Die militärisch-ökonomische Barbarisierung

Die militärisch-ökonomische Barbarisierung

von Detlef Hartmann

Seit der Epochenwende befindet sich die Bundeswehr in »Transformation«, sozusagen im Zeitraffertempo, von einer Verteidigungsarmee, wie sie das Grundgesetz vorsieht, zu einer Interventionsarmee. Diese Umwandlung wurde schon vielfach beschrieben und analysiert. Kaum diskutiert wird bisher, dass sich nach kaum anderthalb Jahrzehnten seit dem Fall der Berliner Mauer als Zielgestalt des Transformationsprozesses erneut die Zurichtung der deutschen Streitkräfte für einen »totalen Krieg« abzeichnet und »von weit oben« propagiert wird – freilich in postmoderner Gestalt: Als umfassende Ökonomisierung des Militärischen und als Militarisierung des Ökonomischen.

Es klingt wie die Phantasie eines ewig gestrigen Militaristen: „Zunächst – wenn der Krieg von Anfang an zur Geschichte der Menschheit gehört, dann ist anzunehmen, dass der Krieg überwiegend positive Funktionen erfüllt. Wäre es nicht so, dann hätte die Evolution sicher längst dafür gesorgt, dass der Krieg als Phänomen verschwunden wäre. Vermutlich sind hier zwei miteinander verbundene und tiefer liegende Kräfte wirksam. Das eine ist der kompetitive Charakter, der die gesamte Schöpfung durchzieht… Worum wird dabei konkurriert? Im Wesentlichen um Macht, um Ressourcen und um die Vorherrschaft eigener kultureller Identitäten… Der Krieg hat seinen Ursprung jedoch nicht nur in den Kosten-Nutzen-Kalkülen der Kontrahenten. Die eigentlichen treibenden Kräfte liegen tiefer. Es ist die Lust an der Macht und an erfolgreichen Aggressionen. Das Unzivilisierte und Ursprüngliche ist es, was fasziniert – der Wegfall aller künstlichen Regeln. Auf den Spielcharakter des Krieges hat bereits Clausewitz hingewiesen. Krieg ist das Spiel mit dem höchsten Einsatz, bei dem dann – wenn es um Tod und Leben geht – auch so gut wie alles erlaubt ist. Offensichtlich ist es so, dass der Mensch – oder vorsichtiger formuliert: viele Menschen – bindungsfreie existenzielle Herausforderungen suchen, um sich selbst zu finden. Nirgends ist die Chance dafür so groß wie im Kampf, wie in der Bewährung im Kampf. Gewalt, Kampf und Sieg auf die Dauer nur im Fernsehen zu erleben, ist für viele dann nur ein schwaches und wenig zuverlässiges Substitut… Der Mensch sucht seine Individualität, aber er leidet auch oft unter ihr. Die Sehnsucht nach Ich-Entlastung und Verschmelzung mit anderen gehört deshalb auch zu seiner Natur. Die stärkste Erfüllung dieser Sehnsucht ist die Gemeinsamkeit im Kampf – abgesehen vielleicht von der Liebe. In diesem Licht ist der Krieg dann kein politisches Mittel mehr, sondern er wird zum Zweck und löst sich von allen gesellschaftlichen Bindungen… Ich bleibe bei meiner ersten These, dass der Krieg Zukunft hat und zwar wegen der Natur des Menschen.“ (Schnell, 2000, S.3-5).

Tatsächlich ist es mehr als nur die Phantasie eines Ewiggestrigen: Es ist die nüchterne Kalkulation zum Wert der Barbarei als ökonomischer Ressource – vom Lehrstuhl der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Bundeswehruniversität in München. Prof. Schnell, vormals Stellvertreter des Generalinspekteurs, hat die zitierten Überlegungen auf einer internationalen Management-Tagung im Juni 2000 in Brüssel vorgetragen. In den brisanten Teilen handelt es sich um eine Aufbereitung der Vorstellungen Martin van Crevelds für Managementzwecke aus dessen Buch »Die Zukunft des Krieges« (1998). Van Creveld, der sich auch auf Ernst Jünger und den Hitler-Kumpan General Ludendorff beruft, ist nicht unbeliebt in der Bundeswehr. In »Fighting power« (1982) hat er der NS-Wehrmacht die höchste Kampfkraft des 20. Jahrhunderts bescheinigt, der allenfalls die israelische Armee im Sechstagekrieg gleichgekommen sei. Auch er beschwört die Lust am Krieg, die Entfesselung von allen Regeln, den Einsatz aller Fähigkeiten des Menschen, von den höchsten bis zu den niedrigsten.

Aufgeschreckt durch den Strom der »Einzelfälle« kriegerisch-barbarischen Verhaltens im Rahmen der Bundeswehrausbildung und -einsätze setzt sich die Öffentlichkeit zunehmend mit den radikalen Veränderungen in den Leitvorstellungen der Bundeswehr auseinander. Jürgen Rose erinnerte unlängst daran, dass Generalmajor von Kielmansegg schon 1991 „der Zivilisierungsmöglichkeit einer Armee, die einsatzfähig sein soll, … verhältnismäßig enge Grenzen gesetzt“ sah (zit. nach Rose, 2006, S.1). Rose weist auch hin auf das Werben des Heeresinspekteurs Generalleutnant Hans-Otto Budde für den Typ des „archaischen Kämpfers“, den man sich vorstellen müsse „als einen Kolonialkrieger, der fern der Heimat bei dieser Existenz in Gefahr steht, nach eigenen Gesetzen zu handeln.“ (ebd.). Detlef Bald zeichnet in diversen Publikationen (u.a. 1998; 1999; 2005) das Abrücken vom Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« zum Bild des »Kriegers« nach, dessen oberstes Ideal „Kämpfen können und kämpfen wollen“ sei. Bei Schnell erkennt er „eine Kontinuität aus dem Denken von Ludendorffs totalem Krieg“, aus der „Denkart der Wehrmacht“ (zit. nach Koufen, 2006, S.7). Nachträglich wird diese Einschätzung drastisch sekundiert durch das neue Buch der Generale Reinhard Günzel (KSK) und Ulrich Wegener (GSG9) und ihres SS-Gewährsmanns Wilhelm Walther mit einer propagandistischen Wiederbelebung nazistischer Ordensmythen (Günzel, Walther & Wegener, 2006).

Verschmelzung ökonomischer und kriegerischer Potenziale

Nur auf den ersten Blick erscheint das überzogen. Und nur auf dem Hintergrund der aktuellen Strategien der Skandalverarbeitung. Die machen sich die fein säuberliche Trennung des »Ökonomischen« vom »Militärischen« zunutze. Sie ist jedoch längst überholt. Aber bevor wir begreifen, wie eng die Rückbezüge zu den Theoretikern und Strategen des »totalen Kriegs« sind, müssen wir uns der aktuellen Engführung und Verschmelzung des Militärischen und Ökonomischen zuwenden, wie sie auch in den Vorstellungen Schnells zum Ausdruck kommen. Sie sprengen die Vorstellungswelt, die mit der Militarisierung des Ökonomischen nur Kriegsgewinn, Raub, militärkeynesianische Stimulierung verbunden hatte. Schnell, van Creveld und ihre Mitstreiter sind keine »ewig Gestrigen«, sie denken auf neue Weise »total«. Wenn wir dies begriffen haben, werden wir neu über die alte Dynamik der Totalisierung des Kriegs nachdenken lernen. »Kontinuität« aus dem Denken von Ludendorff ist zu linear gedacht. Es geht um eine Totalisierung im postmodernen Gewand, die über den historischen Bruch die Analogien zur alten Totalisierung sichtbar werden lässt und zugleich den Bezug aktiv herstellt.

Van Creveld sagt: „Stattdessen könnte man in Anlehnung an Ludendorffs Werk zum totalen Krieg zutreffender sagen, dass er mit der Politik verschmilzt, zu Politik wird, ja Politik ist… Militärische und wirtschaftliche Funktionen werden wieder zusammen geführt, wie es zumindest bis 1648 durchaus übliche Praxis war“ (1998, S.316).

Bei Schnell klingt das so: „Sicherlich wird der militärische Manager nicht – um einen Begriff von Clausewitz aufzugreifen – zu einem ‚Kriegsunternehmer’ vom Typ Wallensteins. Aber die Herausforderung besteht doch in einer mentalen und professionellen Veränderung. Die herkömmliche Welt des Soldaten war eine andere Welt als die des Kaufmanns und Unternehmers. Diese beiden Welten werden nun stärker zusammen geführt werden… Die Führungs- und Managementgrundsätze von Militärorganisationen sind auf die extreme Form eines Wettbewerbs hin entwickelt. Menschliche Werte und Tugenden zählen da meist mehr als ökonomische Anreize. Es ist das ganze Selbst des Menschen, das gefordert wird… Sicher können Militärorganisationen noch manches vom Management privatwirtschaftlicher Organisationen lernen. Das Umgekehrte gilt aber genauso, und wenn es zutrifft, dass der globale Wettbewerb schärfer wird, dann konvergieren auch manche Führungs- und Managementgrundsätze“ (2000, S.18, 21f.).

Tötenwollen als „immaterielle Ressource“

Der Griff nach dem „ganzen Selbst“ als Gegenstand der Zusammenführung, der Verschmelzung der ökonomischen und militärischen Welt, der Welt des Unternehmers und des Kriegers: Was heißt das? Schnell vollzieht die Verschmelzung im Managementbegriff der „immateriellen Ressource“. Dies ist der Schlüsselbegriff des Zugriffs auf Subjekte im globalen Transformationsprozess des Kapitalismus, den wir »Globalisierung« nennen. Der Begriff korrespondiert mit anderen handlungs- und managementleitenden Begriffen wie: »Humanressourcen«, »Ressource Mensch«, »Wissenskapital«, »intellektuelles Kapital«, »Humankapital«. Der Ansatz ist »ganzheitlich«, »total«. Es geht um den Zugriff auf alle Dimensionen des Menschlichen und ihre Erschließung als »Ressource« zum Zweck der Neugestaltung der Arbeitsunterwerfung, bis hin zur Erschließung peripherer Gesellschaften. Dazu gehören nicht nur »endliche« Ressourcen des biologischen Substrats und der physischen Verwendungs- und Leistungsfähigkeit, sondern auch Einstellungen, Mentalitäten, soziale Beziehungen, kulturelle Qualitäten und Praktiken, Routinen, Kreativität, Intuition und vor allem »Vertrauen« (commitment). Der Zugriff ist tendenziell »total« im Sinne eines ganzheitlichen Griffs nach dem Subjekt und seiner Subjektivität unter Einschluss seiner sämtlichen sozialen und kulturellen Bezüge im Sinne einer komplexen »Lebensweise« (vgl. u.a. Moldaschl & Thießen, 2003; Moldaschl, 2005). In diesem Sinne behandelt Schnell auch die militärische Erschließung des „ganzen Selbst des Menschen“ als Ressource für die Fähigkeit, Gewalt anzuwenden, zu töten und sich zu opfern.

Gut, könnte man sagen. So sind halt die Militärs, schlimm genug. Aber wenn sich barbarische Kämpfer dem Unternehmertum annähern sollen, so doch jedenfalls nicht der rational geprägte Unternehmer dem archaischen Kämpfer? Falsch: Die Konvergenz wird längst auch von dieser Seite betrieben. Die politische Ökonomie selbst hat in der aktuellen frühen Phase der Globalisierung die barbarischen Anteile des unternehmerischen Antriebs reaktiviert. Sie hat dies getan im Rückgriff auf Joseph Schumpeter (1911/12; 1942), dessen politisch-ökonomische Grundvorstellungen von innovativer Dynamik in einem regelrechten Siegeszug die Managementkonzepte durchdrungen haben. Nicht die nüchterne Kalkulation macht danach die unternehmerischen Potentiale aus; sie sei allenfalls tauglich für den stationären Betrieb eines Unternehmens ohne Entwicklung. Innovative Tätigkeit speise sich aus dem „Siegerwillen, kämpfen wollen einerseits, Erfolg haben wollen des Erfolges als solchen wegen andererseits“, aus der „Fähigkeit, Altes zu zerstören und Neues zu schaffen“, „der Fähigkeit, andere sich zu unterwerfen und seinen Zwecken dienstbar zu machen, zu befehlen und zu überwinden.“ Kriegsherr und Unternehmer haben bei Schumpeter einen gemeinsamen historischen Ursprung, der auch die Analogie ihrer barbarischen Energien begründet. Und dass es barbarische Energien sind, die den Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung, der „schöpferischen Zerstörung“, der innovativen Gestaltung der Welt antreiben, daran lässt er selbst keinen Zweifel. „Rücksichtslosigkeit“, in der „Durchbrechung aller Bindungen“ charakterisieren sie. Schumpeters Gedankenwelt der „schöpferischen Zerstörung“ beherrscht die politisch-ökonomischen Kommandoebenen der Triade Japan-USA-Europa. Greenspan hat sie propagiert, Köhler als IWF-Direktor und Bundespräsident, Othmar Issing von der EZB etc. Viele Unternehmer und Managementführer (wie zum Beispiel der Chefökonom Walter von der Deutschen Bank) lassen sich von Schumpeters Grundvorstellungen leiten, allen voran das weltweit führende Management-Unternehmen McKinsey.1 Man darf jedoch nicht die Verhältnisse verkehren. Das Kapital und das Militär konvergieren in der Steigerung der Aggressivität ihrer Grundvorstellungen nicht, weil sie einer Theorie folgen. Sie konvergieren darin, weil der Umbruch von der Spätphase des keynesianisch orientierten »Fordismus« zu einer innovativen Welle der Globalisierung neue, sehr aggressive Momente in der Zerstörung der alten und Gestaltung der neuen Welt, ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse zur Wirkung bringt.

Barbarei und Globalisierung

Als Professor für Sicherheits- und Militärökonomie/Streitkräftemanagement behandelt Schnell (2000) die Barbarisierungspotentiale des »archaischen Kriegers« nicht nur als Bestandteil der immateriellen Ressourcen der Bundeswehr, sondern er sieht sie als dynamisches Moment im aktuellen Prozess der Globalisierung. Diese Dynamik begreift er als asymmetrisch im Gefälle der hochentwickelten innovatorischen Kerne der Metropolen zu den „Zwischenzonen“ der „Regionen mit labilem Gleichgewichtssystem“ (in der nationalen Sicherheitsstrategie der USA die »failed states«): „Hier werden Kriege wahrscheinlicher, insbesondere wenn sich dort wichtige Ressourcen und strategische Rohstoffe befinden.“ Die „stark hegemonial organisierten Regionen – wie etwa die EU oder Nordamerika“ mit ihrer „Eskalationsüberlegenheit“ zeichnet er dabei als zentrale Akteure (a.a.O., S.9).

Über das Projekt dieser Militarisierung des Ökonomischen gibt das Weißbuch 2006, zu dem auch die Bundeswehruniversitäten ihren Beitrag geleistet haben, eine grundsätzlich-strategische Auskunft. Sie stellt militärische Intervention ausdrücklich in den Dienst der Globalisierung: „Mit der Globalisierung eröffnen sich für Deutschland neue Chancen… Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert den Einsatz eines breiten außen-, sicherheits-, verteidigungs- und entwicklungspolitischen Instrumentariums“ (Bundesministerium der Verteidigung, 2006, S.9, 20). Deutschland „ist entschlossen, den Zugewinn an Freiheit und Gestaltungsraum in einer Welt der Globalisierung zu nutzen“ (ebd., S.21). „Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen, die nur in multinationalem Zusammenwirken beeinflusst werden können, bestimmen die künftige sicherheitspolitische Entwicklung“ (S.29). Erforderlich sei ein umfassendes „Gesamtkonzept“. Es erfasse „neben den klassischen Feldern der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik unter anderem die Bereiche Wirtschaft, Umwelt, Finanz-, Bildungs- und Sozialpolitik“ (S.30).Es geht also nicht mehr um Verteidigung, es geht darum, den Prozess der Globalisierung durchzusetzen. Dies ist ein aggressiver Prozess der totalen, der »umfassenden« Transformation. Sie gibt sich nicht mit Zugriff auf Rohstoff- und Energieressourcen zufrieden. Sie will Welt »gestalten«, im komplexen, »totalen« Zugriff.

Das Weißbuch schließt ausdrücklich an das strategische Konzept der NATO aus dem Jahre 1999 an (a.a.O., S.38f.), das die umfassende und totale Zweckrichtung militärischer Intervention nicht nur bei Risiken für die Handelsstrukturen und Rohstoffsicherheit propagierte, sondern auch bei Risiken aus der in verfallenden staatlichen Strukturen beeinträchtigten Sicherheitslage. Die im September 2002 veröffentlichte US-amerikanische »nationale Sicherheitsstrategie« (NSS), deren tragende Grundsätze im Hinblick auf die gewünschte euro-atlantische Partnerschaft ganz offenbar auch in das Weißbuch 2006 eingeflossen sind, präzisiert dies. Auch hier werden militärische Interventionen in den Dienst der Öffnung von Gesellschaften und Märkten gestellt, um sie für den Zugang der kapitalistischen Kräfte aufzubrechen: Finanzen, Services, Technologien, um das Produktivpotential der Arbeit zu »entfesseln« (The White House, 2002, passim; vgl. Hartmann & Vogelskamp, 2003, S.34ff.).

Diese Verschmelzung von Ökonomie und Militär in der totalen Entfesselung und Erschließung der »immateriellen Ressourcen« bis in ihre barbarischen Triebkräfte hinein erlaubt es, auch den Rückgriff auf die Theoretiker und Strategen des »totalen Kriegs«, wie Ludendorff einer war, zu verstehen. Wir sehen, dass es zu simpel ist, Schnell und anderen Propagandisten des »archaischen Kämpfers« zu unterstellen, sie orientierten sich in linearer Traditionspflege einfach an Ludendorff. Es wird richtig, wenn wir Ludendorffs Strategien und Vorstellungen des totalen Kriegs als Facette einer analogen Engführung des militärischen und ökonomischen Managements begreifen, die damals »Geopolitik« hieß und heute als »Globalisierung« firmiert.

Das Konzert des Aufrufs barbarischer Energien in den totalen Innovationskrieg ist vielstimmig. Es verschmilzt mit den ekstatischen Orgien der Tötungsenergien aus dem geschichtlichen Hallraum des letzten Globalisierungszyklus zu einem neuen Gesang. Schnell ist nur eine Stimme, wenn auch eine maßgebliche. Wir werden ihr nur gerecht, wenn wir uns der Barbarisierung in allen ihren ökonomisch-managerialen, kulturellen, religiösen, mentalen Strängen entgegenstellen, die ihre historische Verwirklichung in einem neuen Schub der Totalisierung sucht.

Literatur

Bald, D. (1998): Neotraditionalismus in der Bundeswehr. Wissenschaft und Frieden, 16 (4), S.57-59.

Bald, D. (1999): Der Paradigmenwechsel der Militärpolitik. Mittelweg36, 8 (5), 23-32.

Bald, D. (2005): Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005. München, Beck.

Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.) (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, BMVg.

Günzel, R., Walther, W. & Wegener, U. (2006): Geheime Krieger. Drei deutsche Kommandoverbände im Bild: KSK – Brandenburger –GSG 9. Selent, Pour le Merite.

Hartmann, D. & Vogelskamp, D. (2003): Irak. Schwelle zum sozialen Weltkrieg. Berlin/Hamburg, Assoziation A.

Koufen, K. (2006): Der Mensch, eine Kriegernatur. taz vom 07.11.06, S.7.

Moldaschl, M. (Hrsg.) (2005): Immaterielle Ressourcen. München, Hampp.

Moldaschl, M. & Thießen, F. (Hrsg.) (2003): Neue Ökonomie der Arbeit., Marburg: Metropolis – darin insbesondere der Beitrag des Erstherausgebers: Von der Personalwirtschaftslehre zur Wirtschaftslehre der Person? S.95ff.

Rose, J. (2006): Archaische Kämpfer am Hindukusch. Freitag vom 03.11.06, S.1.

Schnell, J. (2000): Zur zukünftigen Rolle von Militärorganisationen – Wie verändern sich Einsatzspektrum und Management von Streitkräften? Vortrag im Rahmen der Jahreskonferenz der European Federation for Management Development vom 18.06.-20.06.2000 unter dem Leitthema »Renaissance 2000«. Verfügbar unter: http://www.unibw-muenchen.de/Campus/WOW/v1054/miloek1.html.

Schumpeter, J. A. (2006): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (Nachdr. d. Erstausg. 1911/12). Berlin, Duncker & Humblot.

Schumpeter, J. A. (2005): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (8. Aufl., engl. Erstausg. 1942). Stuttgart, Francke/UTB.

Van Creveld, M. (1982): Fighting power: German and U.S. Army Performance, 1939-1945. Westport, Greenwood Press.

Van Creveld, M. (1998): Die Zukunft des Krieges. München, Gerling Akademie Verlag.

The White House (2002): The National Security Strategy of the United States of America. Verfügbar unter: http://www.whitehouse.gov/nsc/nssall.html.

Anmerkungen

1) Joseph Schumpeter hat dem fraglichen Unternehmertypus und dem von ihm betriebenen Prozess „schöpferischer Zerstörung“ die fantasiereichen und lesenswerten Darstellungen des zweiten Kapitels der „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ gewidmet (1. Aufl. Leipzig 1911/12, Zitate S.164) sowie des 7. Kapitels von „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (1. Aufl. 1942, zit. nach 7. Aufl. 1993, S.134, 137f.). Ein Buch des Autors, das auch die Schumpeter-Renaissance thematisiert, ist in Vorbereitung; Arbeitstitel: „Soziale und militärische Fronten der Globalisierung.“

Detlef Hartmann ist Rechtsanwalt und lebt in Köln. Eine Langfassung des vorliegenden Beitrags ist verfügbar unter http://www.materialien.org/Texte/Texte.

Zivil-militärische Zusammenarbeit aus der Sicht der Bundeswehr

Zivil-militärische Zusammenarbeit aus der Sicht der Bundeswehr

Interview mit Oberst i.G. Volker Fritze

von Volker Fritze und Albert Fuchs

Das folgende Interview zum Verständnis der Bundeswehr von zivil-militärischer Zusammenarbeit (CIMIC / ZMZ) konnte nicht rechtzeitig für unser entsprechendes Schwerpunktheft 4/06 realisiert werden. Wir tragen es auch als Novum für W&F in dem Sinne nach, dass wir die von uns ansonsten eher grundsätzlich kritisch-objektivierend beobachtete Institution Bundeswehr in der Person von Oberst i.G. Volker Fritze selbst zu Wort kommen lassen. Bevor man argwöhnt, jetzt sei auch W&F einer Akzeptanz-Offensive des Militärs via CIMIC / ZMZ erlegen, sollte man sich unsere Fragen und die gegebenen Antworten genauer ansehen. Grob gesprochen liegt der Akzent entweder auf der Sachinformation oder der politischen Bewertung. Wir glauben, dass die gebotene Sachinformation zumindest in Teilen durchaus Neuigkeitswert hat. Andererseits wird bei den Antworten auf die Bewertungsfragen – sofern die Frageintention aufgegriffen wird – niemand entgehen, wie »mainstreamig« im Sinne der neu-deutschen Außen- und Sicherheitspolitik der CIMIC / ZMZ-Ansatz bei der Bundeswehr verstanden wird. Allerdings ist im Auge zu behalten, dass die Antworten erkennbar nicht auf das tatsächliche Denken von Bundeswehrangehörigen abstellen, sondern auf die Programmatik – im Unterschied zu der einen oder anderen der für W&F von Albert Fuchs gestellten Fragen. Der »Apparat« wurde von der Redaktion hinzugefügt. Wir danken Herrn Fritze und dem Presse- und Informationsstab der Bundeswehr, dass sie die vorliegende W&F-Novität ermöglicht haben.

W&F: Was versteht das Militär / die Bundeswehr unter CIMIC / ZMZ? Worum geht es im Besonderen im Hinblick auf die Einsätze jenseits der Landes- und Bündnisgrenzen?

Volker Fritze: In Anerkennung der Veränderungen der globalen sicherheitspolitischen Lage wurden die Aufgaben der Bundeswehr (Bw) neu gewichtet und Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung – einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus – als die wesentlichen Beiträge der Bw zu einer umfassend angelegten sowie ressortübergreifenden deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erklärt.

ZMZ Bw umfasst nach heutigem Verständnis alle Planungen, Vereinbarungen, Maßnahmen, Kräfte und Mittel, welche die Beziehungen zwischen militärischen Dienststellen sowie Dienststellen der Territorialen Wehrverwaltung auf der einen Seite und zivilen Kräften, Behörden, Organisationen, Stellen und der Zivilbevölkerung auf der anderen Seite für die militärische Auftragserfüllung regeln. Dies schließt die Zusammenarbeit mit Regierungsorganisationen (RO), Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) oder Internationalen Behörden, Organisationen und Ämtern (IO) sowie anderen zivilen Akteuren im In- und Ausland ein. Die zivil-militärische Zusammenarbeit im Ausland (ZMZ / A) beinhaltet die Eignung / Befähigung zu Unterstützungsleistungen für militärische Operationen im gesamten Spektrum von Krisenprävention, Eingreifoperationen, Stabilisierungsoperationen sowie zur Unterstützung im Rahmen von Hilfeleistungen.

Seit Ende der 90er Jahre wird die internationale Staatengemeinschaft in besonderer Weise mit zunehmend komplexeren Problemstellungen bei der Krisenbewältigung konfrontiert. Die Feststellungen des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Dr. Peter Struck: „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ und „die erste Priorität ist nicht mehr die Verteidigung an des Ostgrenzen unseres Landes“ verdeutlichen diese Veränderung plakativ. Heute umfasst Verteidigung mehr als die Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Konflikten und die Konfliktnachsorge mit ein. Krisenprävention kann nicht ausschließlich mit Hilfe von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik bewältigt werden. Krisenprävention ist vielmehr eine Querschnittsaufgabe, die zunehmend auch andere Politikbereiche und nichtstaatliche Organisationen fordert. Der Einsatz rein militärischer oder rein ziviler Mittel zur Krisenbewältigung reicht nicht aus, um eine Krisenregion dauerhaft zu befrieden. Nur durch die Verzahnung der verschiedenen Fähigkeiten können Maßnahmen, die auf die Beseitigung der Ursachen nationaler oder regionaler Konflikte abzielen, an Effizienz und Nachhaltigkeit gewinnen.

W&F: Gibt es eine spezifische »Einsatzphilosophie« im Unterschied zur entsprechend benannten Konzeption aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation?

V. F.: Unter ZMZ wurde in der Vergangenheit ein Verfahren der Abstimmung zwischen zivilen und militärischen Trägern der ehemaligen Landesverteidigung verstanden. CIMIC umfasste die Maßnahmen, die das Verhältnis von Aufnahmestaat zu NATO-Streitkräften betrafen. Mithin waren ZMZ und CIMIC innerhalb der Landesverteidigung im NATO-Bündnis aufeinander bezogen und bildeten den Schirm, unter dem sich eine zivil-militärische Kooperation vollzog. Das heutige Grundverständnis der Bw von ZMZ / A1 entspricht fast identisch dem der NATO von CIMIC2. Sowohl ZMZ / A als auch CIMIC zielen ab auf:

  • Koordinierung der zivil-militärischen Beziehungen,
  • Unterstützung der Streitkräfte und
  • Unterstützung des zivilen Umfeldes.

W&F: Setzt die Bundeswehr in ihrem Grundverständnis andere Akzente als (NATO-) Partner? Und als das DPKO der UNO mit dem „Civil-Military-Coordination“-Konzept für Peacekeeping bzw. Peacebuilding?

V. F.: Im CIMIC-Verständnis einzelner Staaten gibt es graduelle Unterschiede. Diese spielen aber bei bündnisgemeinsamen Operationen nur eine untergeordnete Rolle, da in diesem Fall die NATO-Doktrin maßgebend ist. Dennoch ergeben sich in der Praxis durchaus Unterschiede, wie beispielsweise die Provincial Reconstruction Team (PRT)-Konzeptionen der verschiedenen in Afghanistan engagierten Nationen verdeutlichen. Das vom UN-Department of Peacekeeping Operations (UN-DPKO) 2002 herausgegebene Dokument »Civil-Military Coordination Policy« ist das Ergebnis eines Erfahrungsprozesses, das sich aus erkannten Problemfeldern bei UN-Operationen der Vergangenheit ableitet.3 Die Unterschiedlichkeit von teilweise mehreren hundert gleichzeitig in der selben Region tätigen zivilen Organisationen, inkompatiblen Organisationsstrukturen zwischen diesen Organisationen, aber auch zwischen den zivilen und den militärischen Komponenten sowie ungeklärte Informationswege und insbesondere unklare Führungsstrukturen führten zur Notwendigkeit, zielführenderes Handeln in einem »Policy Document« festzuschreiben.

Das Dokument selbst ist nur bedingt mit dem CIMIC-Verständnis der NATO kompatibel, da die Ziele und die Ausrichtung von UNO und NATO unterschiedlich sind. Trotzdem ist seit geraumer Zeit die Bemühung zu erkennen, die Zusammenarbeit beider Organisationen zu vertiefen und NATO- und UN-Verständnis kontinuierlich anzunähern.

W&F: Woher stammt das augenscheinliche »Anschlussbedürfnis« des Militärs an die Zivilgesellschaft(en), obwohl doch zumindest »auf den ersten Blick« einer militärischen und einer zivilen Konfliktbearbeitung unterschiedliche bis gegensätzliche Handlungslogiken zugrunde liegen? Oder ist das CIMIC-Konzept in der Bundeswehr im Hinblick auf ihr militärisches Kernmandat gar nicht unstrittig? Welche Vorbehalte werden eventuell artikuliert?

V. F.: Der Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« der Bundesregierung vom 12. Mai 20044 und noch deutlicher der »1. Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans«5 zeigen, dass Krisenprävention nicht ausschließlich mit Mitteln der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zu bewältigen ist, sondern in einem ressort-, organisations- und fähigkeitsübergreifenden Ansatz mit anderen Politikbereichen, wie Wirtschafts-, Umwelt-, Finanz-, Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik zu sehen ist. Zivile Krisenprävention ist folglich nicht in Abgrenzung zu militärischer Krisenprävention zu verstehen, sondern schließt diese mit ein. Somit ist es unzutreffend, von einem »Anschlussbedürfnis« zu sprechen, sondern das gemeinsame Vorgehen auf der Grundlage eines einvernehmlich getragenen Ansatzes bildet zwei Seiten derselben Medaille.

W&F: Wie funktioniert CIMIC konkret, z.B. im Kosovo und in Afghanistan? Welche Formen oder Ansätze der Institutionalisierung haben sich herausgebildet? Mit charakteristischen Unterschieden in diesen beiden politischen Kontexten?

V. F.: In den Einsatzgebieten der Bw ist CIMIC integraler Bestandteil jeder Operation. Verbindung und Abstimmung mit dem zivilen Umfeld sowie Erfassung und Berücksichtigung der zivilen Lage sind die wesentlichen Aufgaben. Daneben dient die Projektarbeit der Versorgung der Zivilbevölkerung, ist damit essenzieller Beitrag zur Schaffung von Stabilität und trägt zu Akzeptanz des internationalen Einsatzes und zum Schutz der zivilen Organisationen sowie der eigenen Truppe bei. Im Kosovo liegen die Schwerpunkte in der Feststellung der zivilen Lage, dem Betreiben von CIMIC-Centres – d.h von öffentlichen Anlaufstellen für die Bevölkerung, um Anliegen vorzutragen – sowie in der Fortführung unmittelbarer Unterstützungsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung durch eine deutsche CIMIC-Kompanie und in der Beteiligung an multinationalen Liasion Monitoring Teams (LMT). In Afghanistan liegen die Schwerpunkte bei Feststellung und Bewertung der zivilen Lage, der Unterstützung für das zivile Umfeld, dem Aufbau eines Netzwerkes, um das Einsatzkontingent wirkungsvoll in die Region zu integrieren und um die Zusammenarbeit mit den zivilen Partnern, RO, NRO und der Bevölkerung zu optimieren. Provincial Reconstruction Teams (PRT) bilden den äußeren Rahmen für die CIMIC-Tätigkeit. Das führt zu einer Schwerpunktverlagerung für die Arbeit der CIMIC-Kräfte, d.h. Wiederaufbau und Entwicklungshilfe erfolgt dort überwiegend in der Zuständigkeit anderer Ressorts oder beauftragter Institutionen und Organisationen (z.B. GTZ ). Die Aktivitäten der CIMIC-Kräfte liegen vor allem in der Erkundung der Lage des zivilen Umfeldes und dem Erstellen so genannter Village- and District-Profiles sowie im Herstellen und Halten von Verbindungen zum zivilen Umfeld, insbesondere zu den lokalen Autoritäten, Behörden, und natürlich zu RO und NRO. Des weiteren gilt es, die Planung und Durchführung von Unterstützungsmaßnahmen, also einzelne sog. Quick Impact Projects, sowie ausnahmsweise größere Unterstützungsprojekte entwicklungspolitisch abzustimmen. Dies findet jedoch stets auch unter dem Aspekt des Schutzes der Truppe im Einsatz statt. Die institutionalisierte Zusammenarbeit mit den zivilen Partnern erfolgt bereits auf ministerieller Ebene in Deutschland, u.a. in Form eines Referentenaustausches z. B. zwischen dem BMVg und dem BMZ.

W&F: Bestehen in der CIMIC-Praxis der involvierten NATO-Staaten nennenswerte Unterschiede, insbesondere bei den Provincial Reconstruction Teams (PRTs) der USA, Großbritanniens und Deutschlands in Afghanistan? Worauf beruhen sie eventuell? Wie wirken sie sich aus?

V. F.: PRTs sind für alle Beteiligten relatives »Neuland«. Ende 2002 wurden durch die USA militärisch geführte PRTs mit ziviler Beteiligung im Rahmen der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom (OEF) entwickelt. Großbritannien folgte Mitte 2003 mit einem eigenen Modell, und mit Übernahme des PRT in Kunduz durch Deutschland im Oktober 2003 entstand ein drittes PRT-Modell. Zwischen den PRTs der USA, Großbritanniens und Deutschlanbds gibt es deutliche Unterschiede.

Das US-Modell dient sowohl der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom als auch dem Wiederaufbau des Landes. Die zivilen Akteure unterstehen dabei einem militärischen Befehlshaber. Die Finanzierung von Projekten erfolgt im wesentlichen aus Mitteln der Streitkräfte. Projektarbeit und Wiederaufbau orientieren sich ohne Abstimmung mit den Vereinten Nationen oder zivilen Organisationen zumeist an operativen Gesichtspunkten. Die Zielsetzung der US-PRTs ist in der Praxis eher die Einbindung in eine Anti-Terror-Operation denn eine Stabilisierungs- und Wiederaufbauoperation nach deutschem Verständnis. Ob die von Deutschland kritisch gesehene Vermischung von Kampfauftrag mit Stabilisierungsauftrag durch ein identisches Kontingent zum Erfolg führt, wird die Zukunft zeigen.

Das Modell von Großbritannien, das sich zunächst ebenfalls am Anti-Terror-Kampf orientiert hat, ist in Bezug auf eine Arbeitsteilung und Zuständigkeiten der zivilen und militärischen Akteure deutlich stärker auf Kooperation mit der zivilen Seite ausgerichtet als das US-Modell. Es präferiert den Einsatz kleiner militärischer Trupps, die neben Aufklärung und Vertrauensbildung die Initiierung von zivilen Aufbauprojekten zum Ziel haben, die dann aber durch unabhängige zivile Akteure ausgeführt werden. Die zivile Seite verfolgt aber auch selbstgewählte Ziele und Projekte. Es existiert also eine Differenzierung zwischen militärischen und zivilen Aktivitäten.

Der Grundphilosophie des deutschen Konzepts folgend, nach der PRTs als zivile Wiederaufbauteams mit militärischer Unterstützungskomponente ausgerichtet werden, bestehen deutsche PRTs aus gleichberechtigten zivilen und militärischen Anteilen, um den politischen Gesamtauftrag, einen gemeinsamen Beitrag zum wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau des Landes zu leisten, umzusetzen. Diese PRTs sind somit regionale Wiederaufbauteams, in denen sich der ressortübergreifende Ansatz Deutschlands zur Unterstützung von Afghanistan widerspiegelt. Den PRTs gehören Vertreter des AA, des BMI, des BMZ und der Bw an. Ihre wesentlichen Aufgaben sind: Förderung des Wiederaufbaus von Administration, Sicherheitsstrukturen, Infrastruktur und Bildungseinrichtungen sowie Förderung von Wirtschaftsprojekten. Eingebettet in die internationale Gemeinschaft unterstützt Deutschland so die Bildung und Festigung legitimierter Staatsgewalt. Die Bw trägt zur Sicherheit der zivilen Partner bei und schafft damit die Voraussetzung für das deutsche Engagement beim Wiederaufbau in den nördlichen Provinzen. Die vertrauensbildende Präsenz der Bw im Land und ihre aktive Mitwirkung bei der Reform des Sicherheitssektors spielen dabei eine Schlüsselrolle. Die Bw versorgt die Angehörigen des PRT, unterstützt zivile Aufbauprojekte, führt aktiv ISAF-Informationskampagnen für die Zivilbevölkerung durch und wirkt durch ihre deutliche Präsenz. Damit wirkt sie ebenso stabilisierend wie durch den Aufbau eines regionalen Netzwerkes mit lokalen Behörden, regionalen Machthabern, Organisationen der UNO und Hilfsorganisationen.

W&F: Bezogen auf einen Standard-Konfliktzyklus mit den Phasen latenter Konflikt ⇒ manifeste (gewaltförmige) Konfliktaustragung ⇒ Wiederaufbau findet man CIMIC vor allem der dritten Phase zugeordnet. Die CIMIC-Erfahrungen in Afghanistan aber müssen wohl einer in die Länge gezogenen zweiten Phase zugerechnet werden. Was ergibt sich daraus für die Praxis?

V. F.: Bezogen auf das dargestellte Phasenmodell ist aus heutiger Sicht eine Zuordnung zu den Phasen 2 und 3 für Afghanistan zutreffend. Daraus ergibt sich für die Praxis, dass CIMIC für das eingesetzte Personal schwieriger durchzuführen ist als auf dem Balkan, weil durch die angespannte Sicherheitslage besondere, einschränkende Maßnahmen zum Tragen kommen (z.B. die Nutzung gepanzerter Fahrzeuge). Zunehmend kann man nicht mehr klar zwischen Phasen eines Konflikts differenzieren, wie dies das genannte Modell in vereinfachender Form impliziert. Moderne Konflikte lassen diese klassische Einteilung verschwimmen. Vielfach lautet die Realität, dass Kampf, Stabilisierung und Wiederaufbau parallel stattfinden und sich gegenseitig beeinflussen. Dies spiegelt sich in der Zielsetzung des bereits erwähnten, von der Bundesregierung 2004 implementierten Aktionsplans »Zivile Krisenprävention« wider, in welchem in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise ein ressort- und organisationsübergreifender Ansatz zu Krisenprävention, Krisenmanagement, Konfliktlösung und Postkonflikt gewählt wurde.

W&F: In den einschlägigen Richtlinien (i.B. der NATO: MC 411/1) wird die Bedeutung von CIMIC für die Akzeptanz (seitens der konfliktbetroffenen Bevölkerung) und den Erfolg der militärischen Einsätze / Operationen betont. Damit werden Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und zivile Konfliktbearbeitung i. e. S. anscheinend militärisch-politischen Zielvorgaben untergeordnet oder bestenfalls zu integralen Bestandteilen solcher Vorgaben. Wie sieht man dieses Verhältnis bei der Bundeswehr?

V. F.: Entwicklungspolitik, humanitäre Hilfe und CIMIC sind unterschiedliche Bereiche, haben aber Berührungspunkte. Da CIMIC keine Entwicklungspolitik oder humanitäre Hilfe in Uniform ist, sondern einer militärischen und politischen Zielsetzung dient, stellt CIMIC keine Konkurrenz dar. Ausgehend von einem ganzheitlichen Ansatz, wie ihn die Bundesregierung mit dem Aktionsplan »Zivile Krisenprävention«verfolgt, gilt es natürlich, Aktivitäten und Ziele sinnvoll miteinander abzustimmen. Ich will es nochmals ausdrücklich unterstreichen: Ziviles Krisenmanagement stellt keinen Gegensatz zum militärischen Einsatz dar, sondern nach unserem Verständnis ist das Militär Bestandteil eines gemeinsamen Krisenmanagements, in dem alle Beteiligten fähigkeitsbezogen zu einem gemeinsamen Ergebnis beitragen. Diese Aussage steht auch nicht im Widerspruch zu der angeführten NATO-Vorschrift MC 411/1, die in keinem Passus den Anspruch erhebt, Entwicklungspolitik oder die humanitäre Hilfe für militärische Zwecke operationalisieren zu wollen.

W&F: In der (affirmativen) Literatur wird »Nation Building« meist als Kohärenz stiftende und in einer Transformationsperspektive mit dem militärischen wie dem zivilen Ansatz kompatible Leitidee angeboten. Kritiker halten dagegen, dass bereits darin westlicher (Kultur-) Imperialismus zum Ausdruck komme, ganz zu schweigen von möglichen handfesten Interessen der beteiligten Staaten. Wird diese Problematik bei der Bundeswehr reflektiert?

V.F: Krisenprävention – und hierzu zählt auch der Aufbau staatlicher Strukturen nach einem Konflikt – wird in dem Bericht als politische Aufgabe gesehen, die aufgrund ihrer Komplexität den koordinierten Einsatz eines differenzierten Instrumentariums erfordert. Mit ihrem Konzept der Zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung integriert die Bundesregierung damit die verfügbaren Instrumente ziviler und militärischer Art in einem einheitlichen Politikansatz.

Einsätze im Rahmen komplexer Friedensmissionen mit Entwicklungs- bzw. so genannten Nation Building-Komponenten erfordern eine effektive zivil-militärische Zusammenarbeit. Hierdurch kann das Risiko krisenhafter Entwicklungen vermindert werden. Eine Mandatierung der Vereinten Nationen sichert gleichzeitig die Interessen der lokalen Bevölkerung bzw. Kulturgemeinschaft. Jede Form der Unterstützung orientiert sich eng am Bedarf der zu unterstützenden Nation und berücksichtigt die Vorstellungen ihrer souveränen Regierung. Dabei bedarf eine nachhaltige Konsolidierung von Frieden und Stabilität auch der Beteiligung der Betroffenen und der Übernahme von Eigenverantwortung (»ownership«). Wichtig ist ebenfalls der Grundsatz der »Joint Ownership«, d. h., dass sich beide Seiten im Rahmen der jeweils zur Verfügung stehenden Kapazitäten gemeinsam und abgestimmt aktiv in den Aufbauprozess einbringen, Ziele formulieren und Vorhaben verwirklichen. Somit sehen wir im Nation Building keinen Kulturimperialismus.

W&F: Abgesehen von der Instrumentalisierungsproblematik, sehen vielfach Trägerorganisationen von Entwicklungszusammenarbeit, humanitärer Hilfe und ziviler Konfliktbearbeitung die eigene Glaubwürdigkeit und insbesondere in einem anhaltendem »heißen« Konfliktklima auch die eigene Sicherheit durch die Nähe zu multinationalen Truppen gefährdet. Wie trägt man solchen Bedenken seitens der Bundeswehr Rechnung?

V. F.: Nach dem Motto »Keine Entwicklung ohne Sicherheit – Keine Sicherheit ohne Entwicklung!« und der Bedeutung militärischer Beiträge zur Bewältigung sicherheitspolitischer Herausforderungen gibt es zunehmend mehr Berührungspunkte zwischen entwicklungspolitischen, humanitären und militärischen Akteuren. Aus Sicht der Bw ist sogar festzustellen, dass mitunter die Entwicklungspolitik vom Militär Beiträge und militärisches Eingreifen erwartet. Gleichzeitig bildet nur erfolgreicher ziviler Wiederaufbau die Chance für einen zeitlich absehbaren Abzug der Streitkräfte (»Exit Strategy«).

In der Zusammenarbeit mit zivilen Institutionen beobachten wir, dass es zwischen den zivilen Akteuren selbst erhebliche Unterschiede gibt, und wir tragen dem mit der erforderlichen Sensibilität Rechnung. Da CIMIC ein militärisches Instrumentarium ist, stellt sich nach hiesiger Bewertung auch nicht die Frage nach der Glaubwürdigkeit der zivilen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen. Wenn RO oder NRO z.B. in Afghanistan Abstand zu den Streitkräften halten wollen, wird das respektiert.

W&F: CIMIC-Aktivitäten können leicht nicht-intendierte Nebeneffekte in einer konfliktbelasteten Zielgesellschaft haben, i.B. Rehabilitation / Stabilisierung eskalationsverantwortlicher Eliten, Entlastung der politischen Entscheidungsträger, strukturelle Abhängigkeiten. Wie beugt man solchen CIMIC-»Kollateralschäden« vor?

V. F.: Diese Gefahr ist bei allen Einsätzen in Krisenländern latent. Durch die Konzeption des Einsatzes der deutschen CIMIC-Kräfte soll solchen Schäden und negativen Einflüssen vorgebeugt werden. Alle Unterstützungsmaßnahmen werden unter dem Leitgedanken »Hilfe zur Selbsthilfe« ausgeplant und durchgeführt. Es werden nach Möglichkeit keine fertigen Produkte präsentiert, sondern Maßnahmen werden unter Einbindung der lokal oder regional Betroffenen in gemeinsamer Tätigkeit geplant, durchgeführt und in der Verantwortung zuständiger Stellen gepflegt, um hier Nachhaltigkeit zu erzielen. Der Gefahr der Begünstigung von Einzelgruppen oder verantwortlichen Eliten begegnen wir durch entsprechende aufklärende Vorbereitung und Abstimmung mit anderen Ressorts bzw. Institutionen. Grundsätzlich geht jeder CIMIC-Maßnahme eine tiefgehende Untersuchung über die Auswirkung der Aktivität voraus.

W&F: Im Kontext von CIMIC ist vielfach von »Lessons Learned« die Rede. Könnten Sie ein paar wichtige Lektionen benennen, die man gelernt hat? Wer hat die entsprechenden Erkenntnisse oder Einsichten wie gewonnen? Wie werden Sie umgesetzt?

V. F.: Angesichts von Häufigkeit und Dauer der Einsätze sowie der internationalen Verpflichtungen galt und gilt es, im Einklang mit Entwicklungen bei NATO, EU und den zivilen Partnern, Anpassungen und Optimierungen vorzunehmen. Auf der Grundlage der »Verteidigungspolitischen Richtlinien«6, der »Konzeption der Bundeswehr«7 und der Einsatzerfahrungen der letzten Jahre wurde die Fähigkeit zu ZMZ / A übergreifend auf die wahrscheinlicheren Aufgaben der Bw ausgerichtet. Neben der genannten strategischen Anpassung wird durch Qualitätsmanagement in Grundbetrieb und Einsatz eine ständige Anpassung und Optimierung der CIMIC-Arbeit und -Ausbildung vorgenommen.

Als übergreifendes Beispiel für Lessons Learned bietet sich ein Blick auf historische Entwicklungen an: Der VN-Einsatz zur humanitären Intervention in Somalia endete nicht mit dem gewünschten Erfolg, der anfängliche Bosnien-Einsatz führte nur zu Teilresultaten. Bei beiden Einsätzen war die Arbeit ziviler und militärischer Akteure nicht optimal abgestimmt. Dies hat sich in der Zwischenzeit, wie im Kosovo bei KFOR und in Afghanistan bei ISAF klar belegt wird, deutlich verändert. Koexistenz wurde durch Kooperation zwischen allen Beteiligten ersetzt. Mit den PRT’s ist ein Grad der zivil-militärischen Integration entstanden, welcher weit über Koexistenz und teilweise auch über Kooperation hinausgeht. Wichtig dabei ist, dass Zusammenarbeit und Integration schon in Deutschland beginnen und nicht ausschließlich im Einsatzland praktiziert werden. An diesem Erkenntnis- und Lernprozess waren zivile und militärische Partner gleichermaßen beteiligt und haben sich und ihre Zielsetzung im Konsens mit den jeweils anderen eingebracht.

W&F: CIMIC-Aufgaben sind zweifelsohne hoch komplex und erfordern andere Kernkompetenzen als spezifisch militärische. Wie rekrutiert bzw. selektiert und / oder trainiert die Bundeswehr ihre Fachkräfte für diesen Aufgabenkomplex?

V. F.: Eine besondere Herausforderung stellt die Rekrutierung und Ausbildung des im CIMIC-Bereich eingesetzten Personals dar. Obgleich CIMIC-Einsätze als integraler Bestandteil in militärische Operationen eingebettet sind, unterscheiden sie sich dennoch von den allgemein üblichen militärischen Aufgaben. Neben dem Beherrschen der üblichen militärischen Grundfertigkeiten, Erfahrungen im Bereich von Operationsplanung und -führung, einer abgeschlossenen Fachausbildung in einer anderen militärischen Verwendungsreihe, Sprachkenntnissen sowie Verhandlungsgeschick sind interkulturelle Kompetenz und die Befähigung, auf sich selbst gestellt arbeiten zu können, die üblichen »Zugangsvoraussetzungen« für die Offiziere und Unteroffiziere in CIMIC-Verwendungen.

Die Ausbildung trägt dem hohen Anspruch der künftigen Verwendung Rechnung und wird ständig angepasst. Hierbei unterscheiden wir zwischen der kontingentunabhängigen Ausbildung und der Kontingentausbildung für den jeweiligen Einsatz. Die kontingentunabhängige Fachausbildung erfolgt in komplexen Ausbildungsschritten. In einer ersten Ausbildungsstufe, nach Absolvieren des ZMZ-Basislehrgangs beim CIMIC-Zentrum der Bw in Nienburg, folgen zwei Lehrgänge an der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ). Diese beiden Lehrgänge werden gemeinsam mit Teilnehmern aus dem Bereich der RO und NRO besucht. Für die weitere CIMIC-Ausbildung sind Lehrgänge beim multinationalen CIMIC-Centre of Excellence in Budel / Niederlande oder an der NATO-Schule in Oberammergau oder bei befreundeten Nationen obligatorisch. Für Stabsoffiziere ist zudem eine Ausbildung an der Führungsakademie der Bundeswehr vorgesehen. Vor einem konkreten Einsatz nimmt das CIMIC-Personal neben der regulären Kontingent-Ausbildung aller für den jeweiligen Einsatz vorgesehenen Soldaten zusätzlich an einer speziellen, auf die Einsatzregion bezogenen CIMIC-Kontingentausbildung teil.

W&F: Aus Sicht mancher Kritiker dient(e) CIMIC letztlich dazu, die Neuausrichtung der Bw mit anhaltenden und immer neuen Auslandseinsätzen hoffähig zu machen und die Schwelle für solche Einsätze ohne öffentliche Diskussionen zu senken (cf. »Parlamentsbeteiligungsgesetz«). Damit würden zugrunde liegende (militär-) machtpolitische Ambitionen von Politikern und politisierenden Militärs und treibende Interessen der ökonomischen Elite verschleiert. Diese politische Kritik wirft (auch) die Frage der Legitimität (über die Legalität hinaus) auf und könnte das Selbstverständnis von Bundeswehrangehörigen zentral berühren. Wie setzt man sich in der Bundeswehr damit auseinander? Wie könnte man sich damit auseinandersetzen?

V. F.: Nicht-staatliche Akteure und asymmetrische Methoden der Gewaltanwendung spielen in den gegenwärtigen Konflikten eine wesentliche Rolle. Die offenen, von hoher Mobilität geprägten Informationsgesellschaften in Europa und Nordamerika sind mit ihrer komplexen Infrastruktur und großen Ressourcenabhängigkeit gegenüber derartigen Bedrohungsformen besonders anfällig. Organisierte Kriminalität und Migrationsbewegungen sind weitere neuartige Herausforderungen für die Sicherheit moderner Industriegesellschaften. Die veränderte Sicherheitslage erfordert insgesamt ein neues Verständnis von Sicherheit, Schutz und Verteidigung. Dabei bleibt die Verteidigung Deutschlands gegen eine äußere Bedrohung weiterhin der verfassungsrechtliche und politische Auftrag der Bundeswehr. Deutschland begegnet den sicherheitspolitischen Herausforderungen und Risiken mit einer vorbeugend angelegten, international eingebetteten und ressortübergreifenden Sicherheitspolitik. Sie beinhaltet aber auch die Bereitschaft und erfordert die Fähigkeit, Freiheit und Menschenrechte sowie Stabilität und Sicherheit gegebenenfalls mit militärischen Mitteln zu schützen, durchzusetzen oder auch wiederherzustellen. Dabei kann es erforderlich werden, Streitkräfte sehr frühzeitig einzusetzen, um Krisen zu verhindern, Konflikte beizulegen oder terroristische Gruppierungen an asymmetrischen Angriffen zu hindern. In diesem Zusammenhang dient die zivil-militärische Zusammenarbeit im Ausland der Operationsführung der eingesetzten Kräfte und ist aus militärischer Sicht erforderlich und zweckmäßig. ZMZ / A ist also kein Selbstzweck, sondern dient stets der Erfüllung des jeweiligen militärischen Auftrages der im Einsatzgebiet eingesetzten Streitkräfte. Daher orientieren sich ZMZ / A-Aktivitäten stets am konkreten Auftrag des Einsatzkontingents, sowie an der zivilen Lage einschließlich der Größe des Einsatzgebietes, Anzahl und Art der zivilen Ansprechpartner und der Lage der Bevölkerung und werden auf die jeweilige Situation zugeschnitten erbracht.

Eine wesentliche Leistung von ZMZ / A ist es, Akzeptanz bei der Bevölkerung im Einsatzgebiet zu schaffen und zu stärken und damit einen wichtigen Beitrag zum Schutz der eigenen Truppe und auch ziviler Akteure zu leisten. Diese Akzeptanz wird u.a. durch Kleinprojekte zur Unterstützung der Bevölkerung hergestellt. Dies geschieht nicht in Konkurrenz zu zivilen Institutionen, sondern entweder in Abstimmung mit diesen oder nach dem Humanitären Völkerrecht, das jeden Truppenführer verpflichtet im Einsatzgebiet einen minimalen humanitären Standard zu gewährleisten, falls die dafür zuständigen zivilen Stellen dazu nicht in der Lage oder dazu bereit sind. ZMZ / A hat also eine an militärischen Erfordernissen orientierte Unterstützungsfunktion für einen militärischen Auftrag, der dem Primat der Politik folgt. Falls der politische Auftrag »Nation Building« oder »Reconstruction« lautet, wird die Bundeswehr und damit auch ZMZ / A den militärischen Beitrag hierzu leisten.

Der Einsatz der PRT im Rahmen des deutschen Afghanistan-Konzeptes belegt diesen Ansatz eindrucksvoll. Über die Unterbindung bewaffneter Auseinandersetzungen hinaus ist ein Land zu unterstützen, um einen langfristigen und lebenswerten Frieden zu erlangen. Dazu ist für die VN der Aufbau bzw. die Reform von lokalen Institutionen eine Schlüsselaufgabe. Stabilisierung und Governance-Aufgaben sind gemäß den VN parallele und keine sequentiellen Bereiche, was die VN zum Schluss führt, dass sicherheitspolitische und entwicklungspolitische Vernetzung essentiell ist. Vor jedem Truppenabzug müsse die Frage stehen, ob die Grundsteine für eine friedliche Entwicklung im Einsatzland gelegt sind. Somit intendiert die Bw nicht, durch CIMIC Auslandseinsätze »hoffähig« zu machen, sondern sie stellt sich vielmehr den sicherheitspolitischen Realitäten und Herausforderungen.

Anmerkungen

1) Teilkonzeption Zivil-Militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr (TK ZMZ Bw) vom 30.10.2001, Ziff. 203 [Verschlusssache].

2) NATO (2001): MC 411/1 (Final), NATO Military Policy on Civil Military Cooperation. Verfügbar unter: http://www.nato.int/ims/docu/mc411-1-e.htm [Zugriff: 20.02.06]; NATO (2003): AJP-9, Nato Civil Military Cooperation (CIMIC) Doctrine. Verfügbar unter: http://www.nato.int/ims/docu/AJP-9.pdf [Zugriff: 11.07.06].

3) UNO – Department of Peacekeeping Operations (UN-DPKO) (2002): Civil-Military Coordination Policy. Verfügbar unter: http://www.un.org.depts/dpko/milad/oma/dpko_cmcoord_policy.pdf [Zugriff: 22.07.06].

4) Die Bundesregierung (2004): Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Verfügbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/Aussenpolitik/Friedenspolitik/ziv_km/Aktionsplan_html [Zugriff: 15.02.06].

5) Die Bundesregierung (2006): Sicherheit und Stabilität durch Krisenprävention gemeinsam stärken.- 1. Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Verfügbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/FriedenSicherheit/Krisenpraevention/Aktionsplan1BerichtBuReg0506.pdf [Zugriff: 22.11.06].

6) Bundesministerium der Verteidigung (2003): Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Berlin: Presse- und Informationsstab.

7) Bundesministerium der Verteidigung (2004): Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr. Verfügbar unter: http://www.bundeswehr.de [Zugriff: 22.11.06].

Volker Fritze, Oberst i.G., ist Referatsleiter im Führungsstab der Streitkräfte (FüS V4)

In wessen Namen?

In wessen Namen?

Ein kritischer Blick auf die »Schutzverantwortung«

von Lou Pingeot und Wolfgang Obenland

Alleine während der vergangenen zwölf Monate kam es zu vielfachem Eingreifen auswärtiger Mächte in Konflikte in formal souveränen Ländern: im Südsudan, in Zentralafrika, in Mali, in der Ukraine und anderswo. Diese sehr unterschiedlichen Eingriffe in sehr unterschiedliche Konfliktsituationen werden naturgemäß sehr unterschiedlich bewertet: als Unterstützung in einer Krisensituation, als Prävention in einem sich abzeichnenden Völkermord oder als aggressive Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Wann und wie aber internationales Eingreifen gerechtfertigt oder gar geboten erscheint, darüber findet spätestens seit dem Ende der 1990er Jahre eine kontroverse Diskussion unter dem Schlagwort »Schutzverantwortung« statt.

In den 1990er Jahren war die Welt mit einer Reihe bewaffneter und sehr gewalttätiger Konflikte konfrontiert, die sich nicht in das herkömmliche Schema zwischenstaatlicher Kriege einordnen ließen. Aus den unterschiedlichsten Gründen und in sehr verschiedenen geographischen Zusammenhängen eskalierten Konflikte innerhalb von Staaten und riefen Reaktionen der »internationalen Gemeinschaft« hervor – aber in sehr unterschiedlichem Ausmaß.

Die bewaffneten Auseinandersetzungen in Somalia, Ruanda, Bosnien oder dem Kosovo führten zu hitzigen Debatten darüber, wie die internationale Gemeinschaft auf interne Konflikte in formal souveränen Staaten reagieren sollte. In den genannten Beispielen hatte sie mit Mandaten des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (United Nations, UN) mit wechselnden Resultaten interveniert, ohne ein solches Mandat eingegriffen oder gar nicht reagiert. Angesichts dieser gemischten Bilanz begann eine Reihe von Wissenschaftler_innen und Politiker_innen, sich für eine neue Doktrin internationaler Verantwortung einzusetzen, die Interventionen in souveräne Staaten durch die UN oder andere Staatengruppen rechtfertigen und kodifizieren sollte. In einer Rede argumentierte UN-Generalsekretär Kofi Annan 1998, das Prinzip der Souveränität könne übergangen werden, wo es der Pflicht des Sicherheitsrats entgegenstünde, Frieden und Sicherheit zu bewahren. Die Charta der UN sei nie dafür gedacht gewesen, Menschenrechte und menschliche Würde mit Füßen zu treten. Das Souveränitätsprinzip beinhalte Verantwortung, nicht nur Macht.1

Viele Regierungen aus dem globalen Süden standen dieser Idee misstrauisch gegenüber; sie drückten Bedenken aus, solche Begründungen könnten dazu führen, dass interne Auseinandersetzungen zur Rechtfertigung für interessengeleitete Eingriffe anderer Mächte dienen. Sie erinnerten daran, wie westliche Staaten unter dem Vorwand humanitärer Interventionen in der Vergangenheit ihre Kolonialreiche ausgebaut hatten.

Kofi Annan war sich dieser Bedenken bewusst und drängte die Regierungen zu einem Konsens darüber, wann und wie Interventionen autorisiert werden sollten. Als Antwort auf dieses Drängen richtete die Regierung Kanadas mit Unterstützung einiger finanzkräftiger US-Stiftungen im Jahr 2000 die »Internationale Kommission zu Intervention und staatlicher Souveränität« (International Commission on Intervention and State Sovereignty, ICISS) ein.

