefahrenarten (Kriminalität, Naturkatastrophen, Kriege, soziale Verwerfungen), nach politisch-geographischen Orten (Inland, Ausland), nach institutionellen Zuständigkeiten (Polizei, Geheimdienste, Katastrophenschutz, Militär) und nach der Art der Intervention (Hilfe, Eingriff, Kampf, Vernichtung) hinfällig werden.1

Vernetzung von Polizei, Geheimdiensten …

In den neuen Arrangements laufen Entwicklungen zusammen, die sich in einzelnen Sektoren des zusammenwachsenden Sicherheitsfeldes seit geraumer Zeit abzeichnen. Die Wandlungen der drei wichtigsten Instanzen – Polizei, Nachrichtendienste und Militär – lassen sich folgendermaßen charakterisieren: Bereits seit den 1970er Jahren sucht die Polizei nach Verbündeten im Kampf gegen Kriminalität. Aufgeklärte Polizeiarbeit weiß, dass sie am Ende einer Verursachungskette steht, die sie mit eigenen Kräften nicht erfolgversprechend unterbrechen kann. Deshalb gibt es schon seit längerem Bemühungen, andere Behörden an der Sicherheitsarbeit zu beteiligen. Seit den 1990er Jahren wurden auf lokaler Ebene Sicherheits- oder Ordnungspartnerschaften gebildet, in denen unterschiedliche Behörden, aber auch private Vereinigungen für mehr Sicherheit sorgen sollten. Auch auf den Feldern der Kriminalitätsbekämpfung kam es zu Formen der Zusammenarbeit: etwa bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit mit dem Zoll oder der Geldwäsche mit der Finanzwirtschaft, die dazu verpflichtet wurden, »verdächtige« Geldgeschäfte anzuzeigen. Gleichzeitig wuchs das polizeiliche Streben, mit eigenen Mitteln die Triebkräfte oder (in symptomatisch-polizeilicher Wahrnehmung) die »Hintermänner« von Kriminalität ausfindig zu machen. Mit der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung«, die seit den 1980er Jahren Einzug in die deutschen Polizeigesetze hielt, wurde der präventive Auftrag der Polizei erheblich erweitert. Statt durch eine konkrete Gefahr oder durch Anhaltspunkte für eine begangene Straftat wird polizeiliches Verhalten nun zugleich von der Suche nach möglichen zukünftigen Gefahren oder nach verborgenen Straftaten bestimmt. Der Ausbau verdeckter, ihrer Natur nach geheimdienstlicher Methoden war die logische Folge dieser präventiven Kehre der Polizeiarbeit.2

Die »Vergeheimdienstlichung« der Polizeien wurde seit den 1990er Jahren ergänzt um die »Verpolizeilichung« der Geheimdienste. Der Bundesnachrichtendienst wurde ermächtigt, seine strategische Überwachung des internationalen Telekommunikationsverkehrs auf vermutete Deliktsbereiche »organisierter Kriminalität« auszuweiten. Einige Landesämter für Verfassungsschutz wurden mit der Beobachtung »organisierter Kriminalität« beauftragt.3 Damit erweiterten sich die klassischen Überschneidungen, die bei Staatsschutzdelikten zwischen Diensten und Politischen Polizeien bestehen, auf Bereiche »normaler« Kriminalität. Methoden und Gegenstände präventiver Ausrichtung überlappten sich zunehmend. Aus diesen beiden Entwicklungen ergab sich nahezu zwangsläufig das Erfordernis, die Tätigkeiten zu koordinieren und Ergebnisse auszutauschen.

Die Reaktionen auf die Anschläge in den USA (2001), Madrid (2004) und London (2005) beschleunigten die informatorische und institutionelle Zusammenarbeit zwischen Polizeien und Diensten. Im anti-terroristischen Kampf wurde das »Trennungsgebot« zwischen Polizei und Geheimdiensten, das die Alliierten dem westdeutschen Staat auferlegt hatten, in ein Gebot zur Zusammenarbeit umgedeutet. Seinen institutionellen Ausdruck fand dies in der Gründung des »Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums« in Berlin,4 eine rechtliche Basis für den Datenaustausch wurde mit dem »Gemeinsame Dateien-Gesetz« geschaffen.5 An diesem präventiv, auf Früherkennung ausgerichteten Verbund sind nicht nur die beiden Bundespolizeien, der Zoll und die 16 Landespolizeien, die Generalbundesanwaltschaft und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sondern auch das Bundesamt und die 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz beteiligt sowie der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst. Mit dem MAD ist auch die Bundeswehr im anti-terroristischen Netzwerk vertreten.

… und Militär

Die Bundeswehr befindet sich seit den 1990er Jahren in der Transformation. Aus der Abschreckungsarmee ist eine Einsatzarmee geworden. Je häufiger Interventionskriege geführt werden, desto weniger kann auch das Militär sich der Erkenntnis verschließen, dass diese mit militärischen Mittel nicht gewonnen werden können. Der Ruf nach Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, seien es Sicherheitskräfte – Polizeien, private Sicherheitsdienstleister – oder auch andere Behörden, Institutionen, Gruppen, die zur Stabilität bzw. Kontrolle einer Region beitragen können, resultiert aus den bürgerkriegsähnlichen Einsatzlagen in Vor-, Zwischen- oder Nachkriegsgesellschaften. Im Weißbuch der Bundeswehr heißt es dazu: „Staatliches Handeln bei der Sicherheitsvorsorge wird künftig eine noch engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher und nachrichtendienstlicher Instrumente der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung voraussetzen.“ 6 Militärstrategischer Kern der »vernetzten Sicherheit« ist das Konzept des »network-centric warfare«: nicht länger sollen die Teilstreitkräfte ihre Schlachten schlagen – die Zeiten klassischer Militärschlachten sind Geschichte –, sondern alle Einheiten und Waffengattungen sollen aufgaben- und fähigkeitsbezogen zusammenwirken; allein auf die Schlagkraft, auf die »Wirkungen« soll es ankommen. Mit der Orientierung an den je vorhandenen »Fähigkeiten« ist ein weiterer Schlüsselbegriff der Vernetzungsdebatte benannt. Für das strategische Sicherheitsdenken soll es unerheblich sein, von wem, an welchem Ort, durch welche Motive oder Kausalketten bedingt, Gefahren entstehen können, sondern maßgebend sollen allein deren Ausmaß und die Fähigkeiten sein, deren Realisierung zu verhindern. Konsequenterweise sollen die Vorrichtungen zur Gefahrenabwehr nicht mehr an der Art der Gefahren, sondern an den eher abstrakten Fähigkeiten zu deren Abwehr oder Bewältigung ausgerichtet werden. Im Kontext des »neuen Sicherheitsbegriffs« stellt die »netzwerkzentrierte Kriegführung« ein Modell dar, das Geltung für den gesamten sicherheitsrelevanten Staatsapparat beansprucht.7

Zentralisierung und Hierarchisierung

Noch ist »vernetzte Sicherheit« mehr eine ideologisch-programmatische Formel als eine Beschreibung deutscher Realitäten. Aber unverkennbar sind die Bestrebungen, die Streitkräfte in die »innere Sicherheitsarchitektur« einzubinden.8 Von den – bislang noch gescheiterten – Versuchen, das Grundgesetz für den Inlandseinsatz weiter zu öffnen, über die – freilich vorerst mehr symbolische als schlagkräftige – neue territoriale Struktur der Bundeswehr bis zur ausufernden Amtshilfepraxis (von der Fußball-WM bis zum G8-Gipfel): Unverkennbar sind die Ansätze, das Militär in die inneren Angelegenheit hineinzuziehen und die Bevölkerung an dessen Präsenz zu gewöhnen. Für die Strategen des »neuen Sicherheitsbegriffs« und der »vernetzten Sicherheit« sind dies aber nur halbherzige Ansätze. Zum einen geht es ihnen um die Verbreiterung des Netzes. Im Kontext der Auslandseinsätze handelt es sich primär um die Einbindung von Hilfsorganisationen und Nicht-Regierungsorganisationen, im Inland fällt darüber hinaus der Blick auf die Privatwirtschaft. So wie von den Polizeien private Sicherheitsfirmen als willkommene Juniorpartner eingebunden werden, so sollen generell die Ressourcen der Privatwirtschaft mit den staatlichen Bürokratien verbunden werden. Die Eigentümer solch »kritischer Infrastruktur« – jene Konzerne, die von der neoliberalen Privatisierung der Infrastrukturleistungen profitierten – sind die ersten Privaten, an die sich die Vernetzungsforderung richtet.9

Zum anderen geht die Debatte um die Binnenstruktur des »Netzwerks«. Hier zeigt sich sehr schnell, wie diffus der Begriff in Wirklichkeit ist, da er keinerlei Aussagen über die Verhältnisse zwischen den Akteuren zulässt. Die große Resonanz des Begriffes erklärt sich vermutlich auch aus dem Umstand, dass mit »Netz« Vorstellungen eines gleichberechtigten Miteinanders transportiert werden. Statt dessen sind die realen Vernetzungsprozesse durch Zentralisierung und Hierarchisierung gekennzeichnet, die sich in unterschiedlichen Kontexten nachweisen lassen: So stellt die Zivil-Militärische Zusammenarbeit nach der Definition der NATO ein Mittel dar, um durch die Einbindung ziviler Kräfte militärische Ziele zu erreichen. Das Militär gibt die Ziele vor, andere dürfen mithelfen, sie zu erreichen. Die anhaltenden Versuche, über eine Änderung von Art. 35 Grundgesetz dem Bund die Leitungskompetenz bei Katastrophen zu übertragen, soll den Einfluss des Bundes auf Kosten der Länder stärken; dass damit auch der Zugriff auf Bundespolizei und Bundeswehr näher rücken, ist naheliegend. Mit der Erweiterung des Grundgesetzes und ihrer Umsetzung im Gesetz über das Bundeskriminalamt ist das im polizeilichen Bereich bereits gelungen. Nach langjährigen Versuchen hat das Amt nun auch präventivpolizeiliche Befugnisse. In den strategischen Debatten werden diese Veränderungen allerdings nur als kleine Schritte auf dem Weg zu einer »neuen Sicherheitsarchitektur« bewertet. Vor allem fehle es an einer zentralen politisch-administrativen Steuerungsinstanz, die als Entscheidungszentrale für alle Felder des diffusen »neuen Sicherheitsbegriffs« zuständig sein soll – sei es über eine entsprechende Stelle im Bundeskanzleramt oder durch den Ausbau des Sicherheitskabinetts.10

Unkontrollierbare Entgrenzung

Hinter dem Konzept der »vernetzten Sicherheit« verbirgt sich ein mehrfach entgrenztes Modell staatlich gelenkter »Sicherheitswahrung«: Seine Vorkehrungen sind präventiver Natur und gelten dem alltäglichen Normalfall (weil überall Gefahren lauern könnten). Es ebnet die Grenzen zwischen unterschiedlichen Teilen des Staatsapparates ein; die historischen Errungenschaften, das staatliche Gewaltmonopol nach innen und außen zu differenzieren, die staatliche Gewalt demokratisch-rechtsstaatlich zu zügeln, polizeiliche von geheimdienstlichen Praktiken zu trennen, werden der »Vernetzung« geopfert. Und schließlich wird der vernetzte Sicherheitskomplex zu einer Art Über-Regierung, weil von seinen Entscheidungen Wohl und Wehe von Staaten und Gesellschaften abhängen sollen.

