Bundeswehreinsatz im Inland?

Bundeswehreinsatz im Inland?

von Burkhard Hirsch

Im Jahr 2008 gab es erneut verschiedene politische Versuche, die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inland auszuweiten; derartige Versuche stellen einen Schritt zur Erweiterung der mit den Notstandsgesetzen erlassenen Möglichkeiten dar. Im Rahmen der Festveranstaltung zum 25-jährigen Bestehen von »Wissenschaft & Frieden« nahm Dr. Dr. h.c. Burkhard Hirsch, ehemaliger NRW-Innenminister und Bundestagsvizepräsident a.D., zu dieser Thematik Stellung. Er hat uns freundlicherweise sein Vortragsmanuskript zur Verfügung gestellt.

Vor über 50 Jahren habe ich versucht, an der Philipps-Universität zu Marburg über den Wandel des Kriegsbegriffs und die Rechtsnatur der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu promovieren. Das misslang, weil die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, die von Frankreich vorgeschlagen worden war, in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Diesmal hat mich die Bundeskoalition mit dem Vorschlag überrascht, sie durch eine Verfassungsänderung zum Einsatz der Bundeswehr im Inland zu ermächtigen.

Um so mehr freut es mich, dass ich heute über die Bundeswehr hier in diesem altehrwürdigen Rathaus reden kann, das ich nach vielen Studentenjahren in dieser großartigen Stadt heute zum ersten Mal betreten konnte.1

Bekenntnis

Wenn man kritische Bemerkungen machen will, sollte man zuvor ein Bekenntnis ablegen. Auch Liberale betrachten den Staat nicht als einen Nachtwächter, der den Mäusen gelassen zusieht, wenn sie auf den Tischen herumtanzen. Denn auf den schwachen Staat folgt immer der Ruf nach dem starken Mann, nach dem Retter im Chaos. Der Bürger fordert, erwartet und verlangt, dass der Staat ihn und seine Rechte wirksam schützt. Gleichwohl gilt die Einsicht des Kirchenvaters Augustinus, dass der Staat sich von einer organisierten Räuberbande nur durch das Recht unterscheidet. Der Staat soll den Bürger schützen, indem er die Rechtsordnung durchsetzt. Er darf sich nur der Mittel bedienen, die ihm die Rechtsordnung zu diesem Zweck einräumt.

Das ist, wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betonen musste, auch bei der Bekämpfung schwerer terroristischer Gewaltverbrechen geltendes Verfassungsrecht.2 Es formuliert: „Das gilt auch für die Verfolgung fundamentaler Staatszwecke der Sicherheit und des Schutzes der Bevölkerung. Die Verfassung verlangt vom Gesetzgeber, eine angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen. Das schließt nicht nur die Verfolgung des Zieles absoluter Sicherheit aus, welche ohnehin faktisch kaum, jedenfalls aber nur um den Preis einer Aufhebung der Freiheit zu erreichen wäre. Das Grundgesetz unterwirft auch die Verfolgung des Zieles, die nach den tatsächlichen Umständen größtmögliche Sicherheit herzustellen, rechtsstaatlichen Bindungen, zu denen insbesondere das Verbot unangemessener Eingriffe in die Grundrechte“ gehört. „In diesem Verbot finden auch die Schutzpflichten des Staates ihre Grenze.“3

Unsere Polizisten und die Bundeswehr sind demokratisch ausgebildet. Sie sind sich bewusst, dass von ihnen Rechts- und Verfassungstreue erwartet wird. Aber das bewahrt sie nicht vor Fehlern, vor Missbrauch und vor politischen oder gesetzgeberischen Fehlentscheidungen.

Nach diesen Bekenntnissen möchte ich nun für eilige Hörer das, was ich sagen will, vorab in wenigen Worten zusammenfassen.

Verfassungswidriges Ermächtigungsgesetz

1. Das Grundgesetz erlaubt den Einsatz der Bundeswehr im Inland nur in wenigen Fällen. Der »war on terror« gehört dazu nicht. Diese Formel und die Ausrufung des Bündnisfalles der NATO belebten eine alte Illusion, man könne den Terrorismus mit einer Art Krieg besiegen. Das ist nie gelungen. Darum war es von großer Bedeutung, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Luftsicherungsgesetz4 ausdrücklich betonte, dass

Art. 87a Abs. 2 GG über den Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung nach dem Gebot der strikten Texttreue auszulegen ist, also nicht den üblichen Auslegungskünsten unterworfen werden darf,

die Bundeswehr bei der Katastrophenhilfe nach Art. 35 GG keinen Kampfeinsatz, sondern Unglückshilfe leistet und daher dem Polizeirecht des jeweiligen Bundeslandes unterworfen ist, und schließlich dass

es in einem Rechtsstaat schlechthin undenkbar ist, ihn gesetzlich zur vorsätzlichen Tötung Unschuldiger zu legitimieren. Auch durch eine Verfassungsänderung kann also der Einsatz von militärischen Waffen nicht erlaubt werden, die zur sicheren Tötung Unbeteiligter als zwar bedauerlicher, aber leider unvermeidbarer Kollateralschaden führen würden.

Der Rettungstotschlag ist verboten, auch wenn er mit militärischen Waffen erfolgen soll. Der Verteidigungsminister erklärte zwar ungerührt, er werde notfalls weiter den Abschuss eines entführten Passagierflugzeuges »befehlen«, ohne zu begreifen, dass er da nichts mehr zu befehlen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat es zu seinem Erstaunen offen gelassen, ob er sonst vor einem Schwurgericht wegen Totschlags landen würde.

Die einfältigste Rede, die dazu im Bundestag gehalten wurde, stammt von dem Abgeordneten Dr. Hans Peter Uhl, der unter dem Beifall seiner Fraktion empört fragte, man müsse doch etwas tun können, wenn sich auf dem Marienfeld zu Köln Hunderttausende in Erwartung des Papstes zu einer Messe eingefunden hätten und sich ein von Terroristen entführtes Flugzeug nähere! Ich habe ihn gefragt, wie er denn entscheiden würde, wenn sich im entführten Flugzeug der Papst befände. Leider hat er mir nicht geantwortet.

2. Seit diesem Urteil wird mit allen rhetorischen Mitteln versucht, einen vermuteten terroristischen Angriff zu einem Fall der Landesverteidigung zu machen, sei es nach den vermuteten Motiven der Täter oder dem Umfang des befürchteten Schadens oder wenn das entführte Flugzeug wenigstens aus dem Ausland eingeflogen ist.5 Das alles scheitert schon an der Feststellung des BverfG, dass ein Attentat dieser Art weder die Rechtsordnung noch die Existenz des Staates gefährde. Wer versucht, das Urteil mit einer Neudefinition des Begriffes Verteidigung zu umgehen, verlässt den Boden der Verfassung.6 Die Verfolgung terroristischer Straftäter ist kein Krieg. Sie sind keine Soldaten, sondern Verbrecher.

3. Die von Vertretern der Koalition kürzlich vorgeschlagene Verfassungsänderung würde zu einer heillosen Vermischung von Unglückshilfe und Kampfeinsatz führen. Sie wäre im Kern ein Ermächtigungsgesetz. Der Verteidigungsminister könnte, wenn er das für notwendig hält, durch kein Gesetz begrenzte Kampfeinsätze der Bundeswehr im Innern anordnen, wenn er einen besonders schweren Unglücksfall befürchtet, ohne jede Kontrolle durch das Parlament oder durch wen auch immer. Das ist ein Bruch mit allen bisherigen Verfassungstraditionen und empörend in seiner Maßlosigkeit.

Wir stehen immer wieder vor der Frage, ob und welche Rechte und Freiheiten wir um der Sicherheit willen aufzugeben bereit sind, ob und wie weit wir uns von den Gegnern unserer Rechtsordnung und unserer Art zu leben, dazu bringen lassen, gerade das aufzugeben, was wir verteidigen sollten. Das möchte ich nun mit Ihnen etwas näher betrachten.

Innenpolitische Aufrüstung

Es gibt offenbar zwei Entwicklungslinien, die für unser Thema bedeutsam sind, nämlich zum Einen das nahezu unbegrenzte Sicherheitsbedürfnis und zum Anderen, die Bundeswehr durch neue Aufgaben als normales politisches Instrument zu legitimieren.

1. Das Sicherheitsbedürfnis des normalen Bürgers steht in keinem realistischen Verhältnis zu den Gefahren durch Kriminalität, sowohl durch Terrorismus wie durch konventionelle Straftäter. Eine breite Öffentlichkeit schätzt die Kriminalität weit überhöht ein und verkennt zunehmend die kriminologische Wirklichkeit. Das hat Gründe.

Wer sich als Retter profilieren und unentbehrlich machen will, der muss sein Opfer davon überzeugen, dass es in einer Welt dräuender apokalyptischer Schrecken und Gefahren lebt. »Nacht muss es sein, wo Friedlands Sterne strahlen!« Da ist man verloren, wenn man sich nicht einer tatkräftigen Regierung anvertrauen kann, geborener Retter im »war on terror, on drugs, on organized crime«, überall in einem Krieg, der nicht erklärt wurde und der ohne Frieden sein wird.

Wir haben in den letzten 40 Jahren unter dem Stichwort einer neuen »Sicherheitsarchitektur« eine innenpolitische Aufrüstung ohnegleichen nach immer denselben Regeln erlebt. Ein Staat, der aufgerüstet werden soll, braucht zunächst Gegner. Es sind immer welche da, Mafia, Geldwäscher und kriminelle Schlepperbanden, Pädophile und Rauschgifthändler, Organisierte Kriminalität, Wirtschaftsflüchtlinge und vor allem Terroristen, terroristische Vereinigungen nationaler, internationaler und transnationaler Art, Islamisten, Hassprediger und ganz allgemein »Gefährder« und »Schläfer«, also Noch-nicht-täter vielleicht mit bösen Gedanken. Zu allen diesen Tätern gehören »Sympathisanten«, Mitläufer und »Kontakt- und Begleitpersonen«, ihr eingeweihtes oder ahnungsloses menschliches Umfeld. Terroristen sind die apokalyptischen Reiter der Reaktion.

»Wo die Gefahr wächst, da wächst das Rettende auch«. Die innenpolitische Aufrüstung führte von der ständig wachsenden Ausdehnung heimlicher und präventiver Überwachungsmaßnahmen durch Polizei und »Dienste« bis zur vorbeugenden Verwanzung der PC’s und der Sammlung aller Telekommunikationskontakte aller EU-Bürger, einschließlich der Standorte ihrer stand-by-geschaltenen Handys, auf mindestens sechs Monate ohne konkreten Anlass, nur mal eben so, auf Vorrat, um sie bei Bedarf zur Strafverfolgung, Gefahrenabwehr oder für nachrichtendienstliche Zwecke verwenden zu können.

Natürlich kann die Polizei in ihrer technischen und personellen Ausrüstung nicht auf dem Stand von 1970 bleiben. Eine moderne Kriminalitätsbekämpfung ist ohne Datenverarbeitung nicht mehr möglich. Aber das berechtigt nicht dazu, traditionelle Rechtsgrundsätze über Bord zu werfen oder bis zur Unkenntlichkeit zu durchlöchern, wie die Unschuldsvermutung, die Gedankenfreiheit, das Beichtgeheimnis, das Zeugnisverweigerungsrecht, das Bankgeheimnis, das Post- und Fernmeldegeheimnis, den Schutz der Wohnung vor Lausch- und Spähangriffen und vor heimlichen Durchsuchungen, den Schutz der PC’s vor heimlich installierten Wanzen, also den Schutz des Kernbereichs der privaten Lebensführung.

Die Diskussion darüber, ob man wenigstens im Notfall ein bisschen foltern dürfe und ob man unser gutes Recht überhaupt auf Feinde des Rechtsstaates anwenden müsse, ist nicht nur deswegen beschämend, weil sie ganz unverhüllt geführt worden ist. Würden wir dem folgen, dann stellten wir nicht nur diese Feinde, sondern uns selbst außerhalb der Rechtsordnung. Offenbar trennt uns nur eine dünne Decke vom Rückfall in brutale Barbarei. Terrorismus ist auch eine Einladung zur Selbstzerstörung.7

2. Bei der Einordnung der Bundeswehre in die inländische »Sicherheitsarchitektur« waren deutsche Verfassungen nicht immer so zurückhaltend wie das Grundgesetz. Die Reichsverfassung von 1871 erlaubte dem Kaiser, jeden Teil des Reiches – natürlich nur außerhalb Bayerns! – als »im Kriegszustand« zu erklären. Immerhin hatte sich der spätere Kaiser Wilhelm schon im März 1848 den Namen »Kartätschenprinz« verdient und ließ das Militär auf Anforderung von »Civilbehörden« wiederholt bei Arbeitskämpfen und zur Bundesexekution auch unter Einsatz von Schusswaffen einsetzen.

Der Weimarer Reichspräsident konnte „erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten“ und bestimmte Bürgerrechte „außer Kraft setzen“. Dazu bestand mehr Anlass als Bereitschaft. Geholfen hat es nichts. Der dritte Reichspräsident hatte ohnehin andere Vorstellungen über die Anwendung der bewaffneten Macht.

Das Grundgesetz schwieg bis zur Notstandsverfassung von 1969. Die damalige Opposition bestand darauf, den Einsatz der Bundeswehr im Inland auf wenige Fälle zu beschränken, auf die logistische und polizeiliche Katastrophenhilfe, auf bürgerkriegsartige Vorgänge und den Objektschutz im Spannungsfall. Aufgabe der Wehrpflichtarmee sollte die in Art. 115 a GG definierte Verteidigung sein und sonst nur das, was in der Verfassung ausdrücklich zugelassen wird – eine nach dem »Gebot der strikten Texttreue« auszulegende Einschränkung.

Der Sinn ist eindeutig. Die Bundeswehr soll bei innenpolitischen Auseinandersetzungen weder als ungelernte Hilfspolizei noch nach irgendwelchen kunstvollen Auslegungen des Verfassungstextes eingesetzt werden, sondern nur mit dem ausdrücklich in der Verfassung niedergelegten Willen der Rechtsgemeinschaft. Der Bundestag war sich der Möglichkeiten des Missbrauchs bewusst. Die Bundeswehr soll den Staat und nicht die Regierung oder irgendwelche Interessen verteidigen. Man wusste auch, dass es weder die Sicherheit noch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung fördern würde, wenn man bewaffnete Militärposten nach südamerikanischem Vorbild vor U-Bahnstationen, Hotels, Banken und Supermärkte stellen würde.

Motive

Für die Bemühungen, diese Selbstbeschränkung aufzugeben, gibt es ganz unterschiedliche Motive. Da war der Feldwebel, der bei dem ersten internationalen Einsatz der Bundeswehr in Somalia aus dem eben gelandeten Flugzeug mit den Worten kletterte: „Zurück in der Familie“! Er muss eine merkwürdige Familie haben. Es ging ihm darum, endlich als vollwertiger Soldat diesen ganzen elenden historischen Ballast, die lästige »Erinnerungskeule« an Krieg und Verbrechen abzuwerfen und wieder frisch anfangen zu können. Wo die Fahne weht, ist der Verstand in der Trompete.

Andere wollen – angesichts des offensichtlichen Fehlens einer unmittelbaren militärischen Bedrohung – die Bundeswehr mit dem Hinweis auf wachsende internationale Verpflichtungen und überhaupt mit neuen Aufgaben ausstatten, um die Zweifel an der Wehrgerechtigkeit und an den inflationären Kosten der Wehrtechnologie zu beantworten.

Natürlich sollte sich die Bundesrepublik nicht aus ihren internationalen Verpflichtungen lösen. Wenn wir uns isolieren, dann würden wir von unseren Nachbarn sehr schnell nicht als Glücksfall, sondern als Bedrohung empfunden werden. Darum ist es von eminenter politischer Bedeutung, dass die Verpflichtungen aus der NATO der Verteidigung dienen. Sie kann nicht ohne Verlust ihrer Glaubwürdigkeit zu einem weltweiten Interventionsbündnis im Widerspruch zum völkerrechtlichen Gewaltmonopol des Sicherheitsrates der UN ausgedehnt werden. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit.

In dem Beschluss der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 6. Mai 2008 »Eine Sicherheitsstrategie für Deutschland« wird jede denkbare Beeinträchtigung der ökonomischen oder ökologischen Interessen der Bundesrepublik, die Störung von Verkehrs-, Energie- und Finanzinteressen, die Offenhaltung des globalen Zugangs zu Kapital-, Absatz- oder Beschaffungsmärkten, die Energie- und Rohstoffversorgung, in gleicher Weise als Sicherheitsfrage behandelt, wie Terrorismus oder militärische Bedrohung. Zu all dem könne der Einsatz militärischer Mittel weltweit notwendig werden, auch vorbeugend. „Um Konflikten und Krisen vorzubeugen“, schreiben die Verfasser, „müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern unsere Fähigkeiten zur Prävention gezielt stärken, um kulturell und religiös angepasste Stabilisierungslösungen anbieten zu können.“ Das soll auf dem Balkan gelten, rund um das Mittelmeer und bei den Ländern „des kaukasischen, kaspischen und des zentralasiatischen Raums“ und im „Nahen und Mittleren Osten“. Auch Asien und Lateinamerika werden nicht ausgelassen. Das Völkerrecht sei diesen zentralen Herausforderungen anzupassen, nicht umgekehrt! Der Beschluss betont zwar die nötige Stärkung der internationalen Bündnisse und der Vereinten Nationen. Aber militärische Einsätze müssten auch ohne Mandat der Vereinten Nationen möglich sein. Das Papier fordert ohne Umschweife den Einsatz der Bundeswehr im Inland, die Transformation der Bundeswehr zu „flexiblen und auf Distanz verlegbaren, durchhaltefähigen Streitkräften“ und einen im Grundgesetz nicht vorgesehenen „Nationalen Sicherheitsrat“ mit Entscheidungskompetenzen.

Die Verfasser spielen mit dem Feuer: Wenn die Gefährdung oder Beeinträchtigung von Interessen zum Verteidigungsfall wird, der militärische Mittel rechtfertigen könnte, dann bedeutet das eine klare Absage an das bisherige Völkerrecht, an den in der UN-Satzung vereinbarten Gewaltverzicht und den offenkundigen Missbrauch des Rechts auf Selbstverteidigung.8

Das Papier beruht auf Überlegungen, die seit Jahrzehnten auch im Verteidigungsministerium angestellt wurden. Schon vor der Veröffentlichung des Weißbuchs 20069 hatte der Minister10 gefordert, den Begriff der Verteidigung um wirtschaftliche Interessen, zum Beispiel die Sicherung von Energielieferungen, zu erweitern und eine zivil-militärische Zusammenarbeit aufzubauen. Er hat inzwischen ohne gesetzliche Grundlage ein mit Reservisten bestücktes, bis in jeden Regierungsbezirk der Bundesländer organisiertes »SKUKdo« – Streitkräfteunterstützungskommando – als »ZMZ« – zivil-militärische Zusammenarbeit – eingerichtet, deren Aufgaben auch beim Katastrophenschutz unklar bleiben.

Entgrenzungen

Auch der Bundesinnenminister kollidiert mit der Verfassung11, wenn er terroristische, also politisch motivierte Verbrechen als »asymmetrischen Krieg« bezeichnet oder die „Auflösung des Gegensatzes von innerer und äußerer Sicherheit“ behauptet, um den Einsatz der Bundeswehr im Inland als »Verteidigung« darstellen und damit den Einsatz militärischer Waffen nach ungeschriebenem Kriegsrecht begründen zu können. „Die Verfassung“, klagte Schäuble schon 1996, „ist immer weniger das Gehege, in dem sich demokratisch legitimierte Politik entfalten kann, sondern immer stärker die Kette, die den Bewegungsspielraum der Politik lahm legt.“12 Will er die Verfassung wie eine lästige Kette sprengen? Das ist ein bedauernswerter Offenbarungseid eines bis dahin verdienten Ministers, der für die Verfassung zuständig sein will.

Es ist äußerste Aufmerksamkeit geboten, wenn versucht wird, die Grenzen zwischen Krieg und Frieden zu verwischen und den Einsatz der Bundeswehr mit militärischen Mitteln im Inland zu erlauben. Wer erklärt da wem den Krieg? Sind Terroristen Soldaten oder Verbrecher, bei deren Bekämpfung nicht Polizei- und Strafrecht, sondern zu Lasten der Bevölkerung allgemeines, nicht kodifiziertes Kriegsrecht gelten soll?

Daran ändert nichts, dass sich die Vereinigten Staaten nach dem 11.09.2001 auf das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta sowie auf zwei Resolutionen des Sicherheitsrates13 und auf die Feststellung des Bündnisfalls durch den Generalsekretär der NATO berufen. Die Resolutionen verurteilen zwar die Anschläge als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, autorisieren aber keine militärische Gewaltanwendung und enthalten keinen Anhaltspunkt dafür, dass nichtstaatliche Gewalt das Selbstverteidigungsrecht auslösen könnte.14 Der Bündnisfall der NATO ist kein Verteidigungsfall nach Art. 115 a GG und befreit die Mitgliedsstaaten natürlich nicht von den Regeln der eigenen Verfassung.

Ebenso ist es schlicht falsch, wenn neuerdings versucht wird, jedenfalls den Einsatz der Luftwaffe damit zu begründen, dass sie auch im Frieden vorsorglich dem Kommando der NATO unterstellt worden ist. Nach den dazu ausdrücklich getroffenen, zum Teil nicht veröffentlichten vertraulichen Vereinbarungen gilt das bei einem sog. »renegade« – also irregulären – Flug nur so lange, wie nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei ihm um ein militärisches Kampfflugzeug oder um einen Kampfhubschrauber handelt.

Handelt es sich um ein nichtmilitärisches Flugzeug, dann muss die Kommandogewalt unverzüglich von den deutschen Behörden angefordert und vor jeder weiteren Entscheidung auf das sog. »NLZFSiLuRa« – Nationales Leit- und Führungszentrum Sicherheit im Luftraum – in Kalkar übertragen werden, das nur nach deutschem Recht handeln kann.

Kriegsrecht oder nicht? Hier geht es nicht um juristischen Formalismus. Völkerrechtlich geht es um die Vorstellung, eigene Interessen mit militärischer Gewalt durchsetzen zu können. Und innerstaatlich geht es um die Loslösung von mühsam erkämpften rechtsstaatlichen Begrenzungen staatlichen Handelns bis hin zu dem Anspruch der Regierung, sogar über das Leben der Bürger verfügen zu können, wenn sie es für sinnvoll hält, also opportunistisch.

Möglicherweise kommt der Innenminister mit dem Vertrag von Lissabon, den der Deutsche Bundestag nahezu im parlamentarischen Blindflug verabschiedet hat, seinem Ziel einen Schritt näher. In der »Solidaritätsklausel« des Art. 222 AEUV versprechen sich die Mitgliedsstaaten auch den Einsatz militärischer Mittel im Inland zur Abwehr und zum Schutz vor terroristischen Bedrohungen, vorbeugend und ohne jede parlamentarische Beteiligung. Bei Anfragen hat die Bundesregierung im wesentlichen auf das Grundgesetz verwiesen. Aber schon wird gefordert, die Bundesrepublik habe sich durch den Vertrag verpflichtet, ihre Verfassung dieser europäischen Regelung anzupassen.15 Denn mit dem Vertrag sei statuiert, dass es sich um ein transnationales, nur gemeinsam zu lösendes Problem handele.

Kommt die Grundgesetzänderung?

Der nächste Schritt ist offenbar die nun von der gegenwärtigen Koalition geplante Verfassungsänderung über den Einsatz der Bundeswehr im Inland in einem neuen Art. 35 Abs. 4 und 5 GG. Man muss ihren juristischen Text in normales Deutsch übersetzen, damit klar wird, was er eigentlich bedeuten würde: Wenn der Bundesverteidigungsminister – oder vielleicht der Bundesminister des Innern? – der Auffassung ist, dass ein besonders schwerer Unglücksfall droht und dass zu seiner Abwehr polizeiliche Mittel nicht ausreichen, dann soll er entscheiden können, ob er die Bundeswehr im Inland mit militärischen Mitteln einsetzen und den Ländern Weisungen erteilen will. Das Parlament oder der Verteidigungsausschuss haben dabei nichts zu suchen.