Die Kommission war prominent besetzt mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Militär und Zivilgesellschaft: Vorsitzende waren Gareth Evans, ehemaliger Außenminister Australiens, und Mohamed Sahnoun, Sonderberater des UN-Generalsekretärs und ehemaliger Sonderbeauftragter für Somalia und die Region der Großen Seen in Afrika. Das umstrittene Konzept »humanitärer Intervention« umgehend, führte die ICISS das Konzept der »Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect, R2P) ein. Es beinhaltet im Wesentlichen drei Elemente:

1. einen Wandel im Verständnis von Souveränität als Recht von Staaten auf territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit hin zu einer Verpflichtung, die eigene Bevölkerung vor schwersten Menschenrechtsverletzungen zu schützen;

2. die Verantwortung der Staatengemeinschaft, dort zu intervenieren, wo Regierungen nicht willens oder in der Lage sind, diesen Schutz bereitzustellen; damit wird das Unterlassen, nicht die Durchführung von Interventionen begründungspflichtig;

3. die Betonung der multilateralen Natur dieser Pflicht: nicht einzelne Staaten, sondern nur Bündnisse sollten diese Verantwortung wahrnehmen können.

Diese Aspekte wurden im Bericht der ICISS in drei Konzepte heruntergebrochen: die Verantwortung zur Vorsorge (Responsibility to Prevent), die Verantwortung zur Reaktion (Responsibility to React) sowie die Verantwortung zum Wiederaufbau (Responsibility to Rebuild). Diese Konzepte wurden als Antwort auf die Frage formuliert, „wann, falls überhaupt es für Staaten angemessen ist, gegenüber einem anderen Staat Zwangsmittel – und zwar militärische – einzusetzen, um gefährdete Menschen in diesem anderen Staat zu schützen“.2

Obwohl die ICISS also betonte, dass die Schutzverantwortung auch eine Verantwortung zur Prävention und zum Wiederaufbau beinhaltet, liegt der sehr deutliche Fokus auf der »Reaktionskomponente« – oder genauer, auf deren militärischer Ausgestaltung. Es werden insgesamt sechs Kriterien vorgeschlagen, die erfüllt sein sollen, um militärische Interventionen legitim durchführen zu können:

  • die richtige Autorisierung,
  • ein gerechtfertigter Grund,
  • die rechte Absicht,
  • militärische Intervention als Ultima Ratio,
  • die Proportionalität des Vorgehens und
  • vernünftige Erfolgsaussichten.

Obwohl die ICISS den UN-Sicherheitsrat als höchste Legitimität spendende Autorität für solche Interventionen ansieht, schließt sie die Möglichkeit einer Autorisierung durch regionale Organisationen oder willige Mächte ausdrücklich nicht aus. Als Fälle, in denen die Verantwortung der Staatengemeinschaft greifen soll, werden solche bezeichnet, die »das Gewissen erschüttern«. Im Einzelnen werden darunter schwerste Verbrechen, wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gefasst, aber auch Fälle, in denen Regierungen bei Naturkatastrophen nicht willens oder in der Lage sind, zu helfen.

Bei der Bewertung der Vorschläge der ICISS ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die ihrer Arbeit zu Grunde liegende Frage nicht war, wie humanitäre Katastrophen zu vermeiden oder wie Konflikte zu lösen seien. Vielmehr stellte sich die Kommission explizit die Frage: „Welche Bedingungen müssen gegeben sein, um militärische Interventionen im Fall grober Menschenrechtsverletzungen zu legitimieren?“ Wie wir zeigen werden, hat diese Fragestellung die Diskussionen über die »Schutzverantwortung« für Jahre bestimmt.

Nach der Veröffentlichung des ICISS-Berichts 2001 und umfangreichen Bemühungen seiner Unterstützer_innen nahm R2P schnell seinen Weg durch die Instanzen der UN. Das Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 beinhaltet in drei knappen Paragraphen das Konzept, allerdings in stark eingeschränkter und modifizierter Form. So wurde die Verpflichtung zur Intervention hier nur noch zur »Bereitschaft«, die uneingeschränkte Autorität des Sicherheitsrats wurde nicht angetastet und Fälle, in denen Interventionen gerechtfertigt werden, wurden auf die völkerrechtlich klarer gefassten Fälle von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begrenzt.3

Seither nimmt R2P einen wichtigen Platz in den Diskussionen bei den UN und darüber hinaus ein, u.a. durch regelmäßige Berichte des Generalsekretärs und in Resolutionen des Sicherheitsrats. Diverse Akteure beriefen sich auf R2P während der Darfur-Krise, im Zusammenhang mit den Konflikten in der Demokratischen Republik Kongo, in Mali, Libyen und Syrien. Die Anwendung des Konzepts auf diese sehr realen Krisen deckte die Kernfragen zu R2P sehr schnell auf: Bietet es wirklich neue und effektive Antworten auf massenhaftes Töten? Kann es missbraucht werden, um die Interessen der Intervenierenden durchzusetzen anstatt Menschenrechte zu schützen? Im Zuge des NATO-Bombardements in Libyen, das unter expliziter Berufung auf R2P durchgeführt wurde, argumentierten Beobachter_innen, die Intervention habe gegen Sicherheitsratsresolutionen verstoßen, weil sie anstelle des eigentlichen Ziels, dem Schutz der Zivilbevölkerung, den Sturz Gaddafis und die Einsetzung einer neuen Regierung bezweckte.4 Der Schluss lag nahe, dass die Kampagne in Libyen dem Konzept der Schutzverantwortung einen schweren Schlag versetzt habe und dass es in Zukunft schwieriger sein würde, sich auf R2P zu beziehen oder Konsens über militärische Interventionen herzustellen.

Wir möchten hier der Frage nachgehen, ob das Konzept einer Schutzverantwortung vor Missbrauch geschützt werden kann oder ob es grundsätzlichere Schwächen beinhaltet. Dazu werden wir Argumente für und gegen R2P beleuchten und untersuchen, wer hinter diesen Argumenten steht. Diese Analyse, so hoffen wir, kann dazu beitragen, sich ein umfassendes Urteil über dieses Konzept und seine rasante Karriere zu verschaffen.

Die positiven Seiten von R2P

Das Konzept der Schutzverantwortung soll der Beantwortung einer keinesfalls trivialen Frage dienen: Kann die Staatengemeinschaft sich allgemeingültige Regeln geben für Fälle, in denen das Leben vieler unmittelbar in Gefahr ist, die eigentlich zuständige Regierung aber entweder nicht in der Lage oder willens ist, diese Situation zu beheben? R2P bietet eine Reihe mehr oder weniger innovativer Antworten und erinnert an bestehende Pflichten auf internationaler und nationaler Ebene. Allerdings bleibt das eigentliche Novum des Konzepts die Einführung militärischer Intervention als legitimes Mittel, auch wenn ihm bestimmte konzeptionelle Hürden in den Weg gestellt werden.

So widersetzt sich R2P richtigerweise dem in sich widersprüchlichen Begriffspaar »humanitäre Intervention« und gibt damit denjenigen recht, die die Gefahr begründet sehen, dass humanitäre Aktivitäten militarisiert werden. Obwohl sich R2P nicht völlig von dem Konzept der humanitären Intervention freimachen kann, stellt es doch seine politischen Implikationen in Frage. Die ICISS bemerkt dazu in ihrem Bericht, schon die Verwendung des positiv konnotierten Begriffs »humanitär« verschleiere die eigentlich Frage, ob bzw. wann eine Intervention gerechtfertigt sei.

Indem das Konzept der Schutzverantwortung argumentiert, Souveränität sei eine Verpflichtung, werden wichtige Prinzipien des Menschenrechtssystems aufgegriffen, und es wird betont, dass Staaten Verpflichtungen gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern haben. Mit R2P wird außerdem hervorgehoben, dass der internationalen Gemeinschaft eine Rolle dabei zukommt, einzelne Staaten bei der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu unterstützen, insbesondere durch ökonomische, soziale und politische Maßnahmen. Das Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 sagt entsprechend, die Staatengemeinschaft habe die Pflicht, „den Staaten beim Aufbau von Kapazitäten zum Schutz ihrer Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit behilflich zu sein und besonders belasteten Staaten beizustehen, bevor Krisen und Konflikte ausbrechen“ (§139).

Im Bewusstsein der Wankelmütigkeit der internationalen Reaktionen auf die humanitären und politischen Krisen der 1990er Jahre wird im Rahmen des Konzepts R2P versucht, mehr Konsistenz herzustellen. Es soll ein Rahmen geschaffen werden, der klarstellt, wer wann wie unter welchen Umständen intervenieren soll. Indem die Umstände definiert werden, unter denen die internationale Gemeinschaft im Falle humanitärer Notlagen Verantwortung übernehmen soll, zielte die ICISS darauf ab, es den Mitgliedern der UN schwerer zu machen, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Die Fallstricke von R2P

Diesen Zielen und Ansätzen wird das Konzept der Schutzverantwortung allerdings nicht gerecht. Das Konzept, das sich für viele mittlerweile – je nach Standpunkt – zu einer Norm bzw. einer Doktrin gewandelt hat, hilft nicht dabei, Konflikte zu verstehen oder zu lösen, sondern kann sogar kontraproduktiv wirken. Es legt den Fokus auf die falschen Instrumente – und es öffnet politischer Manipulation Tür und Tor.

R2P hat Abgrenzungsprobleme

Über die genaue Ausrichtung von R2P, über die Rolle militärischer Intervention, darüber, in welchen konkreten Fällen R2P bislang überhaupt angewandt worden sei, gibt es sehr viel Disput, auch unter Verfechter_innen des Konzepts. Viele behaupten von sich, die eigentliche Bedeutung der Doktrin zu verteidigen und sie gegen »Feinde« und »falsche Freunde« zu schützen. Gareth Evans zum Beispiel, einer der Autor_innen des ICISS-Reports, versucht diejenigen zu korrigieren, „die von sich behaupten, Freunde von R2P zu sein“, aber „den ideologischen Kritikern in die Hände spielen […] indem sie an R2P nur in militärischen Zusammenhängen denken“.5

Meinungsverschiedenheiten zwischen Unterstützern von R2P sowie die inhaltliche Nähe zum Konzept humanitärer Intervention unterstreichen die Unklarheiten des Konzepts. Während einige R2P und »humanitäre Intervention« synonym gebrauchen und ersteres nur für eine neue Art halten, über letzteres zu sprechen, behaupten andere, beides habe nichts miteinander zu tun.

Die zwiespältige Rolle des ICISS-Reports im breiteren Diskurs um R2P trägt zu dieser Konfusion bei. Im Gegensatz zum Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 wurde der ICISS-Report nie von Regierungen ratifiziert oder auch nur begrüßt, und er ist auch nicht Teil des offiziellen Verständnisses der UN von R2P. Die Konzepte und Definitionen der ICISS durchdringen aber die Diskurse rund um R2P. Selbst anerkannte Wissenschaftler_innen verwischen die klaren Unterschiede zwischen dem Verständnis der ICISS und den UN. Genau so geht es vielen Unterstützer_innen aus der Zivilgesellschaft: „Es ist schwer zu sagen, ob die Zunahme [der zivilgesellschaftlichen Unterstützung für R2P] einen menschenrechtlichen Konsens über militärische Interventionen als letztes Mittel im Namen des Schutzes der »Menschenrechte« widerspiegelt oder lediglich Unterstützung für die unumstrittene Idee, dass Staaten, ob allein oder gemeinsam mit anderen, immer darum bemüht sein sollten, Zivilisten zu schützen.“ 6

Diese fehlende Klarheit macht es den R2P-Verfechter_innen einfach, Kritik an der Doktrin mit dem Verweis auf Missverständnisse zurückzuweisen. In Fällen, in denen (vielfach unpopuläre) militärische Interventionen mit R2P gerechtfertigt wurden, wird das von den R2P-Befürworter_innen als Fehlinterpretation oder Missbrauch bezeichnet. In Fällen, in denen Vermittlungsbemühungen erfolgreich waren, wie zum Beispiel Kofi Annans diplomatischer Einsatz in Kenia 2008, wird das als ein Beispiel von R2P verkauft, obgleich Annans Initiative ohne R2P ebenso denkbar war und keinerlei Einschränkung der kenianischen Souveränität beinhaltete. Dieses elastische Verständnis von R2P erlaubt die Assoziierung von R2P mit Erfolgen und die Abgrenzung zu Misserfolgen gerade so, wie es für die Verfechter_innen am bequemsten ist.

R2P rechtfertigt den Einsatz von Gewalt

Die Konfusion rund um R2P lässt sich am besten anhand der Auseinandersetzung um die Rolle militärischer Intervention in der Doktrin illustrieren. Einige Verfechter_innen von R2P argumentieren, militärische Gewalt sei lediglich eine von mehreren Komponenten und habe nie im Mittelpunkt gestanden, andere sehen sie sehr wohl als den Kern von R2P.7

Ein genauerer Blick auf die Entstehungsgeschichte von R2P unterstützt die Meinung letzterer. Der Aufbau des ICISS-Reports zeigt eine eindeutige Unausgewogenheit zwischen militärischen Optionen und anderen Instrumenten. Unter der Überschrift »Verantwortung zur Reaktion« gehen gerade einmal zwei Seiten Text auf nicht-militärische Möglichkeiten ein, während sich ganze sieben Seiten deutlich differenzierter mit militärischen Szenarien befassen.

Anstatt sich auch damit zu befassen, welche Effekte durch militärische Abenteuer verursacht werden können, vertreten R2P-Befürworter_innen die Ansicht, die eigentliche Gefahr gehe von zu wenigen militärischen Interventionen aus.8 Dieser nicht problemorientierte Umgang mit militärischen Mitteln übergeht das Eskalationspotential, das mit vielen Interventionen verbunden ist, sowie die Wahrscheinlichkeit ziviler Opfer, Schäden an Infrastruktur und viele weitere negative Auswirkungen militärischen Eingreifens. Dieser blinde Fleck im R2P-Diskurs ist hoch problematisch, bedenkt man den mehr als zweifelhaften Erfolg bisheriger »humanitärer Interventionen«. So bezeugt ein Grundlagenpapier für die ICISS die zivilen Opfer der Interventionen in Somalia und im Kosovo sowie die dadurch ausgelösten Flüchtlingsbewegungen und das Missverhältnis von militärischen zu wirklich humanitären Bemühungen.9

Die zentrale Rolle militärischer Intervention wird noch offensichtlicher, berücksichtigt man, dass fast alle nicht-militärischen Elemente der Doktrin bereits in Form anderer Instrumente existieren. Es gibt bedeutende Überschneidungen zwischen den unter R2P diskutierten Präventionsinstrumenten und den eher traditionellen Mechanismen der Friedenssicherung. Selbst R2P-Unterstützer_innen geben zu, dass der Abschnitt zu Prävention des ICISS-Berichts „kurz, konfus und wenig originell“ sei.10 R2P bietet also wenig Neues im Vergleich zu bestehenden Instrumenten – außer eben der Schaffung vermeintlicher Legitimation für bewaffnete Interventionen.

Aber selbst wenn militärische Interventionen nicht im Zentrum von R2P stehen sollten, bedeutet die Bereitstellung dieses Instruments als eines unter vielen eine relevante Gewichtung. Militärische Intervention neben anderen Möglichkeiten der Konfliktprävention und der Unterstützung friedenschaffender Maßnahmen einzubeziehen, verschiebt den Fokus der Doktrin hin zu der Option gewaltsamer Interventionen. In einem System, in dem die Anwendung militärischen Zwangs die einzige funktionelle Kapazität darstellt, wird sie zur einzigen Option: „Der militärische Aspekt bleibt das brauchbarste Element der Doktrin, weil es das einzige ist, das sowohl kohärent als auch praktikabel ist.“ 11

R2P setzt Klarheit voraus, wo es die nicht geben kann

R2P basiert auf einer Reihe von Kernannahmen, die nähere Betrachtung erfordern, obwohl sie selbstverständlich klingen. R2P beruft sich beispielsweise auf ein Konzept der »internationalen Gemeinschaft«, das nicht wirklich gut zu umreißen ist und Fragen zum Verständnis von und Umgang mit der Wirklichkeit aufwirft. Teilweise wirkt das Verständnis globaler Politik und der Mechanismen hinter Konflikten im R2P-Diskurs naiv oder sogar weltfremd.

Die Doktrin insinuiert beispielsweise, dass in Fällen eines »massenhaften Verlusts von Menschenleben« (large scale loss of life) oder »das Gewissen erschütternden Situationen« (conscience-shocking situations) Fakten klar auf dem Tisch liegen und Täter klar zu identifizieren seien. Nur dann könnte militärische Gewalt eingesetzt werden, um Opfer zu schützen und Täter aufzuhalten. Gerade in umkämpften und oftmals chaotischen Situationen ist es aber sehr schwierig festzustellen, wer eigentlich was tut und in welchem Ausmaß für welche Taten verantwortlich gemacht werden kann. Diese Komplexität zeigt sich beispielsweise im syrischen Bürgerkrieg. Der Einsatz chemischer Kampfstoffe stand zwar fest, wer diese eingesetzt hat, ist in der »internationalen Gemeinschaft« aber bis heute umstritten.12

Angesichts solcher Streitfälle, die in praktisch jeder Krisensituation vorkommen dürften, stellt sich die Frage, wer die »internationale Gemeinschaft« eigentlich ist. Im R2P-Diskurs wird der Begriff schnell zum Synonym für die »guten Mitglieder der internationalen Gemeinschaft« oder noch enger für die westliche Welt, vor allem die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich.

R2P öffnet die Tore für subjektive Interpretationen und selektive Anwendungen

Die Diskussionen rund um R2P sind hochgradig moralisch aufgeladen, wodurch die Diskussion objektiverer Konzepte, wie Legalität, zu Fragen von »richtig« und »falsch« verschoben wird.13 Illustriert wird dieser Wandel durch die Verschiebung im R2P-Diskurs von ansatzweise definierten und umrissenen Tatbeständen, wie Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu »massenhaften Gräueltaten« (mass atrocities). Dieser Begriff ist aber weder rechtlich etabliert noch klar definiert. Der Moralismus spiegelt sich auch in dem immer wieder verwendeten Begriff der »das Gewissen erschütternden Situationen« (conscience-shocking situations), der im Bericht der ICISS und von R2P-Vertreter_innen immer wieder gebraucht wird.

Diese Moralisierung der Debatte über die Begrifflichkeiten schafft ein Umfeld, in dem die Infragestellung einer militärischen Intervention schnell dazu führen kann, R2P-Kritiker_innen in eine Ecke mit Massenmördern zu rücken. R2P-Vertreter_innen nehmen für sich allzu oft moralische Überlegenheit in Anspruch und nutzen diesen Anspruch dazu, Kritiker_innen als gewissenlos und in überkommenen Denkmustern verhaftet zu brandmarken, denen ein legalistisches Verständnis von Souveränität wichtiger sei, als das Wohlergehen von Menschen. Dass oft von den »Feinden« von R2P die Rede ist, ist unter diesem Gesichtspunkt nicht unbedeutend.

Die begriffliche Verschiebung von mehr oder weniger klar definierten Konzepten zu moralisch aufgeladenen erlaubt auch das Ausweichen auf Argumentationen jenseits des Völkerrechts. So wird von vielen R2P-Verfechter_innen unterschieden zwischen legal und legitim mit Argumenten wie „was gesetzlich verboten ist, mag doch das Gewissen verlangen“ und „was legal ist, ist noch lange nicht legitim“.14 Ohne solide Kriterien aber wird Legitimität zu einer Frage subjektiver Bewertung.

Die Theorie vom »gerechten Krieg«, die im ICISS-Bericht in Form der sechs Kriterien für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt aufgegriffen wird (s.o.), setzt diese Moralisierung fort. Die sechs genannten Kriterien scheinen unabhängig vom internationalen Recht zu existieren und sind nur schwer objektiv zu belegen. Wie soll zum Beispiel sichergestellt sein, dass die Absichten, die hinter einer Intervention stehen, die »rechten« sind, dass damit menschliches Leid beendet oder abgewendet werden könne? Zwar wird im ICISS-Bericht eingestanden, dass es naiv sei, zu glauben, dass „das humanitäre Motiv das einzige ist, das intervenierende Staaten antreibt“.15 Dass diese Einschränkung das Kriterium der »rechten Absicht« aber Makulatur werden lässt, wird nicht erkannt. Auch die anderen Kriterien lassen sich auf diese Art hinterfragen.

R2P ist kontraproduktiv

Die Betonung moralischer Wertungen verschleiert ein klares Verständnis von Konflikten und Gewalt. Während ständig Bezug genommen wird auf den Holocaust oder den Völkermord in Ruanda, um den eigenen Behauptungen Gewicht zu verleihen, hilft der Bezug auf diese sicherlich wichtigen historischen Beispiele nicht zwingend dabei, gegenwärtige und sehr spezifische Fälle von Gewaltausbrüchen zu verstehen oder zu verhindern. Die Betonung dieser sehr extremen Fälle verstellt ein Verständnis von Gewalt, indem es „die volle Komplexität von Konflikten und inter-ethnischen Beziehungen einhegt in ein eindimensionales Modell, das unausweichlich auf Völkermord schließt und die verschiedenen instrumentellen politischen Logiken der Gewalt allein auf böse Motive reduziert“.16

Obwohl im R2P-Diskurs die Täter von Menschenrechtsverletzungen und Tötungen als unersättlich und irrational gebrandmarkt werden, trifft das nicht unbedingt auf alle Fälle zu. Individuen dürften tatsächlich oft von politischen oder anderen Motiven angetrieben sein. Wird die Anwendung von Gewalt als Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen wahrgenommen, schafft das den nötigen Spielraum für Verhandlungen, für Friedensgespräche und den Einsatz diplomatischer Mittel, wie z.B. finanzielle Anreize oder Wirtschaftssanktionen. Fasst man einen Konflikt dagegen in Kategorien von »gut« und »böse«, versteht man Täter als psychopatische Massenmörder, die nicht ruhen werden, bevor die gegnerische Seite ausgelöscht ist, werden diese Optionen hinfällig. Wird ein diskursiver Kontext geschaffen, in dem Täter_innen nur als Nachfolger_innen der Nazis oder der Hutu-Milizen begriffen werden, kommen Kompromissmöglichkeiten oftmals gar nicht mehr zur Sprache – und es besteht die Möglichkeit, dass Konflikte weiter eskalieren.17

Auch die ständige Wiederholung des Satzes von militärischer Intervention als letztes Mittel kann kontraproduktive Resultate erzeugen. Allein die Möglichkeit des Eingreifens einer fremden Macht kann zur präventiven Aufrüstung gegen als technologisch weit überlegen wahrgenommene Interventionskräfte beitragen oder im Konfliktfall zur Eskalation führen. Mahmoud Mamdani und andere warnen vor scheinbar einfachen Lösungen, die langfristige, auf Kompromissen basierende und damit stabile Konfliktlösungen verhindern und vor allem eindeutige Verlierer_innen hervorbringen, die sich dazu gezwungen sehen können, so lange wie möglich Gewalt auszuüben.18 Die Möglichkeit militärischer Intervention kann außerdem den perversen Effekt haben, dass Gruppen geradezu animiert werden, Konflikte zu eskalieren, wenn sie sich von einer Intervention Vorteile versprechen.19

Die fehlende Universalität von R2P

Auch wenn R2P das Potential hat, zu einer universellen Doktrin zu werden, ist sie doch nicht universell anwendbar. Selbst im ICISS-Bericht wird anerkannt, dass militärische Interventionen gegen den Willen einer der Vetomächte im UN Sicherheitsrat oder gegen andere Mächte kaum aussichtsreich ist. Optimistisch schränken die Autor_innen aber ein: „[D]ie Tatsache aber, dass es nicht in allen Fällen, in denen dies gerechtfertigt wäre, zu Interventionen kommen kann, ist kein Grund dafür, niemals zu intervenieren.“ 20 Solche Vorbehalte unterminieren den beanspruchten Status von R2P als einer entstehenden Norm internationalen Rechts.

Es wird praktisch niemals im Einflussgebiet der Großmächte zu Interventionen unter dem Banner von R2P kommen, und doch sind es genau diese Großmächte, die über die Fähigkeiten verfügen, solche Interventionen glaubhaft vorzutragen. Auch das wird im ICISS-Bericht anerkannt: „Die UN haben keine eigenen Militär- oder Polizeikräfte, […] in Zukunft werden Partnerschaften der Fähigen, der Willigen und Wohlmeinenden – und der ausreichend Autorisierten – in zunehmendem Maße gebraucht.“ 21

Mit R2P wird folglich eine Situation geschaffen, in der nur diejenigen Mächte dazu in der Lage sind, den militärischen Teil der Doktrin umzusetzen, die sich niemals davor fürchten müssten, dass er gegen sie selbst zur Anwendung käme. David Rieff formuliert das so: „Eine Doktrin der Intervention, die gleichzeitig moralische Superiorität und Universalität für sich beansprucht, derzufolge aber die Intervenierenden immer aus dem Globalen Norden und die Intervenierten immer aus dem Globalen Süden kommen, bringt keinen moralischen Fortschritt; sie ist der geopolitische Status quo.“ 22

R2P ist politisch bequem

Von den R2P-Befürworter_innen wird kaum jemals die Tatsache angesprochen, dass Großmächte für Verstöße gegen die Vorgaben von R2P nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Hingegen werden kleinere Staaten schnell für Kritik an oder Widerstand gegen R2P angeprangert, und es werden ihnen dunkle Motive unterstellt. In einer Rede im Jahr 2007 kritisierte Gareth Evans diejenigen scharf, die er als »Feinde« von R2P bezeichnet. Er unterstellte, die Angriffe gegen die Norm „stammen aus Ländern, die weiterhin etwas zu verbergen haben oder sich ihres Benehmens im Inland schämen sollten; deshalb sind sie so überaus zurückhaltend dabei, die Grenzen ihrer Souveränität anzuerkennen“.23

Wichtige Staaten (v.a. Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA) und verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NRO) haben die Unterstützung von R2P zum Maßstab für Verantwortlichkeit und Führungskraft erhoben. In diesem Zusammenhang wird die Opposition aufstrebender Mächte dazu missbraucht, ihre Ansprüche zu diskreditieren. In einer Kolumne für die Huffington Post argumentierte der Geschäftsführer der »Global Coalition for the Responsibility to Protect«, einem Netzwerk von Unterstützer_innen der Norm, in Bezug auf ein mögliches Eingreifen in Libyen, „die IBSA-Länder [Indien, Brasilien und Südafrika, zu der Zeit Mitglieder des UN Sicherheitsrats] möchten ihre Fähigkeit beweisen, als permanente Mitglieder in einem reformierten und erweiterten UN-Sicherheitsrat bereit zu stehen. Ihre Bilanz bezüglich R2P ist bisher allerdings eher unausgewogen.“ 24 UN-Botschafter der westlichen Mitglieder im Sicherheitsrat verwendeten ähnliche Formulierungen, um die IBSA-Länder als irrelevant oder unerfahren zu kennzeichnen und sie damit als ungeeignet für den Sicherheitsrat abzuqualifizieren.

R2P zu einem Maßstab für Relevanz oder Verantwortung zu machen, ist ein beliebtes Instrument der (westlichen) Großmächte, um aufsässige Widersacher auf Linie zu bringen und gleichzeitig wichtige Fragen auszublenden, zum Beispiel nach der Legitimität oder Repräsentativität des UN-Sicherheitsrats oder nach der Funktion des Vetos. Außerdem dient diese Haltung dazu, die eigenen politischen Interessen zu verwischen.

R2P ist elastisch und undurchsichtig

Verfechter_innen von R2P argumentieren immer wieder, das in der Norm vertretene Verständnis von »Verantwortung« führe dazu, dass die Problembeschreibung von einem »Recht zu intervenieren« zu einem »Recht auf Schutz« für die Bevölkerung verschoben wird. R2P umgeht allerdings die Frage, wer diejenigen rechenschaftspflichtig machen soll, die mit diesem Schutz beauftragt werden. Mächte aus dem Ausland müssen nicht mit Konsequenzen rechnen, wenn sie nicht intervenieren, oder für die Art und Weise, in der sie intervenieren. Während beispielsweise die Menschenrechtsmechanismen zumindest ansatzweise dazu in der Lage sind, Staaten zur Erfüllung ihrer »Schutzverantwortung« anzuhalten, gibt es für die unter R2P vorgeschlagenen Schritte keine vergleichbaren Institutionen. Auch wenn manchmal anderes behauptet wird: Durch R2P wird kein einklagbares Recht auf Schutz durch die internationale Gemeinschaft geschaffen.

Die Betonung von Konzepten wie »Legitimität« anstatt harter, legal definierter Kriterien zur Rechtfertigung von Interventionen macht Rechenschaftspflichten unter R2P schwer greifbar. Wie können Regierungen dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sie sich nicht an solchen Kriterien orientieren? In einem Hintergrunddokument für den ICISS-Bericht heißt es zu der Frage, wann militärische Optionen berücksichtigt werden sollten: „[E]s ist sicher nicht so, dass alle verfügbaren Möglichkeiten tatsächlich ausgeschöpft und gescheitert sein müssen, sondern vielmehr so, dass alle anderen Möglichkeiten ernsthaft in Erwägung gezogen wurden.“ 25 Wie aber wissen wir, dass andere Optionen tatsächlich »ernsthaft« erwogen wurden? Wird es Sanktionen gegen Akteure geben, die dieser Sorgfaltspflicht nicht nachkommen? Während der Krise in Libyen wurden Friedensangebote von Seiten Gaddafis von den drei westlichen Vetomächten im Sicherheitsrat zurückgewiesen, ohne ihnen ernsthaft nachzugehen, vielmehr wurden militärische Optionen bevorzugt. Für dieses Verhalten wurde aber bis heute niemand zur Verantwortung gezogen. Solange es kein rechtliches Verfahren zu Prüfung von Sicherheitsratsbeschlüssen gibt, ist es unwahrscheinlich, dass die Großmächte für eventuelles Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen werden.

R2P verbreitet ein problematisches Geschichtsverständnis

Trotz des Anspruchs an R2P, eine universelle Norm zu bieten, wird von den Verfechter_innen oftmals ein eher eklektisches Geschichtsverständnis vertreten. Zur argumentativen Untermauerung der Doktrin werden in der Regel der Holocaust und der Massenmord in Kambodscha, Ruanda und Srebrenica angeführt. Während diese Beispiele sicher wichtig und dramatisch sind, ist die Beschränkung auf sie doch tendenziös und führt zu Missverständnissen in der Analyse von R2P.

Warum wird in der Debatte zum Beispiel nie über den Völkermord in Guatemala gesprochen, obwohl dieser Fall – neben den oben genannten – offiziell und in Gerichtsurteilen als Völkermord bezeichnet wird? Untersuchungen ergaben, dass während des Bürgerkriegs (1960-1996) hunderttausende Maya den Strafmaßnahmen des guatemaltekischen Militärs zum Opfer gefallen waren26 – die Unterstützung der US-Regierung für das guatemaltekische Militär ist übrigens gut dokumentiert.27

Auch der Timor-Leste-Konflikt spielt in den Diskussionen um R2P nur eine untergeordnete Rolle. Nach Angaben der timoresischen »Empfangs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission« kamen während der indonesischen Besatzung (1974-1999) wenigstens 100.000 Menschen durch Unterernährung oder Gewalt ums Leben. Um sich das Ausmaß dieser Zahlen klarzumachen, muss man bedenken, dass in Timor-Leste 1974 gerade einmal 660.000 Personen lebten. Trotzdem wurde die indonesische Regierung während ihrer Besatzung von den USA, von Australien und dem Vereinigten Königreich unterstützt. Dabei hätte die Besetzung von Timor-Leste einfach verhindert werden können, vor allem durch die USA. Der Abbruch wirtschaftlicher und militärischer Kooperationsprojekte durch internationale Investoren oder Institutionen hätte die Regierung Suharto schwer getroffen und wahrscheinlich zu einem Rückzug der indonesischen Truppen geführt.28

Diese Beispiele werden von R2P-Befürworter_innen selten angeführt, weil sie nicht in das Freund-Feind-Schema von R2P passen. Obwohl manchmal auf Beispiele verwiesen wird, in denen Großmächte sich auf die Seite mordender Regime geschlagen haben – sei es aus politischen oder aus ökonomischen Gründen –, wird der Fokus doch auf den »unmoralischen« Beobachter gelenkt, der es unterlässt, zu handeln oder Verbrechen anderer zu verhindern. Samantha Powers einflussreiches Buch »A Problem from hell: America in the Age of Genocide«, in dem es in erster Linie um das Versagen der USA geht, Völkermorde zu verhindern (anstatt sie aktiv zu unterstützen), illustriert dieses Phänomen sehr plastisch. Diese Geschichtsinterpretation erlaubt es Gareth Evans zu behaupten, der Westen habe bei den größten Verbrechen Saddam Husseins weggesehen.29 In Guatemala und Timor-Leste haben die Großmächte aber mitnichten weggesehen, sondern im Gegenteil Gewalttaten sogar noch unterstützt.

Es ist abwegig, davon auszugehen, dass Großmächte im Angesicht schwerer Menschenrechtsverletzungen nichts täten – das ist aber eines der zentralen Argumentationsmuster der Krisen- und Konfliktanalysen, denen R2P zugrunde liegt. Nach der ICISS-Version von R2P spielen Großmächte zwar gelegentlich auch eine Rolle bei den Konfliktursachen, im Wesentlichen scheinen diese aber eher »da draußen« zu liegen, in armen Ländern mit ethnischen oder religiösen Konflikten, ererbten Feindseligkeiten und diktatorischen Regimen. Die vielfachen Querverbindungen dieser Regierungen zu westlichen Staaten werden dabei konsequent ignoriert.

R2P stellt die falschen Fragen

Die historischen Beispiele implizieren, dass R2P als Konzept keine Antworten für das Verständnis scheinbarer Inaktivität von Regierungen bei massiven Menschenrechtsverletzungen liefert. Die Doktrin kennt nur die Optionen, nichts zu tun oder (militärisch oder nicht-militärisch) zu intervenieren. In Wirklichkeit halten sich die Großmächte kaum jemals komplett heraus. Anstatt sich über die Rolle der Großmächte Gedanken zu machen, fragt der ICISS-Bericht nach »ethischen Ansätzen« bei Interventionen und nach der Debatte zwischen Interventionist_innen und Anti-Interventionist_innen, was die Sache in eine theoretisch konfuse Richtung lenkt.

R2P postuliert ein Entweder-Oder von Souveränität und (militärischer oder nicht-militärischer) Intervention und ignoriert dabei, dass Souveränität noch nie Interventionen verhindert hat, wenn diese im Interesse der Großmächte lagen. Obwohl der ICISS-Bericht zugibt, dass die Norm der Nichtintervention im 20. Jahrhundert viele Male gebrochen wurde, wird kein Widerspruch darin gesehen, dass R2P Souveränität als Haupthindernis beim Schutz von Menschenrechten versteht.

Die Reduktion der Souveränität auf ein Hindernis für den Schutz von Leben führt in der R2P-Diskussion zu oft zu den falschen Fragestellungen. Die fehlende Bereitschaft zur Intervention in der Vergangenheit hat ihre Ursache im mangelnden Interesse der Großmächte – bzw. im Interesse, Krisen bewusst fortbestehen zu lassen –, nicht im überbordenden Respekt vor der Souveränität eines Landes. Für dieses Problem hat R2P keine Lösung parat. Wie kann ein internationales System geschaffen werden, das auf gewaltsame Konflikte reagiert, solange die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats kein Interesse daran haben, Gewalt zu beenden, oder gewaltsame Konflikte sogar gezielt befördern?

Ein Hintergrundbericht für die ICISS gesteht ein, dass hier eine Diskrepanz besteht: „Das fehlende Glied in der Präventionskette ist der politische Wille. Die allermeisten Studien führen das Ausbleiben von Interventionen auf den fehlenden politischen Willen zurück.“ 30 Weil R2P keine Rechenschaftspflichten für die Großmächte vorsieht – auch nicht für mangelnde Interventionsbereitschaft –, kann die Doktrin auch keinen politischen Willen generieren. Stattdessen macht sie es einfacher, ohnehin geplante und gewollte Interventionen zu rechtfertigen.

Anstatt sich darauf zu konzentrieren, wie man das internationale System so reformieren könnte, dass der Schutz von Menschenleben möglich ist, wird versucht, mit R2P eine extreme Option zu etablieren (militärische Interventionen), wo das bestehende System versagt. Dabei ist dieses »letzte Mittel« automatisch auch das einzige, solange das System so dysfunktional bleibt wie bisher.

Die »Politische Ökonomie« von R2P

Ein Blick auf die wichtigsten Architekt_innen und Unterstützer_innen von R2P hilft zu verstehen, wo das Konzept seinen Ausgangspunkt hatte, was die dahinterliegenden Absichten waren und wie es sich weiterentwickelt hat. Die Unterstützer_innen hatten oft ein und denselben politischen und ideologischen Hintergrund, was sich in dem Konzept niederschlug. Und der Rekurs auf historische Fälle, in denen Regierungen das »humanitäre Gewissen« zur Rechtfertigung von Krieg, Besatzung und Kolonialismus nutzten, sollten misstrauisch machen, ob R2P heute nicht in ähnlicher Weise manipulativ eingesetzt wird.

Auf staatlicher Ebene wurde R2P zuerst von Mitte-links-Regierungen unterstützt, z.B. von der liberalen Regierung Kanadas unter Jean Chrétien und der britischen Labour-Regierung unter Tony Blair. Tatsächlich hing die Unterstützung für R2P auf einzelstaatlicher und internationaler Ebene von der politischen Ausrichtung der jeweiligen Regierung ab. In Kanada nahm die Unterstützung für R2P schnell und dramatisch ab, nachdem mit Stephen Harper 2006 ein konservativer Premier das Ruder übernommen hatte. Auch die US-Regierung unter Bush stand dem Konzept ablehnend gegenüber, weil sie Bedenken hatte, R2P könne den Einsatz von Gewalt durch die USA reglementieren und die außenpolitische Souveränität einschränken. Unter Präsident Obama hingegen wird das Konzept entschieden befürwortet. 2012 setzte die US-Regierung einen Ausschuss zur Verhinderung von Gräueltaten (Atrocities Prevention Board) ein, um sicherzustellen, dass der Prävention von Völkermord und massenhaften Gräueltaten in der US-Regierung höchste Priorität zukommt.

Die Orientierung an Positionen der linken Mitte zeigt sich auch bei den NRO, die eine wichtige Rolle dabei spielten, das Konzept R2P auf internationaler und nationaler Ebene zu verbreiten und zu bewerben. Diese Organisationen verwandten viel Zeit und Mühe darauf, R2P in offiziellen UN-Dokumenten zu verankern und Mitgliedsstaaten dazu zu bringen, R2P in ihren Resolutionen zu berücksichtigen. Das »Institut für Globale Politik der Bewegung der Weltföderalisten« (World Federalist Movement-Institute for Global Policy, WFM-IGP) war eine der treibenden Kräfte hinter der Verbreitung von R2P bei den UN und darüber hinaus. 2009 war das Institut an der Gründung der »Internationalen Koalition für die Schutzverantwortung« (International Coalition for the Responsibility to Protect) beteiligt. Diese Koalition will den vermeintlichen normativen Konsens für R2P stärken, das Verständnis der Norm verbessern, sich für eine Stärkung der Kapazitäten zur Konfliktprävention und für die Beendigung von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einsetzen und NRO dazu mobilisieren, sich auf Staatsebene für Aktionen zum Schutz von Menschenleben einzusetzen. Mit dem »Globalen Zentrum für die Schutzverantwortung« (Global Centre for the Responsibility to Protect) wurde 2008 erstmalig eine Organisation gegründet, die sich speziell dafür einsetzt, dass R2P umgesetzt und operationalisiert wird. Auch unter NRO, die sich in humanitären Krisen engagieren, fand R2P ein positives Echo, zum Beispiel bei Oxfam, Human Rights Watch, Refugees International, International Save the Children Alliance und Care. Sie setzen sich in ihrer politischen und Menschenrechtsarbeit für R2P ein. Man kann dennoch nicht davon sprechen, dass R2P unter NRO universelle Unterstützung erfährt.

Auch Akademiker_innen spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Verbreitung von R2P. Viele hochkarätige Unterstützer_innen kamen von den Eliteuniversitäten an der US-Ostküste. Vor allem an der Universität Harvard konzentrierten sich Schlüsselpersonen für das Konzept der R2P, z.B. der kanadische Forscher und ehemaligen Politiker Michael Ignatieff (eines der Mitglieder der ICISS und meinungsstarker Unterstützer von R2P), Samantha Power, die gegenwärtige Botschafterin der US-Regierung bei den Vereinten Nationen, und Anne-Marie Slaughter, Professorin in Harvard und Princeton. Weitere wichtige Wissenschaftler waren Gareth Evans, ehem. Außenminister Australiens und nun Präsident der Australischen Nationaluniversität in Canberra, und Thomas Weiss, Geschäftsführer des Ralph-Bunche-Instituts für Internationale Studien an der City University New York, wo auch das »Global Zentrum für Schutzverantwortung« untergebracht ist.

Ein Regierungsprojekt

Auch wenn heute viele zivilgesellschaftliche Organisationen R2P unterstützen und verbreiten, war das Projekt zu Beginn eine Initiative von Regierungen. Anfangs schlug dem Bericht der ICISS großes Misstrauen entgegen, weil NRO befürchteten, das Konzept könnte zur Legitimierung von militärischer Gewalt missbraucht werden. Die kanadische Regierung spielte eine Schlüsselrolle dabei, das zu ändern. Sie trat an WFM-IGP heran und brachte das Institut dazu, eine Reihe von Konsultationen mit anderen NRO durchzuführen, um herauszufinden, was diese über das Konzept dachten.31 Daraufhin initiierte WFM-IGP das Projekt »Responsibility to Protect – Engaging Civil Society« (etwa: Ein Dialog mit der Zivilgesellschaft über R2P), um andere Organisationen in die Verbreitung von R2P mit einzubeziehen. Ein Bericht von WFM-IGP über das Projekt unterstreicht die enge Einbindung der kanadischen Regierung während des gesamten Prozesses. Er besagt, dass „Vertreter der kanadischen Regierung […] an mehreren der von WFM-IGP organisierten Runden Tische teilnahmen und sich während des Konsultationsprozesses auch bei mehreren Anlässen individuell mit WFM-IGP trafen“.32

Dieses Beispiel zeigt, dass Geld von Regierungen eine wichtige Komponente bei der Verbreitung von R2P innerhalb der Zivilgesellschaft war. Manche Regierungen zeigten sich besonders großzügig: 2009 stellte die australische Regierung für einen Vierjahreszeitraum insgesamt 4,5 Millionen AU$ bereit, um das Konzept R2P regional und global weiter zu verbreiten.33

Die Architekt_innen von R2P waren sich stets bewusst, dass Unterstützung aus der Zivilgesellschaft für die Legitimierung des Konzepts unerlässlich war, vor allem, wenn es um die militärische Option ging. Schon der ICISS-Bericht bezeichnet NRO als die „internationalen Akteure, denen“ neben den Medien und regionalen Akteuren „beim Thema Intervention eine immense Rolle zukommt“. Der Bericht nennt auch die wichtige Funktion der Zivilgesellschaft bei der Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt. Es wird erwähnt, NRO seien manchmal zurückhaltend, Zwangsmaßnahmen öffentlich zu befürworten. Dabei sei es für Regierungen und internationale Organisationen schwierig, diese anzuwenden, wenn die öffentliche Unterstützung dafür fehle.34

Während der »humanitären Interventionen« der 1990er Jahre und der Ausarbeitung von R2P zeigten sich einige NRO offen für eine interventionistische Politik. Seit den 1990er Jahren wurden militärische Interventionen vermehrt unter Bezug auf die Menschenrechte gerechtfertigt, meist ohne wesentlichen Widerstand von Menschenrechtsorganisationen. Durch die Begründung militärischer Interventionen im Duktus der Menschenrechte und der Morallehre wurden einige NRO offener für die Möglichkeit, Gewalt einzusetzen. Auch gibt es nun eine größere Übereinstimmung zwischen solchen Staaten, die R2P unterstützen und entsprechende Interventionen durchführen könnten, und Teilen der Zivilgesellschaft.

Widerstand gegen R2P

R2P-Unterstützer_innen weisen Kritik an dem Konzept gewöhnlich zurück, indem sie auf angebliche Missverständnisse oder ein antiquiertes Verständnis von »Souveränität« verweisen. So wird oft behauptet, die Opposition gegen R2P komme nur von einer kleinen Minderheit von Regierungen, die verdächtige Motive für ihre Ablehnung hätten. Thomas Weiss zum Beispiel schreibt, dass „die allgemeine Debatte über die Schutzverantwortung bei den Vereinten Nationen oft vom diplomatischen Geschick einiger weniger Dritte-Welt-Länder verzerrt wird“.35

So verlaufen die Frontlinien in der internationalen Diskussion natürlich nicht. Aber tatsächlich gibt es keine einhellige Unterstützung für R2P, auch wenn die »Schutzverantwortung« z.B. Eingang in das Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 fand. Die Formulierungen dort unterscheiden sich beträchtlich von denen im ICISS-Bericht, sind knapp gehalten und können sogar als Untermauerung des Status quo verstanden werden. Selbst R2P-Verfechter_innen können nicht bestreiten, dass bei dem Gipfel „weit weniger erreicht wurde, als erhofft“.36 Einige, darunter Gareth Evans, geben zu, dass verschiedene UN-Mitgliedstaaten ihre Zustimmung zum Abschlussdokument trotz der abgeschwächten Inhalte inzwischen bereuen. Besonders die Ambiguitäten des Konzepts und die Frage des Einsatzes von Gewalt werden hinterfragt.

Einwände vonseiten Chinas, Russlands, Pakistans, Indiens, Bangladeschs, Indonesiens, Malaysias, Ägyptens, Boliviens, Venezuelas oder Ecuadors (um nur einige der Staaten zu nennen, die Vorbehalte gegen R2P vorgebracht haben) werden häufig als reflexhafte Reaktionen wenig demokratischer Regime abqualifiziert. Seltener wird erwähnt, dass auch hoch angesehene Menschenrechtsorganisation, wie Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF), gewichtige Kritik an R2P üben. 2010 veröffentlichte »CRASH«, das Forschungszentrum von MSF, einen langen Artikel, der erklärt, warum MSF R2P ablehnt. Der Artikel bringt die Befürchtung zum Ausdruck, dass sich hinter R2P lediglich die Doktrin des »gerechten Krieges« verberge und das Konzept letztendlich zu einer Legalisierung einer neuen Form des Imperialismus führe. Der Artikel führt aus, dass der Einsatz bewaffneter Gewalt, auch als letztes Mittel, praktisch immer menschliches Leid hervorrufe. „Wenn es der Zweck humanitärer Aktionen ist, die Verwüstungen des Krieges einzugrenzen, dann taugen sie nicht dazu, neue Kriege zu rechtfertigen“.37 MSF ist nicht die einzige Organisation, die sich von R2P abgrenzen möchte. Gerade humanitäre Organisationen, die in Krisengebieten arbeiten, sind sich des Risikos bewusst, das entsteht, wenn ihre Arbeit mit einem solchen politischen, höchst umstrittenen Konzept in Verbindung gebracht wird.

Widerstand hat sich auch dort formiert, wo man das vielleicht am wenigsten erwartet hätte: Bürger_innen einiger Länder, deren Regierungen die Doktrin am stärksten unterstützen, sind gegenüber dem Konzept sehr misstrauisch und zurückhaltend. Die »Legitimitätskrise« von R2P wurde besonders deutlich, als im syrischen Bürgerkrieg eine militärische Intervention kurz bevorzustehen schien: Das britische Parlament stimmte gegen eine Intervention, und auch der US-Kongress lehnte sie ab. Solche Zweifel an R2P werden oft als Isolationismus abgetan, selbst R2P-Unterstützer_innen müssen aber zugeben, dass sich Bürger_innen manipuliert fühlen, wenn zu hartnäckig auf »moralische Pflichten« verwiesen wird.

R2P im historischen Kontext

R2P wird gerne als großer Fortschritt in den internationalen Beziehungen präsentiert, das Konzept hat aber viele historische Vorbilder. Wenn zum Beispiel Gareth Evans behauptet, eine instinktiv kritische Haltung zum Einsatz militärischer Gewalt sei traditionell ein Charakteristikum der politischen Linken,38 dann übersieht er die lange Geschichte der links-liberalen Unterstützung für Kolonialismus und militärische Interventionen.

Es gibt einige historische Beispiele dafür, dass »humanitäre« Gründe von progressiven, im liberalen Milieu zu verortenden Gruppen herangezogen wurden, um die koloniale Besatzung von Territorien zu rechtfertigen. Viele Völkerrechtler des 19. und 20. Jahrhunderts sahen den Kolonialismus nicht nur als historische Notwendigkeit, dessen schrecklichste Folgen gemildert werden sollten, sie postulierten auch eine moralische Pflicht, eine weltweite Föderation souveräner Staaten zu bilden, die von humanitären Gesetzen geleitet sein sollte.39 Viele Humanitarist_innen und Philantropist_innen argumentierten dafür, »die Wilden« müssten auf den Status zivilisierter Völker gehoben werden, bevor sie vom Schutz durch das Völkerrecht profitieren könnten. Diese Geschichte wird im Diskurs um R2P oft ignoriert. Es wird unterschlagen, dass fortschrittliche Gruppen im Sinne kolonialer Interessen mobilisiert wurden und dass diese die Idee unterstützten, der Kolonialismus würde Menschen aus Ignoranz, Rückständigkeit und Elend befreien.

Der Schatten dieser Geschichte hängt tief über R2P. Selbst die Sprache der Kolonisator_innen der vorigen Jahrhunderte scheint in den Diskussionen um R2P Widerhall zu finden. Im ICISS-Bericht zum Beispiel findet sich das Verständnis von militärischer Besatzung als Prozess der Zivilisierung wieder: „Neben der, hoffentlich stattfindenden, Beseitigung oder zumindest weitgehenden Minderung der Hauptursachen des ursprünglichen Konflikts und der Wiederherstellung eines Maßes an guter Regierungsführung und wirtschaftlicher Stabilität, kann eine solche [Besatzungs-] Periode die Bevölkerung auch an demokratische Institutionen und Prozesse heranführen, falls es diese in ihrem Land zuvor nicht gegeben hat.“ 40 In Kenntnis dessen, was in Irak nach der US-geführten Invasion vor sich ging, kann man diese Vorhersage nur für bitter ironisch halten.

Im Gegensatz zu liberalen und mitte-links zu verortenden Gruppen und Akteuren wiesen konservative Politiker_innen R2P zwar überwiegend zurück. Aber es gibt eine Überschneidung zwischen den Hoffnungen der Links-Liberalen und der Konservativen. Der Diskurs um R2P hat viele Parallelen zum Diskurs um Terrorismusbekämpfung. Das Konzept der zerfallenden Staaten, die Gefahren für die internationale Ordnung, die angeblich von ihnen ausgehen, und das Konzept der präemptiven Intervention sind zentral sowohl im Diskurs um R2P als auch im »Krieg gegen den Terror«. Beide machen Anleihen bei der Doktrin des »gerechten Krieges«.

Mit R2P hat eine Moralisierung militärischer Interventionen stattgefunden. Indem liberale und links der Mitte zu verortende Intellektuelle R2P weiter verbreiten und verfechten, tragen sie zu einer gefährlichen Remilitarisierung der internationalen Beziehungen bei. Dies ist keine Fehlinterpretation von R2P, es ist vielmehr in der Formulierung des Konzepts von Anfang an angelegt.

Schlusswort

Mit R2P wird keine Antwort auf die eigentlich zentrale Frage gegeben: Wie lassen sich massive Menschenrechtsverletzungen und massenhaftes Morden vermeiden, und wie kann man angemessen darauf reagieren? Das Konzept bleibt zu vage, es basiert auf ungeprüften und unrealistischen Grundannahmen, stellt nicht die richtigen Fragen, dreht sich am Ende doch nur um die als letztes Mittel ausgegebene militärische Intervention. R2P ist vor allem deswegen so gefährlich, weil das Konzept Argumente und Vorschläge vermischt und weil es unumstrittene Vorstellungen (dass Staaten eine Verantwortung gegenüber ihren Bürger_innen haben) mit höchst umstrittenen verwebt (dass militärische Intervention ein geeignetes und angemessenes Mittel sei, um Bürger_innen zu schützen). R2P ist nicht nur offen für Missbrauch, sondern öffnet dem Missbrauch Tür und Tor.

Bestenfalls ist R2P ein Werkzeug, um die Aufmerksamkeit auf entstehende Krisen und ihre möglichen Folgen zu lenken. Schlechtestenfalls lenkt R2P von der schwierige Frage nach der eigenen Rolle in Konflikten und nach der Mitverantwortung für Konfliktursachen ab. R2P könnte zu einer moralintriefenden Haltung führen, die die Tür für komplizierte und mühsame Verhandlungslösungen verschließt, während sie Protagonist_innen vermeintlich einfacher, martialischer Lösungen eine Bühne bietet und Applaus sichert.

Anstatt ein Prinzip der internationalen Beziehungen gegen ein anderes auszuspielen – Souveränität und Nicht-Intervention gegen Menschenrechte – und anstatt militärische Interventionen als (wenn auch letztes) Mittel der Politik zu stärken, ist es dringend notwendig, mehr Aufmerksamkeit und Kapazitäten darauf zu verwenden, dass Situationen, in denen diese zum Einsatz kommen könnten, gar nicht erst entstehen. Anstatt darüber zu schwadronieren, dass eine militärische Intervention als letztes Mittel nicht von vornherein verworfen werden dürfe, sollte daran gearbeitet werden, vielversprechende Ansätze zur Verhütung von Krisen im internationalen System zu stärken. Diese erfüllen alle der von R2P postulierten Funktionen, ohne die Prinzipien der friedlichen Konfliktbeilegung und der gleichrangigen Souveränität der Staaten zu verletzen.

Jede_r würde zustimmen, dass dabei der Fokus eindeutig auf der Verhinderung und Prävention von gewaltsamen Konflikten und Katastrophen liegen muss. Um diesen Fokus zu gewährleisten, darf aber nicht gleichzeitig über Reaktionen (vor allem gewaltsame) auf Konflikte diskutiert werden. So wird lediglich Konfusion geschaffen, und es werden Kompromissmöglichkeiten verbaut. Weiterhin schließen sich angesichts knapper Ressourcen im internationalen System (man denke nur an die Finanzsituation der Vereinten Nationen) die Fähigkeiten zum Aufbau sowohl von Präventions- als auch von militärischen Reaktionsfähigkeiten wechselseitig aus. Zuletzt wird mit der Formulierung einer Verantwortung der internationalen Gemeinschaft (was internationale Organisationen mit einschließt) dazu beigetragen, dass Institutionen und Akteure, die zuvor als Vermittler und neutrale Instanzen bereitstanden, in die Rolle von Konfliktparteien gedrängt werden. Auch das wird kaum zu Deeskalation beitragen.

Mit R2P wird eine sehr begrenztes Set von Mechanismen der Konfliktprävention verbreitet, das in der Praxis auf militärische Eskalation hinauszulaufen droht. Obwohl beispielsweise der ICISS-Bericht akzeptiert, dass Präventionsbemühungen komplex sind, und obwohl viele wichtige Aspekte (z.B. die Bedeutung der Partizipation der Zivilbevölkerung) angesprochen werden, bleibt es doch bei der reinen Nennung – es werden praktisch keine Vorschläge gemacht, wie diese Aspekte verwirklicht werden könnten. Anstatt aber dafür nur vage Hinweise zu liefern, die Möglichkeiten von und Bedingungen für militärische Interventionen hingegen detailliert auszuarbeiten, ist es unbedingt notwendig, mehr Kapazitäten für strukturelle Veränderungen bereitzustellen, die die Ursachen von Konflikten beseitigen könnten. Bereiche, in denen wenigstens Reformen, wenn nicht gar grundlegender Wandel dringend angezeigt sind, sind beispielsweise: die verbindliche Regulierung transnationaler Konzerne (in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten, aber auch was ihre menschenrechtlichen Pflichten angeht); die extraterritorialen Pflichten von Staaten in Bezug auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte; internationale Kooperation, die die strukturellen Ursachen von Armut tatsächlich beseitigt; die krisenanfälligen und strukturelle Ungleichheit befördernden Finanz- und Handelssysteme; die Beseitigung illegaler und illegitimer Finanzflüsse (zum Beispiel aus Steuervermeidung und -hinterziehung); Ernährungssouveränität; Klima- und Umweltpolitik; Kontrolle des Waffenhandels; und eine Reform hin zu einem tatsächlich multilateralen und funktionalen internationalen System unter dem Dach der UN.

Um es noch einmal in wenigen Worten zusammenzufassen: Mit R2P wird die falsche Antwort auf falsche Fragen gegeben, die auf einer verkürzten Problemanalyse aufbauen. Es ist darum nicht zielführend – und wir hoffen, dafür die Argumente geliefert zu haben –, sich der einzelnen Mängel des Konzepts und seiner praktischen Anwendung Stück für Stück anzunehmen, zum Beispiel indem höhere Hürden für militärische Interventionen formuliert werden. Stattdessen sollten die vorhandenen, knappen Ressourcen darauf verwendet werden, zivile Mittel der Konfliktprävention und -lösung auszubauen. Dieser Weg hat sicher nicht die bestechende Einfachheit und scheinbare Stringenz von R2P. Bestehende und noch zu schaffende Alternativen werden aber mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einer friedlichen Welt beitragen als jedes noch so weiterentwickelte oder reformierte Konzept der Schutzverantwortung.

Anmerkungen

1) Kofi Annan (1998): Ditchley Foundation Lecture XXXV. 26.06.1998.

2) ICISS (2001): The Responsibility to Protect – Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty. Ottawa. S. VII.

3) Eine Zusammenfassung der Unterschiede der R2P-Definitionen nach ICISS und dem Abschlussdokument des Weltgipfels von 2005 enthält Hugh Breakey (2012): The Responsibility to Protect: Game Change and Regime Change. In: Charles Sampford et al. (eds): Norms of Protection: Responsibility to Protect, Protection of Civilians and Their Interaction. Geneva: United Nations University Press, S.11-39.

4) Eine Umfassende Bewertung der Libyen-Intervention bietet Reinhard Merkel (2011): Die Intervention der NATO in Libyen – Völkerrechtliche und rechtsphilosophische Anmerkungen zu einem weltpolitischen Trauerspiel. Zeitschrift für Strafrechtsdogmatik, 10/2011, S.771-783.

5) Gareth Evans (2007a): Responsibility to Protect in 2007: Five Thoughts for Policy Makers. Presentation to Panel Discussion on The Responsibility to Protect: Ensuring Effective Protection of Populations under Threat of Genocide and Crimes Against Humanity, Program to Commemorate 1994 Rwandan Genocide. 14.04.2007. New York: United Nations.

6) Christine Bell (2012): Who Let the Dogs Out? R, R2P. Human Rights and Human Welfare – an online journal of academic literature review. Roundtable.

7) Gareth Evans (2007b): Delivering on the Responsibility to Protect: Four Misunderstandings, Three Challenges and How To Overcome Them. Address to SEF Symposium 2007, The Responsibility to Protect (R2P): Progress, Empty Promise or a License for »Humanitarian Intervention«. 30.11.2007. Bonn: Stiftung Entwicklung und Frieden. Thomas Weiss (2007): Humanitarian intervention: ideas in action. Cambridge: Polity, S.106.

8) Vgl. z.B. Thomas Weiss (2006): R2P after 9/11 and the World Summit. Wisconsin International Law Journal, 24:3. S.741-760.

9) Thomas Weiss/Don Hubert (2001): The responsibility to protect: research, bibliography, background. Ottawa: International Development Research Centre. S.97, 113.

10) Alex Bellamy (2009): Responsibility to Protect: The Global Effort to End Mass Atrocities. London: Wiley. S.52.

11) David Rieff (2011a): Saints Go Marching In. National Interest, 21.06.2011.

12) Einen Eindruck von der Komplexität der Situation geben die Artikel von Seymour Hersh: Whose Sarin? London Review of Books, 35:24, S.9-12 und The Red Line and the Rat Line. London Review of Books, 36:8, S.21-24.

13) Zu dem hier diskutierten Aspekt siehe für eine umfassendere Darstellung und Diskussion Peter Rudolf (2013): Schutzverantwortung und humanitäre Intervention: Eine ethische Bewertung der »Responsibility to Protect« im Lichte des Libyen-Einsatzes. SWP-Studie. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik.

14) Michael Ignatieff (2013): How to Save the Syrians. New York Review of Books Blog, 13.9.2013.

15) ICISS, a.a.O., S.35.

16) Alex de Waal et al. (2012): How Mass Atrocities End: An Evidence-Based Counter-Narrative. Fletcher Forum of World Affairs, 36:15, S.15-31.

17) Ebd.

18) Mahmood Mamdani (2013): The Logic of Nuremberg. London Review of Books, 35:21, S.33-24.

19) de Waal (2012), a.a.O.

20) ICISS, a.a.O. S.37.

21) Ebd., S.52.

22) David Rieff (2011b): R2P, R.I.P. New York Times, 7.11.2011.

23) Evans (2007a), a.a.O.

24) Simon Adams (2012): Emergent Powers: India, Brazil, South Africa and the Responsibility to Protect. Huffington Post, 20.09.2012.

25) Weiss/Hubert (2001), a.a.O., S.150.