Die Folgen »vernetzter« Sicherheitspolitik für die demokratische Verfassung der Gesellschaft betreffen die Geltung der Bürgerrechte und die Kontrolle des »Sicherheitsnetzes«. Der Schutz der BürgerInnen gegenüber staatlichen Eingriffen wird durch die präventive Ausrichtung der Sicherheitsstrategien erheblich durchlöchert. Die Schwellen für polizeiliche Eingriffe in verbürgte Grundrechte sind abgesenkt worden, die Instrumente zur Überwachung werden dem technischen Fortschritt folgend laufend erweitert, die Zuständigkeiten der Geheimdienste werden erweitert und ihre Verbindung zu den Polizeien intensiviert. Unverkennbar ist auch, dass Zugänge zu Daten geschaffen worden sind, die nicht der Aufklärung oder Verhinderung konkreter Straftaten dienen, sondern auf die Erfassung des Alltags angelegt sind: von den Geldwäsche-Verdachtsmeldungen der Kreditinstitute bis zu den Heiligendammer Lagemeldungen aus den »Fennek«-Panzern. Wer, wo, aus welchem Grund, in wessen Auftrag und mit welchen Folgen in das »Recht auf informationelle Selbstbestimmung« eingreift, wird im Zeitalter »vernetzter Sicherheit« immer undurchschaubarer.

Für die Frage nach der politisch-gesellschaftlichen Kontrolle des entstehenden Sicherheitsarrangements gilt dasselbe. Die rechtlichen Bestimmungen sind in den vergangenen Jahren derart deformiert worden, dass sie Verwaltungshandeln nicht begrenzen, sondern den Raum für erweiterte Eingriffe absichern. Die neuen Kooperationsformen fallen zudem durch alle Maschen des politischen Betriebs. Was bislang etwa für die Innenministerkonferenz und die ihr nachgeordneten Behördenkooperation galt, gilt für alle »Netzwerke«: Sie entziehen sich systematisch der parlamentarischen Kontrolle, weil weder Bundestag noch Länderparlamente zuständig sind. Hinzu kommt, dass mit dem Verteidigungsministerium und dem Bundeskanzleramt (BND) bereits auf der Bundesebene verschiedene Verwaltungen kontrolliert sein wollen, wobei die Kontrolle der Nachrichtendienste durch die Parlamente traditionell eingeschränkt ist. Mit der Einbindung der Privatwirtschaft in die Netzwerke wird jede parlamentarisch-öffentliche Kontrolle vor unüberwindbare Hindernisse gestellt, weil sie sich dem privaten Eigentums- und Verfügungsrecht gegenüber sieht. Aber selbst wenn es gelänge, Formen der parlamentarischen Kontrolle zu etablieren: Alle Erfahrungen – nicht nur der »Kontrolle« von Geheimdiensten – führen zu der Erkenntnis, dass mit jeder Kooperation, mit jeder Intensivierung der Arbeitsbeziehungen und mit dem wachsenden Kreis der Beteiligten die exekutive Definitions- und Handlungsmacht steigt. »Kontrolle« wird unter diesen Bedingungen eher ein Instrument zusätzlicher Legitimationsbeschaffung. Während vollkommen unklar bleibt, welche Art »vernetzter Sicherheit« wie erreicht werden soll, sind die bürgerrechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Unsicherheiten offenkundig, die diese Strategie mit sich bringt.

Anmerkungen

1) Vgl. exemplarisch: Böckenförde, S. (2007): Sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel von Verteidigung zu Schutz, in: Europäische Sicherheit, Heft 8: 29-32.

2) Pütter, N. (1998): Der OK-Komplex. Organisierte Kriminalität und ihre Folgen für die Polizei in Deutschland, Münster.

3) Vgl. Lisken, H. (1995): Vorfeldeingriffe im Bereich der »Organisierten Kriminalität« – Gemeinsame Aufgabe von Verfassungsschutz und Polizei?, in: Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie, Heft 1: 29-50.

4) Zum Terrorismus-Zentrum und anderen »Vernetzungsgremien« vgl. Wörlein, J. (2008): Unkontrollierbare Anziehungskraft. Institutionalisierte Kooperation von Polizei und Diensten, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP, Heft 2 (90): 50-61.

5) Roggan, F./Bergemann, N. (2007): Die »neue Sicherheitsarchitektur« der Bundesrepublik Deutschland. Anti-Terror-Datei, gemeinsame Projektdateien und Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 13: 876-881.

6) Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands, Berlin, S.7.

7) Vgl. Habermayer, Helmut (2004): Network-Centric Warfare – Der Ansatz eines Kleinstaates, in: Österreichisches Bundesheer /ÖMZ, Heft 3 (online unter: www.bmlv.gv.at/omt/ausgaben/artikel.php?id=202&print=1).

8) Vgl. die Kritik bei Brendle, Frank (2009): Vernetzte Sicherheit? Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren, in: Die Rote Hilfe, Heft 1: 10-16.

9) Vgl. exemplarisch Borchert, Heiko: Vernetzte Sicherheitspolitik: Bausteine eines neuen Leitbildes, o.O. (online unter: www.borchert.ch/paper/VernetzteSicherheitS+F.pdf).

10) Vgl. z.B.: Adam, R.G. (2006): Fortentwicklung der deutschen Sicherheitsarchitektur – Ein nationaler Sicherheitsrat als strukturelle Lösung?, in: Sicherheit + Stabilität, Heft 1: 38-50 (als Manuskript online unter: www.dgap.org/bfz2/veranstaltung/Rede_Adam_060113.pdf).

Prof. Dr. Norbert Pütter ist Redakteur der Zeitschrift »Bürgerrechte & Polizei / CILIP«.

Marktradikales Militär

Marktradikales Militär

Die privatwirtschaftliche Basis einer Armee im Einsatz

von Christoph Marischka

Der Trend zur Privatisierung originär staatlicher Aufgaben macht auch vor dem Militär nicht halt. Die Aktivitäten bewaffneter Söldner im Irak, deren Verhalten gelegentlich Schlagzeilen in der Weltpresse produziert, sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Längst hat auch die Bundeswehr vormals in eigener Verantwortung betriebene Aufgaben, wie etwa die Instandsetzung oder das Fuhrparkmanagment, ausgegliedert.

Die Ansprüche der westlichen Industriestaaten zur militärischen Absicherung ihrer Vorherrschaft, Befriedung von Konflikten und Stabilisierung vermeintlich gescheiterter Staaten weltweit sind ausgreifend. Als Beispiele hierfür können die Europäische Sicherheitsstrategie »Ein sicheres Europa in einer besseren Welt« oder der Entwurf für eine neue NATO-Strategie »Towards a Grand Strategy for an Uncertain World« dienen, welche jeweils fast die ganze Welt zum Interventionsgebiet erklären und zahllose Bedrohungen – darunter viele nicht-militärische – identifizieren, die es einzudämmen gelte. Dabei verlieren beide kein Wort darüber, in welchen Fällen ein militärisches Eingreifen ausgeschlossen wird. Die hierfür notwendigen Kapazitäten übersteigen die Personalbestände der jeweiligen Streitkräfte bei Weitem und lassen sich ohne eine drastische Erhöhung der Wehretats, die politisch kaum durchsetzbar ist, nach Ansicht der Militärplaner nur durch die betriebswirtschaftliche Straffung der Militärstrukturen und durch eine Auslagerung von Aufgaben an private Dienstleister realisieren. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Privatisierungen deutscher Kriegslogistik möglichst umfassend zu beschreiben. Dafür wird auf eine Darstellung der mehr oder weniger offensichtlich hiermit verbundenen Risiken und eine Diskussion, etwa der Frage, ob diese öffentlich-private Partnerschaft tatsächlich Kosten spart oder primär die beteiligten Unternehmen subventioniert, verzichtet.

Mehr Soldaten für originäre Kernaufgaben

Um mehr Einsatzkräfte zur Verfügung zu haben, gliedern alle NATO- und EU-Staaten zunehmend Bereiche, die sie nicht zu den »originären Kernaufgaben« des Militärs zählen, an Private aus. Die originäre Kernaufgabe einer Armee im Einsatz ist offensichtlich die Intervention im Ausland. Logistik, Instandhaltung und selbst die Ausbildung, womit eine Armee zur Landesverteidigung überwiegend beschäftigt wäre und die auch die Voraussetzungen einer Armee im Einsatz sind, werden hingegen privatisiert. Das gilt auch und besonders in Deutschland, da hier die immensen Kosten der rasenden Transformation zu einer Armee im Einsatz (Neuanschaffung entsprechender Waffensysteme etc.) den Bundeswehretat zusätzlich unter Druck setzen.

Instandsetzung bei Luftwaffe und Heer

Im Bereich der Wartung und Instandsetzung hat die Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Industrie die längste Tradition. Eine Institutionalisierung erfuhr diese im Bereich der Luftwaffe bereits 1983 mit dem Arbeitskreis Industrieunterstützung (AK INDUNT), in dem sich Vertreter der Ministerien für Wirtschaft und Verteidigung sowie der Luftwaffe, des Beschaffungsamtes der Bundeswehr (BWB) und des Bundesverbandes der Luft- und Raumfahrtindustrie zusammenfanden. Da die Wartung und Instandsetzung von Waffensystemen im Ausland noch ganz überwiegend von den hierfür ausgebildeten Einheiten der Bundeswehr selbst übernommen wird, stehen aufgrund der zahlreichen Auslandseinsätze hierfür kaum noch Kräfte im Inland zur Verfügung. Deshalb ist der Anteil der Industrie bei der so genannten Depotinstandsetzung der Luftwaffe, koordiniert vom AK INDUNT, bereits 2003 auf 75% gestiegen.1

In den frühen 1990er Jahren wurden bei der Instandsetzung von Kampfflugzeugen des Typs F-4F Phantom die Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit zwischen Industrie und Luftwaffe systematisch im Rahmen eines »Integrationsmodells Luftwaffe/Industrie« analysiert. Hieraus hervorgegangen sind »kooperative Einrichtungen«. „In diesen arbeiten militärisches und Industriepersonal, in gemeinsamen Werkstätten der wehrtechnischen Industrie, gleichberechtigt bei der Instandsetzung oder der Systemunterstützung zusammen… Damit wird die Freisetzung militärischen Personals zur Wahrnehmung weiterer originärer Kernaufgaben ermöglicht.“ 2 Im Kontext der Beschaffung von Eurofightern für die Bundeswehr wurde bereits die Inbetriebnahme von drei solchen kooperativen Einrichtungen der Bundeswehr gemeinsam mit den Rüstungsproduzenten EADS und MTU beschlossen, die 2003 den Betrieb aufnahmen: zwei in räumlicher Nähe zum EADS-Werk in Manching mit 45 und 170, eine beim MTU-Werk in München mit 46 militärischen Dienststellen. Für die Instandhaltung der Hubschrauber NH90 und UH Tiger wurden weitere kooperative Einrichtungen in Ottobrunn (gemeinsam mit Eurocopter Deutschland, 57 SoldatInnen), Donauwörth (Eurocopter Deutschland, 25), Oberursel (Rolls-Royce Deutschland, 5) und Erding (MTU, 5) aufgebaut bzw. geplant. Für die »Systembetreuung« des Militärtransporters A400M soll nach deren Vorbild ein »Support Center A400M« entstehen.3

Eine noch umfassendere öffentlich-private Partnerschaft wurde für die Waffensysteme des Heeres, allerdings erst wesentlich später, ins Leben gerufen. Im Januar 2005 gründete das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) gemeinsam mit den Herstellern Krauss-Maffei Wegmann, Industrie-Werke Saar und Rheinmetall Landsysteme die Heeresinstandsetzungslogistik (HIL) GmbH, an der es 49,5% der Anteile hält. Die HIL hat sich vertraglich verpflichtet, zu jedem Zeitpunkt 70% aller Panzer und sonstiger bewaffneter Fahrzeuge der Bundeswehr einsatzbereit zu halten. Hierfür unterhält sie sechs Standorte für die Wartung mit über 2.000 MitarbeiterInnen. Die GmbH übernimmt darüber hinaus auch Aufgaben im Bereich der Ausbildung der Einsatzkräfte und bei Bundeswehrübungen. Das Gesamtvolumen des Vertrages zwischen Bundeswehr und HIL beläuft sich auf 1,7 Mrd. Euro bis ins Jahr 2013. „Heer und Streitkräftebasis werden dadurch von Aufgaben, die nicht zu den militärischen Kernaufgaben gehören, entlastet. Hierdurch frei werdende Kapazitäten können für die Vorbereitung und Durchführung von Einsatzaufgaben genutzt werden.“ 4