Es soll weder darauf ankommen, ob der besonders schwere Unglücksfall unmittelbar bevorsteht, noch wie sicher sich der Minister bei seiner Prognose ist, noch darauf, ob er das Unglück als Folge eines konkreten Angriffs oder im Gefolge eines Massenprotestes gegen ein politisches Top-Ereignis erwartet. Es kommt auch nicht darauf an, ob er schwere Maschinengewehre, Raketen oder Sprengkörper einsetzen lässt, Panzer, Tornados oder Kriegsschiffe. Es soll auch nicht darauf ankommen, ob der Einsatz der militärischen Mittel nach Art und Umfang mit großer Sicherheit auch unbeteiligte Bürger töten lassen wird.

Das ist der eigentliche Trick des Vorschlags: Während die Polizei an das Polizeirecht gebunden ist, das exakt bestimmt, welche Mittel die Polizei einsetzen und wann sie von der Schusswaffe als letztem Mittel Gebrauch machen darf, gibt es solche Bestimmungen für Kampfeinsätze der Bundeswehr im Inland und für die Art der dabei einsetzbaren Waffen nicht.16 Es ist eine Ermächtigung auf Leben und Tod.

In Wirklichkeit soll die Verfassungsänderung den militärischen Einsatz der Bundeswehr im Inland von den Voraussetzungen des Inneren Notstands gemäß Art. 87 a Abs. 4 in Verbindung mit Art. 92 Abs. 2 GG lösen und in das Ermessen des Verteidigungsministers stellen, wenn der annimmt, dass jemand – aus welchem Motiv oder Anlass auch immer – ein besonders schweres Unglück herbeiführen will, das polizeiliche Fähigkeiten übersteigt. Die öffentliche Verharmlosung dieses Vorschlages ist unerträglich.

Diesem Vorhaben ist die Möglichkeit des eklatanten Missbrauchs immanent. Die Bundeswehr wird zum innenpolitischen Nothelfer. Die massiven Einsätze der Bundeswehr mit militärischen Mitteln zum Schutz der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 mit 3.200 Soldaten, 24 Spürpanzern »Fuchs« und 8 Pionierpanzern »Dachs«17 und zum Schutz des G8-Gipfels in Heiligendamm mit 2.500 Soldaten, Minenjagdbooten, 9 Panzerspähwagen »Fennek« und 14 »Tornado«-Kampfflugzeugen18 waren unrühmliche Anfänge, nachdem wir bis dahin allen Versuchungen widerstanden hatten und die Bundeswehr im Inland nur mit ihren personellen und ihren pioniertechnischen Möglichkeiten bei Katastrophen oder Unglücksfällen eingesetzt haben.

Es gilt auch hier, nicht erst den Anfängen, sondern dem bitteren Ende zu wehren. Wer Notstand predigt, wird Krieg ernten. Innere Sicherheit ist kein Selbstzweck. Sie muss dem inneren Frieden einer Gesellschaft dienen und nicht dazu, sie in einen Ausnahmezustand zu versetzen. Die Beschränkung der Bundeswehr als einer Wehrpflichtarmee auf die Aufgabe der Verteidigung gegen militärische Angriffe war eine elementare Grundentscheidung der Verfassung, die man weder tagespolitischen Wünschen, wirtschaftlichen Interessen oder der Haushaltslage der Bundesländer unterwerfen kann. Wir wissen, dass es Terrorismus gibt. Aber wir verlieren deswegen nicht die Fassung. Und wir sollten auch nicht bereit sein, seinetwegen die Verfassung zu verlieren.

Anmerkungen

1) Vortrag in Anlehnung an den Aufsatz »Nothelfer Bundeswehr?« in: Verfassungsreport 2009.

2) BverfG (Rasterfahndung) NJW 06, 1939 ff, TextZ. 126.

3) BverfG (Rasterfahndung) a.a.O. TextZ. 128, 129. Vgl. aus der inzwischen fast uferlosen Literatur insb. Lange (2005): Eckpunkte einer veränderten Sicherheitsarchitektur f.d. Bundesrepublik, Gutachten, Marburg/Duisburg; Linke: Innere Sicherheit durch die Bundeswehr? Zu Möglichkeiten und Grenzen der Inlandsverwendung der Streitkräfte, Arch. D. öff. Rechts 04, 489ff.; Pütter (2008): Im Feld der Inneren Sicherheit. Über den Vormarsch der Bundeswehr in der Heimat, CILIP-Bürgerrechte und Polizei Nr. 2/2008, S.32 ff.

4) BverfGE 115, 118 ff.

5) Vgl. etwa Wiefelspütz, ZRP 07, 19; ders. NZWehrr 05, 146 ff.; Gramm: Die Bundeswehr in der neuen Sicherheitsarchitektur, DV 08, 3275 ff.; 394, 396 u. d. d. Zit.; a.A. überzeugend Kutscha: Terrorismusbekämpfung jenseits der Grundrechte?, Recht und Politik 06, 202 ff.; ders.: »Verteidigung« – Vom Wandel eines Verfassungsbegriffs, Krit. Justiz 04, 228 ff.

6) Vgl. Arnold: Die Diskussion über das neue Weißbuch. Verteidigungsfall auch bei Terroranschlägen? RuPol. 06, 136 ff.

7) Daase (2007): Terrorismus als asymmetrische Gewaltstrategie, in: Graulich, Simon (Hrsg.): Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit, Akademie-Verlag, S.91 ff. (96).

8) Vgl. dazu auch Dörr: Gewalt und Gewaltverbot im modernen Völkerrecht, aus politik und zeitgeschichte B 43/2004, S.14 ff.; Paech: Epochenwechsel im Völkerrecht?, ebd. S.21 ff. mit zahlreichen Hinweisen auf die gegenwärtige Völkerrechtspraxis.

9) Vgl. insb. Weißbuch 2006, S.101 ff.

10) So z.B. BMV Jung in der FAZ vom 02.05.2006 und in der Berliner Zeitung vom 16.06.2006.

11) a.A. Münkler (2006): Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie.

12) Schäuble: Weniger Demokratie wagen? Die Gefahr der Konstitutionalisierung der Tagespolitik, FAZ vom 13.09.1996, S.12.

13) Resolutionen Nr. 1368 vom 12.09.2001 und Nr. 1373 vom 02.10.2001; Erklärung des NATO-Generalsekretärs Lord Robertson vom 02.10.2001.

14) Vgl. Kutscha: Terrorismusbekämpfung, a.a.O.; Ruffert, ZRP 2002, 247 (250); Paech, Blätter für deutsche und internationale Politik 2001, S.1516.

15) Vgl. Schmidt-Radefeldt: Der europäische Verfassungsvertrag u.d. militärische Terrorismusbekämpfung, UBWV 05, S.1 ff.; ders.: Innere Sicherheit und Streitkräfte, UBWV 06, S.161 ff.

16) Das UzwG gilt nicht für Kampfeinsätze der Bundeswehr und das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch Soldaten der Bundeswehr (UZwGBw) lässt den Waffengebrauch überhaupt nur bei Angriffen gegen Einrichtungen der Bundeswehr zu.

17) Vgl. BT-Drucksache 16/1416 vom 10.05.2006.

18) Vgl. BT-Drucksache 16/6317 vom 10.09.2007; Kutscha, Blätter für deutsche und internationale Politik 07, 905. Gramm behauptet, Tornados ohne Bordkanonen seien keine militärischen Mittel! Vgl. Gramm a.a.O., S.390.

Dr. Burkhard Hirsch ist seit 1949 FDP-Mitglied; von 1975 bis 1980 war er Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen und von 1994 bis 1998 Bundestagsvizepräsident. Die Humanistische Union, der er seit Jahrzehnten angehört, ehrte ihn 2006 mit ihrem Fritz-Bauer-Preis.

Musealer Militarismus

Musealer Militarismus

Das Tamm-Museum in Hamburg

von Hans Walden

In Hamburg gibt es am Rand der neuen HafenCity ein neues Großmuseum: das Internationale Maritime Museum Hamburg (IMMH). Da es auf der riesigen Sammlung beruht, die der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Verlags, Peter Tamm, zusammengetragen hat, ist es allgemein unter dem Namen »Tamm-Museum« bekannt. Es ist ein Privatmuseum, doch wäre seine Realisierung im alten Kaispeicher B ohne die großzügige finanzielle Förderung durch die Stadt Hamburg nicht möglich gewesen. Die Eröffnung des Museums am 25. Juni 2008 versammelte über 800 geladene Gäste. In einem symbolischen Akt hissten Peter Tamm, hinter ihm Bundespräsident Horst Köhler und Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust gemeinsam die Museumsflagge.

Wenn über Tamms Sammlung berichtet wird, werden häufig zunächst beeindruckende Zahlen zu ihrem quantitativen Umfang genannt: 1.000 große und 36.000 kleine Schiffsmodelle, 5.000 Gemälde, 1.000 Uniformen, 120.000 Bücher, 50.000 Schiffbaupläne und rund 1,5 Millionen Fotografien sollen zu ihr gehören. Den Ursprungsmythos bildet eine rührende Geschichte von 1934, die Tamm immer wieder gerne erzählt: Damals habe seine Mutter ihm das allererste kleine Modell von einem Küstenmotorschiff geschenkt, und seitdem habe ihn die Sammelleidenschaft nicht mehr losgelassen.

Bisher war die Sammlung in einer großen Villa an der Elbchaussee 277 untergebracht. Den Besuchern, die sie sich dort nach Voranmeldung ansehen konnten, konnte kaum entgehen, dass Militaria aller Art einen großen Teil, gewissermaßen das »Herz« der Gesamtsammlung ausmachen und dass eine besondere Vorliebe des Sammlers Stücken aus Kaisers und Führers Zeiten gilt. Aufgrund der von einem Millionenvermögen begünstigten Sammelleidenschaft Tamms reichten die Räumlichkeiten bald nicht mehr aus; die Suche nach einem neuen Standort begann. Schon 2001 bot Hamburgs Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) Tamm an, für die Sammlung einen Museumsstandort in der geplanten HafenCity zur Verfügung zu stellen.1 Der in demselben Jahr gebildete neue Senat, der sich auf eine Rechtskoalition der CDU mit der Schill-Partei und der FDP stützte, setzte die Bemühungen um Tamms Sammlung verstärkt fort. 2003 gab Bürgermeister Ole von Beust bekannt, dass der inzwischen gegründeten Peter Tamm Sen. Stiftung der älteste Hamburger Kaispeicher am Rand der HafenCity kostenlos für 99 Jahre überlassen und im Kulturetat für die Herrichtung des Museums 30 Millionen Euro bereitgestellt werden sollten. Parteiübergreifend war man sich einig, dass sich Hamburg die als »einzigartig« gepriesene Sammlung als neuen touristischen Anziehungspunkt sichern sollte – welches Geschichtsbild dort vermittelt werden würde, schien irrelevant. Die Hamburger Bürgerschaft stimmte der Planung im Februar 2004 ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der GAL-Fraktion zu, und im Juni 2004 wurden die Verträge zwischen Tamm und der Stadt Hamburg unterzeichnet. Wenige Tage später wurde bereits die erste Rate von 15 Mio. Euro an die Tamm-Stiftung überwiesen. Ein Museumskonzept, das diesen Namen verdient hätte, lag bis dahin nicht vor.

Initiativen aus dem außerparlamentarischen Raum sorgten 2005 dafür, dass die unreflektierte Begeisterung für dass Tamm-Museum zumindest gestört wurde. Der »Informationskreis Rüstungsgeschäfte in Hamburg« brachte die Dokumentation »Tamm-Tamm« heraus, die, wie der Untertitel besagt, als „Anregung zur öffentlichen Diskussion über das Tamm-Museum“ gedacht war. Der Autor legte darin die Ergebnisse seiner Recherchen über Peter Tamm, den Militaria-Bereich seiner Sammlung und über das Museumsprojekt vor. Daraus wurde deutlich, dass die Stadt, obwohl sie die Herrichtung des Museums finanzierte, jede Möglichkeit zur inhaltlichen Einflussnahme aus der Hand gegeben hatte. Klar formuliert wurde in der Schrift die Ablehnung eines Museums, das ein einseitiges Bild von (See-)Krieg und Rüstung transportieren würde, das Militaristen, Heldenverehrer und Waffennarren anziehen würde. Die zehn in der Schrift abgedruckten Fragen an die Kultursenatorin Karin von Welck ließ diese zwar unbeantwortet, doch in einigen nicht zum Springer-Konzern gehörenden Medien wurde der kritische Ansatz aus »Tamm-Tamm« aufgegriffen. Im August 2005 ließ eine größere Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern eine beispiellose Aktion anlaufen, die die Mitglieder des Landesparlaments, der Hamburger Bürgerschaft, an ihre politische Verantwortung erinnern sollte. Die Initiatoren von »Tamm-Tamm – Künstler informieren Politiker« (kurz KiP) gingen davon aus, dass die Abgeordneten in Unkenntnis der Sachlage dem Museumsprojekt zugestimmt hätten. Deshalb wurde jedem Bürgerschaftsmitglied nicht nur die Schrift »Tamm-Tamm« zugeleitet, sondern auch ein Künstler oder eine Künstlerin zugeordnet, um im persönlichen Kontakt einen Austausch von Informationen und Argumenten herbeizuführen. Die vielfältigen Ergebnisse dieser Kontaktaufnahmen bzw. Kontaktversuche, die von intensiver Auseinandersetzung bis hin zu totaler Gesprächsverweigerung reichten, können im Internet studiert werden.2

Von diesen Aktivitäten und Diskussionen erfuhr ein großer Teil der Hamburger Öffentlichkeit allerdings nichts. Denn die Springer-Zeitungen, die mit »Bild«, »Hamburger Abendblatt«, und »Welt« den städtischen Printmedienmarkt beherrschen, übernahmen mit einer ausschließlich positiven Berichterstattung über das Museumsprojekt die Funktion einer PR-Agentur und ließen keinen kritischen Gedanken über das Museumsprojekt ungefiltert an die Leserschaft gelangen. Die Tamm-Stiftung in Person der Geschäftsführerin Russalka Nikolov gab zu wesentlichen Fragen der inhaltlichen Ausstellungskonzeption selbst im Kulturausschuss der Bürgerschaft keine oder irreführende Antworten. Tamm selbst konnte die Kritiker pauschal diffamieren („echte Hetze“, „Klugscheißer“), ohne sich mit deren Argumenten auseinanderzusetzen. Hamburgs Kultursenatorin Karin von Welck stellte sich unbeirrt hinter die Tamm-Stiftung.

Dass das IMMH – übrigens 34 Monate nach dem ursprünglich angekündigten Datum – eröffnen konnte und dass die Kritiker es so schwer hatten, überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden, hängt zweifellos mit der Person des nunmehr 80jährigen Museumsgründers zusammen. Peter Tamm ist seit Jahrzehnten einer der einflussreichsten Gestalten im deutschen Presse- und Verlagswesen. Hatte seine Karriere 1948 als Schifffahrtsredakteur beim »Hamburger Abendblatt« begonnen, stand er von 1970 bis 1991 als Vorstandsvorsitzender an der Spitze des Axel Springer Verlags. Wegen seines autoritätsbewussten Führungsstils und seiner von ihm selbst eingeräumten »Marinemeise« nannte man ihn schon damals hausintern den »Admiral«.

Viele Äußerungen von Peter Tamm zeugen von einem sozialdarwinistischen und rechtslastigen Weltbild. „Kampf ist nun mal die Basis der Natur“, lautet sein Credo. „Die ganze Natur besteht ausschließlich aus Fressen und Gefressenwerden. Nur der, der sich wehren kann, überlebt auch.“ Ein „Totalfrieden“ wäre vielleicht schön, aber „wider die Natur.“ 3 Die Seefahrt sei eine „grandiose Auslese für Menschen überhaupt“. Gerne verbreitet er auch aus der Schifffahrt abgeleitete Analogien für einen autoritären Staat: Auf der Brücke brauche man keinen Ausschuss, sondern einen Kapitän, der entscheidet. Tamm bedauert noch heute, dass ihm die deutsche Niederlage 1945 die Karriere in der Kriegsmarine verdarb. Nach seiner Aussage hat er noch in den letzten Kriegstagen – obwohl er damals erst 16 Jahre alt war – als Seekadett auf dem Marineschulschiff »Gorch Fock« gedient.

Darüber hinaus ist von Interesse, dass Tamm selbst Verleger von Militär- und Schifffahrtspublikationen ist. Die von ihm erworbene Koehler-Mittler-Verlagsgruppe legt eine rege Publikationstätigkeit an den Tag. Besonders zu erwähnen ist aus dieser Gruppe der Verlag E.S. Mittler & Sohn GmbH. Schon in Preußen zum führenden Militärverlag aufgestiegen, brachte er nach der Reichsgründung eine Flut von Literatur zur Stärkung von Deutschlands Kriegsbereitschaft und -fähigkeit heraus. Ab 1932 vermischte sich bei Mittler Militärfach- zunehmend mit NS-Propagandaliteratur. Ein Schwerpunkt des Mittler-Verlagsprogramms liegt heute auf Darstellungen zum Einsatz von Wehrmachtsteilen im Zweiten Weltkrieg und zur Entwicklung bestimmter Waffen. Auch geschichtsrevisionistische Autoren der rechtsextremen Szene wie Franz Uhle-Wettler und Walter Post haben hier Bücher publizieren können. Zugleich arbeitet der Mittler-Verlag mit der Bundeswehr zusammen. Hier erscheinen für die militärinterne Kommunikation wichtige Zeitschriften wie »Europäische Sicherheit« und »Marineforum«. 2001 erhielt Tamm das Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold.

Krieg – Militär – Rüstung: was das IMMH zeigt und was es verschweigt

Das Museum weist eine erschlagende Fülle an Exponaten auf, die sich, wenn man den Eingangs- und ebenerdigen Außenbereich mitrechnet, auf zehn Ebenen oder »Decks« verteilen. Noch 2005 war in der »Welt« zu lesen, 90 Prozent der Fläche würden der zivilen Schifffahrt, der Wissenschaft und der Tiefsee gewidmet sein, der Rest – mithin nur 10 Prozent – würde die Marine-Welt zeigen.4 Herausgekommen ist etwas anderes: Die beiden Mitteletagen 4 und 5 stehen komplett im Zeichen des Militärisch-Kriegerischen, und auf den meisten anderen Decks gibt es neben den zivilen auch zahlreiche militärische Exponate. Ganz ohne solche kommt das Museum eigentlich nur auf den Decks 6 und 7 aus, auf denen es um die zivile Handels- und Passagierschifffahrt sowie die Meeresforschung geht.

Als Logo des Museums ist die Vorderansicht eines Wikingerschiffs vor dem Hintergrund einer Weltkugel gewählt worden – warum, lässt sich fragen, wird damit auf jene germanisch-skandinavischen Seekrieger Bezug genommen, die im 9. und 10. Jahrhundert durch ihre Raubzüge große Teile Europas in Angst und Schrecken versetzten und im Jahr 845 auch Hamburg verheerten? Hätte darüber hinaus nicht das Wissen um den Wikinger-Kult im Nationalsozialismus und im Neonazismus von der Wahl eines solchen Logos abraten müssen?

Vor dem Eingang stehen zwei Kanonen. Sie sollen von dem Kriegsschiff »Foudroyant« stammen, das von 1799 bis 1801 Admiral Nelson als Flaggschiff diente. Dies ist eine Ehrbezeugung Peter Tamms für den Mann, den er als „größten Flottenführer aller Zeiten“ seit seiner Kindheit bewundert. Im Museum begegnet man Nelson noch wiederholt: Zu den Schaustücken gehören auf dem 2. und 9. Deck eine effektvoll angestrahlte Replik einer »Lebendmaske«, Briefe des Admirals, Gemälde und dreidimensionale Nachbildungen (Dioramen) seiner Seeschlachten. Im ebenerdigen Außenbereich des Museums dominieren zwei restaurierte »Wunderwaffen« aus der Untergangsphase des so genannten Dritten Reichs das Bild: Klein-U-Boote der Typen »Seehund« und »Molch«. Auf vielen Decks herrscht das Prinzip der miniaturisierten Nachbildung und mit ihm der Blick von oben. Im Kinderbereich auf dem ersten Deck wird den Kleinen durch eine Militärkapelle aus Spielzeugfiguren das Marschieren näher gebracht. Direkt neben dem „schwimmenden Klassenzimmer“ ist die Modellbauwerkstatt angeordnet, in der anscheinend überwiegend Kriegsschiffsmodelle hergestellt werden. Auch bei den meisten der aus Tierknochen, Bernstein, Elfenbein und anderen Materialien gebauten Segelschiffsmodelle, die in der „Schatzkammer“ auf dem 8. Deck ausgestellt sind, handelt es sich um Kriegsschiffe. Das 9. Deck ist das Reich der ganz kleinen Modelle. Zu tausenden stehen die Kriegs- und Handelsschiffe aufgereiht. Hier haben auch Modelle von U-Boot-Bunkern, die die deutsche Kriegsmarine im Zweiten Weltkrieg in Frankreich errichten ließ, ihren Platz gefunden.

Der Hamburger Öffentlichkeit hat Peter Tamm vorgemacht, er sei ein Nachfahre des Hamburger Konvoischiffkapitäns Martin Tamm, der im 18. Jahrhundert als Kommandant der »Wappen von Hamburg III« – dies war damals der Stadt größtes Kriegsschiff – Hamburgs Handelswege beschützt habe. Nur: Erstens hatte der 1745 gestorbene Martin Tamm keine Nachfahren, und zweitens war die »Wappen von Hamburg III« gerade kein Inbegriff hansestädtischer »Wehrhaftigkeit«, sie erwies sich vielmehr als teure Fehlinvestition. Dessen ungeachtet schwebt ein gewaltiges Modell dieses Schiffs pathetisch auf dem 2. Deck des neuen Museums, vor dem Hintergrund einer riesigen Vergrößerung einer sich mächtig auftürmenden Meereswelle, die Johannes Holst 1913 malte. Ein Fall von arrangierter Geschichts- und Naturdramatik.

Das 2. Deck steht zwar laut Museumsführer unter dem Motto „Mit dem Wind um die Welt: Schiffe unter Segeln“, doch im Kern geht es hier um den Aufstieg immer neuer Seemächte in der Weltgeschichte. Vermittelt werden soll hier eine navalistische Grundlektion: Wer die besten Seestreitkräfte und die beste Seekriegstechnik besitzt, beherrscht den Handel und besitzt die Macht. Dass Schifffahrt auch etwas mit Sklavenhandel, Kolonialismus und Ausbeutung zu tun hatte, wird in kleineren Ausstellungseinheiten dargestellt, doch bleiben die hierzu gegebenen Informationen ausgesprochen selektiv. Zur Veranschaulichung von Brandenburgs Flotten- und Überseepolitik im späten 17. Jahrhundert wird ein Gemälde von der Fregatte »Friedrich Wilhelm zu Pferde« in einer Seeschlacht gezeigt. Über den Marinemaler Adolf Bock, von dem das Historienbild stammt, wird nichts mitgeteilt. Bemerkenswert wäre es schon: Im Zweiten Weltkrieg belieferte er den »Völkischen Beobachter« mit Propagandabildern von deutschen Seekriegserfolgen, und auf Kosten Hitlers, der ihn später zum Professor berief, wurde ihm 1941 in Berlin eine geräumte »Judenwohnung« renoviert.5

Wenden wir uns den beiden Decks zu, die ausschließlich militärische Exponate zeigen. Dem 4. Deck haben die Ausstellungsmacher das Motto „Dienst an Bord – im Zeughaus der Geschichte“ gegeben. Um die realen Lebensbedingungen der einfachen Marinesoldaten an Bord geht es hier indessen nicht. Ein guter Teil dieses Bodens wird von Tamms großer Sammlung an Handwaffen eingenommen. Lange Vitrinen mit Tötungsinstrumenten und Ehrenwaffen verschiedenster Art – Wikingermesser, Degen, Säbel, Dolche, Pistolen, Revolver, Gewehre bis hin zur Kalaschnikow – reihen sich aneinander. Ohne erkennbaren maritimen Bezug wird auf einer großen Wandgraphik versucht, die Evolution des waffentragenden Menschen zu veranschaulichen: vom affenartigen Vormenschen, der zum Faustkeil greift, über verschiedene Kriegertypen der Vergangenheit hin zum volltechnisierten Kämpfer der Gegenwart. Die Auffassung von der Waffe als dem naturgegebenen Attribut des Mannes ist hier visualisiert.6

In Reih und Glied perfekt angeordnet, füllen militärische Kopfbedeckungen und Uniformen die nächsten Vitrinen. In einem großen Glasraum sind 57 gespensterhaft wirkende Uniformpuppen aufgestellt. Auf engstem Raum vereint sind hier u.a.: der zehnjährige Prinz Adalbert (Sohn von Wilhelm II.) in der Uniform eines Leutnants zur See, der 1941 zum NS-Flottenchef ernannte Admiral Otto Schniewind, Vizeadmiral Frank der Bundesmarine in einer Gefechtsuniform von ca. 1998 und Korvettenkapitän Hans Kolbe aus der »Marinebrigade III Freikorps Loewenfeld«, einer militärischen Formation, die 1920 den rechtsradikalen Kapp-Putsch unterstützte. Die Uniformfigur von Hitlers Großadmiral Erich Raeder, als Kriegsverbrecher 1946 zu lebenslanger Haft verurteilt, kommt zusammen mit seinem Großadmiralsstab in einer Einzelvitrine glanzvoll zur Geltung. Die Militärseelsorge der NS-Zeit ist mit dem Talar und Dienstanzug eines Marinepfarrers und dem »Katholischen Gesang- und Gebetbuch für die Kriegsmarine« vertreten. Nicht thematisiert sind die Marinerichter und ihre Todesurteile.