26) Suzanne Jonas (2009): Guatemala: Acts of Genocide and Scorched-Earth Counterinsurgency War. In: Samuel Totten/William Parsons (eds.): Century of Genocide. New York/London: Routledge, S.355-394, hier 381.

27) Elizabeth Malkin (2013): Trial on Guatemalan Civil War Carnage Leaves Out U.S. Role. New York Times, 16.05.2013.

28) Brad Simpson (2005): „Illegally and Beautifully“: The United States, the Indonesian Invasion of East Timor and the International Community, 1974-76. Cold War History, 5:3, S.281-315.

29) Gareth Evans (2003): The Responsibility to Protect: When It’s Right to Fight. Progressive Politics, 31.7.2003.

30) Weiss/Hubert (2001), a.a.O., S.42.

31) Doris Mpoumou (2010): Role of Civil Society in Advancing the Responsibility to Protect. Opening remarks. Early Warning for Protection: Technologies and Practices for the Prevention of Mass Atrocity Crimes, November 3-4, 2010. Phnom Penh: Oxfam.

32) Word Federal Movement – Institute for Global Policy (2003): Civil Society Perspectives on the Responsibility to Protect. New York:WFM – IGP, S.8.

33) Australian Minister for Foreign Affairs and Trade: Media Release – Attachment. Australian Responsibility to Protect Fund – Final Results of R2P Fund Selection Committee. 25 September 2009.

34) ICISS (2001), a.a.O., S.73.

35) Thomas Weiss (2011): Thinking about global governance: why people and ideas matter. London.

36) Bellamy (2009): a.a.O., S.91.

37) Fabrice Weissman (2010): Not In Our Name: Why Médecins Sans Frontières Does Not Support the Responsibility to Protect. In: Criminal Justice Ethics, 29:2, S.194-207.

38) Evans (2003), a.a.O.

39) Martti Koskenniemi (2002): The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law, 1870-1960. Cambridge: Cambridge University Press..

40) ICISS (2001), a.a.O., S.44.

Lou Pingeot ist Politikwissenschaftlerin und war von 2010 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin von Global Policy Forum in New York. Seit 2014 ist sie freie Mitarbeiterin von Global Policy Forum und Doktorandin an der McGill University in Montreal.
Wolfgang Obenland ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Programmkoordinator beim Global Policy Forum in Bonn.

Weniger tödliche Soldaten?

Weniger tödliche Soldaten?

Die Wirkmittel der Weltinnenpolitik

von Jonna Schürkes und Christoph Marischka (Informationsstelle Militarisierung e.V.)

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 4/2009
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden

zum Anfang | »Schurkenpopulationen« statt »Schurkenstaaten«

oder: Weniger letale Waffen: Mittel und Ausdruck eines globalen Bürgerkrieges

Eine Studie des Beratungsunternehmens PriceWaterhouseCoopers zur Rüstungsindustrie im 21. Jahrhundert aus dem Jahre 2005 empfiehlt den Weltmächten, ihre Rüstungsausgaben drastisch zu erhöhen und damit dem US-amerikanischen Budget anzupassen.1 Ansonsten, so die Studie, würde die US-amerikanische Rüstungsindustrie langfristig eine Monopolstellung einnehmen. Schon heute seien die Rüstungsfirmen, welche die anderen Großmächte beliefern, kaum noch konkurrenzfähig, und es bestehe die Tendenz, dass diese von der US-Rüstungsindustrie mit ihren vollen Auftragsbüchern aufgekauft würden. Geopolitisch würden sich die USA somit den Status eines unangefochtenen Hegemons erkaufen, da sie als einzige fähig wären, neue Waffensysteme zu entwickeln und sich auf Angriffskriege vorzubereiten. Alle anderen Staaten würden langfristig über keine autonome Rüstungsindustrie mehr verfügen, da zumindest einzelne Produktionsschritte oder Know-How in US-amerikanischen Firmen verortet wären. Würden die USA einen Angriff planen oder auch nur erwägen, könnte verhindert werden, dass sich der betreffende Staat zur Verteidigung rüstet.

Die Alternative zu diesem als »Americanisation« bezeichneten Szenario trägt den Titel »Interdependence«. Dieses geht eben davon aus, dass alle Großmächte ihre Rüstungsausgaben drastisch erhöhen. Dies würde auch den restlichen Rüstungsunternehmen die Möglichkeit geben, durch Firmenzusammenschlüsse und -aufkäufe konkurrenzfähig zu bleiben. Diese Zusammenschlüsse müssten notwendig alle nationalen Grenzen überwinden und würden zu einem weltweiten Rüstungsmarkt führen, in dem Know-How und die einzelnen Produktionsschritte über den gesamten Globus verteilt sind. Diese Interdependenz führe dazu, dass die Staaten keine Kriege mehr führen können.2 Rüsten für den Weltfrieden also?

So utopisch – oder besser: dystopisch – diese Szenarien auch sind, so verweisen sie doch deutlich auf Verschiebungen im internationalen Konfliktgeschehen: Militärische Auseinandersetzungen finden immer weniger zwischen Staaten statt als zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und irregulären Truppen oder der Bevölkerung an sich. 2001/2002 wurde innerhalb weniger Wochen eine neue Regierung in Afghanistan installiert, auf deren Einladung hin sich die Staatengemeinschaft seither unter UN-Mandat darum bemüht, deren Staatsgewalt gegen vielerlei Widerstände auf das gesamte Territorium Afghanistans auszudehnen. Auch im Irak bestand der eigentliche Krieg nicht darin, die Regierung zu stürzen und die irakische Armee zu besiegen, sondern gemeinsam mit eilig aufgestellten neuen irakischen Sicherheitskräften verschiedene irreguläre Kräfte auszuschalten, aufzureiben oder einzubinden und die neue »öffentliche Ordnung« militärisch landesweit durchzusetzen. Vor Somalia übernimmt die »internationale Gemeinschaft« die Funktion einer Küstenwache auf Bitten einer Regierung, die zwar von der »internationalen Gemeinschaft« anerkannt wird, die aber trotz deren militärischer Unterstützung nur kleine Gebiete Somalias kontrolliert und lediglich in Luxushotels im benachbarten Djibouti zusammentreffen kann – in Sichtweite der Militärbasen, von denen aus die Piratenjagd in somalischen Gewässern durch NATO und EU koordiniert wird. Die UN haben die internationalen Streitkräfte ebenfalls auf Bitten der Pseudo-Regierung mittlerweile auch dazu ermächtigt, Polizeiaktionen gegen Piraten und deren UnterstützerInnen an Land durchzuführen.

Die Liste der »Schurken-Staaten« ist kürzer geworden. Übrig sind fast nur noch Nordkorea und der Iran. Nicht immer ist der Regime-Change so blutig verlaufen wie in Afghanistan und Irak. Viele Regierungen sind – sicherlich auch unter dem Eindruck der Interventionen im Irak und Afghanistan – in die »internationale Gemeinschaft« »zurückgekehrt«, indem sie sich am «Krieg gegen den Terror« beteiligt haben. Pakistan, Jemen und einige Sahara-Staaten mussten dafür das Risiko in Kauf nehmen, Bürgerkriege auszulösen, wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität. Libyen verlor seinen Schurken-Status, indem es sich in die europäische Migrationspolitik hat einbinden lassen und verschärft gegen Transitmigranten vorgeht. Im Gegenzug für die Rückkehr in die »internationale Gemeinschaft« erhielten die meisten Staaten Waffenlieferungen, vor allem aber auch Polizeiausrüstung und -ausbildung. Denn an die Stelle der »Schurkenstaaten« sind »Schurkenpopulationen« getreten.

Die neuen Bedrohungen, auf welche die internationalen Streitkräfte durch den erweiterten Sicherheitsbegriff ausgerichtet werden, gehen nicht mehr primär von Staaten und deren Armeen aus, sondern von vage definierten Bevölkerungsgruppen: (Cyber-)Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Migration, Pandemien und Aufstände. In einer sehr grundlegenden Veröffentlichung des EU-eigenen Instituts für Strategische Studien (EUISS) vom September 2009 schreibt dessen Direktor beispielsweise: „Da sich die Herausforderungen von der relativ klar begrenzten staatlichen Verteidigung weg verschieben in vorwiegend ökonomische, soziale und ökologische Sphären, so argumentieren viele, wie Tomas Ries in diesem Band, müssten Sicherheitsbedenken und -optionen ebenso ausgreifend definiert werden, wodurch sich die Reichweite für den gerechtfertigten, legitimen Einsatz der militärischen Instrumente der EU erweitert.“ 3 Tomas Ries schreibt in diesem Buch etwa über die Notwendigkeit von „Abschottungsoperationen, [um] die globalen Reichen von den Spannungen und Problemen der Armen ab[zu]sichern. Da der Anteil der Weltbevölkerung, die in Elend und Frustration leben, erheblich bleiben wird, werden die Spannungen und Spill-Over-Effekte zwischen ihrer Welt und der der Reichen weiter zunehmen. Weil wir wahrscheinlich dieses Problem bis 2020 nicht an seiner Wurzel gelöst haben werden, […] müssen wir unsere Barrieren verstärken.“ 4

Weniger letale Waffen (WLW)5 sind angesichts dieser Prognose Mittel und Ausdruck eines globalen Bürgerkrieges, in dem Polizei und Militär gegen Terroristen, Piraten, Aufständische, Migranten und Demonstranten vorgehen, um die »öffentliche Sicherheit und Ordnung« aufrechtzuerhalten oder durchzusetzen. Dabei verschwimmen zunehmend die Aufgaben von Polizei und Streitkräften und damit gleicht sich auch die Art der Ausrüstung einander an.

Aufgrund der Komplexität und des Umfangs des Themas haben wir uns dazu entschlossen, in diesem Dossier ausschließlich die Bewaffnung der Streitkräfte mit WLW zu behandeln. Dabei sind wir vor allem der Fragen nachgegangen, welches Konfliktbild der Forderung nach WLW zugrunde liegt, wie der Einsatz dieser Waffen durch Streitkräfte aussieht und welche Akteure die Entwicklung und den Einsatz von WLW vorantreiben. Die Forschungen an WLW erstrecken sich auf (a) kinetische Waffen wie Holz- oder Gummigeschosse, (b) chemische Waffen und Materialtechnologien, diese reichen von Tränengas und Beruhigungsmitteln bis hin zu Schaum-, Klebe- und Gleitstoffen, (c) Technologien gerichteter Energie, insbesondere Laser- und Mikrowellenwaffen, (d) akustische Waffen, die Kommunikation verhindern, Ohrenschmerzen, Übelkeit und Orientierungslosigkeit hervorrufen sollen, (e) elektrische Waffen, wie Schilder und Knüppel oder Schusswaffen, welche Stromstöße aussenden und (f) Sperranlagen, zu denen Zäune und Stacheldraht gehören.6 In nahezu jeder dieser Kategorien wird auch an Waffensystemen geforscht, die nicht auf den Einsatz gegen Menschen ausgerichtet sind, sondern Infrastrukturen, Fahrzeuge und Waffensysteme zerstören oder vorübergehend außer Funktion setzen sollen. Da diese jedoch kaum qualitative Unterschiede zu den Zielen und zur Anwendung herkömmlicher Waffen in herkömmlichen Konflikten aufweisen, werden sie in diesem Dossier keine Rolle spielen. Bei den WLW, welche für den Einsatz gegen Menschen konzipiert sind, besteht für die technologische Weiterentwicklung aus militärischer Sicht jedoch kaum Bedarf: So spannend und vielleicht auch faszinierend die technologischen Möglichkeiten zwischen Schrei und Schuss, von Fangnetzen, Schaum-, Schall-, und Mikrowellenkanonen sein mögen, spielen diese in den Strategien der Aufstandsbekämpfung bislang eine marginale Rolle gegenüber herkömmlichen Feuerwaffen, Knüppeln, Tränengas und Stacheldraht, deren Anwendung gegenwärtig intensiv trainiert und verfeinert wird. Auch die Fortentwicklungen dieser Strategien betreffen eher Fragen der Aufklärung, der integrierten zivil-militärischen Lagebilder und der Koordination ziviler und militärischer Kräfte, als das mittlerweile technologisch Machbare, an dem in wenigen militärischen Speziallabors, v.a. aber durch die Sicherheitsindustrie, mit dem stetigen Verweis auf deren Eignung für zukünftig unausweichliche Friedenseinsätze, intensiv geforscht wird.

Anmerkungen

1) PricewaterhouseCoopers (2005): The Defence Industry in the 21st Century – Thinking Global … or thinking American?.

2) Walter Husemann: Was bringt die Zukunft? M&A in der Verteidigungsindustrie, in: Strategie und Technik, Juli 2007.

3) Álvaro de Vasconcelos (2009): What ambitions for European defence in 2020?, EUISS.

4) Tomas Ries: The globalising security environment and the EU, in: Vasconcelos 2009.

5) Im offiziellen Sprachgebrauch werden Wirkmitteln, die den Gegner eher kampfunfähig machen oder vertreiben als töten sollen, häufig als »nichtletale Waffen« (NLW) bezeichnet. Dabei handelt es sich jedoch um eine irreführende und verharmlosende Wortwahl, da fast alle diese Zwangsmittel – je nach Umständen und Dosierung – eine tödliche Wirkung entfalten können. Deshalb verwenden wir in diesem Dossier Ausdruck »Weniger letale Waffen«.

6) Naval Studies Board/ Committee for an Assessment of Non-Lethal Weapons Science and Technology, National Academies Press, 2003.

zum Anfang | The World at Peace is a very Dangerous Place*

Weniger letale Waffen in »kleinen« Kriegen

Es gibt Waffen, die dürfen Soldaten zwar gegen Zivilisten anwenden, nicht aber gegen Soldaten befeindeter Armeen. Hierzu zählt Tränengas, das entsprechend dem Chemiewaffenübereinkommen von 1992 zwar zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“, nicht aber in internationalen bewaffneten Konflikten angewandt werden darf.1 Diese Regelung mag zunächst überraschen, geht man doch allgemein davon aus, dass die Befugnisse von Soldaten im Friedensfall gegenüber dem Krieg deutlich eingeschränkt seien, und überhaupt, dass im Frieden eher eine Rechtsordnung, im Krieg hingegen tendenziell eine Gewaltordnung vorherrscht. Wenn man internationales Recht hingegen als Ergebnis und Prozess der Aushandlung zwischen Staaten über den Umgang miteinander begreift, erscheint die zunächst paradoxe Regelung schon einleuchtender. Für den Umgang miteinander wurde der Einsatz chemischer Kampfstoffe ausgeschlossen. Beim Umgang mit der eigenen Bevölkerung und gemeinsamen friedenserzwingenden Maßnahmen in Drittstaaten hingegen wollte man auf das Tränengas nicht verzichten.

Tatsächlich ist das internationale Konfliktgeschehen heute durch Letzteres geprägt: innerstaatliche Konflikte und multilaterale »Friedensmissionen« unter UN-Mandat. Selbst der aktuelle ISAF-Einsatz in Afghanistan, in dessen Rahmen regelmäßig afghanische Dörfer bombardiert werden, zählt völkerrechtlich zu letzter Kategorie.2 Streng genommen dürften ISAF Soldaten, nicht aber Soldaten unter OEF-Mandat Tränengas gegen Aufständische einsetzen. Da Deutschland gegenwärtig keine Soldaten im Rahmen von OEF mandatiert hat, sind die knapp 8.000 deutschen Soldaten in Auslandseinsätzen allesamt in multilateralen und UN-mandatierten »Friedenseinsätzen« und unterliegen nach Ansicht der Regierung nicht dem Kriegsvölkerrecht. Ihre Aufgabe ist die Beobachtung von Waffenstillstandsabkommen, die Unterbindung von Waffenlieferungen und eben die Durchsetzung oder »Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung«. Sie haben dementsprechend noch nicht einen einzigen Kriegsgefangenen gemacht und unterhalten hierfür auch keinerlei Infrastruktur. Stattdessen helfen sie beim Aufbau staatlicher Institutionen (v.a. Militär und Polizei), unterbinden oder zerschlagen Demonstrationen und nehmen Kriminelle fest, zu denen eben auch »violent troublemakers«, Piraten und Terroristen zählen, die sie der Justiz der verbündeten Staaten, die sie häufig zuvor selbst mit aufgebaut haben, übergeben.

In der US-Army wurden die Einsatzregeln und Strategien für solche »Friedenseinsätze« bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem von der Marine unter dem Begriff »Small Wars« – definiert als „Einsätze, bei denen die Konfliktparteien nicht auf beiden Seiten aus regulären Truppen bestehen“ – entwickelt. Als Grundlage diente eine Monografie von Colonel C.E. Callwell mit dem gleichnamigen Titel aus dem Jahre 1896 sowie das »Small Wars Manual« des US-Marinekorps von 1940, die beide überwiegend auf Erfahrungen aus den britischen Kolonialkriegen und US-amerikanischen Interventionen in Zentralamerika und der Karibik basieren und das moderne Völkerrecht noch nicht berücksichtigen konnten. Mit der Joint Doctrine 3-07 des gemeinsamen Generalstabs der USA von 1995 wurde der Begriff des »Small Wars« durch »Military Operations other than War« (MOOTW) ersetzt, für alle Teilstreitkräfte konzeptualisiert und der aktuellen Konfliktlage sowie dem modernen Völkerrecht angepasst, ohne jedoch definitorisch wesentlich von dem der »Small Wars« abzuweichen.3

Hintergrund dieser Fortentwicklung waren zweifelsfrei die neue weltpolitische Lage nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes sowie die vorangegangenen Bemühungen um »Peacekeeping« und »Peaceenforcement« in Bosnien-Herzegowina und Somalia. Die gleichen Rahmenbedingungen führten auch dazu, dass die Zahl der UN-mandatierten Militäreinsätze Anfang der 1990er sprunghaft anstieg und ihr Mandat immer »robuster« wurde. War es beim klassischen »Peacekeeping« Aufgabe der Soldaten, lediglich den bereits ausgehandelten Waffenstillstand zwischen zwei Konfliktparteien zu überwachen und durften sie hierbei nur zur Selbstverteidigung Waffengewalt anwenden, dehnten sich mit den so genannten dritten und vierten Generationen des »Peacekeeping« die Aufgabenbereiche immer weiter in Richtung Aufbau staatlicher Institutionen und Durchsetzung bzw. Aufrechterhaltung »öffentlicher Sicherheit und Ordnung« aus. Gleichzeitig wurde dem Einverständnis aller beteiligten Konfliktparteien als Voraussetzung für einen UN-mandatierten Einsatz immer weniger Beachtung geschenkt.

Die Mandate für die Soldaten werden »robuster«, ihre Spielräume für den Waffeneinsatz also größer, während ihre Neutralität zunehmend in Frage steht. Begründet wird dies mit dem „Versagen der internationalen Gemeinschaft“ v.a. in Srebrenica und Ruanda und dem Anspruch, Aufgabe der UN-Soldaten solle es sein, ZivilistInnen zu schützen, was eben auch intensive Kampfhandlungen erfordert oder zu solchen führen kann. Die Suche nach angemessenen Einsatzregeln für das »unmögliche Mandat«, ZivilistInnen zu schützen, ohne deshalb mutmaßliche Milizionäre, Banditen, Piraten und Terroristen gleich präventiv erschießen zu müssen und damit eine Eskalation des Konfliktes und die Gefährdung der intervenierenden Truppe zu riskieren, führte humanitär argumentierende Think-Tanks bezeichnenderweise wiederum zum »Small Wars Manual« und zur MOOTW-Doktrin der US Army.4

Nun scheinen gerade weniger letale Waffen (WLW) das »unmögliche Mandat« möglich zu machen. Daher erstaunt es nicht, dass ebenfalls in der ersten Hälfte der 1990er Jahre die NATO mit der Forschung an WLW begann. WLW sind nicht darauf ausgelegt, Personen zu töten, sondern sollen Personen oder Menschenmengen von bestimmten Handlungen abhalten oder zu bestimmten Handlungen zwingen. Auch innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit fand die Ausrüstung von UN-Soldaten mit WLW bald prominente Unterstützung, verspricht sie doch, „die Lücke zwischen Schrei und Schuss“ 5 zu schließen und das gesamte Spektrum der Gewaltanwendung, das in MOOTW und mittlerweile ebenso in UN-Mandaten vorgesehen ist, zu einem Kontinuum werden zu lassen, das jederzeit entsprechend der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit angewandt werden könne. Auch innerhalb der US-Army besteht die Ansicht, dass WLW den „Zielkonflikt zwischen Erfüllung des Einsatzauftrags, Schutz der eigenen Einheiten und der Sicherheit von Nichtkombattanten“ entschärfen könnte.6

Aus den Reihen der NATO und des US-Militärs ist aber auch eine breite Skepsis und Ablehnung von WLW zu vernehmen. Vom militärischen Standpunkt aus gesehen besteht eines der herausragenden Merkmale und die größte Herausforderung in »Small Wars« und MOOTW nämlich gerade in der Komplexität dieser Konfliktkonstellationen, der Unklarheit über den Status der »Gegner« und der eigenen Befugnisse. Diese Grauzonen, die den einzelnen Soldaten und Kommandeuren der unteren Ebene schwere Entscheidungen – im Grunde über Krieg und Frieden – abverlangen und durchaus eskalierend wirken können, drohen sich durch die Ausrüstung mit WLW und durch Einsatzregeln, die deren Anwendung in Abgrenzung zur tödlichen Gewalt regeln, zu erweitern. Die jüngsten Diskussionen um von Bundeswehrsoldaten getötete Zivilisten und mutmaßliche Taliban zeigen, wie schwer es für Soldaten in solchen Missionen ist, allein zwischen zwei Optionen zu entscheiden, was nicht erleichtert wird, wenn eine dritte Option hinzukommt. Eine Befürchtung, die offensichtlich von der Politik ernst genommen wird, denn den meisten Armeen (auch der Bundeswehr) ist der Einsatz von WLW bislang nur in Situationen erlaubt, in denen auch die Anwendung tödlicher Gewalt zulässig wäre. Die zweite Befürchtung der Militärs hinsichtlich WLW, die von vielen zivilen Organisationen geteilt wird, bezieht sich auf die Gefahr eines neuen Wettrüstens – einerseits natürlich insbesondere in Bezug auf chemische und biologische Waffen, deren Weiterentwicklung sich nach der Legalisierung von Tränengas und ähnlichen Stoffen kaum noch verhindern lassen wird.7 Andererseits aber auch hinsichtlich der Auf- und Ausrüstung nichtstaatlicher Akteure mit solchen, welche die Grauzonen um den Kombattantenstatus weiter vergrößern könnte.8 Eine Befürchtung, die sich insbesondere durch aktuelle Diskussionen um die Piratenbekämpfung und die Bewaffnung der Handelsschifffahrt mit WLW sowie durch die intensive Lobbyarbeit von Forschung und Industrie für Einsatz und Fortentwicklung von WLW bereits zu bestätigen scheint.

Wenn von Neutralität keine Rede mehr ist: Weniger Letale Waffen in Friedensmissionen

Das zunehmende Interesse an Forschung und Entwicklung von WLW fällt mit der Zunahme von UN-mandatierten Einsätzen zusammen. De facto gibt es kaum (noch) UN-mandatierte Friedenseinsätze, in denen sämtliche Konfliktparteien dem Einsatz einer internationalen Truppe zustimmen und in denen die Mission der Soldaten ohne Waffengewalt über die Selbstverteidigung hinaus erfüllbar scheint. In diesen Situationen gibt es keinen Frieden oder auch nur Waffenstillstand, der gehalten werde könnte, sondern dieser »Frieden« muss erst durchgesetzt werden. Die Truppen werden auf Ersuchen oder mit Zustimmung einzelner Konfliktparteien entsandt, was an sich schon dafür sorgt, dass die Truppen nicht als neutraler Akteur zwischen verschiedenen Konfliktparteien vermitteln, sondern dass sie selbst zu einer Konfliktpartei werden, die daher auch Angriffen ausgesetzt sind.

Das »robuste Mandat« erlaubt Soldaten in UN-mandatierten Einsätzen, Waffengewalt auch zur Erreichung der Missionsziele einzusetzen. Die Legalität solcher Einsätze ist zwar durch die Zustimmung der Staatengemeinschaft gewährleistet, ihre Legitimität in den Augen der Gesellschaften sowohl im Einsatzland als auch in den Ländern, die für den Einsatz Soldaten entsenden, jedoch kritisch. Die teilweise gewaltsame Durchsetzung einer neuen öffentlichen Ordnung gegen Widerstände von bewaffneten und zivilen Gruppen, die heute häufig das eigentliche Einsatzziel darstellt, wird legitimiert durch den Schutz von Zivilisten, dem hierdurch (und durch die von den Militärs häufig beklagte »media coverage«) eine erhöhte Priorität zukommt.9 Gleichzeitig überschätzen gerade Gesellschaften, in denen die Gegenwart von bewaffneten Soldaten nicht zum Alltag gehört, die Möglichkeiten, hierdurch alltägliche Gewalt einzudämmen, während sie das Maß an Gewalt, dass nötig wäre, um in Situationen allgemeiner Unsicherheit, Übergriffe, Vertreibungen usw. einzudämmen, enorm unterschätzen.10 Hier wird die oben erwähnte Komplexität sichtbar, die Grenzen zwischen dem eigentlichen Einsatzziel und dem Schutz von ZivilistInnen verschwimmen. Die Legitimität, die über Erfolg oder Misserfolg des gesamten Einsatzes entscheiden kann, erfordert einerseits ein Mindestmaß an Gewaltanwendung, andererseits erfordert sie auch die Gewaltanwendung in Situationen, die mit dem eigentlichen Einsatzziel kaum zu tun haben. Eine der Gefahren, die aus dieser Komplexität erwachsen können, wird seit dem US-/UN-Einsatz in Somalia Anfang der 1990er als »mission creep« bezeichnet – die kontinuierliche Ausweitung des militärischen Auftrags bis hin zur völligen Unerfüllbarkeit, die häufig in der Katastrophe mündet. Im Falle der UNOSOM/UNITAF-Einsätze in Somalia wurden zwischen 1992 und 1995 letztlich 7.000-10.000 ZivilistInnen durch UN-mandatierte Soldaten getötet – in der »Schlacht von Mogadischu« im Oktober 1993 mehrere hundert an einem einzigen Tag – nachdem sich zuvor das Mandat beständig erweitert hatte.11 Durch die zahlreichen toten Zivilisten verlor der Einsatz an Legitimität und die internationalen Truppen gerieten in die Defensive, bis sie sich bis März 1995 vollends zurückzogen. Um ihren Rückzug abzusichern, setzten die US-Soldaten erstmals WLW im Rahmen eines UN-Einsatzes ein, daneben wurde auf bezahlte somalische Söldner und Milizen zurückgegriffen.

Seither beziehen sich Befürworter der Ausrüstung von Peacekeeping Missionen mit WLW häufig auf das Scheitern der UN-Einsätze in Somalia. Mit ihnen – so wird argumentiert – hätte sowohl die hohe Anzahl an getöteten somalischen Zivilisten als auch der Tod zahlreicher US- und UN-Soldaten verhindert werden können.12

Tatsächlich ist jedoch anzuzweifeln, ob der Einsatz nicht letaler Waffen deeskalierend wirkt. Ihr Einsatz ist – wie auch im Fall Somalias – nur in Situationen zulässig, in denen auch die Anwendung letaler Waffen erlaubt wäre. Das sind typischerweise Situationen, in denen feindselige bewaffnete Kräfte anwesend sind und die UN-mandatierten Soldaten entweder einer konkreten Gefahr ausgesetzt sind oder sich dieser durch die Anwendung von Waffengewalt auch weniger letaler Art zumindest aussetzen würden. Aus Gründen des Eigenschutzes würden sich die Soldaten tendenziell für den Einsatz konventioneller Waffen entscheiden, der aber die Legitimität und damit den Erfolg des Einsatzes gefährden kann. Deshalb wird von ihnen verlangt, wenn möglich weniger letale Waffen einzusetzen. Die erhöhte Gefährdung, die hieraus für sie erwächst, kann sie dazu bewegen, WLW auf einer niedrigeren Eskalationsstufe einzusetzen. Major Hall vom US Marinekorps beschreibt die Gefahren eines solchen Szenarios in einem Artikel, in dem er sich gegen die Verwendung nicht letaler Waffen in Friedenseinsätzen ausspricht: „Gehen wir davon aus, dass ein US-Soldat sein Ziel [mit weniger letalen Waffen] getroffen hat, ohne Zivilisten verletzt zu haben. […] Die Kameraden des Getroffenen hören den Schuss einer Waffe und sehen, wie ihr Kamerad zu Boden geht. Sie wissen nicht, dass er mit nichtletaler Munition getroffen wurde. Alles, was sie wissen ist, dass einer von ihnen von einer Waffe getroffen worden ist. In der Menge bricht Panik aus und dutzende von zuvor versteckten Waffen erscheinen und die Soldaten werden mit tödlicher Munition beschossen. Und nun antworten die Soldaten – entsprechend ihrer Pflicht sich selbst zu verteidigen – mit tödlicher Munition. Was ein Versuch war, eine gefährliche Situation zu vermeiden, ist zu einer Kampfhandlung eskaliert, mit zahlreichen toten Zivilisten und Bewaffneten“.13 Dass eine einzige derartige Eskalation einen Einsatz zum Misserfolg machen kann, hat sich am Beispiel Somalia überdeutlich gezeigt.

Die Forschungsprojekte der NATO und der Balkan als ihr Testfeld

Während UNOSOM II wurde von der Konferenz der Nationalen Rüstungsdirektoren der NATO eine Arbeitsgruppe damit beauftragt, sich grundlegend mit der Möglichkeit der militärischen Nutzung von WLW auseinander zu setzen. Seither wird in der Forschungs- und Technologieorganisation der NATO intensiv an diesem Thema geforscht. In deren Berichten wird der Einsatz von WLW bei Friedenseinsätzen empfohlen. Dennoch wurden sie bisher nicht in die NATO Strategien und Doktrinen aufgenommen. Cees M. Coops vom NATO Defense College sieht die Ursachen hierfür darin, dass die Folgen des Einsatzes von WLW nicht ausreichend erforscht sind und internationalen Abkommen den Einsatz von verschiedenen Arten von WLW verbieten. Bei NATO-Einsätzen kommt hinzu, dass die unterschiedlichen Einheiten jeweils dem nationalen Recht unterstehen und damit der Einsatz von WLW nicht allen gleichermaßen erlaubt oder verboten ist. Die Lösung dieser Probleme sieht Coops zum einen in einer Änderung der internationalen Abkommen, zum anderen in der Angleichung der nationalen Gesetzgebung der NATO Mitglieder bezüglich des militärischen Einsatzes von WLW. Und schließlich seien verschiedene der oben genannten Probleme durch klare Einsatzregeln (Rules of Engagement) zur Nutzung von WLW zu lösen.14

Damit bestätigt er nach über zehn Jahren, in denen Industrie und Teile der Politik den Einsatz von WLW insbesondere bei Friedenseinsätzen intensiv propagiert und vorangetrieben haben, was eine Expertengruppe bereits 1996 im Rahmen eines von der »Defence Research Group« der NATO organisierten Seminars festgestellt haben: Nicht die technischen Möglichkeiten schränken den Gebrauch von WLW ein, sondern Fragen hinsichtlich des internationalen Rechts, der Doktrin, der konkreten Einsatzregeln und der Ausbildung der Soldaten beim Umgang mit WLW.15 Diese Fragen verweisen auf grundsätzliche Skepsis beim Militär gegenüber der Ausrüstung mit WLW16 sowie grundsätzlichen Unvereinbarkeiten von militärischer »Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung«.

All diese Probleme des internationalen Rechts, der unterschiedlichen nationalen Rechtslagen, der Ausbildung und der Weiterentwicklung der Doktrinen lassen sich nur durch regelmäßige, intensive und umfassende Übungen und auch Einsätze bewältigen, wie sie vor allem auf dem Balkan im Rahmen von KFOR und SFOR/EUFOR stattfinden. Hier entstand eine Art neue Truppengattung, die CRC-Züge, die speziell für Crowd and Riot-Control, den Umgang mit potenziell gewalttätigen Menschenmengen, aufgestellt wurden und hier wurden bereits massenweise Soldaten im Umgang mit WLW wie Helm, Schild, Knüppel, Pfefferspray und Tränengas ausgebildet. Hier bewies sich auch die Tauglichkeit von Gendarmerie-Kräften für Friedenseinsätze, da diese sowohl unter militärischem wie auch unter zivilem Kommando (etwa im Rahmen von Rechtsstaatsmissionen) mit örtlichen Polizeikräften auf Streife geschickt oder mit der Auflösung von Demonstrationen betraut werden können.17 Der Bundeswehreinsatz im Kosovo diente als Anlass für Deutschland, das Durchführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen zu lockern und erstmals Feldjäger mit polizeilichen Aufgaben gegenüber Zivilisten zu betrauen.18 Im Kosovo und in Bosnien Herzegowina wurde mit unterschiedlichen Mandaten experimentiert und diese miteinander kombiniert. So hat sich bei Übungen im Kosovo gegenwärtig folgende Strategie zum Schutz von internationalen Institutionen gegen antikoloniale Proteste durchgesetzt. Es werden zwei Gebiete definiert, eine blaue Zone, in die Protestierende notfalls eindringen können und eine rote Zone, die in jedem Fall verteidigt werden muss. Die erste Verteidigungslinie stellt grundsätzlich die verhältnismäßig schwache (und oft auch gegen die eigenen Landsleute wenig motivierte) kosovarische Polizei. Ist diese überfordert, kommen die Gendarmerie-Kräfte der EU-Rechtsstaatsmission EULEX sowie WLW zum Einsatz. Können auch diese ein Eindringen in die blaue Zone nicht verhindern, verteidigen die CRC-Kräfte der KFOR unter NATO-Kommando notfalls auch unter Gebrauch konventioneller Schusswaffen das Eindringen in die rote Zone, nachdem sie zuvor schon beispielsweise durch das demonstrative Einfliegen von Panzern und andere Show-of-Force-Maßnahmen die Protestierenden einschüchtern sollten. Mittlerweile spielt auch die Aufklärung über die Stimmung in der Bevölkerung, möglicherweise anstehende Proteste und mutmaßlichen Rädelsführer eine zunehmende Rolle und die entsprechende Zusammenarbeit mit lokalen und internationalen Informanten, den Abteilungen für operative Informationen und die Anwendung geeigneter Informationstechnologien werden trainiert. Auch die Zusammenarbeit mit zivilen Einrichtungen wie der Feuerwehr soll sich in diesem Rahmen einspielen und die Soldaten, die bei den Übungen die Protestierenden mimen, sollen hierdurch ein Gespür dafür entwickeln, welche Dynamiken sich unter dem Einfluss von Adrenalin und Sprechchören in Menschenmengen entfalten, um diese besser einschätzen zu können. Erschreckend ist, dass hierbei Szenarien und Konstellationen durchgespielt werden, wie sie durchaus auch innerhalb der EU bei Massenprotesten vorkommen, und dass Begriffe wie NGOs, Demonstranten, Randalierer usw. in den Übungsprogrammen weit gehend synonym verwandt werden.19 Französische Gendarmerieeinheiten lösen in Absprache mit der französischen Feuerwehr unter Beobachtung von deutschen Polizisten und dem Schutz von NATO-Soldaten eine Demonstration im Tränengasnebel auf – für die Proteste gegen den NATO-Gipfel 2009 in Strasbourg wurde offensichtlich im Kosovo geübt.

Auch wenn die Berichte zum Kosovo tatsächlich vermitteln, es handele sich um eine große Aufstandsbekämpfungsübung, so wird diese jedoch nicht nur geübt, sondern auch tatsächlich betrieben. Vor allem seit der Kosovo sich – mit Unterstützung vieler europäischer Regierungen – für unabhängig erklärte, wachsen die Spannungen zwischen der albanischen und serbischen Bevölkerung. Aber auch die Präsenz der internationalen Truppen, die im Kosovo einen von der EU abhängigen Staat errichten sollen, löst bei allen Bevölkerungsgruppen im Kosovo Protest aus. Diese Demonstrationen werden zunehmend durch EULEX, KFOR und die kosovoarische Polizei aufgelöst. Da es hierbei ganz offensichtlich nicht mehr um den Schutz der Zivilisten – der das internationale Mandat begründet –, sondern um die Durchsetzung einer neuen »öffentlichen Sicherheit und Ordnung« geht und sich (jedenfalls in den Demonstrationen) kaum noch irreguläre bewaffnete Kräfte aufhalten, ist die Legitimität des Einsatzes besonders prekär. Deshalb wird vorwiegend auf WLW zurückgegriffen, auch wenn der Einsatz von Schusswaffen – beispielsweise zum Eigenschutz – zulässig wäre.

Aufrüstung an Bord: Piraterie als Chance der Sicherheitsindustrie

Neben diesem im doppelten Wortsinn nahe liegenden Anwendungsgebiet für WLW wird deren Einsatz auch im Kampf gegen die Piraterie insbesondere von der Industrie gegenwärtig intensiv erwogen. Die Konfliktkonstellation ist insgesamt ähnlich: Soldaten der internationalen Gemeinschaft stehen auf der Grundlage eines UN-Mandates sowie des internationalen Seerechts in einem unübersichtlichen Umfeld sowohl Zivilisten (v.a. Fischern und Flüchtlingen) als auch nicht-staatlichen Akteuren gegenüber, die nicht als Kombattanten, sondern allenfalls als Kriminelle zu behandeln sind. Der regelmäßige Einsatz tödlicher Gewalt würde die Legitimität des teuren Einsatzes, der im Grunde nur Werften und Reedern nützt, weiter untergraben und jeder Einzelfall wirft komplizierte rechtliche Fragen auf. Deshalb lässt sich die NATO mittlerweile über die Möglichkeit der Verwendung weniger letaler Waffen zur Piratenabwehr informieren.20 Besonders die Möglichkeit, mithilfe des »Active Denial Systems« Piraten zu vertreiben, hat es der NATO scheinbar angetan. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat sie sich von dem Hersteller Raytheon darüber informieren lassen, inwieweit dieser Mikrowellen-Strahler, der demjenigen, der diesen Strahlen ausgesetzt wird, starke Schmerzen zufügen soll, auch auf Schiffen angewendet werden kann.21 Auch die US-Marine hält WLW zur Bekämpfung von Piraten durchaus für geeignet.22 Doch die fehlende Ausrüstung mit WLW und der im Verhältnis zu den Forderungen der Reedereien eher restriktive Einsatz konventioneller Waffen durch die Seestreitkräfte ist nicht der primäre Grund, weshalb die Angriffe der Piraten seit der Präsenz der internationalen Seestreitkräfte nicht nur nicht abgenommen, sondern tatsächlich zugenommen haben.23

Die Piraten haben schlicht ihren Aktionsradius erweitert und somit ist es aufgrund der Größe des Einsatzgebietes und des immensen Aufkommens an Seeverkehr unmöglich, alle Handelsschiffe zu begleiten oder auch nur in Korridoren die notwendige Präsenz aufrecht zu erhalten, um jedem angegriffenen Schiff rechtzeitig zur Hilfe zu kommen. Die Begleitung aller Schiffe in der Region sei schlicht nicht möglich, ließ ein Sprecher der Atalanta Kommandozentrale nach der Entführung der MS Victoria verlauten.24 Eine Position, die auch von der deutschen25 und der US-Marine vertreten wird. Pentagon-Sprecher Geoff Morrell erklärte im November 2008 unmissverständlich: „Alle Länder der Welt könnten Schiffe ihrer Marine dorthin entsenden, aber so löst man dieses Problem nicht“.26

Aus diesem Grund wird von den Reedereien daher gefordert, sie sollten sich selbst verstärkt um den Schutz ihrer Schiffe kümmern. Wie dies jedoch aussehen soll, darüber ist man sich keineswegs einig. General Petraeus, Kommandeur des US-Central Command, forderte kürzlich die Reedereien dazu auf, das Angebot privater Sicherheitskräfte zu nutzen oder die eigenen Seeleute zu bewaffnen. Der Vorsitzende des Verbands Deutscher Reeder, Hans-Heinrich Nöll, wiederum sähe es gerne, wenn Soldaten an Bord der zivilen Schiffe mitfahren würden, diese hätten „eine noch größere Abschreckungswirkung als Marineschiffe allein, die in der Piratenregion patroulieren“.27 Die Reedereien lehnen jedoch mehrheitlich die Präsenz von Soldaten oder bewaffneten Seeleuten an Bord ab, da dies sowohl die Mannschaft als auch die Schiffe und ihr Ladung zusätzlich gefährden würde.

Die Versicherungen, der Verband Deutscher Reeder und das IMB raten den Reedern daher, eigene nichtletale Sicherheitsmaßnahmen gegen Piraten einzusetzen. Die Versicherung Münchner Rück veröffentlichte bereits 2006 eine Broschüre unter dem Titel: »Piraterie – Bedrohung auf See«28, in der sie den Reedereien empfiehlt, ihre Schiffe mit verschiedenen WLW auszustatten. Hier zeigt sich, dass WLW auch die Trennung zwischen unbewaffneter und bewaffneter Schifffahrt aufheben können. Die Ausrüstung mit konventionellen Waffen wird abgelehnt, die Verwendung nichtletaler wird sogar empfohlen.

Es muss zwischen zwei verschiedenen Arten von WLW, die zur Abwehr von Piraten geeignet sein könnten, unterschieden werden: jene, die verhindern sollen, dass die Piraten an Bord kommen und solche, die sie auf Distanz halten sollen. Zu den ersten gehören Elektrozäune an der Reling, Gleitschaum oder Glasscherben an Bord oder die Abwehr der Piraten mit Wasserschläuchen. Diese Wirkmittel provozieren jedoch, dass sich die Piraten besser bewaffnen und durch die Drohung, das Schiff beispielsweise mit Raketenwerfern zu beschießen, durchsetzen, an Bord gelassen zu werden. Waffen, die Piraten auf Distanz halten sollen, hingegen bergen die Gefahr, dass sie regelmäßig gegen zivile Schiffe zum Einsatz gebracht werden, da auf größere Distanz kaum zwischen Flüchtlingen, Fischern und Piraten unterschieden werden kann. Zu dieser Art von WLW gehört das »Long Range Acoustic Device«, eine so genannte Akustikkanone, die auf mehrere hundert Meter Entfernung hochfrequente akustische Signale mit einer immensen Lautstärke emittieren kann, was starke Ohrschmerzen verursacht und jegliche Kommunikation unmöglich macht. Im November 2005 habe das Kreuzfahrtschiff »Seabourn Spirit« einen Piratenangriff mithilfe einer solchen Akustikkanone verhindert, heißt es in der Broschüre der Münchener Rück. Verschiedene Reeder scheinen die Anschaffung dieser Waffe in Erwägung zu ziehen.29

Dass auch die Reedereien bei der Anschaffung von WLW noch zögerlich sind, mag angesichts der Vehemenz, mit der die Anbieter von WLW auf diesen zivilen Markt drängen, überraschen. Alleine im September und Oktober 2009 haben mindestens fünf große Konferenzen und Messen zum Thema maritime Sicherheit stattgefunden, die sich explizit mit dem Thema Piraterie beschäftigen und bei denen immer auch die Möglichkeiten nichtletaler Waffen für zivile Schiffe diskutiert bzw. derartige Waffen vorgestellt werden.30 Es ist absehbar, dass die Highways des Welthandels wie der Golf von Aden oder die Straße von Malakka künftig von Handelsschiffen passiert werden, welche die jeweils ansässige Bevölkerung durch WLW – möglicherweise bedient durch hierfür angeheuerte Sicherheitskräfte – auf Distanz halten. Eine Form der „Abschottungsoperationen, [um] die globalen Reichen von den Spannungen und Problemen der Armen ab[zu]sichern“, die alltäglich und privatisiert stattfinden wird. Die Ausrüstung von privaten Sicherheitskräften und kriminellen Vereinigungen mit WLW wird jedoch auch an Land schnell vollzogen und unkontrollierbar werden, wenn ein legaler ziviler Markt einmal geschaffen ist. Dieser gefährdet dann wiederum das Gewaltmonopol der internationalen Gemeinschaft, das diese mit aller Kraft verteidigen wird.

Anmerkungen

*) So der erste Satz aus den Erörterungen von Major Hall zu „Einsatzregeln und nicht-letalen Waffen – eine tödliche Kombination?“; er spielt darauf an, dass US-Marines seit Ende des Kalten Krieges zunehmend in so genannten Friedensmissionen eingesetzt werden.

1) Hans Wolfram Kessler: Krieg ohne Tränen? Reizstoff für die Bundeswehr: Zur Änderung des deutschen Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 1/2005; S.4-10.

2) Auch wenn hier durch die bewusste und enge Verknüpfung mit dem OEF-Einsatz, der auf Artikel V des NATO-Vertrages beruht, quasi zeitgleich ein internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt, in dem aber wiederum den Kämpfern der Al Kaida und der Taliban der Kombattantenstatus aberkannt wird. Ob und wie das Kriegsvölkerrecht zur Anwendung kommt, obliegt der (gemeinsamen) Einsatzführung von ISAF und OEF.

3) Major Allen S. Ford identifiziert lediglich zwei Unterschiede in den Definitionen von Small Wars und MOOTW: Während beide auf die Verzahnung von diplomatischen und militärischen Mitteln verweisen, integriert MOOTW explizit auch den Einsatz kommunikativer und wirtschaftlicher Strategien. Außerdem seien MOOTW im Gegensatz zu Small Wars konzeptionell nicht auf das Ausland beschränkt, sondern auch im Inland möglich. Vgl: Allen S. Ford (2003): The Small War Manual an Marine Corps Military Operations other than War Doctrine, thesis presented to the Faculty of the U.S. Army Command and General Staff College, Fort Leavenworth.

4) Victoria K. Holt & Tobias C. Berkman (2006): The Impossible Mandate? Military Preparedness, the Responsibility to Protect and Modern Peace Operations, Henry L. Stimson Center.

5) Olaf Arndt & Ronald Düker: Eine andere Gewalt ist möglich, Telepolis, 06.06.2007.

6) Commandant of the Marine Corps (1998): Joint Concept for Non-Lethal Weapons.

7) Jan van Aken (2004): Stillschweigende Aushöhlung des C-Waffen-Verbots? Zur geplanten Ausstattung der Bundeswehr mit Tränengas, NDR-Sendereihe »Streitkräfte und Strategien«, 4.9.2004.

8) David A. Koplow (2006): Non-Lethal Weapons – The Law and Policy of Revolutionary Technologies for the Military and Law Enforcement, Cambridge University Press.

9) Deshalb wird auch dem Umgang mit Medien gerade in den Doktrinen für Friedenseinsätze bzw. MOOTW eine erhebliche Bedeutung beigemessen. In der MOOTW-Doktrin von 1995 heißt es beispielsweise: „Media reporting influences public opinion, which may affect the perceived legitimacy of an operation and ultimately influence the success or failure of the operation“.

10) Christoph Marischka: Illusionen der Allmacht, in: AUSDRUCK, Dezember 2008.

11) Major D. B. Hall (1997): Rules of Engagement and Non-Lethal Weapons: A Deadly Combination?, Marine Corps University Command and Staff College.

12) Council on Foreign Relations (1995): Report of an Independent Task Force. Non-Lethal Technologies: Military Operations and Implications.

13) Major D. B. Hall (1997): Rules of Engagement and Non-Lethal Weapons: A Deadly Combination?.

14) Cees M. Coops (2008): NATO and the challenge of non-lethal weapons. Research Paper, NATO Defense College.

15) Nick Lewer: Research Report #1 des Bradford Non-Lethal Weapons Research Project (BNLWRP), November 1997.

16) So wird von Seiten der Militärs stets betont, dass eine Ausrüstung mit WLW nur komplementär zur Ausrüstung mit konventionellen Waffen erfolgen dürfe, da diese zentral für den Selbstschutz und auch die Identität von Soldaten seien. Deshalb werden strenge Kriterien für WLW benannt, welche die Einsatzfähigkeit der Soldaten gewährleisten sollen: Sie dürfen nicht zu viel wiegen oder sperrig sein, kaum Aufwand bei der Instandhaltung und der Ausbildung der Anwender verursachen, da all dies aus militärischer Sicht zu Lasten der konventionellen Waffensysteme geht. Vgl. etwa: Joint Concept for Non-Lethal Weapons des US-Marine Corps von 1998.

17) Die positiven Erfahrungen mit Gendarmerie-Einheiten, insbesondere der italienischen Carabinieri, auf dem Balkan sind sicherlich als ein Faktor anzusehen, dass die EU sich mittlerweile in zahlreichen Ländern der Dritten Welt darum bemüht, im Rahmen von Sicherheitssektorreformen den Aufbau von Gendarmerieeinheiten zu befördern und dass etwa die USA (GPOI) sowie Italien im Auftrag der G8 (COESPU) diese Gendarmeriekräfte für den Einsatz in Friedenseinsätzen ausbilden.

18) Siehe Kessler 2005, sowie den Beitrag »Weniger letale Waffen bei der Bundeswehr« in diesem Dossier.

19) Bezeichnend auch, dass selbst das Militär auf der anderen Seite die Begriffe Soldaten, Sicherheitskräfte, Gendarmen und Polizisten kaum noch von einander abgrenzt.

20) So beispielsweise auf einem Workshop der NATO Naval Armaments Group im Juni 2009; URL: http://www.nato.int/structur/AC/141/pdf/PS-A/Land%20Armaments,%20NATO%20Defence%20Investment.pdf

21) Auf einem weiteren Workshop der NATO Naval Armaments Group zum Thema Counter Piracy Equipment and Technologies, Juni 2009; URL: http://www.nato.int/structur/AC/141/pdf/S-B/Raytheon.pdf

22) Radiation weapon may help fight pirates, Navytimes vom 04.11.08.

23) Christoph Marischka: Eskalation am Golf von Aden, in: AUSDRUCK, August 2009.

24) Atalanta-Sprecher: »MV Victoria« fuhr nicht in geschütztem Konvoi, PR Inside vom 06.05.09.

25) So beispielsweise der derzeitige Befehlshaber der Flotte, Lutz Feldt (vgl. Somalia: »Die Mission Atalanta wird noch lange dauern«, Die Zeit vom 03.08.09) und sein Vorgänger Hans-Joachim Stricker (vgl. Mission Atalanta: »Militärische Mittel lösen das Piraten-Problem nicht«, Die Zeit vom 05.05.09).

26) DoD News Briefing with Geoff Morrell from the Pentagon, 19.11.08.

27) Reeder wollen Bundeswehr an Bord holen, tagesschau.de vom 10.07.09.

28) Münchner Rück (2006): Piraterie – Bedrohung auf See.

29) Piraten-Abwehr: Schmierfett und Schallkanonen, Stern vom 24.11.08.

30) Auf der »Handelsblatt Konferenz zur Sicherheitspolitik« waren sich Vertreter von Reedereien und Versicherung Mitte September 2009 darin einig, dass die Schiffe selbst in die Lage gebracht werden müssten, Piratenangriffe abwehren zu können. Wie eine solche Abwehr aussehen könnte, zeigten Hersteller nichtletaler Waffen auf der parallel stattfindenden Ausstellung. Ende September fand in Washington DC. die »Maritime Security and Anti-Piracy« Konferenz statt, an der sowohl Vertreter der Marineoperationen im Golf von Aden (also vor allem NATO und EU) und Schiffseigner als auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen zur Abwehr von Piraten teilnahmen. Auch bei der »Maritime Security and Defense«-Konferenz, die Ende September/Anfang Oktober in Hamburg stattfand, trafen sich Militärs mit Vertretern aus der Politik (beispielsweise dem Staatssekretär des BMVg Rüdiger Wolf) sowie Vertreterr der Sicherheitsindustrie (beispielsweise der Hersteller des LRAD), um gemeinsam über die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Piraterie zu beraten. Auch hier gibt es neben der Konferenz eine Messe, auf der verschiedene Sicherheitsunternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen präsentieren können. Ein ähnliches Programm hat die »Maritime Security Expo 2009« im Oktober 2009 in Kalifornien, deren Schwerpunktthema ebenfalls die Piratenabwehr ist.

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Die Lücke zwischen Schrei und Schuss

Doug Beason, selbst mit der Entwicklung von Strahlenwaffen beschäftigt, formulierte für den britischen Strategie-Thinktank RUSI (Royal United Services Institute for Defence and Security Studies) ein mögliches Einsatzszenario von WLW: In Neu-Delhi formiert sich ein Demonstrationszug durch die Armenviertel und wächst auf dem Weg zur US-amerikanischen Botschaft beständig an. Einige Teilnehmer sind bewaffnet und sie haben Frauen und Kinder unter sich. So dringt der Mob aufs Botschaftsgelände vor. Die USA hätten sich geschworen, nie wieder eine ihrer Auslandsvertretungen überrennen zu lassen, aber die Marines, die zu ihrer Verteidigung die Gewehre bereits in den Anschlag gebracht haben, zögern noch zu schießen. Nicht weil es unmoralisch wäre, auf eine überwiegend unbewaffnete Menge das Feuer zu eröffnen, sondern weil dies in Sekunden das Verhältnis der USA zu einem ihrer wichtigsten Verbündeten, Indien, um Jahrzehnte zurückwerfen könnte. WLW, die im Normalfall lediglich unerträgliche Schmerzen, Atemnot oder vorübergehende Blindheit hervorrufen, seien die perfekte Lösung für derartige Probleme. Ein Toter oder gleich mehrere können einer Regierung für Jahrzehnte als moralischer Makel anhaften, zu diplomatischen Verwicklungen führen oder die Proteste auch weiter anheizen. Doug Beason wirbt für die folgende Alternative: das »Active Denial System«, eine Mikrowellenwaffe, die in einem bestimmten Winkel eingesetzt bei allen Menschen das Gefühl schwerer Verbrennungen erzeugt. „Bisher hatten [die Einsatzkräfte] nur zwei Optionen: die Aufständischen anzuschreien und zu bitten, anzuhalten oder auf sie zu schießen. Eine einfache, binäre Entscheidung. Schreien oder Schießen, angeschrien zu werden oder zu sterben. Heute gibt es eine dritte Option.“ Und weiter: „…Ein tiefes Brummen erfüllt den Raum, als ob sich ein gigantischer Ofen vor ihnen eröffnet hätte. Innerhalb von Sekunden wird der Schmerz unerträglich. Sie können nicht nachdenken, sie können nur reagieren. Nach weniger als einer Minute sind die Straßen frei und das Gelände ist unwirklich ruhig.“ Übrigens: Der Artikel von Beason trägt den Titel: »Changing the Way Future Wars Will Be Fought« – frei übersetzt: »Das Gesicht der kommenden Kriege«.1 Was Beason die dritte Option nennt, ist die „Lücke zwischen Schrei und Schuss“.2

Zum Thema weniger letaler Waffen (WLW) hat die Fraktion DIE LINKE Anfang Mai 2008 eine Kleine Anfrage im Bundestag gestellt. In ihrer Antwort zeigte sich die Bundesregierung kaum gewillt, über die Forschung, Herstellung und Nutzung von WLW in Deutschland und bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr Auskunft zu geben.

Die Funktion von WLW aus Sicht der Bundesregierung

„NLW [nicht-letale Wirkmittel, offizieller Sprachgebrauch der Bundeswehr, C.M.] sind vorgesehen zur angemessenen Reaktion auf Gewalttätigkeiten aller Art und jeglichen Eskalationsniveaus. […] Ohne NLW stehen den Streitkräften nur die Alternativen Passivverhalten und Einsatz konventioneller soldatischer Bewaffnung zur Verfügung“ schrieb die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion.3 Trotzdem teilt die Regierung nicht die Auffassung vieler ExpertInnen, darunter der des 19. Ausschuss für Technikfolgenabschätzung4, dass „die Verfügbarkeit nicht-letaler Waffen die Hemmschwelle für den Einsatz von Zwangsmitteln senken kann, da ein größeres Spektrum an Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung steht“.5 Dies würde nicht zutreffen, da WLW erst dann zum Einsatz kämen, wenn von der Gegenseite bereits irgendeine Form von Gewalt ausgegangen sei, die aus der Sicht der Bundesregierung auch den Einsatz tödlicher Gewalt legitimieren würde: „Die Anwendung von solchen Wirkmitteln ist jedoch ausdrücklich Situationen auf höherer Eskalationsstufe vorbehalten, bei denen zum Beispiel auch ein Schusswaffengebrauch gerechtfertigt wäre.“

Damit erklärt die Bundesregierung im Grunde, dass sie bereit ist, Soldaten im Ausland Demonstrationen niederschießen zu lassen. Denn „der Einsatz NLW wird konzeptionell ausschließlich auf Crowd and Riot Control (CRC) bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland beschränkt. CRC umfasst alle Verfahren, Kräfte, Mittel und Maßnahmen von Streitkräften im Einsatz zur Verhinderung oder Auflösung von/zur Einflussnahme auf Ansammlungen von Menschen, von denen Gewalt ausgeht oder Gewaltanwendung ausgehen kann.“ An anderer Stelle heißt es: „Ziel der CRC ist es, Menschenmengen auf Distanz zu halten, zu lenken und sofern erforderlich aufzulösen. Die zum Einsatz kommenden Mittel sollen wirksam die eigenen Handlungsmöglichkeiten erweitern, um die Fähigkeit zu einer abgestuften Eskalation und Deeskalation der eingesetzten Zwangsmittel zu eröffnen und gewalttätigen Aktionen wirksam zu begegnen. Damit soll insbesondere die Schwelle zum Einsatz letaler Wirkmittel erheblich erhöht werden.“

WLW in und aus Deutschland

Die deutsche Forschung zu WLW begann spätestens 1993, als das Verteidigungsministerium die DASA mit einer Untersuchung zu WLW beauftragte. Im Anschluss an eine Präsentation der Forschungsergebnisse ergingen drei Forschungsaufträge insbesondere zu akustischen Waffen an das Fraunhofer Institut für Chemische Technologie (ICT), welches seit dem auch Tests mit Fangnetzen, Schaumstoffen und Wirbelgeneratoren als WLW und zahlreiche Arbeitsseminare und Konferenzen zu diesem Thema durchführte.6 Im Dezember 1996 warnte der Ausschuss für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung davor, dass WLW das (Kriegs-)Völkerrecht unterlaufen, zu einem neuen Wettrüsten führen und die Schwelle zur Anwendung von Gewalt auch bei Friedenseinsätzen durchaus erhöhen können.7 Das Fraunhofer ICT initiierte 1998 die Gründung der European Working Group NLW, der es in Person von Dr. Ing. Klaus-Dieter Thiel vorsteht. Das Institut arbeitet eigenen Angaben zufolge sowohl mit dem Verteidigungsministerium als auch der Rüstungsindustrie eng zusammen.8 Das BMVg ist der wichtigste Geldgeber des Instituts; gemeinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt es 50% seiner Mittel zur Verfügung.9

2001 veranstaltete es in Ettlingen das erste European Symposium NLW, nach eigenen Angaben „das größte europäische Symposium auf dem NLW-Sektor“. Seither treffen sich alle zwei Jahre bei diesem Symposium WLW-»Experten« aus Politik und Wissenschaft sowie Vertreter der Rüstungsindustrie und des Militärs. Themen des diesjährigen Symposiums waren u.a. WLW zur Crowd and Riot Control in Auslandeinsätzen, der Schutz von Handelsschiffen vor Piraterieangriffen, der Stand der Forschung und Diskussion innerhalb der NATO und der European Defence Agency, rechtliche Fragen bezüglich des Einsatzes von WLW sowie die Vorstellung verschiedener mehr oder weniger neuer Technologien in diesem Bereich. Der ehemalige Ministerialdirigent Krüger-Sprengel, ein Dauergast in Ettlingen, sprach zu den rechtlichen Implikationen von WLW (»Non-lethal weapons and disarmament«) und vertrat die Meinung, dass angesichts der sich verändernden Form des Krieges WLW nicht durch Verbote und weit reichende Regelungen durch internationale Abrüstungsabkommen zurückgehalten werden sollten.10 Auch waren Vertreter des BMVg und der Bundeswehr – wie auch die Jahre zuvor – als Redner geladen. Dem ungeachtet und obwohl das BMVg der wichtigste Geldgeber des Instituts ist, gab die Bundesregierung in der Antwort zur Kleinen Anfrage an, das Symposium werde von dem BMVg weder personell noch finanziell unterstützt.