Betriebswirtschaftliche Straffung und Privatisierung der Basislogistik

Bereits im Jahr 2000 hatte das BMVg die Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb (g.e.b.b.) mbH gegründet, die ihm bis heute zu 100% gehört und sozusagen der betriebswirtschaftliche Arm der Bundeswehr sein soll. Als Ziel gibt dieses Unternehmen an: „Wir wollen die Bundeswehr stärken bei der Erfüllung ihrer militärischen Kernaufgaben. … Und wir wollen neue investive Spielräume für die Bundeswehr schaffen: Durch eine deutliche Senkung der Betriebskosten und des gebundenen Kapitals sowie die Mobilisierung privaten Investorenkapitals.“ 5 Im Juni 2002 gründete die g.e.b.b. gemeinsam mit der Deutschen Bahn AG die BWFuhrparkService GmbH, deren Aufgabe es war, den Bestand an nicht bewaffneten Fahrzeugen der Bundeswehr kostengünstig zu modernisieren (Vertragsvolumen ca. 3 Mrd. Euro bis 2012). Obwohl der Tätigkeitsbereich der BWFuhrparkService GmbH ursprünglich aufs Inland beschränkt war, ist diese mittlerweile auch in Bosnien und Herzegowina aktiv.6 Bereits wenige Monate später gründete die g.e.b.b. gemeinsam mit der Lion Apparel Deutschland GmbH und Hellmann Worldwide Logistics GmbH die LH Bundeswehr Bekleidungsgesellschaft mbH, an der sie nur 25,1% hält. Diese übernahm von der Bundeswehr 21 Bekleidungszentren, 171 Bekleidungskammern sowie Warenbestände in Höhe von 625 Mio. Euro und ist seither für die Lagerung und Zuteilung sowie die betriebswirtschaftliche Verwaltung der Uniformen der Bundeswehr zuständig (Vertragsvolumen ca. 1.7 Mrd. Euro bis 2014). Hierfür ist sie, ebenso wie die BwFuhrparkService, auf militärischen Liegenschaften präsent und greift auf deren Infrastruktur zurück.7

Die g.e.b.b. organisiert darüber hinaus die Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und privaten Unternehmen in vielen weiteren Bereichen wie Ausbildung, Kinderbetreuung, Verpflegung, Liegenschaftsverwaltung usw. So war sie an der Evaluation der privatwirtschaftlich geleisteten Verpflegung im Camp Mazar-e-Sharif ebenso beteiligt, wie an der Vorbereitung zu Pilotprojekten der Privatisierung von Betrieb und Unterhalt von Bundeswehrkasernen in München, Mainz und Dresden. Vor allem aber führt sie zahlreiche betriebswirtschaftliche Controlling-Maßnahmen bei der Bundeswehr durch und macht anschließend auf deren Grundlage Vorschläge, wie Kosten und Personal eingespart werden könnten.8

Das nächste anstehende Mammutprojekt zur Privatisierung der Basislogistik der Bundeswehr betrifft die Bereiche Lagerhaltung und den Transport im Rahmen der »Projektskizze Logistik«.9 Diese sieht bis 2010 die Reduzierung der Bundeswehrdepots, -lager und -verteilzentren um etwa die Hälfte sowie deren weitgehende Privatisierung vor. Bereits 2006 sollte eine erste Ausschreibung im Umfang von 800 Mio. Euro stattfinden, diese wurde aber mehrfach bis zum Juli 2008 verschoben und erweitert.10 Für diesen Betrag sollte die Bewirtschaftung der Depots und die Verwaltung des dort gelagerten Materials (ohne Munition) sowie dessen Transport einschließlich Munition von privaten Unternehmen geleistet werden. Die Bewerbungsfrist endete im September 2008. Die »Welt am Sonntag« schrieb zuvor: „Es geht um einen Milliardenauftrag, den größten, der in der deutschen Transportbranche je vergeben wurde.“ 11 Bereits im November 2008 aber legte der Haushaltsausschuss des Bundestages das Projekt wieder auf Eis. Denn die Privatisierung der Basislogistik stößt auf heftigen Widerstand in Teilen der Bundeswehr (und der betroffenen Kommunen), da sie Standortschließungen und eine Reduzierung des Personalbedarfs um bis zu 80% in den Depots zur Folge hätte. Deshalb hat die Bundeswehr bereits 2006, ebenfalls mit Unterstützung der g.e.b.b., ein optimiertes Eigenmodell Logistik (OEM) entwickelt, das seitdem umgesetzt wird. Auch dieses soll Kosten senken und Abläufe effektivieren, enthält also Standortschließungen und Personaleinsparungen. Dennoch wird es von den Betroffenen gegenüber einer Privatisierung eindeutig präferiert. Im Haushaltsausschuss wurde deshalb argumentiert, das OEL müsse zunächst vollständig umgesetzt werden und Wirkung zeigen, bevor es mit den Angeboten privater Unternehmen verglichen werden könnte. Hierfür wurde den Soldaten und Angestellten in den Depots, die bereits seit Jahren unter Hochdruck arbeiten, ein weiteres Jahr eingeräumt: Bis November 2009 wurden die für die Privatisierung vorgesehenen Gelder gesperrt, dann soll endgültig über die Auslagerung entschieden werden.

Als Favorit für den Zuschlag gilt das Unternehmen DHL. Dessen Mutterkonzern, die Deutsche Post, ist bereits seit der Wiederbewaffnung für die Feldpostzustellung verantwortlich, DHL liefert bereits heute „dringenden Sofortbedarf (z.B. Medikamente und Ersatzteile)“ nach Afghanistan12 und gilt auch am ehesten als in der Lage, ohne gewaltige Neuinvestitionen den Auftrag auszuführen.

Die Teilprivatisierung des Gefechtsübungszentrums (GÜZ) des Heeres in der Colbitz-Letzlinger Heide stellt ein Pilotprojekt im Bereich der Ausbildung dar. Hier werden deutsche Soldaten und diejenigen verbündeter Streitkräfte auf ihre Auslandseinsätze vorbereitet, indem sie mit lasergestützter Übungsmunition in computersimulierten Gefechtsszenarien kämpfen. Für den Betrieb des GÜZ, einschließlich der Umrüstung der Waffen auf den Übungsbetrieb, der Pflege der Hard- und Software, der Wartung und Verwaltung der eingesetzten Fahrzeuge usw. ist die Serco GmbH gemeinsam mit Saab und der Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft mbH (IABG) mit über 140 Mitarbeitern zuständig. Hierdurch würden 440 Dienstposten bei der Bundeswehr eingespart, hierfür sollen die Betreiber in den ersten fünf Jahren des Betriebs von 2004-2009 ca. 64 Mio. Euro von der Bundeswehr erhalten haben.13

Software und Informationstechnik

Gegenwärtig führt die Bundeswehr eine für sie zugeschnittene Standard Anwendungs- Software Produkt Familie (SASPF) der Firma SAP ein.14 Ziel ist es, die bisherigen »Insellösungen« der einzelnen Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche durch eine einheitliche, betriebswirtschaftliche Software, die „sich am ‚best practice‘ der Industrie orientiert“ 15 und bundeswehrweit auf aktuellem Stand eingeführt wird, zu ersetzen und somit Kosten bei der Software-Betreuung und -Pflege einzusparen. SAP bot sich als Anbieter vor allem deshalb an, weil bereits die Streitkräfte von 14 weiteren NATO-Staaten und auch Rüstungshersteller wie Rheinmetall Landsysteme dessen Software verwenden. Somit sei der „verstärkte Austausch von Informationen mit Streitkräften und anderen [sic] Dienstleistern auch im Rahmen der Nutzung von Embedded Logistics“ sichergestellt.16 Eine wesentliche Voraussetzung für die Einführung der neuen Software war und ist flächendeckende Modernisierung der IT- und Telekommunikations-Infrastruktur. Diese soll durch das Herkules-IT-Projekt gewährleistet werden, in dessen Rahmen sieben zentrale Rechen- und Servicezentren aufgebaut, 300.000 Festnetz- und 15.000 Mobiltelefone, 140.000 Computerarbeitsplätze an über 1.500 Standorten eingerichtet und über eigene Datennetze miteinander verbunden werden. Hierfür gründete die Bundeswehr gemeinsam mit Firmenausgründungen der Firmen Siemens IT Solutions and Services und IBM Deutschland die BWI Informationstechnik GmbH, an der sie 49,5% hält. Mit einem Auftragsvolumen von etwa 7 Mrd. Euro innerhalb von zehn Jahren gilt Herkules als europaweit größtes Projekt Öffentlich-Privater Partnerschaft (PPP).17 Die BWI Informationstechnik GmbH ist auch für die flächendeckende Installation der SASPF und die Ausbildung der Nutzer an diesem System zuständig.

Einsatzlogistik

Für 2009 ist die Einführung der SASPF im Logistikzentrum der Bundeswehr (LogZBw) in Wilhelmshafen geplant. Das 2002 in Dienst gestellte LogZBw soll u.a. als „zentrale Durchführungs- und Controllingplattform für die militärisch-gewerbliche Zusammenarbeit im Bereich der Streitkräftebasis [dienen]. Zur Optimierung des Ressourceneinsatzes (militärisch oder zivil) sollen zukünftig im Logistikzentrum der Bundeswehr militärische und gewerbliche Leistungserbringer in Kooperation unter militärischer Führung zusammenwirken.“ 18 Bereits zur Indienststellung 2002 hieß es: „Die Bundeswehr verspricht sich von dieser Neuerung ihrer Betriebsabläufe und der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft vor allem Kostenreduzierungen und Effizienzsteigerungen.“ 19

Die Streitkräftebasis, zu der das LogZBw gehört, wurde 2000 im Rahmen der Transformation der Bundeswehr geschaffen, um als zentraler »Dienstleister« der Bundeswehr durch die Übernahme von Aufgaben, die zuvor durch die Teilstreitkräfte (Heer, Luftwaffe, Marine) einzeln erbracht wurden, Synergieeffekte zu nutzen und somit die Zahl der Soldaten, die für den Einsatz bereit stehen, zu erhöhen.20

Im Kern ist das LogZBw für den Transport der Truppen, Waffensysteme und Verbrauchsgüter in die Auslandseinsätze zuständig. Hierfür chartert es regelmäßig Flugzeuge vom Typ Iljuschin (IL) 76, die u.a. im Besitz der aserbaidschanischen Silk Way Airlines sind. Diese transportier(t)en von Schützenpanzern über Soldaten und Lebensmittel bis hin zur Zahnpasta auf täglicher Ebene Kriegs- und Versorgungsgüter von den deutschen Flughäfen Jagel, Trollenhagen, Rostock-Laage und Hahn meist mit Zwischenstopp in Baku nach Afghanistan.21 Jagel und Trollenhagen sind militärische Fliegerhorste, die zivil mit genutzt werden (Trollenhagen) bzw. auf denen eine solche Mit-Nutzung geplant ist (Jagel). In Jagel ist das Aufklärungsgeschwader 51 »Immelmann«, in Rostock-Laage ist das Jagdgeschwader 73 »Steinhoff« stationiert. Rostock-Laage wird bereits seit 1992 auch von zivilen Passagierflugzeugen genutzt. Hahn war ein Luftwaffenstützpunkt der USA, wird aber seit 1993 als ziviler Flughafen genutzt und betrieben. Die Flugzeuge, die Material im Auftrag der Bundeswehr transportieren, sowie ihre Besatzung, gelten ebenfalls als zivil; das Be- und Entladen in Deutschland und in Afghanistan erfolgt durch die jeweiligen Luftumschlagzüge der Bundeswehr gemeinsam mit dem zivilen Personal der Fluglinie.