Der heroisierende Personenkult, der auf dem 4. und auch auf dem 5. Deck um deutsche Marineoffiziere getrieben wird, vermittelt sich vor allem über die ausgestellten Militärorden. Zu diesen Offizieren gehört etwa Großadmiral Henning von Holtzendorff, der sich 1916/17 für die folgenschwere Verschärfung des U-Boot-Kriegs einsetzte. Aus dem Begleittext zum bekanntesten deutschen U-Boot-Kommandanten des Ersten Weltkriegs, Otto Weddigen, ist zu erfahren, dass er für die Versenkung von drei britischen Panzerkreuzern als erster Seeoffizier den Orden Pour le Mérite erhielt, nicht aber, dass allein bei dieser Aktion etwa 1.500 Briten getötet wurden. Gezeigt wird dafür eine Samentüte für Stangenbohnen, Sorte »Kapitän Weddigen«. Das Betonen der großen Kriegstat und das Verschweigen ihrer Folgen für die Opfer der Gegenseite wiederholt sich in diesem Museumsbereich ständig, z.B. auch bei den Exponaten, die an den „erfolgreichsten“ deutschen Marineflieger des Ersten Weltkriegs, Friedrich Christiansen, und an die beiden „erfolgreichsten“ U-Boot-Kommandanten des Zweiten Weltkriegs, Otto Kretschmar und Wolfgang Lüth, erinnern.

Drei Leitfiguren des wilhelminischen Imperialismus, mit denen sich Tamm offenbar verbunden fühlt, treten den Besuchern – wie schon im Haus an der Elbchaussee – auf Deck 5 in Gestalt lebensgroßer Puppen gegenüber: Kaiser Wilhelm II., sein Bruder Prinz Heinrich und Großadmiral Tirpitz. In der Ecke, in der die Puppe von Tirpitz in Galauniform, die Tirpitz-Orden und andere Tirpitz-Reliquien versammelt sind, tönen aus einem Lautsprecher pausenlos Zitate des Großadmirals mit Begründungen für die deutsche Flottenrüstung ab 1898 – alles ohne historische Kommentierung. Werke von Marinemalern wie Willy Stöwer und Claus Bergen werden ohne Hinweis auf ihre Funktion im Rahmen der Flottenpropaganda gezeigt. Ob es um die Niederschlagung des Boxeraufstands in China, die »Schutztruppe« in den deutschen Kolonien oder die Skagerakschlacht von 1916 geht, in keinem Fall wird die Zusage der Tamm-Stiftung von 2005 eingelöst, mit Begleittexten wolle man „nicht nur die gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern auch deren Ursprünge und Ursachen in den Fokus“ rücken.

In der Vitrinenlandschaft des 5. Decks liegt ein Schwerpunkt auf Tamms großen Kriegsschiffsmodellen. Ein beträchtlicher Teil der kaiserlichen und der nationalsozialistischen Flotten sind hier versammelt. Mitunter weisen Kommentare auf den technischen »Fortschritt« bei der Erhöhung der Vernichtungseffektivität hin. In der Ausstellungseinheit »Bismarck« spiegelt sich wider, dass Tamm sowohl ein Bewunderer des Eisernen Kanzlers als auch ein Freund der traditionell stark im Kriegsschiffbau engagierten Hamburger Werft Blohm+Voss ist. Im Mittelpunkt steht ein großes Modell des Schlachtschiffs »Bismarck«, das bei der genannten Werft 1939 in Anwesenheit Hitlers vom Stapel lief. Neben dem Modell ist ein Abguss jener Bismarck-Büste platziert, die vor der Kommandantenkammer des Schiffs stand. Diesen Abguss hat die Bauwerft Blohm+Voss 1993 Tamm zum 65. Geburtstag geschenkt. Weiter gehört zu diesem Bismarck-Ensemble eine gewaltige Granate, ein Gemälde von dem getroffenen Schlachtschiff sowie die Uniform des mit dem Schiff untergegangenen Flottenchefs Günther Lütjens. Der Besucher soll staunen, von der Größe und Dramatik des Ganzen ergriffen werden, aber historische Zusammenhänge werden ihm nicht nahe gebracht. Es wird keine Vorstellung von dem Irrsinn vermittelt, dass der immense Kostenaufwand für den Bau des Schlachtschiffs schon bei dessen erstem Einsatz in den Tod von über 3.500 britischen und deutschen Soldaten mündete. Mitnehmen kann man den »Modellbaubogen Schlachtschiff Bismarck 1940«, den es unten im Museumsshop in einer „Sonderauflage mit Tarnbemalung“ zu kaufen gibt.

Im Vorfeld der Museumseröffnung war besonders darüber spekuliert worden, ob Tamm wie an der Elbchaussee auch den hakenkreuzverzierten Großadmiralsstab von Karl Dönitz, seit 1943 Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und am Ende Hitler-Nachfolger, in seinem Museum präsentieren würde. Ja, auch auf ihn wollte der Museumsgründer nicht verzichten. Nur liegt der Stab jetzt – vielleicht ein kleines Zugeständnis – nicht mehr in der Originalschatulle, sondern auf einer Tageszeitung von 1946 mit einem Artikel über die Nürnberger Urteile gegen die Hauptkriegsverbrecher.

Mit demonstrativer Selbstverständlichkeit werden die Reichskriegsfahne und mit NS-Emblemen versehene Orden und Verleihungsurkunden zur Schau gestellt. In der Vitrine für den Hilfskreuzerkommandanten Kurt Weyher sehen wir die Urkunde, mit der der „Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht“ dem Fregattenkapitän 1941 das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes verlieh. In der Vitrine für den Hilfskreuzerkommandanten Rogge wird in einem Durchhaltegedicht des NS-Dichters Herybert Menzel von 1941 der Geist von Kameradschaft und Opfertum beschworen. An anderer Stelle zeigt Tamm eine Urkunde mit dem Text „Für Führer, Volk und Vaterland starb den Heldentod …“.

Zwischen all dem sind auch die heutigen deutschen Seestreitkräfte präsent, so mit Modellen der bei Blohm+Voss entstandenen Fregatte »Brandenburg« und des bei HDW in Kiel entwickelten U-Boots der Klasse 212 A. Für PR im Sinne der Deutschen Marine sorgt ein Nachrichtenlaufband, das in blauer Leuchtschrift aktuelle Mitteilungen verbreitet. Wem die Geschichte und die Gegenwart nicht reichen, kann Modelle einer »Fregatte der Zukunft« und eines „unbemannten Schnellboots der Zukunft“ studieren.

»Attraktiver Besuchermagnet« oder geschichtspolitischer Skandal?

Kultursenatorin Karin von Welck meint weiterhin, im Museum sei „eine Sammlung maritimer Kostbarkeiten“ und eine „ausführliche Darstellung des Lebensraumes Meer“ zu sehen, und es sei hier „ein attraktiver Besuchermagnet“ entstanden.7 Anlässlich der Museumseröffnung erreichten auch die Bemühungen der lokalen Springer-Presse, Begeisterung für das neue Museum zu wecken, ihren Höhepunkt. Davon unterschied sich die Resonanz in anderen Medien erheblich. Vergleichsweise gemäßigte Kritik äußerte Jens Jessen in der »Zeit« unter der Überschrift „Nippes zum Staunen“.8 Der Geist des Museums sei der „Geist der touristischen Attraktion, nicht der des Begreifens.“ Andere Beobachter fanden wesentlich schärfere Formulierungen. Im Deutschlandradio wurde etwa festgestellt, im Museum werde „mit einer zutiefst antiaufklärerischen Haltung suggeriert, dass es, einfach so, immer Kriege gab und immer geben wird.“ 9 Aus dem Presseecho seien hier noch einige prägnante Einschätzungen wiedergegeben:

Frank Keil in der Frankfurter Rundschau: „Um es äußerst freundlich zu sagen: Das Verhältnis des Hauses zur deutschen Kolonialzeit, zum Kaiserreich samt dem Ersten Weltkrieg und eben auch zur NS-Zeit ist ein nicht akzeptables und es würde sich empfehlen, diese beiden Abteilungen zu schließen und komplett zu überarbeiten.“ 10

Petra Schellen in der taz Hamburg: „Nicht einmal in den 50er-Jahren hätte man es hierzulande gewagt, ein so unkritisches Museum zu schaffen. … Tamm zielt explizit auch auf junge Besucher. Etliche werden von all der Heldenhaftigkeit und den monströsen Militaria beeindruckt sein. Die Marine als berufliche Perspektive, Krieg als gangbares, sogar »notwendiges« Mittel – all dies wird hier salonfähig gemacht.“ 11

Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung: „Es ist nicht nur die nahezu vollständige Ausblendung der menschlichen Leidensgeschichte, das Verharmlosen des Krieges als technische Entwicklungsleistung und das totale Versagen bei der historisch-kritischen Differenzierung, die diese gigantische Ausstellung so zweifelhaft macht. Die gesamte Sammlung repräsentiert mit großer Distanzlosigkeit das fetischhafte Verhältnis Tamms zu seinen Objekten. … Die staatliche Unterstützung und die Würde, die der Bundespräsident dieser Eröffnung mit seiner Anwesenheit verleiht, sind angesichts des dubiosen Inhalts des Museums ein fatales Zeichen. Wenn Herrschaftsgeschichte wieder Opfergeschichte aus dem Museum verdrängt, ist Mahnung gefragt, nicht Salbung.“ 12

Vieles ist damit gesagt. Die für den militärischen Bereich festgestellte Einseitigkeit ist auch in anderen Teilen des Museums anzutreffen. In der spielzeugartigen Vitrinenwelt des IMMH ist kein Platz für die Geschichte der Seeleute, der Hafen- und Werftarbeiter, es gibt kein Interesse, den Wandel von und die Kämpfe um Arbeitsbedingungen darzustellen. Die sozialgeschichtlichen Defizite des Museums werden in der im September 2008 vorgestellten Denkschrift „Schifffahrt ohne Leben“ des Juristen Rolf Geffken benannt.13

Das IMMH ist, insgesamt gesehen, eine Beleidigung für alle sozial- und militärgeschichtlichen Bemühungen der letzten Jahrzehnte, zu einem wissenschaftlich neu fundierten Bild der Schifffahrts- und Marinegeschichte zu kommen. Eine Möglichkeit, das Museum dennoch konstruktiv zu nutzen, könnte in der Erarbeitung »inoffizieller« Informationsangebote zu den Exponaten bestehen, mit denen diese in ihren tatsächlichen historischen oder auch gegenwärtigen Zusammenhang gestellt würden. Gerade in Zeiten, in denen das Einsatzspektrum der deutschen Marine ausgeweitet wird, sollte das Bewusstsein für die Gegenwartsrelevanz von marinegeschichtlicher Traditionspflege und Apologetik geschärft werden.

Anmerkungen

1) Näheres zur Museums-Vorgeschichte bei Friedrich Möwe: Tamm-Tamm. Eine Anregung zur öffentlichen Diskussion über das Tamm-Museum, hg. vom Informationskreis Rüstungsgeschäfte in Hamburg, 5. erweit. Auflage, Hamburg 2008, S.67ff. u. 88ff.

2) http://news.web-hh.de/tamm.php.

3) http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/805719/ (gesendet am 23.06.2008, gehört am 10.09.2008) – Vgl. Möwe, S.34ff.

4) Die Welt (Hamburg-Teil) v. 17.11.2005.

5) Vgl. Otto Thomae: Die Propaganda-Maschinerie. Bildende Kunst und Öffentlichkeitsarbeit im Dritten Reich, Berlin 1978, S.447f.

6) Vgl. hierzu wie zum IMMH insgesamt Felix Axster/Ulrike Bergermann: Maßstäbe. Von Größenordnungen und Modellierungen im Internationalen Maritimen Museum Hamburg, Vortrag 2008 (im Internet mit Abbildungen unter http://www.feldfuerkunst.net/index.php?id=feldpresse).

7) Grußwort im Museumsprospekt „Hamburg hat ein neues Seezeichen“, 2008.

8) Die Zeit v. 26.06.2008, S.55.

9) http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/805719/ (gesendet am 23.06.2008, gehört am 10.09.2009)

10) Frankfurter Rundschau v. 01.07.2008, S.36f.

11) taz Hamburg v. 30.06.2008, S.13.

12) Süddeutsche Zeitung v. 25.06.2008, S.11.

13) Bezugskontakt: www.ICOLAIR.de.

Der Historiker Dr. Hans Walden arbeitet hauptsächlich zu Themen der Hamburger Geschichte, zur Entwicklung des Hamburger Schiffbaus sowie zum Phänomen des Militarismus.

Soldatentod in heutigen Kriegen

Soldatentod in heutigen Kriegen

Herausforderungen für politische Normenbildung und Erinnerungskultur

von Bentje Woitschach

Unter dem programmatischen Titel »Soldatentod in heutigen Kriegen – Herausforderungen für politische Normenbildung und Erinnerungskultur« fand vom 6. bis 8. Juni 2008 in der Evangelischen Akademie Loccum in Zusammenarbeit mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Landesverband Niedersachsen) und der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung unter der Leitung von Prof. Rolf Wernstedt (Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge) und Dr. Corinna Hauswedell (Evangelische Akademie Loccum) eine rege besuchte Tagung statt.

Die Diskussion um das politische Mandat der Bundeswehr und den soldatischen Auftrag hat, vor allem im Zusammenhang mit den erweiterten Einsätzen in Afghanistan, an Schärfe gewonnen. Dabei wird deutlich, dass sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in rechtlicher, politischer und ethischer Hinsicht auf ungeklärtem Terrain bewegt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Entscheidung des Bundesverteidigungsministers, auf dem Gelände des BMVg ein Ehrenmal für die Toten der Bundeswehr zu errichten, als Versuch, einen neuen politischen Symbolakt und -ort der Gedenkkultur zu befestigen, um der strategischen Umorientierung der Bundeswehr, die konsequenterweise auch tote deutsche Soldaten zur Folge haben kann, Rechnung zu tragen. Die Tagung beabsichtigte, den Diskurs um das Ehrenmal des BMVg in den politischen Kontext der sich wandelnden Rolle, Funktion und Legitimität des Militärs in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu stellen und dabei Möglichkeiten einer (neuen) deutschen Erinnerungskultur, aber auch deren spezifische Problembereiche, zu erörtern.

Der erste Teil der Tagung trug den Titel „Probleme politischer und ethischer Fundierung militärischer Einsätze der Bundeswehr“. So betrachtete Lothar Brock (Frankfurt) in seinem Vortrag militärische Interventionen aus völkerrechtlicher Perspektive. Einerseits lege das Völkerrecht hohe materielle Normen fest (Schutz der Menschenrechte), andererseits fehle es an konkreten Verfahrensregeln, um diese Normen durchzusetzen. Die Konsequenz sei, dass entweder nicht oder unilateral gehandelt werde. Angesichts dieses Handlungsdilemmas entwickelte die UNO das Konzept der »responsibility to protect« (Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft), das Brock als eine Möglichkeit darstellte, dem Handlungsdilemma zu entrinnen.

Roland Kaestner (Hamburg) zeichnete ein Bild des heutigen Krieges, das deutliche Tendenzen zur Entgrenzung aufweise, bezogen auf Akteure, Ziele, Methoden, Raum. Moderne arbeitsteilige und komplexe Gesellschaften vertragen keinen Kriegszustand, er würde zu ihrer Auflösung führen. Aus diesem Grund setzten diese Gesellschaften Gewalt nur auf fremdem Territorium ein, um die eigenen Kosten gering zu halten und ihre Interessenpolitik durchzusetzen. Kaestner plädierte für eine Eingrenzung des Krieges durch das internationale System, das auf der Basis des Rechts und nicht der Gewalt beruhen solle.

Natascha Zupan (Bonn) erweiterte die vorgetragenen völkerrechtlichen und militärischen Gedanken um die Perspektive der zivilen Friedensförderung und widmete sich verstärkt dem Thema Gedenkkultur. Neben toten deutschen Soldaten seien auch verstärkt tote zivile Helfer zu beklagen, denen ähnlich wie den Soldaten keine staatliche Erinnerungskultur Rechnung trage. Staatliches Erinnern sei immer mit Gestaltungsmacht verbunden und identitätsbildend: Aus diesem Grunde sollten geplante Denkmäler besonders an zivile Helfer erinnern, um das Primat des Zivilen in der deutschen Politik zu festigen.

Am Abend räsonierte Klaus Naumann (Hamburg) über das Ausbleiben der öffentlichen Reaktion bezüglich des Ehrenmals des BMVg. Der Grund sei für ihn eine »Leerstelle« in der Gedenkkultur, die sich bisher vornehmlich dem Opfergedenken und damit der Vergangenheit widmete. Das geplante Ehrenmal beziehe sich aber auf die (ungeklärte) Gegenwart; die Soldaten im Einsatz seien keine Opfer im herkömmlichen Sinne, sondern von der Republik entsandte Freiwillige. Die Politik stelle die toten Soldaten jedoch als Opfer von Fremdeinwirkung dar und entziehe sich damit ihrer eigenen Verantwortung als entsendende Instanz.

Jost Dülffer (Köln) eröffnete mit seinem Vortrag den zweiten Teil der Tagung mit der Überschrift „Formen, Symbole und Dilemmata einer deutschen Gedenkkultur“ und betrachtete die deutsche Gedenkkultur im internationalen Vergleich. So warf der Zweite Weltkrieg lange Schatten auf die europäische Gedenkkultur und dominierte alle nationalen Denkmäler; in vielen Ländern würden Soldaten und Zivilisten allerdings gemeinsam gedacht. Das deutsche Dilemma liege darin, dass Gedenken an tote Deutsche besonders problematisch sei, weil es immer auch Täter mit einschließe. Daher entwickelte sich ein Gedenkbrei: »Den Opfern von Krieg und Gewalt«, der sowohl tote Deutsche als auch von deutschen Getötete einschloss.

In dem anschließenden Gespräch brachte Armin Wenzel (Kiel) die Sicht der Militärseelsorge in die Diskussion ein: So sprach er sich für das geplante Ehrenmal aus, gab aber zu bedenken, dass Ort und Einbezug von Zivilisten neu überdacht werden und die ethischen und sicherheitspolitischen Gründe für die Auslandseinsätze noch deutlicher als im Weißbuch vermittelt werden müssten.

Stärker noch als sein Vorredner betonte Daniel Gaede (Weimar) die Notwendigkeit, Mittel und Zwecke von militärischen Interventionen zu überprüfen. Gedenken allein für tote Soldaten sei fragwürdig, vielmehr müssten zivile Helfer und vor allem die Bedürfnisse der Angehörigen mit einbezogen werden. Mit Verweis auf seine Gedenkarbeit im KZ Buchenwald gab er zu bedenken, dass Gedenken notwendig sei, dabei aber zwischen Tätern und Opfern differenziert werden müsse, die immer situationsbedingt gesehen werden müssten.

Der dritte Teil der Tagung „Denkmal als Ressortaufgabe? Die (fehlende) Debatte um das neue »Ehrenmal« der Bundeswehr“ wurde eingeleitet durch Thorsten Kähler (Berlin), der die Motive für das Ehrenmal erläuterte und sich mit den öffentlichen Kritiken auseinandersetzte. Kähler zufolge befinde sich die Bundeswehr in sicherheitspolitisch notwendigen und legitimierten Einsätzen. Das Ehrenmal sei eine Ressortangelegenheit, der Minister käme damit seiner Fürsorgepflicht den Soldaten gegenüber nach, die schon seit längerem den Wunsch nach einem Gedenkort für ihre toten Kameraden hegten. Keineswegs sei mit dem Ehrenmal eine Überhöhung des Militärischen oder eine Heroisierung der Toten beabsichtigt. Die Gründe für die Auslandseinsätze könnten nur politisch beantwortet werden, eine erste Auseinandersetzung damit biete das Weißbuch zur Sicherheitspolitik. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, warum das Ehrenmal eine Ressortangelegenheit sei, immerhin sei die Bundeswehr und damit auch die dort zu beklagenden Toten Teil des deutschen Volkes.

In dem anschließenden Round Table ging es weiterhin um die Frage, was die Intention des Ehrenmals sei und wie man den Verfahrensprozess bewerten solle. Robert Birnbaum (Berlin) kritisierte, dass die wirkliche Auseinandersetzung – nämlich die Debatte um die Einsatzgründe – in Wirklichkeit gar nicht geführt worden sei, weshalb man mit dem Ehrenmal über tote Soldaten redete, ohne wirklich über tote Soldaten zu reden. Christian Fuhrmeister (München) betrachtete das Ehrenmal aus kunsthistorischer Sicht. Wie Birnbaum kritisierte er vehement das abgeschirmte Verfahren im BMVg. Gerade weil das Denkmal nationalen Rang besäße, sei es keine Ressortangelegenheit. Fuhrmeister forderte, den Baubeginn sofort zu stoppen und die bisher fehlende öffentliche Debatte zu beginnen. Erik Meyer (Gießen) schloss sich Birnbaum und Fuhrmeister an und forderte deliberative Verfahren, die dem Ehrenmal die notwendige Zustimmung einbringen würden. Corinna Hauswedell (Loccum) fasste in einem Schlusswort die bisherigen Punkte zusammen: Die Diskussion um das Ehrenmal sei ein gesamtgesellschaftliches Dilemma, das die Unsicherheit über die deutsche Sicherheitspolitik und die mangelnde Reflexion über den Wandel der Bundeswehr beinhaltete. Sie rief Thorsten Kähler dazu auf, die auf der Tagung geführte Debatte ins BMVg zu tragen. Allerdings sei das BMVg nicht allein in der Lage, die Mängel der Politik zu überdecken, vielmehr müsste es diese verstärkt in die Pflicht nehmen, weil die Frage um Auslandseinsätze und das damit verbundene Totengedenken gerade keine Ressortangelegenheit sei.

Am Abend erörterte Manfred Hettling (Halle-Wittenberg) die Frage, wie unterschiedliche Nationen ihrer toten Soldaten gedenken. Bedeutend für die jeweilige nationale Gedenkkultur seien nationale Traditionen, die besonders in Deutschland mit negativen Konnotationen belastet seien. Hettling schlussfolgerte, dass Gedenken in demokratischen Gesellschaften nicht problematisch sei, dass aber Deutschland kein Formenarsenal aus der Vergangenheit übernehmen könne, und sah es daher als gegenwärtig dringliche Aufgabe, über neue Formen der Gedenkkultur öffentlich zu debattieren.

Der vierte Teil der Tagung „Trauma, Ehre, Anerkennung“ wurde durch Boris Schmuda (Hannover) eröffnet, der in einem bewegenden Bericht seine traumatischen Erlebnisse bei dem Attentat in Kunduz im Mai 2007 darstellte. Besonders schmerzhaft seien für ihn das mangelnde öffentliche Interesse und die fehlende Anerkennung gewesen. Schmuda betonte, es sei keine Ehre, für sein Land zu sterben, aber den toten Soldaten gebühre ein angemessenes Gedenken, wofür Politik und Öffentlichkeit Verantwortung zu tragen hätten. In der anschließenden Podiumsdiskussion knüpfte Klaus Naumann an Boris Schmuda an und kritisierte den mangelnden Mut der Politiker, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Monika Brüning (Berlin) betonte die sicherheitspolitische Notwendigkeit der Auslandseinsätze und verteidigte das Ehrenmal-Projekt damit, dass der Wunsch nach einem Gedenken von den beteiligten Soldaten selbst vorgebracht wurde. Sebastian Edathy (Berlin) räumte ein, dass die Notwendigkeit der Auslandseinsätze möglicherweise nicht ausreichend vermittelt würde, begrüßte dennoch das Ehrenmal des BMVg und stellte die Überlegung an, ob das Parlament ein zusätzliches Denkmal für Tote außerhalb des Militärs errichte.