Die Bundesregierung gibt jedoch an, dass Forschungsaufträge zu WLW an das Fraunhofer ICT vergeben wurden ebenso wie an die Universität der Bundeswehr in München und die Universitäten in Düsseldorf und Witten/Herdecke. Auch „Unternehmen der nationalen wehrtechnischen Industrie (Rheinmetall, Diehl BGT, EADS)“ wurden mit der Forschung an WLW beauftragt. Neben den Unternehmen, die im Regierungsauftrag forschen, gibt es in Deutschland zahlreiche weitere. Laut einem Bericht des Amtes zur Bewertung von Technikfolgen des Europäischen Parlaments11 waren im Jahr 2000 nach Frankreich in keinem europäischen Land mehr Produzenten und Vertriebe von WLW angesiedelt als in Deutschland. Alleine 21 deutsche Firmen boten bereits damals chemische Reizstoffe, 13 Elektroschockwaffen und zehn kinetische Waffen an. Die deutsche Botschaft London blockierte seinerzeit die Beantwortung eines Fragebogens von Amnesty International UK zu WLW durch die entsprechenden Ministerien. Eine umfassende Liste über den Bestand, Export und Verwendung von WLW zu erstellen, würde unangemessene Kosten verursachen. Der damalige Bericht des Amtes zur Bewertung von Technikfolgen des Europäischen Parlaments zeigte sich irritiert über diese Antwort, da die Bundesregierung zumindest für chemische Reizstoffe ohnehin eine entsprechende Liste im Rahmen des Chemiewaffenabkommens für die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) bereithalten müsste.12

Ähnlich wenig auskunftsfreudig zeigte sich die Bundesregierung bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage. Auf die Frage, welche deutschen Unternehmen nach Kenntnis der Bundesregierung an der Forschung, Entwicklung und Herstellung von WLW beteiligt sind, gab die Bundesregierung ausschließlich Rheinmetall, Diehl BGT und EADS an, obwohl beispielsweise die Firma Carl Hoernecke Chemische Fabrik eigenen Angaben zufolge bereits zum Zeitpunkt der Anfrage Reizgase an die Bundeswehr liefert13 und die Bundesregierung demzufolge darüber informiert sein müsste, dass dieses Unternehmen an WLW forscht oder diese zumindest herstellt. Auch über den Export von WLW wollte die Bundesregierung keine Angaben machen.

WLW bei der Bundeswehr

Innerhalb der Bundeswehr ist insbesondere die Wehrtechnische Dienststelle für Schutz- und Sondertechnik (WTD 52) für die Entwicklung und Erprobung von WLW zuständig. Im Jahr 2004 gab diese als Aufgabenschwerpunkt die Ermittlung des „Erstausstattungsbedarf[s] der Streitkräfte für den Einsatz NLW bei friedenserhaltenden Maßnahmen“ an.14 Die WTD 52 forscht an mechanischen, elektrischen, chemischen, akustischen, optischen und energetischen WLW. Die WTD 52 gibt auch an, dass bereits „einzelne NLW […] bei der Truppe in Gebrauch“ sind.15

Erstmals 2001 genehmigte der damalige Verteidigungsminister den Einsatz von Impulswaffen im Kosovo (40mm-Hartschaumstoffgeschosse) und die Innenministerkonferenz empfahl im gleichen Jahr die Erprobung von Elektroimpulswaffen durch die Polizei im Inland. Nach den März-Unruhen 2004 im Kosovo, als die Bundeswehrsoldaten Vertreibungen und Brandschatzungen durch militante Albaner nicht verhindern konnten, wurde festgestellt, dass die Bundeswehr außer über Gummiwuchtgeschosse „unterhalb der Schwelle des Einsatzes von Schusswaffen zurzeit nur über begrenzte Mittel zur angemessenen Reaktion und stufenweisen Eskalation [verfüge]. Insbesondere fehlen Möglichkeiten, Menschenmengen auf Distanz zu halten, zu kanalisieren oder aufzulösen, falls physische Absperrungen oder Warnschüsse nicht zum Erfolg führen.“ 16 In der Folge wurde das deutsche Ausführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen dahingehend geändert, dass die Bundeswehr in ihren Auslandseinsätzen neben der vorhandenen Bewaffnung auch Reizstoffe und Pfefferspray einsetzen kann.

Seither ist die Bundeswehr auf dem Balkan und in Afghanistan mit Pfefferspray in zwei verschiedenen Ausführungen mit unterschiedlichen Reichweiten (RSG4 bzw. RSG8) sowie 40mm-Patronen und Granaten, die Tränengas (laut Bundesregierung: „Reizstoffrauch“) freisetzen, ausgerüstet. Diese werden entweder von Granatpistolen oder auch per Anbaugerät vom Sturmgewehr G36 abgefeuert. Der Umfang der entsprechenden Bestände ist jedoch als Verschlusssache eingestuft, weshalb die Regierung keine Angaben hierüber macht. Die Anschaffung von flüssigem CS ist geplant, um dieses durch auf Fahrzeugen montierte bzw. rückentragbare Reizstoffwerfer, über welche die Bundeswehr bereits verfügt, einsetzen zu können. Darüber hinaus verfügen zumindest die CRC-Züge auch über Schlagstöcke und Schilder und die Feldjäger über Wasserwerfer. In ihrer Antwort auf die kleine Anfrage behauptete die Bundesregierung zwar, es seien „keine Wasserwerfer bei deutschen Einsatzkontingenten im Ausland stationiert“. Auf der Homepage der Bundeswehr hingegen sind Bilder eines „Anti-Aufruhr-Trainings“ in Prizren zu sehen, bei denen ein Wasserwerfer, geschützt durch deutsche Soldaten mit Schlagstöcken und Schildern, einen Strahl abfeuert. Auch widersprechen verschiedene Pressemeldungen der Aussage der Bundesregierung. So berichtete die Tagesschau im Mai 2005: „Seit knapp einem Jahr verfügt die Bundeswehr im Kosovo auch über entsprechende Waffen gegen Gewalttäter in einem Protestzug: Gummigeschosse, Tränengasgranaten, Wasserwerfer“. 17 Auch die »Neue Westfälische« berichtete von Übungen mit Wasserwerfern in Kosovo: „Um einen Ernstfall zu demonstrieren, sind am Sonntagmorgen etwa 100 Soldaten aus Augustdorf im »Camp Casablanca« nördlich von Prizren angetreten. Kompaniechef Jan T. erklärt die »Bedrohungslage«: Gewalttätige Demonstranten müssen in Schach gehalten und zur Ruhe gebracht werden. […] Anders als früher sind die Soldaten mit dem so genannten CRC (Crowd-Riot-Control, Kontrolle von Massen-Aufständen)-System ausgerüstet. Diese Ausrüstung besteht aus verschiedenen Waffen, die alle nicht tödlich sind, den Gegner aber außer Gefecht setzen. Je nach Eskalationsgrad werden Tränengas, Pfefferspray, Gummigeschosse, Wasserwerfer und Schlagstöcke gegen Angreifer eingesetzt. Erst im schlimmsten Fall – und immer erst nach entsprechendem Befehl – greifen die Soldaten zur Schusswaffe.“ 18

Die Ausbildung „der für Einsätze der Bundeswehr vorgesehenen Kräfte“ im Umgang mit WLW erfolgt durch die Feldjäger „im Rahmen der einsatzvorbereitenden Ausbildung für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung (EAKK) … und erfolgt für die jeweiligen Kräfte grundsätzlich anlassbezogen an den Ausbildungseinrichtungen »Gefechtsübungszentrum Heer« (Letzlingen),19 dem VN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr (Wildflecken), dem Ausbildungszentrum Grundlagenausbildung der Luftwaffe (Germersheim), dem Zentrum »EinsAusbÜbSanDstBw« (nur RSG4) in Feldkirchen und der Schule für Feldjäger und Stabsdienst in der Bundeswehr in Sonthofen.“ Dabei verschweigt die Regierung – wie so vieles –, dass die Ausbildung im Rahmen der Auslandseinsätze durch zahlreiche Übungen im Einsatzland weitergeführt wird. Als besonderes Testfeld erweist sich hier der Balkan; insbesondere im Kosovo scheinen CRC-Übungen nahezu wöchentlich stattzufinden.20 Die Übungen sind u.a. notwendig, um den Umgang mit für Soldaten eher untypischen Einsatzmitteln wie Schildern (gegen Steinwürfe) zu trainieren. Die Schilder müssen beim Besteigen des Hubschraubers in einer bestimmten Weise getragen werden, damit sich der Luftzug der Rotoren nicht in ihnen verfängt.

Seit Anfang 2009 werden die meisten Übungen zu CRC, bei denen auch WLW eingesetzt werden, gemeinsam von der Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo (EULEX), der KFOR und kosovarischen Sicherheitskräfte durchgeführt. In der Stadt Kosovska-Mitrovica, die aus einem serbischen und einem kosovarischen Teil besteht, wird von KFOR und EULEX regelmäßig Tränengas eingesetzt – mal um Demonstrationen der albanischen, mal der serbischen Bevölkerung aufzulösen, bevor diese eine »yellow line« überschreiten, welche Serben und Albaner voneinander trennen soll. Inwieweit auch Bundeswehrsoldaten daran beteiligt sind, ist unklar. Die Bundesregierung erklärte in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage der Linken zwar lapidar: „NLW wurden, abgesehen zu Ausbildungszwecken, durch deutsche Kräfte bislang nicht eingesetzt.“ Dem widersprechen jedoch zahlreiche Presseberichte und Aussagen aus dem Umfeld der Bundeswehr selbst: Einem Bericht der Zeitschrift »Das Parlament« zufolge wurde z.B. im Kosovo bereits 2005 Pfefferspray durch die deutschen KFOR Soldaten eingesetzt und zwar aus eher lapidarem Anlass: „Zum Beispiel neulich, als zwei Streithähne mit Mistgabeln aufeinander losgingen und damit das halbe Dorf in Tumult zu stürzen drohten – nach einer Prise Pfefferspray herrschte Ruhe. Die deutschen Soldaten seien dem Bericht zufolge sogar besser mit WLW ausgerüstet, als die Einsatzkräfte anderer Nationen.“ 21 Johann Höcherl, Professor an der Universität der Bundeswehr, erklärte auf dem 4. European Symposium on Non-Lethal Weapons im Jahr 2007: „Als Konsequenz aus den neuen Szenarien, in denen Teile der deutschen Armee eingesetzt werden, wurde nicht-tödliche Munition, basierend auf Impuls und Energie, die auf das Ziel übertragen werden, zu Aufstandsbekämpfungszwecken eingeführt, die sich bislang sehr bewährt hat.“ 22 Die Verwendung von WLW wird laut Bundesregierung zwar nach eigenen Angaben „im Rahmen des Bestandsnachweises“ registriert, doch die Bestände sind eben Verschlusssache und damit nicht überprüfbar. Ferner lässt sich aus den Beständen etwa an Pfefferspray oder flüssigem CS wenig über konkrete Einsätze erfahren, da sich die verbrauchten Mengen schlecht wie bei anderer Munition in einzelnen Patronen angeben lassen. Auch hier zeigt sich, dass der Einsatz von WLW weniger kontrollierbar ist und somit durchaus auch die Gefahr besteht, dass die Einsatzschwelle durch WLW sinken kann.

Auch die so genannten »Quick Reaction Force«, die im Sommer 2008 nach Afghanistan verlegt wurde, ist der Bundeswehr und verschiedenen Presseberichten zufolge mit WLW ausgestattet und soll diese anwenden, um „gewaltbereite Menschenmengen … unter Kontrolle zu bringen“.23 Auch hier zeigte sich die Bundesregierung unwillig, den entsprechenden Umfang zu konkretisieren.

Keinerlei Angaben machte die Bundesregierung außerdem zur Ausrüstung der Spezialeinheiten des KSK mit WLW, da „zu operationellen Einzelheiten von Einsätzen der Spezialkräfte der Bundeswehr […] grundsätzlich keine Stellung genommen“ werde. Von einer Bewaffnung mit Gas-, Blend- und Rauchgranaten ist aber, betrachtet man das Aufgabenspektrum des KSK,24 in jedem Falle auszugehen. Sie würde nach wie vor dem Chemiewaffenübereinkommen eklatant widersprechen, da auch nach dessem novellierten deutschen Ausführungsgesetz der Einsatz chemischer Kampfstoffe auf Unruhebekämpfung beschränkt ist. Diese ist aber explizit nicht Aufgabe des KSK.

Intransparent und verantwortungslos

Zu den rechtlichen Implikationen der Forschung und des Einsatzes WLW scheint sich die Bundesregierung ohnehin kaum Gedanken zu machen. So hat schon die Änderung des deutschen Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen dessen Wirkung auf internationaler Ebene geschwächt, indem sich die Bundesregierung damit den Staaten anschloss, die das an sich absolute Verbot von Chemiewaffen in kriegerischen Auseinandersetzungen auf diesem Wege zu umgehen versuchen. Da die internationale Sicherheitsarchitektur ohnehin zunehmend auf asymmetrische Bedrohungen und »neue Kriege« abzielt, also CRC in den Mittelpunkt des aktuellen Aufgabenspektrums rückt, diese aber nach Auffassung der Bundesregierung auch im Ausland eine Ausnahme vom Chemiewaffenverbot darstellt, wird es hiermit de facto entkräftet. Obendrein hat es die Bundesregierung unterlassen, die unter diesen »Ausnahmebedingungen« eingesetzten Wirkstoffe zu spezifizieren und zu beschränken und sie hat jüngst erneut zum Ausdruck gebracht, dass sie dies auch nicht vorhat. „Durch das Fehlen konkreter Definitionen schafft die Neuregelung ein gewisses Maß an rechtlicher Unsicherheit für den RCA-Einsatz (Riot Control Agents). Die Auslegung des CWÜ wird letztlich auf die Ebene der militärischen Einsatzregeln übertragen“, urteilte der Jurist Hans Wolfram Kessler nach der Änderung des Gesetzes.25 Auch Jan von Aken kritisierte diese in der NDR-Sendung »Streitkräfte und Strategien« scharf: „Sobald Sie sich bei den Chemiewaffen auf eine Eskalationsstufe begeben, egal wie niedrig die ist, dann bereiten Sie damit die weitere chemische Eskalation vor. Man muss wissen, dass in der Geschichte jeder Einsatz von tödlichen Nervengasen, von tödlichen Chemiewaffen immer mit Tränengas angefangen hat. Ob das nun der Irak war unter Saddam Hussein, ob das im Ersten Weltkrieg die Deutschen waren, es fängt immer mit Tränengas an, unterste Eskalationsstufe, aber in dem Moment, wo sie im Krieg Gas einsetzen, ist es nicht mehr zu stoppen und am Ende werden sie bei den tödlichen Gasen landen.“ 26

Auf die Frage, ob die Bundesregierung einen weiteren Regelungsbedarf für den Umgang mit WLW auf internationaler Ebene sieht, antwortete diese: „Nein. Auf NATO- und EU-Ebene sind Arbeitsgruppen zu NLW tätig, die eventuell auch neue Regelungen als Empfehlungen an die Mitgliedsstaaten herausgeben. Diese Regelungen sind aber nicht von der Bundesregierung veranlasst.“ Hierzu muss erwähnt werden, dass die angesprochenen Gremien eben nicht mit der Eindämmung und Kontrolle von WLW beauftragt sind, sondern eher Lobbying für diese betreiben. Vorsitzender der European Working Group Non-Lethal Weapons ist beispielsweise der bereits erwähnte Klaus-Dieter Thiel vom Frauenhofer ICT, einem der größten Institute zur Entwicklung von WLW in Europa. Sein Stellvertreter ist Massimo Annati von der italienischen Marine, ein regelmäßiger Autor der Zeitschrift »Military Technology« und angesehener Vordenker moderner Kriegstechnologie. Thiel ist ebenfalls Mitautor einer der wichtigsten NATO-Studien zu WLW27 und Vorsitzender der »International Virtual Non-Lethal Weapons Platform«, einer Internetseite, auf der sich verschiedene Wissenschaftler über WLW austauschen sollen.

Eigentlich müssten Forschung, Produktion, Export und Einsatz von WLW restriktiv gehandhabt werden. Die Bundesregierung räumt zwar ein, dass viele der WLW in Deutschland unter das Waffengesetz fallen, weigert sich aber konsequent, eine Aufstellung zu liefern, welche dieser Waffen exportiert werden. Die Begründung hierfür besteht darin, dass WLW nach Auffassung der Bundesregierung generell nicht unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen. Deshalb liege ihr „keine statistische Aufbereitung zu Genehmigungen der Ausfuhr von »WLW« bzw. entsprechender Komponenten und Technologien vor. Die Struktur der dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) vorliegenden Datenbestände gestattet keine automatisierte Recherche im Sinne der gestellten Frage“. Das heißt, dass nicht nur Schlagstöcke, sondern auch Wasserwerfer aus dem Hause Daimler oder kinetische Waffen, wie sie Heckler & Koch herstellt, an diktatorische Regime ausgeliefert werden können, ohne dass die Öffentlichkeit hierüber etwas erfährt. Die deutsche Außenwirtschaftsverordnung nimmt für die Länder Somalia, DR Congo, Liberia, Simbabwe, Birma, Côte d’Ivoire, Sudan und Usbekistan „nichtletale militärische Ausrüstung“ von den jeweiligen Waffenembargos der UN aus, sofern sie nur „für humanitäre oder Schutzzwecke“ bestimmt sind. In diesen Fällen jedoch bedarf der Export einer Genehmigung durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Auch hier sieht die Bundesregierung keinen weiteren Regelungsbedarf.

Eine ähnliche Haltung zeigt die Bundesregierung, wenn es um die Verwendung von WLW im Inland geht. Obwohl mittlerweile auch die Polizei in Deutschland zunehmend mit WLW, darunter Elektroschockpistolen, ausgerüstet wird, existiert im Geschäftsbereich des Innenministeriums keine einzige Richtlinie oder Verordnung, die den Einsatz von WLW regelt.

Das perfekte Werkzeug für Diktatoren

Die deutsche Regierung finanziert die Forschung und Entwicklung weniger letaler Waffen, weil sie diese für »Verteidigungsaufgaben«, „dort […] wo Risiken und Bedrohungen für die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten entstehen“ für geeignet erachtet. Bei solchen »Friedensmissionen«, die ja vermeintlich den Export von Demokratie befördern sollen, ist der Einsatz von WLW vorgesehen, „um Menschenmengen auf Distanz zu halten, zu lenken und sofern erforderlich aufzulösen“.

Die Wirkprinzipien dieser Waffen sind Schmerz und Angst. Obwohl sie in Deutschland meist unter das Waffengesetz fallen, ist ihr Export selbst dann legal, wenn es sich explizit um militärische Ausrüstung handelt, die in Länder exportiert wird, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen mit einem UN-Embargo belegt sind. Entsprechend widerspricht die Bundesregierung der Auffassung des UN-Ausschusses gegen Folter, dass der Einsatz von Elektroschockpistolen beispielsweise Folter sei.

Wie jedoch WLW in manchen Ländern dazu genutzt werden, unliebsame Stimmen unhörbar zu machen, zeigt aktuell das Vorgehen des derzeitigen Machthabers Roberto Micheletti in Honduras, der sich im Juni 2009 an die Macht putschte. Der ehemalige Präsident Zelaya ist inzwischen wieder nach Honduras zurückgekehrt und hält sich seither in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa auf. Polizei und Militär setzten offenbar sowohl gegen die Demonstranten, die gegen den Putsch und die neue Regierung auf die Straßen gehen, als auch gegen Zelaya selbst WLW ein. Zelaya berichtete davon, die Botschaft sei mit einem Gas beschossen worden, das Übelkeit verursache.28 Zudem wird die Botschaft offenbar mithilfe eines LRAD beschallt.29

Anmerkungen

1) Doug Beason (2006): The E-Bomb: Changing the Way Future Wars Will Be Fought, in: Rusi Defence Systems 9:1, S.90-93.

2) Olaf Arndt & Ronald Düker: Eine andere Gewalt ist möglich, Telepolis vom 06.06.2007.

3) Antwort der Bundesregierung auf BT-Drucksache 16/9050 vom 2.Mai 2008. Alle weiteren Zitate, sofern nicht anders gekennzeichnet, sind der Drucksache entnommen.

4) BT-Drucksache 13/6449.

5) BT-Drucksache 16/9050.

6) Landmine Action (2001): Tödliche Alternativen. Wie die Antipersonenminen ersetzt werden.

7) BT-Drucksache 13/6449.

8) Fraunhofer ICT: Institutsgeschichte; URL: http://www.ict.fraunhofer.de/Institutsprofil/Institutsgeschichte/index.jsp.

9) Fraunhofer ICT (2009): Jahresbericht 2008/09.

10) Friedhelm Krüger-Sprengel (2009): Non-Lethal Weapons and Disarmament.

11) European Parliament (2000): Crowd Control Technologies – An Assessment Of Crowd Control Technology, Options For The European Union (EP/1V/B/STOA/99/14/01), Working Paper der Omega Foundation.

12) Ebd.

13) Hoernecke Sicherheitstechnik. Sicherheit durch Qualität – Internationale Referenzen, www.tw1000.com.

14) Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (2004): Das BWB und die Dienststellen in der Transformation, BMVg.

15) »Die Dienststellen der BWB«, in: Strategie und Technik, Dezember 2008.

16) BT-Drucksache 15/3599.

17) »Kosovo: Gefährlicher Job für die Bundeswehr«, tagesschau.de vom 23.06.05.

18) »Soldaten sorgen für Sicherheit«, Neue Westfälische vom 3./4.12.2005.

19) Vgl. hierzu: Johannes Plotzky: Kriege üben mit Serco GmbH und SAAB, IMI-Analyse 2005/032, in: AUSDRUCK, Dezember 2005.

20) Dies ergibt eine Auswertung der wöchentlich erscheinenden Feldzeitung der Bundeswehr für das Kosovo, Maz & More.

21) Thiele, Christian: Überwiegend ruhig, aber nicht stabil, in: Das Parlament Nr. 21, 2005.

22) Johan G. Höcherl: Pressure measurements at impact of kinetic energy ammunitions, Beitrag auf dem 4. European Symposium on Non-Lethal Weapons.

23) BMVg: Quick Reaction Force – Eine Schnelle Eingreiftruppe der ISAF, bundeswehr.de vom 18.01.2008.

24) Claudia Haydt: Kommando Spezialkräfte: »Mit der Lizenz zum Töten«, IMI-Analyse 2008/006, in: AUSDRUCK, Februar 2008.

25) Hans Wolfram Kessler: Krieg ohne Tränen? Reizstoff für die Bundeswehr: Zur Änderung des deutschen Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 1/2005; S.4-10.

26) Streitkräfte und Strategien vom 5.04.08, URL: http://www.ndrinfo.de/programm/sendungen/streitkraeftesendemanuskript68.pdf .

27) NATO Research and Technology Organisation (2006): The Human Effects of Non-Lethal Technologies. The Final Report of NATO RTO HFM-073.

28) Atacan los golpistas hondureños la embajada de Brasil con gases tóxicos, La Jornada vom 26.09.09; URL: http://www.jornada.unam.mx/2009/09/26/index.php?section=mundo&article=020n1mun.

29) »Cañón sónico« para revoltosos, La Tribuna vom 24.09.09; URL: http://www.latribuna.hn/web2.0/?p=44108.

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Übungen von EULEX und KFOR im Kosovo

Crowd and Riot Control« ist inzwischen eine der Hauptaufgaben der verschiedenen internationalen Truppen im Kosovo. Die Unruhen im März 2004, als Kosovo-Albaner vor allem die serbische Bevölkerung angriffen und die KFOR die Ausschreitungen nicht verhindern konnte, werden häufig als Begründung für die Notwendigkeit von Übungen zur »Crowd and Riot Control« herangezogen. Allerdings sind Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen im Kosovo kaum noch Grundlage der Übungsszenarien, welche meist den Einsatz von WLW beinhalten. Vielmehr wird die Niederschlagung von Protesten gegen die internationalen Organisationen geübt. Im Folgenden dokumentieren wir einige Beispiele von solchen Übungen, die vorwiegend der Feldzeitung der Bundeswehr im Kosovo »Maz & More« und dem »KFOR Chronicle« entnommen sind.

April 2006

Novo Selo – Das Hauptquartier der Multinationalen Task Force Nord war am 6. April Schauplatz eines eindrucksvollen Übungsszenarios für CRC. Dänische, französische, griechische, belgische und luxemburgische [KFOR-]Truppen mussten eine demonstrierende Menge in Schach halten, die aus marokkanischen Soldaten bestand, welche glaubwürdig die Störenfriede spielten.

Die Sicherheitskräfte blockierten mehrere Straßen, um die Bewegungsfreiheit der Demonstranten einzuschränken. Die Randalierer riefen und schrien und begannen letztlich, Wasserflaschen auf die Soldaten zu werfen, die ruhig in Formation verharrten und sich mit ihren Schildern schützten. Schritt für Schritt drängten Einheiten in voller CRC-Ausrüstung, unterstützt von gepanzerten Fahrzeugen, die gewalttätige Menge in die Randgebiete der fiktiven Stadt. Als die beiden Gruppen dann zusammenstießen, eskalierte die Situation. Die Randalierer setzten Autos und Barrikaden in Brand, um die Sicherheitskräfte daran zu hindern, ihnen zu folgen. Tränengasgranaten, abgefeuert aus 100 Metern Distanz, regneten auf die Demonstranten nieder, sodass einige ob ihres Fehlverhaltens in Tränen ausbrachen. Offensichtlich hatten sie die Entschlossenheit der multinationalen Einsatzkräfte unterschätzt. Unbeeindruckt von Molotov-Cocktails, die auf sie geworfen wurden, durchbrachen gepanzerte Fahrzeuge das Inferno aus Flammen und Rauch. Die Niederlage ins Gesicht geschrieben flohen diejenigen Demonstranten, die eine Gelegenheit dazu hatten, bereitwillig, während viele andere verhaftet wurden. Major Heimo Gruber: Demonstrators sow the wind and reaped the whirlwind during CRC Training »Hideous Hydra« in Camp Novo Selo (KFOR Chronicle, 30.4.2006).

Dezember 2008

Eine Phalanx aus Schutzschildern und Helmvisieren. Aus Atemschutzmasken heraus starre, entschlossene Blicke. Ein rhythmisches »klock, klock, klock« ist zu hören, als die italienischen Carabinieri im Takt des Vorwärtsmarschierens die Schlagstöcke an den Rand ihrer Schutzschilder schlagen. Die Situation eskaliert. Denn der Postenkette stehen wütende »Demonstranten« gegenüber, deren ungezügelte Gewalt den Polizisten [sic!] entgegenschlägt. Flaschen fliegen, Protestschilder zerbrechen, Holzlatten schlagen auf die Helme – ein Szenario, das nicht erfunden ist. Seit den so genannten Märzunruhen im Jahr 2004 ist klar, dass die KFOR-Soldaten nicht nur militärisch für Ruhe und Ordnung sorgen müssen, sondern auch in Situationen, wie man sie eher früher vom 1. Mai in Berlin her kennt und die einem Polizeieinsatz gleichen. Dafür gibt es die MSU (Multinational Specialized Unit), eine Spezialeinheit [der KFOR] mit erweiterten polizeilichen Befugnissen, speziell ausgebildet für »Riot Control«, das Eindämmen von »Aufruhr«. Die geschilderte Situation ist diesmal fiktiv: Die MSU übt auf einem alten Rollfeld der Luftwaffe der ehemaligen Jugoslawischen Volksarmee am Flughafen bei Pristina, dem Feldlager Vrelo. […] Das Ziel sei gewesen, die Zusammenarbeit der 84 italienischen Carabinieri und 50 portugiesischen MSU-Soldaten mit ihren 32 Fahrzeugen zu üben, erklärte der Einsatzleiter, Maggiore (Major) Roberte Arcieri. Eine Besonderheit: Die portugiesische Verstärkung wurde mit französischen und amerikanischen Hubschraubern eingeflogen. Erfolgreich sei die Übung gewesen, sagt Maggiore Arcieri, „wir haben ja hart dafür trainiert. Und wir konnten den Soldaten nun zeigen, was sie in der Realität erwartet“. Hauptmann Karsten Dyba: Üben für den Ernstfall (Maz & More 501; Dezember 2008).

Januar 2009

„Wir haben Euch was mitgebracht“, rufen die »Demonstranten« im Sprechchor. Auf ein Zeichen der Schiedsrichter bewegen sie sich auf eine Postenkette der EULEX zu. Diese drängen mit eigenen Kräften die Demonstranten ab, einzelne Störer werden isoliert und abgeführt. Pfeifend ziehen sich die Rollenspieler zurück. „Wir wollen keine EULEX“ erklingt der Schlachtgesang. „Die sind nicht schlecht“, schmunzelt Adjutant Chef (Oberstabsfeldwebel) Patrick T. von der EULEX-Mission. Er steht mit seinen Kameraden in voller Einsatzmontur hinter mehreren Gruppenfahrzeugen. Mehrere Monate war der Gendarm als Angehöriger der MSU (multinationale Spezialeinheit) im Feldlager Prizren stationiert, seit Mitte Dezember gehört er zur EULEX. Neben ihm bereiten rumänische Bereitschaftspolizisten ihre Granatpistolen vor. „Anders als vor einigen Wochen in Vrelo wird heute jedoch kein Tränengas eingesetzt“, beruhigt Hauptmann W. „Bei unseren Übungen in Frankreich nutzen wir nur echtes Tränengas“, bestätigt Patrick T.; „das hat noch nie jemandem geschadet.“ Stattdessen haben die deutschen Rollenspieler ihren Gegnern Darstellungskörper zur Verfügung gestellt. Diese werden gleich zum Einsatz kommen, da die zurückflutenden Rollenspieler eine Barrikade »errichten«. Französische Feuerwehrleute stecken auf Befehl des Übungsleiters mehrere aufeinander geschichtete Autowracks in Brand. Eine kleine Beobachtung am Rand: Einige Wracks tragen MSU und EULEX-Aufkleber und wurden bei Verkehrsunfällen oder echten Einsätzen demoliert… Hauptmann Stephan Schmidt: Das Chaos auf Bestellung – Deutsche Grenadiere als Rollenspieler im Norden des Kosovos (Maz & More 506; Januar 2009).

Februar 2009

Ein Schusswechsel rund ums Krankenhaus in der Ortsmitte von Malisevo: Ein Clan-Chef, der zur ärztlichen Versorgung im Krankenhaus weilt, hatte auf Kosovo-Polizisten geschossen, die ihn festnehmen wollten. Die Polizisten sperren das Krankenhaus ab, während sich vor dem Gebäude Demonstranten versammeln, um die Freilassung des Verdächtigen zu fordern. Die aufgebrachte Menge ruft: „Lasst unseren Bruder frei“ und „Freiheit, Freiheit“. Die Situation ist sehr angespannt, Flaschen fliegen und die Demonstranten versuchen, auf das Krankenhausgelände vorzudringen. Dies war das Szenario, das der Übung zugrunde lag.

Der Bevölkerung zu zeigen „was unsere Stärke ist“, dies sei das Ziel der Übung gewesen, erklärte der Sprecher des Einsatzbataillons Dulje, der österreichische Major Pierre Kugelweis. Das sei auch der Grund gewesen, warum die Übung nicht wie gewöhnlich in einem Feldlager oder auf einem Übungsplatz stattgefunden hat, sondern im öffentlichen Raum. Ohne das Szenario vorzuüben, testete der Übungsleiter Oberstleutnant Manfred Hofer, die Fähigkeit der beteiligten Einheiten zusammen zu agieren, und zwar nach dem Prinzip der gestaffelten Reaktion zur Kontrolle von Menschenmengen und Ausschreitungen (Crowd and Riot Control, CRC). So soll die Kosovo-Polizei erstverantwortlich handeln, erklärte Major Kugelweis, dahinter folgen die EULEX-Spezialeinheiten und erst in der dritten Reihe als sogenannter »Third-Line-Responder« die KFOR-Kräfte. […] Bei der Übung in Malisevo war schließlich doch davon ausgegangen worden, dass der kosovarische CRC-Zug nicht ausreicht, um die Ausschreitungen am Krankenhaus unter Kontrolle zu bringen, weshalb er durch rund 20 EULEX-Polizisten der rumänischen Jandameria verstärkt wurde. Erst in der dritten Reihe standen schließlich österreichische Soldaten des Einsatzbataillons Dulje den Demonstranten gegenüber, die übrigens auch von österreichischen Rollenspielern dargestellt wurden. Im Einsatz waren zudem rund 30 Schweizer, darunter ein Scharfschützentrupp, ein Österreichischer Hundeführertrupp und von deutscher Seite ein Lautsprechertrupp, ein Greiftrupp der Feldjäger und ein Feldjäger-Dokumentationstrupp mit Videokamera. Greif- und Hundeführertrupp übten dabei, den Rädelsführer des Aufruhrs aus der Menge zu »picken«. „Der Hund nimmt meistens den, der vor der ersten Reihe steht“, erklärt Stabswachtmeister Manfred H., der sich von dem dreijährigen belgischen Schäferhund »Burdy« beißen ließ. Eingepackt in einen Schutzanzug hatte er lediglich ein paar Schrammen und blaue Flecken zugetragen, „aber das bin ich schon gewohnt“, sagte er. Der Hund habe bei einem CRC-Szenario einen bedeutenden Vorteil: „Wenn wir ihn mit Maulkorb schicken, ist es rechtlich noch kein Waffengebrauch, macht aber Eindruck…“ Hauptmann Karsten Dyba: Den Rädelsführer beißt der Hund – öffentliche CRC-Übung beweist Einsatzbereitschaft der Kosovo-Polizei (Maz & More 507; Februar 2009).

März 2009

Propagandagraffiti, Diebstahl und Zerstörung von KFOR- und EUFOR-Einrichtungen zeugen von einer starken Störung der Beziehungen der Bevölkerung zur internationalen Gemeinschaft. Die Stimmung ist angeheizt. Vor dem türkischen Feldlager Sultan Murat haben sich Demonstranten eingefunden. Im Feldlager bereiten sich unterdessen türkische Soldaten, unterstützt von Polizisten der Kosovo-Polizei, einer polnischen Polizeieinheit der EULEX und Greiftrupps der Feldjäger darauf vor, die Demonstration aufzulösen. Schnell werden ein innerer Bereich (»Red Box«) und ein äußerer Bereich (»Blue Box«) markiert.

In der Blue Box wird versucht, jeden Versuch eines Eindringens durch nicht-lethale [sic] Wirkmittel (NLW), also solche, die keine tödlichen Verletzungen nach sich ziehen sollen, abzuwehren. NLW sind beispielsweise das Reizstoffsprühgerät, dessen Inhalt aus Chili-, Peperoni-Schoten und spanischem Pfeffer gewonnen wird, sowie Schlagstock, Schild und Gummigeschosse. Jedes Eindringen in die Red Box zieht einen möglichen Schusswaffengebrauch nach sich. Bewaffnet mit Kanthölzern, Knüppeln und Steinimitationen gehen die Rollenspieler auf die Postenkette zu. Steine fliegen durch die Luft. Dann fliegen Rauchkörper. Nebel breitet sich aus. Die Soldaten rücken, gedeckt durch Gewehrschützen, vor bis zur Grenze der Blue Box. Aber die Einpeitscher unter den Demonstranten provozieren immer weiter. Ein Auto wird in Brand gesteckt. Die Feuerwehr kann die Zerstörung des Fahrzeugs nicht verhindern. Vereinzelte, in die Blue Box eindringende Rädelsführer werden durch einen schnellen Zugriff der Eingreiftrupps der deutschen Feldjäger gepackt und abtransportiert. Die Postenkette wehrt alle Angriffe ab… Oberstabsfeldwebel Harry Höft: Die »Red Box« bleibt unangetastet (Maz & More Nr. 514; März 2009).

April 2009:

Die Übung basierte auf folgendem Szenario: In den letzten Jahren hat es keine größeren Unruhen in der Umgebung von Prizren gegeben. Aber eine bestimmte Nichtregierungsorganisation, die für ihre kompromisslose Haltung bekannt ist, hat ihre Aktivitäten und Propaganda in der Region intensiviert. Aufgrund der jüngsten politischen Ereignisse hat diese NGO in den größeren Städten eine Reihe von Demonstrationen gegen die internationale Gemeinschaft organisiert.

Unsere Aufklärung setzte uns davon in Kenntnis, dass eine große Demonstration in unserem Verantwortungsbereich stattfinden würde. Es wurde angenommen, dass eine gewalttätige Gruppe versuchen würde, in das regionale Hauptquartier einer internationalen Organisation einzudringen, um deren Angehörige anzugreifen […].

Diesem Szenario entsprechend fand die »Southern Home Saber Crowd and Riot Control«-Übung am 14. Mai mit der kosovarischen Polizei, der »Regional Operations Support Unit«, der EULEX-Polizei und der KFOR […] statt.

Entsprechend dem Konzept der »Blue and Red Box« nahm die CRC-Einheit der KFOR in der roten Box Aufstellung, während die blaue Box von der kosovarischen Polizei und der EULEX gesichert wurde. In erster Reihe war zunächst die kosovarische Polizei für die Verteidigung des geschützten Objekts zuständig, EULEX sollte in zweiter Reihe Verantwortung übernehmen.

Als die Demonstranten auf die rote Box zukamen, übernahm die CRC-Einheit der KFOR die Aufgabe des Schutzes in ihrer Funktion als dritte Verteidigungsreihe. Die Hauptaufgabe der Übung bestand in der Koordination der Einheiten und in der sukzessiven Übergabe der Verantwortung von der kosovarischen Polizei zu EULEX und von dieser an die KFOR […]. [Um die Soldaten, welche die Demonstranten simulierten, zu schützen] trugen diese CRC-Uniformen und der Einsatz von Tränengas wurde durch Rauchbomben simuliert.

Während der Übung wurden alle möglichen Ereignisse, mit denen CRC-Einheiten konfrontiert sein können, durchgespielt. Ein verletzter Soldat wurde mit einem Rettungshubschrauber abtransportiert, ein Greiftrupp wurde eingesetzt, um einen Provokateur festzusetzen, die Hundestaffel, um die Menge in Schach zu halten […]. First Lt. Hasan Tahsin Vanli: Turkish Contingent is at the Service of Kosovo (KFOR Chronicle, 30.4.2009).

Der Tag begann mit einer friedlichen Demonstration während des ersten Szenarios. Soldaten der Alpha-Einheit wurden Portugiesen gegenübergestellt, welche als »first responder« versuchten, die Demonstranten mit Worten zu beruhigen. Als die Verhandlungen scheiterten, wurden diese durch französische Einheiten ausgewechselt, welche eingesetzt wurden, um die Menge niederzuhalten. Die französischen Soldaten begannen Tränengas (CS) zu verschießen, um die widerspenstige Menge aufzulösen. Der richtige Umgang mit Tränengas ist ebenso ein kritisches Element der Crowd Control wie das Evakuieren von Verwundeten. Die Beobachter, welche die Übung bewerten sollten, zeigten ihre Anerkennung der Leistung, als die Übung beendet wurde. „Als die Franzosen kamen, um den Portugiesen zu helfen, begannen sie alle mit CS einzunebeln“, berichtet Joshua Navarro. „Sie machten es uns unmöglich, etwas zu tun, weil sie immer weiter Gas versprühten.“

In einer zweiten Phase wurden die Soldaten [welche die Randalierer spielten] angewiesen, sich nicht zurückzuhalten und alles gegen die Sicherheitskräfte zu geben. Sie sammelten Stöcke, halbvolle Wasserflaschen und was immer sie finden konnten, um es bei den bevorstehenden Auseinandersetzungen zu verwenden. Die Einheiten preschten vorwärts, um die Franzosen noch einmal anzugreifen. Wiederum stieg eine Mauer aus Tränengas empor und herbeigeführter Stacheldraht wurde ausgelegt, um die Angreifer davon abzuhalten, zu nah zu kommen. Doch Mutter Natur stand auf deren Seite: Als der Wind drehte, das Tränengas verwehte und der Stacheldraht entfernt wurde, schienen die Randalierer die Oberhand zu gewinnen. In die Defensive gedrängt, setzten die Franzosen ein Fahrzeug ein, um den Mob zurück zu drängen. Verschiedene Techniken kamen während der Übung zum Einsatz, um abzuschätzen, welche effektiv und welche weniger erfolgreich sind. Spc. Darriel Swatts: Controlling the Riots before it controls you (KFOR Chronicle, 30.4.2009).

Während der März-Unruhen im Kosovo im Jahr 2004 hatte eine Gruppe von Grenadieren, die das Erzengelkloster schützen sollten, mit einer solchen Situation gar nicht rechnen können und war dafür auch nicht ausgestattet. Sie zogen ab, um das Leben der Mönche zu retten und mussten die Klosteranlage den Aufständischen überlassen. Heute wäre das anders: Die Übung »Southern Landing Saber« des Einsatzbataillons ist die Antwort darauf. Innerhalb kurzer Zeit sperrt die vierte Kompanie des Einsatzbataillons die Straße ins Bistrica-Tal mit Checkpoints, um Zeit zu gewinnen bis Verstärkung kommt – aus der Luft. Mit ihren Hubschraubern fliegt die gemischte Heeresfliegerabteilung »Merkur« deutsche und österreichische CRC-Kräfte ins Tal. Auch für die Piloten ist es eine Herausforderung in dem engen Tal im Minutentakt Soldaten abzusetzen. Diese sperren den Zugang zum Kloster ab, als die Lage eskaliert. Doch selbst von brennenden Autoreifen und Molotowcocktails lassen sie sich nicht abschrecken. Mit dem Einsatz von Tränengas lösen sie schließlich die gewalttätige Demonstration auf.

Wie ein landender Säbel, 12.03.2009, http://www.einsatz.bundeswehr.de

Juni 2009

Am 17. und 18. Juni 2009 fand bei den Feldlagern in Vrelo (MNTF C) und Novo Selo (MNTF N) die Crowd and Riot Control-Übung »Balkan Hawk« statt, die größte Übung diesen Jahres. Ziel dieser Übung war es, ein sicheres Umfeld aufrecht zu erhalten und die Einrichtungen der EULEX sowie die kosovarischen Institutionen vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen. Ebenso wichtig war es aber auch, die Pläne der Randalierer und ihre Bewegungen im Vorfeld zu enthüllen und zu registrieren.

Das Übungsszenario basierte auf tatsächlichen Ereignissen. Das Parlament der EU hatte beschlossen, Geld, das nach einer Pressemitteilung im Frühjahr in den Bau zweier Krankenhäuser fließen sollte, umzuwidmen, um damit ein Recycling-Zentrum einzurichten. Am Tag nach dieser Bekanntmachung berichteten kosovarische Radio- und Fernsehstationen von Zivilisten, die hierüber enttäuscht und wütend waren. In Reaktion auf die Nachrichten rief eine Vereinigung der Krankenhausangestellten (HWA) für den 17. Juni zu Demonstrationen und Aktionen gegen die EU, EULEX und das Ministerium für Umwelt und Raumplanung im Camp Vrelo auf.

Soldaten des tschechischen Kontingents mit CRC-Ausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen standen bereit, um die französische Gendarmerie im Bedarfsfall zu unterstützen. Die Randalierer warfen halbvolle Plastikflaschen und Stöcke auf die Polizei, steckten Gegenstände in Brand und riefen der Gendarmerie aggressive Parolen entgegen. Der Einsatz von Tränengas war untersagt. Zugleich transportierten US-amerikanische Helikopter Verstärkung ins Einsatzgebiet – eine Abteilung der Multinational Specialized Unit (MSU).

Informationen gingen ein, nach denen die HWA-Aktivisten das EU-Verwaltungsbüro in Novo Selo angreifen wollten. Nachdem der erste Hubschrauber (Super Puma) mit einer Gruppe Soldaten der taktischen Reserve der KFOR ankam, lieferten drei Helikopter des Typs »Black Hawk« einer nach dem anderen drei französische Schützenpanzer (Véhicule blindé Léger, VBL) an Hängeseilen ab. Die Verhandlungen scheiterten, woraufhin es zu Zusammenstößen kam. Die KFOR (französische Soldaten) intervenierte, um die Situation zu stabilisieren.

Im Ergebnis lernten die Teilnehmer wertvolle Lektionen, um auf Situationen vorbereitet zu sein, in denen sie mit wütenden Menschenmengen konfrontiert sind, um zu antizipieren, was der Mob tun wird. Nicht zuletzt konnten sie ihre Techniken zur Crowd and Riot Control zu trainieren. Lieutenant Colonel Vadym Tymoshenko: The Balkan Hawk 2009 CRC Exercises (KFOR Cronicle, 30.6.2009).

August 2009

Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Postenkette in der schweren CRC-Ausrüstung rann den Soldaten der Schweiß in Bächen unter dem Helm hervor in die Uniform. Die Darsteller der gewalttätigen Demonstranten überzeugten vollkommen. Selbst als unbeteiligter Beobachter bekam man die besondere Brisanz der Situation zu spüren, wenn etwa der Einsatz von Reizgas simuliert wurde, um die Gewalttäter abzuwehren, oder ein wahrer Hagelsturm von Wasserflaschen auf die Einsatzkräfte niederging.

Beeindruckend ebenfalls war der reibungslose Einsatz anderer Truppengattungen. So wurden Soldaten der Truppe für Operative Information im Feldlager Casablanca eingesetzt, um Botschaften des militärischen Führers vor Ort über Lautsprecher an die Demonstranten zu übermitteln. Ein Bild, das ebenfalls einen starken Eindruck hinterließ, waren die sechs Helikopter der Gemischten Heeresfliegerstaffel aus dem Feldlager in Toplicane, die gemeinsam mit deutschen Feldjägern Teilnehmer einer Tagung von internationalen zivilen Organisationen aus Suva Reka evakuierten. Stark auch der Einsatz von Piloten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich, die sowohl Truppen ins Erzengelkloster einflogen als auch Zivilpersonen aus dem Feldlager Casablanca und der Ortschaft Zociste evakuierten.

Leutnant Tobias Strahl: Southern Rising Readiness – Die multinationale Einsatztruppe Süd ist gut ausgerüstet (Maz & More Nr. 533; August 2009).

Kirche, Krieg & Frieden

Kirche, Krieg & Frieden

von Albert Fuchs, Matthias Engelke, Dietrich Bäuerle und Ulrich Frey

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3/2010
Herausgegeben von der Informationsstelle Wisenschaft und Frieden

zum Anfang | Re-Sakralisierung des Militärischen

von Albert Fuchs

Nach Vorüberlegungen zur Rolle der Re-Sakralisierung des Militärischen als Strategie der »Nachrüstung der Seelen« sowie zu einem wissenschaftlich brauchbaren Religionsbegriff werden drei Formen bzw. Niveaus des Re-Sakralisierungsprozesses beschrieben, exemplarisch belegt und kommentiert. Der Beitrag schließt mit Hinweisen zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen.

Im bundesdeutschen Rechtfertigungsdiskurs zur Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt spielt seit einiger Zeit auch die Sakralisierung des Militärischen wieder eine wichtige Rolle. Die drei traditionellen Rechtfertigungsmuster – Notwehr/Verteidigung, Nothilfe/»humanitäre Intervention« und »legitime« Interessen/Macht1 – sind wesentlich zukunftsbezogen: angelegt auf die Abwehr von (vorgeblichen) Bedrohungen oder auf die Verfolgung und Erreichung hochwertiger bzw. hochgeschätzter Ziele. Sie kommen unweigerlich an Grenzen der Plausibilität und Wirkmacht, wenn der Zukunftsbezug gebrochen wird durch leidvolle Verlusterfahrungen in naher Vergangenheit, durch Verletzung, Traumatisierung und insbesondere durch den Tod von »Eigenen« im Zusammenhang militärischer Engagements. „Nichts in der Welt macht hilf- und sprachloser als der Tod“ – konstatierte zu Recht der amtierende Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt zu Guttenberg im Rahmen einer Trauerfeier für vier im April d. J. in Afghanistan »gefallene« Soldaten der Bundeswehr (Guttenberg, 2010). Erst recht dürfte das gelten, wenn man sich irgendwie für diesen Tod politisch verantwortlich weiß. Das aber bedeutet, dass eine qualitativ andere, eine »tiefere« legitimatorische Einbettung der fraglichen Unternehmen erforderlich wird. Damit kommt die Stunde bestallter oder selbsternannter »tieferer« Sinndeuter. Um dem augenscheinlich Sinnlosen doch einen Sinn abzuringen, bedient man sich mehr oder weniger unverfroren des überlieferten religiösen Repertoires, sowohl ritueller Elemente daraus wie textueller.

Eine genauere Erfassung und Analyse von Phänomenen der religiösen Aufladung des Militärischen ist auf einen wissenschaftlich brauchbaren Religionsbegriff angewiesen. Einigkeit scheint in den mit Religion befassten Disziplinen zu bestehen, dass ein brauchbarer Religionsbegriff zunächst einmal theologische Geltungsansprüche aufgeben muss, also keine Aussage über den ontologischen Status von Religion beinhalten kann, vielmehr einem methodologischen Agnostizismus bzw. Atheismus verpflichtet ist. Innerhalb dieser Abgrenzung aber bleibt die idealtypische Unterscheidung zwischen substanzieller und funktionaler Definition relevant. Substanzielle Definitionen von Religion heben Referenzobjekte religiöser Praxis hervor, etwa »übermenschliche Wesen« oder die »Transzendenz«. Funktionale Definitionen orientieren sich an Funktionszusammenhängen wie Identitätsbildung oder Krisen- und Kontingenzbewältigung, verstehen dagegen »Transzendenz« als leeren Term oder allenfalls als allgemeine menschliche Fähigkeit, das bloß biologische Dasein irgendwie zu überschreiten. Allerdings sind bei vielen funktionalen Definitionen auch Transzendenzbezüge zu finden und andererseits verweisen substanzielle Definitionen vielfach auf funktionale Zusammenhänge. Hinzu kommt, dass die Beachtung der Sinnzuschreibungen der Akteure (im Anschluss i.B. an Max Weber) eine wichtige Forschungsperspektive eröffnet. Ihr zufolge aber nehmen religiöse Akteure die »Transzendenz« als reales Gegenüber wahr, das ihnen in Distanz zu ihrer biologischen und gesellschaftlichen Existenz eine neue, verglichen mit der Alltagserfahrung ganz andere Identität zu konstruieren erlaubt und ihnen gerade dadurch neue Handlungsfelder und strategische Möglichkeiten erschließt.

Formen und Niveaus der Re-Sakralisierung

Entsprechend der vorausgehend nur knapp (i.W. im Anschluss an Schäfer, 2009) zu skizzierenden Diskussion um einen wissenschaftlich brauchbaren Religionsbegriff werden im Folgenden nach der Art des Transzendenzbezugs drei Formen der Re-Sekralisierung des Militärischen unterschieden: Militärritualismus, leerer Transzendenzbezug und militärchristlicher Synkretismus. Die jeweils folgende dieser Formen scheint die vorausgehende zur Voraussetzung zu haben und auf ihr aufzubauen. Dementsprechend treten die voraussetzungsvolleren »höheren« Formen i.d.R. in Verbindung mit der oder den vorgeordneten auf. Alle drei Formen sind im »Überbau« des bundesdeutschen Militärapparats seit den Gründungszeiten angelegt. Innerhalb jeder Form sind Differenzierungen und Intensivierungen und ein zunehmender Einbezug der Trägergesellschaft zu beobachten.

Militärritualismus

Aus der Sicht von Religionssoziologen wie Émile Durkheim (1994) bilden Rituale, nicht Texte, die Grundlage der Religion. Ihre soziale Funktion besteht i.W. darin, die soziale Identität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt darzustellen und damit zu festigen und zu erneuern. Mit welcher außeralltäglichen, »jenseitigen« Wirklichkeit auch immer die Teilnehmer etwa an einem Regenmachertanz in der australischen Steppe in Kontakt zu kommen glauben, die im Ritual erfahrene »heilige Wirklichkeit« ist die menschliche Gemeinschaft. Auch in textbasierten Religionen »höher« entwickelter Kulturen dienen die Rituale aus diesem objektivierenden soziologischen Blickwinkel letztlich dem gleichen Zweck: der Darstellung und Festigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der sich auch außerhalb des »Gottesdienstes« in vielfältiger Weise bewährt. Umgekehrt wird von manchen Vertretern der Religionssoziologie unter Berufung auf Durkheim alles als Religion interpretiert, was in einer Gesellschaft entsprechende Funktionen erfüllt.

Das Militärwesen ist in diesem (erweiterten) Durkheimschen Sinn seit eh und je sozusagen in der Wolle »religiös« gefärbt. Ein reichhaltiger Fundus an Militärritualen steht demgemäß für Sinngebung durch rituelle Einbettung in ein größeres Ganzes zur Verfügung.2 Dabei geht es augenscheinlich, vielfach aber auch expressis verbis, vor allem um Stiftung und Stärkung des inneren Zusammenhalts des Militärs. Die Inklusivität des symbolisch-rituellen Überbaus begünstigt die Verdeckung und Überlagerung von sozialen Widersprüchen und Interessengegensätzen. Zugleich soll jedoch auch die Trägergesellschaft eingebunden, »gesellschaftlicher Rückhalt« für »unsere« Soldaten geschaffen und verstärkt werden.

Das militärische Zeremoniell der Bundeswehr gilt als im Hinblick auf die besonders problematische neuere deutsche Militärgeschichte stark reduziert und betont schlicht im Vergleich zum Zeremoniell anderer Streitkräfte. Zu den wichtigsten bundesdeutschen Militärritualen gehören das Feierliche Gelöbnis (der Rekruten) und die Vereidigung (der Zeit- und Berufssoldaten), der Große Zapfenstreich, der Staatsempfang, das Staatbegräbnis, die Kranzniederlegung und die Totenehrung (am sog. Volkstrauertag). Mit der schrittweisen Zurichtung der Bundeswehr zu einer Interventionskriegs- und Besatzungsarmee seit dem Ende des Kalten Krieges ging und geht eine Ausweitung militärritueller Aktivitäten und Unternehmungen mit großem Öffentlichkeitswert Hand in Hand. Bezeichnend dürfte sein, dass das 1996 erstmals und ab 1998 regelmäßig in Berlin zum Jahrestag des Anschlags auf Hitler (20. Juli) vollzogene Gelöbnis der Rekruten des Wachbataillons der Bundeswehr inzwischen vom Bendlerblock, dem Berliner Sitz des Verteidigungsministeriums, zum Platz der Republik, in das repräsentative Zentrum vor dem Reichstagsgebäude, verlegt wurde. Im vergangen Jahr wurde es gar von dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Phoenix live übertragen.

Leerer Transzendenzbezug

Militärrituale als solche vermitteln Transzendenzerfahrungen, die sich kaum wesentlich von entsprechenden Erfahrungen beispielsweise im Zusammenhang von Fußballspielen unterscheiden dürften. Der Transzendenzbezug geht in der aktuellen sozialen Integrationsfunktion auf. Dagegen geloben die Rekruten, bzw. schwören Zeit- und Berufssoldaten der Bundeswehr gemäß § 9 des Soldatengesetzes, „der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“. Über die Konzepte »Bundesrepublik Deutschland«, »deutsches Volk«, »Recht und Freiheit« legen diese Verpflichtungsformeln ein qualitativ anderes Überschreiten der Alltagserfahrung nahe, als es etwa einer Fangemeinde anlässlich eines Spiels ihres Vereins zugänglich ist. Das militärische Eid- und Gelöbnisritual beinhaltet insofern bereits seit der Frühzeit der Bundesrepublik explizit Transzendenzbezüge, die unverkennbar – insbesondere mit der Beschwörung von Recht und Freiheit – auf die Sphäre der Werte und des Heiligen verweisen, damit quasi-religiösen Charakter haben, aber inhaltlich nicht i.e.S. religiös bestimmt und insofern »leer« sind. Eine zunehmende Aufladung dieser Art kommt vor allem in der Entwicklung des Trauer- und Gedenkzeremoniells im Zusammenhang der neu-deutschen Militär- und Kriegspolitik zur Geltung.

Bereits kurz nach Beginn des Afghanistan-Engagements der Bundeswehr, in einem Focus-Interview im Februar 2002, diagnostizierte Herfried Münkler, Politikwissenschaftler und renommierter Vordenker der fraglichen außenpolitischen Linie, den Afghanistan-Konflikt als Paradebeispiel einer Konfrontation postheroischer Gesellschaften mit einer heroischen Gesellschaft. Heroische Gesellschaften sieht Münkler durch Knappheit an physischen Ressourcen im Vergleich zu ihren »moralischen« Ressourcen gekennzeichnet, postheroische umgekehrt durch relative Knappheit an moralischen Ressourcen. Gesellschaften dieses Typs können demnach durch jene in eine Stresssituation gebracht werden durch Beibringen geringer physischer Verluste, insbesondere in Form des Todes einiger weniger eigener Leute. Solche Situationen erfordern nach Münkler die Mobilisierung des unverzichtbaren heroischen Kerns der eigenen Gesellschaft – ein Einstehen für das Gemeinwesen (oder für eine politische Idee) bis zum Äußersten. Sache der Gesellschaft sei es, entsprechende Verhaltensweisen mit einer „zivilgesellschaftlichen Währung, die mit der marktwirtschaftlichen Währung konkurriert“, zu belohnen, indem sie den Akteuren etwas zuspreche, was mit Geld nicht zu haben sei, eben den Status von Heroen – eine Form von Unsterblichkeit, die darin bestehe, „dass die als Helden Ausgezeichneten öffentlich geehrt werden und ihrer feierlich gedacht wird.“

Dass Münklers »zivilgesellschaftliche Währung« – im Grunde ein wiederbelebter Gedenkkult um den Soldatentod – die Konkurrenz mit der »marktwirtschaftlichen Währung« – der Belohnung von Leistung mit Geld – bestehen kann, erscheint zweifelhaft, zumal die Einführung dieser Konkurrenzwährung offensichtlich durch und durch marktwirtschaftlich kalkuliert erfolgt bzw. erfolgen soll. Damit aber dürfte ein genuines, intrinsisch motiviertes Einstehen bis zum Äußersten für die zentralen Werte der eigenen Gesellschaft bzw. der menschlichen Zivilisation überhaupt im Ansatz korrumpiert und insofern untergraben werden.

Wie dem auch sei, das inzwischen vor allem auf Betreiben des damaligen Verteidigungsministers Franz-Josef Jung auf dem Gelände des Bendlerblocks errichtete, Anfang September 2009 eingeweihte Ehrenmal der Bundeswehr lässt sich geradezu als eine Umsetzung der Münklerschen Programmatik lesen. Der 32 Metern lange, 8 Meter breite und 10 Meter hohe Betonquader mag zunächst wie irgendein belangloser Zweckbau wirken, soll aber durch Anleihen an allerlei Symbolik des Heroischen im Detail erklärtermaßen zu einem Denkmal von nationalem Rang erhoben werden: zu einem „zentralen Ort, an dem der militärischen und zivilen Angehörigen der Bundeswehr gedacht wird, die in Folge der Ausübung ihrer Dienstpflichten für die Bundesrepublik Deutschland ihr Leben verloren haben“ (Bundesministerium der Verteidigung, 2009, S.5). Zwar wird „auf religiöse Symbole ganz bewusst verzichtet“ (ebd., S.19), dafür aber bemüht man sich umso aufdringlicher, unter Rückgriff auf einen »Etwas-[über-das-Alltägliche-hinaus-muss-es-doch-geben]-Glauben« und diverse Versatzstücke aus der quasi-religiösen Symbolkiste einen leeren Transzendenzbezug zu aktivieren (vgl Januschke, 2010).

Der mystifikatorische Ästhetizismus der Ehrenmal-Broschüre des BMVg wirkt streckenweise einfach peinlich – etwa wenn das schimmernde Gold der die Widmung „Den Toten unserer Bundeswehr – Für Frieden, Recht und Freiheit“ tragenden Wand als „in allen Kulturen … zeitloses Sinnbild des Übernatürlichen und Ewigen und der damit verbundenen Hoffnung“ angepriesen wird (Bundesministerium der Verteidigung, 2009, S.35). Zudem wird in dieser Broschüre wiederholt suggeriert, das Ehrenmal eröffne u.a. „durch seinen Standort und seine Architektur zugleich die Möglichkeit des öffentlichen und privaten Gedenkens und Trauerns“ (ebd., S.51). Da aber auch wiederholt betont wird, der militärische Dienst schließe „nötigenfalls den Einsatz der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens mit ein“ und verlange „in letzter Konsequenz auch, im Kampf zu töten“ (ebd., S.5), werden weiteres Sterben und Töten in Aussicht gestellt, sozusagen verteidigungsministeriell garantiert. Damit aber werden privates Gedenken und Trauern konterkariert. Den umgekommenen Bundeswehrangehörigen soll die Münklersche »Unsterblichkeit« zugesprochen werden – sofern und weil sie staatlichen Zielen gedient haben. Folglich kann es auch nur um die eigenen Toten gehen, nicht einmal andeutungsweise um die, die von ihnen und ihresgleichen umgebracht wurden.

Militärchristlicher Synkretismus

Der verteidigungsministerielle Interpretationsaufwand zum Ehrenmal der Bundeswehr lässt exemplarisch die Grenzen des leeren Transzendenzbezugs erkennen. Gold beispielsweise ist Gold, nur Gold; ein Oberlicht ist ein Oberlicht, nur ein Oberlicht; alles, was darüber hinausgeht, sind im Kern willkürliche sprachgebundene, bestenfalls kollektiv verankerte Zuschreibungen. Vor allem aber erliegt man leicht dem groben semiotischen Irrtum, nicht den Unterschied zwischen Symbol und Symbolisiertem zu realisieren (Januschke, 2010). Das Symbol setzt – jedenfalls begrifflich – das Symbolisierte voraus und das Symbolisierte geht nicht im Symbol auf. Das besagt, der Transzendenzbezug kann nur vordergründig »leer« sein: Entweder geht es wie beim Ritualismus letztlich »nur« um die Gesellschaft, i.B. um »kollektive Repräsentationen«, um ein geteiltes, Einheit und soziale Identität stiftendes Überzeugungs-Wertsystem, oder es geht um die von religiösen Akteuren als reales Gegenüber wahrgenommene (geglaubte), in unserem Kulturkreis meist Gott genannte »echte« Transzendenz. Damit aber geht die Re-Sakralisierung des Militärischen im Wege eines leeren Transzendenzbezugs unmerklich über in die Wiederbelebung des traditionsreichen militärchristlichen Synkretismus (vgl. Lübbert, 1987).