Das Dezernat Lufttransport des LogZBw kann für den strategischen Lufttransport neben den Bundeswehreigenen Transall-Maschinen und ad-hoc gecharterten Flugzeugen privater Anbieter noch auf bis zu sechs Flugzeuge vom Typ Antonow (An) 124 zurückgreifen, die von der deutsch-russisch-ukrainischen SALIS GmbH bereitgestellt werden. Die Gründung dieses Joint Ventures geht auf die NATO und die EU zurück, die beide im Jahre 1999 beschlossen, zukünftig Interventionen jenseits des Bündnisgebietes durchzuführen und erkannten, dass es ihnen hierfür an strategischen Transportkapazitäten mangele. Sowohl NATO als auch EU beauftragten Deutschland damit, eine Übergangslösung für den strategischen Lufttransport (Strategic Airlift Interim Solution, SALIS) zu suchen, bis die insgesamt 170 (!) von EU-Mitgliedsstaaten bestellten Militärtransporter Airbus (A) 400M ausgeliefert wurden. Die Tauglichkeit der An 124 war von der EU bereits 2003 im Rahmen des Artemis-Einsatzes in der DR Congo getestet worden.

Auf der Grundlage eines Vertrages zwischen der NATO-Logistikabteilung und der neu gegründeten SALIS GmbH, der von 16 NATO- und EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert wurde, halten seit dem die an SALIS beteiligten Fluggesellschaften Volga-Dnepr Airlines (Russland) und Antonov Airlines (Ukraine) in Uljanowsk, Kiew und Leipzig je zwei Maschinen vom Typ An 124 bereit, damit diese innerhalb von 72 Stunden an jedem Flughafen der Welt einsatzbereit sein und jährlich mindestens 4.800 Flugstunden leisten können. Auf diese Kapazitäten können sowohl die NATO, als auch die EU und die Bundeswehr zurückgreifen. Im Gegenzug haben die beteiligten Staaten der SALIS GmbH eine »Mindestnutzung« zugesichert, im Falle Deutschlands beträgt diese 750 Flugstunden im Jahr. Eine Flugstunde wird mit 24.000 bis 44.000 US-Dollar berechnet. Das Gesamtvolumen des Vertrages, der zunächst zwei Jahre galt, betrug etwa 650 Millionen Euro. Im Januar 2009 wurde dieser Vertrag um weitere zwei Jahre verlängert.22 Bereits im ersten Jahr wurde SALIS intensiv von der Bundeswehr genutzt. Wiederum im Kontext einer EU-Intervention in der DR Congo seien 2006 „nahezu täglich mehrere Antonov 124-100 eingesetzt“ worden. Zudem wurden u.a. folgende Ziele für die Bundeswehr angeflogen: Südafrika, Norwegen, Pakistan, Afghanistan, Tadschikistan, Gabun, Kap Verde, Djibouti und Zypern. Transportiert wurden dabei u.a. Hubschrauber, Fahrzeuge, Verpflegung, Trinkwasser und Zeltmaterial.23

Beim Umbau des Bundeswehrfeldlagers in Mazar-e-Sharif von einem Zeltlager in eine Containerstadt nach der Ausweitung des ISAF-Mandates 2005 wurde gleich die gesamte Logistikplanung an Privatunternehmen delegiert. Das Morsbacher Unternehmen Säbu GmbH lieferte schlüsselfähige Wohncontainer, „ein komplettes Einsatzlazarett, einen kompletten Verpflegungsbereich mit Großküche, Lagerräumen und Kantine sowie weitere Spezialgebäude.“ Die Mannheimer Firma Graeff Container- und Hallenbau GmbH, die 2001 bereits Gebäude für die Bundeswehr nach Kosovo lieferte, baute 28 Hallen für die Lagerung von Waren sowie die Unterbringung und Wartung von Flug- und Fahrzeugen. Den Bahntransport des hierfür benötigten Materials organisierte die Bremer Stute Verkehrs-GmbH, eine Tochter des Schweizer Logistikgiganten Kühne und Nagel. Kühne und Nagel ist einer der wichtigsten Auftragnehmer der westlichen Streitkräfte in Sachen Logistik innerhalb von Afghanistan und zwischen deren afghanischen Stützpunkten und ihren Umschlagplätzen in den Nachbarstaaten. Entsprechend organisierte Kühne und Nagel für den Aufbau des Lagers Mazar-e-Sharif auch den Transport der Container vom nordafghanischen Grenzbahnhof Hairaton aus per LKW in die Bundeswehrstützpunkte sowie 54 ergänzende Flüge mit Luftfracht aus Deutschland.24 Etwa zeitgleiche Versuche der EU, unter deutscher Führung im Rahmen der EUFOR-Mission DR Congo das Lager für die Einsatzkräfte von Anfang an durch das zivile spanische Unternehmen UCALSA errichten zu lassen, scheiterten kläglich: UCLASA zeigte sich „in jeder Hinsicht überfordert“ und konnte die vertraglich zugesicherten Leistungen bis zum Ende des Einsatzes nicht vollständig zur Verfügung stellen.25 In Afghanistan hingegen scheint sich die Zusammenarbeit bewährt zu haben. Kühne und Nagel ist bis heute einer der wichtigsten Dienstleister der Bundeswehr in Afghanistan.26

Privatisierung: Risiken und Nebenwirkungen

Die Folgen dieser Privatisierungsstrategien sind vielseitig und gefährlich. Einerseits führen sie zu einer Bundeswehr, die sich nur noch auf ihre »militärischen Kernaufgaben« – Auslandseinsätze – konzentriert, von denen ganze Wirtschaftszweige profitieren und früher oder später abhängen werden. Andererseits vermengt sie zivile und militärische Strukturen bis zur Unkenntlichkeit und macht damit allerlei Einrichtungen, die keinen militärischen Charakter haben, zum militärischen bzw. – in Zeiten asymmetrischer Kriegführung – zum Anschlagsziel. Die menschenverachtende, marktradikale Ideologie, die dafür Voraussetzung ist, kam sehr deutlich in einem Artikel der Zeit über die Widerstände innerhalb der Bundeswehr gegen die Privatisierung ihrer Depots aus dem Jahre 1998 zum Ausdruck:

„Häufiges Argument der Bundeswehr ist, private Anbieter seien nicht in der Lage, das ‚operative Minimum‘ im Ernstfall zu garantieren. Das klingt zunächst einleuchtend. Wie soll schließlich ein Munitionsdepot oder Waffenlager den Nachschub organisieren, wenn das Zivilpersonal beim ersten Schuß das Weite sucht? MDSG [die Firma, die sich um den Auftrag bemüht hatte]-Geschäftsführer Kieschoweit belegt jedoch, daß die jederzeitig verfügbare Personalstärke vertraglich zugesichert werden kann.“ 27

Anmerkungen

1) Michael Vetter: Luftwaffe und Industrie – Eine strategische Partnerschaft in der Instandhaltung, in: Europäische Sicherheit, Juni 2003.

2) Bernd Jungkunz: Kooperatives Modell, in: Strategie und Technik, April 2009.

3) Ebd.

4) »Heeresinstandsetzungslogistik GmbH wird gegründet«, Pressemitteilung des BMVg vom 27.01.2005.

5) »Unternehmen«, www.gebb.de (18.6.2009).

6) AG Sicherheitspolitik der Fraktion Die Linke im deutschen Bundestag: Aufrüstung um jeden Preis – Stellungnahme zum Verteidigungshaushalt 2009.

7) Caspar von Schoeler: Private Service Providers or Imagine It Is War And You Can‘t Find A Contractor, Masterarbeit an der Hertie School of Governance (2007).

8) Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb mbH: Das passt perfekt – Die Bundeswehr und die g.e.b.b. gemeinsam erfolgreich, Jahresbroschüre 2007.

9) Die Projektskizze Logistik wurde 2004 vom Verteidigungsministerium ins Leben gerufen. Neben der Abteilung Modernisierung und der g.e.b.b. sind hieran der Führungsstab der Streitkräfte und das Streitkräfteunterstützungskommando (SKUKdo) beteiligt. „In der sogenannten ‚Projektskizze Logistik‘ bündelt die Bundeswehr die wichtigsten Aktivitäten zur Modernisierung und Gestaltung der Logistik mit dem Ziel, die Leistungsfähigkeit für Einsätze und im Grundbetrieb zu erhöhen und dabei gleichzeitig die Ausgaben deutlich zu senken.“ Vgl.: »Teilnahmewettbewerb für eine Öffentlich-Private Partnerschaft in der Logistik gestartet«, Pressemitteilung des BMVg vom 5.8.2008.

10) Axel Granzow: Bundeswehr will Logistik privatisieren, in: Handelsblatt, 20.10.2005.

11) »Die Bundeswehr will Logistik an private Firmen auslagern«, Welt am Sonntag, 25.11.2007.

12) Bundestags-Drucksache 16/4343.

13) Bundesverband Public Private Partnership: Positionspapier des Arbeitskreises Verteidigung und Sicherheit, August 2005.

14) Im Jahr 2009 soll die Zahl der Nutzer von SASPF im Bereich der Rüstung und Logistik der Bundeswehr von heute 2.700 auf über 10.000 anwachsen, vgl.: Bundestag-Drucksache 16/11574.

15) Bundestags-Drucksache 16/11574

16) „‘Embedded‘ … [soll] in diesem Zusammenhang zum Ausdruck bringen, dass der gesamte Lebenszyklus eines [Waffen-]Systems und die Nutzung der Daten durch die unterschiedlichsten Rollen, wie Bediener, Instandsetzer, Nutzungsmanager sowie Industrieseitig Service- und Entwicklungspersonal in den einzelnen Zyklen berücksichtigt werden“ (Björn Lach & Jürgen Besuch: Embedded Logistics und Telemaintenance, in: Strategie und Technik, November 2008).

17) Genaue Angaben hierzu sind schwer zu treffen, da der dem Herkules-Projekt zugrunde liegende Vertrag nicht öffentlich ist. Vgl.: Andrej Hunko: Das Programm HERKULES und der Standort Meckenheim, in: Paul Schäfer: Militär und Rüstung in NRW, Dortmund, 23. Februar 2008.

18) »Auftrag und Aufgaben der Dienststelle«, http://www.logistikzentrum.bundeswehr.de (17.6.2009).

19) »Logistikzentrum der Bundeswehr – das logistische Kompetenzzentrum der Bundeswehr in Wilhelmshaven«, Pressemitteilung des LogZBw vom 19.03.2002.

20) Führungsstab der Streitkräfte: »Die Streitkräftebasis« Ausgabe 01/07.