Die anschließende Diskussion verdeutlichte, dass es einen Konsens darüber gab, dass den toten deutschen Soldaten angemessen gedacht werden müsse. Dabei dürfe aber die Einsatzdiskussion nicht übergangen werden, denn die Debatte um das Ehrenmal sei in Wirklichkeit eine Debatte um die deutsche Sicherheitspolitik. Es müssten transparente Verfahren entwickelt werden, in deren Verlauf angemessene Formen einer deutschen Erinnerungskultur unter möglichst breiter gesellschaftlicher Beteiligung gefunden würden. Dabei sollte nicht die Sicherheitspolitik im Vordergrund stehen, sondern die Friedenssicherung.

Zur Diskussion um den demokratischen Frieden

Zur Diskussion um den demokratischen Frieden

von Arend Wellmann

Aus friedenswissenschaftlicher Sicht wird die Organisation eines Herrschaftssystems vor allem aus der Perspektive seiner Friedensfähigkeit betrachtet. Einer der ersten, der einen Zusammenhang zwischen Republiken und Frieden postulierte, war Immanuel Kant in seinem Traktat »Zum Ewigen Frieden« (1795). Republiken, so Kant, seien weniger kriegsgeneigt, da „[w]enn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein soll oder nicht, so ist nichts natürlicher als das sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen (…).“ (Kant, 1922: 127f.) Was läßt sich – die These Kants zugrundegelegt – über den »demokratischen Frieden« heute aussagen?

In der friedenswissenschaftlichen Diskussion wird heute überwiegend die Auffassung vertreten, daß die These vom »demokratischen Frieden« einem sozialwissenschaftlichen Gesetz nahe komme. Allerdings wird die kantische Auffassung an zwei Punkten wesentlich verändert: So wird zum ersten die kantische Republik als repräsentative Demokratie (westlicher Prägung) interpretiert. Problematisch dabei ist, daß entweder einfach nur behauptet wird, Kant wäre heute ein Verfechter der (repräsentativen) Demokratie, oder anklingt, daß die kantische Demokratiefeindschaft nur auf einem Wandel im Wortgebrauch beruhe. (Ladwig, 1995: 56) Eine Reflexion über die Unterschiede zwischen der kantischen Republik und den heutigen Demokratien findet zumeist nicht statt. Zum zweiten wird die von Kant unterstellte Friedensfähigkeit von Republiken auf die heutigen Demokratien westlicher Prägung nur eingeschränkt in dem Sinne übertragen, daß Demokratien untereinander Frieden zu halten vermögen. Es wird also die Auffassung vertreten, daß Demokratien zwar nicht prinzipiell weniger Kriege insgesamt, aber keine Kriege untereinander führten (u.a. Czempiel, 1996; Rousseau/ Gelpi/ Reiter/ Huth, 1996; Nielebock, 1993; Russett, 1993; Rittberger, 1987) Diese einfache und verkürzende Interpretation aber, darauf hat Ladwig (1995: 56) zu Recht hingewiesen, bleibt unterhalb des »kantischen Anspruchsniveaus«.

Wenn die von Kant aufgestellte These, Republiken (nach heutiger Lesart also Demokratien) seien friedensfähiger als andere Staatsformen, zuträfe, müßte sich dies empirisch nachweisen lassen. Um aber dem Anspruch der kantischen These zu entsprechen, daß Demokratien nur Verteidigungskriege führten, muß der Nachweis anhand aller Kriege erfolgen, nicht nur, wie es die VertreterInnen der These von »demokratischen Frieden« heute tun, anhand der Kriege untereinander. Betrachtet man die Kriege nach 1945 und die Staaten, die an ihnen beteiligt waren, so wird die entstehende Liste von drei Demokratien, den USA, Großbritannien und Frankreich, gefolgt von Indien als vierter Demokratie angeführt. Ganz unten auf dieser Liste finden sich dann neben der Schweiz oder Schweden auch Staaten wie Rumänien oder die Mongolei, die nicht gerade als Musterdemokratien bekannt sind. Und schaut man sich die Kriege der vier Demokratien genauer an, so entsprechen diese in der Regel nicht der kantischen Vermutung, Demokratien führten allein Verteidigungskriege (vgl. u.a. Gantzel/ Schwinghammer, 1995).

Damit ergeben sich zwei zentrale Fragen: Mit einer rein statistischen Auswertung der Kriege (insbesondere der nach 1945) kann zum ersten nicht erklärt werden, warum Demokratien untereinander keinen Krieg geführt haben, bzw. warum Demokratien dennoch in Kriege – auch als Aggressor wie bspw. die USA in Grenada oder Panama – verwickelt waren. Und zum zweiten muß in Hinblick auf die Friedensfähigkeit der heutigen Demokratien erwähnt werden, daß Frieden keineswegs nur auf die zwischengesellschaftliche Ebene beschränkt ist. Auch hier finden sich Ausnahmen von der Regel: Der Krieg Großbritanniens in Nordirland, der Krieg Spaniens im Baskenland oder die gewaltförmigen Auseinandersetzungen im französischen Korsika, um nur einige Beispiele für innergesellschaftliche gewaltförmige Auseinandersetzungen zu nennen.

All dies führt zu der Frage, ob der Frieden, der zwischen den westeuropäisch-nordamerikanischen Staaten seit 1945 herrscht, tatsächlich ein demokratischer Frieden ist, oder ob nicht andere Faktoren – wie bspw. die Bedrohung durch die ehemalige Sowjetunion – dazu geführt haben. Andersherum stellt sich also die Frage danach, welche Bedingungen über Demokratie hinaus erfüllt sein müssen, damit sich die kantische Voraussage erfüllen kann.

Voraussetzungen für den »demokratischen Frieden«

Die Anforderungen, die Kant an eine Demokratie stellt, damit sie friedensfähig ist, gehen sehr viel weiter, als die zumeist sehr formalen Demokratieverständnisse (Wahlen!), die in der Debatte um den demokratischen Frieden heute vertreten werden. Nach Kant müssen die vom Krieg betroffenen Menschen tatsächlich selbst über Krieg oder nicht Krieg entscheiden können. Die Sphäre aber, in der diese Entscheidung gefällt wird, ist bis heute selbst in Demokratien dem demokratischen Willens- und Entscheidungsfindungsprozeß weitgehend vorenthalten geblieben: „Internationale Politik ist (…) immer ein vordemokratisches Relikt geblieben. (…) Über den Einsatz der ‘ultima ratio regis’, der Gewaltmittel des Staates als letztem, höchstem Politikmittel wird nirgendwo, in keiner Demokratie abgestimmt.“ (Albrecht, 1986: 3). Und so kann und wird auch in den heutigen Demokratien das kantische Mitwirkungsgebot unterlaufen: „Mit der Strategie, die politisch eher passiven Teile einer Gesellschaft mit dem Militärdienst und den wirtschaftlichen Folgen einer Kriegs- bzw. Gewaltpolitik zu befrachten und die aktiven und reichen Stimmbürger von dieser Politik profitieren zu lassen, kann Kants Theorem außer Kraft gesetzt werden. (…) Der Zusammenhang von Besitz und Frieden läßt sich also entkoppeln.“ (Czempiel, 1996: 93).

Außer einem demokratischen Herrschaftssystem müssen also noch weitere Voraussetzungen für Frieden erfüllt werden. Diese zusätzlichen Voraussetzungen können, und dies ist das Ergebnis friedenswissenschaftlicher Diskussionen, einerseits innergesellschaftlich und andererseits zwischengesellschaftlich verortet werden. Es gibt also:

  • innere Voraussetzungen für äußeren Frieden,
  • innere Voraussetzungen für inneren Frieden und
  • äußere Voraussetzungen für äußeren Frieden.

Innere Voraussetzungen für die Friedensfähigkeit von »Demokratien«

Wiewohl sehr verkürzt, lassen sich die inneren Voraussetzungen für äußeren Frieden auf das Problem der Demokratisierung von Außenpolitik (u.a. Albrecht 1986: 152ff.) zuspitzen. Ausgehend von dem kantischen Theorem hat Czempiel, (1996: 88ff.) einen Katalog von Mindestanforderungen an ein Herrschaftssystem aufgestellt, damit es friedensfähig im Sinne der kantischen Voraussage sein kann. Dieser Katalog, so Czempiel, könne sicherstellen, daß die von Krieg betroffenen Menschen identisch sind mit denen, die über Krieg und Frieden entscheiden, was auch in den westlichen Demokratien bislang nicht der Fall sei:

  • Die Gesellschaft muß eine Mittelstandsgesellschaft, d.h. wohlhabend sein, da vor allem auf den Besitzbürger die kantische Voraussetzung zuträfe;
  • Sie muß adäquat informiert sein;
  • Sie muß ein demokratisches Herrschaftssystem1 haben, das die gesellschaftlichen Anforderungen umsetzt und der Gesellschaft die Möglichkeit zur Kontrolle gibt;
  • Gesellschaftliche Anforderungen im außenpolitischen Bereich dürfen durch die Intervention von Interessengruppen, die den Entscheidungsprozeß umgehen und/oder verzerren können, nicht substantiell verändert werden;
  • Das politische System muß die (nicht allein finanziellen) Belastungen, die durch außenpolitische Entscheidungen (insbesondere Krieg) entstehen, gerecht unter den Mitgliedern der Gesellschaft verteilen.

Diese inneren Bedingungen beziehen sich aber allein auf den zwischengesellschaftlichen Frieden und berühren die Frage nach dem innergesellschaftlichen Frieden noch nicht. Die idealtypische Struktur, wie sich innergesellschaftlicher Frieden – zumindest in den westeuropäisch-nordamerikanischen Gesellschaften – entwickeln kann, hat Dieter Senghaas (1994) mit dem »zivilisatorischen Hexagon« aufzuzeigen versucht. Neben die »demokratische Partizipation« müssen hier »Gewaltmonopol«, »Rechtsstaatlichkeit«, »soziale Gerechtigkeit«, »Interdependenz und Affektkontrolle« sowie »konstruktive Konfliktkultur« in ein sich wechselseitig stützendes und verstärkendes innergesellschaftliches Verhältnis treten, das erst als Ganzes geeignet ist, Frieden im Sinne eines „gewaltfreien und auf die Verhütung von Gewaltanwendung gerichteten politischen Prozesses“ zu ermöglichen. Demokratie, verstanden als die Möglichkeit von Individuen und Gruppen, an der politischen Willensbildung tatsächlich und nicht nur formal mitwirken zu können, ist hier zwar unter den wesentlichen Elementen einer friedensfähigen Gesellschaft zu finden – aber eben nur als ein Element.

Allein Demokratie zu sagen, reicht also nicht aus, den demokratischen Frieden auch herzustellen. Vielmehr sind auch die demokratischen Gesellschaften bis heute weit davon entfernt, allein die inneren Voraussetzungen für inner- und zwischengesellschaftlichen Frieden zu erfüllen.

Zwischengesellschaftliche Voraussetzungen für äußeren Frieden

In der aktuellen politischen Diskussion werden zwei Begriffe, Stabilität und Sicherheit, de facto synonym verwendet. Die angestrebte Stabilität kann jedoch, in einem dynamischen System wie den internationalen Beziehungen, keine starre, unveränderbare sein, sondern es muß von einer dynamischen Stabilität (d.h. Veränderung) ausgegangen werden. (Absolute) Sicherheit, d.h. im Kern Unveränderlichkeit, kann eben nicht erlangt werden. Veränderungen aber sind immer auch konfliktiv und potentiell gewaltverursachend. Hieraus ergibt sich notwendig die Frage nach den Voraussetzungen für »friedlichen Wandel«. Diese sind nach Johan Galtung (1972)2:

  • Symbiose, d.h. die so weit gehende Interdependenz der einzelnen Teile, daß die Schädigung des andern auch eine Selbstschädigung bedeutet. Bei Senghaas (1997: 562) wird hier der Begriff der »positiven Interdependenz« verwendet, der deutlicher als Galtungs »Symbiose« den Inhalt – die »wechselseitige Relevanz« der Beziehungen – auszudrücken vermag. Diese sei in den „wesentlichen Dimensionen von Ökonomie, Kommunikation und Kontakten“ zu erreichen.
  • Symmetrie in dem Sinne, daß die oben angesprochene Interdependenz symmetrisch sein muß, daß jede einzelne Partei von der anderen gleich stark abhängig ist, daß keine Herrschafts- oder einseitigen Abhängigkeitsverhältnisse bestehen und daß alle gleichmäßig am Entscheidungsprozeß beteiligt sind. Senghaas (1997: 562) verwendet hier korrekterweise den Zusatz »annähernd«, weil keine Struktur jemals tatsächlich symmetrisch beschaffen sein könne. Er beschränkt zudem die Symmetrie im wesentlichen auf die ökonomische Ebene in dem Sinne, daß „jede Seite über vergleichbare Kompetenzen der Wertschöpfung“ verfügen soll und somit eine „substitutive Arbeitsteilung“ entsteht.
  • Homologie als strukturelle Gleichartigkeit der Parteien in politischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht, so daß jederzeit ein Gegenspieler auf der anderen Seite gefunden werden kann. Dies erleichtert intensive Beziehungen untereinander und fördert zugleich »Empathie«, d.h. die Möglichkeit sich in den Anderen projektiv hineinzuversetzen (vgl. auch Senghaas, 1997: 563).
  • Entropie als Zusammenarbeit auf allen Kanälen, nicht nur bspw. auf seiten der Regierungen. Entropie kann damit als „vielfältige Kreuz- und Querbezüge“, als „erhebliches Maß an Selbstregulierung ohne zentralistische, hierarchisch-abgestufte Vorgaben“ (Senghaas, 1997:564) verstanden werden.
  • Transzendenz im Sinne des Findens oder des Aufbaus gemeinsamer Organisationen, in denen die Parteien sich treffen, beraten, verhandeln, entscheiden und Konflikte konstruktiv bearbeiten können, die Frage also nach der Verfügbarkeit und der Nutzung von internationalen Institutionen. Senghaas (1997: 564) überschreibt diesen Punkt denn auch konsequent mit »gemeinsame Institutionen«.

Bereits hier wird klar, daß Demokratie allein keine strukturell friedenstauglichen Beziehungen zwischen Gesellschaften herstellen kann, sondern daß mindestens die über die innere Organisation des Herrschaftssystems hinausgehenden Bedingungen für »friedlichen Wandel« erfüllt sein müssen.

Demokratie kann allerdings zu Teilen erklären, warum sich relativ friedliche Beziehungen, wie wir sie im Verhältnis zwischen den westeuropäisch-nordamerikanischen Staaten finden, leichter entwickeln konnten, als zwischen verschiedenen Herrschaftssystemen. Das Stichwort, das hier genannt werden muß, heißt Wertekompatibilität. Wertekompatibilität bezeichnet bezogen auf friedlichen Wandel zunächst das gegenseitige Sich-nicht-Ausschließen zentraler Werte der beteiligten Gesellschaften. So können selbst voneinander stark abweichende Wertorientierungen solange koexistieren, wie sie keinen universellen Gültigkeitsanspruch gegeneinander erheben (Krokow, 1962: 202f.). Wertekompatibilität kann damit zunächst als die negative Bedingung für friedlichen Wandel, als die Frage nach einer eventuellen Inkompatibilität, interpretiert werden: Solange zentrale Werte nicht inkompatibel und gegeneinander auftreten, bleibt die Chance auf friedlichen Wandel bestehen. Stärker positiv auf den jeweils »Anderen« bezogen ist Wertekompatibilität aber hinsichtlich der Entwicklung von friedlichem Wandel zu verstehen. Ein Sich-Nicht-Ausschließen reicht hier nicht mehr aus, sondern es muß jener »sense of community« entstehen, den Deutsch u.a. (1957) minimal als die gemeinsame Überzeugung verstehen, daß Gewalt zur Bearbeitung von Konflikten nicht mehr eingesetzt werden darf. Wenn es, wie vielfach behauptet, eine »westliche Wertegemeinschaft« gibt, so könnte diese Wertekompatibilität – eher als das Stichwort Demokratie – erklären, warum die westlichen Herrschaftssysteme nach 1945 nicht dazu neigten, untereinander Krieg zu führen. Doch auch hier ist zu bedenken, daß sich der Frieden zwischen den westeuropäisch-nordamerikanischen Staaten nicht natürlich entwickelt hat, sondern im Kontext des »Kalten Krieges«, als sich diese Herrschaftssysteme einer Herausforderung durch ein konkurrierendes ausgesetzt sahen. Zudem verweisen die wachsenden Spannungen innerhalb der westeuropäisch-nordamerikanischen Staatenwelt seit Ende des »Kalten Krieges« nicht zuletzt darauf, daß der demokratische Frieden kein Automatismus ist, sondern politisch gewollt und immer wieder erneuert werden muß.

Demokratie=Frieden?

Der demokratische Frieden ist ein Konzept, das auch in den Friedenswissenschaften heute fast unwidersprochen vertreten wird. Dennoch bleibt die einfache Gleichsetzung von Demokratie und Frieden hinter dem Wissen um friedensfähige inner- und zwischengesellschaftliche Strukturen weit zurück. Demokratie alleine reicht in keinem Fall aus, friedensfähige inner- wie zwischengesellschaftliche Strukturen zu schaffen. Erst wenn eine große Anzahl weiterer Bedingungen erfüllt ist, können sich strukturell friedensfähige Strukturen auch dauerhaft verfestigen. Deren Fortexistenz ist aber ebensowenig garantiert, wie das Überleben demokratischer Systeme. Auch friedensfähige Strukturen reichen allein nicht aus, den Frieden zu garantieren, sondern es bedarf der stetigen Anstrengung, den Frieden zu erhalten. Der »Ewige Frieden« ist kein Zustand, sondern ein gesellschaftlich/ politisch/ ökonomischer Prozeß, der immer wieder neu auch politisch gewollt, vertieft und bestätigt werden muß. Solange die heutigen Demokratien die Bedingungen für dauerhaften Frieden nicht erfüllen und zum guten Teil auch nicht erfüllen wollen, solange bleibt die einfache Gleichsetzung von Demokratie und Frieden im besten Fall ein Ideal im kantischen Sinne, im schlechtesten Fall falsche und vielleicht sogar gefährliche Ideologie.

Literatur

Albrecht, U. (1986): Internationale Politik. Einführung in das System internationaler Herrschaft, München/ Wien.

Czempiel, E.-O. (1996): Kants Theorem, Oder: Warum sind Demokratien (noch immer) nicht friedlich? in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Nr. 1.

Deutsch, K. W. u.a. (1957): Political Community in the North Atlantic Area. International Organization in the Light of Historical Experience, Princeton.

Galtung, J. (1972): Europa – bipolar, bizentristisch oder kooperativ, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B41.

Gantzel, K. J./Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1992. Daten und Tendenzen, Hamburg.

Kant, I. (1922): Zum ewigen Frieden, Sämtliche Werke, Bd. 6, Leipzig.

Krokow, C. Graf v. (1962): Soziologie des Friedens. Drei Abhandlungen zur Problematik des Ost-West-Konflikts, Gütersloh.

Ladwig, B. (1995): »Zum Ewigen Frieden« von Immanuel Kant. Zur Aktualität eines philosophischen Friedensenturfs, in antimilitarismus information Nr. 7-8.

Nielebock, T. (1993): Frieden zwischen Demokratien: Ein empirisches Gesetz der Internationalen Beziehungen auf der Suche nach seiner Erklärung, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Nr. 2.

Rittberger, V. (1987): Zur Friedensfähigkeit von Demokratien. Betrachtungen zur politischen Theorie des Friedens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 44, 31.10.

Rousseau, D.L./Gelpi, C./Reiter, D./Huth, P.K. (1996): Assessing the Dyadic Nature of the Democratic Peace, 1918-88, in: American Political Science Review, No. 3.

Russett, B. (1993): Grasping the Democratic Peace. Principles for a Post Cold War World, Princeton.

Senghaas, D. (1994): Wohin driftet die Welt?, Frankfurt/M.

Senghaas, D. (1997): Frieden – Ein mehrfaches Komplexprogramm, in: ders. (Hrsg.), Frieden machen, Frankfurt/ M.

Zielinski, M. (1995): Friedensursachen. Genese und konstituierende Bedingungen von Friedensgemeinschaften am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland und der Entwicklung ihrer Beziehungen zu den USA, Frankreich und den Niederlanden (= Demokratie, Frieden, Sicherheit Bd. 97), Baden-Baden.

Anmerkungen

1 Als Mindestanforderungen an ein »demokratisches Herrschaftssystem« nennt Czempiel (1996: 88f.) im Anschluß an Robert A. Dahl insgesamt sieben Kriterien: 1) Kontrolle der Regierung durch gewählte Vertreter; 2) Freie und faire Wahlen; 3) Wahlrecht für praktisch alle Erwachsenen; 4) Passives Wahlrecht für praktisch alle Erwachsenen; 5) Geschütztes Recht auf Meinungsfreiheit; 6) Alternative Informationsquellen, kein Regierungs- oder sonstiges Monopol; 7) Vereinigungsrecht. Zurück

2 Vgl. auch Senghaas 1997; Zielinski 1995 Zurück

Dr. phil. Arend Wellmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schleswig-Holsteinischen Institut für Friedenswissenschaften (SCHIFF) an der Christian Albrechts Universität zu Kiel.

Außen- und Militärpolitik transparenter machen

Außen- und Militärpolitik transparenter machen

Wissenschaft und Öffentlichkeit müssen mitbestimmen

von Paul F. Walker

Außen- und Militärpolitik, insbesondere zu Fragen von Krieg und Frieden, werden von herrschenden Eliten entworfen und umgesetzt, Wissenschaft und Öffentlichkeit werden bisher kaum oder gar nicht einbezogen. Über teure Waffenbeschaffungsprogramme, wie das 45 Milliarden Dollar kostende B-52-Bomberprogramm oder das 50 Mrd. Dollar verschlingende Forschungsprogramm für den »Krieg der Sterne«, wird jährlich im US-amerikanischen Kongreß ohne nennenswerte Beteiligung von außen, abgesehen von Lobbyisten der interessierten Forschungsstätten und Industrie, abgestimmt. Öffentliche Bedenken und Kontrollen spielten und spielen bei den großen Stationierungsvorhaben der Streitkräfte im Ausland, z.B. in Haiti, Ruanda, Bosnien, Somalia, keine Rolle. Auch die Aufsicht des Kongresses wurde in manchen Fällen ausgesetzt. Ein Großteil des derzeitigen jährlichen Militärhaushaltes der USA von 268 Mrd. Dollar wird ohne öffentliche Debatte und Kontrolle beschlossen.

Die selbst in einer so starken Demokratie wie den USA weitverbreitete Ansicht, Außen- und Militärpolitik seien zu komplex, wichtig und esoterisch, um sie der Öffentlichkeit zu überlassen, könnte eine wichtige Ursache für diesen Zustand sein. Die mühsame Entscheidungsfindung wird erfahrenen und seit Jahren in die Politikgestaltung einbezogenen Experten überlassen. Ein weiterer Aspekt könnte der Glaube an Elitesysteme sein, der annimmt, daß exklusive Prozesse der Entscheidungsfindung einfacher und effektiver seien. Zumindest in den Augen traditioneller Bürokraten kompliziert die Einbeziehung von Experten von außen und der Öffentlichkeit die anstehenden Fragen nur unnötig.

Doch im Laufe der Geschichte gab es zahlreiche Fälle, in denen wissenschaftliche und öffentliche Ratschläge und Hinweise weitreichende Fehlentscheidungen der Regierung verhinderten, bereits vollzogene Entscheidungen neu zur Debatte stellten und schwierige politische und wirtschaftliche Programme erst durchsetzungsfähig machten.