Auch diese Variante der Re-Sakralisierung ist im Wiederaufbau der (west-) deutschen Streitkräfte nach dem Zweiten Weltkrieg verwurzelt. So stellt die Eidesformel länger dienender Soldaten den Schwörenden anheim, die Beteuerung „so wahr mir Gott helfe“ zu verwenden (§ 9 Abs. 1 Soldatengesetz) und damit einen inhaltlich bestimmten Transzendenzbezug herzustellen, was dabei auch immer unter Gott verstanden werden mag. Auch dürfte die traditionelle kirchliche Militärseelsorge nicht zuletzt deswegen die Wertschätzung der politischen Klasse genießen,3 weil man ihr zutraut, wesentlich zum »moralischen Rüstzeug« der Soldatenseelen durch Vermittlung des kollektiven Selbstverständnisses beizusteuern, als „Soldat im Dienst des VaterlandesDiener der Sicherheit und Freiheit der Völker“ zu sein (Zweites Vatikanisches Konzil, 1982, S.63) – und damit in besonderer Weise dem »Willen Gottes« zu entsprechen.

Dieser grundlegende, aber vergleichsweise abstrakte Transzendenzbezug wird im Zusammenhang der Transformation der Bundeswehr zu einer »Armee im Einsatz« vor allem im Hinblick auf dienstbedingte einschneidende Verlusterfahrungen intensiviert und konkretisiert. So verkündete der evangelische Militärbischof Dutzmann in seiner Ansprache zur Einweihung des Ehrenmals der Bundeswehr, „in Jesus Christus“ sei und bleibe „Gott mitten unter uns Menschen … – auch bei jenen, die ihr Leben im Einsatz für Frieden, Recht und Freiheit verloren.“ Wer das glauben könne, werde „am Ehrenmal nicht nur dankbar der Toten der Bundeswehr gedenken, sondern sie zugleich in Gottes Frieden geborgen wissen.“ (Dutzmann, 2009). Dutzmanns Amtsbruder, der damalige katholische Militärbischof Mixa, bestimmte in einer Predigt anlässlich der Kommandeurtagung 50 Jahre Bundeswehr die Aufgabe der Militärseelsorge „nicht zuletzt“ dahingehend, „… unsere Soldatinnen und Soldaten auf eine größere Treue und Liebe aufmerksam zu machen“, die sich in der Hingabe des „von einem Berg des Hasses, der Verleumdung, des Spottes und der grausamen Folter im Sterben am Kreuz gleichsam vernicht(et)en“ Jesus und in seinem „Leben des auferstandenen Christus“ erschließe (Mixa, 2005).

Den vorläufig stärksten Ausdruck dürfte die hier zur Debatte stehende Form der Re-Sakralisierung mit den Ansprachen von Verteidigungsminister Guttenberg und des katholischen Militärgeneralvikars Wakenhut anlässlich der eingangs erwähnten Trauerfeier für die vier in Afghanistan gefallene Soldaten gefunden haben. Nachdem er zuvor die Mär reproduziert hatte, in Afghanistan werde „für unser Land, für dessen Menschen, also für jeden von uns, gekämpft und gestorben“, versicherte Guttenberg der Trauergemeinde mit quasi-pastoralem Pathos: „Und wenn es diesen Gott unseres christlich geprägten Europas gibt“, woran er „fest glaube“, dann „werden sie, diese vier tapferen Männer, bei dem Vater aufgehoben sein, dessen Sohn sein Leben gab für das Leben der Menschen auf dieser Welt“ (Guttenberg, 2009). Wakenhut erklärte, „vor den Särgen, vor dem Opfer des Lebens dieser vier Männer“ verbiete sich auf die unausweichliche „Frage nach dem Sinn ihres Todes im Einsatz… manche vordergründige, oberflächliche Erklärung…, die sich allein auf Karriere und den materiellen Vorteil“ beziehe. „Den tieferen Sinn“ könne man darin finden, dass sie „für andere Verantwortung übernommen“ hätten – „dass es denen besser geht, dass Menschen in Frieden und Freiheit leben können, dass Menschenwürde und Menschenrecht gewahrt bleiben nicht nur in Afghanistan, sondern auf der ganzen Welt.“ Der Prediger suggeriert gar, der (Militär-)Einsatz erfolge in Erfüllung des jesuanischen »Missionsauftrags« (vgl. Mt 28,29) und der Tod sei Ausdruck der unüberbietbaren Liebe, von welcher Jesus nach dem Johannesevangelium vor seinem eigenen Tod sprach (J 15,13). Die Zuhörerschaft wird abschließend beschworen: „Möge ihr Einsatz und das Opfer ihres Lebens uns alle dem Ziel einer neuen, humaneren, gerechteren Welt näher bringen, dann war dieser Tod nicht umsonst.“ (Wakenhut, 2009).

Einlassungen kirchlicher und kirchennaher Akteure wie die wiedergegebenen sind augenscheinlich darauf angelegt, das soldatische Selbstideal unüberbietbar zu polstern, den mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr – wie von Verantwortlichen wiederholt angesagt – jederzeit möglichen Soldatentod kognitiv und emotional an die Hingabe der neutestamentlichen Jesusfigur zu assimilieren und den Hinterbliebenen »himmlischen Trost« zu spenden. Nicht zuletzt erscheint diese Form der Re-Sakralisierung dazu angetan, politische Auseinandersetzungen um die ganze Veranstaltung durch Einbezug in die denkbar inklusivste Kategorie Gott im Keim zu ersticken. Damit nähern sich die Akteure einer Denkweise und Verkündigung an, die in den Kriegspredigten deutscher Bischöfe und Kirchenoberer der Nazizeit ihre wunderlichsten und zugleich giftigsten Blüten hervorgebracht hatten.

Ausblick

Der Leitgedanke der vorliegenden Analyse der zunehmenden Re-Sakralisierung des Militärischen im Umfeld der Bundeswehr, dass es im Kern um gesteigerte Kriegsführungsfähigkeit geht, um Legitimation, Motivation, Sinnstiftung, Beschwichtigung und Trost und nicht zuletzt um gesellschaftlichen Rückhalt für »unsere« Soldaten, besagt nicht, dass sich alles und in jedem Fall bewusst und absichtsvoll um diese Wirkungen dreht. Abgesehen davon, dass eine solche Generalisierung grundsätzlich problematisch ist, würde diese Zuschreibung u.U. auch eher Abwehr hervorrufen als Einsicht befördern, da sie im Ansatz Falschspielerei unterstellt. Es geht aber um funktionale Zusammenhänge, um plausible objektive Wirkungen, was immer die Akteure jeweils bezwecken. Welche Wirkungen sich unter welchen Bedingungen tatsächlich einstellen, bedürfte genauerer empirischer Untersuchungen. Eine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problemfeld hätte darüber hinaus die zugrundeliegenden psychosozialen Wirkmechanismen zu klären. Hier kann nur vermutet werden, dass die Dynamik der Dissonanzbewältigung – angesichts fataler Folgen eigener politischer Entscheidungen – wahrscheinlich eine zentrale Rolle spielt.

Für Zeitgenossen, die sich noch irgendwie christlich-kirchlich verankern, mag vor allem die dritte Form der Re-Sakralisierung des Militärischen, der militärchristliche Synkretismus, ein Ärgernis darstellen. In der Tat ist kaum nachvollziehbar, wie die Inklusivität des christlichen Gotteskonzepts und der Figur des »gewaltfreien Christus« von der Verfolgung kollektiver Eigeninteressen im Wege militärgewaltsamer Durchsetzung in den Dienst genommen zu werden vermag. Kaum weniger befremdlich ist, dass sich »in den eigenen Reihen« kaum Widerstand dagegen regt; Bürger (2007) zufolge erklären bisher lediglich Christen aus ökumenischen Basisnetzwerken und Friedensorganisationen den öffentlichen Widerspruch. Augenscheinlich wird (wieder einmal) Dissidenten, Agnostikern und Atheisten anheimgestellt, dem militaristischen Missbrauch des Christentums Paroli zu bieten. Die allerdings dürfen sich nicht zu schade dafür sein. Denn der »Weihrauch« um Militär und Krieg und »Heldentod« ist und bleibt grundgefährlich für alle.

Schließlich sei zu bedenken gegeben, dass die quasi-religiöse Aufladung des Militärischen im Wege eines leeren Transzendenzbezugs gefährlicher sein könnte als der militärchristliche Synkretismus. Gegen diesen Synkretismus sind entsprechend der grundsätzlichen Ambivalenz des Religiösen im Allgemeinen und des Christentums im Besonderen Korrekturen »von innen« aktivierbar und mobilisierbar. Woher aber könnten die entstehen, wie sich entfalten gegen die militaristische Indienstnahme einer frei flottierenden »Spiritualität«, des weit verbreiteten »Etwas-[über-das-Alltägliche-hinaus-muss-es-doch-geben]-Glaubens«?

Literatur

Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.) (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin.

Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.) (2009): Das Ehrenmal der Bundeswehr. Den Toten unserer Bundeswehr – Für Frieden, Recht und Freiheit. Berlin.

Bürger, P. (2007): Der Schatten des Kreuzes. Telepolis, 06.04.2007. URL: http://www.heise.de

Durkheim, É. (1994): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Dutzmann, M. (2009): Ansprache zur Einweihung des Ehrenmals der Bundeswehr, 08. September 2009. URL: http://www.ekd.de/predigten

Guttenberg, K.-T. zu (2009): Rede des Verteidigungsministers auf der Trauerfeier in Ingolstadt. URL: http://www.bmvg.de

Januschke, E. (2010): Das Ehrenmal der Bundeswehr. Wissenschaft und Frieden, 28 (1), S.47-49.

Lübbert, K. (1987): Kirche und Militär. Vom Synkretismus zum Dialog. gewaltfreie aktion, 19 (Nr. 73/74), S.51-62.

Merkel, A. (2006): Vorwort der Bundeskanzlerin. In Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr (S.2-3). Berlin.

Mixa, W. (2005): Predigt beim ökumenischen Gottesdienst am 11.10.2005 im Bonner Münster anlässlich der Kommandeurtagung 50 Jahre Bundeswehr. URL: http://www.katholische-militaerseelsorge.de/vortraege

Münkler, H. (2002): Heroismus ist unverzichtbar. Focus, 25.02.2002.

Schäfer, H.W. (2009): Zum Religionsbegriff in der Analyse von Identitätskonflikten: einige sozialwissenschaftliche und theologische Überlegungen. CIRRUS Working Papers, No. 6. URL: http://www.uni-bielefeld.de

Wakenhut, W. (2009): Ansprache von Militärgeneralvikar Walter Wakenhut aus Anlass der Trauerfeier für die in Afghanistan gefallenen Soldaten am 24.04.2010 in Ingolstadt. URL: http://www.katholische-militaerseelsorge.de/vortraege

Zweites Vatikanisches Konzil (1982): Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et »Spes« vom 7. Dezember 1965. In Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Dienst am Frieden. Stellungnahmen der Päpste, des II. Vatikantischen Konzils und der Bischofssynode von 1963 bis 1982 (S.60-69). Bonn.

Anmerkungen

1) Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht in ihrem Vorwort zum Weißbuch von „Deutschlands Gewicht in der internationalen Politik“ (2006, S.2).

2) Wikipedia zeigt in der Kategorie »Militärisches Brauchtum und Ritual« 73 Seiten an. URL: http://de.wikipedia.org/wiki

3) Höchst aufschlussreich dürfte diesbezüglich z.B. sein, dass Frau Merkel anlässlich des Amtsantritts des evangelischen Militärbischofs Martin Dutzmann der kirchlichen Militärseelsorge attestierte, einen „unverzichtbaren Dienst für die Bundeswehr“ zu leisten (Lippische Landeszeitung, 26.09.2008).

Prof. em. Dr. Albert Fuchs ist Kognitions- und Sozialpsychologe. Er ist Mitherausgeber von »Krieg und Frieden – Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie«. Bis 2009 war er Mitglied der Redaktion von W&F.

zum Anfang | Der Kriegsdienst der Militärseelsorge

von Matthias Engelke

Deutsche SoldatInnen haben unabhängig von ihrem Stationierungsort das Recht auf Ausübung ihrer Religion und demgemäß auf Seelsorge. Entsprechend sorgt das Bundesministerium für Verteidigung dafür, dass die SoldatInnen vor Ort von Militärseelsorgern betreut werden können. Welche Rolle spielen die Militärpfarrer angesichts der steigenden Zahl von (Kampf-)Einsätzen der Bundeswehr im Ausland? Dieser Frage geht Matthias Engelke nach.

Gegenwärtig unterhält die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im In- und Ausland 101 Dienststellen, in der Regel jeweils mit einem Militärpfarrer bzw. einer Militärpfarrerin und einem Pfarrhelfer als Büroleiter; die Katholische Kirche beschäftigt in 101 Dienststellen im In- und Ausland insgesamt 65 haupt- und 27 nebenamtliche Militärpfarrer sowie zusätzlich 25 Pastoralreferenten und 87 Pfarrhelfer.

Jeder Militärpfarrer bekommt von der Bundeswehr ein eigenes Büro und einen Dienstwagen zur Verfügung gestellt. Die Kosten für die Militärseelsorge trägt der Staat; im Jahre 1998 waren dies allein für die evangelische Militärseelsorge knapp 68 Millionen DM. (Werkner 2001, S.247) Das sind staatliche Zuschüsse für die Kirche, da diese während der Abordnung der Pfarrer zum Militär die Gehälter einspart. Pfarrer, die in die Verwaltungshierarchie der evangelischen oder katholischen Militärseelsorge überwechseln, werden Militärdekane – das sind Bundesbeamte.

Evangelische und katholische Militärbischöfe sind so genannte »geistliche Leiter« des Kirchenamts für die Bundeswehr bzw. des Militärbischofsamts. Das für die evangelischen Militärseelsorger zuständige Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr ist trotz dieser Bezeichnung kein Amt der Kirche, sondern untersteht dem Verteidigungsministerium; Leiter dieser Ämter tragen den Titel Militärgeneraldekan. Das katholische Militärbischofsamt hat auf Grund des Konkordats von 1933 mit der nationalsozialistischen Reichsregierung einen eigenen Rechtsstatus.

Soldaten zahlen Steuern – das war nicht schon immer so. Damit zahlen auch die Soldaten, die Kirchenmitglied sind, Kirchensteuern. Ein Teil dieser Kirchensteuern steht der Arbeit der Militärseelsorge in Form des Sonderhaushaltes zur Verfügung. Auch auf diesem Wege findet also eine versteckte Subventionierung der Kirche statt.

Den Militärpfarrern wird im Militärseelsorgevertrag von 1957 zugesichert, dass sie in der Verkündigung und Seelsorge „im Rahmen der kirchlichen Ordnung selbständig“ sind (MSV Artikel 4). Sie tragen kein Rangabzeichen und unterstehen nicht der militärischen Einheit, in der sie Dienst tun. Allerdings werden sie dennoch nach den Besoldungsrichtlinien für Offiziere mindestens im Rang eines Oberstleutnant alimentiert und von den Soldaten innerhalb der Hierarchie auch so wahrgenommen.

Von den Militärpfarrern wird erwartet, dass sie Lebenskundlichen-Unterricht erteilen, das ist Ethikunterricht für Soldaten. Teilnahme ist für Soldaten Pflicht; wollen diese unter Berufung auf die religiöse Freiheit (Grundgesetz Artikel 4, Absatz 1) nicht teilnehmen, muss der jeweilige Vorgesetzte eine Ersatzaufgabe (Besinnungsaufsatz o.ä.) stellen. Die Seelsorge steht Christen wie Nicht-Christen offen. Konfessionsunterschiede spielen außer bei der Ausgestaltung der Gottesdienste kaum noch eine Rolle. Kriegsgeräte wie Panzer oder Drohnen werden schon lange nicht mehr »getauft«.

Bei seelisch-psychischen Belastungen können sich die Soldaten an einen Psychologen oder einen Seelsorger wenden. Der Psychologe untersteht der militärischen Hierarchie. Nicht selten – so die eigene Erfahrung – werden Soldaten von ihrem Vorgesetzten zum Pfarrer geschickt, mit der Bemerkung „kümmern Sie sich um ihn, wir wissen nicht weiter“. Anfang dieses Jahres wurde, nach dem Bericht eines Kollegen im Einsatz in Afghanistan, ein Soldat zu ihm geschickt, der einen Afghanen, in der irrtümlichen Annahme, er würde eine russische Panzerbüchse auf ihn richten, erschossen hatte. So tragen Seelsorger dazu bei, die Armee einsatzbereit zu halten.

In welchem Kontext gestalten Militärseelsorger – unabhängig von ihrer persönlichen Interpretation dieses Dienstes – ihre Aufgabe? Gibt es übergeordnete religiöse Bezüge?

Die Religionssoziologie beschreibt Religion als ein gegenüber ihrer Umwelt autonomes System, das aber in einem fortwährenden Prozess von Wechselwirkungen mit ihr verbunden bleibt und geformt wird. (Brockhaus 2002) Religion „wird getragen von den religiösen Menschen und gewinnt erst durch deren Glauben (geprägt durch Lehre und Tradition), Verhalten (Kult, Ethik) und religiöse Vergesellschaftung (Gemeinschaft, Hierarchie, Organisation) Gestalt.“ (ebd.) Nach dem religionsphänomenologischen Ansatz zeichnet Religion die Beziehung zu einem wie auch immer genannten »Ganz Anderem«, das deutlich von der Alltagswelt geschieden ist. Besondere Räume, herausgehobene Zeiten und Ereignisse, z.B. Feste, gehören ebenso dazu wie »heilige Worte« in »heiligen Schriften« und »heilige Menschen« als »(religiöse) Spezialisten«. In Kult und Ritus werden »heilige Handlungen« vollzogen, in denen das »Ganz Andere« als präsent vorgestellt wird.

Bestehen Übereinstimmungen zwischen den Formmerkmalen von Militär und Religion? Wenn ja, ist Militär als eine Religion zu verstehen? Welches »Ganz Andere« wird dort als präsent erachtet?

Militär als Religion?

Militär zeigt sich in mehrfacher Hinsicht als ein autonomes System, das sich räumlich und zeitlich von der Zivilgesellschaft unterscheidet sowie durch besondere Riten, Feste, Gewohnheiten, eine eigene Sprache und Spezialisten auszeichnet.

Eine deutliche Trennung von »innen« und »außen« markiert bereits der Stacheldraht um jede militärische Einrichtung. Hinweisschilder machen auf den militärischen Sicherheitsbereich aufmerksam. Nur mit besonderen Formalitäten ist es dem Nicht-Soldaten erlaubt, militärisches Gelände zu betreten. Der Zeit- und Berufssoldat vollzieht in einem eigenen Ritual den Übertritt vom Bürger zum Soldaten, der nach der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Ideologie als »Bürger in Uniform« gilt. In diesem Ritual schwört der angehende Soldat vor der Fahne der Bundesrepublik Deutschland gegenüber einem höherrangigem Soldaten einen Eid. Er verlässt den Bereich der vom Tötungstabu geprägten Zivilgesellschaft und tritt ein in den Bereich des Militärs, das die Verletzung des Tötungstabus betreibt unter der Bereitschaft, dabei selber verletzt oder gar getötet zu werden.

Eine eigene Sprache mit besonderen Begriffen, meistens gespickt mit einer Fülle von Abkürzungen, sorgt dafür, dass der Nicht-Soldat sich als Außenstehender wahrnimmt. Gegner werden nicht getötet, geschweige denn ermordet, sondern »ausgeschaltet« oder »kampfunfähig gemacht«. Seit einiger Zeit werden wir wieder daran gewöhnt, dass Soldaten im Krieg nicht ums Leben kommen, sondern »fallen«. In einer ganzen Schriftenreihe werden die »heiligen Schriften« gesammelt, die dem normalen Bürger nicht zu Gesicht gelangen – die ZdVs, Zentrale Dienstvorschriften. Hier ist niedergelegt, was das Leben und Sterben des Soldaten betrifft, und zwar mit einem lückenlosen, alles umfassenden Gültigkeitsanspruch. Sinnfälliges Kennzeichen für diese Sonderwelt ist das gemeinsame Marschieren, das als solches allerdings nicht an das Militär gebunden ist: Der Einzelne geht in einer als »Einheit« bezeichneten Formation auf, die auf Befehl möglichst gleichzeitig gleichförmige Bewegungen ausführt.

Zu den besonderen Ereignissen gehören Gelöbnisfeiern, Gedenkfeiern der einzelnen Einheiten, Dienstjubiläen und Verabschiedungen und – seit einiger Zeit auch wieder – Gedenkfeiern für die im Krieg getöteten Kameraden. Eine eigene Hierarchie mit eigenen Verhaltensweisen und eigenem Ethos sorgt dafür, dass auch im Alltag ein Unterschied wahrgenommen werden kann zwischen der soldatischen und bürgerlichen Welt: Begegnen sich Oberst und Gefreiter in (Ausgeh-) Uniform im Theater, hat dieser jenen auf eine festgelegte und eingeübte Weise zu grüßen.

Für jedes formale Religionsmerkmal findet sich also ein Pendant innerhalb des Militärs. Das mögen die notwendigen Bedingungen dafür sein, um eine soziologisch abgrenzbare Form des Zusammenlebens als »Religion« zu bezeichnen. Aber erfüllt das Militär auch die hinreichenden Bedingungen dafür? Gibt es auch im Militär eine Vorstellung vom »Ganz Anderen«, zu dem eine eigene Beziehung hergestellt wird, die nur und ausschließlich innerhalb des Militärs möglich ist? Und verfügt auch das Militär über religiöse Spezialisten, die für die Kommunikation zu diesem »Ganz Anderen« und für seine Präsenz in Kult und Ritus sorgen?

In Deutschland haben wir uns an den Terminus »der Soldat als Bürger in Uniform« gewöhnt. Gemeint ist damit, dass das Militär innerhalb der Gesellschaft keinen Staat im Staate bildet, sondern die Grundrechte eines jeden Bürgers – wenn auch eingeschränkt – auch für diejenigen gelten, die als Soldaten ihren Dienst tun. Dabei wurde über Jahrzehnte ausgeblendet, auf welches praktische Ziel hin ein Soldat ausgebildet wird: Die Ausbildung eines Soldaten – in all ihren Facetten – zielt darauf ab, diesen selbst oder andere in die Lage zu versetzen, tötende Gewalt anzuwenden. Der gesamte gewaltige Verwaltungsapparat und Maschinenpark hat diesen einen Zweck: Soldaten in die Lage zu versetzen, mit Hilfe der erlernten Techniken, Regeln und Verhaltensweisen das Tötungstabu gezielt zu verletzen. Damit diese Verletzung nicht ungeschützt auf die Gesellschaft zurückschlägt, erschafft sie die Sonderexistenz Militär: Der Soldat, durch dessen Befehl am 4. September 2009 bei Kundus bis zu 140 Menschen getötet wurden, muss sich für keinen dieser Toten vor irgendeinem deutschen Gericht verantworten. Schon bei einer einzigen fahrlässigen Tötung drohte demselben Menschen außerhalb eines militärisch-kriegerischen Einsatzes eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren.

Wer oder was sich aus diesem Ziel und Zweck des militärischen Handelns manifestiert, wird erkennbar, wenn der bei einem Einsatz getöteten eigenen Soldaten in einer besonderen Feier gedacht wird. Vorausgesetzt, das Militär untersteht dem Primat der Politik und dient als letztes Mittel einem politisch und gesellschaftlich akzeptierten Zweck, wie wird dies in Trauerfeiern sichtbar?

Einen Anhaltspunkt gibt die Trauerfeier am Ostersonntag 2010 in Kundus nach dem Tod von drei deutschen Soldaten am Karfreitag, dem 2. April 2010. Da ist zuallererst der große Abstand – der große Abstand zwischen dem Rednerpult und den Soldaten, die in drei Formationen einen freien Platz vor dem Rednerpult aussparen. In der Antike wurde die Würde einer Person dadurch sichtbar, wie viel Raum sie über sich, etwa in Form von Triumphbögen, aber auch vor sich in Anspruch nahm. Je größer der Abstand, um so höher die zugemessene Würde. Hinter dem Rednerpult in Kundus sind vier Personen zu sehen, in ihrer Absonderung erkennbar als Würdenträger. Abseits, bewacht von einigen Soldaten, die aufgebahrten Särge der getöteten Soldaten. Wo hält sich der Militärseelsorger der Einheit auf? Steht er bei den Soldaten oder in der Nähe der Särge? Nein, der Militärseelsorger steht hinter dem Rednerpult, zwischen dem General der Einheit und dem Minister für Entwicklungszusammenarbeit, Niebel, der sich zu diesem Zeitpunkt in Afghanistan aufhielt.

In den öffentlichen Reden wird der Tod der Soldaten zu dem vorgeblichen politischen Zweck des Einsatzes in Beziehung gesetzt. Sie hätten, um dieses Ziel zu erreichen, tapfer ihr Leben eingesetzt; ihr Tod dürfe nicht sinnlos sein. Ihre Kameraden sind dem Leben und Tod dieser Soldaten verpflichtet, indem sie den Einsatz unverändert fortsetzen.1

Dabei fallen zwei Dinge auf:

Der Tod der Soldaten im Auslandseinsatz generiert Sinn

Wie ist das möglich? Gemäß der politischen Ideologie haben Soldaten dafür zu sorgen, dass diejenigen notfalls zu sterben haben, die sich der politischen Zielsetzung (uneinsichtig/gewalttätig) widersetzen (Rebellen, Aufständische, Terroristen). Der Tod der eigenen Soldaten kann nicht das Ziel solcher Einsätze sein, er kann darum eigentlich auch nicht sinnvoll sein und schon gar nicht den Anlass bilden, Sinn zu stiften. So ist es konsequent, wenn der gegenwärtige Verteidigungsminister zu Guttenberg in einer dieser Trauerfeiern bei den Angehörigen der getöteten Soldaten um Verzeihung bat (am 24.4.2010). Der Tod der Soldaten wird jedoch ausdrücklich damit in Verbindung gebracht, dass nun für die Soldaten ein besonderer Sinn bestünde – nämlich weiter zu machen wie bisher.

Entsteht also durch den Tod der Soldaten ein besonderer Sinn? War ihr Leben vorher sinnlos? Indem Mitglieder der eigenen Einheit durch kriegerische Auseinandersetzungen ums Leben kommen, entsteht eine neue Unterscheidung: Die zwischen Opfern und Überlebenden. Dabei fühlen sich Überlebende oft in doppelter Weise moralisch belastet: Einmal fragen sich Soldaten, warum es diese Kameraden und nicht etwa sie selbst getroffen hat, und sie fühlen sich mit schuldig am Tod ihrer Mit-Soldaten. Zum anderen sind sie durch den Tod der Kameraden als Überlebende definiert, sie werden also durch den Tod ihrer zumeist ja Bekannten neu bestimmt. Die Freude, zu den Überlebenden zu gehören, kann darum mit Schuldgefühlen einhergehen, sich auf Kosten anderer, ja sogar auf Kosten der Toten, zu freuen.

Wann und wo diese Unterscheidung zwischen Überlebenden und Opfern in Erscheinung tritt, ist nicht vorhersehbar; sie kann alle Soldaten im Einsatz treffen. Dieser Willkür sind mehr oder weniger alle Soldaten im Einsatz ausgesetzt. Da sie unausweichlich mit Schuldgefühlen verbunden ist, bedarf es einer Form, diese in irgendeiner Weise zu bewältigen. Hier kommen die religiösen Spezialisten zum Zuge, die die Aufgabe haben, die Schuldproblematik zu bewältigen und an der Grenze zwischen Leben und Tod für die Kommunikation zu sorgen, und zwar in mehrfacher Weise: für die Kommunikation zwischen den Überlebenden und den Getöteten, zwischen den Angehörigen der Überlebenden und den Angehörigen der Getöteten, für die Kommunikation zwischen denen, die vor der Aufgabe stehen, dem Willkürereignis einen Sinn abzugewinnen, und denen, die dabei ums Leben kamen. Um diese Kommunikation konstituieren zu können, müssen die Getöteten in irgendeiner Weise repräsentiert werden. Ohne Gedenksteine, Grabplatten, Soldatenkreuze o.ä. würde die Differenz zwischen Opfer und Überlebenden hinfällig und es könnte weder die Kommunikation noch die Sinnstiftung funktionieren.

Diese Sinnstiftung ist mit der Bezeichnung »Opfer« verbunden. Innerhalb des jüdisch-christlich-islamischen Kontextes verschiebt die Opferbezeichnung die Schuldproblematik von einer individuellen, im Grunde nicht zu erfassenden Problematik hin zu einem übergeordneten Geschehen. Indem der einzelne Soldat den erteilten Auftrag trotz des Todes seiner Kameraden fortführt, gesteht er dem Tod dieser Mitsoldaten Sinn und sich selbst eine Entlastung seiner Schuld zu. Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Betroffenen sind es also selbst, die das schaffen, wofür sie da sind: Ihr Glaube an den Sinn des Einsatzes ermöglicht den Einsatz.

Die Antike hatte für diese im militärischen Kampf zu Tage tretende Willkür eine Bezeichnung. Ihr war es möglich, diesen unfassbaren Grenzbereich zu benennen und ihm darum auch in der Öffentlichkeit zu besonderen Zeiten mit regelmäßigen Festen und speziellen Kulten und Ritualen auf speziell dafür vorgehaltenen Plätzen Raum zu geben: Der Name für diese Willkür hieß Mars oder bei den Griechen Ares. Es ist gewiss kein Zufall, dass für diesen Zweck der Planet Mars ausgewählt wurde bzw. dass dieser Planet als Kriegsgott bezeichnet wird. Nach dem Planeten Merkur weicht Mars am meisten von der Kreisbahn ab. Sein Verhalten erscheint nicht nur auf Grund seiner wechselhaften Helligkeit sondern auch, da an bestimmten Tagen in seiner Bahn rückläufig, für den Laien extrem willkürlich. Ares ist in der Mythologie Sohn von Zeus und dessen Schwester Hera; sie galt als besonders eifer- und rachsüchtig. Die Erscheinung des Mars in der Willkür des Krieges ist der Zweck des Krieges – der Krieg dient der Manifestation des Mars. Militär ist die gesellschaftlich legitimierte Erscheinungsform des mit dem Namen Mars bezeichneten erfahrbaren Numinosum, dem »Ganz Anderen«.

Die Abwesenheit der Anderen

Bei allen Trauerfeiern für die getöteten Soldaten wird stets ein nicht zu übersehender Aspekt vermieden: Nie ist von den – bei solchen kriegerischen Einsätzen unvermeidlich – verletzten und/oder getöteten Gegnern die Rede, von den Opfern der anderen Seite. Eine gemeinsame Trauerfeier ist geradezu unvorstellbar.

Dadurch wird augenfällig, dass die Militärseelsorger nicht im Dienste einer Institution stehen, die unabhängig vom Militär andere Zusammenhänge und Bezüge schafft und lebt, wie es etwa die weltweite Kirche beansprucht, sondern sie agieren innerhalb der Grenzen und Regeln des jeweiligen Militärs. Pfarrer, die in der Bundeswehr ihren Dienst leisten, leisten – wie Zeit- und Berufssoldaten – gegenüber ihrem Vorgesetzten einen Eid und überschreiten damit die Grenze zwischen der Zivilgesellschaft und dem Militär. Sie werden vom Staat bezahlt und unterstehen als Beamte den Weisungen des Verteidigungsministeriums vermittelt durch das Kirchenamt für die Bundeswehr bzw. das Militärbischofsamt. Militärseelsorgern wird die Freiheit der Verkündigung und der Seelsorge gewährleistet, im Einsatz allerdings innerhalb der vom Dienst habenden Kommandeur gesetzten Grenzen. Feindesliebe, die Jesus gemäß zum Weg derer gehört, die ihm nachfolgen, falls sie über Worte und Gebete hinaus womöglich auch zu den Feinden geht, ist ausgeschlossen. Christlicher Glaube hat sich hier dem Kriegsgott Mars unterworfen und von ihm entmündigen lassen.

Da die Menschen in der Bundeswehr einen Anspruch auf eine unabhängige Seelsorge haben, hat der deutsche Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes angefangen, eine solche in Deutschland aufzubauen. Nähere Informationen dazu finden Sie unter www.versoehnungsbund.de.

Literatur

Werkner, Ines-Jacqueline (2001): Soldatenseelsorge versus Militärseelsorge. Evangelische Pfarrer in der Bundeswehr, Baden-Baden, S.247.

Brockhaus Enzyklopädie (2002): Artikel zu Religion.

Militärseelsorge im Internet

Militärseelsorge in der Bundeswehr http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/ soziales/milseelsorge?yw_contentURL=/C1256EF4002AED30/N264HQC8277 MMISDE/content.jsp

Militärseelsorge http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de

Katholische Militärseelsorge – mit einem Lexikon der Ethik! http://www.katholische-militaerseelsorge.de/

Institut für Theologie und Frieden (in Trägerschaft der Katholischen Militärseelsorge) http://www.ithf.de/

Graphik der Organisationsstruktur der evang. Militärseelsorge: http://www.militaerseelsorge. bundeswehr.de/portal/a/eka/mediabild? yw_contentURL=/02DB090200000001/W26L4NFT593INFODE/content.jsp

Anmerkung

1) „Es ist auch ganz klar, dass die Opfer, die gebracht werden, nicht umsonst sein dürfen.“ Brigadegeneral Frank Leidenberger, ISAF-Kommandeur für Nordafghanistan, Tagesschau vom 03.04.2010; http://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan1740.html, eingesehen am 10.06.2010. „Ihr Tod darf aber nicht vergebens sein. Wir geben nicht klein bei. Wir werden wetier kämpfen. Und wir werden gewinnen.“ Frank Leidenberger, Tagesthemen vom 04.04.2010; http://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt2192.html, eingesehen am 11.6.2010.

Dr. Matthias-W. Engelke, evangelischer Pfarrer in der Kirchengemeinde Lobberich in Nettetal/Niederrhein, ist Vorsitzender des Internationalen Versöhnungsbundes/deutscher Zweig. Von 1997 bis 2001 war er Militärpfarrer in Idar-Oberstein (Artillerieschule) und Birkenfeld (2. Luftwaffendivision).

zum Anfang | Kirchen und Krieg – das Beispiel Afghanistan

von Dietrich Bäuerle

Die Positionierung der Kirchen zum Afghanistankrieg entspricht bestimmten Entwicklungen von der Botschaft des Evangeliums über die verschiedenen Arrangements in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen bis hin zur gegenwärtigen Teilhabe und Teilnahme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in vielen Ländern der Erde. Diese Positionierung auf den verschiedenen Einfluss- und Machtebenen ist oft widersprüchlich: innerlich oft zerstritten, sowohl beteiligt am Widerstand gegen Unmenschlichkeiten wie auch korrumpiert durch die aktive Beteiligung am Unrecht, nur selten klar und eindeutig und trotz oftmals guten Willens nicht immer der Friedensbotschaft ihres Gründers Jesus Christus folgend.

Für die Schwierigkeit, eine Antwort auf die Frage nach der Stellungnahme der Kirchen zum Afghanistankrieg stehen zwei Hauptgründe:

Zum einen gibt es die kirchliche Äußerung schlechthin nicht, da wir es mit konfessionell unterschiedlichen Gemeinschaften zu tun haben, die zudem in sich noch einmal verschiedene Interpretationen abgeben.

Zum anderen erlebt die Öffentlichkeit im Verlauf der Debatte um Sinn, Zweck und Vertretbarkeit des Krieges wechselnde Darstellungen ganz unterschiedlicher Gruppierungen sogar in denselben Konfessionen.

Außerdem ist zumindest grob zu unterscheiden zwischen den offiziellen amtskirchlichen Verlautbarungen, in- und halboffiziellen Äußerungen einzelner Kirchenvertreter/innen und den zahlreichen Friedensinitiativen, -bewegungen und -organisationen mit kirchlichem bzw. christlichem Hintergrund.

Damit entsteht oft auch ein Spannungsfeld zwischen der Friedenspolitik der amtlich-offiziellen Kirchen und den Gewissensentscheidungen der einzelnen Christen – nicht nur in der Afghanistanfrage.

Zwischen biblischem Fundament und kirchlicher Kriegsethik und Kriegslogik

Zwar werden in den verschiedenen, sehr heterogenen Texten des Alten Testaments mit seiner mehr als tausendjährigen Schrifttradition Kriege auch als Heilige Kriege des Volkes Gottes verstanden, aus denen auch kirchliche Vertreter immer wieder ihre Rechtfertigung des Krieges bezogen haben. Dagegen fehlt dem Neuen Testament (NT) eine direkte prinzipielle Beurteilung des Krieges. Allerdings übernimmt das NT das Verständnis des alttestamentlichen Heiligen Krieges nicht, sondern konstatiert die militärische Macht eher als Faktum. Doch geht aus der Gesamtsicht der Worte und Taten Jesu wie seiner Anhänger hervor, dass Krieg, in dem es um zwischenmenschliche Gewalt, um Macht und Profit geht, nicht zu rechtfertigen ist. Eindeutig sind Aussagen des NT zum Frieden, der von Gott ausgeht, von Jesus gelebt und verkündet, von den Aposteln und Jüngern in die Welt getragen und als Heilsgeschehen und Neuschöpfung verstanden wird. Aus diesem Verständnis heraus wird das Neue Testament in der Theologie auch als die Friedensbotschaft Gottes interpretiert.

Diese Friedensbotschaft erfuhr vor allem durch die Politisierung des Christentums im 4. Jh., in der Kirchenväterliteratur, durch die Religions- und Kirchenpolitik der Kaiser Konstantin I. und Theodosius I. etwa ab dem 4. Jahrhundert eine Wendung hin zur Akzeptanz des Militärdienstes. Augustinus (354 – 430) als Kirchenlehrer und als Bischof von Hippo verlieh diesem Trend durch seine Bejahung des gerechten Krieges im 4. Jahrhundert lehrhaften Charakter. Biblische Orientierungen werden nunmehr ergänzt durch Anstöße aus einer griechisch-römisch geprägten Naturrechtslehre: Die Maßgabe durch die staatliche Obrigkeit, die Zielsetzung für das Allgemeinwohl, für Frieden und Gerechtigkeit, die Bestrafung schwerer schuldhafter Verbrechen, die Einschränkung auf die äußerste Notwendigkeit und letztlich das Motiv der Liebe in der Idee von der gerechtfertigten Verteidigung des Einzelnen wie der Gemeinschaft werden als Kriterien genannt, die es auch den Christen erlaubt, an einem gerecht genannten Krieg teilzunehmen bzw. ihn zu führen.

U. a. diese Kriterien dienten der ideellen ethisch-moralischen Unterfütterung eines neuen kirchlichen Machtverständnisses. Denn während im NT und bei den frühchristlichen Gemeinden der Friede als das entscheidende Charakteristikum der Botschaft Jesu, als die unmittelbare Konsequenz aus der Liebe und damit als ein tragender Grundwert verstanden wurde, wird in den Kirchenleitungen des Staatskirchentums der Friede zum zweckbestimmten politischen und ökonomischen Handlungs- und damit auch zu einem möglichen Kriegsziel. Dies belegen nicht nur die oft zitierten Kreuzzüge, sondern aktive Beteiligungen von Christen und ihren Kirchen an den verschiedensten Kriegen bis in die Gegenwart hinein. Auch die Positionen der beiden großen Kirchen in Deutschland zum Afghanistankrieg zeugen von den Nachwirkungen dieser Kriegs- und Friedensideologien eines staatstragenden obrigkeitlich geprägten Kirchenchristentums, auch wenn offiziell der Rückgriff auf die Lehre vom gerechten Krieg inzwischen verbal verworfen wird.

Unter dem Eindruck der Weltkriegsereignisse entwickelten sich nach 1945 allerdings differenziertere und kritischere Positionen zum Krieg und ausgeprägte Friedensethiken, die ebenfalls die verschiedenen Stellungnahmen zum Afghanistankrieg mit bestimmen.1

Kirchliche kriegs- und friedensethische Wirrungen zum Afghanistankrieg

Wer also nach der kirchlichen bzw. katholischen oder evangelischen Position zum Afghanistankrieg schlechthin sucht, steht vor einer Vielzahl heterogener christlicher Aussagen, die sich grob einteilen lassen:

Nach den offiziellen Amtskirchen, wie z.B. der deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, die sich als die legitimen Vertreter ihrer Mitglieder verstehen. Zwar sind bei ihnen konfessionelle Unterschiede erkennbar, dennoch ist sowohl von katholischer wie von evangelischer Seite in der Afghanistanfrage – selbst bei Bedenken gegen den Bundeswehreinsatz – überwiegend, bis auf wenige Ausnahmen, eine moderate und teilweise zustimmende Haltung gegenüber der gegenwärtigen Politik der Bundesregierung erkennbar.

Nach den klaren Befürwortern von ISAF und damit auch des Bundeswehreinsatzes. Das sind sowohl verschiedene Vertreter/innen der Amtskirchen und den sich christlich nennenden politischen Parteien, aber auch einzelne Christen oder christliche Gruppen, die sich aus unterschiedlichen Motiven einem militärischen Einsatz verschreiben.

Nach den militärkritischen und pazifistischen christlichen Gruppen unterschiedlicher Couleur, die sich als unterschiedliche Friedensgruppen, -initiativen, und -organisationen – wie z.B. Pax Christi (katholisch und ökumenisch), dem Internationalen Versöhnungsbund (ökumenisch) oder der Aktion Sühnezeichen (evangelisch) – mit deutlicher Kritik und Ablehnung gegen den ISAF- und besonders gegen den Bundeswehreinsatz wenden.

Beschränkt man sich hier aus redaktionellen Gründen auf kirchenoffizielle Verlautbarungen, so fallen unter den zahlreichen Äußerungen zur Erlaubtheit, zu Sinn und Zweck des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr bzw. des Afghanistankrieges überhaupt, besonders vier öffentliche kirchliche Stellungnahmen ins Auge, die in kurzer Folge im Januar 2010 abgegeben worden sind. Sie stehen ganz offensichtlich einerseits unter dem Eindruck der Bombardierung der Tanklastzüge am 4. September 2009 bei Kundus, bei der mehr als 140 Menschen, darunter auch Zivilisten, ums Leben kamen, andererseits im Sog der politischen Auseinandersetzungen zum Gesamtkomplex Afghanistan selbst:

Von evangelischer Seite verlauteten

Worte der damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und hannoverschen Landesbischöfin Margot Käßmann zum Krieg in Afghanistan in ihrer Neujahrspredigt vom 1. Januar (Dok.. 1)2 und

das »Evangelische Wort zu Krieg und Frieden in Afghanistan – Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen« der EKD vom 25. 1. 2010, unterzeichnet von der Ratsvorsitzenden Käßmann, deren Stellvertreter Präses Nikolaus Schneider, dem Landessuperintendent und Evangelischen Militärbischof Martin Dutzmann, und dem Schriftführer Renke Brahms, Friedensbeauftragter der EKD (Dok. 2)3.

Aus der katholischen Kirche kamen

der Gastbeitrag »Afghanistan braucht Frieden« des Vorsitzenden der katholischen deutschen Bischofskonferenz, des Freiburger Erzbischofs Robert Zollitsch, in der Frankfurter Rundschau vom 15. Januar (Dok. 3)4 und,

die Stellungnahme des Fuldaer Bischofs und Präsidenten der katholischen Friedensbewegung Pax Christi, Heinz Josef Algermissen, »Mut zur Wahrheit: Der Militäreinsatz ist gescheitert« vom 19. Januar (Dok. 4)5.

Margot Käßmanns kurze Predigtpassage „Nichts ist gut in Afghanistan“ (Dok. 1) benennt die Gegensätzlichkeiten klar wertend: Sie lehnt die „Logik des Krieges“, den „Pragmatismus der Waffen“ und die bewusste Inkaufnahme der Tötung auch von Zivilisten ab und setzt dagegen die Forderung nach mehr „Fantasie für den Frieden“: „Wir brauchen Menschen, die … ein klares Friedenszeugnis in der Welt abgeben!“ Dass Käßmanns Predigtworte eine derart starke bestätigende wie ablehnende Resonanz in der Öffentlichkeit erfuhren und von ihr selbst später wiederholt worden sind, hat seinen Grund u. a. wohl darin, dass eine Kirchenvertreterin hier mit der Tradition der positiven Haltung gegenüber einem Krieg mit deutscher Beteiligung von evangelischer Seite gebrochen hat. Sie verschafft damit zugleich der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung Gehör, die Bedenken gegen den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr äußern. Zugleich votiert sie gegen die offizielle Afghanistanpolitik von Bundesregierung und Bundestag, die von der Mehrheit der Medien bis dahin unterstützt wurde

Das gut drei Wochen später erscheinende »Evangelische Wort zu Krieg und Frieden in Afghanistan« (Dok. 2) unter Beteiligung von Margot Käßmann bringt allerdings eine Kehrtwende und fällt zurück in die bekannte kirchliche Bestätigung militärischer Gewalt zu Gunsten eines ethisch vertretbaren „gerechten Friedens“. Darunter verstehen die evangelischen Kirchenoberen, unter ihnen der evangelische Militärbischof, dass zum Aufbau einer Zivilgesellschaft in Afghanistan die Hilfsorganisationen nur beteiligt werden sollen, und zwar neben dem militärischen Einsatz. Das bedeutet die Unverzichtbarkeit des militärischen Engagements, das nach Meinung der Autoren/in „erste Erfolge“ zeitige und den Sinn und Zweck zivil-militärischer Kooperation bestätige: „Das zivile und das militärische Handeln müssen aufeinander bezogen und zugleich voneinander unterschieden sein.“ Die „Intervention mit militärischen Zwangsmitteln“ … mit „klaren Strategien und Zielen“ und „nüchtern“ kalkulierten „Erfolgsaussichten“ in diesem »Evangelischen Wort« lassen den gerechten Krieg wieder anklingen (s. u. zur EKD-Denkschrift von 2007) – auch wenn immer wieder Bedenken gegen die Inkaufnahme von Opfern geäußert werden. Damit kippt die kriegskritische Haltung in der Neujahrspredigt von Margot Käßmann zu Gunsten einer Sympathie für militärische Einsätze.

Der Beitrag des katholischen Erzbischofs Zollitsch (Dok. 3) propagiert eine gewaltkritische, aber eben keine gewaltfreie Ethik. Zwar fordert Zollitsch „Gewaltüberwindung und Gewaltlosigkeit“, plädiert für den gerechten Frieden, um im selben Atemzug jedoch herauszustellen: „In diesem Zusammenhang kann militärischem Handeln unter gewissen Voraussetzungen eine Gewalt eindämmende und damit eine für eine gewisse Zeit notwendige Rolle zufallen.“ Also auch in diesem katholischen Dokument eine klare Positionierung für die kriegerische Gewalt des Militärs und damit auch für die Inkaufnahme von Opfern, wenn auch unter strengen moralischen Auflagen. Bezeichnend ist, dass Zollitsch sich auf eine katholisch-amtskirchliche Verlautbarung beruft, in der Anklänge an die Ideologie des gerechten Krieges zu finden sind (s. u. zum Bischofswort von 2000).

Deutlich heben sich davon die Äußerungen des Fuldaer Bischofs und Präsidenten von Pax Christi, Heinz-Josef Algermissen, ab (Dok. 4): Er kommt zu der klaren Einsicht, dass der Militäreinsatz in Afghanistan gescheitert ist, und mahnt dessen Beendigung an, sieht die Bundesregierung aber bei der damaligen Londoner Afghanistankonferenz vom 28. Januar unter dem Druck der Bündnispartner, weiterhin militärisch zu agieren. In seiner Rolle als Pax-Christi-Präsident und gleichzeitiger Bischof von Fulda fordert Algermissen: „den schrittweisen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan …, regionale Waffenstillstandsvereinbarungen …, die Aufstockung der zivilen Hilfe für den staatlichen und gesellschaftlichen Aufbauprozess um mindestens den Betrag, der durch den Abzug der Truppen frei wird, … den Ausbau der Projekte des zivilen Aufbaus, die dazu beitragen, die aktive Beteiligung von Frauen am politischen und sozialen Leben zu unterstützen und zu fördern, die Unterstützung der regionalen wirtschaftlichen Entwicklung, um Alternativen zu Drogenanbau, Kriminalität und Kriegsökonomie zu schaffen … (und) die Förderung des Dialogs auf allen Ebenen – mit Taliban ebenso wie mit anderen Gruppierungen der afghanischen Opposition zur Zukunftsgestaltung des Landes.“ Damit nimmt Algermissen eine klare kritische Haltung gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan ein, wie sie ursprünglich Käßmann vertreten, aber offensichtlich unter innerkirchlichem Druck mindestens teilweise wieder aufgegeben hat. Allerdings vermeidet Algermissen grundsätzliche friedensethische und kriegskritische Überlegungen.

Diese exponierten Äußerungen höchster kirchlicher Amtsträger sind aber immer im Zusammenhang mit den kirchenoffiziellen Verlautbarungen zu sehen. Denn beide Großkirchen, auch wenn sie den gerechten Krieg als politisches Leitbild ablehnen und für den gerechten Frieden plädieren, befürworten grundsätzlich den begrenzten Kriegseinsatz:

Margot Käßmann bezieht in ihrer Neujahrspredigt noch entschieden Stellung gegen den Afghanistankrieg. Doch nimmt sie zusammen mit ihren Amtskollegen – darunter dem Militärbischof Martin Dutzmann mit dem ganzen Gewicht seiner Funktion – die wesentlichen Argumente gegen den Militäreinsatz weitgehend zurück. Das erscheint amtskirchlich korrekt. Denn sie folgt damit amtskonform der Denkschrift ihrer Kirche von 2007, die »ius in bello«, also Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit der Mittel im Krieg, fordert. Diese Argumentation in einer komplizierten und nicht unbedingt allgemein verständlichen Diktion ist zwar noch nicht die explizite Befürwortung des gerechten Krieges, bedeutet aber de facto, dass ein Krieg zumindest phasenweise »gerecht« geführt werden kann, d. h. mit dem Ziel eines »gerechten Friedens« – also eine klare Rechtfertigung des Krieges.6

Die deutschen katholischen Bischöfe beziehen in ihrem Bischofswort »Gerechter Friede« von 2000 eine ähnliche Position. Sie bejahen Bundeswehr und NATO und rechtfertigen begrenzte militärische Einsätze nach strengen rechtlichen sowie ethischen Regeln. Damit behält die Lehre vom gerechten Krieg, wenn auch in deutlich abgeschwächter Form, auch hier ihre Gültigkeit, ähnlich der offiziellen evangelischen Linie. Dem folgt ausdrücklich Robert Zollitsch unter bewusster Bezugnahme auf dieses Bischofswort, während Algermissen ein solches Rechtfertigungsdenken des kriegerischen Bundeswehreinsatzes für Afghanistan nicht ausdrücklich erwähnt.7

Dieses Denken bestätigte der katholische Militärgeneralvikar Wakenhut am 24. April in der Trauerfeier für die in Afghanistan gefallenen Soldaten, die mit ihrem Einsatz und Tod dafür „Verantwortung übernommen“ hätten, „dass Menschenwürde und Menschenrecht gewahrt bleiben, nicht nur in Afghanistan, sondern auf der ganzen Welt“. Er belegt und begründet diesen tödlichen Militäreinsatz in einer militaristischen Bibelinterpretation mit dem Jesuswort aus dem Schluss des Matthäusevangelium, „zu allen Völkern“ zu gehen und sie „zu Jüngern“ zu machen: „Und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich Euch geboten habe.“ – ein makabres Verständnis der Nachfolge Jesu in Form von Kriegsbereitschaft.8

Die offiziellen Kirchenvertreter stehen somit in der Gefahr, mit ihren Begründungsformeln für bestimmte Gewalt- und Kriegsformen die fortschreitende Militarisierung in Deutschland, in Europa und weltweit mit zu fördern. Doch die Diskussionen um die kirchlichen Positionen zu Afghanistan gehen weiter. Die verschiedenen christlichen Initiativen können dafür sorgen, dass der Strom der Kritik an ISAF, am Bundeswehreinsatz in Afghanistan und global nicht abreißt.

Perspektiven einer christlich-kirchlichen Friedensethik zu Afghanistan

Trotz der großen Spannweite christlich-kirchlicher Positionen könnten sich doch Grundzüge einer Art »christlichen Afghanistanethos« für einen gerechten Frieden herausarbeiten lassen. Leitorientierung bieten dafür zwei Faktoren. Denn unabdingbar für jede humane Befriedung und für die Beendigung aller gewalttätigen Konflikte sind:

Zum einen die biblischen Prinzipien der Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit, an die sich alle Christen unabhängig von ihrer politischen Tradition und von ihrer Zugehörigkeit zu Kirchen, Parteien, Organisationen und Vereinen halten müssten. Sie zeigen sich in Solidarität, Dialog, Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit gegenüber allen Menschen – unter Verzicht auf egoistische Interessen.

Zum anderen die konsequente, bedingungslose und ausdrückliche Abkehr von Theorie und Praxis des »gerechten Krieges« hin zum Leitbild des »gerechten Friedens«. Sie zeigt sich nicht nur in bloßer Abwesenheit von Gewalt und Krieg, sondern in einem konkreten Friedensprogramm, im fairen Ausgleich von friedensbedrohenden Gegensätzlichkeiten und im Verzicht auf gewalttätige Konfliktlösungen und eigene Machtinteressen.

Aus christlich-kirchlicher Sicht könnten auf Afghanistan übertragen diese Kernaussagen und Grundhaltungen den Weg zum Frieden weisen:

Gerade die Kirchen müssten bestimmte Formen der Zusammenarbeit mit Politik und Wirtschaft auf Friedfertigkeit hin kritisch überprüfen und zu Gunsten eines zivilen Krisen- und Konfliktmanagements und eines gerechten Friedens hin korrigieren, ggf. auch bewusst im Gegensatz zu allen Macht- und Profitinteressen.

Damit müssten die Kirchen auch staatskirchenähnliche Kooperationsformen aufgeben, die der Rechtfertigung sog. gerechter oder angeblich noch akzeptabler Kriegsoperationen dienen, und die Ächtung und das Verbot von Kriegen fordern.

Entsprechend dem Beispiel Jesu müssten die christlichen Kirchen – ggf. auch in Auseinandersetzung mit den staatlichen Organen – Stellung für das Wohl und das Heil der Menschen im Allgemeinen und konkret im Fall Afghanistan im Sinne eines zivilen gewaltfreien Krisenmanagements und einer mitmenschlichen Entwicklungshilfe beziehen.

Gefordert ist generell der Dialog mit anderen Religionen in allen Konflikt- und Friedensfragen, für und in Afghanistan vor allem mit dem Islam.

Friedensfördernd wäre der Abzug der fremden Truppen aus Afghanistan, die Stärkung und Förderung ziviler einschließlich kirchlicher Hilfsorganisationen, u. a. durch die mit dem Truppenabzug frei werdenden Mittel.

Anmerkungen

1) Dazu Ulrich Frey: Von der »Komplementarität« zum »gerechten Frieden«. Zur Entwicklung kirchlicher Friedensethik. In: Wissenschaft & Frieden 4 / 2006

2) http://www.ekd.de/predigten/kaessmann/100101_kaessmann_neujahrspredigt.html

3) http://www.ekd.de/aktuell/68687/html

4) http://www.katholische-kirche.de42291/html

5) http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/ bewegung/afgh/algermissen.html

6) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 2007, u. a. Nr. 64 – 109

7) Die deutschen Bischöfe: Gerechter Friede. Bonn 2000, u. a. Nr. 137-144; 153-161

8) http:/www.katholische-militärseelsorge.de/uploads/media/Ansprache_zur_Trauerfeier_ in_Ingolstadt.pdf

Dr. Dietrich Bäuerle ist Politikwissenschaftler und katholischer Theologe, Mitglied der Pax-Christi-Kommission Friedenspolitik

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Friedenspolitik kirchlicher NGOs in Deutschland

von Ulrich Frey

Der Staat zeigte in Deutschland – in der alten Bundesrepublik, in der DDR und in der vereinigten Republik – sehr ungleiche Gesichter. Kriegsdienstverweigerung, Militärsteuerverweigerung, Protest gegen atomare Rüstung, Bausoldaten, »Wehrerziehung«, Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«: Diese Stichworte legen die Frage nahe, ob und wie kirchliche NGOs mit dem Staat zusammenarbeiten sollen oder können. Leitende Maximen dieses wechselseitigen Verhältnisses sind »ecclesia semper reformanda« (Die Kirche ist immer reformationsbedürftig) und »societas semper reformanda« (Die Gesellschaft ist immer reformationsbedürftig). Mit dem Cardoso-Report1 werden in diesem Beitrag die weltweit und national agierenden Kirchen als NGOs behandelt, weil sie sowohl als verfasste Kirchen als auch in Form »reiner« NGOs ihrer Mitglieder geeignet sind, Lücken zwischen einer sich schnell globalisierenden Politik und den stagnierenden politischen Institution auf nationaler oder lokaler Ebene zu füllen.

Allgemeine Grundlagen kirchlicher Friedensarbeit

Christenmenschen evangelischer Konfession (und wohl auch solche anderer Konfessionen) in kirchlichen NGOs und in verfassten Kirchen bestimmen sich „in ihrer Kirche als eine eigenständige gesellschaftliche Kraft“. Sie betonen die „Freiheit zur Verantwortung“, wohin „sie sich als Christen gestellt fühlen“.2 Dass der Staat in der demokratisch geordneten alten und neuen Bundesrepublik und der real-sozialistischen früheren DDR den Christenmenschen unterschiedlich begegnete, berührt das gemeinsame Grundverständnis von Christen in Deutschland nicht. Die evangelische Kirche „vertritt aus Gründen des Glaubens keine abstrakte, allgemeine Staatstheorie.“ Zu unterscheiden ist zwischen dem „geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Auftrag des Staates“ als der „bleibenden Voraussetzung für die Bereitschaft zur Demokratie.“ Die Demokratie ist keine „christliche Staatsform“, hat aber innere Beziehungen zu den theologischen und ethischen Überzeugungen des christlichen Glaubens. Christen sind in diesem Sinne aufgerufen, in Verantwortung „der Stadt Bestem“ (Jeremia 29,7) zu wirken. Die Ordnungsaufgabe des Staates ist es, „Recht zu schützen, Frieden zu wahren, dem Bösen zu wehren und das Gute zu fördern.“ Um dieser Aufgabe willen kann nach Römer 13,1 der „Staat als Obrigkeit in erster Linie Gehorsam verlangen – sowie der Staat selbst zum Gehorsam vor Gott berufen ist. Eine Pflicht zum Widerspruch und zum (gewaltlosen) Widerstand haben die Reformatoren dann als gegeben angesehen, wenn der Staat in die Freiheit des Glaubens eingreift.“ 3 Deshalb hat sich die Bekennende Kirche in der 5. These der Theologischen Erklärung von Barmen (1934), heute eine evangelische Bekenntnisschrift, gegen den totalen Anspruch der nationalsozialistischen Diktatur gestellt: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“ Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, die die geistliche Linie der evangelischen Kirche nach 1945 wesentlich prägten, waren existenzielle Zeugen solchen Widerstandes. Die Bergpredigt (Mattheus 5 – 7) orientiert Christenmenschen auf ihr friedenspolisches Aktionsprogramm hin.