21) So berichtet die Bundeswehr am 13.5.2009 über den Luftumschlagzug in Rostock-Laage: „Acht bis 15 Maschinen fertigt der 30-köpfige Luftumschlagzug pro Woche ab. Stolz erzählen die Soldaten, dass sie vor wenigen Wochen die 1000. Iljuschin beladen haben.“ Am 21.1.2008 meldete die Luftwaffe: „Derzeit starten sechs bis zehn IL 76 jede Woche vom Fliegerhorst Trollenhagen, die nach einem Zwischenstop in Baku (Aserbaidshan), ihre Fracht nach Nordafghanistan transportieren.“ Am 14.3.2007 berichtete die Lausitzer Rundschau über den Flughafen Jagel: „Auf einem der größten Militärflughafen Deutschlands in der Nähe von Schleswig landen täglich russische Iljuschin-Transportmaschinen.“ Die »Friedenspolitischen Mitteilungen aus der US-Militärregion Kaiserslautern/Ramstein« vom 07.08.2006 berichteten: „Schon jetzt transportieren Iljuschin-76-Maschinen einer Privatfirma aus Aserbaidschan Nachschub für das Bundeswehrkontingent in Afghanistan vom Flugplatz Hahn im Hunsrück nach Mazar-e Sharif.“

22) Christoph Marischka: Das Militärdrehkreuz Halle/Leipzig, in: IMI & DFG-VK: Kein Frieden mit der NATO – Die NATO als Waffe des Westens, Tübingen 2009.

23) Bundestags-Drucksache 16/4343.

24) »STUTE unterstützt Bundeswehr mit kompetenter Transportlogistik«, Presseinformation der Stute Verkehrs-GmbH, www.stute.de (17.6.2009).

25) Wehrbeauftragter Jahresbericht 2006 (48. Bericht) Bundestagsdrucksache 16/4700.

26) Zwischen 2002 und 2005 wurden von der Bundeswehr neben Kühne und Nagel, deren Tochterfirma Stute Verkehrs-GmbH sowie deren Tochter Militärlogistik Competence Center folgende deutsche Firmen von der Bundeswehr mit See- und Fluglogistik in und nach Afghanistan beauftragt: IMEX Speditions- und Handels- GmbH, DHL Worldwide Express, TCI GmbH, Interdean AG, Müller & Partner, ATEGE, Schenker Logistik, Rentsch, EAC. Für die Infrastruktur der Feldlager der Bundeswehr in Afghanistan von der Strom- und Wasser- und Stromversorgung über die Verpflegung bis hin zur Reinigung wurden im selben Zeitraum Verträge mit folgenden deutschen Firmen geschlossen: Gebr. Heinemann, Kärcher, ABZ, OHB, Züblin International, KB Impuls Service GmbH, Ecolog.

27) Wolfgang Hoffmann: Kampf ums Geld, in: Die Zeit, 36/1998.

Christoph Marischka ist im Beirat der Informationsstelle Militarisierung tätig.

Militärische Geographie

Militärische Geographie

von Rachel Woodward

Dass der Durchsetzung militärischer Macht durch die Ausübung bewaffneter Gewalt hinsichtlich ihrer Ursachen und Auswirkungen von sich aus geographische Aspekte inhärent sind, ist eine weit verbreitete Vorstellung. Militärische Aktivitäten finden im Raum statt und drehen sich immer um die Kontrolle von Raum. Sie haben stets Auswirkungen auf die Umwelt und geben heutigen Landschaften ihr Gepräge – dabei auch Spuren für die Zukunft hinterlassend. Bewaffnete Konflikte sind, wie auch immer sie stattfinden, räumliche Prozesse.

In der geographischen Forschung besteht weitgehend Übereinstimmung, dass die Erforschung der Räumlichkeit bewaffneter Konflikte nur eine Facette eines umfassenderen Sets militärischer Geographien ist, die sowohl konflikthafte als auch nicht-konflikthafte Aktivitäten umfassen und zu einem Verständnis der vielfältigen Möglichkeiten beitragen, durch die militärische Aktivitäten und Militarismus geographisch konstituiert werden und geographisch zum Ausdruck kommen. Militärische Aktivitäten (die Tätigkeiten und das Leistungsvermögen der militärischen Einheiten selbst) und Militarismus (die Ausweitung des militärischen Einflusses auf die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Arenen des zivilen Lebens) sind gewöhnlich am sichtbarsten in Zeiten und an Orten bewaffneter Konflikte. Beide existieren als machtvolle Faktoren, die die Räume, Örtlichkeiten und das Umfeld über die Unmittelbarkeit des Schlachtfeldes hinaus prägen. Beide arbeiten kontinuierlich daran, die militärische Kontrolle über den Raum und die sozialen Beziehungen auszudehnen. Dieser Beitrag befasst sich mit einigen Überlegungen, wie diese Kontrolle konzeptualisiert werden kann, damit unser Verständnis ihres Ausmaßes und ihrer Wirkungen erweitert wird.

Als akademische Disziplin, die sowohl die physischen Charakteristika der Erde als auch die Gestaltung sozialer Beziehungen im Raum zu verstehen versucht, hat die Geographie immer mit militärischen Institutionen, ihren Aktivitäten und ihren Wirkungen zu tun gehabt. Das Streben nach geographischem Wissen als ein Hilfsmittel zur Ausübung militärischer Gewalt über ein Territorium ist so alt wie die Disziplin selbst. Darstellungen der Disziplin im 19. und 20. Jahrhundert in Europa und Nordamerika, aber auch in früheren Epochen und auf anderen Kontinenten verzeichnen die Generierung und den Gebrauch geographischen Wissens und geographischer Methoden explizit für den Zweck der Ausübung militärischer Macht. Dieses Erbe prägt noch immer die Richtung verschiedener Stränge der gegenwärtigen geographischen Forschung. Eine traditionelle und politisch konservative Militärgeographie verfügt – sich selbst als Subdisziplin kenntlichmachend – über eine institutionalisierte Form (zum Beispiel in Gestalt der gleichnamigen Fachgruppe innerhalb der Association of American Geographers) und über curriculare Verankerung in der Militärausbildung einiger Militärakademien. Im traditionellen Verständnis von Militärgeographie hat diese einen praktischen Schwerpunkt im Sinne der Anwendung geographischer Werkzeuge und Verfahren zur Lösung militärischer Probleme. Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung geographischer Informationssysteme und ihre Anwendungen mit engem Bezug zu militärischen Erfordernissen und militärischer Finanzierung. Darüber hinaus existiert eine lange Tradition und fortgesetzter Enthusiasmus für eine historische Militärgeographie, für Analysen des Geländes und des taktischen Vorgehens sowie für geographisch informierte Interpretationen der Militärgeschichte.

Weniger eng mit militärischen Institutionen – insbesondere angesichts ihres aktuell kritischen Profils – beschäftigen sich die gegenwärtige politische Geographie und die Geopolitik auch weiterhin besonders mit der Rolle bewaffneter Konflikte und militärischer Macht für die Entstehung von Staaten, Grenzen und Territorien. So ist die Beschäftigung der Disziplin mit Militarismus und militärischen Aktivitäten mannigfaltig und Veränderungen unterworfen.

In diesem Beitrag, der sich auf meine bisherigen Arbeiten zur Geographie des Militarismus und militärischer Aktivitäten stützt, mache ich zwei Vorschläge, wie diese Perspektive entfaltet werden kann. Zunächst trete ich dafür ein, den scheinbar unbedeutenden, scheinbar alltäglichen, scheinbar prosaischen Aktivitäten militärischer Institutionen und Kräfte größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Nicht ohne gute Gründe schenken wir den größeren dramatischen Ereignissen häufig unser Augenmerk und verfolgen den bewaffneten Konflikt selbst und seine Auswirkungen territorialer Art und hinsichtlich der sozialen Beziehungen. Allerdings gibt es ein Argument dafür, den nicht-konflikthaften Situationen und den geographischen Begebenheiten mehr Aufmerksamkeit zu widmen, die durch jene militärischen Aktivitäten und Prioritäten konstituiert und ausgedrückt werden, die alltägliche Praxen konstituieren, die erst die Voraussetzungen für den bewaffneten Konflikt schaffen. Deren vordergründig undramatische Wirkung mag der Betrachtung so verborgen sein wie die Steine am Fuße der Pyramide. Sich jedoch ausschließlich auf die Spitze der Pyramide zu konzentrieren, kann dazu verleiten, die Beschaffenheit der Struktur nicht zu verstehen, die diese Struktur erst möglich macht. Dementsprechend sind Aspekte wie die Entscheidung zur Errichtung von Kasernen, die Politik der Ausweisung von Gelände zum Zwecke von Truppenübungen, die Konversion von Militäranlagen, soziale Beziehungen in militärischen Wohnanlagen, ökologische Auswirkungen des alltäglichen Übungsbetriebes oder die Entstehung von militärischem Landschaftsraum als Stätten der Erinnerung, der Trauer und des Triumphes alle Teil desselben Sets von Praktiken, die militärische Aktivitäten und Militarismus in ihrer Prägewirkung auf soziale Beziehungen und auf Räume betrachten.

Zweitens kann durch die Erforschung dieser prosaischen, scheinbar unbedeutenden Aktivitäten besser verstanden werden wie militärische Kontrolle über Räume und Örtlichkeiten, über Landschaft und Umgebung in der Praxis funktioniert. Ich bin besonders daran interessiert Erklärungsansätze zu finden, die sich auf beobachtbare empirische Kontexte stützen können und die versuchen, diese Ergebnisse im Rahmen eines Verständnisses davon zu konzeptualisieren wie militärische Macht funktioniert. Dabei berücksichtige ich besonders vier Bereiche: die Steuerung, die bereits durch militärische Präsenz ausgeübt wird; die Steuerung, die sich aus der Verfügbarkeit und der Nutzung von Informationen und Daten ergibt; die Steuerung, die durch Regierungspraktiken jenseits militärischer Institutionen ausgeübt wird; und die Steuerung, die durch die Rhetorik und den Diskurs über Sicherheitsdefinitionen ausgeübt wird.

Die Steuerung durch physische Präsenz

Wir können mit der beinahe lapidaren Tatsache militärischer Präsenz beginnen. Die militärische Kontrolle von Raum ist vermutlich in Konfliktsituationen am sichtbarsten – durch die Anwesenheit von Truppen und die durch Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichten Erkenntnisse über die unsichtbaren Einflussnahmen auf dem Schlachtfeld. In nicht-konflikthaften Situationen ist die militärische Kontrolle über den Raum möglicherweise weniger sichtbar bzw. offensichtlich, obwohl sie im Falle der militärischen Nutzung des Gebietes anderer souveräner Nationalstaaten nicht weniger umstritten ist. Betrachten wir jedoch hier die militärische Nutzung von Raum im eigenen Land. Militärische Einheiten benötigen, um tödliche Gewalt ausüben zu können und die Kompetenz für bewaffnete Gewalt zu entwickeln, Örtlichkeiten und Raum, in denen diese Fähigkeiten entstehen können, entwickelt und mit entsprechender Ausrüstung trainiert werden. Eine Reihe von Vorgängen und Wirkungen sind mit der Tatsache der Anwesenheit solcher einheimischer militärischer Liegenschaften – welcher Größe und Funktion auch immer – verbunden.

Militärische Stützpunkte beeinflussen die örtlichen ökonomischen Strukturen und Versorgungsketten und prägen regionale bzw. lokale Produktionskapazitäten bzw. Distributionsnetzwerke. Zugleich tun sie dies nicht: Argumente zugunsten der Existenz von Militärstützpunkten verweisen häufig auf den ökonomischen Nutzen für den Ort und die Region aufgrund der Militärausgaben und der Folgeaktivitäten. Tatsächlich ist die Forschung zu den ökonomischen Auswirkungen militärischer Liegenschaften hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile uneindeutig. Den Nutzen bzw. den Beitrag für lokale oder regionale Arbeitsmärkte bzw. zu Lieferketten in ökonomischen Kennziffern zu quantifizieren, ist offenkundig schwierig, variieren diese doch erheblich mit dem Umfang, der Funktion und der Beschaffenheit der jeweiligen militärischen Anlage sowie mit der Struktur der gegebenen örtlichen zivilen Wirtschaft. Out-sourcing und Lieferketten können sich über Kontinente erstrecken. Außerdem können informelle, unregulierte und illegale ökonomische Aktivitäten nicht mit der nötigen Genauigkeit quantifiziert werden. In manchen Fällen können die ökonomischen Auswirkungen militärischer Anlagen mit einer gewissen Genauigkeit erst nach deren Schließung festgestellt werden. Die Erforschung der feinkörnigen politischen Ökonomien militärischer Aktivitäten ist daher notwendigerweise eine empirische Aufgabe.