Hierfür einige Beispiele:

  • Sowohl die Behauptung einer »Bomber-Lücke« 1955 als auch die einer »Raketen-Lücke« 1960, mit denen sich die USA als in Bomber- und Raketenbestand der Sowjetunion weit unterlegen darstellte, konnten nach und nach als Fehlinterpretationen der Geheimdienste entlarvt werden. Besonders interessant ist der Fall der »Bomber-Lücke«, die auf der Zahl der strategischen Bomber beruhte, die ein US-amerikanischer Spion in Moskau am 1. Mai über dem Roten Platz gezählt hatte und die die US-amerikanische Luftwaffe veranlaßte, die Produktion der Langstreckenbomber zu forcieren, um mit dem Gegner im Kalten Krieg gleichzuziehen. Einige Jahre und Hunderte von Bombern später wurde in neuen, z.T. von Außenseitern durchgeführten Untersuchungen festgestellt, daß sich hinter den Bombern vom Roten Platz nur eine Schwadron verbarg, die über Moskau kreisend wieder und wieder über die Parade zum 1. Mai geflogen war.
  • Anfang der sechziger Jahre waren es Wissenschafter, Mediziner und Zahnärzte, die in Kinderzähnen einen erhöhten Strontium 90-Gehalt feststellten und daraufhin die Öffentlichkeit über diese Tatsache informierten, weitere wissenschaftliche Untersuchungen anregten. Sie verstärkten den politischen Druck für eine Unterzeichnung des »Begrenzten Teststoppvertrages« von 1963.
  • Ein knappes Jahrzehnt später scheiterte das bedeutende US-amerikanische Vorhaben, ein Schutzschild gegen ballistische Raketen (ABM, anti-ballistic missiles) für das Land aufzubauen – die einzige aufgebaute Abfangeinrichtung arbeitete nicht einmal eine Woche – nachdem Außenseiter mit sorgfältig erarbeiteten und weitreichenden Kritiken nachweisen konnten, daß das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Programms sehr ungünstig war. Leider waren auch hier, wie in zahlreichen anderen Fällen, bereits Milliarden von Dollar ausgegeben worden, bevor das Programm aufgegeben wurde.
  • In den späten siebziger Jahren, unter der Regierung Jimmy Carter, versuchte die US-amerikanische Luftwaffe, 200 interkontinentale ballistische MX-Raketen auf riesigen Lastwagen zu stationieren. Sie sollten zu einem System mobiler Basen in den Bundesstaaten Utah und Nevada aufgebaut werden. Dieses Großprojekt, das wahrscheinlich zehnstellige Milliardenbeträge von Dollar und ungeheure Mengen an Zement, Wasser und Land verschlungen hätte, wurde vorgeschlagen, um der von den Nuklearstrategen befürchteten wachsenden atomaren Erstschlagskapazität der Sowjetunion begegnen zu können. Es wurde angenommen, daß viele der MX-Raketen, die ständig zwischen tausenden von Raketengaragen in der Wüste hin- und herbewegt werden sollten, jeden Erstschlag überstehen und für einen Vergeltungsschlag zur Verfügung stehen würden. Zahlreiche Wissenschafter, Umweltschützer und andere Angehörige der akademischen Gemeinschaft engagierten sich in weitreichenden öffentlichen Untersuchungen, Debatten und Kritiken des Programms. Es wurde z.B. nachgewiesen, daß die Hitze, die die atomar bestückten Raketen in ihren Verstecken oder auf Lastwagen abgeben würden, den jeweiligen Standort für Infrarotsatelliten sichtbar machen würde. Die Luftwaffe behauptete daraufhin, alle Garagen und LKWs würden mit Klimaanlagen ausgestattet. Doch in weiteren Untersuchungen durch die Öffentlichkeit konnte nachgewiesen werden, daß die Klimaanlagen selbst aufspürbare Hitzesignale abstrahlen würden. Weitere strittige Punkte befaßten sich mit dem Wasserverbrauch in der Wüste, den Umweltschäden an tausenden von Quadratkilometern Land und der Spionageanfälligkeit des Programms. Nach mehreren Jahren heftiger öffentlicher Debatten wurde das Projekt mobiler Basen für MX-Raketen aufgegeben, womit dem Steuerzahler die Ausgabe von Milliarden von Dollar und der Regierung Carter ein wahrhaft unnötiges und möglicherweise destabilisierendes Militärprogramm erspart blieben.

Es gab in der Geschichte viele weitere Beispiele, in denen Außen- und Militärpolitik durch wissenschaftliche und öffentliche Beteiligung positiv beeinflußt wurden, doch zwei aktuelle Innovationsprogramme verdienen hier noch besondere Erwähnung:

Die seismische Verifikation unterirdischer Atomtests

Zum einen geht es um die seismische Verifikation unterirdischer Atomtests. Den Lesern wird wohl bewußt sein, daß der »Begrenzte Teststoppvertrag« von 1963, der Atomtests in der Atmosphäre, unter Wasser und im Weltraum untersagt, die meisten Atomtests in den Untergrund trieb. Seismische Verifikationstechniken stehen daher im Mittelpunkt wenn bestimmt werden muß, wer wann eine nukleare Vorrichtung welcher Größe testet. Seismische Meßtechniken werden zudem ein wichtiger Teil des neuen »Umfassenden Teststoppvertrages« (CTBT) sein, der von den USA und Rußland noch ratifiziert werden muß.

Mitte August dieses Jahres, als die Debatte um die Ratifizierung des CTBT in Washington und Moskau langsam in Gang kam (der US-amerikanische Senat hatte kurz zuvor, im April, die Chemiewaffenkonvention ratifiziert), beschuldigten mit militärischen seismologischen Überwachungsanlagen arbeitende Aufklärungsexperten der US-Regierung die Russen, in der arktischen Region einen geheimen Nukleartest durchzuführen. Hätte dies zugetroffen, wäre dieser Test ein Bruch des seit langem eingehaltenen russischen Moratoriums zu Atomtests gewesen; allein die Anschuldigung hatte einen ernstzunehmenden schädlichen Einfluß auf die Aussichten des CTBT, vom US-amerikanischen Senat ratifiziert zu werden und spielte in die Hände der rechten Teststoppgegner.

Doch in den letzten Jahren wurde weltweit ein unabhängiges Netz bescheidener seismischer Lauschanlagen aufgebaut. Dieses »Incorporated Research Institutions for Seismology« oder IRIS genannte Netz wurde z.T. vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium finanziert, um sich eine zweite Verifikationsschiene für den bevorstehenden »Umfassenden Teststoppvertrag« vorzubehalten. Die erste seismische Verifikationsschiene wird eine wesentlich geringere Zahl teurer seimischer Abhörstationen umfassen, die rund um die Uhr arbeiten und Daten in Echtzeit an zentrale Verarbeitungseinrichtungen schicken. Das IRIS-Netz ist viel bescheidener, weltweit werden die seismischen Daten Tage oder Wochen nach den tatsächlichen Messungen von Studenten abgefragt und weitergeleitet. Andererseits macht allein die Größe des IRIS-Netzes mit einigen hundert Stationen, die wiederum Zugang zu einigen zehntausend weiteren zivilen Einrichtungen rund um den Globus haben, es möglich, begründete Schlußfolgerungen zu Fragen atomarer unterirdischer Tests zu ziehen.

Im Oktober stellten Wissenschaftler, die mit den von IRIS gelieferten Daten arbeiteten, fest, daß es sich bei dem verdächtigen Vorfall vom 16. August zweifelsfrei um ein Erdbeben handelte. Dr. Paul Richards und Dr. Won-Young Kim, zwei auf die Verifikation von Atomtests spezialisierte Seismologen des Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia Universität, schrieben in der Zeitschrift Nature, daß das seismische Beben sich viele Kilometer südöstlich der Atomtestanlagen Novaya Zemlya im Karasee, einem Arm des nördlichen Polarmeeres, ereignet hatte. Die zuerst von einer Station in Finnland aufgezeichneten seismischen Daten ähnelten jenen bekannter Erdbeben in der Region.

Dr. Greg van der Vink, Direktor des seismologischen Verbundes IRIS, nannte die Untersuchung „einen Triumph“ unabhängiger und ziviler Forschung zu derart militärisch relevanten Daten. Ohne diese Entlarvung staatlicher Behauptungen eines russischen Atomtests hätten die US-amerikanischen Regierungsstellen die Chancen für die Ratifizierung des CTBT und für ein dauerhaftes Verbot von Atomtests vielleicht in Frage gestellt.

Auch diese unabhängigen, von Außenseitern durchgeführten Untersuchungen zu seismischen, mit Atomtests in Verbindung stehenden Fragen haben Vorläufer. 1993 etwa entdeckte eine interessierte Gruppe der Öffentlichkeit, daß China eine Testeinrichtung für einen neuen Atomtest vorbereitete. Die Öffentlichkeit, die daraufhin zu dem chinesischen Test hergestellt wurde, förderte den Aufbau seismischer Meßeinrichtungen und den öffentlichen Druck für einen Teststopp.

Chemiewaffenvernichtung

Im Zusammenhang mit der Vernichtung von Chemiewaffen zeigt sich ein zweites und aktuelles Beispiel, welch entscheidende Rolle Bürger und Wissenschaftler bei der Entscheidungsfindung in der Außen- und Militärpolitik spielen können. Die seit Dutzenden von Jahren verhandelte, jetzt von mehr als 150 Staaten aus allen Teilen der Welt unterzeichnete Chemiewaffenkonvention verbietet die Forschung zu, die Produktion, Lagerung und den Einsatz von Chemiewaffen und verlangt die vollständige Vernichtung chemischer Wirkstoffe und Munition binnen zehn Jahren. Die Vereinigten Staaten begannen vor einem Jahrzehnt mit der Forschung zu Vernichtungstechnologien und haben bis heute zwei große Verbrennungsanlagen aufgebaut, einen Prototyp auf dem pazifischen Johnson-Atoll und eine zweite in Tooele in Utah. In der pazifischen Verbrennungsanlage wurden bereits chemische Waffen verbrannt, die kürzlich aus Deutschland und Okinawa abgezogen wurden, während in der Verbrennungsanlage von Tooele mit Wirkstoffen aus dem Lager in Utah, einer von acht Einrichtungen in den USA, begonnen wurde.

Öffentliche Ablehnung und wissenschaftliche Bedenken wegen der Risiken der Verbrennung für die allgemeine Gesundheit und die Umwelt sind zwei der Problemkreise, die mit diesem Programm verbunden sind. Während die US-amerikanische Armee auf andere Staaten wie Deutschland verweist, die alte Chemiewaffenbestände verbrennen, und behauptet, daß beide Verbrennungsanlagen sämtlichen in Frage kommenden gesundheitsbezogenen und Sicherheitsstandards entsprechen, weisen mehrere Gouverneure und Kongreßabgeordnete auf zeitweilig auftretende Freisetzungen von Wirkstoffen, Dioxinen und Furanen, aus der Verbrennungsanlage im Pazifik sowie auf die Unfähigkeit der Epidemologie hin, gesicherte Erkenntnisse über die langfristigen, kumulativen gesundheitlichen Wirkungen minimaler Dosen von Wirkstoffen und Giften in der Luft bereitzustellen. Infolge dieser Bedenken wurden in Utah zivilrechtliche Klagen und Prozesse angestrengt. Zudem haben bis heute vier ausgesprochen glaubwürdige »whistleblowers« (Insider, die geheime, kritische Informationen an die Öffentlichkeit weitergeben) die Sicherheit der Anlage in Tooele öffentlich in Frage gestellt.

U.a. wegen dieser Bedenken hinsichtlich der Vernichtung chemischer Waffen hat der US-amerikanische Kongreß 1996 ein »Alternative Technology«-Programm (AltTech II) geschaffen, das der Erforschung, Entwicklung und Demonstration von Technologien dienen soll, die nicht auf Verbrennung basieren. Im Rahmen dieses Prozesses lud der Leiter des AltTech II-Programms zu einem »nationalen Dialog« interessierter Gruppen ein. Wissenschaftler, Umweltschützer, staatliche Vermittler, vor Ort betroffene Aktivisten, Vertreter des Bundesstaates und nationale Umweltschutzorganisationen, die sich mit der Vernichtung von Chemiewaffen befassen, sollen gemeinsam die Kriterien erörtern und festlegen, anhand derer neue, alternative Technologien bewertet werden. Die »Dialogue on Assembled Chemical Weapons Assessment« oder DACWA genannte Gesprächsgruppe traf sich in einem Zeitraum von sechs Monaten viermal für jeweils ein bis drei Tage und vereinbarte erst kürzlich ein Treffen mit einem neuen Beratungskomitee zu alternativen Vernichtungstechnologien an der Nationalen Akademie der Wissenschaften.

Der Dialog hat 35 Mitglieder und hat bereits sehr deutlich gemacht, daß eine tatsächliche und nicht nur symbolische Einbeziehung von Betroffenen und Beteiligten schwierige Entscheidungsfindungsprozesse zu kontroversen Projekten erleichtern kann. Beide Seiten, Gegner und Befürworter der Verbrennung, sind einbezogen und alle Mitglieder des Dialogs erkennen an, daß Chemiewaffen vernichtet werden müssen, daß die Verbrennung bis heute strittig ist und daß es daher schwierig ist, den Zeitplan und Haushaltsvorgaben einzuhalten sowie, daß die Entwicklung von Alternativen letztendlich der Konsensbildung zugute kommt.

Fazit

In der Vergangenheit wurden schwierige und kontroverse Entscheidungen entweder durch Klassifizierung oder das Prozeßdesign offiziell unter Verschluß gehalten. Jetzt wird deutlich, daß die aktive öffentliche Teilhabe u.a. der wissenschaftlichen Gemeinschaft, der regionalen und lokalen Wählerschaften und der allgemeinen Interessengruppen nicht nur hilfreich, sondern notwendig ist. Auf den ersten Blick mag Transparenz in der Entscheidungsfindung und Konsensbildung, der alle Beteiligten vertrauen und in deren Verlauf sie ein originäres Interesse an dem Prozeß und dem Ergebnis erlangen, zwar schwierig und teuer sein, aber langfristig verhindert solch ein Prozeß zeitraubende gerichtliche Verfahren, politische Mißstimmungen und manchmal schwerwiegende Fehlentscheidungen.

Regierungen müssen für ihre Taten verantwortlich gemacht werden, und Teilhabe der Öffentlichkeit und wissenschaftliche Zweifel und Analysen sind ein Schlüssel hierzu. So werden bedeutende politische Entscheidungsfindungsprozesse zu Erfahrungen, in denen alle gewinnen und nicht alle verlieren oder einige gewinnen und andere verlieren.

Übersetzung aus dem Englischen: Marianne Kolter.

Paul F. Walker ist Politikwissenschaftler und Geschäftsführer von Global Green USA, einer Mitgliedsorganisation des Internationalen Grünen Kreuzes. Er war Mitglied des Armed Services Committee des Repräsentantenhauses der USA.

Die Legende vom saub’ren Soldaten

Die Legende vom saub’ren Soldaten

von Astrid Albrecht-Heide

Eine offenbar allzu kurzatmige Irritation wurde durch Soldaten in Hammelburg ausgelöst. Der Flut-Katastropheneinsatz an Oder und Neiße legt sich danach rasch wie ein ziviler Heldenmantel über die gesamte Truppe. Dabei gilt es Irritation und Entsetzen wachzuhalten. Als die Videos über Scheinhinrichtungen und -vergewaltigungen bekannt wurden, waren Zeitungs- und Kommentarüberschriften selbst in gemeinhin demokratisch aufmerksameren und sensibleren Blättern, wie etwa der »Frankfurter Rundschau« eher im Wortsinne »daneben«. Dort war z.B. zu lesen: „Ein kleines bißchen Horrorshow“ (8.7.97) oder „Der Video-Skandal“ (9.7.97). Gewollt oder ungewollt wird mit solchen Formulierungen skandalisiert und entwirklicht zugleich. Die virtuelle Realität läßt grüßen; denn die Wirklichkeit des gewaltsamen »Spiels« wird gleichsam aus dem Blick geräumt.

Durch eine skandalisierende Entwirklichung können die Hammelburger Ereignisse – und das ist gravierender – jedoch auch als Unfälle oder ein »Aus-der-Rolle-fallen« aus einem eigentlich friedlichen »Spiel« begriffen werden. Die potentiell tödliche und selbstmörderische Realität, auf die jede Militärausbildung vorbereitet, kann auf diese Weise nicht Entsetzen auslösen, sondern wird auf das Hammelburger »Spiel« verschoben.

Eine der Kernfragen ist, ob die gespielten Gewaltszenen etwas mit der militärischen Normalität zu tun haben. Hält man sich vor Augen, daß jedes Militärmanöver nichts anderes als ein »gespieltes« Gewaltszenario ist, so liegt der Verdacht nahe, daß Hammelburg für etwas anderes steht. Das dorthin verschobene Entsetzen müßte sich vielleicht eher darauf richten, daß junge Männer im Militär lernen müssen, sich vom zivilen Tötungsverbot zur militärischen Tötungserlaubnis (gegebenenfalls auch zum Tötungsgebot) zu bewegen. Soldaten lernen zu töten und werden auf einen möglichen Selbstmord vorbereitet. Die handwerklichen und technischen Voraussetzungen ebenso wie die psychische Bereitschaft müssen erlernt werden. Dies kann nur gelingen, wenn das eigene und das andere Leben und deren Lebendigkeit ihren spürbaren Wert verloren haben. Dies erfordert als »minimale« emotionale Voraussetzung Abspaltung der Gefühle, kann jedoch auch durch Abstumpfung und Vergleichgültigung möglich werden. Schließlich kann aber auch eine emotional lustvolle Besetzung dieses Handlungsfeldes erfolgen.

Nun kann mit Recht darauf verwiesen werden, daß es in der alltäglichen militärischen Ausbildung nicht um das Einüben von Hinrichtung und Folter geht. Die militärische Ausbildung schafft jedoch eine emotionale Abspaltung, Entgrenzung oder auch Brutalisierung gegenüber der Wertschätzung des individuellen Lebens, so daß ein emotionales Unterfutter für entsprechende Handlungen mit hergestellt wird.

Die militärische Sozialisation, besonders in der Grundausbildung, ist stark reglementiert und erfolgt serienmäßig. Dabei spielt Entindividualisierung eine entscheidende Rolle. An die Stelle der zivilen Identität soll die militärische Identität treten. Jede militärische Sozialisation arbeitet mit Demütigungen, ohne daß diese im übrigen »dramatisch« sein müssen: Kleiderordnung, Schrankordnung, Zimmersauberkeit und Bettenmachen – um die zivile Terminologie zu verwenden – werden kontrolliert und überprüft. Dies ist mit Unterwerfungsleistungen verbunden. Als Preis winkt eine Steigerung von Männlichkeit insbesondere durch die Ausbildung an Waffen. Erkauft wird diese Steigerung von Männlichkeit durch Gehorsam und Unterwerfung.

Diese Elemente müssen mitgedacht werden, wenn die militärische Tötungserlaubnis und das dazugehörige seelische Unterfutter ungesicherte Grenzen gegenüber anderer Gewalt einschließt. Diese ungesicherten Grenzen haben z.B. Menschen wie Baudissin (wer war das überhaupt, werden viele jüngere Leute fragen…) dazu bewogen, mit dem Konzept vom »Bürger in Uniform« hohen Wert auf eine zivil-identische Verortung des einzelnen Soldaten in der demokratischen Gesellschaft zu legen – auch wenn es dabei um so etwas wie die Quadratur des Kreises geht.

Mit der »Normalisierung« eines deutschen Militärs nach dem Ende des kalten Krieges erfolgt eine Normalisierung des Soldatenberufes, in der die Besonderheiten – Töten und Zerstören als unaufhebbare Berufspotentiale – drohen, zum Nicht-Thema gemacht zu werden. Und spätestens Hammelburg zeigt, daß dies nicht gelingen kann.

Hammelburg zeigt jedoch auch noch ein zweites. Dort wurden ja nicht nur Scheinhinrichtungen sondern auch -vergewaltigungen »gespielt«. Der Frage, ob und gegebenenfalls wie Vergewaltigungen »lediglich« Ausfälle sind, oder zur (militärischen) Männlichkeit gehören, kann daher kaum ausgewichen werden.1 Um diese Frage beantworten zu können, müssen einige Gedanken zusammengeführt werden.

Viele soldatische Tätigkeiten, wie z.B. Putzen, Ordnung halten/herstellen, das passive Bewegtwerden, gelten im zivilen Leben keineswegs als »männlich«, sondern sie sind im kulturellen Sinne weit eher »weiblich« kodiert. Daher vermögen diese Tätigkeiten unterschwellige Ängste bei den Soldaten auszulösen, d.h. das Militär arbeitet systematisch mit Verweiblichungsangst, nicht unbedingt bewußt oder gar mit strategischem Kalkül. Dieser ständigen Bedrohung seiner Männlichkeit gilt es auf Seiten des Soldaten u.a. durch Straffheit und Härte immer wieder zu begegnen. Sie kann nicht ein für alle mal gebannt werden; die dadurch ausgelöste und in Gang gehaltene Dynamik entspricht einer Suchtstruktur.

Hinzu kommt, daß die Verweiblichungsangst eine zivile Grundlage hat; sonst könnte das Militär nicht mit ihr arbeiten. Sie ist darin begründet, daß dem kleinen Jungen in unserer Gesellschaft durch die privat meist abwesenden Väter zugemutet wird, seine Identität durch die Abgrenzung von einer Frau (meist seiner Mutter) zu bestimmen. Es geht für ihn darum, daß er nicht so wird wie sie. Der besondere Charakter ergibt sich daraus, daß die Frau in unserer Kultur als Nicht-Mann definiert ist, weil sie (als Kategorie) durch all das definiert ist, was der Mann nicht verkörpert. Die Aufgabe des kleinen Jungen ist also eine doppelte negative Abgrenzung, nämlich nicht so zu werden wie der Nicht-Mann. Und das ist mit Angst verbunden, mit der u.a. das Militär arbeiten kann. Die Abgrenzungsbemühungen gegenüber dem Weiblichen gelingen am ehesten durch Abwertung, die ja in unserer Kultur zudem nicht vom einzelnen gefunden werden muß, sondern quasi auf der Straße liegt. Die abwertende Abgrenzung ist bei Vergewaltigungen mitzudenken. Vorliegende Untersuchungen sprechen außerdem dafür, daß es im Militär zu einer Brutalisierung und Simplifizierung im Verhältnis von Soldaten zu Frauen kommt. Frauen werden oft verstärkt auf »Sexual«-Objekte reduziert. Ob es nun gefällt oder nicht: Sexuelle Potenz als Ausdruck von Kämpfertum (im Kampf gegen die Verweiblichungsangst) ist eine im Militär verbreitete Ansicht.

Eine weitere Tatsache, die in dem Zusammenhang von (militärischer) Männlichkeit und Vergewaltigung herangezogen werden muß, ist jene vor allem in Männerbünden verbreitete Spaltungslogik in sog. gute und sog. böse Frauen. Die Frauen im Feindesland – und dies wurde in Hammelburg phantasierend geübt – werden in aller Regel den sog. bösen Frauen zugeordnet. Und spätestens durch die Vergewaltigung werden sie in diesem Verständnis zu Huren gemacht. Dies ist die Botschaft von Männerbund zu Männerbund. Den »feindlichen« Männern wird vorgeführt, daß die Beziehung zu ihren Frauen nichts (mehr) wert ist. Die gewalttätige Spaltungslogik bewegt sich so in einem Zirkel einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Schließlich gehört hier ein noch abgründigerer Aspekt her, mit dem deutlich wird, daß im Hinblick auf einen »saub`ren Soldaten« kein Land und kein sicherer Boden zu gewinnen ist. In der Militärlogik sind männliche Wehrfähigkeit mit Tötungsprivileg und weibliche Gebärfähigkeit aufeinander bezogen. Das männliche Tötungsprivileg obsiegt im Krieg über das Leben. Indem bei Vergewaltigungen im sogenannten Feindesland – ohne die kein neuzeitlicher Krieg »auskam« – dem Ort des Gebärens Gewalt angetan wird, erhält der Sieg des Tötungsprivilegs über die Gebärfähigkeit Ausdruck.

Anmerkungen

1) Wesentliche Gedanken hierzu verdanke ich Mario Erdheim, Carol Hagemann-White, Doris Janshen u. Klaus Theweleit. Zurück

Profn. Dr. Astrid Albrecht-Heide lehrt an der Technischen Universität Berlin Sozialisationsforschung aus der heraus sie u.a. Friedens- und Konfliktforschung betreibt. Sie gehört zum Netzwerk Friedensforscherinnen.