Kirchliche friedenspolitische Arbeit in der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) wurde 1949 als »sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern« gegründet. Sie war nach Art. 1 der Verfassung vom 6.4.1968 „die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Joachim Garstecki, langjähriger Studienreferent für Friedensfragen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (Bund), fasst zusammen: „Die evangelischen Kirchen in der DDR haben die politischen Rahmenbedingungen ihres Kirche-Seins in der DDR angenommen als Platz, an den Gott sie gestellt hat und an dem er etwas von ihnen erwartet. Die DDR war zum gesellschaftlichen, geistlichen und politischen Ort geworden, an dem sie als Kirchen lebten und ihr Zeugnis und ihren Dienst zu bewähren hatten. Dazu gehörte auch das kirchliche Friedenszeugnis. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich – und das war seit der EKD-Synode von Weißensee 1950 Konsens – auf einen kirchlichen Friedensbeitrag, der die traditionelle Ethik des gerechten Krieges hinter sich lässt und auf eine Ethik des Friedens im eigentlichen Sinne des Wortes ausgerichtet ist. Also nicht mehr das überkommene ‚Si vis pacem, para bellum‘, sondern ‚Si vis pacem, para pacem!‘ Dass die DDR-Kirchen in einer kommunistischen Diktatur, unmittelbar an der Konfrontationslinie von Warschauer Pakt und NATO, lebten, bedeutete nicht, dass sie ihre Friedensverantwortung umständehalber hätten suspendieren können. Das verbot sich allein schon angesichts der ständigen Gefährdung durch das militärische Drohsystem der atomaren Abschreckung zwischen Ost und West, das Frieden durch ein ‚Gleichgewicht des Schreckens’ zu sichern suchte und in das die DDR im Rahmen des Warschauer Vertrages eingebunden war. Aus dieser Einbindung resultierte eine hochgradige Militarisierung der DDR-Gesellschaft.“ 4 Weil die DDR-Verfassung 1968 die Mitgliedschaft der DDR-Kirchen in der EKD verbot, wurde im Jahre 1969 der Bund gegründet und damit die kirchliche Einheit mit der EKD formal aufgegeben. Inhaltlich bestand sie weiter. Das Verhältnis der evangelischen Kirchen zum SED-Staat prägte die Bundessynode 1971 mit der Formel „Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Sozialismus sein.“ Auf dieser unterschiedlich interpretierten Grundlage nahm der Bund seine Friedensarbeit unabhängig vom Staat DDR wahr. Sie wurde im Einzelnen spezifiziert durch ein Gespräch zwischen dem Vorsitzenden der Konferenz der Kirchenleitungen, Landesbischof Albrecht Schönherr und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am 6.3.1978.5 Unter dem kirchlichen »Dach« wirkten auch die im Westen bekannten Friedensgruppen. Das wichtigste Ergebnis kirchlicher Friedensarbeit in der DDR war die das SED-Regime systemüberwindende gewaltfreie »friedliche Revolution« 1989, zu dem die Kirchen in der DDR, wesentlich die evangelischen Kirchen, beigetragen haben.6

Kirchliche friedenspolitische Arbeit in der BRD

In der alten und neuen Bundesrepublik hatten bzw. haben es Kirchen und kirchliche NGOs wesentlich leichter, Friedenspolitik gesellschaftlich und politisch eigenständig zu betreiben. Das Grundgesetz begrenzt staatliche Machtausübung durch die Grundrechte u.a. der Meinungs- und Gewissensfreiheit, der Versammlungsfreiheit und des Demonstrationsrechtes. Art. 140 GG garantiert die kirchliche Unabhängigkeit. Der 5. Barmer These entspricht das Grundgesetz in Art. 20 (4), wenn es festschreibt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Vom Widerstand zu unterscheiden ist die Bekämpfung „einzelner politischer Sachentscheidungen des Parlaments oder der Regierung“ durch „demonstrative zeichenhafte Handlungen“ bis hin zu Rechtsverstößen aus Gewissensgründen z.B. als ziviler Ungehorsam. Solche Handlungen müssen „als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernst genommen werden.“ 7 Die Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985 thematisiert schon ansatzweise die Herausforderungen, die die Gesellschaft, der Staat und die Staatengemeinschaft bisher nicht steuern konnte, so die „Ambivalenz wissenschaftlich-technischer Entwicklung“ (z.B. Kernenergie), ökonomische Probleme, die „beispiellose Hochrüstung in Friedenszeiten und die Strategie der nuklearen Abschreckung“.8 Die neuen sozialen Bewegungen bewertet die Denkschrift 1985 nur als „Indikatoren der globalen Überlebensprobleme“. „Sie bilden gewissermaßen deren Schatten: die Friedensbewegung, die Umweltschutzbewegung, die Anti-Kernkraftbewegung, die entwicklungspolitischen Aktionsgruppen und die Frauenbewegung.“ 9 Die Begriffe »Zivilgesellschaft« und »Netzwerke« als Synonyme für die Fortentwicklung von Formen demokratischer Partizipation diskutiert die Denkschrift noch nicht. Tatsächlich sind Aktivitäten der Zivilgesellschaft heute aber nicht nur Indikatoren einer Entwicklung, sondern sie haben auch konkrete gestaltende Funktionen, wie z.B. die Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen und die Anwaltschaft für Frieden und Menschenrechte.10 In ihrem »Gemeinsamen Wort zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens« rufen der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz Christinnen und Christen aus „politisch-diakonischer Verantwortung und seelsorgerlichem Auftrag“ dazu auf, „ihre Verantwortung zu erkennen und wahrzunehmen und die bestehenden Handlungsspielräume im notwendigen Umfang zu nutzen“, besonders als Bürgerinnen und Bürger, bei Wahlen, in der Politik, im Journalismus und im Verbandswesen.11

Konkretisierung von Friedenspolitik

An ausgewählten Beispielen soll die kirchliche friedenspolitische Auseinandersetzung mit dem Staat skizziert werden. Weitreichende gesellschaftliche, politische und rechtliche Folgen auf beiden Seiten im Sinne eines »semper reformanda« sind das Ergebnis.

Gewissensentscheidungen

Schon im Parlamentarischen Rat kam es bei der Debatte um die Einführung des Art. 4 Abs. 3 zu einer Kontroverse zwischen Theodor Heuß und Fritz Eberhard. Heuß beschwor die Gefahr eines „Massenverschleißes des Gewissens“ im Falle der Einführung der Kriegsdienstverweigerung. Eberhard hielt dem entgegen: „Ich glaube, wir haben hinter uns einen Massenschlaf des Gewissens. In diesem Massenschlaf des Gewissens haben die Deutschen zu Millionen gesagt: Befehl ist Befehl, und haben daraufhin getötet. Dieser Absatz kann eine große pädagogische Wirkung haben, und wir hoffen, er wird sie haben. …“12 Als die Bundesrepublik und die DDR 1949 gegründet wurden, diskutierte die Öffentlichkeit nach den traumatischen Erfahrungen des 2. Weltkrieges heftig eine denkbare Wiederbewaffnung. Als dann die Bundeswehr 1955 nach dem Beitritt zur NATO (1954) entstand, erhob sich auch die Frage, ob und wie eine Verweigerung des Kriegsdienstes im Einzelnen auf der Grundlage des Art. 4 Abs. 1 und 3 GG geregelt werden sollte. Die EKD beschloss in dem Ratschlag zur Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer 1955: „Die evangelische Kirche muss daran erinnern, dass für den evangelischen Christen die Stimme des Gewissens in einer konkreten Lage vernehmbar wird und nicht an allgemeinen Maßstäben zu messen ist. Wenn der Staat, eingedenk dessen, dass es nicht das Amt des menschlichen Richters ist, über das Gewissen zu urteilen, objektiv feststellbare Momente für die Anerkennung der Haltung des Kriegsdienstverweigerers fordert, sollte doch das staatliche Gesetz die Möglichkeit offen lassen, auch der konkreten Gewissensentscheidung im Einzelfall eines unlösbaren Gewissenskonfliktes Raum zu gewähren. … In der weitherzigen Rücksichtnahme auf die Gewissensnot gewährt der Staat die Gewissensfreiheit, der er in Art. 4 Abs. 1 GG 13 besonderen Schutz zugesagt hat.“ Die EKD forderte gesetzliche Bestimmungen für Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen für die »prinzipiellen Verweigerer« und für die »aktuellen Verweigerer«.14 Diese doppelte Forderung wurde von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK), der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer sowie von den Friedensdiensten der Aktionsgemeinschaft Dient für den Frieden (AGDF) nachhaltig vertreten. In der Praxis der Anerkennungsverfahren wurden Verweigerer aber nur nach Art. 4 Abs. 3 auf Antrag anerkannt, wenn „sie hier und heute jeden Kriegsdienst mit der Waffe ablehnen oder gehorchen“.15 Die situative Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 1 – ohne Gesetzesvorbehalt wie in Art. 4 Abs. 3 – schloss die Rechtsprechung in der Bundesrepublik zunächst grundsätzlich aus. Das führte zu schweren Belastungen der Antragsteller, weil sie nur als prinzipielle Verweigerer anerkannt werden konnten, wenn auch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung in Reaktion auf Kritik daran allgemein eingeräumt hat, „die Gewissensentscheidung (sei) wesenhaft immer ‚situationsbezogen‘“.16 Erst das unanfechtbare Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. Juni 2005 zum Freispruch des Majors Pfaff (BVerwG 2WD 12.4)17 ermöglicht zweifelsfrei die situative (= partielle) Kriegsdienstverweigerung, die die EKD schon 1955 gefordert und immer wieder angemahnt hatte. Die EKD stimmte dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zu.18 Das Gericht klärte auch unmissverständlich, die situative Verweigerung nach Art. 4 Abs. 1 werde nicht durch diejenige nach Art. 4 Abs. 3 GG verdrängt, auch nicht aus dem Gesichtspunkt der „Funktionsfähigkeit der Streitkräfte“ nach den wehrverfassungsrechtlichen Vorschriften des GG, weil die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr nicht das höchste Staatsgut sei. Das ist, wie das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr feststellt, „von erheblicher politischer Bedeutung“, weil ein Soldat, dem der Missbrauch des Grundrechtes nach Art. 4 Abs. 1 nicht vorgeworfen werden kann, auch nicht wegen Ungehorsam belangt werden kann. Das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr sieht das »letzte Wort« über das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes noch nicht gesprochen, wonach die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr eine „normative Größe in der Grundrechtsdogmatik“ ausmacht (BVerfG-2 BvR 71/07).19

In der DDR gab es keine Grundrechte wie die des Grundgesetzes. 1962 war in der DDR die Wehrpflicht eingeführt worden – ohne das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und ohne zivilen Wehrersatzdienst wie nach Art. 4 Abs. 1 und 3 im Westen Deutschlands. Bis zum Frühjahr 1964 hatten über 1.500 junge Männer die Einberufung in die nationale Volksarmee (NVA) unter Berufung auf ihr Gewissen verweigert.20 Auf Drängen der Kirchen beschloss der Nationale Verteidigungsrat der DDR am 7.9.1964 die »Anordnung über die Aufstellung von Baueinheiten innerhalb der NVA« für die Verweigerer, die den Dienst „aus Glaubens- und Gewissensgründen“ ablehnten. Sie hatten 18 Monate waffenlosen Soldatendienst innerhalb der Armee zu leisten. Erst ab 1.3.1990 war ein Zivildienst erlaubt. Prominente Bausoldaten waren z.B. Rainer Eppelmann, letzter Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR und Wolfgang Tiefensee, Bundesminister a.D. Um in der speziellen Situation der DDR qualifiziert friedensethisch sprechen und beraten zu können, insbesondere zu Gewissensentscheidungen über die Alternativen (bewaffneter Dienst in der NVA oder Bausoldatendienst bzw. ‚ungesetzliche‘ Totalverweigerung), verfassten die evangelischen Kirchenleitungen in der DDR 1965 eine »Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen« unter dem Titel »Zum Friedensdienst der Kirche«. Darin hoben sie die Verweigerung des Waffendienstes als Totalverweigerer oder als Bausoldat als Ausdruck und Teil des der ganzen Kirche aufgetragenen Friedensdienstes hervor. Der Waffenverzicht der Totalverweigerer und der Bausoldaten sei nicht nur eine „mögliche christliche Handlungsweise“, sondern „ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn.“ Das stand im deutlichen Gegensatz zu der von den Kirchen in Westdeutschland vertretenen Position der »Komplementarität« vom Dienst an der Waffe und Waffenverzicht nach der 6. und 7. Heidelberger These, die aber von den dortigen Kriegsdienstverweigern und ihren Organisationen bestritten wurde.21

Ziviler Ungehorsam

Viele Menschen aus der Friedensbewegung, unter ihnen zahlreiche Christen und Christinnen, haben durch zivilen Ungehorsam, z.B. durch Aufrufe und Blockaden, ihrem Protest gegen Rüstung, Nachrüstung und Atomwaffen Nachdruck verliehen. Ziviler Ungehorsam ist eine gewaltfreie, öffentliche, symbolische, gesetzwidrige Protesthandlung, die im Rahmen einer relativ gerechten Ordnung aus Gewissensgründen oder um universalisierbarer politischer Ziele willen erfolgt und die Bereitschaft einschließt, für ihre rechtlichen Konsequenzen einzustehen.22

Strafgerichte haben jahrelang Sitzdemonstrationen, z.B. an Raketen-Stationierungsorten wie in Mutlangen, als Form des Protestes gegen die atomare Nachrüstung als »Gewalt« wegen Nötigung (§ 240 Strafgesetzbuch StGB) angesehen und Blockierende regelmäßig verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10.1.1995 (u.a. 1 BvR 718/89) entschieden, solche Sitzdemonstrationen seien grundsätzlich nicht nach § 240 StGB strafbar, weil das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG durch die „erweiterte Auslegung des Gewaltbegriffs“ in § 240 Abs. 1 StGB verletzt würde. Der Begriff »Gewalt« ist von den Strafgerichten kontinuierlich ausgeweitet worden. Über den unmittelbareren Einsatz körperlicher Kräfte hinaus wurde es auch als Gewalt angesehen, wenn der Täter nur mit geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozess beim Opfer in Lauf setzt, sodass dieses von der Durchsetzung seines Willens Abstand nimmt (Vergeistigung des Gewaltbegriffs). Dadurch wird nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes entgegen dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr voraussehbar, welches Verhalten verboten sein soll und welches nicht.23

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Sachen Pfaff hatte auch Folgen für die Strafbarkeit eines Aufrufes von Atomwaffengegnern an die Bundeswehrsoldaten des Jagdbombergeschwaders 33 (Büchel), der gegen die nukleare Teilhabe argumentiert und an das Gewissen der Soldaten appelliert. Dieser Aufruf ist nach dem Urteil des 1. Strafsenates des OLG Koblenz nicht strafbar.24

Nachrüstung

Der Beschluss der NATO vom 12.12. 1979, in Westeuropa amerikanische Pershing II-Raketen und Marschflugkörper (Cruise Missile) zu stationieren, wenn nicht durch Verhandlungen der Abzug sowjetischer SS-20 Raketen und neuer strategischer Flugzeuge der Sowjetunion verhindert werden könnten (Doppelbeschluss), verursachte eine bisher in Westeuropa einzigartige Mobilisierung gegen die atomare Rüstung und gegen die Regierungen, die diese Waffen einführen wollten. Akteure waren eine breite Friedensbewegung, weitgehend bestehend aus christlichen Gruppen und Organisationen, aber auch aus verfassten Kirchen.

Die Friedensbewegung hat die Verhandlungen über den Abbau von Raketen in Ost und West politisch unter Druck gesetzt und damit die Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur mitbestimmt. In den Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik, in der NATO und zwischen den Vormächten des Kalten Krieges, den USA und der Sowjetunion, mobilisierte die Friedensbewegung die Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft gegen die Nachrüstung. Die neuen Raketen sind zwar stationiert worden, wurden aber im Rahmen der »doppelten Null-Lösung« des INF-Vertrages von 1987 wieder abgebaut. Als „wichtigstes Verdienst“ attestiert Thomas Risse-Kappen der Friedensbewegung, eine „gründliche Veränderung der sicherheitspolitischen Kultur“ „erstmals seit den fünfziger Jahren“ angestoßen zu haben. „Die aufkommende Friedensbewegung war 1981 der eigentliche Grund, warum sich USA und NATO nach langem internem Streit auf den Vorschlag einer weltweiten Null-Lösung bei den weitreichenden Systemen einließen.“ 25 Dies hätte „ohne die Massendemonstrationen der neuen Friedensbewegung“ nicht geschehen können.26 Die Aktiven der Friedensbewegung demokratisierten auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie präsentierten »Gegenexperten«27 und wirkten durch fachliche Initiativen wie dem »Darmstädter Signal«, das die Auseinandersetzung unter dem Schutz der Grundrechte in die Bundeswehr hineintrug.28 Über Teile der SPD und die neu entstandene Partei der Grünen drang die Friedensbewegung tief in den parlamentarischen Raum vor. Die Mitglieder der Kirchen votierten zum allergrößten Teil gegen die Nachrüstung. Unabhängig davon diskutierte die Friedens- und Konfliktforschung die zerstörerischen Folgen von Abschreckungspolitik.29 Frieden bedeutete nicht mehr nur negativ die Abwesenheit von Krieg, sondern wurde positiv besetzt. Die Friedensbewegung hat schließlich einen großen Anteil an der Überwindung eines dumpfen Antikommunismus mit starren Freund – Feindbildern aus der Zeit des Kalten Krieges. Das Bundesverfassungsgericht sah in der Bonner Friedensdemonstration 1981 und der süddeutschen Menschenkette 1983 Beispiele für die Demokratie fördernde Ausübung des Demonstrations- und Versammlungsrechtes (Art. 8 GG).30 Für Helmut Schmidt, Bundeskanzler bis 1982 und Erfinder des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, war die Friedensbewegung allerdings nur eine „psychotische Bewegung, wesentlich verstärkt durch die Berichterstattung der Massenmedien.“ 31

Das Moderamen des Reformierten Bundes löste mit seinem »Nein ohne jedes Ja« zur Nachrüstung als einer Bekenntnisfrage eine scharfe theologische und friedensethische Debatte aus. „Angesichts der jeden Augenblick möglichen Katastrophe, angesichts der offenkundigen Bereitschaft politisch und militärisch Verantwortlicher, die Massenvernichtungsmittel in einem militärischen Konflikt einzusetzen, ja sogar den atomaren Erstschlag ins strategische Kalkül einzubeziehen, und angesichts der Abstumpfung und Gewöhnung vieler Menschen an das Leben am atomaren Abgrund ist die Friedensfrage zur Bekenntnisfrage geworden. Wie im Kirchenkampf die »Judenfrage« zur Bekenntnisfrage wurde, so stellt uns heute das Gebot des Bekennens in der Frage des Friedens und seiner Bedrohung durch die Massenvernichtungsmittel in den status confessionis, d.h. wir sehen uns unumgänglich herausgefordert, diese Frage als eine Frage des Glaubens und des Gehorsams im Hören auf die Schrift und in der Bitte um die Leitung des Heiligen Geistes klar und verbindlich zu beantworten, weil es in ihr um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.“ 32

Dagegen argumentierte die EKD auf der Grundlage der 8. Heidelberger These (1959): „Die Kirche muss die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch christliche Handlungsweise anerkennen.“ In ihrer Denkschrift von 1982 hält die EKD an dem »noch« fest, schränkt aber ein: „Allein, diese Handlungsweise ist nur in einem Rahmen ethisch vertretbar, in welchem alle politischen Anstrengungen darauf gerichtet sind, Kriegsursachen zu verringern, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbewältigung auszubauen und wirksame Schritte zur Senkung des Rüstungsniveaus zu unternehmen.“ 33 Im Jahre 2007 ist die EKD zu der Ansicht gelangt: „Die Tauglichkeit der Strategie der nuklearen Abschreckung ist jedoch in der Gegenwart überhaupt fraglich geworden. Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“ 34

Die christliche Friedensbewegung hat im Kampf gegen die Nachrüstung zentrale christliche Begriffe wie Schuld, Buße und Umkehr politisch erfahrbar gemacht:35

Schuld im Sinne Bonhoeffers als konkrete Schuld, in Solidarität mit dem konkreten Tod Christi am Kreuz – gegen die Sünde der Vergewaltigung der Schöpfung und die Verinnerlichung von Feindbildern in Gestalt eines traditionell geprägten christlichen Antikommunismus,

Buße im Vollzug der Verantwortung der Deutschen vor ihrer Geschichte in der Tradition des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.…Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Umkehr in Form paralleler Anstrengungen zur Unterstützung von Entspannungspolitik zwischen Ost und West und Bemühungen um Abrüstung in Ost und in West.

Christenmenschen in der Friedensbewegung haben die Kirche institutionell und personell erneuert. Friedenspfarrämter sind eingerichtet worden. Synoden haben zu Friedensfragen stattgefunden. Der Deutsche Evangelische Kirchentag 1983 in Hannover wurde durch die Kampagne »Nein ohne jedes Ja zu den Massenvernichtungswaffen« violett eingefärbt. Aktive der Friedensbewegung sind in die Kirchen eingewandert und haben dort Verantwortung übernommen.

Anmerkungen

1) United Nations, General assembly: We the peoples: civil society, the United Nations and global governance. Report of the Panel of Eminent Persons on United-Nations-civil Society Relations, A/58/817, 11.6.2004, S.13

2) Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh, 1985, S.9 ff

3) EKD aaO, S.15

4) Joachim Garstecki: Die Friedensarbeit der Kirchen in der DDR als Wegbereiterin der friedlichen Revolution, S.3, www.friedensdekade.de (Zugriff Juni 2010)

5) Honecker anerkannte das „eigenständige Wirken“ der DDR-Kirchen „als bedeutsamen Faktor des gesellschaftlichen Lebens heute und künftig“ an, Markus A. Weingardt: Religion Macht Frieden. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Kohlhammer, 2007, S.72

6) Markus A. Weingardt: Religion Macht Frieden. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Kohlhammer, 2007, S.67 ff; Reinhard Höppner, Wunder muss man ausprobieren. Der Weg zur deutschen Einheit, Aufbau-Verlag, 2009

7) EKD, aaO, S.22, 27

8) EKD, aaO, S.37

9) EKD, aaO, S.38

10) Siehe im Einzelnen: Thania Paffenholz: Civil Society an Peacebuilding, Summary of Results for a Comparative Research Project, The Centre on conflict, development and Peacebuilding, The Graduate Institute, Geneva, CCDP Working Paper Nr. 4, 2009, S.5, siehe auch den Cardoso Report (Anmerkung 1)

11) Kirchenamt der EKD/ Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg,): Demokratie braucht Tugenden, Gemeinsame Texte Nr. 19, Hannover/Bonn, 2006, S.46 f

12) Dieter Deiseroth: Gewissensfreiheit und Recht. Entwicklungen, grundrechtliche Dimensionen und konkrete Konfliktlagen, in: Betrifft JUSTIZ, Nr. 93, März 2008, S.228 ff., S.230

13) Art. 4 Abs. 1 GG: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Art. 4 Abs. 3: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Gewissensentscheidung als „jede ernste sittliche, das heißt an Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.“ (Deiseroth aaO, S.231, BVerfGE 45,54 (55), 48,127 (173 f))

14) Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (Hrsg.): NEIN zu Krieg und Militär, Ja zu Friedensdiensten, 2007, S.369 ff

15) Ulrich Finckh: Gewissen vor Befehl, in: Grundrechte-Report 2006, Frankfurt/Main, S.69

16) Deiseroth aaO, S.236 unter Bezug auf BVerfGE 69,1 (81 ff)

17) BVerwGE 127, 302 ff, EuGRZ 2005, 636; NJW 2006, 77,

18) Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland: Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Gütersloh, 2007, S.40 ff, Ziffer 65

19) Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr (Hrsg.): Friedensethik im Einsatz. Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr, Gütersloh, 2009, S.138 ff . Das Urteil wird vom Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) kritisch bewertet (Stefan Sohm: Vom Primat der Politik zum Primat des Gewissens?, Neue Zeitschrift für Wehrrecht, Heft 1/2006, S.1 ff

20) Vgl. Joachim Garstecki aaO, S.4 f

21) Joachim Garstecki aaO, S.5

22) Wolfgang Bock, Hans Diefenbacher, Hans-Richard Reuter: Pazifistische Steuerverweigerung und allgemeine Steuerpflicht. Ein Gutachten, FEST Heidelberg, Reihe A Nr. 38, Texte und Materialien, 1992, aaO, S.82

23) Verlautbarung der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichtes Nr. 17/95

24) »Informationen« des Komitees für Grundrechte und Demokratie Nr. 5/2005, »Frei-Raum« der Gewaltfreien Aktion Atomwaffen Abschaffen (GAAA), Nr. 3/Dezember 2005, S.8

25) Thomas Risse-Kappen: Null-Lösung, Entscheidungsprozesse zu den Mittelstreckenraketenwaffen 1970 – 1987, Campus, 1988, S.198

26) Thomas Risse-Kappen: aaO, S.90, S.104, S.194

27) Corinna Hauswedell: Friedenswissenschaften im kalten Krieg. Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Nomos, 1997, S.170 ff

28) Lothar Liebsch: Frieden ist der Ernstfall. Die Soldaten des ‚Darmstädter Signals’ im Widerspruch zwischen Bundeswehr und Friedensbewegung, Verlag Winfried Jenior, 2003

29) Corinna Hauswedell: aaO, S.301 ff

30) Beschluss Bundesverfassungsgericht vom 14.5.1985 (1 BvR 233/81, 341/81), EuGRZ 1985, S.450, NJW, 1985, S.2395 ff., S.2398

31) Helmut Schmidt: Außer Dienst. Eine Bilanz, Pantheon, 2010, S.166

32) Moderamen des Reformierten Bundes (Hrsg.): Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche, Eine Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes, Gütersloh 1082, S.14

33) Ev. Kirche in Deutschland (Hrsg.): Frieden wahren, fördern und erneuern, Gütersloh, S.58)

34) Rat der EKD (Hrsg.): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Ev. Kirche in Deutschland, Gütersloh, 2007, S.103

35) Werner Krusche: Schuld und Vergebung der Grund christlichen Friedenshandelns, in: Vgl. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste/Gustav-Heinemann-Initiative/ Ohne Rüstung Leben/ Versöhnungsbund (Hrsg.), 3. Auflage, 1985

Ulrich Frey war Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) von 1972 bis 2000, derzeit ist er Mitglied des Ausschusses für öffentliche Verantwortung der Ev. Kirche im Rheinland und Sprecher der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

Sozialabbau und Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr

Sozialabbau und Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr

von Jonna Schürkes, Heiko Humburg und Jürgen Wagner, Bundeswehr-Wegtreten

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3/2008
Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. und der Initiative Bundeswehr-Wegtreten.

Sozialabbau und andere Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr

von Jürgen Wagner

Lange Zeit wurde ein Zusammenhang zwischen Militarisierung und Sozialabbau allein über die sinkenden Sozialausgaben bei steigenden Militärausgaben hergestellt. Gerade in Deutschland aber, wo das Militär gerne als »Spiegelbild« der Gesellschaft und der Soldat als »Staatsbürger in Uniform« dargestellt wird, verpflichten sich immer mehr Jugendliche aus gesellschaftlich unterprivilegierten Gruppen als »Freiwillig-Längerdienende«, weil sie für sich keine oder kaum eine Chance auf dem zivilen Arbeitsmarkt sehen. Ähnlich wie in den USA unterwerfen sich Jugendliche den Gefahren des Kriegseinsatzes, weil ihnen die Gesellschaft keine anderen Chancen lässt.

Für die Bundeswehr ist dies überaus praktisch, denn sie hat extreme Schwierigkeiten, an ausreichend Rekruten für ihre zunehmenden Auslandseinsätze zu gelangen, da der Soldatenberuf unter Jugendlichen, vor allem unter denen, die auf dem zivilen Arbeitsmarkt gute Perspektiven haben, extrem unbeliebt ist.

Aus diesem Grund sucht die Bundeswehr nach immer neuen Möglichkeiten, Jugendliche anzuwerben: dazu gehören

die massive Werbung auf öffentlichen Plätzen, in Schulen und Universitäten, im Fernsehen, Kino und Internet,

die Absenkung der Einstellungskriterien,

das Festhalten an der Wehrpflicht und nicht zuletzt

die schamlose Ausnutzung der Situation arbeitsloser Jugendlicher.

Besonders profitiert die Bundeswehr von der Verschärfung der Auflagen für unter 25jährige Hartz IV Empfänger. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Sozialabbau als Rekrutierungsgehilfe der Bundeswehr. Dies geht mittlerweile soweit, dass die Bundeswehr in zahlreichen Arbeitsämtern bereits ständige Büros unterhält und sogar Berichte vorliegen, dass Hartz IV Empfängern Leistungskürzungen angedroht wurden, sollten sie sich weigern, an einer Rekrutierungsveranstaltung teilzunehmen.

Aber nicht nur unter potenziellen Rekruten, auch in der gesamten Bevölkerung nimmt die Ablehnung deutscher Kriegseinsätze in den letzten Jahren rapide zu. Diese Ablehnungshaltung hat bislang jedoch noch nicht zu einer breiten Protestbewegung geführt, die sich die Forderung nach Rückzug der deutschen Truppen, Abrüstung und Umschichtung von Rüstungsgeldern zugunsten sozialer Maßnahmen zu Eigen macht. Dies dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass in der Wahrnehmung der meisten Menschen das Thema Auslandseinsätze trotz einer grundsätzlich kritischen Haltung eine sehr untergeordnete Rolle spielt angesichts gravierender sozialer Probleme, Jobunsicherheit usw. Der Hindukusch ist weit weg.

Dass dem nicht so ist, versuchen in jüngster Zeit zahlreiche Initiativen wie u.a. »Bundeswehr-Wegtreten« aufzuzeigen. Sie organisieren Protestveranstaltungen gegen die verschiedenen Rekrutierungsmaßnahmen der Bundeswehr und deren Vordringen in den öffentlichen Raum. Das Bestreben der Bundeswehr, die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen mithilfe der verschärften Hartz IV-Gesetzgebung auszunutzen und dabei eng mit den Arbeitsagenturen zu kooperieren, liefert dabei einen Anknüpfungspunkt, in dem sich die Friedensfrage ganz direkt mit Fragen sozialer Gerechtigkeit verbindet.

Wie Aktionen in verschiedenen Städten gezeigt haben, reagiert die Bundeswehr sehr empfindlich auf eine Kritik ihrer Darstellung in der Öffentlichkeit und auf die Proteste gegen die Anwerbung von arbeitslosen Jugendlichen vor allem in den Arbeitsagenturen.

Man kann hoffen, dass der Soldatenberuf auch weiterhin einen Sonderstatus genießt und sich die Gesellschaft nicht damit anfreundet, dass Jugendliche de facto zum Töten gezwungen werden und sich in die Gefahr begeben, getötet zu werden. Das vorliegende Dossier informiert deshalb nicht nur über den Themenkomplex »Sozialabbau als Rekrutierungshilfe der Bundeswehr«, sondern auch über phantasievolle Aktionen gegen die »Werber in Uniform«.

Jürgen Wagner, Informationsstelle Militarisierung

Armee der Arbeitslosen?

Arbeitsagenturen als Rekrutierungsgehilfen der Bundeswehr

von Jonna Schürkes

Im Mai 2000 berichtete die Berliner Zeitung von sinkenden Bewerberzahlen bei der Bundeswehr. „Der Soldaten-Job hat an Attraktivität eingebüßt“ aufgrund der zunehmenden Bundeswehreinsätze im Ausland. Gleichzeitig wies die BZ darauf hin, dass dies aufgrund der schlechten Lage auf dem Arbeitsmarkt aber wohl kein dauerhaftes Problem sein werde.1 Tatsächlich konnte der Stern fünf Jahre später titeln: „Bundeswehr verzeichnet Zulauf wegen Arbeitslosigkeit.“ 2 Und im Januar 2006 berichtete die Berliner Zeitung, die Bundeswehr werde zu einer „Armee der Arbeitslosen“. Mehr als jeder Dritte einberufene Wehrpflichtige sei zuvor arbeitslos gewesen. Sie zitiert einen Sprecher der Arbeitsagentur Berlin-Brandenburg, nach dem der Run auf die Bundeswehr vor allem auf die Lage am Arbeitsmarkt zurückzuführen ist.3 Der Stern sah dann auch die »Gefahr«, dass eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt zu Problemen bei der Nachwuchsgewinnung führen könnte.4

Hinzu kommt, dass aufgrund des demografischen Wandels ein Rückgang der Menschen im wehrfähigen Alter erwartet wird, dies gilt vor allem für Ostdeutschland.5 Vor diesem Hintergrund fürchtet die Bundeswehr eine sinkende Jugendarbeitslosigkeit, da sie dann mit zivilen Arbeitgebern um Nachwuchs konkurrieren muss.6 Oder anders ausgedrückt: die Bundeswehr braucht die Perspektivlosigkeit Jugendlicher, damit diese sich zu Soldaten ausbilden lassen und bereit sind, »deutsche Interessen« unter Gefährdung ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit rund um den Globus zu »verteidigen«.

Dies ist in der Geschichte des Militärs durchaus nichts Neues, neu ist, dass die für die Jugendlichen zuständigen Agenturen für Arbeit (ARGE) in vielen Fällen mit der Bundeswehr eng zusammenarbeiten und zum Teil auch Druck ausüben, bis hin zur Kürzung von Sozialleistungen.

Rekrutierungsprobleme

Die Bundeswehr hat trotz der oben angesprochenen für sie positiven Jugendarbeitslosigkeit in einigen Bereichen Rekrutierungsprobleme. So schreibt die FAZ im April d. J.: „In den Kampf- und Transportgeschwadern ist durchschnittlich rund ein Viertel der Stellen für Besatzungsmitglieder vakant. Der Sanitätsdienst hat ein ‚Fehl“ von neun Prozent an Offizieren, also Ärzten. Das Kommando Spezialkräfte (KSK) hat sogar nicht einmal die Hälfte seiner eigentlich vorgesehenen 394 Elitesoldaten7. Nimmt man nur die ‚Shooter“, die Elitekämpfer im engeren Sinne, so ist das Verhältnis sogar noch ungünstiger. Auch bei den Kampfschwimmern, der Spezialkräfteeinheit der Marine, fehlt Personal, doch nicht ganz in diesem Ausmaß.“ 8 Als Ursache für die Nachwuchsprobleme werden vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI) der demografische Wandel und die zunehmenden Auslandseinsätze genannt. Bezüglich der abschreckenden Wirkung der Auslandseinsätze schreibt das SOWI: „[Es] ist damit zu rechnen, dass den Jugendlichen immer mehr bewusst wird, dass es sich bei der Bundeswehr um eine Armee im Einsatz handelt und dass der Beruf des Soldaten erhebliche Risiken mit sich bringt. Diese Erkenntnis wird zumindest bei einem Teil der jungen Männer und Frauen die Bereitschaft verringern, zur Bundeswehr zu gehen.“ 9

Neben der abschreckenden Wirkung von Auslandseinsätzen und dem demografischen Wandel bereiten den Rekrutierern auch die Ablehung von militärischem Drill und Gehorsam Kopfschmerzen.10

Ablehnung der Auslandseinsätze

Die im Weißbuch der Bundeswehr vom Oktober 2006 nüchtern konstatierte Umwandlung der Bundeswehr hin zu einer »Armee im Einsatz« wird sowohl von den Soldaten als auch von der Bevölkerung Deutschlands zunehmend abgelehnt. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach vom Oktober 2007 zeigt, dass 50% (2005: 34%) der Befragten der Meinung sind, die Bundeswehr solle sich zukünftig nicht mehr an Auslandseinsätzen beteiligen. Nur 34% (2005: 46%) befürworten zukünftige Auslandseinsätze.11 Auch bei den einzelnen Einsätzen sieht es ähnlich aus. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im April 2007 ergab, dass mehr als 70% der Befragten den Tornado-Einsatz in Afghanistan ablehnen.12 Auch der Einsatz vor der Küsten des Libanons (UNIFIL)13 und der Kongoeinsatz (EUFOR)14 wurden mehrheitlich ablehnt. Die Tendenz der Zustimmung ist bei allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr sinkend.15 Eine Umfrage unter Soldaten, die am EUFOR-Einsatz teilnehmen sollten, zeigt, dass auch sie nicht von dem Sinn des Einsatzes überzeugt waren.16 Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes kritisierte in einer ganzseitigen Anzeige in der Süddeutschen Zeitung im Vorfeld des Einsatzes, die Soldaten müssten im Kongo „den Kopf hinhalten“ und gleichzeitig würde ihnen der Lohn gekürzt.17

Das Ansehen der Bundeswehr ist aber nicht nur unter Jugendlichen gesunken, sondern auch bei denjenigen, die sich bereits verpflichtet haben. Nach einer Umfrage des Deutschen Bundeswehrverbandes vom Februar 2007 würden über 70% der heutigen Berufssoldaten Verwandten und Freunden davon abraten, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten. Besonders negativ ist der Umfrage zufolge das Stimmungsbild bei Soldaten, die an Auslandseinsätzen teilnehmen.18 Das SOWI beklagt, dass die Jugendlichen nur schwer vom Gegenteil zu überzeugen seien, wofür nicht unerheblich die negative Berichterstattung in den Medien verantwortlich sei. Es müssten, so der Autor der SOWI-Jugendumfrage Thomas Bulmahn, „[f]ür den Fall, dass die Negativberichterstattung über einen längeren Zeitraum anhält und das Image des Soldatenberufs nachhaltig zu beinträchtigen droht, […] geeignete Kommunikationsstrategien auch für den Bereich der Nachwuchswerbung entwickelt werden“ 19 (Die »Kommunikationsstrategien« der Bundeswehr werden ausführlich in dem Artikel von Heiko Humburg untersucht). Die Imageverbesserung der Bundeswehr und vor allem des Soldatenberufs ist jedoch ein langwieriger Prozess. Somit liegt es auf der Hand, dass die Bundeswehr neue Wege beschreiten muss, um ihren Bedarf auch künftig decken zu können.

Absenken der Einstellungskriterien für FWLD

Eine Reaktion, die kurzfristig die Zahl der »geeigneten« Jugendlichen für den Soldatenberuf erhöhen sollte, war die Änderung der Einstellungskriterien für Freiwilliglängerdienende (FWLD) im Jahr 2006. FWLD sind Soldaten, die sich für einen bestimmten Zeitraum über den Grundwehrdienst hinaus verpflichten. Dabei erklären sie sich auch bereit zu einer Teilnahme an Auslandseinsätzen, sodass sie sich zusätzlich einem Test unterziehen müssen.

Interessant ist, dass 2006 die Einstellungskriterien in Bezug auf die physischen Anforderungen an zukünftige Soldaten angehoben wurden, während sie in Bezug auf soziale Kompetenz, psychische Belastbarkeit und Verhaltensstabilität abgesenkt wurden. Im Bericht des Wehrbeauftragten heißt es: „Ab dem Diensteintrittstermin 1. Oktober 2006 können Wehrpflichtige dieser Sondergruppe auch im Falle einer Unterschreitung der Mindestvoraussetzungen im Hinblick auf ‚soziale Kompetenz“ und ‚psychische Belastbarkeit“ bis Bewertungsstufe 6 und ‚Verhaltensstabilität“ bis Bewertungsstufe 5 verpflichtet werden.“ 20 Das steht im Widerspruch zu der Behauptung der Bundeswehr, dass gerade die soziale Kompetenz der Soldaten bei »Friedensschaffenden Maßnahmen« im Ausland von hoher Bedeutung sei. Tatsächlich dürften Soldaten mit einer geringen sozialen Kompetenz kaum in der Lage sein die Kriegseinsätze der Bundeswehr der betroffenen Bevölkerung im Einsatzland als »humanitäre Einsätze« zu verkaufen. Und Soldaten mit einer geringen psychischen Belastbarkeit eine Waffe in die Hand zu geben und sie in den Auslandseinsatz zu schicken, ist auch nicht gerade ungefährlich.

Auch hinsichtlich der zunehmenden Anzahl an Soldaten, die mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und anderen psychischen Problemen von Auslandseinsätzen zurückkehren, ist das Absenken der Kriterien verantwortungslos.

Wer berufliche Alternativen hat, geht nicht zur Bundeswehr

Neben der Absenkung der Einstellungskriterien und den massiven Werbemaßnahmen vor allem in Schulen und Medien (siehe Artikel von Heiko Humburg) macht sich die Bundeswehr die schwierige Situation von Jugendlichen auf dem zivilen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zunutze. In einem Artikel des Hamburger Abendblattes vom Februar 2007 heißt es: „Um an Nachwuchs zu gelangen, verfeuerte die Bundeswehr jahrelang viel Geld – unter anderem mit Werbefilmen wie ‚Bundeswehr – eine starke Truppe“. ‚Wir haben Fehler gemacht“, räumt Christian Louven (39) vom Zentrum für Nachwuchsgewinnung Nord ein. Doch mit der Arbeitslosigkeit kamen immer mehr junge Menschen, die sich freiwillig meldeten. Die Bundeswehr profitiere von der schlechten Wirtschaftslage. ‚Und das nutzen wir auch aus“, gibt Louven zu.“ 21 Bevor auf die Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und den Arbeitsagenturen eingegangen wird, lohnt sich ein Blick auf die Motivation und den sozialen Hintergrund der Jugendlichen, die bereit sind, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten bzw. den Beruf des Soldaten zu ergreifen.

Nina Leonard vom SOWI klagt in ihrem Lehrbuch »Militärsoziologie – eine Einführung«: „Zum Soldatenberuf in der Bundesrepublik liegen nur wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse vor. Die Zahl der Arbeiten, die dies anhand eines systematischen theoretischen Zugangs, mittels fundierter methodischer Instrumente und auf einer soliden empirischen Basis tun, ist noch geringer. So steht etwa eine berufssoziologische Analyse des ‚Arbeitsplatzes Bundeswehr“ nach wie vor aus.“ 22 Eine wichtige Quelle sind jedoch die Umfragen des SOWI zum Thema »Berufswahl Jugendlicher und Nachwuchswerbung der Bundeswehr«. Bisher hat es je eine Umfrage in den Jahren 2003 und 2006 gegeben. Die Studien dienen der Verbesserung der Nachwuchswerbung und werden vom Verteidigungsministerium in Auftrag gegeben.

Die zur Verfügung stehenden Ergebnisse zeigen, dass ein großer Teil der Jugendlichen, die sich bei der Bundeswehr verpflichten, dies vor allem aus ökonomischen Gründen und weniger aus Überzeugung tut. Im Jahr 2003 konnten sich ca. 30% der männlichen Jugendlichen eine Verpflichtung bei der Bundeswehr vorstellen, wobei über die Hälfte davon angab, sie würden dies nur unter Umständen tun. Dieses »unter Umständen« erklärt sich daraus, dass 30% angaben, sie würden sich verpflichten, wenn sie keine Möglichkeit sehen würden, einen anderen Ausbildungsplatz zu bekommen. Über 70% der Jugendlichen, die Interesse am Soldatenberuf haben, geben an, sie würden vor allem aufgrund der Arbeitsplatzsicherheit zur Bundeswehr gehen, fast 60% nennen die guten Einkommensmöglichkeiten als Grund. Diejenigen, die sich nicht bei der Bundeswehr verpflichten wollen, geben im Gegenzug zu 90% als Grund an, sie könnten mit einem besseren Arbeitsplatz rechnen.23 Die Ergebnisse der Umfrage 2006 werden leider nicht mehr so eindeutig präsentiert. Dennoch kann der grafischen Darstellung der Ergebnisse dieselbe Tendenz entnommen werden. Leonhard fasst die Ergebnisse folgendermaßen zusammen: „Wer berufliche Alternativen hat, geht nicht zur Bundeswehr. […] Wer über ausreichende berufliche Chancen verfügt, zieht die Möglichkeit, Soldat der Bundeswehr zu werden, gar nicht in Betracht.“ 24

Ein ähnliches Bild ergibt sich bei denjenigen, die sich verpflichten, um bei der Bundeswehr eine Ausbildung zu machen bzw. an einer Bundeswehr-Universität zu studieren. Eine Befragung von Studenten der Bundeswehr-Universitäten Hamburg und München aus dem Jahr 2002 kommt zum Ergebnis, dass fast 70% der Studenten den Beruf des Soldaten nicht gewählt hätten, wenn ihnen dadurch nicht ein Studium ermöglicht worden wäre.25 Leider gibt es zu diesem Thema keine neueren empirischen Daten. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass die Studiengebühren in mehreren Bundesländern diesen Trend zusätzlich verstärken. Die Bundeswehr wirbt inzwischen offensiv mit „Studieren ohne Gebühren, Studieren mit Gehalt – Studium bei der Bundeswehr“ 26 und das Studenten- und Schülermagazin Unicum warb 2006 mit dem Slogan „Sold statt Studiengebühren“ für das Studium an einer der Bundeswehr-Universitäten.

Von denjenigen, die sich verpflichten, um eine Ausbildung bei der Bundeswehr zu machen, waren 27% laut einer SOWI-Umfrage unter Unteroffizieren aus dem Jahr 2002 zuvor arbeitslos. Zudem, so die Untersuchung, könne man einen Zusammenhang feststellen, zwischen erlebter Arbeitslosigkeit und Verpflichtungszeit: „Wer vor der Bundeswehr arbeitslos war, neigte überrepräsentativ stark zu einer längeren Verpflichtungszeit.“ 27 In Hamburg waren Anfang 2007 von 328 Jugendlichen, die sich bei der Bundeswehr freiwillig verpflichteten, 107 zuvor arbeitslos gemeldet.28

Die Tatsache, dass sich junge Leute aus ökonomischen Gründen bzw. aufgrund fehlender Chancen verpflichten, lässt bereits vermuten, dass es sich größtenteils um Jugendliche aus ärmeren Familien und mit schlechteren Schulabschlüssen handelt. Allgemeine Daten über die soziale Herkunft von Zeitsoldaten stehen nicht zur Verfügung, wohl aber über diejenigen, die an einer Bundeswehr-Universität studieren. Die oben bereits erwähnte Studie der Bundeswehr-Universität Hamburg kommt zu dem Ergebnis, dass Studenten der Bundeswehr-Universitäten in München und Hamburg eher aus Familien mit geringerem Einkommen und Bildung stammen, als Studenten anderer Universitäten: „[…] der Offizierberuf [bietet] insbesondere für die Studenten aus den mittleren und niedrigen sozialen Herkunftsgruppen Chancen des Aufstiegs.“ 29 Die Befragung von Unteroffizieren im Jahr 2002 ergab, dass nur etwas mehr als 10% über die Fachhochschulreife oder Abitur verfügten.30 „Fasst man die vorliegenden Erkenntnisse zusammen, dann lässt sich sagen, dass die Bundeswehr als Arbeitgeber gegenwärtig in erster Linie für Haupt- und Realschüler mit oftmals geringen beruflichen Alternativen, die sich von der Armee Ausbildungs- bzw. Weiterbildungsmöglichkeiten versprechen, interessant ist. Demgegenüber nehmen viele Abiturienten die Streitkräfte als Beschäftigungsfeld erst gar nicht wahr“ 31, so Nina Leonhard in ihrer Untersuchung zu potenziellen Arbeitnehmern der Bundeswehr.

Es zeigt sich zudem, dass sich vor allem Jugendliche aus Ostdeutschland verpflichten und dann in erster Linie aus Regionen, in denen eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht: „Unter den anderen Jugendlichen [die sich eine Verpflichtung bei der Bundeswehr vorstellen können] ist die Bundeswehr vor allem als Arbeit- und Ausbildungsgeber aufgrund der unsicheren Arbeitsmarktlage, der Sicherheit des Arbeitsplatzes und der Möglichkeiten der beruflichen Weiterbildung interessant. Während in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit das Interesse am Soldatenberuf steigt, ist in Gegenden mit guter Arbeitsmarktlage mit Rekrutierungsproblemen zu rechnen.“ 32 Auch Heikenroths Umfrage unter Unteroffizieren zeigt, dass die Anzahl der Bewerbungen als Zeitsoldat eng mit der wirtschaftlichen Situation in der Region zusammenhängt. „In den norddeutschen und ostdeutschen Wehrbereichen und Bundesländern besitzt demnach die Bundeswehr – nicht zuletzt wegen der hohen Arbeitslosigkeit – weit größere Anziehungskraft als im wirtschaftlich prosperierenden Südwesten. Hier scheint zwar der Dienst in der Bundeswehr als durchaus vorstellbar, aber angesichts der vielfältigen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten in der privaten Wirtschaft befindet sich die Bundeswehr in dieser Region in einem sehr ausgeprägten Konkurrenzverhältnis mit anderen potenziellen Arbeitgebern.“ 33

Die ARGEn als Rekrutierungshelfer

Der Druck auf jugendliche Arbeitslose wächst. Besonders von Bedeutung dürften dabei die Verschärfungen der Auflagen für unter 25jährige sein. Sie erhalten einen geringeren Hartz IV Satz als über 25jährige, die Miete für eine eigene Wohnung wird nicht mehr bezahlt und bereits bei einem einmaligen Verstoß gegen die Auflagen können den Jugendlichen alle Bezüge gekürzt werden. Der Druck für jugendliche Arbeitslose, jede Arbeit anzunehmen, ist demnach extrem hoch. Die so genannte Stallpflicht, also die Pflicht bei den Eltern zu wohnen, ist auch angesichts der Ergebnisse der Jugendumfrage von Bulmahn von Bedeutung, die schon 2003 ergab, dass 40% sich bei der Bundeswehr verpflichten würden, um endlich von zu Hause ausziehen zu können.34

Doch dieser Druck reicht noch nicht aus und so kooperiert die Bundeswehr mit den ARGEn auf vielfältige Weise. Die Zusammenarbeit reicht von der Werbung für den Soldatenberuf durch Mitarbeiter der ARGEn, der Bereitstellung von Räumen für Rekrutierungsveranstaltungen bis hin zu konkreten Kooperationsvereinbarungen mit der Bundeswehr.

Als Argumente für den Beruf des Soldaten werden in den unterschiedlichen Pressemitteilungen und Ankündigungen auf den Internetseiten der ARGEn die „hervorragenden Weiterbildungsmöglichkeiten“, die „Sicherheit des Arbeitsplatzes“ und das „hohe Gehalt“, aber auch die Entlastung des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes genannt. Immer wieder werden Rekrutierungsveranstaltungen gemeinsam von Bundeswehr und Arbeitsagenturen organisiert: seien es die so genannten Girls-Days, Informationsveranstaltungen mit Wehrdienstberatern oder Veranstaltungen, bei denen unterschiedliche »Berufe in Uniform« vorgestellt werden, bei denen die Bundeswehr mit der Polizei, dem BGS oder dem Zoll um die Jugendlichen konkurriert.

Diese Form der Kooperation ist weit verbreitet. Unter dem Titel »Vorbilder mit sicherem Arbeitsplatz«, informiert die Agentur in Neuwied über die erfolgreiche Veranstaltung der Bundeswehr im Berufsinformationszentrum (BIZ). In der Presseerklärung heißt es: „In einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, überhaupt eine interessante Lehrstelle zu finden, schätzen Jugendliche die vielfältigen Möglichkeiten, aber auch die Sicherheit [sic!], die ihnen hier geboten wird. […] Früher mussten junge Leute erst mal schlucken, wenn sie erfuhren, dass ihre Ausbildung bei der Bundeswehr (BW) sie für mindestens acht, falls sie studieren wollten sogar für zwölf Jahren zu Soldaten machen würde. Doch die Zeit, in der diese Verpflichtung eine Hürde war, gehört längst der Vergangenheit an […], erklärt Stabsfeldwebel und Wehrdienstberater Lothar Melms. „Wo in der freien Wirtschaft bekommt man heute schon eine solche Beschäftigungsgarantie?“ […].“ 35 Für eine Informationsveranstaltung in Leipzig warb die dortige Agentur: „In Sachsen-Anhalt und Thüringen waren Ende Dezember 2005 ca. 31.500 Jugendliche unter 25 Jahren arbeitslos, die über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Für das Jahr 2006 hat die Bundeswehr einen erhöhten Bedarf zur Einstellung von Soldaten auf Zeit in der Laufbahn der Mannschaften. Die Einstellung als Soldat auf Zeit in der Laufbahn der Mannschaften bietet Jugendlichen einerseits für vier Jahre ein gesichertes Einkommen, erweitert ihre sozialen und beruflichen Kompetenzen und entlastet andererseits den Arbeitsmarkt.“ 36

Auch wenn das Anwerben von Jugendlichen für den Soldatenberuf in den Arbeitsagenturen (oder Arbeitsämtern) nicht unbedingt neu ist, so hat die Qualität und Quantität der Präsenz von Wehrdienstberatern in den ARGEn deutlich zugenommen. Bereits im September 2001 protestierten Bremer Arbeitslose gegen die Anwerbung von Arbeitslosen für Auslandseinsätze im Arbeitsamt. Der Vize-Chef des Arbeitsamtes reagierte mit Erstaunen auf die Proteste: Die Bundeswehr sei doch eine ganz normale Firma, mit der man zusammenarbeite.37 Spätestens seit 2006 sind die Auftritte der Rekrutierer in den ARGEn Normalität – wären da nicht die immer einfallsreicheren Aktionen gegen solche Veranstaltungen von Erwerbsloseninitiativen und antimilitaristischen Gruppen (siehe den Beitrag von Bundeswehr Wegtreten).

Vor allem in ostdeutschen Großstädten arbeiten die Agenturen eng mit der Bundeswehr zusammen. In Dessau finden nicht nur regelmäßig Informationsveranstaltungen (Talk im BIZ) statt. Im Januar 2008 veranstaltete die ARGE sogar eine ganze Bundeswehrwoche unter dem Motto »Entschieden gut – Gut entschieden« in ihren Räumlichkeiten. Eine ganze Woche lang hatten die Rekrutierer fast den ganzen Tag Zeit, arbeitslose Jugendliche abzufangen.38 Diese Bundeswehrwoche fand im Rahmen eines Kooperationsprogramms zwischen der Arbeitsagentur und der Bundeswehr innerhalb der Initiative »JUKAM – Junge Karriere Mitteldeutschland« statt. JUKAM ist eine privatwirtschaftliche Initiative zur »Behebung des Problems des Fachkräftemangels« und zur Senkung der Arbeitslosigkeit in Sachsen Anhalt: „Im April [2006] startete der Modellversuch in Sachsen-Anhalt und Thüringen zur Gewinnung arbeitsloser Jugendlicher als Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr. Träger des Projekts sind die Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Bundesagentur für Arbeit, das Zentrum für Nachwuchsgewinnung OST der Bundeswehr, die Wehrbereichsverwaltung Ost und die Initiative JuKaM der bildungszentrum energie GmbH Halle/Saale.“ 39 Das Engagement der ARGE wird in der Einladung zur Messe folgendermaßen erklärt: „Intention der Kooperation ist es, arbeitslose Jugendliche für ein Engagement als Zeitsoldat zu interessieren. Im Agenturbezirk sind derzeit rund 2.000 Jugendliche unter 25 Jahre arbeitslos. Die Bundeswehr hingegen bietet freie Stellen […].“ 40

Auch in Leipzig arbeiten ARGE und Bundeswehr zur beiderseitigen Zufriedenheit eng zusammen. Beide Seiten freuen sich über die „hervorragende Zusammenarbeit“. Die hohen Anwerbezahlen von Zeitsoldaten über die Arbeitsagenturen seien „ein gutes Zeichen für die Motivation von jungen Arbeitslosen in der Region auch nichtalltägliche Chancen bei der Suche nach einer neuen Arbeit zu ergreifen und auch ein prima Beispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Arbeitsagentur“, so der Leiter der Arbeitsagentur in Leipzig im Mai 2005.41

Diese »hervorragende Kooperation« wurde im November 2007 noch erweitert, indem ein Kooperationsvertrag geschlossen wurde. Ziel der Kooperation ist die „Unterstützung der Bundeswehr bei der passgenauen Besetzung offener Stellen für Zeitsoldaten.“ 42 Die Kooperation besteht darin, dass die Bundeswehr die Möglichkeit erhält, in den Räumen der ARGE und des Berufsinformationszentrums zu rekrutieren und die Jugendlichen über die ARGE auf die Veranstaltungen hingewiesen werden. Damit die Mitarbeiter der ARGE auch überzeugend für den Beruf des Soldaten werben können, werden sie direkt in Bundeswehreinrichtungen auf die Beratungsgespräche mit jugendlichen Arbeitslosen vorbereitet. In der Presseerklärung der ARGE Leipzig zu dieser Kooperation heißt es: „Zum einen hat die Bundeswehr weiterhin einen hohen Bedarf zur Einstellung von Soldaten. Diesen Bedarf soll auch die Kooperation mit der ARGE Leipzig decken, denn viele junge Menschen werden erstmals im Zusammenhang mit ihrer Arbeitslosigkeit auf den Arbeitgeber Bundeswehr aufmerksam. […] Die Bundeswehr hat jährlich einen strukturellen Ergänzungsbedarf von ca. 22.000 Soldatinnen und Soldaten. […] In der Stadt Leipzig waren zum Oktober 2007 ca. 4.900 junge Menschen unter 25 Jahren arbeitslos gemeldet.“ 43

Eine Kleine Anfrage und eine anschließende schriftliche Nachfrage der Linksfraktion im Bundestag im Februar und April 2008 hat ergeben, dass die Bundeswehr in elf ARGEn dauerhafte Büros unterhält. In 204 ARGEn finden regelmäßig Rekrutierungsveranstaltungen der Bundeswehr statt.44 (siehe Kasten auf Seite ) Es zeigt sich, dass die Zusammenarbeit zwischen ARGEn und Bundeswehr trotz massiver Kritik an dieser Praxis weiter ausgebaut wird. Die Büros der Bundeswehr befinden sich vor allem in Städten mit einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquote.45

Arbeitslosen Jugendlichen drohen Leistungskürzungen, wenn sie nicht an den Rekrutierungsveranstaltungen der Bundeswehr teilnehmen. So äußerte sich der Sprecher der ARGE Leipzig Ronny Schleicher in der Dresdner Morgenpost Ende 2007 folgendermaßen: „Ein Angebot für einen Job beim Bund werten wir als normale Wiedereingliederungshilfe. Allerdings werden wir in jedem Einzelfall prüfen, ob das Angebot zumutbar war und somit Sanktionen fällig werden.“ 46 Zudem sind Bundeswehr-Wegtreten Fälle bekannt, bei denen jugendliche Arbeitslose unter Sanktionsandrohungen zur Teilnahme an BW-Werbeveranstaltungen verpflichtet wurden. Dennoch wurde die Nachfrage nach einer solchen Praxis sowohl in einer kleinen Anfrage im sächsischen Landtag als auch in der bereits erwähnten Anfrage im Bundestag verneint. Jugendliche, die den Wehrdienst verweigern, können jedoch keinesfalls zu der Teilnahme an derartigen Veranstaltungen gezwungen werden.

Unabhängig davon, ob die Jugendlichen tatsächlich formal dazu gezwungen werden, an den Rekrutierungsveranstaltungen in den ARGEn teilzunehmen, ein faktischer Zwang besteht dennoch. Er wird durch die Kürzung von Sozialleistungen vor allem im Rahmen der so genannten U25-Maßnahmen, den Druck durch die Gesellschaft und wahrscheinlich auch ihrer Familien (Stichwort: Stallpflicht) sowie das eigene Gefühl der Perspektivlosigkeit erzeugt.

Das Berufsrisiko: Auslandseinsatz

Der Beruf des Soldaten ist jedoch kein normaler Job. Wer sich verpflichtet, erklärt sich auch bereit, an Auslandseinsätzen teilzunehmen. Der Wehrdienstberater der Bundeswehr in Neuwied, Lothar Melms, wies bei einer Werbeveranstaltung der Bundeswehr auf die Schattenseiten des Soldatenberufs hin: „Wer Soldat werden will, der muss mobil sein. Und das nicht nur innerhalb Deutschlands – zunehmend wird der Dienst auch im Ausland geleistet.“ 47 Selbst der Einsatz von Waffen und des eigenen Lebens soll den Jugendlichen positiv verkauft werden: Die Gefahren, die sie am eigenen Leibe erfahren und die hohe psychische Belastung seien später positiv bei der Suche nach einem Arbeitsplatz bei zivilen Unternehmen. So ist auf der Homepage des Magazins der Bundeswehr Y zu lesen:

„[die Soldaten] sind auch hohem psychischen Druck ausgesetzt, denn im Einsatz geht es um das eigene Leben. ‚Mehr noch als Berufstätige in der Wirtschaft, wo Entlassung, Mobbing und Reorganisation, persönliche Krisen und Leistungsdruck die Berufstätigen heutzutage belasten“, sagt [die Psychologin] Simone Petersen und bringt es auf den Punkt: ‚Das verschafft den ehemaligen Soldaten einen Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt von großem Wert.““ 48

Dies ist zynisch. Bis heute sind fast 70 Bundeswehrsoldaten bei Auslandseinsätzen gestorben, viele kehren mit psychischen Problemen und teilweise schweren physischen Verletzungen nach Deutschland zurück. Der Wehrbeauftragte der Bundesregierung schreibt dazu: „Nach aktuellen Erkenntnissen hat sich die Zahl der an posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) erkrankten Soldatinnen und Soldaten seit dem Jahr 2003 nahezu verdreifacht.“ 49 Bisher wurden offiziell insgesamt ca. 1.700 Soldaten wegen psychischer Erkrankungen in Bundeswehreinrichtungen behandelt, etwa 700 Soldaten davon mit PTBS. Die Dunkelziffer ist in diesem Bereich sehr hoch: Der Chef des Deutschen Bundeswehrverbandes wies darauf hin, „dass viele Soldaten ihre Probleme nicht vor den Kameraden oder der Familie zu Hause zugeben wollen, um nicht als ‚Weicheier“ dazustehen. Ein Soldat habe eben ‚hart zu sein.““ 50 Inzwischen mehren sich auch die Klagen von Soldaten, die im Auslandseinsatz waren, sie würden mit ihren physischen und psychischen Problemen weitgehend alleine gelassen.51

Nicht zu vergessen ist, dass der Beruf des Soldaten schon alleine deshalb kein normaler Job ist, wie es Bundeswehr, Bundesregierung und ARGEn immer wieder betonen, weil man als Soldat das Töten lernt und damit rechnen muss getötet zu werden. Dass die Bundesregierung in diesem Zusammenhang leider dennoch keinerlei Probleme hat, die Perspektivlosigkeit Jugendlicher über die Kooperation zwischen der Bundeswehr und den ARGEn auszunutzen und damit für benachteiligte Gruppen faktisch einen Zwang zu erzeugen, sich für die Truppe zu verpflichten, zeigen ihre Antworten auf diverse Anfragen.