Die Steuerung, die durch die physische Präsenz militärischer Einrichtungen ausgeübt wird, umfasst auch die sozialen Einflüsse solcher Anlagen. Militärische Stützpunkte haben Auswirkungen auf die örtlichen sozialen Beziehungen. Schlagzeilen produzierendes Verhalten von fehlgeleitetem Militärpersonal, das Gewalttaten gegen die örtliche Zivilbevölkerung begeht, stellt eine Extremform des breiten Spektrums an sozialen Beziehungen und Interaktionen zwischen Militärpersonal und den zivilen Gemeinden dar. Diese Beziehungen können nicht zwangsläufig in einer direkten Art und Weise als Macht- und Dominanzbeziehungen verstanden werden. Sie enthalten auch diese Aspekte, allerdings ist die ganze Bandbreite von Ausbeutung und Solidarität, Abneigung und Liebe, Antipathie und Unterstützung anzutreffen. Verbunden mit einer Politik des Nationalismus, Patriotismus und Lokalismus und einem wechselnden Verhältnis der zivilen und militärischen Bevölkerung als distanziert und verleugnend oder als stolz gefeiert, findet sich erneut ein große Vielfalt von Erfahrungen bei den sozialen Beziehungen militärischer Anlagen, die nähere Untersuchung verdienen, um zu entdecken, wie genau einzelne Orte über die Elemente Zaun und Wachhäuschen hinaus militarisiert werden.

Militärische Präsenz bringt notwendig die Kontrolle über die physikalische Umgebung mit sich – sowohl hinsichtlich der Einwirkung auf die Umwelt durch militärische Aktivitäten als auch bezüglich der hierfür gelieferten Erklärungen. Nicht-konfliktbezogene militärische Aktivitäten sind der Umwelt abträglich und beinhalten den Abfall militärischer Aktivitäten, Veränderungen der Umwelt (einschließlich der Modifizierung von Lebensräumen) und die Verpestung durch Kohlenwasserstoffe und andere giftige Verbindungen, die beim alltäglichen Betrieb von Fahrzeugen und Waffen anfallen. Auch dies ist jedoch keine simple Geschichte. In vielen entwickelten kapitalistischen Nationalstaaten verhindern militärische Nutzungen, die selbst umweltschädlich sein können, andere Aktivitäten, die selbst zerstörerisch oder giftig sein können. Quer zu diesen Nutzungs- und Wirkungsmustern gibt es aus verschiedenen politischen Richtungen Kontroversen über die – häufig als nutzbringend bezeichneten – Auswirkungen dieser Blockaden. Zu den gefeierten Beispielen gehören die Naturschutzrefugien auf Truppenübungsplätzen. Auch hier wäre empirisch zu untersuchen, wie und warum Militär seine Ansprüche auf Raumnutzung mit ökologischen Argumenten stützt und wie diese dazu beitragen, die Kontrolle über die Örtlichkeiten zu festigen.

Es sollte zudem berücksichtigt werden, wie die Anwesenheit von Militär Landschaften gestaltet. Die Morphologie von Orten wird getränkt mit Ideen, Argumenten, Gefühlen, Politik und Emotionen, die die Interpretation eines Ortes gegenüber einer anderen betonen. Am sichtbarsten sind Landschaften offenkundiger und lang andauernder bewaffneter Gewalt; Friedhöfe, die die Toten des Krieges aufnehmen, sind gesättigt mit spezifischen Ausdrucksformen von Trauer und Verlust auch noch lange nach dem Ende des Konflikts. Weniger unmittelbar sichtbar sind die Art und Weisen, in denen gewöhnlichere, weniger dramatische militärische Einsatzorte ihre eigenen Lesarten der jeweiligen Landschaften fördern. Die Geographie militärischer Aktivitäten befasst sich auch mit diesen Aspekten.

Die Steuerung von Information

Um zu verstehen wie militärische Aktivitäten und Militarismus sowohl geographisch konstituiert werden als auch in der Geographie ihren Ausdruck finden, bedarf es des Verständnisses insbesondere des Wesens solcher Aktivitäten und Prozesse. Dies wiederum erfordert Informationen und Daten über die jeweils untersuchte Thematik, den Prozess oder die materiellen Objekte. Militärische Macht ist – das ist seit langem anerkannt – abhängig von der Kontrolle von Informationen. Ich vertrete die Ansicht, dass die Steuerung von Information anhand einiger ganz grundlegender Aktivitäten beobachtet werden kann und dass auch diese Aufmerksamkeit verdienen, wenn wir verstehen wollen, wie militärische Macht im Raum operiert.

Im Zentrum dieser Frage steht der Aspekt der Verlässlichkeit von Informationen. Militärische Organisationen mögen verlässliche statistische Daten oder Information über eine Vielzahl von Aktivitäten sammeln oder auch nicht – von den Hektarflächen militärischer Liegenschaften und den jeweiligen Verwendungszwecken über die Ausgaben für Ausrüstung und Beschaffung bis hin zu Aufstellungen über die Dislozierung und die Charakteristika des militärischen Personals. Diese Informationen können innerhalb oder außerhalb der jeweiligen Organisation verfügbar sein oder nicht. Dabei mögen Anforderungen an Sicherheit, Geheimhaltung oder Vertraulichkeit (k)eine Rolle spielen oder das niedrige Kompetenz- oder Sorgfaltsniveau der jeweiligen Organisation spielt eine Rolle. Was auch immer der Grund ist – aus dem Fehlen von Information ergeben sich Auswirkungen für die militärische Kontrolle des Raumes. Materielle Dinge werden durch statistische und faktische Information Teil unserer Betrachtung; eine Sache muss zunächst beschrieben werden, damit sie verstanden werden kann. Im Falle des Fehlens von Information werden Macht und Kontrolle über Aktivitäten und Prozesse durch solche Aktivitäten und Prozesse ausgeübt, die unsichtbar oder sogar unbeschreibbar geleistet werden. Sie sind nicht deshalb unbeschreibbar, weil sie jenseits unseres Begriffsvermögens liegen, sondern weil uns die Bezeichnungen und Daten für ihre Beschreibung fehlen.

Ein entsprechendes Beispiel wäre das Begreifen von militärischen ökonomischen Geographien – das Verstehen der Netzwerke ökonomischer Beziehungen, welche militärische Aktivitäten unterstützen und mittels derer militärischer Einfluss ausgeübt wird. Die Vorstellung eines militärisch-industriellen Komplexes – eine weit verbreitete Art, mit der wir die Beziehungen zwischen dem Militär und der Ökonomie, welche dieses stützt, konzeptualisieren – wird in der Öffentlichkeit durch Informationen gestützt, die die Verbindungen zwischen den Streitkräften und der Ausstattung bereitstellenden Industrie aufzeigen. Wir nehmen an, dass wir – gestützt auf die öffentlich zugänglichen Informationen – wissen wie dieses komplexe Netzwerk arbeitet. Was jedoch schwieriger zu entwirren ist, sind die ökonomischen Netzwerke, die Einrichtungen wie Militärbasen oder Kasernen in den lokalen Kontext einbinden. Wie bestimmen wir etwa mit einem hinreichenden Maß an Genauigkeit das Ausmaß, das Wesen und die Auswirkungen des Beitrages eines militärischen Stützpunktes in einem Ort? Es könnte sich als unmöglich erweisen, aussagekräftige Statistiken über die örtliche (zivile) Beschäftigung zu bekommen. Dies ist keine unbedeutende Frage. Ob im eigenen Land oder in Übersee – militärische Basen egal welcher Größe generieren Vermutungen und Spekulationen über ihre positiven wie negativen Auswirkungen. Wenn verlässliche Informationen nicht vorliegen, treten bezüglich der Stützpunktpolitik Spekulationen an die Stelle von Argumentation. Manchmal entsteht auch erst im Zuge eines Konversionsprozesses von militärischer zu ziviler Nutzung ein vollständigeres Bild des Wesens der lokalen ökonomischen Netzwerke und Beziehungen; erst das Verschwinden macht das, was untersucht wird, plötzlich sichtbar.

Ein weiteres Beispiel für militärische Kontrolle über Raum, die mit dem Vorhandensein bzw. Fehlen von Daten und Informationen zusammenhängt, ist die Frage nach den genauen Eigenschaften und Effekten militärischer Aktivitäten hinsichtlich der physikalischen Umwelt. Dabei geht es um mehr als nur um den präzisen Nachweis und das Messen der Umweltvergiftung und -veränderung. Selbstverständlich spielt auch dies eine Rolle, denn die Geschichte der Militärstützpunkte in Europa ist die Geschichte der nicht gemessenen und ungeprüften Immissionsereignisse. Obwohl in der Zeit nach dem Kalten Krieg umfangreiche Informationen über die Auswirkungen militärischer Aktivitäten der USA, Großbritanniens und der Sowjet-Union auf den Lebensraum und die Umwelt Zentraleuropa bekannt geworden sind, ist dies wegen der Geheimhaltung und – noch banaler – der Unangemessenheit der Verwaltung der Unterlagen zugleich eine Geschichte der Unsicherheit. Außerdem gibt es im militärischen Kontext Aspekte, die hinsichtlich ihrer ökologischen Auswirkungen in unterschiedliche Typen von Information übersetzt werden und dementsprechend unterschiedliches Gewicht haben. Informationen über Umweltauswirkungen, die mit Methoden erhoben wurden, die den offiziellen Techniken der Quantifizierung und Qualifizierung zuwiderlaufen, werden als unwissenschaftlich abgestempelt. Einige Arten von Informationen gelten als legitim, andere nicht. Obwohl wir zur Kenntnis nehmen sollten, dass es in militärischen Einrichtungen wachsende Aufmerksamkeit für ökologische Belange selbst der alltäglichsten militärischen Aktivitäten gibt, sollten wir doch auch alarmiert sein bezüglich der Repräsentationstechniken, mit denen »offizielle« Informationen und Daten zu einem Bezugssystem beitragen, durch das bestimmte Formen ökologischer Auswirkungen als legitim und akzeptabel angesehen werden.

Die Steuerung des Regierens

Ein dritter Bereich, der uns alarmieren sollte, wenn wir uns damit befassen, wie militärische Aktivitäten und Militarismus Kontrolle über Räume und Orte ausüben, ist die Art wie das Regieren – die Verfahren und Praktiken staatlicher Gesetzgebung – in Verbindung gebracht wird mit Kontrolle jenseits der Gesetze, die von militärischen Institutionen selbst ausgeht. Es ist axiomatisch, dass militärische Einrichtungen und Praktiken durch den Staat mit Legitimtät versehen werden. Tatsächlich entstehen reguläre Militärkräfte in Nationalstaaten unmittelbar aufgrund der Legitimität, die ihnen und nur ihnen zuteil wird bezüglich der Ausübung tödlicher Gewalt auf staatlichen Geheiß hin. Aber es ist aufschlussreich, diese Überlegung weiterzuführen und ein umfassenderes Set von Mechanismen in die Betrachtung einzubeziehen, durch das militärische Raumkontrolle weniger direkt durch militärische Einheiten in Form von Mechanismen des Regierens ausgeübt werden.