Tucholsky und die Soldatenehre

Tucholsky und die Soldatenehre

Zur historischen Vorgeschichte des geplanten Ehrenschutz-Gesetzes

von Michael Hepp

Im März dieses Jahres hat die Regierungskoalition eine Gesetzesinitiative zum Ehrenschutz für Bundeswehrsoldaten eingebracht. Eine Gesetzesinitiative mit Vorgeschichte, denn schon einmal wurde – erfolgreich – versucht, Kritiker des Soldatentums mit Hilfe eines Gesetzes mundtot zu machen. Der Vorsitzende der Kurt Tucholsky Gesellschaft, Michael Hepp, skizziert die Entstehungsgeschichte des »Ehrenschutzgesetzes« von 1931-32 und den Einsatz des damaligen Paragraphen 134a zur Unterdrückung jedweder Kritik an Staat, Regierung und Partei im Dritten Reich.

Seit 1919 hatte der Schriftsteller und spätere Mitherausgeber der Zeitschrift »Die Weltbühne«, Kurt Tucholsky, Soldaten, vor allem Offiziere, immer wieder als »professionelle Mörder« oder »ermordete Mörder« bezeichnet. 1925 schrieb er beispielsweise: „Sie sind ermordet worden. Denn man soll sich doch ja abgewöhnen, einen Kollektivtod anders als mit den Worten des Strafgesetzbuches und der Bibel zu bezeichnen, die beide die gewaltsame Tötung eines Menschen durch den Menschen verhindern wollen. Mord bleibt Mord, auch wenn man sich vorher andere Kleider anzieht, um ihn zu verüben.“ Zwar hatte die Reichswehrführung in anderem Zusammenhang wiederholt versucht, Tucholsky mit juristischen Mitteln zum Schweigen zu bringen (wenn auch erfolglos), die Aussage »Soldaten sind Mörder« blieb jedoch bis 1931 unbeanstandet. Erst nachdem General Kurt von Schleicher als graue Eminenz im Hintergrund weitgehend die Geschicke der Noch-Demokratie mitbestimmte, reagierte die Reichswehr auch auf diesen Satz mit einem Strafantrag wegen Beleidigung.

Ihr durch den verlorenen Krieg beschädigter »Ehrenschild« sollte wenigstens in der Erinnerung und in der politischen Tagesauseinandersetzung wieder sauber geputzt werden. So ist es nicht verwunderlich, daß die derzeitige Diskussion um einen besonderen Ehrenschutz für das Militär auch damals schon auf der Tagesordnung stand : parteiübergreifend. Die NSDAP brachte beispielsweise im März 1930 ein »Gesetz zum Schutz der deutschen Nation« in den Reichstag ein, das vorwegnahm, was drei Jahre später weitgehend Wirklichkeit werden sollte: „Wer den sittlichen Grundsatz der allgemeinen Wehr- oder sonstigen Staatsdienstpflicht der Deutschen in Wort, Schrift, Druck, Bild oder in anderer Weise bekämpft, leugnet oder verächtlicht macht, oder wer für die geistige, körperliche oder materielle Abrüstung des deutschen Volkes wirbt, […] oder wer sonst es unternimmt, die Wehrkraft oder den Wehrwillen des deutschen Volkes zu untergraben, wird wegen Wehrverrats mit dem Tode bestraft. […] Wer lebende oder tote deutsche Nationalhelden, Heerführer oder Inhaber der höchsten deutschen Tapferkeitsorden, oder wer die frühere oder die jetzige deutsche Wehrmacht oder Abzeichen oder Symbole der Landesverteidigung, insbesondere Ehrenzeichen, Uniformen, Flaggen, oder wer die Nationalhymne öffentlich beschimpft, verächtlich macht oder in Ärgernis erregender Weise mißachtet […] oder wer auf andere Weise Ehre, Würde und Ansehen der Nation besudelt, wird mit Zuchthaus, und in Fällen, die von besonderer Roheit und Gemeinheit der Gesinnung zeugen, daneben mit körperlicher Züchtigung bestraft.“ Pazifismus sollte also mit dem Tod bestraft werden. Ein Jahr später brachte eine Koalition aus Konservativer Volkspartei, Deutscher Volkspartei, Deutscher Staatspartei usw., angeführt vom Pfarrer Mumm und dem Grafen Westarp, ein Ehrenschutzgesetz in den Reichstag ein, das Beleidigung, üble Nachrede usw., „die geeignet sind, den Betroffenen in seiner persönlichen und politischen Ehre in der Öffentlichkeit herabzuwürdigen, als Diebstahl am höchsten Gut, an der Ehre“ nach dem Diebstahlsparagraphen bestrafen sollte. Kurz darauf betrieb dann der damalige Reichswehrminister Groener eine Ehrenschutzkampagne, die allerdings die ganze Problematik des Ehrbegriffs auch im demokratischen Umfeld zeigt.

Die zunehmenden Veröffentlichungen über die geheime Aufrüstung der Reichswehr hatten Groener 1931 veranlaßt, gegen diese angeblichen »Verleumdungen« ein besonderes Gesetz zu fordern. In einem späteren Artikel1 nahm er dabei ausdrücklich auch Bezug auf die angeblichen »Verleumdungstaten« der »Weltbühne«: „Hemmungsloser Haß gegen alles Militärische“ lasse die Kritiker die Grenzen zwischen Kritik und Hetze nicht mehr erkennen. Daß dagegen alle Parteien, bis auf die Kommunisten, treu und in „warmer und zustimmender Weise“ zur Wehrmacht standen, hob Groener in der Etatdebatte 1931 dankbar hervor.

Obwohl der damalige Reichsjustizminister Joël zuvor die Möglichkeiten eines »verbesserten Ehrenschutzes« insgesamt sehr skeptisch beurteilt hatte, legte er Anfang Dezember 1931 doch einen Entwurf zum Thema »Politischer Ehrenschutz« vor, der dann wenige Tage später Gesetz wurde: In der 4. Notverordnung des Reichspräsidenten vom 8.12.1931 wurden zur »Verstärkung des Ehrenschutzes« einige Paragraphen aufgenommen, die Kritiker wie Tucholsky und Ossietzky mundtot machen sollten. Üble Nachrede oder Verleumdung im »politischen Kampf« (dazu zählte der Minister auch die Angriffe auf die Reichswehr) sollten mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft werden. Zusätzlich konnte eine »Buße« bis zu 100.000 Reichsmark verhängt werden. Außerdem sollten die Prozesse im Schnellverfahren bei verkürzter Beweisaufnahme durchgeführt werden können. Die Verteidigungsmöglichkeiten sollten also weitgehend eingeschränkt werden.2

Eine Woche zuvor hatte die Presse ausführlich über ein neues Strafverfahren gegen die »Weltbühne« berichtet: Anlaß war Tucholskys Artikel »Der bewachte Kriegsschauplatz« mit dem Satz: »Soldaten sind Mörder«. Der Reichswehrminister erblickte in dieser Formulierung nun eine schwere Verunglimpfung des Soldatenstandes, und die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Anklage wegen Beleidigung der Reichswehr.

Anfang April 1932 lehnte das Schöffengericht Charlottenburg die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, die Staatsanwaltschaft legte jedoch sofort Beschwerde dagegen ein. Am 1. Juli 1932 sprach das Schöffengericht den verantwortlichen Redakteur Carl von Ossietzky schließlich frei, da bei dem Begriff »Soldaten« ein bestimmbarer Kreis von Beleidigten fehle. Im Prozeß von 1932 ging es im Prinzip um die gleiche Frage wie heute: „daß in dem Artikel [Tucholskys] schon deshalb von der deutschen Armee nicht die Rede sein kann, als die Reichswehr bisher noch keinen Krieg geführt hat. Es wird ja immer betont, daß sie nur zur Verteidigung da sei.“ Damals begegnete der Richter diesem Argument der Verteidigung: „Es kann aber doch eines Tages der Fall eintreten, daß der Soldat wieder in die Lage kommen kann […] einen Menschen zu töten.“ 3 Trotzdem entschied sich der Richter für einen Freispruch, denn eine „schwere Ehrenkränkung“ könne nur dann bestraft werden, „wenn sie sich auf Personen, nicht aber auf eine unbestimmte Gesamtheit“ bezöge. Dies war ständige Rechtssprechung, die im Prinzip erst durch die Nationalsozialisten aufgehoben wurde. Das »Berliner Tageblatt« meinte, dies sei das „selbstverständliche Ende eines überflüssigen Prozesses,“ auch die meisten anderen demokratischen Zeitungen begrüßten in ausführlichen Berichten den Freispruch, die Staatsanwaltschaft ging indes sofort in Revision. Am 17. November 1932 entschied der 2. Strafsenat des Kammergerichts Berlin jedoch, daß die Revision zu verwerfen sei, da sich Tucholskys Satz nicht auf konkrete Personen, sondern auf eine unbestimmte Gesamtheit beziehe.

Nach den beiden juristischen Niederlagen der Reichswehr wurde nur einen Monat später der Ehrenschutz für die Reichswehr-Soldaten per Notverordnung des Reichspräsidenten zum Gesetz erhoben. Von Vorteil war dabei, daß der neue Reichswehrminister Kurt von Schleicher seit dem 3. Dezember zugleich auch Reichskanzler war.4

In seiner Regierungserklärung kündigte er an, zahlreiche Notverordnungen außer Kraft zu setzen, „um endlich einmal wieder zu normalen Rechtsverhältnissen zurückzukehren.“ In der Notverordnung des Reichspräsidenten »zur Erhaltung des inneren Friedens« vom 19. Dezember 1932 wurden denn auch fast alle Vorschriften gegen politische Ausschreitungen außer Kraft gesetzt, ebenfalls das berüchtigte »Gesetz zum Schutz der Republik« vom März 1930; dieses allerdings mit kleinen Einschränkungen: der Paragraph mit den Bestimmungen zum Schutz des Reiches und der Länder sowie der Landesfarben und Flaggen vor böswilliger Beschimpfung und Herabwürdigung wurden in das neue Gesetz übernommen. Mit einer winzigkleinen zusätzlichen Abänderung hieß es nun in dem als neuer § 134a in das Strafgesetzbuch eingefügten Straftatbestand: „Wer öffentlich das Reich oder eines der Länder, ihre Verfassung, ihre Farben oder Flaggen oder die deutsche Wehrmacht beschimpft oder böswillig und mit Überlegung verächtlich macht, wird mit Gefängnis bestraft.“ 5

In der amtlichen Mitteilung für die Presse hieß es dazu, daß auch weiterhin „zur Aufrechterhaltung der Staatsautorität ein dauernder Schutz des Staates, seiner Symbole und der sich in der Wehrmacht verkörpernden Hoheitsbefugnisse des Staates gegen Verhetzungen notwendig“ 6 seien. Abgeleitet war dieser Paragraph aus dem Gesetz über die Bestrafung der Majestätsbeleidigung vom Februar 1908. Interessanterweise wurde der Ehrenschutz für die Reichswehr im Strafgesetzbuch auch 1932 schon nicht bei Beleidigungen eingefügt, der § 134a stand bei »Verbrechen und Vergehen wider die Öffentliche Ordnung«.

Tucholskys Satz »Soldaten sind Mörder« wäre demnach künftig auch in der vom Reichswehrminister kurz zuvor noch gepriesenen »freiesten Verfassung« strafbar gewesen, aber Tucholskys und Ossietzkys Werke wurden nur wenig später ohnehin verbrannt, Ossietzky im KZ eingesperrt und Tucholsky ausgebürgert. Der Paragraph 134a blieb indes auch nach dem Untergang der Weimarer Republik bestehen.

Der neue Reichspropagandaminister Joseph Goebbels machte am 31. März 1933 im Zusammenhang mit dem berüchtigten »Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland« deutlich, was er von Radikaldemokraten wie Tucholsky hielt. In seiner Ansprache, die über alle Sender ging, mißbrauchte er die Gefallenen des 1. Weltkriegs für seine Ideologie: „Aus den Gräbern von Flandern und Polen stehen zwei Millionen deutsche Soldaten auf und klagen an, daß der Jude Toller in Deutschland schreiben durfte, das Heldenideal sei das dümmste aller Ideale. Zwei Millionen stehen auf und klagen an, daß die jüdische Zeitschrift Weltbühne schreiben durfte: 'Soldaten sind immer Mörder', daß der jüdische Professor Lessing schreiben durfte: 'Unsere Soldaten sind für einen Dreck gefallen'. 7 (Hier wurde übrigens erstmals verfälschend ausgesprochen, was heute heimlich meist intendiert wird. Tucholsky schrieb »Soldaten sind Mörder« und eben nicht »Soldaten sind immer Mörder«.)

Als »wichtigste Schutzobjekte« galten nun die ideellen Werte „und unter diesen ragt als Grundwert […] nach deutscher Auffassung die Ehre hervor“, hieß es in der 1935 von dem Juristen Gerd Passauer verfaßten Abhandlung über den »Strafrechtlichen Schutz der Volksehre«8. Die Ehre von Volk und Nation sollte demnach „das erste und höchste Gut [sein], dem alles andere sich unterzuordnen und zu dienen hat“, und dabei leistete der § 134a gute Dienste: Geschützt waren durch ihn die NSDAP ebenso wie das »Horst Wessel-Lied« und natürlich die Hakenkreuzflagge, die »zum höchsten Zeichen der deutschen Ehre geworden« war.

Der Staatsrechtler Carl Schmitt hatte als oberstes Auslegungsprinzip der Gesetze gefordert, daß das gesamte deutsche Recht, „einschließlich der weiter geltenden, nicht aufgehobenen Bestimmungen“, ausschließlich und allein „vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht“ 9 sein müsse. Dementsprechend stellte Gerd Passauer in seiner Ehrenschutzmonographie zu dem Gesetz fest, daß jeder „Ehrangriff“, jede Beschimpfung und Verächtlichmachung der staatlichen Grundordnung ebenso „wie jede Kundgebung der Mißachtung gegen den Nationalsozialismus als Grundlage und Ausgangspunkt des deutschen Staates“ ein strafrechtlicher Tatbestand sei.

Das war jedoch erst der Anfang. Nach Passauer war jede Beschimpfung „des Führers schlechthin“ nach § 134a zu bestrafen, da dieser die Einheit von Staat und »Bewegung« verkörpere. „Ebenso ist ein Angriff auf die deutsche Wehrmacht, durch den sie beschimpft oder verächtlich gemacht wird, ein solcher auf die deutsche Ehr.“ Ohlshausen stellte 1942 in seinem Kommentar zum Strafgesetzbuch10 lapidar fest: „Das im § 134a enthaltene Anerkenntnis, daß eine solche Gemeinschaft fähig ist, beleidigt zu werden, und Schutz gegen Beleidigung genießt, hat allgemeine Bedeutung,“ auch wenn die Strafbarkeit bei Kollektivbeleidigungen an sich zweifelhaft sei, wie Hans von Dohnanyi in seinem Kommentar11 zu dieser Strafnorm festhielt. Aber „die Vorschrift beseitigt diese Zweifel für die Wehrmacht als solche.“

Trotz dieser extensiven Auslegung hatten die Nationalsozialisten weiteren Bedarf an einem eigenen Ehrenschutz: Im Juni 1935 wurde der § 134b in das Strafgesetzbuch eingefügt, der sich speziell mit der »Beschimpfung der NSDAP« beschäftigte. Was der Reichswehr recht war, sollte der NSDAP und ihren Gliederungen wie SA und SS billig sein: auch diese waren künftig als Kollektiv beleidigungsfähig. 1936 kam Dohnanyi allerdings zu der Überzeugung, daß diese Ergänzung völlig überflüssig gewesen sei, denn durch das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« von 1933 seien beide bereits „unlöslich verbunden.“

Der später als Widerstandskämpfer verhaftete Mitarbeiter im Reichsjustizministerium Dohnanyi hatte aber auch noch auf einen anderen Umstand aufmerksam gemacht: Der Ehrenschutzparagraph war so in die Systematik des StGB eingebaut, daß zum einen die Wahrnehmung berechtigter Interessen als Rechtfertigungsgrund ausschied und daß zum anderen böswillige Verächtlichmachung auch dann vorlag, „wenn der Täter von der inhaltlichen Richtigkeit seiner Äußerung überzeugt“ war. Tucholsky hätte also keine Chance mehr gehabt, sich auf seine Erfahrungen als Offizier im 1. Weltkrieg zu berufen oder etwa seine pazifistischen Ansichten als legitimen oder gar schützenswerten Rechtfertigungsgrund vorzubringen. Eine Verurteilung wäre nach diesem Gesetz zwingend gewesen. Vorsorglich zensierte denn auch der in Deutschland gebliebene Gerhard Hauptmann sein 1889 in Berlin uraufgeführtes Stück »Vor Sonnenaufgang« selbst und tilgte 1941 für die Gesamtausgabe die Stelle mit dem scharfen Angriff auf den Soldatenstand: „Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Kriege zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten tun, mit einem Menschenabschlachtungs-Instrument, wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz herumzulaufen. Den Henker, der das mit dem Beile täte, würde man zweifelsohne steinigen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden.“

Der Bayreuther Verwaltungsjurist Bernhard Weck fand kürzlich überdies Belege dafür, daß das Gesetz 1940/41 schließlich bis zur Vollendung pervertiert wurde: Aufgrund der analogen Anwendung der Strafnorm galt eine Rechtslage, derzufolge im »Protektorat Böhmen und Mähren« und später auch im sogenannten »Generalgouvernement« über den § 134a das Deutsche Reich sogar dann schon beleidigt sei, wenn nur ein einzelner »deutscher Volksgenosse« durch einen »Nicht-Deutschen« beschimpft wurde. Zuständig waren für diese »Delikte« unter anderem die berüchtigten Sondergerichte. Deutlicher kann man nicht mehr machen, zu welchen Auswüchsen die Überhöhung des Ehrbegriffes führen kann.

Am 30. Januar 1946 wurde der § 134 a+b durch Verfügung des alliierten Kontrollrats aufgehoben. Ausdrücklich wurde auch darauf hingewiesen, daß dadurch das ursprüngliche Gesetz nicht wieder in Kraft trete.

Anmerkungen

1) Staatsverleumdung. Deutsche Allgemeine Zeitung, 29.11.1931. Zurück

2) s. dazu: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Brüning I und II. Boppard/Rhein 1982/90; Reichsgesetzblatt 1931 I, S. 743. Zurück

3) 8Uhr-Abendblatt, 1.7.1932. Zurück

4) Zur Vorgeschichte s.: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Schleicher. Boppard/Rhein 1986. Bes. Dok. 1, 25, 26. Zurück

5) Reichsgesetzblatt 1932 I, S. 549; Hervorhebung durch den Verf. Zurück

6) Frankfurter Zeitung, 21.12.1932. Zurück

7) Joseph Goebbels, Revolution der Deutschen. Oldenburg 1933, S. 158ff. Zurück

8) Breslau-Neukirch 1935. Zurück

9) Juristische Wochenschrift 63, 717. Zurück

10) J.v. Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Berlin 1942, S. 585f. Zurück

11) Reinhard Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Nachtrag zur achtzehnten Auflage. Die Strafgesetzgebung der Jahre 1931 bis 1935. Herausgegeben und erläutert von Ernst Schäfer und Dr. Hans v. Dohnanyi. Tübingen 1936, S. 20ff. Zurück

Michael Hepp, Historiker, Vorsitzender der Kurt Tucholsky Gesellschaft und Mitherausgeber der Tucholsky Gesamtausgabe bei Rowohlt.

Beobachtungen: Zum Verhältnis Bundeswehr und Gesellschaft

Beobachtungen: Zum Verhältnis Bundeswehr und Gesellschaft

von Jutta Koch

Eigentlich müßte zum Thema derzeit heftig diskutiert werden, weil sich politisch viel bewegt hat, was Konsequenzen für das bezeichnete Verhältnis erwarten läßt: Die Bundeswehr hat in den letzten fünf Jahren Erfahrungen bei Einsätzen in Asien, Nahost, Afrika und Südosteuropa gesammelt; Krieg ist als mögliche Konsequenz gescheiterter Politik – zwar jenseits unserer Grenzen, aber doch – wieder deutlicher ins Bewußtsein geraten. International gibt es eine wichtige Debatte über Vorteile und Dilemmata humanitär begründeter Interventionen, über die Rolle der VN, über die Zukunft traditionellen und »robusten« Peacekeepings, über kollektive versus kooperative Sicherheit.

Unsere nationale Debatte zum Thema Bundeswehr und Gesellschaft konzentriert sich im wesentlichen auf das fallweise Aufflackern der Frage Wehrpflicht versus Berufsarmee. Weshalb diese Beschränktheit auf eine zwar nicht unpolitische, aber doch spezielle Frage?

Es zeichnet sich keine Neigung relevanter gesellschaftlicher Akteure ab, die aktuellen sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen auch in Deutschland so zu problematisieren, daß öffentliche Resonanz erzeugt werden könnte (Ausnahmen sind einige Bemühungen seitens der Bündnis 90/Die Grünen-Fraktion, welche z.B. zur NATO-Osterweiterung ein »Expertengespräch« und eine Anhörung initiiert hat).

Warum diese »ongoing non-debate« (Lutz Unterseher)? Sie setzt die Nachkriegstradition fort, die mit dem Einstieg der entstehenden Bundeswehr in eine bereits mit Doktrinen versehene NATO begründet wurde. Da gab's aus Regierungssicht nichts mehr zu diskutieren, und die Opposition fügte sich. Ein weiterer Grund mag in der Diffusität und Unübersichtlichkeit der internationalen Situation liegen; ein dritter in dem Dilemma zwischen dem Druck, humanitär zu intervenieren und der Sorge, damit einer militärfixierten Außenpolitik Vorschub zu leisten. Daß beide eine komplette politische Lähmung erzeugen, ist unplausibel.

Vielleicht können Vermutungen weiterhelfen, die sich besonders auf die deutschen Verhältnisse beziehen:

  • Das Militär ist seit 1990 in Deutschland unbedeutender geworden. Das läßt sich am deutlich verringerten Umfang der Streitkräfte wie auch an dem absolut und relativ gesunkenen Verteidigungshaushalt ablesen. Überdies sind Soldaten weniger sichtbar im Stadtbild; die Auflösung etlicher Standorte hat regionale wirtschaftliche Probleme aufgeworfen.
  • Es gibt heute in Deutschland ein großes Ausmaß an Interesselosigkeit gegenüber den Fragen, welche die Streitkräfte betreffen. Anders verhält sich das nur bei den Soldaten selbst, den Angehörigen und beim harten Kern sicherheitspolitisch interessierter oder befaßter Menschen in der Bundesrepublik – wohl nicht viel mehr als einige hundert Personen. Die Debatte ist Experten-Angelegenheit (der männliche Terminus beschreibt wohl den empirischen Sachverhalt).
  • Es fehlen heute die mobilisierenden Streitfragen, welche die breitere Öffentlichkeit – KritikerInnen und die Friedensbewegung – in den 1980er Jahren antrieb: Folgen des NATO-Doppelbeschlusses, Modernisierung atomarer Kurzstrecken auf westdeutschem Territorium waren Themen, welche sehr strittig öffentlich behandelt wurden. Zum Streiten gab es allen Anlaß, verbargen sich hinter ihnen doch grundlegende Differenzen zwischen USA und Bundesrepublik über Kriegführung auf deutschem Territorium.

Zudem gibt es aber noch zwei konkret angebbare – und kritisierenswerte – Gründe, weshalb sicherheitspolitische Kontroversen in den 1990er Jahren in Deutschland einfach nicht aufkommen. Der eine Grund ist politischer, der andere gesellschaftlicher Natur. Und beide weisen auf Mängel in der Struktur unserer Öffentlichkeit hin:

Erstens ist es dem seit gut vier Jahren als Verteidigungsminister amtierenden Volker Rühe gelungen, die Darstellung seiner Politik in die von den Deutschen mehrheitlich gewünschte »Kultur der Zurückhaltung« einzufügen. Ob sie das faktisch tut, ist von untergeordneter Bedeutung.

Der politische Konsens, den Rühe vor allem mit der Mehrheit der eher konservativen sozialdemokratischen Abgeordneten, die sich zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Themen äußern, erarbeitet hat und dessen Vorteile er zu betonen nicht müde wird, ist eine Säule dieser auf Harmonie der Standpunkte gerichteten Politik.