Anmerkungen

1) Der Soldaten-Job hat an Attraktivität eingebüßt, Berliner Zeitung, 27.05.2000.

2) Bundeswehr verzeichnet Zulauf wegen Arbeitslosigkeit, Stern, 10.06.2005.

3) Bundeswehr wird zum Heer der Arbeitslosen, Berliner Zeitung, 03.01.2006.

4) Nachwuchssorgen bei der Bundeswehr, Stern, 17.04.2006.

5) Bundeswehr gehen die Rekruten aus, Tagesschau, 15.05.2007, URL: http://www.tagesschau.de/inland/meldung31456.html

6) Bundeswehr im Wettbewerb: Soldaten gesucht, FAZ, 29.04.2008.

7) Wie die FAZ auf diese Anzahl der Elitesoldaten kommt, ist unklar. Für das KSK sind nicht 394, sondern ca. 1.000 Spezialkräfte vorgesehen. Vgl. Mut nicht verlieren, in: Y-Magazin der Bundeswehr, Februar 2007, S.46.

8) Bundeswehr im Wettbewerb: Soldaten gesucht, FAZ, 29.04.2008.

9) Bulmahn, Thomas (2007): Berufswahl Jugendlicher und Interesse an einer Berufstätigkeit bei der Bundeswehr. Ergebnisse der Jugendstudie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. Forschungsbericht 81, Straussberg, S.16.

10) Bulmahn, Thomas (2004): Berufswunsch Soldat, in: Sowi-News April 2004, S.4.

11) Der Preis der Freiheit und der Sicherheit, FAZ.net, 16.10.2007.

12) Mehrheit gegen Tornados in Afghanistan, Spiegel Online, 06.04.2007.

13) Umfrage: Mehrheit der Deutschen gegen Mission, Kölner Stadtanzeiger, 13.09.2006.

14) Mehrheit der Deutschen lehnt Bundeswehreinsatz ab, Die Welt, 02.06.2006.

15) Bulmahn, Thomas u.a. (2008): Sicherheits- und Verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland, SOWI-Forschungsbericht Nr. 84, April 2008, S.125.

16) Kongo Mission: Noch nie soviel Ablehnung, N24, 17.05.2006.

17) Marischka, Christoph (2006): Den Kopf hinhalten. Für wen deutsche Soldaten unter anderem an den Congo gehen, in: Ausdruck (Juni 2006), S.15-16.

18) Umfrage beim Bundeswehrverband: Alarmierendes Stimmungsbild der Streitkräfte, in: Tagesschau, 26.04.2007, URL: http://www.tagesschau.de/inland/meldung36700.html

19) Bulmahn 2007, S.76.

20) 1: besonders ausgeprägt, 7: ungenügend ausgeprägt; Bericht des Wehrbeauftragten 2006, S.35., BT-DS 16/4700, URL: http://dip.bundestag.de/btd/16/047/1604700.pdf

21) Wir sind lieber Soldaten als arbeitslos, Hamburger Abendblatt, 06.02.2007.

22) Leonhard, Nina (2005): Soldat: Beruf oder Berufung?, in: Leonhard, Nina/Werkner, Ines-Jaqueline (Hrsg.): Militärsoziologie – Eine Einführung, Wiesbaden, S.254.

23) Bulmahn 2004.

24) Leonhard 2005, S.260.

25) Posner, Christine (2004): Untersuchung der Studenten der Helmut-Schmidt-Universität und der Universität der Bundeswehr München; Erhebung und Datengrundlage; Regionale und soziale Herkunft, Berufswahl, Helmut Schmidt Universität Hamburg, S.11.

26) Presseinfo der Bundesagentur für Arbeit Düsseldorf, 22.10.07, URL: http://tinyurl.com/4gwdh2

27) Heikenroth, André u.a. (2002): Unteroffizier und ziviler Beruf, Strausberg, S.26.

28) Wir sind lieber Soldaten als arbeitslos, Hamburger Abendblatt 06.02.2007.

29) Posner 2004, S.6.

30) Heikenroth 2002, S.26.

31) Leonhard 2005, S.260f.

32) Apelt, Maja (2002): Die Integration der Frauen in der Bundeswehr ist abgeschlossen, Soziale Welt, Nr. 3/2002, S.325-344.

33) Heikenroth (2000): Wer will zur Bundeswehr? Eine Potenzialanalyse, Strausberg, S.39.

34) Bulmahn 2004.

35) Vorbilder mit sicherem Arbeitsplatz, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit, 25.02.2005.

36) Soldat auf Zeit. Eine Informationsveranstaltung für arbeitslose Jugendliche aus Sachsen-Anhalt, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit, 10.05.2006.

37) Krieg als »Vertrauenssache«, URL: http://www.also-zentrum.de/archiv/publik/quer/2001quer/6_war.htm

38) Bundeswehrwoche in der Arbeitsagentur, Pressemitteilung der Arbeitsagentur Dessau, URL: http://tinyurl.com/4x8xkk

39) Bundeswehr kooperiert mit Wirtschaft, in: mdw, März/April 2006.

40) Eine berufliche Zukunft bei der Bundeswehr, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit vom 23.01.2008.

41) Bundeswehr sucht Soldaten auf Zeit – Bewerbungsaktion erfolgreich, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit, 25.07.2005.

42) Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion im Sächsischen Landtag vom 21.01.2008. Drucksache: 04/10762.

43) Presseinfo der ARGE Leipzig (30.11.2007): ARGE + Bundeswehr = Job, URL: http://tinyurl.com/4qtxcd

44) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion: Zusammenarbeit zwischen Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsgemeinschaften und Bundeswehr, BT-DS 16/8285, URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/082/1608285.pdf; Antwort auf schriftliche Anfragen vom 18.04.2008, BT-DS 16/8842, URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/088/1608842.pdf

45) Die Antwort auf die schriftliche Frage von Inge Höger enthält eine Liste der Städte, in denen die Bundeswehr Büros in den ARGEn angemietet haben und in denen regelmäßig Sprechstunden der Wehrberater stattfinden.

46) Ab in den Krieg, sonst wird die Stütze gekürzt, in: Morgenpost am Sonntag, 16.12.2007.

47) Vorbilder mit sicherem Arbeitsplatz, Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit, 25.02.2005.

48) Kompetent – Kampf an neuer Front, URL: http://tinyurl.com/5yubzj

49) Bericht der Wehrbeauftragten 2006, S.42.

50) Bundeswehr befürchtet Anstieg Posttraumatischer Störungen bei Soldaten, URL: www.ngo-online.de/ganze_nachricht.php?Nr=16900

51) Kriegstrauma, ZDF Mona Lisa, 18.11.2007.

Jonna Schürkes ist Mitarbeiterin der Tübinger Informationsstelle Militarisierung. Sie betreut dort ein Projekt zur Herstellung alternativer Unterrichtsmaterialien.

In Zeiten von Jugendarbeitslosigkeit und »Hartz IV«:

PR-Strategien der Bundeswehr

von Heiko Humburg

Derzeit tun 50.000 Wehrpflichtige, 58.000 Berufssoldaten und 131.000 Zeitsoldaten ihren Dienst, die sich zwischen vier und zwölf Jahre verpflichtet haben. Da in den nächsten Jahren die geburtenschwachen Jahrgänge vor der Tür stehen und die Attraktivität des Soldatenberufs rapide sinkt, steht die Bundeswehr vor erheblichen Rekrutierungsproblemen (siehe den Beitrag von Jonna Schürkes). Deshalb lautet das Fazit: Verstärkte Werbung für die Truppe ist nötig. Das Konzept der Armee sieht den Besuch von Jugendoffizieren an Schulen und die Einflussnahme auf Unterrichtsinhalte ebenso vor, wie die Teilnahme an Jugendmessen oder die Durchführung von Talentshows und sportlichen Wettkämpfen. Die Bundeswehr bedient sich bei ihrer Einflussarbeit professioneller Apparate aus Forschern und PR-Experten, aber auch »unabhängiger« Journalisten, Fernsehstationen, diverser staatlicher und halbstaatlicher Stellen sowie Städten und Kommunen. Dabei geht es allgemein gesprochen um Deutungshoheit über die Auslands- und Kriegseinsätze der Bundeswehr, um ein »normales«, positives Image der Streitkräfte und im Speziellen um Nachwuchswerbung, also um Rekrutierung für aktuelle und künftige Kampfeinsätze in aller Welt.

Verstärkte Werbung an Schulen

Wir brauchen alternative Unterrichtsmaterialien!

Aufgrund der suggestiven und einseitigen Art der Unterrichtsmaterialien »Frieden und Sicherheit« hat die Informationsstelle Militarisierung begonnen, alternative Unterrichtsmaterialien zu erarbeiten, die online kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Zielgruppe sind Schüler und Lehrer der gymnasialen Oberstufe und der Erwachsenenbildung. Geplant sind Arbeitsblätter zu unterschiedlichen Themen der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und der EU, Materialien für Lehrer zu einzelnen Themen sowie eine Referentenliste. Die Unterrichtsmaterialien können unabhängig, aber auch zusammen mit den Materialen »Frieden und Sicherheit« eingesetzt werden.

Die Informationsstelle Militarisierung würde sich freuen, wenn sich Lehrer bereit erklären würden, die Materialien im Unterricht zu testen und Verbesserungsvorschläge zu machen. Auch ist sie an Informationen interessiert, wann und wo Jugendoffiziere an Schulen auftreten, um ein vollständigeres Bild über deren Aktivitäten zu erhalten.

Kontakt: imi@imi-online.de

Die Werbung setzt immer häufiger bereits in der Schule an. Die Methoden der Bundeswehr variieren zwischen indirekter Beeinflussung von Schülerinnen und Schülern durch Einflussnahme auf Unterrichtsmaterialien und Schulbücher und direkten Kontakten zwischen Bundeswehrangehörigen und Jugendlichen.

Im Internet stellt das Portal www.frieden-und-sicherheit.de „ein Informationsangebot für junge Leute von 15 bis 20 Jahren sowie für den Unterricht in der Sekundarstufe II und den oberen Klassen der Sekundarstufe I (Klassen 9/10)“ zur Verfügung. Es wird von dem vorgeblich privaten Verein Arbeitsgemeinschaft Jugend und Bildung betrieben und unterliegt der „fachlichen Beratung“ durch das Verteidigungsministerium.1 Diese Materialien sind bereits so aufbereitet, dass den Lehrerinnen und Lehrern damit die Unterrichtsvorbereitung abgenommen wird – so soll sichergestellt werden, dass die von der Bundeswehr gewünschten Inhalte weitgehend unbesehen übernommen werden. Die Unterrichtsmaterialien umfassen ein Heft für den Unterricht (Schülerheft und Lehrerbegleitheft) und Arbeitsblätter, die als Ergänzung zum Schülerheft, aber auch unabhängig als Einzelblätter verwendet werden können. Vorgesehen ist jedoch, ganze Unterrichtssequenzen an den Materialien auszurichten, nicht nur für den Politik/Gemeinschaftskundeunterricht, sondern auch für Religion, Ethik, Geschichte und Geografie.2

Das Arbeitsblatt »Die Bundeswehr im Auslandseinsatz«3 zeigt eine Weltkarte mit den Einsatzorten der Bundeswehr. Die Schüler sollen dann auf den Bundeswehr-Internetseiten die Hintergründe der Einsätze recherchieren. Überschrieben sind die Seiten, auf denen die SchülerInnen recherchieren sollen, mit »Wege zum Frieden«, »Verantwortung tragen« sowie »Frieden schaffen«. Andere Arbeitsblätter beschäftigen sich mit den Themen »Eine Truppe für Europa« oder dem »Weißbuch« der Bundeswehr4, das bekanntlich globale Militäreinsätze zur Sicherung vermeintlich deutscher Interessen vorsieht. Darin haben SchülerInnen dann Multiple-Choice Fragen zu beantworten. Eine Arbeitsfrage lautet beispielsweise: „Das Weißbuch der Bundeswehr heißt Weißbuch, weil a) …die Farbe weiß für den Frieden steht. b) …es einen weißen Umschlag hat. c) …darin so viele Weisheiten niedergeschrieben sind.“

Die Materialien sind aber keineswegs alle plump, ganz im Gegenteil. Ein »Klassiker« der Bundeswehr-Unterrichtsmaterialien ist die Hochglanz-Broschüre »Frieden und Sicherheit«.5 Für Lehrer gibt es eine Extra-Ausgabe mit Tipps und Tricks zur Planung und Leitung des Unterrichts mit dem Material.6

Die Unterrichtsmaterialien sind sehr gut aufbereitet, weshalb die konkrete Kritik an einzelnen Arbeitsblättern schwer fällt. Es wird suggeriert, dass die Materialien eine Diskussion herausfordern würden, indem verschiedene Meinungen genannt werden und die Diskussion in der Gesellschaft um den Sinn und Zweck der Bundeswehr und ihrer Einsätze im In- und Ausland aufgegriffen würden. Dies mag auf den ersten Blick zutreffen, bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass hier sehr suggestiv vorgegangen wird. Systematisch wird die emotionale Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen als Ansatzpunkt für die Vermittlung militaristischer Inhalte genutzt: „Wenn in der Gesellschaft die Angst vor terroristischen Anschlägen zunimmt, dann trifft dies auch Jugendliche. Die Schüler sollten wissen, dass das Verbreiten von Furcht und Schrecken eines der Ziele von Terrorismus ist und dass das ‚Kopf in den Sand stecken“ und Lähmung keine Lösungen sein können.“ 7

Stets wird suggeriert, Auslandseinsätze dienten zum einen dem Schutz der deutschen Bevölkerung vor terroristischen Angriffen und zum anderen der Durchführung humanitärer Aktionen. Dies führt zu der absurden Aussage im Begleitheft: „Aus dem ‚Soldaten für den Frieden“, dem ‚Staatsbürger in Uniform“, der zu Zeiten des ‚Kalten Krieges“ zur Landesverteidigung bereitstand, ist ein ‚Soldat für den Weltfrieden“, ein ‚Weltbürger in Uniform“ geworden, der in entfernten Regionen und Erdteilen zum Einsatz kommt.“ 8

Neben dem schüren von Angst und der Ausnutzung von Emotionen werden in den Unterrichtsmaterialien höchst umstrittene Konzepte als wertfreie Realitäten dargestellt. Dies gilt vor allem für die Konzepte der »Neuen Kriege«, der »Vernetzten Sicherheit«, der »Zivilmilitärischen Zusammenarbeit (CIMIC)« und des »erweiterten Sicherheitsbegriffs«. Es wird nicht erwähnt, dass zahlreiche WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen bereits den Grundannahmen widersprechen, auf denen diese angeblich unumstrittenen und wertfreien Konzepte aufbauen.

Auch die Auswahl von Texten und Links zur weiteren Recherche ist extrem einseitig und die Bewertung der Sachverhalte wird durch die Form der Fragestellung bereits vorgegeben. So zum Beispiel im Arbeitsblatt »Hilfe für Menschen in Not«9, in dem die Bundeswehr in einem Atemzug mit dem Internationalen Roten Kreuz und Amnesty International als Hilfsorganisation dargestellt wird. Zum höchst umstrittenen CIMIC-Konzept wird die Aufgabe gestellt: „Lesen Sie den CIMIC-Text, und erklären Sie in eigenen Worten, warum eine Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Hilfsorganisationen in Krisengebieten wichtig ist. Wieso können sie einander nicht ersetzen?“ Die Kritik von Hilfsorganisationen ob der Vereinnahmung durch das Militär wird mit der Frage abgebügelt: „Warum empfinden manche Hilfsorganisationen die Bundeswehr als Konkurrenz?“ Diese Frage suggeriert, dass es den Hilfsorganisationen nur um die eigene Stellung geht und nicht um eine grundsätzliche Kritik an den Verflechtungen zwischen ziviler Hilfe und Militäreinsatz.

Dass mit den Unterrichtsmaterialien keine offene Diskussion über den Sinn und Zweck der Bundeswehr verfolgt wird, wird auch deutlich, wenn man die im Lehrerheft genannten Unterrichtsziele betrachtet. Darin heißt es u.a.: „Die Schülerinnen und Schüler sollen […] erkennen, dass für die gegenwärtige Friedens- und Sicherheitspolitik bei der fortgeschrittenen Globalisierung ein System globaler kooperativer Sicherheit erforderlich ist und weiterentwickelt werden muss, [sie sollen] am Beispiel aktueller Auslandseinsätze der Bundeswehr deren friedenssichernde Rolle beurteilen.“ 10

Äußerst einseitig wird auch die Wahrnehmung der Bundeswehr durch Soldaten und Soldatinnen dargestellt. Im Schülerheft werden unter dem Titel »Warum wir Soldaten brauchen«11 Statements von Soldatinnen und Soldaten über ihren Beruf wiedergegeben. Es handelt sich um vier Aussagen, die alle ihren Job als erfüllend beschreiben und sich positiv über die Auslandseinsätze äußern. In keinem der Zitate ist auch nur ein Hauch von Kritik zu hören. Die Umfrage des Bundeswehrverbandes, nach dem 70% der Soldaten ihren Freunden und Verwandten vom Dienst bei der Bundeswehr abraten würden12, wird ebenso ignoriert, wie die Tatsache, dass viele Soldatinnen und Soldaten nach Auslandseinsätzen Probleme haben (siehe den Beitrag von Jonna Schürkes).

Abgesehen davon wird sowohl in den Arbeitsblättern als auch im Schülerheft alleine durch die Wortwahl die Bewertung der dargestellten Sachverhalte enorm beeinflusst. Handelt es sich um Kriege, die von Europa oder den USA ausgehen, so sind es „friedensschaffende Maßnahmen“ oder „humanitäre Einsätze“. Handelt es sich um Kriege in anderen Teilen der Welt, so wird von Bürgerkriegen, Terror und Völkermord gesprochen. Besonders haarsträubende Aussagen, wie die „gewaltsame Herstellung friedlicher Zustände“ 13 werden vorsorglich in Anführungszeichen gesetzt.

Die Beratung zur Herstellung der Unterrichtsmaterialien kostet das Verteidigungsministerium jährlich 223.000 Euro. Für die Jahre 2008/09 sind jährlich 330.000 Euro vorgesehen, da ein neues Schülerheft erstellt werden soll. Die Materialien werden erschreckend häufig im Unterricht verwendet: „In 2007 sind von den Schulen mehr als 325.000 Schüler- und über 16.000 Lehrerhefte für den Unterricht bestellt worden.“ 14

In der Lehrerausgabe des Heftes wird darauf verwiesen, dass das Erreichen der Lernebene des „beurteilen, abwägen, Bereitschaft entwickeln“ leichter durch das eigene Erleben einer Bundeswehreinrichtung oder im Gespräch mit einem Jugendoffizier erreicht werden kann als ohne diese »Angebote«.15 Dass dieser Appell fruchtet, zeigen aktuelle Beispiele: Im Januar 2008 brachte eine Deutschlehrerin 34 SchülerInnen aus Torgau und Delitzsch in Sachsen für vier Tage für ein Planspiel der Bundeswehr zu zwei Jugendoffizieren auf das Schloss Weidenberg bei Nürnberg. In Bremen fand eine ebenfalls viertägige Veranstaltung für SchülerInnen aus Hamburg-Bergedorf gleich in der Kaserne statt.16

Bundesweit koordiniert erfolgen die Einladungen an Schülerinnen in Bundeswehreinrichtungen durch das Bundesverteidigungsministerium am »Girls“ Day«. Der Girls“ Day, der seit 2001 jährlich vom Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V. aus Bielefeld durchgeführt wird, geht auf eine Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie des Familienministeriums zurück. Beteiligt sind neben der Bundeswehr der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die Bundesagentur für Arbeit (BA), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Fördermittel kommen unter anderem vom Europäischen Sozialfonds.17 Wie die Bundeswehr mitteilt, geht es ihr darum, „Schülerinnen für den ‚Arbeitgeber Bundeswehr“ zu interessieren und darauf aufmerksam zu machen, dass der Beruf des Soldaten keine reine Männersache ist.“ Mit Veranstaltungen am Girls“ Day, heißt es weiter, könne „der fehlend qualifizierte Nachwuchs, der so dringend gebraucht wird, […] leichter angeworben werden.“ Insbesondere technische Fachkräfte sollen unter jungen Frauen rekrutiert werden, denn sie hätten inzwischen in allen Schulstufen die besseren Abschlüsse aufzuweisen.18 Im Jahr 2006 hatten sich insgesamt 135 Dienststellen der Bundeswehr am Girls“ Day beteiligt und ihr Angebot mehr als 6.200 jungen Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet präsentiert.19 Zahlreiche Militärveranstaltungen im Rahmen des »Mädchen-Zukunftstages« fanden in Kooperation mit den Arbeitsagenturen und in deren Räumlichkeiten statt.

Jugendoffiziere an Schulen

Ein wichtiges Instrument ihrer Nachwuchswerbung ist für die Jugendoffiziere an den Schulen das Strategiespiel POLIS (Politik und Internationale Sicherheit). Dabei handelt es sich um eine Simulation für Schüler ab der 10. Klasse, bei der anhand konkreter Beispiele weltweite Ressourcenverteilungskonflikte und Interventionsszenarien durchgespielt werden – Atomwaffeneinsatz inklusive. Lehrer und betriebliche Ausbilder können POLIS-Seminare im Rahmen von Klassenfahrten kostenlos buchen; unter der Anleitung von Jugendoffizieren wird dann mehrere Tage meist in Kasernen geübt.20 POLIS wurde 2004 insgesamt 378 mal für jeweils 30 bis 50 Schüler gebucht.

Wie ein solches Strategiespiel abläuft, beschreibt anschaulich ein Artikel in der ZEIT vom April 2003. Es wird beschrieben, wie Schüler, die sich vor Beginn des Spiels gegen jede Form von Krieg aussprachen, Krieg führen. Dass „[…] gerade friedensbewegte Schüler aufgerüstet hätten, sei ein ‚Element der Orientierung“ an der Realität“, so Wolfgang Sting, Professor für Theaterpädagogik an der Universität Hamburg. Und auch der Jugendoffizier Christian Rump, „ist von der Kriegsstimmung der Schüler nicht überrascht. ‚Es gibt immer welche, die vorletzte Woche noch bei der Hand-in-Hand-Lichterkette mitgemacht haben und jetzt Krieg führen wollen“, sagt der 28-Jährige, ‚viele denken plötzlich, Stärke und Gewalt sind die besten Mittel.“ Rump spricht davon, wie sehr die Medien gegen den [Irak-]Krieg Stimmung machten und die Schüler beeinflussten. Wenn die Schüler im Spiel aber Verantwortung trügen, setzten sie oft selbst das Militär ein.“ 21 Zusammengefasst: Das Strategiespiel POLIS treibt den Schülern die Flausen von Lichterketten und Friedensbewegung aus und soll sie mit der Realität und Alternativlosigkeit des Krieges bekannt machen.

Derzeit gibt es knapp 100 haupt- und weit über 300 nebenamtliche Jugendoffiziere. Allein im Jahr 2005 führten die Jugendoffiziere fast 8.000 Einsätze durch und erreichten knapp 181.000 Menschen. Mit über 160.000 erreichten Schülerinnen und Schülern liegt der Schwerpunkt eindeutig im schulischen Bereich. Im Vergleich zum Jahr 2004 stieg damit die Zahl der Einsätze um über 9,8% an.22 In den meisten Bundesländern gibt es kultusministerielle Erlasse und Weisungen, welche die Einbindung von Jugendoffizieren in den Schulunterricht ausdrücklich befürworten. Die Bundeswehr arbeitet bei ihren Auftritten in Schulen nach eigener Aussage eng mit der Lehrerschaft zusammen. Die Jugendoffiziere berichten: „In fast allen Betreuungsbereichen gestaltete sich dieses Miteinander vertrauensvoll, kooperativ und effektiv. Die Lehrer, mit denen die Jugendoffiziere in Kontakt stehen oder kommen, sind der Bundeswehr fast ausnahmslos positiv und offen gegenüber eingestellt. Dabei sind erfreulich viele jüngere Pädagoginnen und Pädagogen.“ 23 Dennoch ist die Bundeswehr mit der Zahl der Einladungen von Jugendoffizieren an Schulen keineswegs zufrieden. Ein Bundeswehr-PR-Experte beklagt, dass die kultusministeriellen Empfehlungen den Lehrern als End-Entscheidern einen so großen Spielraum ließen, dass diese letztendlich selbst festlegen, in welchem Maß die Bundeswehr im Unterricht behandelt und ob Jugendoffiziere hinzugezogen würden. Für die Zukunft wird deshalb angestrebt, dies verbindlicher zu regeln.24

Im Handbuch der Jugendoffiziere, herausgegeben von der Akademie für Information und Kommunikation (AIK)25, wird als Aufgabe beschrieben, dass Jugendoffiziere in „Kernfragen des militärischen Auftrages keine von den Vorgaben des Bundesministeriums für Verteidigung abweichenden Auffassungen“ vertreten dürfen. Das bedeutet also, dass sie dazu verpflichtet werden, immer streng die Position der Regierung und der Armeeführung wiederzugeben und für sie zu werben. In der Arbeit der Jugendoffiziere geht es um Überzeugungsarbeit, nicht, wie so oft betont, um Dialog und Information. Diese sind eher Mittel zum Zweck. Jugendoffiziere heißen nicht nur so, weil sie Jugendliche im Sinne der Bundeswehr beeinflussen wollen und sollen, sondern auch, weil sie selber noch jung sind, meist zwischen 27 und 32 Jahren. Für diesen »Fronteinsatz« (dieser Begriff wird auch von Jugendoffizieren selbst verwendet) ist nicht jede Person geeignet.

„Den Jugendoffizier muss Wendigkeit, Begeisterungsfähigkeit, Redegewandtheit, politisches Interesse und Freude an der Jugendarbeit auszeichnen“, heißt es in dem Handbuch für Jugendoffiziere des Verteidigungsministeriums.26 „Er soll von seinem Auftreten her frisch und jugendlich, kann sogar noch etwas jungenhaft wirken. Er muss redegewandt, schlagfertig und mit einer Portion Humor begabt sein. Er soll ein Mensch sein, zu dem man gern Kontakt sucht und der seinerseits leicht Kontakt findet. Auch soll er ein ausgeprägtes Interesse am politischen und sonstigen Tagesgeschehen haben.“ 27

Wer hauptamtlicher Jugendoffizier werden will, muss vom Notenschnitt im oberen Drittel seines Jahrgangs gewesen sein, über ein abgeschlossenes Universitätsstudium verfügen, eine Empfehlung der Bundeswehr-Akademie für Information und Kommunikation (AIK, früher: Amt für Psychologische Kriegführung) vorweisen können, nach dem Studium ausreichend lang in der Truppe gedient haben und mindestens drei Jahre lang für diese Rolle zur Verfügung stehen. Alle Soldaten, die Jugendoffiziere werden sollen, absolvieren einen Intensivkurs. Dabei geht es um drei große Bereiche:

Rhetorik – d. h. es werden Verhaltens- und Argumentationsweisen gelehrt

Politische Bildung/Sicherheitspolitik – d. h. inhaltliche Schulung zu strittigen Bundeswehrthemen

Informationen über die Jugendlichen – d. h. Einstellungen der Jugendlichen, Verhaltensweisen, Interessen usw.

Das Auftreten der Jugendoffiziere ist natürlich je nach Eignung und persönlichen Voraussetzungen mehr oder weniger qualifiziert und geschickt. Letztlich arbeiten aber alle mit den Mitteln und Methoden, die ihnen in der psychologischen Ausbildung vermittelt wurden. Das macht die Jugendoffiziere bis zu einem gewissen Maß berechenbar.

Tatsächlich vertreten sie fast nie einen eigenen Standpunkt, obwohl sie gelegentlich versuchen diesen Eindruck zu erwecken. Jugendoffiziere sind stark bemüht, das bei Jugendlichen vorhandene Bild eines Militaristen zu konterkarieren: Mimik, Gestik, äußere Erscheinung und Sprache stehen im Zeichen der Sympathiewerbung, sie sollen psychologische Barrieren abbauen. Während ungeschulte Soldaten auch bei Diskussionen zwangsläufig in Kasernenhofton verfallen, unterläuft dem Jugendoffizier ein solches Missgeschick nicht. Die Stimme bleibt ruhig und gelassen, die Lautstärke ist dem Raum stets angemessen. Sie zeigen sich locker und ungezwungen, gesprächsbereit und offen für alle Probleme. Durch eine geschickte Gesprächsstrategie versuchen sie, inhaltlich-politische Konflikte zu entschärfen und ihnen wo möglich ganz auszuweichen.

Wichtig ist den Jugendoffizieren, schon zu Beginn einer Veranstaltung eine vertraute Atmosphäre zu schaffen. So erzählen sie zunächst von sich: Alter, verheiratet, Kinder, zur Bundeswehr, um die Familie schützen zu können oder Ähnliches. Erst auf direkten Widerspruch reagiert der Jugendoffizier aggressiver. Die Strategie ist dabei, seinen Gegenspieler als uninformiert oder uneinsichtig hinzustellen. Häufig versucht der Jugendoffizier kritische Positionen als jugendlich-naiv darzustellen, ihnen aber scheinbar Verständnis entgegen zu bringen.

Der Jugendoffizier verschließt sich also nicht grundsätzlich der Kritik. Sachlich und emotionslos geht er auf die aufgeworfenen Probleme ein, gibt zu, dass es sie gibt. Aber im Laufe seiner Argumentation stellt sich heraus, dass die Probleme aufgebauscht werden, dass sie nicht typisch für die Bundeswehr sind oder längst alles getan wird, um sie zu beseitigen. Letztlich gibt es keine Probleme von Bedeutung, außer denen, die der Jugendoffizier selbst aufwirft: zu wenig Geld für die Rüstung, zu wenig Verteidigungswillen und Dienstbereitschaft bei Jugendlichen etc.

Im Rahmen der Aus- und Weiterbildung für Pädagogen und Multiplikatoren bieten die Jugendoffiziere außerdem spezielle sicherheitspolitische Seminare an. So informieren sie z.B. Referendare bei mehrtägigen Fahrten nach Berlin, Brüssel oder Straßburg über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die Entwicklungen in der NATO sowie die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In vielen Bundesländern werden diese Veranstaltungen von den Kultusministerien als Lehrerfortbildungsseminare anerkannt. So kann ein Jugendoffizier in Bad Salzungen (Thüringen) berichten: „Mittlerweile wurde erreicht, dass das Ministerium seine Schulämter ausdrücklich auf die Zusammenarbeit mit den Jugendoffizieren hinweist. Außerdem wurde erreicht, dass die Jugendoffiziere im Thüringer Institut für Lehrerweiterbildung nun als Dozenten aufgeführt und somit vom Ministerium und den Schulämtern anerkannte Weiterbildungen für Lehrer anbieten können.“ 28 Es werden also bereits Lehramtsanwärter militärisch geschult; Offiziere der Bundeswehr unterrichten in Thüringen die künftigen Klassenlehrer aus den Fächergruppen Gemeinschaftskunde, Geschichte und Ethik.

Die Bundeswehr legt nach Außen großen Wert darauf, dass die Jugendoffiziere selbst nicht direkt in der Personalwerbung aktiv sind. Die Trennung von Information und Rekrutierung „wird von den Schulbehörden und den Schulen erbeten und erwartet. Vor allem in traditionell der Bundeswehr kritisch gegenüberstehenden Betreuungsbereichen ist es unerlässlich, sich abzusprechen und den entsprechenden Schulen zu garantieren, dass der Vortrag keine Nachwuchswerbung ist.“ 29 Diese Trennung wird in der Praxis allerdings nur bedingt aufrechterhalten. Die Jugendoffiziere sollen den Rekrutierern den Weg bereiten. Auch die Jugendoffiziere geben zu: „Prinzipiell ist die Zusammenarbeit mit der Wehrdienstberatung […] ausgezeichnet. So werden gemeinsame Auftritte vor Schulklassen genauso geplant und durchgeführt wie Besuchsanfragen weitergeleitet werden, […] oder es werden Schulanschreiben von beiden zusammen ausgestaltet und versandt.“ 30

Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE zeigt, dass die Bundesregierung die Praxis der Beeinflussung des Unterrichts durch die Bundeswehr sehr positiv sieht. Sie ist der Meinung, sie würde dem Beutelsbacher Konsens, der die Mindestanforderung an die politische Bildung in der Schul- und Erwachsenenbildung festlegt, entsprechen.31 Der Beutelsbacher Konsens von 1976 enthält drei Grundsätze, wobei zwei durch die Form der Unterrichtsmaterialien Sicherheit und Frieden und die Präsenz von Jugendoffizieren an Schulen missachtet werden. So besagt das Überwältigungsverbot: „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinn erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbstständigen Urteils zu hindern.“ Das Beispiel des oben dargestellten Arbeitsblattes zur zivil-militärischen Zusammenarbeit missachtet dieses Verbot eindeutig. Die Nutzung von offen wertenden und höchst umstrittenen Konzepten, die als vermeintlich wertneutral und allgemein anerkannt verkauft werden, widerspricht dem Kontroversitätsgebot, das besagt:

„Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten.“ 32 Der Bundesregierung zufolge werden diese Grundsätze jedoch auch durch die Arbeit von Jugendoffizieren an Schulen nicht verletzt: „Die Grundprinzipien des Beutelsbacher Konsens sind Grundlage der Politischen Bildung in der Bundeswehr […]. Sie sind integraler Lehrinhalt der Ausbildung der nebenamtlichen/hauptamtlichen Jugendoffiziere an der AKBwInfoKom.“ 33 Wie oben dargestellt wurde, ist die Arbeit der Jugendoffiziere jedoch keinesfalls wertneutral. So heißt es in einer Darstellung von Jugendoffizieren auf einer Seite des Bildungsservers Sachsen Anhalt: „Die Jugendoffiziere in Sachsen-Anhalt stehen Ihnen und Ihren Schülern als Referenten, Diskussions- und Ansprechpartner in allen Fragen, die das Themenfeld Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Europas und der Welt betreffen, zur Verfügung. Wir möchten mit unserer Arbeit einen Beitrag zur Erhaltung und Festigung des Grundkonsens über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes leisten.“ 34 Dabei gehen sie von einem Grundkonsens aus, der so nicht besteht.

Auch der Berliner Senat sieht durch die Präsenz von Jugendoffizieren an Schulen „eine ausgewogene politische Diskussion des Themas mit den differenzierten Vorgaben des geltenden Rahmenplans für Unterricht und Erziehung sichergestellt.“ Der Senat kommt zu diesem Ergebnis, obwohl er zuvor darüber berichtete, dass im Jahr 2000 205 Veranstaltungen von Jugendoffizieren stattgefunden hätten und lediglich eine davon mit der Beteiligung von Wehrpflichtgegnern. Von Ausgewogenheit kann daher keine Rede sein.35

Die Truppe erobert den öffentlichen Raum

Im August 2007 titelte die FAZ „Rekrutierungsbüros in jeder Fußgängerzone?“ und entwarf folgende Vision: „Die Fußgängerzone einer beliebigen deutschen Stadt mit 30.000 Einwohnern, wir schreiben das Jahr 2010. Ein Blumengeschäft, drei Telefonläden, ein Ramschverkäufer mit fernöstlichen Drei-Euro-Produkten, eine Pommesbude und irgendwo dazwischen ein Rekrutierungsbüro.“ 36 Auch wenn dies tatsächlich noch eine Vision ist, so tummeln sich Rekrutierer inzwischen vermehrt auf Markplätzen, Messen, Volksfesten, Unis oder Berufsinformationszentren. 2008 sollen mehr als 600 dieser Einsätze stattfinden.37

Von Düsseldorf aus steuern 24 hauptamtliche Mitarbeiter alle Einsätze der Bundeswehr auf Großveranstaltungen oder belebten Marktplätzen. Sie koordinieren die Trucks des »KarriereTreffs« aber auch die jeweils acht Infomobile und Infotrucks sowie die acht Messestände der vier Zentren für Nachwuchsgewinnung (ZNwG), die rein personalwerblich ausgerichtet sind.38

Der KarriereTreff Bundeswehr und das ZNwG wollen dieses Jahr 9.147 Schulen anschreiben, das sind fast 30% mehr als 2007. Bei der Werbung wird das Kriegsministerium wieder Panzer, Flugzeuge und anderes Großgerät einsetzen. Das Zentrum für Nachwuchsgewinnung bildet nach Meinung der Bundesregierung „[…] eine moderne und innovative Kommunikationsplattform […].“ 39 Im letzten Jahr fanden 204.259 Informationsgespräche statt. Die Bundeswehr nutzt 2008 auch die über 1.500 Auftritte des Musikkorps, über hundert Gelöbnisse und andere militärische Zeremonien zur externen Personalgewinnung.40

Mit einem »Karrieretruck« zieht die Bundeswehr durch Deutschland, um auf öffentlichen Plätzen Jugendliche anzusprechen. Im Karrieretruck gibt es Kino, gleich neben ihm eine Kletterwand und vor ihm werden Interessierte über die Karriere bei der Bundeswehr informiert. Die Bundesregierung schätzt die Bedeutung der mobilen Werbung als sehr hoch ein: „Nur durch diese mobilen Einsätze können die aus Sicht der Bundesregierung attraktiven Karrieremöglichkeiten in der Bundeswehr flächendeckend präsentiert werden. Für die Sicherstellung der personellen Regeneration und damit Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr haben die mobilen Einsätze daher eine hohe Bedeutung.“ 41 Die Bundeswehrwerbung ist der Bundesregierung einiges wert: Alleine der Einsatz der Karrieretrucks kostete im Jahr 2007 fast 1 Millionen Euro.42

Zum Repertoire zählen zudem eigens für Jugendliche veranstaltete Preisausschreiben, Musik-, Talent- und Sportwettbewerbe. Abgerundet werden die Bemühungen der Streitkräfte, Einfluss auf das Denken und die Berufswahl von Jugendlichen zu nehmen, durch regelmäßig abgehaltene Jugendpressekongresse. Die anwesenden Schülerzeitungsredakteure werden aufgefordert, Texte zu schreiben, die die Kommunikation zwischen der Bundeswehr und ihrer jugendlichen Zielgruppe verbessern.43

Die Bundeswehr betreibt im Internet verschiedene Seiten, die in erster Linie dem Anwerben von Jugendlichen dienen. Auf der Seite »www.treff.bundeswehr.de« können Jugendliche, sobald sie sich mit vollständigem Namen, Adresse, Telefonnummer, (angestrebtem) Schulabschluss, Nationalität etc. angemeldet haben, Bildschirmschoner, Handy-Klingeltöne etc. herunterladen, mit anderen Jugendlichen oder Bundeswehrangehörigen chatten und an Gewinnspielen teilnehmen. Die Richtigkeit der Angaben wird soweit kontrolliert, als dass die Zugangsdaten per Post geschickt werden. Mit diesen Angaben – so ist zu vermuten – können die Jugendlichen kontaktiert und angeworben werden. Auch mit den auf der Internetseite beworbenen Veranstaltungen werden spezielle Gruppen von Jugendlichen angesprochen. So sind nur diejenigen zu den »discovery days« eingeladen, „die sich für die Laufbahn der Unteroffiziere bzw. Feldwebel des allgemeinen Fachdienstes, oder der Feldwebel des Truppendienstes interessieren.“ 44

Mehrmals jährlich werden auch Sportveranstaltungen organisiert, wie die BW-Olympix, das BW-Beachen45 oder BW Adventure-Games, bei denen die Teilnehmer bei simulierten Marine-Übungen das Überleben auf See trainieren können. Der Hauptpreis der letzten BW-Olympix war die Teilnahme an einer Übung für Piloten der Luftwaffe. Das Ziel der Veranstaltungen ist klar: „Als Informationsforen bieten die Veranstaltungsformate erstmalig eine Plattform für einen gemeinsamen Auftritt der Streitkräfte und Wehrverwaltung mit Schwerpunkt ‚Personalgewinnung.““ 46 Eine Studie zur Verbesserung der Nachwuchswerbung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr empfiehlt: „Die vorhandenen Angebote, wie beispielsweise die Sport- und Musik-Events der Bundeswehr (BW-Beachen, BW-Olympix), Girlsday, Tage der offenen Tür (Open Ship der Marine) etc., sollten weiter ausgebaut und weitere geeignete Möglichkeiten entwickelt werden.“ 47

Auch an Universitäten versuchten Jugendoffiziere Fuß zu fassen und dort die Version der Bundeswehr zu Krieg und Frieden zu verbreiten. Dies war bisher jedoch wenig erfolgreich.48 Doch seit dem Wintersemester 2006/07 gibt es in Potsdam den Studiengang »Military-Studies«, der gemeinsam vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr und dem Institut der Soziologie und Militärgeschichte der Uni Potsdam veranstaltet wird. Das Drängen in zivile Universitäten dient wohl vorrangig der Beeinflussung der Studien zur Militärsoziologie und Militärgeschichte, kann aber auch im Zusammenhang mit der Not der Bundeswehr, Personal mit Universitätsabschlüssen zu gewinnen, gesehen werden. In Ingolstadt ist ein Studiengang »Luftfahrttechnik« an einer FH geplant. Werbung für diesen Studiengang macht die FH gemeinsam mit der Bundeswehr. So landete zu Semesterbeginn im Oktober 2007 ein Hubschrauber der Bundeswehr auf dem Gelände der FH. Dazu standen Bundeswehrangehörige zur Verfügung, um Fragen zu beantworten: „Die [Studenten] wollen auch wissen, wie sie an Jobs in dieser Branche kommen.“ 49

In Zusammenarbeit mit der Bundeswehr entstand auch die TV-Serie »Sonja wird eingezogen«, die 2006 auf RTL ausgestrahlt wurde. Die Moderatorin Sonja Zietlow segelte darin auf der Gorch Fock, sprang Fallschirm und robbte mit Scharfschützen und KSK-Soldaten durch den Schmutz. Der 50. Geburtstag der Bundeswehr war der willkommene Anlass, Schaffen und Wirken der Truppe einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und nebenbei um den dringend benötigten Nachwuchs zu werben. RTL hält sich zur Frage, wer »Sonja wird eingezogen« finanzierte, bedeckt. Weder das Produktionsbudget noch die Aufteilung unter den Kooperationspartnern werden genannt. Fest steht nur, dass die Bundeswehr das Gerät stellte.

Aber auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen stellt sich in den Dienst der Bundeswehr-Imagekampagne. »Die Rettungsflieger« ist eine Co-Produktion von Bundeswehr und ZDF. Auf der Homepage zur Sendung kann man sich ausführlich über die Bundeswehr informieren. Unter der Überschrift „Es wirkt nicht nur echt – es ist auch echt“ ist nachzulesen, dass die Orte, an denen die Serie gedreht wird, echte Einsatzzentralen, Hubschrauberlandeplätze etc. der Bundeswehr sind. Zudem kann man auf der vom ZDF und der Bundeswehr gemeinsam gestalteten Internetseite erfahren, dass die Darstellungen so authentisch sind, weil die Bundeswehr direkt am Drehbuch mit schreibt und die Piloten der Hubschrauber echte Bundeswehrpiloten sind. Neben der Verbesserung des Images der Bundeswehr im Allgemeinen dient auch diese Sendung der Rekrutierung von Nachwuchs. Auf einer Extraseite können sich Interessierte informieren, wie man Rettungsflieger bei der Bundeswehr werden kann.50

Im November 2007 startete der Film »Mörderischer Frieden« in den Kinos. Der Film spielt während des NATO-Krieges im Kosovo und die Protagonisten sind Bundeswehrsoldaten. Er handelt vorgeblich von den ganz alltäglichen und menschlichen Problemen im Auslandseinsatz. Spiegel-online urteilte jedoch: „Die Bundeswehr-Recken in ‚Mörderischer Frieden“ hingegen verstehen es nicht nur, sich schadlos durchs osteuropäische Tohuwabohu zu schlagen, sondern stiften dann auch noch wunderbar symbolträchtig ein bisschen Frieden zwischen den Menschen. Am Ende knattert dann besinnlich ein Heeres-Hubschrauber. Ein Eingreifmärchen, wie es sich die PR-Abteilung der Bundeswehr nicht schöner hätte ausdenken können.“ 51 Doch was heißt hier die »Bundeswehr nicht schöner hätte ausdenken können«, schließlich wurde der Regisseur Rudolf Schweiger bei diesem Projekt sowohl von der Bundeswehr, als auch vom Arbeitsbereich 3 (Medien) des Presse- und Informationsstabes des Verteidigungsministeriums unterstützt.52

Die »Corporate Identity« der Bundeswehr

Die »Marke« Bundeswehr wird planmäßig in der Öffentlichkeit aufpoliert. Neben der Dienstleistung diverser privater Werbefirmen ist die bundeswehreigene Akademie für Information und Kommunikation (AIK) für diese Aufgabe zuständig. Die AIK ist eine Nachfolgeeinrichtung der Akademie für psychologische Verteidigung (PSV), die nach der Wiederbewaffnung Westdeutschlands mit tatkräftiger konzeptioneller und praktischer Unterstützung vormaliger NS-Propagandisten aufgebaut wurde.53

Die AIK hat seit 1990 ein Aufgabenfeld mit drei Kernfunktionen:

Das Feststellen und Analysieren der Einstellung der Bürger zur Bundeswehr. Auf dieser Basis sollen Empfehlungen für die Informationsarbeit abgegeben werden.

Die AIK soll als »Begegnungsstätte sicherheitspolitisch aktiver und interessierter« Multiplikatoren fungieren.

Sie soll die Aus-, Fort- und Weiterbildung des militärischen und zivilen Fachpersonals in Form von Lehrgängen (in erster Linie Presse- und Jugendoffiziere) übernehmen.54

Neben der Ausbildung von Fachpersonal der Presse- und Informationsarbeit wird in der AIK also im Rahmen von Seminaren ein sicherheitspolitischer Dialog mit „interessierten Bürgern“ geführt. Als Multiplikatoren werden neben „führende(n) Vertreter(n)“ von „publizistischen Organen mit überregionaler Bedeutung“ auch „leitende Angehörige der Industrie und Wirtschaft“, „führende Vertreter der Arbeitnehmerverbände“, Juristen und Pädagogen des höheren Staatsdienstes, bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Abgeordnete des Deutschen Bundestages, der Landtage und des Europäischen Parlaments angesprochen, nach eigenen Aussagen mit wachsendem Erfolg.55

Ziel dieser Propaganda-Apparate der Bundeswehr ist aktuell beispielsweise die Vorbereitung der Öffentlichkeit auf den Tod deutscher Soldaten in größerer Zahl. Die „Gesellschaft in Deutschland“, so der AIK-Kommandeur Oberst Rainer Senger, müsse darauf „vorbereitet“ werden, dass Bundeswehrangehörige „in größerer Zahl sterben“ und „andere Menschen töten.“ 56 Diese Stand-by-Propaganda soll unter den Medienvertretern Gewöhnung und Gleichgültigkeit hervorrufen.

Wie es auf einer Fachtagung hieß, basiert die „neue Informations- und Kommunikationsstrategie“ auf den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr. Darin wird bekanntlich behauptet, dass sich „Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen“ lasse und die Aufgabe des deutschen Militärs in der „Gestaltung des internationalen Umfelds in Übereinstimmung mit deutschen Interessen“ bestehe. Der Bürger müsse verstehen, dass die Bundeswehr in Zukunft vermehrt „friedenserzwingende, also intensive Maßnahmen“ im Ausland durchführen werde und „kein Technisches Hilfswerk in Flecktarn“ sei.57

Eine Aufgabe der AIK ist auch die »Corporate Identity« der Bundeswehr, also die Vermittlung eines positiven Bildes der Streitkräfte in den Medien. Die erste koordinierte Werbekampagne lief Ende der 1980er mit dem Slogan »Eine starke Truppe« an. Die Kampagne sollte vor allem der Nachwuchswerbung dienen. „Im Rahmen dieser ersten systematischen Werbekampagne der Streitkräfte warben sie 1987 erstmals im Medium Fernsehen um Nachwuchs. Stark emotionalisierende Werbesequenzen, die mit der Anlehnung an die Schlussszene des damaligen Filmhits ‚Top Gun“ (amerikanischer Fliegerfilm) oder der Darstellung von Lagerfeuerromantik das ‚besondere Abenteuer in der Bundeswehr“ im Sinne einer ‚Starken Truppe“ vermitteln sollte.“ 58 Unter dem Namen »Dachkonzept Informationsarbeit 2000« wurde zwischen 1992 und 2000 mit großem finanziellem Aufwand versucht, die gesellschaftliche Akzeptanz der »neuen« Bundeswehr in der Bevölkerung zu verbessern und die Institution als attraktiven und modernen Arbeitgeber darzustellen. Seitdem startet die Bundeswehr jährliche Werbekampagnen, z.B. die Kampagne »Wir sind da«.

Die Bundeswehr nimmt auf dargestellte Weise gezielt Einfluss auf Massenmedien wie das Fernsehen. Aus der ehemaligen PSV ist auch die »Truppe für Operative Information« (OpInfo) hervorgegangen. Bezeichnenderweise trägt sie im NATO-Sprachgebrauch weiterhin die Bezeichnung »Psychological Operations« (PSYOPS). Aus diesem Hause stammt auch der neue Sender Bundeswehr Television (BwTv), der verschlüsselt per Satellit ausgestrahlt wird, da den Streitkräften eine direkte mediale Einflussnahme auf die eigene Bevölkerung verboten ist.59 BwTv wurde 2002 mithilfe der PR-Agentur Atkon AG aufgebaut. Wie die Recherchen von Steven Hutchings zum Dokumentarfilm »Die gelenkte Demokratie« ergaben, wurde eine 100prozentige Tochterfirma der Atkon AG, die Atkon TV Service GmbH, damit beauftragt, sendefertige Fernsehbeiträge an private und öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten abzugeben.60 In Zusammenarbeit mit der OpInfo entstand auch die TV-Serie »Sonja wird eingezogen«.

Fast alle Forschungseinrichtungen, die für die mediale Propagandaarbeit des deutschen Militärs relevant sind, wurden mittlerweile in Strausberg konzentriert. Neben der AIK befindet sich dort auch das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SoWi), das der AIK mittels Meinungsumfragen die Ansatzpunkte für die gezielte Einflussarbeit an Bevölkerung und Truppe liefert.

Fazit: Die Militärpropaganda stoppen

Die militaristische Propaganda legt sich – unterstützt durch staatliche und privatwirtschaftliche Stellen – wie Mehltau über die Gesellschaft. Die Bundeswehr zielt mit ihrer Werbung besonders auf Jugendliche und versucht deren Perspektivlosigkeit auszunutzen. Denn das Hauptargument der Werbestrategen ist immer noch die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Werbeslogans wie »Du suchst Zukunft? Wir bieten sie«, »Die Bundeswehr – jung, dynamisch und effektiv – eines der größten Ausbildungsunternehmen Deutschlands« oder »Berufsgarantie bei der Bundeswehr – Nutzen Sie ihre Chance« stoßen in Zeiten einer Jugendarbeitslosigkeit von ca. 15% und mehreren hunderttausend Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz zunehmend auf offene Ohren. Deshalb ist es umso notwendiger, dass von Seiten der Friedensbewegung aber auch der Gewerkschaften der militaristischen Propaganda der Bundeswehr in Schulen, Arbeitsämtern und der Öffentlichkeit entschlossener als bisher entgegentreten wird.

Anmerkungen

1) Frank Brendle: Propagandaoffensive an der Jugendfront, Junge Welt, 06.01.2006.

2) Frieden und Sicherheit (2006a): Lehrerhandreichung 2006/2007. Begleitmaterial zum Schülerheft und zum Internetauftritt, S.3, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/134/Lehrerheft_2006_07.pdf

3) Arbeitsblatt: Die Bundeswehr im Auslandseinsatz, August 2004, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/72/Arbeitsblatt_BW_Ausland.pdf

4) Arbeitsblatt: Weißbuch 2006: Die Zukunft der Bundeswehr, November 2006, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/72/Arbeitsblatt_Weissbuch.pdf

5) Frieden und Sicherheit (2006b): Wir alle tragen Verantwortung. Ein Heft für die Schule 2006/2007, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/134/Schuelerheft_2006_07.pdf

6) Frieden und Sicherheit 2006a.

7) Ebd., S.4.

8) Ebd., S.5.

9) Arbeitsblatt: Hilfe für Menschen in Not, November 2005, URL: http://www.frieden-und-sicherheit.de/uploads/72/Arbeitsblatt_Hilfsorganisationen.pdf

10) Frieden und Sicherheit 2006a, S.5f.

11) Frieden und Sicherheit 2006b, S.10f.

12) Alarmierendes Stimmungsbild der Streitkräfte, Tagesschau, 26.04.2007.

13) Frieden und Sicherheit 2006a, S.3.

14) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage (2008a): Informationsarbeit der Bundeswehr an Schulen vom 21.04.2008, BT-Drucksache 16/8852, URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/088/1608852.pdf

15) Frieden und Sicherheit 2006a, S.5f.

16) Hochamt für den Krieg, Junge Welt, 20.02.2008.

17) www.girls-day.de

18) Girls“ Day bei der Luftwaffe, 24.04.2008, URL: http://tinyurl.com/62w3gp

19) Girls“ Day. Der Mädchen-Zukunftstag kommt am 26. April 2007 zur Luftwaffe, URL: http://tinyurl.com/476obx

20) Heinelt, Peer: Wehrpropaganda aktuell, Konkret, 2/2006.

21) Hartung, Manuel: Krieg oder Frieden, Die ZEIT, 30.04.2003.

22) BMVg (2006): Bericht der Jugendoffiziere für das Jahr 2005, S.4, URL: http://www.bundeswehr-wegtreten.org/main/Jahresbericht_Jugendoffiziere_2005.pdf

23) Ebd., S. S.8.

24) Cassens, Manfred (2006): Die Informationsarbeit der Bundeswehr in erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Informationsinhalte und deren didaktische Einbettung; Inauguraldissertation; Universität der Bundeswehr München, S.80.

25) BMVg, IPStab/Public Relations – Az 01-61-00: Tätigkeit der Jugendoffiziere der Bundeswehr im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit.

26) Ebd.

27) Fregattenkapitän Hans-Jürgen Meyer: Jugendoffiziere und Jugendunteroffiziere in der Bundeswehr, Beilage zum Heft 8/1999 Informationen für die Truppe, S.17f.

28) BMVg 2006, S.7f.

29) Ebd., S.9.

30) Ebd., S.10.

31) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage 2008a, S.5.

32) Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens à la Beutelsbach, in: Schiele, Siegfried & Schneider, Herbert (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart, S.179f.

33) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage 2008a, S.5.

34) Die Jugendoffiziere in Sachsen-Anhalt, 09.01.2008, URL: http://www.bildung-lsa.de/index2.html?subj=863&cont=4038

35) Antwort des Berliner Senats auf die Kleine Anfrage: Jugendoffiziere an Berliner Schulen vom 8.02.01, URL: http://www.parlament-berlin.de:8080/starweb/adis/citat/VT/14/KlAnfr/k141430.pdf

36) Rekrutierungsbüros in jeder Fußgängerzone?, FAZ.net, 27.08.2007, URL: http://tinyurl.com/5k4w7g

37) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage (2008b): Militäraufmärsche in der Öffentlichkeit und Reklameeinsätze der Bundeswehr im Jahr 2008 vom 04.03.2008, BT-Drucksache16/8355, URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/083/1608355.pdf

38) Y-Magazin der Bundeswehr; November 2006, S.108.

39) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage 2008b, S.8.

40) Ebd.

41) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage (2007): Reklametätigkeit der Bundeswehr vom 21.03.2007, BT-Drucksache16/4768, S.7f., URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/047/1604768.pdf

42) Ebd.

43) 82. Jugendpressekongress, URL: http://tinyurl.com/5tnqlc

44) discovery days 2008 – Fritzlar: Division Luftbewegliche Operationen (DLO), URL: http://tinyurl.com/5ebrk7

45) Führend auf dem Gebiet des »Jugendmarketings« ist die Hamburger PR-Agentur Euro RSCG ABC, die auch das diesjährige Beachvolleyball-Turnier Bw-Beachen „08 im Auftrag des deutschen Militärs organisiert.

46) Einmal Deutschland, Y.Online, URL: http://tinyurl.com/6mdb9n

47) Bulmahn, Thomas (2007): Berufswahl Jugendlicher und Interesse an einer Berufstätigkeit bei der Bundeswehr. Ergebnisse der Jugendstudie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. Forschungsbericht 81, Straussberg, S.69.

48) BMVg 2006, S.4.

49) Faszination Luftfahrttechnik, Donaukurier, 30.10.2007.

50) http://www.rettungsflieger.bundeswehr.de

51) Kuscheln im Kosovo, Spiegel Online, 28.11.2007, URL: http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,520163,00.html

52) Hilflos im Kosovo, Die ZEIT, 29.11.2007, URL: http://www.zeit.de/2007/49/Kino-Moerderischer-Frieden; Gut und Böse auf beiden Seiten, 26.11.2007, URL: http://tinyurl.com/6576az

53) Zur Geschichte der AIK siehe: Hutchings, Steven (2006): Gesteuerte Demokratie; Diplomarbeit an der Hochschule für Gestaltung, Offenbach am Main.

54) Cassens 2006, S.98.

55) Informationsveranstaltungen des Heeres für zivile Führungskräfte 2007, URL: http://www.zifkras.de/infowub1.htm

56) Interview mit Oberst Rainer Senger, Kommandeur der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation; www.bmvg.de, 8.9.2005.

57) Ebd.; das Interview wurde mittlerweile vom Netz genommen. Auszüge finden sich jedoch bei www.german-foreign-policy.com vom 18.09.2005.

58) Cassens 2006, S.91.

59) Das Bundesverfassungsgericht entschied zwar 1977 grundsätzlich, dass auch Öffentlichkeitsarbeit staatlicher Institutionen legal ist, die Ausstrahlung eines frei empfangbaren TV-Kanals ist davon aber nicht gedeckt. Vgl. Cassens 2006.

60) Gesteuerte Demokratie? – ein Dokumentarfilm von Steven Hutchings, URL: http://v2v.cc/v2v/Gesteuerte_Demokratie%3F

Heiko Humburg ist Lehramtsreferendar (Geschichte/Politik) in Hamburg und seit dem Jugoslawienkrieg in der Friedensbewegung aktiv.

Kein Frieden mit der Bundeswehr

Militarisierung ist angreifbar

von Bundeswehr-Wegtreten

Bundeswehr setzt sich in ARGEn fest

Wie gezielt sich die Bundeswehr an Arbeitslose wendet, das wird auch darin deutlich, dass sie in zahlreichen »Arbeitsagenturen« Büros unterhält oder regelmäßige Sprechstunden anbietet.

Dauerhafte Büros unterhält die Bundeswehr in:

Celle, Donauwörth, Essen, Hamm, Hildesheim, Lübeck, Mainz, Mühlhausen, Osnabrück, Paderborn, Weilheim

Dauerhaft Sprechstunden werden in folgenden Städten angeboten:

Aachen, Aalen, Ahaus, Ahlen, Alsfeld, Altöttingen, Amberg, Anklam, Annaberg, Apolda, Arnstadt, Aue, Auerbach, Bad Doberan, Bad Hersfeld, Bad Kissingen, Bad Kreuznach, Bad Liebenwerder, Bad Salzuflen, Bad Segeberg, Balingen, Bad Oldesloe, Beeskow, Belzig, Bergen, Bergisch Gladbach, Bernau, Bernburg, Bersenbrück, Bitterfeld, Bonn, Borna, Brandenburg, Brühl, Buchholz, Butzbach, Coburg, Coesfeld, Cuxhaven, Deggendorf, Demmin, Dessau, Detmold, Diepholz, Döbeln, Duisburg, Düren, Düsseldorf, Eberswalde, Eisenach, Elmshorn, Emden, Erbach, Erkelenz, Eschwege, Euskirchen, Eutin, Frankenberg, Frankfurt/M, Freiberg, Friedberg, Friesoythe, Fulda, Gelsenkirchen, Georgsmarienhütte, Gerolstein, Göppingen, Görlitz, Gotha, Greifswald, Greiz, Grimma, Guben, Güstrow, Hagen, Hagenow, Halberstadt, Halle, Hamburg, Hameln, Hanau, Heide, Heilbronn, Hermeskeil, Hettstedt, Hildburghausen, Hof, Holzminden, Höxter, Hoyerswerda, Hünfeld, Idar-Oberstein, Idstein, Ilmenau, Iserlohn, Jena, Kaiserslautern, Kaltenkirchen, Kamenz, Köln, Königswusterhausen, Konstanz, Korbach, Köthen, Krefeld, Kronach, Kusel, Landau, Leer, Limburg, Lingen, Lippstadt, Lohr am Main, Lübbenau, Lüchow, Luckenwalde, Ludwigshafen, Ludwigslust, Malchin, Marienberg, Marktredwitz, Mayer, Meiningen , Melle, Merseburg, Meschede, Monschau, Münsingen, Münster, Nagold, Nauen, Neumünster, Neunkirchen, Neustrelitz, Nienburg, Nordenham, Norderstedt, Nordhausen, Nordhorn, Oberhausen, Oschersleben, Offenbach, Offenburg, Oldenburg i.H., Olsberg, Oschatz, Papenburg, Parchim, Pasewalk, Perleberg, Pforzheim, Pirmasens, Pirna, Plauen, Quedlinburg, Rastatt, Rathenow, Recklinghausen, Rendsburg, Reutlingen, Rheine, Ribnitz, Ribnitz-Damgarten, Riesa, Röbel, Rosenheim, Rostock, Rotenburg, Rottweil, Saarbrücken, Saarlouis, Salzwedel, Sangerhausen, Schleiz, Schönebeck, Schwalmstadt, Schweinfurt, Senftenberg, Sigmaringen, Soest, Sögel, Solingen, Soltau, Sömmerda, Sondershausen, Sonneberg, Stadtallendorf, Stadthagen, Stollberg, Strassfurt, Sulingen, Syke, Tauberbischofsheim, Teterow, Torgau, Tübingen, Ueckermünde, Uelzen, Vechta, Velbert, Waiblingen, Waren/Müritz, Weilburg, Weimar, Weißenfels, Weißwasser, Wernigerode, Wesel, Wismar, Witzenhausen, Wolgast, Worms, Wuppertal, Wurzen, Zeitz, Zweibrücken, Zwickau.