Diese können verschiedene Gestalt annehmen. Am direktsten zu beobachten ist die Bevorzugung militärischer Richtwerte gegenüber zivilen in der Gesetzgebung und die Ausnahmeregelungen, die militärischen Institutionen in Gesetzen gegenüber der zivilen Sphäre zugebilligt werden. Hier wären beispielsweise Gesetzgebungs- und Regierungspraktiken bezüglich der Landnutzung oder der Beschäftigung militärischen Personals zu nennen. In beiden Fällen beeinflusst die auf nationaler und supra-nationaler Ebene beschlossene Gesetzgebung Verfahren jenseits der Territorien der Nationalstaaten und der sozialen Beziehungen, die innerhalb dieser Räume wirksam werden. In beiden Fällen können wir unzählige Beispiele dafür finden, wie nationale Regierungen handeln (oder das Handlungspotential demonstrieren), um hinsichtlich der Anforderungen solcher öffentlicher Gesetzgebung gegenüber militärischen Institutionen Beschränkungen oder Ausnahmen zu machen. Staatlich sanktionierte Nicht-Einhaltung, für die gewöhnlich das Argument der »nationalen Sicherheit« herhalten muss, stellt dennoch eine Ausnahmeregelung dar und beeinflusst daher die Art, in der militärische Aktivitäten auf Räume, Orte, Umgebungen und Landschaften Einfluss nehmen.

Weniger unmittelbar zu beobachten, aber ebenso wichtig, ist die Totalität von Regierungspraktiken jenseits der unmittelbaren Gesetzgebung, durch die die soziale Akzeptanz und Legitimität von militärischen Aktivitäten und Anstrengungen gefördert wird. Während in modernen fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratien diese Prozesse, durch die die zivile Akzeptanz hergestellt wird, in relativ gutgemeinter Absicht oder als Spiegelung historischer Prioritäten und Glaubensbekenntnisse stattfinden mögen, bleibt zu betonen, dass die Priorisierung militärischer Angelegenheiten innerhalb ziviler Bereiche ständige Akte der Verfestigung der Vorstellung ihrer Legitimität erfordern. Dieses sind Handlungen des Staates jenseits der Gesetzesebene. Hierzu zählen etwa die Formen, in denen der Staat das Gedenken und die Erinnerung an die Opfer vergangener Konflikte rahmt und organisiert, oder die Praxis der Behandlung ehemaligen Militärpersonals und ihrer Familien. Solche Praktiken und Effekte eines erweiterten Regierens bei militärischen Angelegenheiten zu ignorieren, würde ein unvollständiges Bild der Formen ergeben, in denen militärische Aktivitäten und Militarismus ständig ausgehandelt werden.

Die Steuerung der Rhetorik und des Diskurses über Sicherheit

Der letzte Bereich ist das eher abstrakte Gebiet der Rhetorik und des Diskurses über Sicherheit, durch das militärischem Dasein und seinen Praktiken Bedeutung verliehen wird. Dabei beziehe ich mich sowohl auf die Sprachen, in denen militärische Kontrolle und militärische Macht diskutiert wird, als auch auf die Ideensysteme, durch die diese Steuerung zusammengeführt wird. Die materiellen Ergebnisse militärischer Strategien zur Landnutzung beispielsweise werden untermauert durch begriffliche Praktiken, die Argumente bezüglich der Legitimität solcher Landnutzung und seiner Auswirkung sowie hinsichtlich der Priorisierung militärischer Praktiken gegenüber anderen Raumansprüchen hervorbringt. Die analytische Aufgabe besteht dabei darin zu prüfen, wie die Rhetorik und die Diskurse, durch die militärische Fertigkeiten gerahmt werden, sich in Praktiken umsetzen, d.h. in die Gestaltung sozialer Beziehungen in Räumen und in materielle Manifestationen militärischer Macht vor Ort.

Dies ist ein Aspekt, bei dem nationale Besonderheiten herausragen. Streitkräfte sind zu aller erst nationales Militär, das hinsichtlich seiner Existenz von der Legitimation des Nationalstaates abhängig ist. Die Bedeutungen, die militärischer Macht zugeschrieben werden, erhalten ihren Stellenwert im Rahmen von Argumenten und Interpretationen, die vor allem der staatlichen Ebene entspringen. Letztlich leiten die Bedeutungen, die den nationalen Streitkräften gegeben werden und die Mechanismen, durch die das geschieht, die Argumentationen, die bezüglich der Legitimität der Praktiken dieser Streitkräfte gemacht werden, wenn es um die Raumnutzung für Basen und Training, die Werturteile hinsichtlich der ökonomischen Auswirkungen des Militärs auf lokale, regionale und nationale Ökonomien oder um die moralische Erörterung über die Akzeptabilität von ökologischen und landschaftlichen Auswirkungen militärischer Aktivitäten geht. Die Abdrücke auf der Erde, die diese Aktivitäten hervorrufen, und die Lebenswege, die sie gestalten und bewegen, umgeben uns. Militärische Geographien beinhalten nicht nur die materiellen Effekte militärischer Aktivitäten in konflikthaften und nicht-konflikthaften Situationen, sondern auch das System von Vorstellungen, das diesen Bedeutung zuweist und auf diese Weise stark daran beteiligt ist, diese aufrecht zu erhalten.

Literatur

Woodward, R. (2004): Military Geographies. Oxford: Blackwell.

Woodward, R. (2005): From Military Geography to militarism’s geographies: disciplinary engagements with the geographies of militarism and military activities. Progress in Human Geography 29:6, 718-740.

Dr. Rachel Woodward lehrt an der School of Geography and Sociology der Newcastle University.
Übersetzung: Fabian Virchow

Militaristische und antimilitaristische Einstellungen in Deutschland

Militaristische und antimilitaristische Einstellungen in Deutschland

Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung

von J. Christopher Cohrs und Elmar Brähler

Im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung führt das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SOWI) regelmäßig repräsentative Bevölkerungsumfragen zum »sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsklima« in Deutschland durch. Nach diesen Umfragen, insbesondere nach der jüngsten, Ende Mai bis Ende Juni 2008 durchgeführten, erscheint die Bundeswehr in einem sehr positiven Licht (SOWI, 2008). Doch wie fundiert sind diese scheinbar Militär befürwortenden Positionen wirklich? Und wo kann militärkritische Aufklärung anknüpfen? Um Informationen zu diesen und ähnlichen Fragen zu erhalten, haben die Autoren in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage grundlegendere (anti-)militaristische Einstellungen in Deutschland untersucht.

Zur Veranschaulichung des positiven Lichts, in dem die Bundeswehr den SOWI-Umfragen zufolge gesehen wird, folgt eine Auswahl der Ergebnisse aus dem Jahre 2008 (die Ergebnisse aus dem Jahre 2007 vermitteln ein nahezu identisches Bild; s. SOWI, 2007):

„Das Vertrauen in die Bundeswehr ist außerordentlich groß.“ (S.18)

„Die Mehrheit der Bundesbürger vertritt eine positive Einstellung zur Bundeswehr.“ (S.19)

„Die Leistungen der Bundeswehr bei den Einsätzen im In- und Ausland finden breite Anerkennung.“ (S.21)

„Die Bevölkerungsmehrheit will die Bundeswehr mit zahlreichen Aufgaben im Ausland betraut wissen.“ (S.23)

„Es gibt eine breite Unterstützung der Bevölkerung für Anti-Terror-Einsätze der Bundeswehr auch in Deutschland.“ (S.24)

„Die Auslandseinsätze der Bundeswehr werden von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt.“ (S.27).

Einen etwas abweichenden Eindruck bekommt man jedoch bei den Präferenzen bezüglich der Verwendung von Steuereinnahmen. Hier wurden zehn politisch-gesellschaftliche Bereiche zur Auswahl angeboten, von denen drei ausgewählt werden sollten (z.B. »Armutsbekämpfung«, »Bildungssystem«, »Umweltschutz« und eben auch »Ausrüstung und Bewaffnung der Bundeswehr«). Nur sehr wenige Befragte gaben an, dass eventuelle steuerliche Mehreinnahmen für die Bundeswehr verwendet werden sollten; viele sahen in der Bundeswehr eine der bestgeeigneten Möglichkeiten, bei geringeren Steuereinnahmen zu sparen (S.36).

Es besteht somit ein Paradox dahingehend, dass die Bundeswehr inklusive ihrer Einsätze und Leistungen für sich betrachtet sehr positiv gesehen wird, dass sie aber auch als vergleichsweise wenig unterstützenswert gilt, wenn sie im Kontext anderer politisch-gesellschaftlicher Bereiche bzw. Aufgaben beurteilt wird. Bedeutet dies, dass die Bevölkerung in Deutschland nur oberflächlich betrachtet positiv gegenüber dem Militär eingestellt ist? Um tiefergehende Einstellungen gegenüber militärischen Aufgaben und Einsätzen zu untersuchen, haben wir in einer repräsentativen Umfrage (anti-)militaristische Einstellungen in der Bevölkerung durchgeführt.

Militaristische bzw. antimilitaristische Einstellungen

Im Unterschied zum Ansatz der SOWI-Studien, deren Fragen sich zumeist auf konkrete Aspekte der Bundeswehr beziehen, sind militaristische bzw. antimilitaristische Einstellungen allgemeiner und umfassender konzeptualisiert. Neben (a) militär- bzw. sicherheitspolitischen Präferenzen (z.B. Befürwortung vs. Ablehnung von militärischen Interventionen oder der Entwicklung neuer Waffensysteme, Wunsch nach Erhöhung vs. Verringerung des Militärhaushalts) umfassen sie (b) kognitiv-funktionale Beurteilungen der Zweck- bzw. Unzweckmäßigkeit und (c) ethisch-moralische Beurteilungen der Legitimität bzw. Illegitimität militärischer Gewalt im Allgemeinen (Cohrs, 2004). In unserer Studie wurden außerdem zwei weitere Bereiche berücksichtigt: (d) die emotionale Bewertung des Militärischen sowie (e) Überzeugungen darüber, wie (un-)vermeidbar Krieg ist. Wir gehen davon aus, dass die Ansichten der Befragten zu den genannten fünf Bereichen Ausdruck einer einheitlichen zugrunde liegenden Einstellungsdimension sind, hier benannt als militaristische vs. antimilitaristische Einstellungen (vgl. auch Nelson & Milburn, 1999).

Jeder der genannten Bereiche wurde mit zwei Fragen abgedeckt, von denen jeweils eine in die militaristische Richtung und die andere in die antimilitaristische Richtung formuliert war. Insgesamt wurden 2.524 Personen in persönlichen Interviews befragt. Die Befragung wurde im Auftrag der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig von Mai bis Juni 2008 durch das Meinungsforschungsinstitut USUMA (Berlin) durchgeführt. Die folgenden Analysen wurden auf die 2.426 Befragten mit deutscher Staatsangehörigkeit begrenzt, da AusländerInnen in der Stichprobe unterrepräsentiert waren. Die Tabelle gibt – geordnet nach den fünf Bereichen – den Wortlaut der Fragen und die (ungewichteten) Zustimmungsanteile in der Gesamtstichprobe wieder (auf Schätzskalen von 1 für »trifft nicht zu« bis 5 für »trifft zu«).