Eine wesentliche Voraussetzung für diese »Harmonie« ist die inhaltliche Zerrissenheit der SPD in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das betrifft sowohl Personen als auch Themen und Konzepte: Wenn Karsten Vogt die NATO-Osterweiterung enthusiastisch begrüßt, Peter Glotz sie als gefährlichen Unsinn kritisiert; wenn 1993/94 gegen die Teilnahme deutscher Soldaten an Aufklärungsflügen über Bosnien vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, heute aber die gleichberechtigte deutsche Teilnahme am SFOR-Einsatz begrüßt wird.

Da müssen sich auch geneigte Beobachter fragen: Wer verkörpert die sicherheits- und verteidigungspolitische Willensbildung? Hat die Sozialdemokratie ein Konzept, was sich von dem Rühes wesentlich unterscheidet? Versucht sie ein solches in der erwähnten Kommission zu formulieren? Wenn ja, warum ist dann die Kommissionsarbeit so vergleichsweise geräuschlos, um nicht zu sagen untransparent? Welche Rolle spielen die weiteren Gliederungen der Partei, welche die Fraktion?

So gravierende Unterschiede der Positionen, obwohl (oder weil) die Partei kaum mitdiskutiert, machen es unwahrscheinlich, daß es der SPD – bei ihrer Tradition der Verbindung kritischer und affirmativer Aspekte in der Verteidigungspolitik – gelingen wird, ein politisch wie militärisch stimmiges, auch Außenstehende überzeugendes sicherheitspolitisches Konzept zu formulieren, das selbstbewußt Akzente setzt, ohne in Provinzialität zu verfallen.

Die Oppositionsfraktionen unterziehen sich nicht der Mühe, konzeptionelle Alternativen zu formulieren.

Die politische Harmonie im Parlament ist also nicht nur ein Erfolg Rühescher Politik, sondern auch das Ergebnis der – bestürzenden – Tatsache, daß sich die Oppositionsfraktionen nicht der Mühe unterziehen, konzeptionelle Alternativen zu formulieren. Das sein zu lassen fällt SPD und Bündnis 90/Die Grünen auch deshalb leicht, weil Rühe leise und gesprächsbereit agiert.

Die »Kultur der Zurückhaltung« spiegelt sich vor allem im terminologischen Reglement des Verteidigungsministeriums. Begriffe, die an Kriegsführung, Todesopfer gemahnen, sind verbannt zugunsten einer sprachlichen Kodifizierung, die sich von jener der kritischen Friedensforschung kaum mehr unterscheidet. Konfliktprävention, Friedensstabilisierung und Multinationalität unter Einbeziehung des Partners Rußland signalisieren ein Verschwinden des Militärs aus der Verteidigungspolitik. Deshalb konnte Rühe auch die Interview-Frage der SPIEGEL-Redakteure nach der Anzahl deutscher Bataillone im kommenden SFOR-Einsatz im Brustton der Überzeugung zurückweisen, diese Frage sei ihm „zu militärisch“.

Das ist die Essenz von Rühes Politik: Über Militärisches lohnt sich nicht mehr zu sprechen. Ob die Militärpolitik den deklarierten Vorstellungen entspricht, ob es nicht andere Konzeptionen gibt, die akzeptablere politische Folgen mit verhältnismäßig geringerem Mitteleinsatz das gewünschte Ergebnis erzielen hülfen, interessiert nicht mehr so sonderlich.

Der zweite Grund für die Abwesenheit sicherheitspolitischer Kontroversen ist ein sozialer: Sicherheitspolitische Themen scheinen in der deutschen Diskussionskultur nur dann öffentliche Resonanz zu erzeugen, wenn sie an absolute moralische Positionen geknüpft werden.

Das ist das Problem der grünen Debatte, deren antimilitaristische Traditionen sie auf den Holzweg führen, militärisch gestützte Politik schon »an sich« für schlecht zu halten – militärische Interventionen sind antimoralisch. Wenn nur ein solches Argumentationsmuster zur Verfügung steht, wenn keine Abstufungen vorstellbar sind, dann sind die Kritiker jener Position – die, wie Joschka Fischer, anläßlich der Morde an schutzlosen Menschen in der VN-„Schutzzone« Srbrenica ihre antiinterventionistische Position revidierten – »gezwungen« auf NATO-Kurs einzuschwenken.

Diese Alles-oder-Nichts-Strategie trägt dazu bei, daß über konzeptionelle Lehren aus erfolgreichen Peacekeeping-Operationen kaum gesprochen wird.

Denn auch die Realos denken schwarz-weiß, haben sich nie ernsthaft der politischen wie intellektuellen Herausforderung unterzogen, eine sicherheits- und verteidigungspolitische Position zu formulieren, die Kritik mit Konsistenz und ihrem Streben nach Regierungsübernahme selbstbewußt verbindet. Wenn man so etwas vermeidet, macht man sich politisch extrem angreifbar, und führt willentlich die Situation herbei, im Regierungsfalle eine christdemokratische Verteidigungspolitik fortzuführen.

Diese Alles-oder-Nichts-Strategie ist nicht nur politischer Hazard, sondern trägt maßgeblich dazu bei, daß in der deutschen Öffentlichkeit über konzeptionelle Lehren etwa aus Somalia und Bosnien (aber auch aus erfolgreichen »traditionellen« Peacekeeping-Operationen wie UNOMOZ in Mozambique) kaum gesprochen wird.

Wäre es denn nicht eine angemessene Konsequenz aus der deutschen Geschichte, kontrovers zu bereden, welche sinnvollen militärischen Aufgaben deutsche Soldaten bei künftigen internationalen Einsätzen im Auftrag der VN übernehmen sollten? Ist denn nicht die selbstbewußte Teilnahme an »traditionellem« Peacekeeping, der militärische Schutz von Konvois, der militärische Schutz von VN-Schutzzonen, das frühzeitige militärische »preventive deployment« in Krisensituationen, die zu eskalieren drohen, notwendig? Oder hat eine Konzeption, die an Bewahrung/Stabilisierung/Schutz ausgerichtet ist, zu wenig Glamour?

Der geeignete Ort für Streit über diese Themen ist auch das Parlament. Dort würde es – wenn die Abgeordneten sich so ein Stück konzeptioneller Verteidigungspolitik (zurück)erobert hätten – dann auch Sinn machen, über Aufgaben, Größe und Ausrüstung der Krisenreaktionskräfte zu reden, anstatt Zahlen von 50.000 Mann plus einfach hinzunehmen. Dies ergäbe für interessierte Journalisten auch den Anlaß zur hintergründigen Berichterstattung…

Das Parlament ist als Ort einer öffentlichen Auseinandersetzung mit konzeptioneller Perspektive wiederzuentdecken. Dieser Weg verriete auch ein größeres politisches Selbstbewußtsein, als es die Durchsetzung der NATO-Osterweiterung anzeigt: Für die hat sich Rühe, zum großen Ärger der wichtigen Partner, in der NATO seit 1993 eingesetzt; seit dem abrupten Schwenk der USA im Herbst 1994 auf die Rühe-Position ist sie im Prinzip beschlossene Sache. So kam diese Politik via NATO als Fait accompli in der Bundesrepublik an. Eine parlamentarische Debatte hat sich erübrigt, oder?

Jutta Koch ist freie Publizistin und Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag.

Die Neukonstruktion des Bundeswehrsoldaten: Subjektive Reaktionen und politisch-gesellschaftliche Implikationen

Die Neukonstruktion des Bundeswehrsoldaten: Subjektive Reaktionen und politisch-gesellschaftliche Implikationen

von Ruth Seifert

In der Zeit nach 1989 war die Rede vom »Umbruch in der Bundeswehr« in aller Munde. Was dabei merkwürdig im Dunkeln blieb, ist einerseits die Frage, wie diese Umbruchprozesse von Offizieren der Bundeswehr erlebt werden und wie sie sich in ihrem Bewußtsein abbilden, und andererseits die Frage nach den politischen Konsequenzen dieser Neukonstruktionen der Bundeswehr.

Welcher Art die Veränderungen für die Soldaten der Bundeswehr sind, zeigt sich plastisch, wenn man die bis 1989 gültigen Bestimmungen des Soldatenbildes mit neu entwickelten Ideen vergleicht. Folgt man den Vorgaben der Bundeswehr selbst, so war nahezu vierzig Jahre lang einer der wichtigsten Identitätsbausteine für den Bundeswehrsoldaten die »Innere Führung«. In der »Organisationsphilosophie« der »Inneren Führung«, wie sie insbesondere in den Schriften von Baudissin (1982) ausformuliert wurde, waren die wichtigsten Kriterien festgelegt, die ein Soldat der Bundeswehr erfüllen sollte.

Vom »Bürger in Uniform« zum… – wohin eigentlich?

Eine der zentralen Forderungen war, daß die Bundeswehr nicht aus unpolitischen Kämpfertypen bestehen sollte. Der Soldatenberuf sollte vielmehr mit ethischen Elementen angereichert werden. An die Stelle unüberlegten Gehorsams sollte werteorientiertes Handeln treten. Schließlich forderte Baudissin, daß der neu zu schaffende Soldat mit dem pluralistischen Staats- und Menschenbild der Bundesrepublik und mit demokratischen Vorstellungen in Einklang stehen müsse und sich die Bundeswehr zur Gesellschaft hin öffnen und die Werte der Zivilgesellschaft in der Armee verwirklichen solle. Zu den Forderungen, die im Rahmen der »Inneren Führung« erhoben wurden, gehörte nicht zuletzt, daß der Bundeswehrsoldat sich stark am Auftrag der Friedenssicherung auszurichten habe – was auch in den Slogans Ausdruck fand, der Bundeswehrsoldat müsse kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen, oder die Bundeswehr habe ihren Auftrag verfehlt, wenn es zum Einsatz komme. Friedenssicherung sollte in diesem Kontext in erster Linie Abschreckung bedeuten.

Hier kann nicht auf die brisante Frage der generellen Realisierbarkeit dieser Vorstellungen oder auf das Problem von Anspruch und Wirklichkeit der »Inneren Führung« eingegangen werden. Festzuhalten bleibt, daß die »Innere Führung« als Leitlinie der Bundeswehr fungierte und empirischen Untersuchungen zufolge das Selbstverständnis von Soldaten der Bundeswehr zumindest nicht unbeeinflußt gelassen hat (vgl. z.B. Seifert, 1996).

Ein weiterer Faktor, der das Selbstverständis von Soldaten der Bundeswehr nachdrücklich prägte, war die Ausrichtung am Paradigma des Ost-West-Gegensatzes. Den Bruch mit diesem Paradigma drückte ein älterer Offizier der Bundeswehr im Jahre 1992 folgendermaßen aus:

Als ich selbst eingetreten bin und dann auch Unterricht gehalten habe über das feierliche Gelöbnis, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen, da hieß es eindeutig, es ginge um die Grenzen der Bundesrepublik. Und sang- und klanglos heißt es heutzutage, daß wir schon immer davon gesprochen haben, daß der Auftrag darüber hinausgeht. Und es wird solange geredet, bis jedermann meint, ja eigentlich war das ja früher schon klar… Ich weiß nur, daß davon nie die Rede war! So. Und jetzt wird so getan, als ob da immer schon die Rede davon gewesen wäre.“

Parallel zu diesen Entwicklungen und ohne nennenswerte öffentliche Diskussion veränderte sich auch der Tenor in Bundeswehrzeitschriften bzw. bundeswehrnahen Publikationen. In zunehmenden Maße wurde nun ein Soldatentyp propagiert, der mit den Vorstellungen der Inneren Führung nicht mehr viel gemein hat. Es wurde der Ruf nach einem »robusteren Soldatentyp« laut, man forderte die Besinnung auf den Soldaten als »Kämpfer« oder, wie in einem Artikel zu lesen stand, der in einer wissenschaftlichen Publikation erschien, den „etwas derberen Soldatentyp“, der im Dschungel, in der Wüste, in einem Flußdelta eingesetzt werden kann, wo „andere Gesetze (gelten) als die UN-Charta, die Genfer-Konvention oder die Prinzipien der `Inneren Führung'“ (vgl. Ahrendt & Westphal, 1993).

Das heißt: Es wird in einschlägigen Kreisen und weitgehend im Windschatten der Öffentlichkeit ein neues Soldatenbild erörtert, das erheblich von dem abweicht, das bisher in der Bundeswehr gepflegt wurde. Damit stellen sich eine Reihe von gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen wie: Welcher neue Soldatentyp wird in Zukunft für die Bundeswehr charakteristisch sein? Für welche Art von Politik ist dieser Soldatentyp vorgesehen, und wie beeinflußt er seinerseits die Politik? Wie wirkt diese neue Sozialfigur auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurück? Da die Bundeswehr als ausschließlich männlich konstruiert ist, betreffen Veränderungen dieser Art auch die Geschlechterverhältnisse und werfen die Frage auf, welcher neue Männlichkeitstypus auf diese Weise in die Bundesrepublik eingeführt wird und was dies für die Konstruktion von Männlichkeit in der Bundeswehr bedeutet. Daneben stellt sich aber auch eine unmittelbar empirische Frage:

Wie verarbeiten die unmittelbar Betroffenen die neue Situation?

Erste Ansätze zur Klärung dieser Frage können auf der Grundlage einer Befragung von Truppenoffizieren, die zwischen November 1992 und Frühjahr 1993 durchgeführt wurde, angeboten werden. Folgeuntersuchungen wurden seither nicht angestrengt. D.h. über die Entwickung der letzten 3-4 Jahre läßt sich keine gesicherte Aussage machen. Für die Jahre davor ist zu sagen: Die Veränderung der sicherheitspolitischen Lage und die Veränderung des Soldatenbildes führten zu Problemen im Berufsverständnis der befragten Offiziere und veranlaßten sie, dieses Verständnis neu zu definieren und neu zu verhandeln. Dabei ergaben sich grob drei Reaktions- oder Bewältigungsmuster.

Ein Reaktionsmuster bestand im Rückzug auf eine handwerkliche Definition des Soldatenberufes. Der Soldat wird dabei als Experte definiert, der im Auftrag des Staates bestimmte Fertigkeiten zur Verfügung stellt. In seiner Berufsausübung hat er aus dieser Sicht der Dinge keine politische Meinung zu haben. Das heißt nicht notwendigerweise, daß man mit den Entscheidungen der politischen und militärischen Führung immer einverstanden ist. Die sozusagen »private Einschätzung« politischer Situationen gilt aber als irrelevant für die Auftragserfüllung. Diese Position hat entlastende Effekte, wie der Kommentar eines Stabsoffiziers zeigt, der meinte, „wenn jemand sich mal freiwillig entschieden hat, den Streitkräften beizutreten, muß er wissen, auf was er sich einläßt. Und danach kann man natürlich nicht permanent wieder in irgendwelche Zweifel geraten.“

Es zeigen sich hier gewisse Anklänge an das amerikanische Modell des Berufssoldaten als »expert in violence«, als eines »Experten für Gewaltausübung«. Dahinter steht die Idee, daß Soldaten bestimmte Fertigkeiten, die alle die Ausübung von Gewalt beinhalten, zur Verfügung stellen, die Bedingungen ihres Einsatzes aber nicht zu befragen haben. Die differentia specifica des deutschen Musters besteht darin, daß sich hier keine Selbstdefinition als Experten in Gewaltausübung findet. Diese Offiziere sehen sich eher als »experts in technology«, wobei die Berufsidentität tendenziell die eines militärischen Ingenieurs oder Technikers ist. Was neue Einsatzszenarien angeht, so bestehen in dieser Gruppe damit geringe Probleme. Spezielle Anforderungen an die Legitimation des Einsatzes, die über den formalrechtlichen Aspekt hinausgehen, werden nicht gestellt. Die Kombination von »Soldat« und »Staatsbürger« wird so bestimmt, daß dem Soldaten der Vorrang gegenüber dem Staatsbürger eingeräumt wird.

Als zweites Muster zeigte sich eine Definition des Offizierberufes über eine Identifikation mit dem Staat. Eine Hilfskonstruktion dabei ist die Überzeugung, daß es ein Berufsmerkmal sei, Vertrauen in politische Entscheidungen zu haben. Aufgrund dieser vorgängigen Identifikation werden die Vorgaben der politischen Führung auch subjektiv als richtig empfunden. Die Tatsache, daß man mit den Entscheidungen der Führung übereinstimmt, ist nicht dem Zufall geschuldet, sondern der Tatsache, daß ein persönlicher Entschluß gefaßt wurde, den politisch legitimierten Entscheidungsträgern ein grundsätzliches Vertrauen entgegenzubringen. So meinte ein junger Hauptmann: „Die Loyalität zum Staat – das ist eine Ideologie für mich. Und die muß man akzeptieren, wenn man Soldat wird.“

Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Loyalität zum Staat und zur Politik ein Grundsatz, auf dem die Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen Standpunktes beruht. Die Identifikation mit dem Staat macht es möglich, Staatsbürger und Soldat nicht trennen zu müssen, sondern in eins zu setzen. Was neue Einsatzmöglichkeiten betrifft, so werden sie in dieser Gruppe als legitimes Mittel betrachtet, um den internationalen Stellenwert der Bundesrepublik zu forcieren. Oder in den Worten eines älteren Offiziers: „Wenn wir einen Platz finden wollen in dieser Völkergemeinschaft, müssen wir uns aus diesem fast schon pazifistischen Abseits lösen.“ Die Frage der Legitimation von Einsätzen ist aus dieser Perspektive ebenfalls kein gesteigertes Problem. Auch hier gilt die Legitimation durch das Parlament als ausreichend.

Drittens zeigt sich schließlich eine Gruppe, bei der mit dem Umbruch in der Bundeswehr ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen tradierter soldatischer Identität und möglichen neuen militärischen Anforderungen einhergeht. Diese Offiziere sind folgendermaßen zu charakterisieren: Sie haben ebenso wie alle anderen eine militärische Sozialisation durchlaufen und bestimmte soldatische Werte verinnerlicht. Insbesondere das Prinzip der Loyalität rangiert hoch in ihrem Berufsverständnis. Darüberhinaus ist ihr Selbstverständnis und ihre berufliche Identität meist an den Ost-West-Konflikt und an die Vorstellung der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland gebunden. Zum anderen hatten die Vorstellungen der Inneren Führung für sie einen identitätsstiftenden Stellenwert: D.h. der »entpolitisierte« Soldat entspricht nicht ihrer Vorstellung vom Soldatenberuf. Schließlich kennzeichnet diesen Typus, daß er einer Vorgabe der »Inneren Führung« – nämlich der Forderung, der Soldat der Bundeswehr müsse in die Entwicklung der Zivilgesellschaft eingebunden sein, prinzipiell entspricht.

Der Offizier dieses Typs hat die in den letzten 20 Jahren entstandenen Individualisierungsanforderungen, wie sie von Beck (1986) beschrieben worden sind, in großem Maße verinnerlicht. Das heißt: Diese Offiziere legen Wert auf ihre Urteilsfähigkeit und auf selbstbestimmtes Handeln. Sie verstehen sich als Staatsbürger mit eigenem, autonomem Urteil und nicht als ausführendes Organ. In der neuen Situation entstehen dadurch Zerreißproben. Diese Soldaten schwanken hin und her zwischen ihren zivilen und ihren militärischen Persönlichkeitsanteilen, zwischen Staatsbürger und Soldat. Der zivile Teil der Persönlichkeit betont die persönliche Autonomie und die individuelle Urteilskraft, der militärische betont die Treue zum Dienstherren, die soldatische Loyalität und Dienstpflicht.

Die politisch-ideologischen Rahmenbedingungen des Berufs schließlich hatten die Soldaten bereits vor ihrem Eintritt in die Bundeswehr über die Ost-West-Konfrontation akzeptiert. Sie spielte dann im beruflichen Alltagsleben keine wichtige Rolle mehr. Mit der Möglichkeit diverser Einsatzszenarien tritt eine Veränderung ein, die zu einer Zuspitzung des Konflikts zwischen individualisiertem Staatsbürger und Soldat führt. Gerade weil Loyalität zum Staat auch ein wichtiger Identitätsbaustein ist, entstehen in dieser Gruppe Zerreißproben. Denn diese Offiziere sehen sich mit einer Erodierung ihres Berufsverständnisses durch den Staat, dem die Loyalität gilt, konfrontiert. Die zivilen Persönlichkeitsanteile machen einen Rückzug auf eine technische Berufsdefinition ebenso unmöglich wie ein grundsätzliches und vorgängiges Vertrauen in staatliche Entscheidungen. Manche ziehen in dieser Situation den Schluß, die Bundeswehr zu verlassen. Die Positionen »loyaler Soldat« und »kritischer Staatsbürger« können aber auch unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Dies scheint vor allem dann möglich zu sein, wenn die Betroffenen keine praktischen Konsequenzen erwarten – wenn sie sich z.B. in einem »einsatzfernen« Truppenteil wähnen – oder aber bestimmte Altersgrenzen überschritten haben. Der Rest ist auf seine individuelle Kreativität verwiesen, um diese Situation für sich lebbar zu machen.

Auf diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach der Legitimität eine gesteigerte Bedeutung. Sie beantwortet sich für diese Offiziere nicht mit einer formalrechtlichen Abklärung durch das Verfassungsgericht. Legitimität bedeutet für sie vielmehr, daß a) ein Konsens über die Richtigkeit des Einsatzes bei der Mehrheit der Bevölkerung vorhanden ist und/oder daß b) der Einsatz mit ihren persönlichen moralischen Beurteilungen nicht konfligiert.

Was das heißt, läßt sich am Kommentar eines jüngeren Offiziers illustrieren. Er analogisierte das Problem der Mauerschützen mit der Möglichkeit eines Einsatzes der Bundeswehr an den deutschen Grenzen und entwarf ein Schießbefehlsszenario: „Und das wäre für mich der Punkt, wo ich sage, Leute mit mir nicht! Also, ich würde den Schießbefehl nicht geben. Ohne Einschränkung. Aber – und jetzt kommt's: Die Fiesheit ist ja die, daß die Soldaten, die diesen Schießbefehl dann geben würden, fünf oder zehn Jahre später vor Gericht stehen und von Leuten verurteilt werden, die selbst das System entwickelt haben.“

Dieser junge Offizier befürchtete, daß er als Soldat für Einsatzbefehle instrumentalisiert werden könnte, die er als individuell urteilender Staatsbürger nicht mittragen würde. Der Rückzug vom »Staatsbürger« auf den »expert in technology« oder den vertrauensvollen Staatsbürger in Uniform ist aber ebenfalls keine gangbare Alternative. Denn er antizipierte, daß Soldaten für ihre Aufträge und Einsätze zu einem späteren Zeitpunkt individuell verantwortlich gemacht werden. Aus dieser Situation zog dieser Offizier die Konsequenz, daß der einzelne Soldat höchste rechtliche und moralische Maßstäbe an die Legitimation des Einsatzes anzulegen habe. Da er eine Erfüllung dieser Ansprüche durch die Politik nicht antizipierte, löste er den Konflikt, indem er die Bundeswehr verließ.

Der Ost-West-Gegensatz war die Klammer für den politisch-ideologischen Konsens.

Die Frage nach der Legitimität von Einsätzen, die in dieser Gruppe von Offizieren eine gesteigerte Rolle spielt, hat noch einen weiteren Effekt. An diesem Punkt zeigte sich, daß sich unter Soldaten eine Pluralität von Werten entwickelt hat, die jenseits der übergreifenden Klammer des Ost-West-Gegensatzes einen politisch-ideologischen Konsens außerordentlich schwierig macht. Es zeigte sich weiter, daß das, was dem einen ein moralisch gerechtfertigter Einsatz war, dem anderen höchst fragwürdig erschien. Die Unterschiedlichkeit der Einschätzungen betraf alle potentiellen Szenarien und reichte von emphatischen Plädoyers für spezifische Einsätze bis hin zur Ankündigung, den Rock beim Eintreffen eines bestimmten Einsatzbefehls an den Nagel zu hängen (eine genauere Darstellung findet sich in Seifert, 1996).

Implikationen und Fragen

Es findet sich also innerhalb des Offizierkorps eine erhebliche Spannbreite von zum Teil völlig entgegengesetzten Einschätzungen hinsichtlich konkreter Konfliktherde. Das heißt: Während die neue sicherheitspolitische Situation auf individueller Ebene eine Identitätskrise auslösen kann, führt sie auf kollektiver Ebene zu einem Auseinanderbrechen des ideologischen Konsenses des Offizierkorps. Gerade dieser ideologische Konsens aber stellte in der Bundeswehr stärker als in anderen Armeen, in denen andere Kohäsionsmechanismen – z.B. eine stärkere Einheitlichkeit der Lebensformen – eine Rolle spielen, eine gemeinsame Spange her.