»trifft nicht zu« »trifft zu« M SD
  1 2 3 4 5    
Militär-/sicherheitspolitische Präferenzen
Die Bundeswehr sollte mit modernerer Technik ausgerüstet werden. 10 14 38 25 13 3.16 1.13
Deutschland sollte weniger Geld für Rüstung ausgeben. 5 13 36 22 25 3.47 1.14
Kognitiv-funktionale Beurteilung: (Un-)Zweckmäßigkeit militärischer Gewalt
Ein Staat muss über militärische Stärke verfügen, damit er bei
internationalen Konflikten glaubhaft verhandeln kann.
11 15 40 25 9 3.06 1.09
Schon die Androhung militärischer Gewalt richtet
im Allgemeinen großen Schaden an.
6 13 33 29 20 3.44 1.12
Ethisch-moralische Beurteilung: (Il-)Legitimität militärischer Gewalt
Krieg ist grundsätzlich moralisch verwerflich. 5 8 21 27 38 3.85 1.17
Krieg kann ethisch gerechtfertigt sein,
um Freiheit und Menschenrechte zu schützen.
15 20 37 21 7 2.86 1.13
Emotionale Bewertung des Militärischen
Ich empfinde alles Militärische als abstoßend. 9 16 26 25 25 3.42 1.26
Ich kann nachempfinden,
wenn jemand militärische Werte und Tugenden bewundert.
26 26 30 13 4 2.42 1.14
Glaube an die (Un-)Vermeidlichkeit von Krieg
Krieg ist aufgrund der Natur des Menschen unvermeidlich. 29 24 24 16 7 2.47 1.25
Im Prinzip wäre auch eine Welt ohne Kriege möglich. 6 11 22 25 36 3.73 1.22

Die Zustimmungsanteile und Mittelwerte ergeben ein Bild, das in seinem Grundton den zusammengefassten Ergebnissen der SOWI-Umfrage entgegengesetzt erscheint. Die Bevölkerung meint zu großen Teilen, dass Deutschland weniger Geld für Rüstung ausgeben sollte; sie glaubt eher, dass schon die Androhung militärischer Gewalt Schaden anrichtet; sie hält Krieg mehrheitlich für grundsätzlich moralisch verwerflich und hat Zweifel, dass Krieg ethisch gerechtfertigt sein kann, um Freiheit und Menschenrechte zu schützen; sie reagiert emotional negativ auf das Militärische; und sie glaubt eher nicht, dass Krieg unvermeidlich ist. Abweichungen von diesem eher antimilitaristischen oder zumindest militärkritischen Trend bestehen lediglich darin, dass es mehr Zustimmung als Ablehnung zu den Aussagen gibt, dass die Bundeswehr mit modernerer Technik ausgerüstet werden solle und dass ein Staat über militärische Stärke verfügen müsse, um glaubhaft verhandeln zu können.

Demografische Unterschiede

Für die Untersuchung von Unterschieden zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen haben wir die Antworten auf die 10 Fragen für jede befragte Person zu einem Militarismus-Antimilitarismus-Wert zusammengefasst, bei dem hohe Werte für militaristische Einstellungen und niedrige Werte für antimilitaristische Einstellungen stehen. Der Wertebereich liegt wiederum zwischen 1 und 5; das Gesamtmittel hat den Wert M = 2.61, liegt damit eindeutig auf der antimilitaristischen Seite des Skalenmittelpunkts.1 Auf der Basis früherer Untersuchungen ließ sich erwarten, dass Unterschiede bestehen zwischen Männern und Frauen, Befragten in West- und Ostdeutschland, WählerInnen verschiedener politischer Parteien, Befragten mit unterschiedlicher Bildung sowie zwischen Mitgliedern der christlichen Kirchen und Nichtmitgliedern (vgl. Brähler & Richter, 2000; Cohrs, 2004; Henseler & Cohrs, 2008; Meyer, 2004). Weiterhin ist die Frage interessant, in welchem Maße militaristische Einstellungen mit rechten oder rechtsextremen Einstellungen einhergehen (vgl. Kohr, 1993).2 Eine simultane Analyse der Einflüsse dieser Variablen ergab folgendes Bild (geordnet nach der Größe des jeweiligen Einflusses; N = 2.368):3

Mit stärkerer Zustimmung zu rechtsextremistischen Positionen sind militaristischere Einstellungen zu verzeichnen (ç2 = .058).

Männer (M = 2.78) sind militaristischer eingestellt als Frauen (M = 2.45; ç2 = .052).

Es bestehen Unterschiede in Abhängigkeit von Parteipräferenzen (ç2 = .019). Am stärksten ausgeprägt sind militaristische Einstellungen bei Personen, die angeben, die Republikaner zu wählen, wenn am kommenden Sonntag Wahlen wären (M = 3.57), am schwächsten bei SympathisantInnen der Linkspartei (M = 2.34), gefolgt von SympathisantInnen von Bündnis 90/Grüne (M = 2.45) und der FDP (M = 2.54).

Es bestehen Unterschiede zwischen verschiedenen Altersgruppen (ç2 = .009). Am stärksten ausgeprägt sind militaristische Einstellungen bei Personen bis 24 Jahre (M = 2.63) und in der Altersgruppe von 25 bis 34 Jahre (M = 2.69).

Personen in Ostdeutschland sind weniger militaristisch eingestellt (M = 2.48) als Personen in Westdeutschland (M = 2.64; ç2 = .004).

Es bestehen keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen unterschiedlichen Bildungsgruppen und auch keine signifikanten Unterschiede zwischen Mitgliedern der christlichen Kirchen und Nichtmitgliedern.

Interpretationsversuche

Nach unseren Ergebnissen beruhen die positiven Einstellungen der Bevölkerung zur Bundeswehr und ihren Aufgaben, wie sie sich in den Befragungen des SOWI (2007; 2008) zeigen, nicht auf fundierten militaristischen Einstellungen. Die Bevölkerung in Deutschland ist insgesamt eher kritisch gegenüber Krieg, militärischer Gewalt und dem Militär eingestellt, wenn direkt danach gefragt wird. Die Diskrepanz zwischen den SOWI-Ergebnissen und unseren Ergebnissen lässt sich möglicherweise zum Teil auf methodische Unterschiede zurückführen, wie z.B. auf die Verwendung unterschiedlicher Antwortskalen. Doch auch eine substanzielle Erklärung ist möglich.

Vermutlich assoziieren viele Menschen die Bundeswehr und ihre Aufgaben und Tätigkeiten nicht vordringlich mit Krieg und militärischer Gewalt, sondern mit humanitären Einsätzen und der »internationalen Verantwortung Deutschlands«. Ein solcher Interpretationsrahmen wird nicht nur durch die Öffentlichkeitsarbeit des zuständigen Ministeriums gezielt angestrebt, sondern auch in der SOWI-Befragung (2008) hergestellt. So wurde z.B. gefragt, ob Deutschland „(1) eher eine aktive Politik verfolgen und bei der Bewältigung von Problemen, Krisen und Konflikten mithelfen oder (2) sich eher auf die Bewältigung der eigenen Probleme konzentrieren und sich aus Problemen, Krisen und Konflikten anderer möglichst heraushalten“ sollte (S.14). Auch antimilitaristisch eingestellte Personen können eindeutig Alternative 1 befürworten. Weiterhin wurden den Befragten zahlreiche moralisch akzeptable Aufgaben der Bundeswehr zur Bewertung vorgelegt, z.B. „die Opfer einer Naturkatastrophe mit Nahrungsmitteln versorgen“, „einen terroristischen Anschlag in Deutschland verhindern“ und „einen Völkermord verhindern“ (S.24). Abermals wollen natürlich auch antimilitaristisch orientierte Personen solche Ziele erreicht sehen. Hätte man danach gefragt, wie diese Aufgaben angegangen werden sollten, und hätte man den Befragten andere Wege als den Einsatz der Streitkräfte als Alternativen angeboten, wäre die Zustimmung zur Bundeswehr, wie bei den oben erwähnten Fragen zu eventuellen Steuermehr- bzw. Steuermindereinnahmen, sicherlich geringer ausgefallen.

Diese Überlegungen zeigen Ansatzpunkte für Friedensbewegte auf. Es kommt darauf an, bekannter zu machen, wie wichtige internationale Aufgaben ohne militärische Mittel erfolgreich bearbeitet werden können, um so die Assoziation zwischen »der Bewältigung von internationalen Problemen, Krisen und Konflikten« und dem Militär zu schwächen. Dabei erscheint es vordringlich, sich an junge Menschen zu wenden, da militaristische Einstellungen in dieser Gruppe überrepräsentiert sind. In Anbetracht unserer Ergebnisse zur Verbreitung militärkritischer Einstellungen in der Bevölkerung dürften solche Versuche auf fruchtbaren Boden fallen.

Literatur

Brähler, E. & Richter, H.-E. (2000): Zukunftserwartungen und Einstellungen zu politischen Fragen der Deutschen an der Schwelle des neuen Jahrhunderts. In: O. Decker & E. Brähler (Hrsg.), Deutsche – 10 Jahre nach der Wende. Psychosozial Nr. 80, S.39-45. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Cohrs, J.C. (2004): Militarismus-Pazifismus als Einstellungsdimension. In: G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.), Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie (S.290-302). Weinheim: Beltz.

Decker, O. & Brähler, E. unter Mitarbeit von N. Geißler (2006): Vom Rand zur Mitte: Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Henseler, A.-K. & Cohrs, J.C. (2008): Wie friedfertig sind die Frommen? Christliche Religiosität und militaristische Einstellungen. Wissenschaft und Frieden 26 (3), S.6-9.

Kohr, H.-U. (1993): Rechts zur Bundeswehr, links zum Zivildienst? Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den alten und neuen Bundesländern Ende 1992. SOWI-Arbeitspaper Nr. 77. München: SOWI.

Meyer, B. (2004): Meinungsentwicklung zu Bundeswehr und Sicherheitspolitik. In: G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.), Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie (S.250-262). Weinheim: Beltz.

Nelson, L.L. & Milburn, T.W. (1999): Relationships between problem-solving competencies and militaristic attitudes: Implications for peace education. Peace and Conflict: Journal of Peace Psychology 5, S.149-168.

Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr (2007): Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland: Erste Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung 2007 des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. Strausberg: SOWI.

Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr (2008): Bevölkerungsbefragung 2008: Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in Deutschland. Kurzbericht. Strausberg: SOWI.

Anmerkungen

1) Die Zusammenfassung der Fragen zu einem Skalenwert ist dadurch gerechtfertigt, dass die Fragen theoretisch Indikatoren einer Einstellungsdimension sind und die Antworten empirisch miteinander korrelieren (Cronbach‘s á, ein Maß für die »interne Konsistenz« der Skala, liegt bei einem akzeptablen Wert von 0.77).

2) Rechtsextreme Einstellungen wurden mit dem aus 18 Fragen bestehenden Fragebogen von Decker und Brähler (2006) erfasst, der folgende sechs Bereiche berücksichtigt: Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur, Chauvinisms, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus.

3) Die Variablen wurden als gemeinsame Prädiktoren in ein Allgemeines Lineares Modell aufgenommen. Im Vergleich zu einzelnen Analysen der demografischen Unterschiede hat dies den Vorteil, dass Verzerrungen infolge von Überlappungen zwischen den Variablen (z.B. unterschiedliche Parteipräferenzen in Ost- und Westdeutschland; Zusammenhänge zwischen Bildungsstand und Alter) statistisch ausgeglichen werden. In Klammern sind für jeden Einflussfaktor sogenannte Effektgrößen (Eta-Quadrat) angegeben. Diese Werte sagen aus, welche Anteile in den Unterschieden in (anti-)militaristischen Einstellungen durch die jeweilige Variable erklärbar sind.

Dr. Christopher Cohrs ist Lecturer für Sozialpsychologie an der Queen‘s University Belfast, Nordirland, und arbeitet dort im neugegründeten Centre for Research in Political Psychology (CResPP). Außerdem ist er Vorstandsmitglied des Forums Friedenspsychologie. Arbeitsschwerpunkte: sozialpsychologische Friedensforschung, Autoritarismus, Vorurteile.
E-Mail: c.cohrs@qub.ac.uk.

Prof. Elmar Brähler ist Leiter der Selbständigen Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig, zurzeit Prodekan der Medizinischen Fakultät in Leipzig sowie Kollegiat der DFG. Arbeitsschwerpunkte: Psychodiagnostik, Somatisierungsstörungen, Rechtsextremismus- und Migrationsforschung.
E-Mail: elmar.braehler@medizin.uni-leipzig.de.