Ein technizistischer und sinnentleerter Professionalisierungsbegriff wird zum Schmiermittel der Armee stilisiert<>

Die Frage ist also: Wie gestaltet sich eine Armee, in der es eine Pluralität an Lebensformen gibt, eine Pluralität an Wertvorstellungen und in der der politische Konsens über Sinn und Zweck der Armee und der Legitimität des Einsatzes verlorengegangen ist? Das ist zum einen eine normativ-politische Frage, die an alle politischen Akteure gerichtet werden muß. Es ist andererseits aber auch eine empirische Frage. Allerdings gibt es keine Untersuchungen, die es erlauben würden, eine fundierte Antwort darauf zu geben.

Anekdotische Eindrücke sowie eine Untersuchung der Rand-Corporation unter Angehörigen der deutschen Elite (Infratest Burke, 1996) liefern aber Anhaltspunkte für begründete Spekulationen und deuten darauf hin, daß sich in den Führungsriegen der Bundeswehr eine Präferenz für das Modell 1 des »Militärprofis« herauskristallisiert. Damit einher geht notwendigerweise eine weitgehende Erodierung der Ideen der »Inneren Führung« und der politisch-moralischen Dimensionen des Soldatenberufs. Diese weichen einer apolitischen und amoralischen Vorstellung von soldatischer Effizienz, die vollständig von ethischen Erwägungen abgekoppelt wird. Das heißt: In Ermangelung einer politisch-inhaltlichen Diskussion zur Klärung der entstandenen Fragen und Differenzen wird ein technizistischer und sinnentleerter Professionalisierungsbegriff – der, nebenbei bemerkt, weit hinter den Stand der international geführten Professionalisierungsdebatte zurückfällt – zum Schmiermittel der Armee stilisiert.

Betrachtet man hier noch die gender-spezifischen Dimensionen dieser Konstruktion, so ist festzuhalten, daß damit gleichzeitig eine amoralische, an Technik und technischen Effizienzvorstellungen orientierte und tendenziell auf gewaltförmiges Expertentum ausgerichtete Männlichkeit konstruiert wird. Diese Männlichkeitskonstruktion fungiert somit ebenfalls als Kohäsionsmittel, oder anders gesagt: Dieses (neue) männliche Subjektivitätsmodell wird zu einer Identifikationsfolie für alle männlichen Soldaten. Über die möglichen Auswirkungen dieser Konstruktion auf der Geschlechterebene darf (muß) spekuliert werden – welche Folgen der kulturelle Zusammenbau von kollektiver Gewalt und einer amoralisch konstruierten militärischen Männlichkeit unter bestimmten Bedingungen haben kann, war in den letzten Jahren in einigen Kriegsszenarien zu beobachten.

Schließlich stellt sich auch die Frage: Wie verhält sich dieser Typus zu den neuen Anforderungen an Streitkräfte, die im Zuge von UN-Einsatzszenarien deutlich wurden und die Boutros-Ghali anläßlich der Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 fixierte. In einem von Ghali vorgelegten Papier, in dem auch der Soldatentyp der Zukunft angesprochen wurde, war kaum die Rede vom Techniker oder Kämpfer, aber umso mehr von der VerhandlungssoldatIn, die/der diplomatisches Geschick, Problemlösungsfähigkeiten und Sprachkompetenz mitbringt (und, so das Ghali-Papier, in der weiblichen Erscheinungsform diese Anforderungen möglicherweise eher erfüllt). Erste Auswertungen des Somalia-Einsatzes belegen, daß der »Kämpfertypus« dort überwiegend dysfunktional – also nicht konfliktdämpfend – wirkte (vgl. Moskos & Miller, 1995).

Angesichts dieser für die gesellschaftliche und politische Entwicklung nicht unwesentlichen Fragen erstaunt es, daß kaum politische Akteure jenseits der Bundeswehr auszumachen sind, die an diesen Konstruktionsprozessen beteiligt sind oder sie auch nur kritisch verfolgen. Die innen- und außenpolitischen Folgewirkungen dieser Neukonstruktion des Soldaten könnten gravierend sein.

Literatur

Ahrendt, J. & Westphal, S. (1993). Staatsbürger in Uniform + Out of area=Weltbürger in Uniform? In: U. Hartmann & M. Strittmatter (Hrsg.), Reform und Beteiligung. Ideen und innovative Konzepte für die Innere Führung der Bundeswehr. Hamburg.

Baudissin, W. Graf v. (1982). Nie wieder Sieg! Programmatische Schriften 1951-1981. München.

Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M.

Boutros-Ghali, B. (1993). Women in the peace process. New York: United Nations. Infratest Burke (1996). Das Meinungsbild der Elite in Deutschland zur Außen- und Sicherheitspolitik. Berlin: Infratest Burke.

Moskos, C. & Miller, L. (1995). Humanitarians or warriors? Gender, race and combat status in operation „Restore Hope“. Armed Forces and Society, Nr. 4, S. 636-648.

Seifert, R. (1996). Militär-Kultur-Identität. Individualisierung, Geschlechterverhältnisse und die soziale Konstruktion des Soldaten, Bremen.

Dr. Ruth Seifert ist Dozentin an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg

Ehrenschutz für die Bundeswehr?

Ehrenschutz für die Bundeswehr?

Oder Gesetz zum Schutz des geistig-politischen Wehrpotentials

von Martin Singe

Seit 1984 beschäftigt das Tucholsky-Zitat »Soldaten sind Mörder« deutsche Gerichte. Nach vermehrten öffentlichen Rekrutenvereidigungen und »Großen Zapfenstreichen« sowie lautstarken Protesten gegen dieses demonstrative Traditionsbekenntnis der Bundeswehr beschäftigt sich auch der Bundestag damit. Per Strafgesetzbuch wollen CDU/CSU und FDP die »Ehre der Bundeswehr« retten und stellen sich damit selbst in eine bedenkliche Tradition.

Ehre bedeutet eigentlich die an eine Person gebundene Würde, bzw. die dieser Würde entsprechende äußere Achtung. Wieso die Bundeswehr »Ehre« haben soll, ist also erst einmal schleierhaft. 1995 – zum 40jährigen Bestehen der Bundeswehr – veranstaltete die Bundesregierung zwei Große Zapfenstreiche in Bonn und Erfurt sowie eine große öffentliche Rekrutenvereidigung erstmals in Berlin. Bei diesen Anlässen wurde massive Kritik aus der Friedensbewegung laut, die sich u.a. auch im Zitieren des berühmt gewordenen Tucholsky-Wortes »Soldaten sind Mörder« äußerte. Für 1997 sind rund 30 öffentliche Vereidigungen und zwei Große Zapfenstreiche geplant. Nach dem Bonner Zapfenstreich fand im Bundestag eine geradezu hysterische Debatte statt, wie denn dem »Mörder-Geschrei« zu begegnen sei. Seitdem steht der Plan, einen besonderen Ehrenschutz-Paragraphen im Strafgesetzbuch zu verankern, um solchem »pazifistischen Gejohle« ein Ende setzen zu können.

Der geplante Paragraph 109b Strafgesetzbuch

Im März 1996 wurde dann der geplante §109b (Verunglimpfung der Bundeswehr) als Gesetzesinitiative der Regierungskoalition vorgestellt und ging in die 1. Lesung: „Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften (§11 Abs. 3) Soldaten in Beziehung auf ihren Dienst in einer Weise verunglimpft, die geeignet ist, das Ansehen der Bundeswehr oder ihrer Soldaten in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ In der Gesetzesbegründung betont die Regierungskoalition, daß es nicht genüge, die Soldaten auf die Beleidigungstatbestände zu verweisen. „Vielmehr ist es erforderlich, die Funktionsfähigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr, den Einsatzwillen des einzelnen Soldaten und die Bereitschaft der Bürger, ihren Wehrdienst zu leisten oder den Beruf eines Bundeswehr-Soldaten zu ergreifen, durch eine weitere spezielle Strafvorschrift zu schützen …“ (Bundestags-Drucksache 13/3971).

Bei der Anhörung des Rechtsausschusses zum Gesetzesvorhaben im Oktober 1996 stellte Prof. Armin Steinkamm von der Bundeswehr-Universität München deutlich heraus, worum es Regierung und Bundeswehr mit dem Gesetzesvorhaben eigentlich geht. Im Mittelpunkt steht jedenfalls nicht das Mitgefühl mit konkret beleidigten Soldaten, also deren durch den Beleidigungsparagraphen hinreichend geschützte Ehre. Zwar werden – wie auch bei dieser Anhörung – immer wieder die „wehrlosen Wehrpflichtigen“ bemüht, die – auf irgendwelchen Wiesen oder Domvorplätzen zu öffentlichen Vereidigungen oder zu Zapfenstreichen aufgestellt – zu gekränkten Opfern pazifistischer Kritik würden. Im Kern zielt der neue Strafgesetzbuchparagraph 109b aber – einsortiert bei den Straftaten gegen die Landesverteidigung – auf den Schutz der Bundeswehr als Institution und bedeutet somit eine Beschneidung des Grundrechts der Meinungsfreiheit um der Förderung der deutschen Wehrkraft willen. So hob Steinkamm bei der Anhörung hervor, daß es um den „Schutz des geistig-politischen Wehrpotentials“ gehe. Der Schutz der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr sei erstes Ziel des Gesetzes. Tätigkeiten, die geeignet sind, den Verteidigungswillen zu schwächen, müßten bestraft werden, unabhängig vom Nachweis der konkreten Ansehensschädigung einzelner Soldaten. §109b würde ein Signal für die jungen Menschen, die potentiellen Soldaten, bewirken und unmittelbar den Hingebungs- und Einsatzwillen der deutschen Soldaten fördern. Deshalb sei der neue Paragraph auch bei den Straftaten gegen die Landesverteidigung als neuer Straftatbestand eingeordnet, um das Rechtsgut der äußeren Sicherheit zu schützen.

Die Auseinandersetzung um das Tucholsky-Zitat zwischen 1984 und 1996

1984 hatte der Arzt Peter Augst bei einer Podiumsdiskussion, zu der er als Vertreter der Friedensbewegung geladen war, in einer Frankfurter Schule zu einem Jugendoffizier gesagt: „Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder, auch Sie, Herr Witt.“ 1 1986 wird Augst wegen Volksverhetzung und Beleidigung zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Nach Berufung spricht das Landgericht 1987 frei, das OLG hebt den Freispruch 1988 auf und verweist das Verfahren an eine andere Strafkammer des LG zurück, die schließlich 1989 erneut freispricht. Dieses LG-Urteil hat erstmals einen Aufschrei durch die Bundeswehr-konforme Öffentlichkeit gehen lassen, bis hin zum Vorwurf der Rechtsbeugung (CDU-MdB Gerster). Dabei hatte das Gericht sehr vorsichtig geurteilt. Mit Gutachten hatte es ausführlich untersuchen lassen, inwiefern ein sittlich gemeinter Mordvorwurf das Töten im Krieg adäquat bezeichnen könne. Es betonte im Urteilsspruch sogar, daß eine Beleidigung vorläge, diese jedoch nicht strafwürdig sei, da der Arzt ein berechtigtes Interesse (gemäß § 193 StGB) wahrgenommen hätte und in diesem Falle das Grundrecht auf Meinungsfreiheit stärker wiege als die Beleidigung. Das Urteil zitierte das Bundesverfassungsgericht: „Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es (das Grundrecht auf Meinungsfreiheit) schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (BVerfGE 7, 208)“.2 Die Frankfurter Rundschau kommentierte den Freispruch: „Nun also der Freispruch, der die Republik, oder zumindest viele ihrer Repräsentanten, erbeben läßt. … Der Frankfurter Fall und seine rechtliche Beurteilung hätte, weil so unendlich viel Ernsthaftes und Grundsätzliches dahintersteckt, eine Chance sein können, über die ethischen Grenzen und realen Möglichkeiten von Rüstung und Verteidigung neu zu diskutieren. Diese Chance haben die Vereinfacher mit ihrem Getöse ruiniert. Auf Kosten der politischen Kultur und des Ansehens der unabhängigen Justiz. Ein deutsches Trauerspiel.“ 3 In einem Entschließungsantrag des Verteidigungsausschusses, der sich über das Urteil „tief betroffen und empört“ zeigte, wird erstmals die Forderung erhoben, zu prüfen, „ob Veranlassung besteht, den Ehrschutz der Soldaten und der Institution Bundeswehr im Strafgesetzbuch zu erweitern“ 4. Das Darmstädter Signal, eine kritische Soldatenvereinigung, solidarisierte sich mit dem Freispruch und erklärte, daß es die Aussage „Alle Soldaten sind potentielle Mörder“ inhaltlich für richtig hält, gerade angesichts einer möglichen Nuklearkriegsführung mit Massenvernichtungswaffen. Auch diese Erklärung führte zu Strafverfahren und zur Degradierung von Major Prieß, die dann aber 1992 vom Bundesverwaltungsgericht wieder aufgehoben wurde.

Nach vielen weiteren Gerichtsverfahren Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre, die wechselhaft mal mit Verurteilungen, mal mit Freisprüchen endeten,5 richtete sich das Interesse immer mehr auf die erwartete Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das ein Beleidigungsverfahren aus dem 2. Golfkrieg von 1991 zu behandeln hatte.6 Christoph Hiller, Sozialpädagoge, hatte während dieses Krieges neben zwei weiteren pazifistischen Aufklebern auch einen solchen mit dem Tucholsky-Zitat an seinem Auto angebracht. Der erste Strafbefehl wegen Volksverhetzung in Höhe von 8.400,- DM wurde ihm im Juni 1991 zugestellt. Der Instanzenweg endete schließlich beim BVerfG, das am 19.9.1994 entschied. Dieses Grundsatzurteil von 1994 erregte nun erneut die Gemüter der herrschenden Politik und der Militärs. Von Schand- und Skandalurteil, vom schlimmsten Urteil seit Bestehen der Bundesrepublik u. v. m. war die Rede. Noch ehe die meisten das Urteil gelesen hatten, machten sie ihrer Empörung Luft, so daß sich das BVerfG bemüßigt sah, eine eigene Presseerklärung zur Klarstellung nachzuliefern, in der es dann hieß: „Eine Aussage des Inhalts, daß es generell erlaubt sei, Soldaten der Bundeswehr als Mörder zu bezeichnen, enthält der Beschluß nicht. Das ergibt sich aus der Begründung der Entscheidung zweifelsfrei.“ 7 Das BVerfG hatte in der Begründung ausgeführt, daß die verurteilenden Gerichte nicht alle Interpretationsmöglichkeiten des inkriminierten Satzes geprüft hätten. So habe der Verurteilte zum einen den Mord-Begriff nicht im juristischen, sondern im umgangssprachlichen Sinn als moralisches Unwerturteil gebraucht. Außerdem seien konkret nicht die Soldaten der Bundeswehr gemeint gewesen, so daß sie auch durch diesen Aufkleber nicht beleidigt worden seien. Trotz dieser Differenzierungen riß die Empörung in den Medien und bei den Politikern nicht ab. Erneut wurde der Ruf nach einer klärenden ergänzenden Gesetzgebung zum Schutz der Soldaten laut.

1995 hatte das BVerfG wiederum eine Grundsatzentscheidung in Hinblick auf vier weitere Fälle ähnlich gelagerter Tatbestände zu treffen. Unter Verweis auf den 94er Beschluß hob das BVerfG auch diese Verurteilungen auf, da die Begleitumstände der Aussage, die möglichen Interpretationen und eine hinreichende Güterabwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz nicht vorgenommen worden waren.8 Um vorschneller Politikerschelte zu entgehen, faxte das BVerfG diesmal vorab eine Zusammenfassung der Begründung an die Bonner Politiker, was jedoch nichts nützte. Der Aufschrei in Bonn war dem von 1994 vergleichbar, zumal etwa zeitgleich im Oktober 1995 der Große Zapfenstreich im Bonner Hofgarten veranstaltet wurde, bei dem das Tucholsky-Zitat skandiert wurde, was u.a. zu einer Sondersitzung des Bundestages führte. Seitdem nimmt das Gesetzesvorhaben eines neuen Bundeswehr-Ehrenschutzes konkrete Gestalt an.

Ein Rückblick auf die Debatte von 1931/32

Die von Carl von Ossietzky als verantwortlichem Redakteur herausgegebene Zeitschrift »Weltbühne« hatte immer wieder militärkritische Artikel veröffentlicht. Jeweils Anfang August gedachte die Zeitschrift in besonderer Weise des Beginns des 1. Weltkrieges.9 Am 4.8.1931 veröffentlichte sie eine neue Übersetzung der »Exhortatio« Papst Benedikts XV. von Juli 1915, die den Krieg als grauenhafte Schlächterei bezeichnete, aber von den deutschen Bischöfen seinerzeit nur in einer im Ton sehr abgemilderten und damit deutlich verfälschten Übersetzung veröffentlicht worden war. Angefügt an die Neuübersetzung war eine mit Ignaz Wrobel, einem Pseudonym Tucholskys, versehene Glosse unter dem Titel »Der bewachte Kriegsschauplatz«. Hierin hieß es u.a.: „Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.“ Da Kurt Tucholsky als Verfasser des Artikels zu diesem Zeitpunkt bereits im schwedischen Exil lebte, stellte Reichswehrminister Groener gegen von Ossietzky als Verantwortlichen der »Weltbühne« Strafantrag wegen Beleidigung des Soldatenstandes. (Carl von Ossietzky saß seinerzeit in Haft, da er wegen eines anderen Weltbühne-Artikels 1931 wegen Landesverrates bereits zu 18 Monaten Haft verurteilt worden war. Das Reichsgericht stellte damals mit seinem Urteil das Staatsinteresse der Geheimhaltung – die »Weltbühne« hatte über die heimliche Entwicklung von Kampfflugzeugen berichtet – über die Pressefreiheit und wollte mit dem Urteil ein einschüchterndes Signal gegenüber der militärkritischen Presse setzen). Am 01.07.32 fand die Verhandlung vor dem Schöffengericht Charlottenburg statt, die zu einem Freispruch Ossietzkys führte. Auch die Revision der Staatsanwaltschaft wurde am 17.11.32 verworfen, da sich eine Beleidigung immer nur gegen eine Person oder gegen einen konkret umfaßbaren Personenkreis richten könne. Allerdings wurden im Anschluß an die Freisprüche durch alle Instanzen neue Notverordnungsparagraphen zum Schutz der Reichswehr diskutiert, die schließlich nach erneuten Veränderungen im Strafgesetzbuch Ende 1932 im § 134a Niederschlag fanden, der erst am 30.1.46 durch den Alliierten Kontrollrat aufgehoben wurde. (siehe hierzu auch den Artikel von Michael Hepp zur historischen Vorgeschichte des Ehrenschutz-Gesetzes, die Red.)

<>Radikalpazifistische Kritik darf sich nicht mundtot machen lassen<>

Gegenwärtig werden weiterhin Prozesse gegen PazifistInnen geführt, denn auch nach den BVerfG-Urteilen haben Gerichte einen großen Spielraum, um Verurteilungen auszusprechen, wenn sie meinen, daß konkrete Bundeswehrsoldaten von radikaler Kritik getroffen sind. Eine Welle von Prozessen gab es ja bereits während und nach 1991 (Golfkrieg). Zugleich verschärfen sich auf anderen Ebenen die staatlichen Maßnahmen gegen PazifistInnen, so. z.B. gegen die Berliner Kampagne gegen die Wehrpflicht (Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen), verstärkte Arrestierungen und Bestrafungen von Totalverweigerern, der Versuch, (Total-)Verweigererberatungen mit dem Rechtsberatungsgesetz (von 1935!) zu verhindern u. v. m.

Angesichts der gegenwärtigen politischen Entwicklung in Richtung Einführung eines neuen Strafrechtsparagraphen, der nun nicht mehr die Wehrmacht, sondern die Bundeswehr vor radikaler Kritik schützen soll, sind scharfer Widerspruch und Protest angesagt. Ob der Gebrauch des Mörder-Zitates – insbesondere angesichts der juristischen Mördertypologie im § 211 StGB aus dem Jahr 194110 – zum Deutlichmachen pazifistischer Kritik besonders geeignet ist, mag hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls darf auch solchermaßen scharf vorgetragene Kritik am Soldatenhandwerk nicht strafrechtlich verfolgbar sein, sonst bliebe in der Tat das hohe Gut und Grundrecht der Meinungsfreiheit auf der Strecke, begraben von deutscher Wehrkraft und deutschem Wehrwillen. Michael Hepp, Mitherausgeber der Dokumentation »Soldaten sind Mörder«, hat in der eingangs zitierten Debatte des Rechtsausschusses zum § 109b darauf hingewiesen, daß man sich mit Einführung dieses neuen Paragraphen aus einer über 2000jährigen pazifistisch-humanistisch-aufklärerischen Tradition verabschieden würde, in der immer wieder Krieg mit Morden und Soldaten mit Mördern parallel gesetzt wurden. So hätten – gäbe es den §109b bereits länger – nach 1945 u.a. auch Martin Niemöller, Heinrich Böll und Albert Einstein verurteilt werden müssen. Statt radikal geäußerten Pazifismus zu kriminalisieren, müßte sich vielmehr mit der umgangssprachlich vorgetragenen »Soldaten sind Mörder«-Kritik inhaltlich auseinandergesetzt werden, wie es schon angesichts der Urteile zwischen 1989 und 1995 gefordert worden war. Die gesamte Entwicklung der Bundeswehr zu einer out-of-area-„Krisenreaktions«-Armee deutet darauf hin, daß die Potentialität, mit der auch deutsche Soldaten zu »Mördern« werden können – im Sinne von kriegführenden Subjekten, die andere Menschen, auch Unschuldige, mit grausamen Waffen und aus politisch niederen Motiven (wie z.B. Wohlstandssicherung) töten –, eher zu- als abnimmt. In der Zeitschrift Truppenpraxis/Wehrausbildung 2/1996 malt Oberstleutnant i.G. Reinhard Herden künftige Kriegsszenarien aus: „Die großen Kriege des 20. Jahrhunderts fanden zwischen wohlhabenden Staaten statt. Im nächsten Jahrhundert werden die jetzt in Frieden miteinander lebenden wohlhabenden Staaten gegen die Völker der armen Staaten und Regionen ihren Wohlstand verteidigen müssen. Der Menschheit steht ein Jahrhundert des Mangels bevor. Um Dinge, die man einmal kaufen konnte, wird man Krieg führen müssen.“ Solche Szenarien liegen genau auf der Linie der Umschreibung künftiger »sicherheitspolitischer« Aufgaben in den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr und den neuen Strategiekonzepten der NATO. Muß man Soldaten, die sich als »Krisenreaktionskräfte« der NATO in den Dienst solcher Strategien stellen, nicht verunglimpfen, um ihr Gewissen wachzurütteln? Welches »Ansehen« verdient eine Armee, die sich solchen Kriegen als Zukunftsaufgabe widmet? Also ist radikalpazifistische Kritik so nötig wie eh und je. Und sei es nach Einführung eines § 109b verstärkt in der Form zivilen Ungehorsams.

Anmerkungen

1) Vgl. zum folgenden das von IPPNW, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Verein für Friedenspädagogik Tübingen und Humanistischer Union herausgegebene Buch: Christoph Weller (Redaktion), Sind Soldaten Mörder? Analysen und Dokumente zum »Soldatenurteil«, Tübingen 1990. Zurück

2) Weller, a.a.O., 146. Zurück

3) Weller, a.a.O., 214f. Zurück

4) Weller, a.a.O., 191. Zurück

5) Vgl. Michael Hepp, Viktor Otto (Hg.), »Soldaten sind Mörder«. Dokumentation einer Debatte 1931-1996, Berlin 1996, 95-124. Zurück

6) Vgl. zum folgenden Hepp, a.a.O., 125-212. Zurück

7) Hepp, a.a.O., 171f. Zurück

8) Vgl. Hepp, a.a.O., 213ff. Zurück

9) Vgl. auch zum folgenden, Hepp, a.a.O., 13ff und Weller, a.a.O., 112-120. Zurück

10) Vgl. Dirk Heinrichs, Den Krieg entehren. Sind Soldaten potentielle Mörder? Stuttgart 1996, insbes. das Kapitel Rechtsgeschichtliche Erhebungen zum § 211 StGB, 41-59. Zurück

Martin Singe ist Sekretär des Komitees für Grundrechte und Demokratie sowie Mitglied des Redaktionsteams der Zeitschrift »Friedensforum« des Netzwerkes Friedenskooperative