Quelle: Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage von Inge Höger im Bundestag: Drucksache 16/8842

Gegen die drohende Nachwuchsebbe an SoldatInnen und gegen die lauter werdende Kritik der Bevölkerung an den Auslandseinsätzen setzt die Bundeswehr auf modernes Akzeptanz-Management, Eventmarketing und Werbetouren. Wenn sich in Deutschland schon keine rechte Begeisterung für die Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch und anderswo herstellen lässt, so ist die Bundeswehr zumindest um Ruhe an der »Heimatfront« bemüht. Bislang scheint die Rechnung aufzugehen, denn die mehrheitliche Umfrage-Ablehnung beispielsweise des derzeitigen Bundeswehreinsatzes in Afghanistan entfaltet zunächst keinerlei Wirkung in Form einer breiten, aktiv ablehnenden Protestbewegung gegen die wiederbelebte deutsche Kriegspolitik.

Doch an einigen wenigen Stellen regt sich tatsächlich Widerstand gegen die Flut von Reklame- und Rekrutierungseinsätzen der Bundeswehr. Bereits seit vielen Jahren gibt es phantasievolle, zum Teil lautstarke und manchmal auch handfeste Auseinandersetzungen bei öffentlichen Bundeswehrgelöbnissen und Soldatenfeiern. Seit etwa anderthalb Jahren stiften AntimilitaristInnen und Erwerbslosengruppen darüber hinaus Unruhe bei Werbeeinsätzen der Bundeswehr im Inneren. Ihr Schwerpunkt sind die Veranstaltungen der Bundeswehr an Arbeitsämtern, Schulen, Universitäten und auf Jobmessen. Aber auch beim »Karriere-Treff« der Bundeswehr auf zentralen Plätzen in den Innenstädten, bei Soldatengottesdiensten und »karitativen« Auftritten der Bundeswehr-Musikkorps bleibt die zunehmende Präsenz der Bundeswehr nicht unwidersprochen. Und langsam rücken auch die seit 2007 für den »Heimatschutz« eingesetzten Bundeswehr-Reservisten im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit Inland (ZMZ/I) in den Fokus der AktivistInnen. Zu erfolgreichen Protest- und Störaktionen gegen Bundeswehrauftritte kam es in den vergangenen 18 Monaten über 85-mal in mehr als 40 Städten1. Bundeswehrveranstaltungen wurden »gesprengt«, blockiert, umgestaltet oder nach Protestankündigungen von der Bundeswehr kurzfristig abgesagt.

Wir dokumentieren im Folgenden exemplarisch einige Aktivitäten der letzten beiden Jahre, die sich gegen eine schleichende Militarisierung unter anderem durch eine Normalisierung von Alltagspräsenz der Bundeswehr im Inneren wenden.

Wer Arbeitsamt sagt, muss auch Bundeswehr sagen

Für den Werbefeldzug der Bundeswehr ist das Arbeitslosengeld II ein zentrales Rekrutierungsinstrument – Jobcenter sorgen für Nachschub an Soldaten. Die Bundeswehr nutzt die Perspektivlosigkeit am Arbeitsmarkt und den zunehmenden Druck für Erwerbslose, jeden noch so miesen Job annehmen zu müssen. Ausbildung und berufliche Qualifizierung werden davon abhängig gemacht, dass Menschen bereit sind, das Todeshandwerk zu lernen und anzuwenden. Zahlreiche Arbeitsagenturen kooperieren bereitwillig und profitieren als Lieferanten von zivilen und militärischen Nachwuchskräften für die Bundeswehr – (nicht nur) über eine abgesenkte Arbeitslosenstatistik.

Während die Wehrdienstberater bundesweit in 11 Arbeitsagenturen permanente Büros betreiben, sind sie in nahezu allen Arbeitsagenturen etwa im Monatsrhythmus zu Rekrutierungsveranstaltungen und Sprechstunden vertreten.

Die Teilnahme von Arbeitslosengeld II EmpfängerInnen ist nicht immer freiwillig.2 Die ARGE Leipzig wertet in einem Kooperationsvertrag mit der Bundeswehr sogar explizit die Annahme einer »zivilen« Stelle beim Arbeitgeber Bundeswehr als zumutbar und damit deren Verweigerung als sanktionierbar (siehe Artikel von Jonna Schürkes).

In mehreren Städten wurden die Werbeveranstaltungen der Bundeswehr an den Arbeitsagenturen massiv gestört. Nach mehrfachen Störaktionen sind die monatlichen Veranstaltungen an der Arbeitsagentur in Köln bis zur „Klärung der Rahmenbedingungen zur Durchführung von zukünftigen Informationsveranstaltungen“ (für drei Monate) ausgesetzt worden. Dies hatte der Leiter der Kölner Arbeitsagentur angeordnet, nachdem die Bundeswehr bei ihren Werbeveranstaltungen bewaffnete Feldjäger als Saalschutz eingesetzt hatte und dieses Vorgehen auf breite Proteste (auch unter den MitarbeiterInnen) gestoßen war. In Berlin pausierten Bundeswehrwerber aufgrund angekündigter Proteste. Auch in Rostock sagte die Bundeswehr ihre Veranstaltung Ende Mai 2007 ab, als vorzeitig angereiste G8-GipfelgegnerInnen ihre Teilnahme per Pressemitteilung ankündigten.

In Bielefeld griff eine Gruppe »StörenfriedInnen« im März 2007 als »Kommunikationsguerilla« erfolgreich ein: Eine Prozession angeführt von Militärbischof Mixa gefolgt von einer stimmgewaltigen Generalin und ein paar SoldatInnen, die offenbar eine Skelettgrube geplündert hatten, enterte die laufende Veranstaltung, übte das Salutieren, Marschieren im Stechschritt und dergleichen Unsinn mehr. Nachdem weitere Kleingruppen folgten, packte der Werbeoffizier entnervt seine sieben Sachen und beendete die Veranstaltung.

Im letzten Jahr kamen zur Dezember-Veranstaltung der Bundeswehr am Arbeitsamt Berlin-Hellerrsdorf eine ganze Reihe äußerst diskussionsfreudiger Menschen, die den angebotenen Raum für faktenreiche Beiträge zu Bundeswehr und zum Kriegsdienst nutzten. Die Diskussion wurde schließlich durch einen Feueralarm beendet.

In Wuppertal bekam Oberbootsmann Heinrichs im Mai 2007 unmittelbar vor Beginn seiner Werbeveranstaltung im Wuppertaler Arbeitsamt eine Torte ins Gesicht – die Veranstaltung fiel aus. Die Gruppe »m.g.« (mit geschmack), die sich zu der Aktion bekannte, entkam gut gelaunt und forderte zu einem bundesweiten Tortenwettbewerb bei Bundeswehrveranstaltungen auf.

Im Februar 2008 sorgten AntimilitaristInnen in Brühl für Katerstimmung bei Bundeswehr und Arbeitsagentur. Sie nutzten die Gunst des jecken Treibens im Rheinland mit seinem sessionsbedingten Kostümierungs- und Vermummungsgebot und verpassten dem Berufsinformationszentrum der Arbeitsagentur Brühl vor einem BW-Werbetermin am Aschermittwoch mit viel Farbe einen »Tarnanstrich«.

Schul- und vorlesungsfreie Zeit für die Bundeswehr

Ein Bundeswehr-Infomobil sollte im April 2007 den Schulhof des Goethe-Gymnasiums in Weimar besuchen. Auf einer Tafel im Foyer forderte die Schulleitung die SchülerInnen auf: „… Nutzt diese Gelegenheit!“ So geschah es: Das auf dem Schulhof geparkte Infomobil wurde über Nacht mit Antikriegsparolen besprüht und tags darauf in der großen Pause in einer spontanen Kundgebung umstellt, so dass erst einmal Schluss war mit Bundeswehrwerbung.

In Göttingen sollte im April 2008 ein Rekrutierungs-Trupp der Bundeswehr mit Infomobil auf dem Schulhof der Berufsbildenden Schulen für drei Tage stationiert werden. Mit einem offenen Brief im Vorfeld an Schulleitung, LehrerInnenkollegium, Elternschaft und SchülerInnenvertretung und diversen Flugblattaktionen auf dem Schulhof gelang es einem Netzwerk »Gewaltfrei leben«, den Einsatz zu verhindern. Als sich die ersten AntimilitaristInnen um 7 Uhr dem Schulhof näherten, sah zunächst alles danach aus, dass sich Militär und Schulleitung zur gewaltsamen Durchsetzung der Zwangsveranstaltung für die Schulklassen entschieden hatten: Bis auf einen waren alle Zugänge zum Schulhof abgesperrt und die umliegenden Straßen von Bereitschaftspolizei gesäumt. Die AktivistInnen bauten sich dennoch an diesem Eingang mit Sarg, Transparenten und Flugblättern auf. Dann kam die Nachricht, dass der Einsatz des Infomobils abgesagt ist. Um sicher zu stellen, dass die Invasion der Bundeswehr auch an den beiden folgenden Tagen ausblieb, traf sich das Netzwerk jeweils zum antimilitaristischen Schulfrühstück.

Die Methode der offenen Protestankündigung funktionierte bereits im September 2007 in Duisburg. Hier forderten mehrere Gruppen, dass das Bertolt Brecht Berufskolleg seinem Namensgeber gerecht werde und die Bundeswehr wieder auslade. Die Bundeswehr zog den Termin in Absprache mit der Berufsschulleitung daraufhin zurück.

Auch an Universitäten kam es zu Protesten gegen das Eindringen des Militärs in den Hochschulbetrieb. Im Wintersemester 2007/2008 startete an der Uni Potsdam ein neuer Masterstudiengang »Military Studies« unter Beteiligung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) und des Sozialwissenschaftlichen Insitutes (SOWI) der Bundeswehr. Die feierliche Begrüßung der StudienanfängerInnen und die Eröffnung des Studienganges wurde von zahlreichen AktivistInnen erfolgreich gestört.

An der Uni in Kassel bescherten Studierende den angekündigten Referenten der NATO und des Rüstungskonzerns EADS im Mai diesen Jahres eine vorlesungsfreie Zeit. Ein Teil einer vor dem Saal abgehaltenen Gegenversammlung strömte in den Hörsaal. Die Begeisterung der DemonstrantInnen, einen Oberstleutnant zu Gesicht zu bekommen äußerte sich in minutenlangem Applaus und lautem Rufen, sodass dieser seinen Vortrag immer wieder unterbrechen musste. Letzten Endes blieb der Veranstalterin nichts anderes übrig, als die Vorlesung für beendet zu erklären und Oberstleutnant Jens Fehler mit seinem Adjutanten nach Hause zu schicken.

Trittbrettfahrerin Bundeswehr auf Jugendmessen

Es ist erstaunlich, auf welchen Ausstellungen und Messen die Bundeswehr vertreten ist. Ist der Hintergrund bei Job- und Bildungsmessen leicht ersichtlich, so fragen sich manche, was die Bundeswehr mit ihrem beschränkten Publikationsrepertoire auf Deutschlands großen Buchmessen verloren hat.3

Seit Jahren belegte die Bundeswehr auf der Leipziger Buchmesse eine der größten Ausstellungsflächen. Nachdem bereits im März 2003 (unmittelbar nach Beginn des Irak-Kriegs) AusstellerInnen und BesucherInnen eine Demo auf der Messe organisiert und die Messeleitung aufgefordert hatten, die Bundeswehr im nächsten Jahr nicht mehr zuzulassen, kam es 2004 zum Eklat. Etwa 200 VerlegerInnen, AutorInnen und MessebesucherInnen riegelten den Bundeswehrstand (in unmittelbarer Nachbarschaft von Jugendbuch- und Comic-Verlagen) ab. Der Einsatz von Feldjägern und Bereitschaftspolizei sorgte für Tumult, unschöne Bilder und viel Unmut bei Publikum und Verlagen – die Bundeswehr meidet seitdem die Leipziger Buchmesse.

Im Mai 2008 griffen Clowns den Werbesoldaten der Bundeswehr auf einer Dresdener Jobmesse an deren Stand unter die Arme. Ein Vergleich des Zuschauerinteresses an der Präsentation der Bundeswehr einerseits und dem »Unterstützungskommando der Clowns-Rebel-Army« andererseits offenbarte einen klaren Punktsieg für die antimiliaristischen Clowns.

Aufrüstung mit Gottes Segen

In Köln schwört der Glaubenskrieger Kardinal Meisner beim jährlichen Soldatengottesdienst im Kölner Dom – in der Regel in Anwesenheit des Verteidigungsministers – seit Jahren mehr als tausend SoldatInnen auf den Kriegsdienst ein.

Sein Predigtspruch aus dem Jahre 1997 bleibt unvergessen: „Wem käme es in den Sinn, Soldaten, die auch Beter sind, dann noch als Mörder zu diskriminieren? Nein, in betenden Händen ist die Waffe vor Missbrauch sicher.“

Eine Predigt, die nahtlos anschloss an die der Vorjahre. 1996 hatte Meisner in Köln formuliert: „Einem Gott lobenden Soldaten kann man guten Gewissens Verantwortung über Leben und Tod anderer übertragen, weil sie bei ihm gleichsam von der Heiligkeit Gottes mit abgesichert sind.“ Und bereits 1993 sah Meisner im Soldaten, „als Inbegriff der strafenden Gerechtigkeit, die letzte Möglichkeit, das Böse im Menschen zu bannen.“

Im Januar 2006 bat er mit einem Papstzitat die Soldaten, die sich in den Konfliktherden der Welt im Einsatz befanden, „in jeglicher Situation und Umgebung treue Verkünder der Wahrheit des Friedens“ zu sein.

Diese unselige Allianz zwischen Kreuz und Schwert bedarf natürlich einer Antwort. AntimilitaristInnen aus Köln und Umgebung begleiteten in den Jahren 2007 und 2008 den Soldatengottesdienst im Kölner Dom. Im Januar letzten Jahres überraschte ein 20-köpfiger Chor – der sich unter die Gäste im Dom gemischt hatte – die 1.500 SoldatInnen mit folgendem Lied: [Melodie: Ihr Kinderlein kommet] Ihr Krieger kommt alle Zum Kölner Kardinal. Er segnet die Waffen Wäscht Blut vom schwarzen Stahl. Er schändet den Tempel Mit Händlern des Tods. Macht Pflugschar zu Schwertern Sein Kreuzzug bricht los. …

In diesem Jahr schritt dem angriffslustigen Vorbeter der Tod entgegen. Kurz vor Meisners Eintreffen legten im Kölner Dom 15 Demonstranten ihre Mäntel ab und schritten als »Tote« mit dem Transparent „Der Tod dankt für die gesegnete Ernte“ durch den Mittelgang, bis sie von »Ordnungshütern« aus dem Dom gedrängt wurden.

In Hannover protestierten im November 2007 dreißig AntimilitaristInnen anlässlich eines Adventskonzerts des Bundeswehr Musikkorps der 1. Panzerdivision in der hannoverschen Marktkirche. Mit einem Transparent „Aufrüstung mit Gottes Segen – Hand in Hand in den Krieg“ harrten sie am Altar der Kirche aus. Die Protestierenden erklärten ruhig aber bestimmt, dass solange Militär in der Kirche wäre, sie auch bleiben würden. Der Oberbefehlshaber der 1. Panzerdivision, Generalmajor Langheld, reklamierte sofort das Hausrecht für die Armee – Stadtsuperintendent Puschmann hielt das für einen Versprecher, befürwortete jedoch ebenfalls die gewaltsame Entfernung der »StörerInnen«. In einem völlig überzogen harten Einsatz der Polizei wurden die AktivistInnen hinaus gedrängt und vor der Kirche eingekesselt. Die Auseinandersetzung ging weiter. Inzwischen hatte eine Veranstaltung – unter Anwesenheit von VertreterInnen der Protestierenden und der Marktkirchengemeinde – stattgefunden. Etwa 240 Menschen beteiligten sich an der sachlich wie engagiert geführten Diskussion. Auch aus kirchlichen Kreisen gab es heftige Kritik an dem Militärkonzert in der Kirche. Ein Mitglied des Vorstands der Marktkirche bekannte, dass der antimilitaristische Protest produktive Diskussionen im Kirchenvorstand ausgelöst habe. Superintendent Puschmann stand mit seinem Schulterschluss mit der 1. Panzerdivision und der Äußerung, er werde die Anzeigen wegen Hausfriedensbruch auf keinen Fall zurücknehmen, einsam im Raum. In zahlreichen Redebeiträgen wurde er aufgefordert, diese Anzeige zurückzunehmen, um eine Kriminalisierung der FriedensdemonstrantInnen nicht zuzulassen. Diese kündigten weitere Protestaktionen an und die Marktkirchengemeinde will den Vertrag mit der Bundeswehr überdenken.4

Die wollen doch nur spielen … – karitatives Militainment

Unter dem Motto »Klänge für den Frieden« zelebrierte die Bundeswehr im November 2007 zum siebten Mal das Internationale Militär Musik Festival in Köln. »Mit Musik geht alles besser…« – auch das Töten! Gegen eine etwaige Image pflegende Befriedungsstrategie der Bundeswehr »Soldaten sind Musiker und Kriege sind Konzerte für den Frieden« trafen sich etwa 60 KriegsgegnerInnen zum lautstarken »Bundeswehr Wegblasen«. Neu gemixte Marschmusik hinterlegt mit Bombendetonationen und Sirenengeheul sowie marschierende Clowns und SambaanarchistInnen begleiteten die Gäste beim Einmarsch in die Köln-Arena.

Im April 2008 musste ein Benefizkonzert der Bundeswehr in der Kölner Philharmonie unterbrochen werden. Der Live-Mitschnitt des Konzerts war versaut. Ein antimilitaristischer Rave auf dem Dach der Philharmonie nutzte mit schweren »Instrumenten« einen altbekannten Konstruktionsfehler des Konzertsaals: Stiefel, Holz-Clocks und große Holzstempel sorgten für ausreichende Verstärkung der Sambabeats von etwa vierzig BundeswehrgegnerInnen ins Innere der Philharmonie. Während der Aufführungen wird der sonst öffentlich zugängliche Heinrich-Böll-Platz über dem Dach der Philharmonie von Ein-Euro-JobberInnen abgesperrt, damit keine Schrittgeräusche von Fußgängerinnen oder Fahrgeräusche von Skateboards ins Innere dringen. Die Ein-Euro-Kräfte übten sich angesichts der Menge an DachbesetzterInnen jedoch in Zurückhaltung, hegten teils sogar offene Sympathie für die unkonventionelle Tanzveranstaltung über den musizierenden Soldaten. Der Inspizient (koordiniert den Auftritt der Musiker in der Philharmonie) wandte sich in der unfreiwilligen Pause an einige Raver auf dem Dach: „Dies ist der falsche Ort für euren Protest,“ da tut die Bundeswehr mal was Gutes. Falsch! Jeder Ort, an dem die Bundeswehr auftritt, ist ein richtiger Ort für Protest und Widerstand. Wer zwischen kämpfenden und spielenden, zwischen Brunnen bauenden und in Afghanistan schießenden Soldaten unterscheidet, übersieht, dass die Aufgabenverteilung zwischen verschiedenen Einheiten der Bundeswehr immer auch einer »inneren Absicherung« der kämpfenden Einheiten dient.

Stören und mehr – nicht nur weg-, sondern auch nachtreten!

Analysiert man das Verhalten der Bundeswehr in Reaktion auf die geschilderten Protest- und Störaktionen, so sieht man, dass die Werbeoffiziere nicht blind an der Durchsetzung ihres Werbe- und Rekrutierungsauftrags festhalten. Im Einzelfall lieber keine als eine negative Außenwirkung erzeugen, scheint das Motto zu sein. Am Kölner Arbeitsamt verzichtete die Bundeswehr zunächst auf eine öffentliche Ankündigung durch Flyer und Plakate, dann gänzlich auf Laufkundschaft: die regelmäßige Sprechstunde der Wehrdienstberatung im Arbeitsamt wurde auf den (wenig frequentierten) Nachmittag verlegt. Damit sollte den ebenso regelmäßig auftauchenden BundeswehrgegnerInnen das Forum genommen werden. Die Absagen vieler Werbeveranstaltungen, bei denen Störaktivitäten angekündigt waren, untermauern dieses taktische Ausweichen der Bundeswehr zur Schadensminimierung. Sie kann es sich (in bisherigem Maße) erlauben, überflutet sie doch das Land mit über 600 Reklame-Einsätzen jährlich.

Um der Bundeswehr mit ihren häufig an Schulen akzeptierten Jugendoffizieren das Wasser abzugraben, bedarf es deshalb dringend weitergehender Aktivitäten. Hatten in den 80er und auch noch in den 90er Jahren die Jugendlichen mehrheitlich allein schon aus Ablehnung von Bevormundung, blindem Gehorsam und Uniformiertheit eine kritische Haltung gegenüber dem Militär, so ist die Meinung zur Bundeswehr an sich heute weniger eindeutig. Einige antimilitaristische Gruppen haben sehr positive Erfahrungen mit eigenen Schulveranstaltungen (Kontakt über die SchülerInnenvertretung oder bekannte Lehrer im Kollegium) mit Deserteuren aus den aktuellen Kriegen im Irak oder Afghanistan bzw. mit sehr engagierten Vietnamkriegsveteranen gemacht. Verweigert die Schulleitung eine derartige Großveranstaltung im Haus, so können Schulklassen zu einer gemeinsamen Veranstaltung (während der Schulzeit!) extern einladen.

Manche Initiativen benötigen einen längeren Atem, als dies eine punktuelle Intervention hergibt. Die seit 2002 fortwährenden Bemühungen, dem alljährlichen Pfingsttreffen der Gebirgsjäger in Mittenwald, bei dem es immer wieder zur Verherrlichung von NS-Kriegsverbrechern kam, ein Ende zu bereiten, entfalteten erst in den letzten beiden Jahren ihren vollen politischen Druck. Das Treffen, zu dem einige tausend aktive und ehemalige Gebirgsjäger aus Bundeswehr und Wehrmacht zusammenkommen, wurde verlegt. Aufgrund der Proteste gegen die Mörder unterm Hakenkreuz blieben nach eigenen Angaben zu Pfingsten die Touristen im oberbayerischen Mittenwald aus.

Analog liegt die Stärke des Widerstands gegen das »Bombodrom« in der Kyritz-Ruppiner-Heide, dem von der Bundeswehr geplanten Boden-Luftkrieg-Übungsplatz, in der seit Jahren andauernden, kontinuierlichen Aufbauarbeit eines möglichst breiten und belastbaren Netzes von BürgerInneninitiativen und anderen AntimilitaristInnen.

Perspektiven

Das Eingreifen in die (noch) gut geschmierte Reklame- und Rekrutierungsmaschinerie der Bundeswehr bedeutet mehr als nur das konkrete Abwerben einzelner potenzieller SoldatInnen. Es geht um das generelle Zurückdrängen einer Bundeswehr, die sich zunehmend im öffentlichen Raum breit macht. Eine unwidersprochene Alltagspräsenz des Militärs spiegelt nicht nur, sondern prägt auch gesamtgesellschaftliches Bewusstsein zugunsten einer fortschreitenden Militarisierung im Äußeren und Inneren.

Zwei neue antimilitaristische Zeitungsprojekte aus Hannover und Berlin5 sowie die Einrichtung eines »nomadischen« Anti-Kriegs-Cafes, das nach Vorbild der frühen Bewegung gegen den Vietnamkrieg (wöchentlich) mit verschiedenen Themen an verschiedenen Plätzen Berlins auftaucht, spiegeln den (neuerlichen) Versuch, eine breitere Öffentlichkeit für antimilitaristische Positionen zu erlangen. Darüber hinaus steigt das Interesse an einem ganz praktischen Antimilitarismus. Zwei Veranstaltungen im Frühjahr 2008 in Berlin zum Thema »Kriegsgerät interessiert uns brennend« und »Deutschland führt Krieg – Sabotage ist notwendig« waren mit zusammen 400 Leuten überraschend gut besucht. In der Veranstaltung wurde die Legitimität und Notwendigkeit von antimilitaristischem Widerstand und direktem Eingreifen im Sinne selbstorganisierter Abrüstung zur Debatte gestellt. Vorgetragen haben AktivistInnen aus verschiedenen europäischen Ländern über Sabotage- und Blockadeaktionen gegen Kriegsgerät: Aus den Niederlanden eine Aktivistin, die eine militärische Satellitenanlage zerstört hat, aus Irland ein Aktivist, der in Shannon ein Militärflugzeug beschädigte und aus Deutschland eine Aktivistin, die im Februar 2008 einen Bundeswehr-Militärtransport auf der Schiene blockiert hat. Die einhellige Meinung bei den Veranstaltungen war, dass bombardierende, marodierende Truppen, Hightech Kriegsgeräte, archaische Kämpfer, imperialistische Kriegsbündnisse für den Profit keine Normalität, sondern Verbrechen sind, gegen die es gilt, praktischen Widerstand zu leisten. Nicht zuletzt der Einsatz der Bundeswehr im Inneren mit Spähpanzern und Tornados auf dem G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, sowie die Kriminalisierung von drei Aktivisten, denen vorgeworfen wird, LKWs der Bundeswehr in Brandenburg angezündet zu haben, sorg(t)en bei vielen für eine neue bzw. verstärkte antimilitaristische Ausrichtung. Und so gibt es in letzter Zeit auch in Deutschland wieder ein steigendes Interesse an einer Abrüstung von unten.6

Wir wissen, bis zur Abschaffung der Bundeswehr ist es noch weit. Bis dahin wird noch viel Friedens- und Aufklärungsarbeit notwendig sein. Dazu zählen auch antimilitaristische Aktionen. Sie sind kein Verbrechen sondern eine legitime Variante der Widerstands. Wehren wir uns gegen jeden Einsatz der Bundeswehr: Gegen »friedenserzwingende« Auslandeinsätze genauso wie gegen »überwachende und sichernde« Inlandeinsätze und die bundesweit zunehmenden Reklame- und Rekrutierungseinsätze!

Anmerkungen

1) Aachen, Aschaffenburg, Bad Oldesloe,Baumholder, Bautzen, Berlin, Bernau, Bielefeld, Bochum, Brühl, Dortmund, Dresden, Duisburg, Düren, Düsseldorf, Göttingen, Gütersloh, Frankfurt aM, Freiburg, Gießen, Gifhorn, Görlitz, Hamburg, Hannover, Herne, Jena, Kassel, Kiel, Köln, Lemgo, Lüneburg, Magdeburg, Mainz, Mittenwald, Münster, Oberhausen, Paderborn, Potsdam, Reutlingen, Rostock, Tübingen, Weimar, Wuppertal, Wittstock, Zittau.

2) Es sind mehrere Fälle bekannt, bei denen jugendliche Arbeitslose unter Sanktionsandrohungen zur Teilnahme an BW-Werbeveranstaltungen verpflichtet wurden.

3) Es dürfte wohl um die Anbiederung insbesondere an ein junges Publikum gehen, was auch die pompösen Auftritte auf Europas größter Computerspiele-Messe, der Games Convention in Leipzig, erklärt. Die Games Convention findet im August 2008 letztmalig in Leipzig statt. Ab 2009 zieht sie unter dem Namen GAMESCom nach Köln um.

4) Vgl. Zeitung gegen Krieg, Nr. 1/2008.

5) http://antimilitarismus.blogsport.de und www.bundeswehr-wegtreten.org/main/panzerknackerin_00.pdf

6) Siehe dazu http://einstellung.so36.net/files/antimilitaristische_broschuere.pdf und www.bundeswehr-wegtreten.org.

Bundeswehr-Wegtreten ist ein Zusammenschluss antimilitaristischer Gruppen, dessen Ziel es ist, die Bundeswehr in ihrem Streben nach mehr gesellschaftlicher Akzeptanz und bei ihrer Selbstinszenierung im öffentlichen Raum anzugreifen. Eine umfassendere Dokumentation aller »Bundeswehr wegtreten« Aktionen mit Aufruf-Texten und Presseartikeln findet sich unter www.bundeswehr-wegtreten.org.

Friedenspolitische Positionen der Parteien

Gegenüberstellung der Wahlprogrammaussagen

Friedenspolitische Positionen der Parteien

von Caroline Thomas

Einleitung

Außen- und Friedenspolitik spielt bei Wahlen keine Rolle. Sie betrifft die Wählerinnen und Wähler nicht, sie ist undurchschaubar und die »Domaine Reservé« der hohen Politik, auf die man als Wahlbürger keinen Einfluß nehmen kann.  Letztes Jahr hätte man die Prognose noch wagen können, daß diese Wahl durch außen- und sicherheitspolitische Themen mitbestimmt werden würde. Es gab kaum ein Thema, welches so umstritten und aus den Medien nicht wegzudenken gewesen war, wie der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Trotzdem gibt es keine Partei, die die Vermeidung von Krieg oder die gewaltarme Lösung von Konflikten in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellt; ausnahmslos steht die Wirtschaftspolitik im Vordergrund.

Dies liegt zum einen daran, daß die Wähler und Wählerinnen die wirtschaftliche Lage als ihr wichtigstes Problem ansehen. Zum anderen liegt es aber auch daran, daß die Forderung nach einer verstärkten auch militärischen Rolle der Bundesrepublik, die zumindest in den Programmen von CDU und FDP sehr stark propagiert wird, trotz Jugoslawien und Somalia (immer noch) nicht mehrheitsfähig ist. So befürworten zwar 63 % der Deutschen in Ost und West, daß die Bundesrepublik mehr Verantwortung in der Weltpolitik übernehmen soll.(Vgl. Dieter Wulf: Deutschland im Wandel. In: Deutschland-Archiv 26/12/1993, S.1355-1360).  Aber im Gegensatz zu den meisten Politikern, die Verantwortung fast ausschließlich militärisch definieren, wird von den WählerInnen unter »Verantwortung« offensichtlich etwas anderes verstanden. Dieses machen die Ergebnisse einer Studie der RAND-Corporation von 1992 deutlich: Die wesentliche Aufgabe für die deutsche Außenpolitik sehen 83 % in der weltweiten Verbesserung der Umwelt, 81 % in der Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen und 64 % in der weltweiten Rüstungskontrolle. „Am Ende der Prioritätenskala rangieren der »Schutz schwächerer Staaten gegenüber Aggression von außen« (31 %), »Hilfe bei der Einführung demokratischer Regierungssysteme« (25 %) sowie die »Verteidigung der Sicherheit unserer Verbündeten« (21 %).“ (Wulf, S.1357). Wenn nach konkreten Auslands“hilfen« gefragt wird, gibt es lediglich eine sehr kleine Minderheit, die z.B. die Beteiligung deutscher Soldaten an militärischen Einsätzen, wie dem Golfkrieg II, befürworten (12 % in Ostdeutschland, 22 % in Westdeutschland), während sich 90 % für die Teilnahme an humanitärer Hilfe und 62 % für die Teilnahme an Wirtschaftsboykotts aussprechen. (Wulf, ebd.). Die offensiv vertretene jahrzehntelange militärische Abstinenz der Bundesrepublik läßt sich offensichtlich doch nicht so einfach wegreden; auch nicht mit derartigen Inszenierungen wie zu Kambodscha, Somalia und Jugoslawien.

Diese mehrheitliche Ablehnung einer deutschen militärischen Rolle macht Helmut Kohl deutlich, daß mit CDU-Forderungen, wie der Beteiligung Deutschlands an Einsätzen zur Wiederherstellung von Frieden im Rahmen von NATO und WEU, also mit potentiellen toten deutschen Soldaten, nur wenig Prozente zu holen sind.

Diese Diskrepanz zwischen der außenpolitischen Programmatik und der Bevölkerungseinstellung wird aber nicht dafür verantwortlich sein, daß die CDU bei diesen Wahlen mit deutlichen Verlusten rechnen muß. Prognostiziert werden ihr in den Umfrageergebnissen z.B. in Mecklenburg-Vorpommern ein Verlust von bis zu 20 %, wohingegen die SPD mit Gewinnen rechnen kann. Darüber hinaus ist anzunehmen, daß sowohl die FDP als auch Bündnis 90/Grüne im nächsten Bundestag vertreten sein werden, die Bündnisgrünen also mit Gewinnen rechnen können. Das alles ist aber noch mit Skepsis zu vertreten, da Prognosen, insbesondere für die kleineren Parteien, sehr ungenau sind (so hatte beispielsweise Infas im November 1990 die Grünen mit 8 % deutlich über der 5 %-Klausel eingestuft; sie scheiterten aber im Dezember mit 4,8 %). Unklar ist darüber hinaus, ob die Republikaner den Einzug in den Bundestag schaffen; auch in nahezu alle Landtage haben sie große Chancen einzuziehen.

Die Parteien

Auffälliges oder Spektakuläres ist im Wahlprogrammentwurf der CDU nicht zu finden. Die zwei Stichworte »Deutschlands Verantwortung« und »Europa« nehmen den Großteil des Programmes ein. Interessant ist, daß im Gegensatz zu fast allen anderen Programmen und im Gegensatz zu der Aussage, daß „internationaler Dialog, Konfliktverhütung und Krisenmanagement“ die zentralen Elemente ihrer Außenpolitik seien, die UNO, außer in einem(!) Absatz, überhaupt keine Rolle spielt.

Bei der FDP wird deutlich, daß die Genscher-Ära, also Außenpolitik mit eigener (FDP-)Handschrift, vorbei ist. Der Außenminister wird zwar immer noch von der FDP gestellt; Kinkel hat sich aber dermaßen an die CDU angeglichen, daß er keinen Gegenpol zur CDU mehr darstellt.

Dennoch ist die Ausführlichkeit, mit der die außen- und sicherheitspolitische Position der FDP in dem Entwurf dargestellt wird, auffällig. Hier wird doch sehr deutlich, daß die Außenpolitik eines der wichtigsten Politikfelder der Freien Demokraten darstellt. Sie haben den detailliertesten außenpolitische Programmentwurf vorgelegt.

Die FDP-Außenpolitik ist aber u.a. deshalb als Gegengewicht zur CDU verloren gegangen, da es auch die SPD als kritischen Gegenpol nicht mehr gibt. Aussagen von Scharping auf der letzten Wehrkundetagung in München, es gäbe so gut wie keine Unterschiede in den außenpolitischen Positionen zwischen der CDU und der SPD, machen dies deutlich. Allerdings sind in dem außenpolitischen Antrag vom November '93 auch einige Ansätze zu finden, in denen Scharping sich mit seiner Annäherung zur CDU nicht hat durchsetzen können. So kann z.B. festgehalten werden, daß sich die SPD – zumindest auf dem Papier – in bezug auf »out-of-Area«-Einsätze bisher nicht von der Kampagne der CDU hat beeindrucken lassen und den Antrag vom Bonner Parteitag 1992, der besagte, daß ausschließlich die Beteiligung an Peace-Keeping-Einsätzen befürwortet wird, bisher nicht entscheidend revidiert hat. Die Beteuerung in der Weltpolitik verläßlich zu sein, wird allerdings sehr häufig wiederholt.

Bei den Bündnisgrünen ist im Vorwahljahr der Konflikt zwischen den beiden Flügeln im Politikfeld Außenpolitik wieder aufgebrochen. Angesichts des im öffentlichen Bewußtsein präsenten grausamen Krieges im ehemaligen Jugoslawien, des Völkermordes und der Vergewaltigungsexzesse, stritten sie sich darüber – die meisten in ehrlichem Bemühen –, ob der Einsatz von Militär als ultima ratio in Ausnahmefällen doch zur Lösung eines Konfliktes beitragen kann.

Aber nicht nur der jugoslawische Bürgerkrieg, sondern auch der potentielle Koalitionspartner SPD war Anlaß für diese Debatte. Nachdem die SPD in einem »internen« Papier die grünen Positionen zu NATO und Bundeswehr zu Haupthindernissen für eine Koalition erhob, entspann sich plötzlich eine Debatte auch über die friedenspolitische Rolle der Bundeswehr und der NATO.

Diese Streitpunkte sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Programm inklusive der Forderungen nach einer mittelfristigen Abschaffung der Bundeswehr und der NATO mit großer Mehrheit vom Parteitag in Mannheim Ende Februar verabschiedet worden ist.

Das eindeutig »linksradikalste« außenpolitische Parteiprogramm legte die PDS vor. Sie ist Sammelbecken ehemaliger SED-Mitglieder – 95% der PDS-Anhänger sind ehemalige SED-Mitglieder (APUZ, B1/94, S.21) – und Anziehungspunkt für linksradikale/autonome Gruppen. Im Westen Deutschlands wird ihr WählerInnenpotential auf 2% geschätzt. Wenn sie in den nächsten Bundestag wieder einzieht, was aufgrund der »Drei-Direktmandatsregelung« nicht auszuschließen ist, kann sie in Zukunft die Rolle eines linken »Korrektivs« bzw. einer linken »Konkurrenz« für die Bündnisgrünen spielen. Zumindest in diesem Spektrum muß sie ernst genommen werden, auch weil sie versucht die »grünen« Themen, wie Ökologie und Frieden, mitzubesetzen. Aber selbst wenn sie den Einzug in den Bundestag 1994 verfehlen sollte, wird sie auf Länder- und Kommunalebene im Osten aufgrund ihres WählerInnenpotentials zwischen 10 und 20%, was u.U. auch eine Landesregierungsbeteiligung einschließen kann, nicht zu vernachlässigen sein. In ihrem Wahlprogramm liegt der Schwerpunkt deutlich bei innenpolitischen Themen.

Manch Leser oder Leserin wird sich gewundert haben, warum die Republikaner in diese Gegenüberstellung mit aufgenommen worden sind. Dies ist eingehend überlegt worden. Ich bin der Meinung, daß ein »Totschweigen« nichts nützt, sondern nur die inhaltliche Auseinandersetzung. Die Aussagen, die hier dokumentiert werden, haben meines Erachtens auch eher abschreckende als werbewirksame Wirkung. Der außenpolitische Teil des Programmes enthält wenig Aussagen. So werden in erster Linie die deutschen Interessen und die Souveränität, die Deutschland seit „der Vereinigung von West- und Mitteldeutschland“ (Wahlprogramm 1994) wiedererlangt habe, betont und der Abzug aller fremder Truppen gefordert. Es handelt sich mehr um die Aneinanderreihung deutsch-nationaler Forderungen als um eine außenpolitische Konzeption. Auffällig ist allerdings die Übereinstimmung mit einzelnen »linken« Positionen. Auf einem ganz anderen Begründungshintergrund werden z.B. genau wie von den Bündnisgrünen und der PDS »out-of-Area«-Operationen der Bundeswehr abgelehnt oder die Erweiterung der EG gefordert. Ersteres allerdings deshalb, weil deutsche Soldaten sich ausschließlich um das deutsche Vaterland und um deutsche Interessen kümmern sollen, und bei der Erweiterung der EG geht es eher um »Heimholung« ehemaliger deutscher Gebiete, wenn dann betont wird, daß auf keinen Fall die Türkei aufgenommen werden darf, weil sie als kleinasiatisches Land nicht zu Europa gehöre.

»Wahlhilfe«

Um den Parteien deutlich zu machen, daß auch außen- und friedenspolitische Themen für die WählerInnen von Interesse sind und um den WählerInnen eine »Wahlhilfe« zur Verfügung zu stellen, wurden im folgenden auf der Grundlage der Wahlprogramme für die Bundestagswahl '94 die außen- und sicherheitspolitischen Aussagen der Parteien CDU, SPD, F.D.P., Bündnis90/Grüne, PDS und Republikaner unter friedenspolitischen Gesichtspunkten – z.B. zu den Stichworten Rüstungsexport, Wehrpflicht, Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr oder gerechte Weltwirtschaftsordnung – gegenübergestellt.

Darüber hinaus gibt es neben Adressen und Literaturhinweisen Informationen zur Europawahl, der Bundestagswahl und den Landtags- und Kommunalwahlen.

Diese Zusammenstellung soll dem Leser und der Leserin einen Überblick über die Positionen der Parteien verschaffen und eine friedenspolitische Orientierung für die 19 Wahlen (siehe Tabelle 1), die der Bundesrepublik '94 bevorstehen, bieten. Es soll die Möglichkeit geschaffen werden, aktiv außenpolitische Themen in den Wahlkampf einzubringen und eine gewaltmindernde Friedenspolitik einzufordern.

Die Aussagen aus den Wahlprogrammen können natürlich nicht Grundlage für eine tiefgehende Analyse der Außen- und Sicherheitspolitik der Parteien bieten. Das, was nach Koalitionsverhandlungen oder regierungsamtlichen Sachzwängen von dem Profil der jeweiligen Programmaussagen übrig bleibt, ist oft sicherlich nur noch marginal. Um dem/der friedenspolitisch Interessierten eine Orientierung zu bieten, ist es trotzdem sinnvoll die Aussagen der Parteien in ihren Wahlprogrammen unter die friedenspolitische Lupe zu nehmen.

Dazu war es notwendig vergleichbare Quellen zu benutzen. Dies ist nicht ganz gelungen, da, obwohl der Bundestagswahlkampf schon begonnen hat, bei Redaktionsschluß (1. März) nur die Wahlprogramme der PDS, der Republikaner und von Bündnis 90/Grüne vorlagen. (Hieraus könnte man schließen, daß in der Bundesrepublik Wahlkampf ohne Inhalte stattfindet.) Ich mußte mich bei der SPD mit dem außen- und sicherheitspolitischen Parteitagsbeschluß vom November '93 begnügen. Es handelt sich aber um einen unter der neuen SPD-Führung verabschiedeten Antrag zur Außen- und Sicherheitspolitik (in Ausnahmefällen wird aus dem verabschiedeten Antrag vom November '92 zitiert; diese Stellen sind gesondert gekennzeichnet); und sowohl bei der CDU als auch bei der FDP mußte ich mich auf Leitanträge für das Wahlprogramm beziehen. Bei der FDP ist dieser am 15./16. Oktober '93 vom Bundeshauptausschuß verabschiedet worden. Der Leitantrag der CDU, der den folgenden Aussagen zugrunde liegt, wurde im Oktober '93 vom Bundesvorstand verabschiedet und auf dem Parteitag Ende Februar behandelt; es war aber leider nicht möglich den genauen Wortlaut des verabschiedeten Programmes bis Redaktionsschluß zu erhalten.

Dieses Dossier erscheint sowohl als Beilage der Zeitschrift »Wissenschaft und Frieden« als auch als Beilage der Zeitschrift »Friedensforum«.

Positionen der Parteien

1. Leitsätze deutscher Außenpolitik

CDU

„Oberstes Ziel unserer Friedens- und Sicherheitspolitik ist es, Freiheit und Frieden als Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben zu sichern und zu fördern. Internationaler Dialog, Konfliktverhütung und Krisenmanagement, Ausbau der internationalen Rüstungskontrolle und weltweite Abrüstung sind zentrale Elemente unserer Politik.“

SPD

„Sozialdemokratische Außenpolitik verfolgt drei Kernziele: Frieden als gewaltfreie Regelung von Konflikten; Freiheit von Unterdrückung und Ausbeutung; Wohlstand auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit und Solidarität … und dem Konzept einer dauerhaft tragfähigen Entwicklung.“

FDP

„Unsere liberalen Koordinaten bleiben dabei: Leistungskraft, Weltoffenheit und Toleranz.“

„Zugleich muß und darf unsere Außenpolitik … auch Interessenpolitik sein.“

GRÜN

Außenpolitische Leitlinien: „Konzept der machtpolitischen Selbstbeschränkung, der einseitigen radikalen Abrüstung und der Selbsteinbindung in reformierte internationale Institutionen wie der UNO und der KSZE sowie der gesellschaftlichen Kooperation über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg“.

Republikaner

„Unsere Außenpolitik hat sich zu allererst an den Interessen des eigenen Landes zu orientieren.“

2. Militärische Gewalt als Mittel von Politik/militärische Intervention

CDU

„Eine wesentliche Bedingung für den Frieden ist die allseitige Bereitschaft zum Gewaltverzicht … .“

SPD

„Wir verstehen Frieden als gewaltfreie Austragung von Konflikten. Wo dieser Frieden stabil ist, gibt es weder Anwendung noch Androhung von Gewalt.“

„Militärische Risikovorsorge ist nicht überflüssig geworden, aber Herausforderungen wie der globalen Verbreitung moderner Waffen und gewaltträchtigen Konflikten muß durch eine Politik begegnet werden, die ihre Ursachen beseitigt.“

FDP

„Nur im äußersten Fall darf die internationale Staatengemeinschaft zu militärischen Zwangsmitteln greifen. Ihre Anordnung ist allein den Vereinten Nationen durch Beschluß des Sicherheitsrates vorbehalten.“

Die internationale Rechtsordnung muß wehrhaft sein.

„Das Nichteinmischungsgebot verliert dort seine Gültigkeit, wo Menschenrechte auf schwerwiegende Weise verletzt werden. Hier hat die Staatengemeinschaft das Recht, zur Durchsetzung der Menschenrechte zu intervenieren.“

GRÜN

„Wir stehen für eine Politik der globalen Solidarität, der friedlichen Konfliktbearbeitung, der vorbeugenden Konfliktvermeidung und der nichtmilitärischen Einmischung für die Sicherung der Menschenrechte.“

PDS

„Die PDS tritt dafür ein, Krieg und militärische Gewalt zu ächten. Wir lehnen ein Denken und Handeln in Abschreckungs-, Bedrohungs- und Kriegsführungskategorien ab. Wir wollen die schrittweise Beseitigung aller Streitkräfte.“

Republikaner

„Unsere Außenpolitik hat sich zu allererst an den Interessen des eigenen Landes zu orientieren. Dazu gehört, daß sich die Bundesrepublik Deutschland strikt aus allen internationalen Konflikten heraushält; dies gilt insbesondere für Bürgerkriege und andere innerstaatliche Konflikte.“

3. Sicherheitsbegriff

CDU

„Sicherheitspolitik richtet sich auf alle politischen, wirtschaftlichen, ökologischen, militärischen und kulturellen Anstrengungen, die das friedliche Zusammenleben der Völker zum Ziel haben.“

SPD

Der sozialdemokratische Sicherheitsbegriff schließt über die militärische Sicherheit hinaus folgendes mit ein: „die ökologische und ökonomische Stabilität, soziale Gerechtigkeit, selbsttragende Entwicklung, friedliche Beilegung sozialer, nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte, Eindämmung von Wanderungsbewegungen durch Bekämpfung von Fluchtursachen, Schutz vor international organisierter Kriminalität. … Wir wollen, daß die militärische Dimension der Sicherheit weiter an Bedeutung verliert.“

4. Bundeswehr

Abschaffung der Bundeswehr
Ja Nein
CDU,  
SPD,  
FDP,  
Grün  
PDS  
Reps  

CDU

„Wir sind uns des hohen Beitrages bewußt, den unsere Bundeswehr zum Erhalt des Friedens und der Freiheit leistet. Die Bundeswehr trägt entscheidend dazu bei, die politische Handlungs- und Bündnisfähigkeit Deutschlands zu erhalten. … Die Bundeswehr schützt Deutschland und seine Staatsbürger vor politischer Erpressung und äußerer Gefahr; sie fördert die militärische Stabilität und die Integration Europas.“

SPD

Die Bundeswehr „muß weiterhin der Kriegsverhütung dienen, in der NATO zur wirksamen Verteidigung fähig sein und in Umfang, Struktur, Bewaffnung, Ausbildung und Einsatzkonzeption ausschließlich und erkennbar ihrem defensiven Auftrag entsprechen. Multinationale Verbände sind Mittel der Integration und erschweren nationale Alleingänge.“

„Der Friedensumfang unserer Streitkräfte wird nur in Schritten sozialverträglich abzubauen sein. Die nächste Zielgröße könnte 1996 300.000 Mann sein. Bei positiver Entwicklung der sicherheitspolitischen Lage können weitere Abbauschritte folgen.“

FDP

„Hauptauftrag der deutschen Streitkräfte bleibt auch nach dem Wegfall der militärischen Bedrohung durch den Warschauer Pakt der Schutz unserer Demokratie, der Freiheit und des äußeren Friedens. Dennoch muß der zukünftige Auftrag der Bundeswehr neu bestimmt werden.“

Die FDP will folgende Prioritäten setzen: „Aufbau, Ausbildung und Ausstattung von Krisenreaktionskräften, Schaffung einer leistungsfähigen Lufttransportkapazität und die soziale Bewältigung der Reduzierung des Streitkräfteumfangs.“

„Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Soldaten müssen stärker an die gesellschaftliche Normalität angepaßt werden. Die Bundeswehr muß mit anderen Arbeitsplatzanbietern konkurrieren können. Die Einstiegsgehälter müssen attraktiver werden. Dies muß auch durch eine effizientere und bessere Presse- und Öffentlichkeitsarbeit unterstützt werden.“

„Der Personalumfang der Bundeswehr ist eine Sollstärke und kein Dogma. … Die Bundeswehr der 90er Jahre wird kleiner.“

GRÜN

„Wir wissen, das die Bundeswehr mit ihren bisher über 350.000 Soldaten nicht von heute auf morgen aufzulösen ist. Ihre Abschaffung ist ein Prozeß der Abrüstung und der Konversion, der politisch und gesellschaftlich schrittweise durchgesetzt werden muß. Deshalb fordern wir die Umwidmung des »Verteidigungsetats« im Bundeshaushalt zu einem Konversionsetat. (…) Berufssoldaten muß das Angebot zur Umschulung, beispielsweise für die Arbeit in der internationalen Katastrophenhilfe gegeben werden.“

PDS

„Wir wollen die schrittweise Beseitigung aller Streitkräfte.“

Republikaner

„Soldaten und Mitarbeiter der Bundeswehr verdienen unser Vertrauen und unseren Schutz gegenüber jeglicher gesellschaftlicher Diffamierung. Wir fordern die Rehabilitierung der 27.000 deutschen Soldaten, die 1949/50 als Kriegsgefangene in der Sowjetunion zu Unrecht in Kurzprozessen verurteilt wurden!“

4.1 Bedrohungsanalyse

SPD

„Auch unsere Stabilität wäre gefährdet, wenn die Reformprozesse (in Ost-/Mitteleuropa) scheiterten: Die Flucht- und Wanderungsbewegungen nach West-, Nord- und Südeuropa und insbesondere in die Bundesrepublik Deutschland könnten dramatisch ansteigen; kriegerische Konflikte könnten übergreifen; unsere Umweltbelastung könnte zunehmen, weil keine gemeinsame Umweltpolitik zustande kommt.“

„Die Industrieländer können sich nicht auf eine »Insel der Seligen« retten. Ungebremstes Bevölkerungswachstum, Massenelend und gewaltsame Konflikte im Süden erreichen uns durch wachsenden Wanderungsdruck, durch Schädigung des weltweiten Bio-Systems und durch Aufrüstung. … Globale Solidarität ist deshalb sowohl ein moralisches Gebot als auch eine Bedingung unserer Entwicklung.“

PDS

„Unterentwicklung, Verelendung, Massensterben durch Hungersnöte und Seuchen, ökologische Zusammenbrüche und Kriege erzeugen die Gefahr unbeherrschbarer Katastrophen.“

„Hochrüstung und Kriegsgefahr bleiben eine globale Bedrohung. Die von den kapitalistischen Großmächten dominierte »neue Weltordnung«, der Kampf der Machtzentren USA, Japan und Westeuropa um Einflußsphären, die damit verbundene Hochtechnologierüstung und die Aufstellung von Eingreiftruppen spitzen die Gefahr von Kriegen dramatisch zu.“

„Die Hauptursachen für die globalen Probleme sind die kapitalistischen Produktions-, Verteilungs- und Konsumtionsweisen in den Herrschaftszentren der Weltwirtschaft sowie die Herrschaft des Patriarchats.“

Republikaner

„Die Veränderungen im gesellschaftlichen Bewußtsein haben nicht nur zu einer »Gleichberechtigung« von Wehrdienst und zivilem Ersatzdienst geführt, sondern lassen auch soziale Spannungen, Wanderungsbewegungen infolge Wohlstandsgefälle und globale Umweltzerstörungen als Bedrohungen des Friedens erscheinen. Vor dem Hintergrund dieses komplexeren Verständnisses läßt sich Frieden nicht mehr ausschließlich militärisch sichern.“

„Heute ist Deutschland nach der Vereinigung von West- und Mitteldeutschland wieder souverän und von demokratischen Staaten umgeben. Deutschland ist damit kein Frontstaat mehr, der von seinen östlichen Nachbarn bedroht wird.“

4.2 Rüstungshaushalt / Friedensdividende

SPD

„Für die Auftragserfüllung der Bundeswehr sind unter dem Gebot der Sparsamkeit nur die unbedingt erforderlichen Mittel bereitzustellen. (…) Eine substantielle Rückführung des Verteidigungsetats ist jedoch nur über eine Verringerung des Personalumfangs der Bundes – Soldaten und zivilen Mitarbeiter – erreichbar. Dann könnten erheblich geringere Mittel als heute ausreichend sein.“

FDP

„Kürzungen im Verteidigungsetat dürfen nicht willkürlich gefällt, sondern müssen in Einklang mit den Anforderungen an den Gesamthaushalt und an das Anforderungsprofil der Bundeswehr getroffen werden.“

GRÜN

„Deshalb fordern wir die Umwidmung des »Verteidigungsetats« im Bundeshaushalt zu einem Konversionsetat. Teile dieser Finanzmittel sollen schrittweise dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit übertragen und insbesondere für die internationale Katastrophenhilfe verwendet werden. Des weiteren treten wir dafür ein, diese Mittel für die Konversion der Rüstungsindustrie, den Aufbau eines zivilen Friedensdienstes, die Unterstützung von Friedensforschung und Friedensarbeit vor Ort sowie für die Unterstützung von Konzepten der Sozialen Verteidigung zu verwenden.“

PDS

„Die Militärausgaben werden nicht spürbar gesenkt. Sie verschlingen nach wie vor dringend gebrauchte Ressourcen.“

Die PDS fordert „die sofortige Kürzung des Verteidigungshaushalts um mindestens 30 Prozent sowie anschließend jährlich um mindestens 10 Prozent.“

4.3 Wehrpflicht/Zivildienst

Abschaffung der Wehrpflicht
Ja Nein
CDU  
SPD  
FDP  
Grün  
PDS  
Reps  

CDU

„Wir treten für die Sicherung der Wehrgerechtigkeit als Grundlage der Wehrpflicht ein. Es ist Bürgerpflicht, für Freiheit und Sicherheit einzutreten.“

SPD

„Als Alternative (zur Wehrpflicht) sind eine Freiwilligenarmee oder ein Mischsystem mit milizähnlicher Komponente denkbar. Bei einer Freiwilligenarmee würde die Wehrpflicht ruhen, beim Mischsystem auf 6 Monate verkürzt werden. Die Übergangszeit zu Freiwilligenstreitkräften muß auf etwa 5 Jahre veranschlagt werden. Die Mischform ist schneller zu verwirklichen.

Die SPD will die Wehrpflicht solange wie möglich erhalten. Sie darf jedoch einer Verringerung unserer Streitkräfte nicht im Wege stehen.“

FDP

„Die F.D.P. will keine Berufsarmee. Die Wehrpflicht gemäß Artikel 12a des Grundgesetzes bleibt bestehen. … Die Bemühungen um die Lösung von mittelfristig zu erwartenden Problemen mit der Wehrgerechtigkeit sind zu intensivieren. Zu denken ist hierbei sowohl an die Senkung der gesetzlichen Einberufungshöchstaltersgrenze als auch an die Erweiterung des Katalogs der Freistellungstatbestände insbesondere für diejenigen Bürger, die sich für mehrere Jahre zu Tätigkeiten in Pflegeberufen oder in einem deutschen bzw. europäischen »Peace Corps« für die 3. Welt verpflichten.

Sollte langfristig eine weitere Stabilisierung der internationalen Ordnung zu neuen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen führen, die die Möglichkeit einer weiteren drastischen Reduzierung des Umfangs der Streitkräfte eröffnen, ist die F.D.P. für eine Prüfung der Möglichkeit des Übergangs zu einer sich auf Wehrpflichtige, Reservisten sowie Berufs- und Zeitsoldaten stützenden Miliz-Armee ebenso offen wie für eine Prüfung der Einführung einer Freiwilligen-Armee.

Deshalb fordert die FDP

  • Ohne Wehrgerechtigkeit ist die Wehrpflicht nicht zu vermitteln. Je kleiner der Umfang der Bundeswehr ist, desto nötiger brauchen wir überzeugende Konzepte für die Einbindung und Verpflichtung junger Menschen für gesamtgesellschaftliche Aufgaben der Zukunft. Dazu gehören neben der Landesverteidigung und Friedenssicherung soziale, gemeinschaftliche und pflegerische Aufgaben, sowie Umwelt- und Entwicklungsdienste.“

„Zur Steigerung der Attraktivität der Wehrpflicht im freien Wettbewerb mit anderen Gesellschaftsdiensten gehört auch die Ausbildung für und Möglichkeit der Teilnahme an internationalen Einsätzen der Bundeswehr.“

GRÜN

„BÜNDNIS 90/GRÜNE setzen sich für die Abschaffung der Wehrpflicht und damit auch des Zivildienstes ein. Für den Zivildienst schlagen wir ein Ausstiegskonzept vor mit dem Ziel, dessen staatliche Förderung mit mehr als 2 Milliarden DM jährlich zur Finanzierung hauptamtlicher Arbeitsplätze im Sozialbereich umzuleiten. Keinesfalls darf es eine »allgemeine Dienstpflicht« für Frauen und Männer geben, wie konservative Politiker dies als angeblichen Ersatz für die Wehrpflicht vorhaben.

Wir beabsichtigen mit der Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht keine Berufsarmee, sondern eine Bundesrepublik ohne Armee. Unsere Solidarität gilt schon heute allen, die den Zwangsdienst in Bundeswehr und den Zivildienst verweigern.“

PDS

Die PDS fordert „die Abschaffung der Wehrpflicht und aller anderen Zwangsdienste als Schritt zur Abschaffung der Armee überhaupt;“

Republikaner

„Dienst am Frieden kann sich somit auch in anderen Formen des persönlichen Engagements vollziehen: Sozialer Dienst, Schutz der Umwelt und Entwicklungshilfe stellen einige Felder dar, auf denen ein für das Gemeinwohl nützlicher Dienst geleistet werden kann.

Wir Republikaner fordern

  • Die Beibehaltung der Wehrpflicht als Bestandteil eines allgemeinen Staatsdienstjahres für alle Deutschen.
    (…)
  • Die Attraktivität der freiwilligen Verpflichtung zum Reserveoffizier und -unteroffizier muß erhöht werden.
  • Bei der Ausgestaltung der Streitkräftestruktur muß die Entstehung einer Zwei-Klassen-Armee vermieden werden.“

4.4 »Out-of-area«-Einsatz/ Grundgesetzänderung

CDU

„Wir wollen, daß sich Deutschland im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen an Aktionen der UNO, NATO, WEU und KSZE zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens beteiligen kann.“

SPD

„Allen Plänen, mit der Bundeswehr eine interventionistische Politik zu verfolgen und Deutschland zu einer Militärmacht zu entwickeln, treten wir entschieden entgegen. Die SPD bleibt bei ihrer Tradition, unser Volk nicht in einen Krieg zu führen.“

Prinzipien des Peacekeeping sind nach wie vor: „Die prinzipielle Zustimmung der Konfliktparteien, die strikte Neutralität gegenüber den Konfliktparteien, rein defensive Bewaffnung und Einsatzkonzeption und die Leitung durch den Generalsekretär der UN, die Beteiligung von zivilem, polizeilichem und militärischem Personal als Teil des Gesamtkonzepts von peacekeeping und die offene und demonstrative Präsenz der UNO-Soldaten (keine Tarnung wie bei Kampfeinsätzen) sowie höchst restriktiver Waffengebrauch mit dem Ziel der Vermeidung von Gewaltanwendung und der Verhinderung von Eskalation. In diesem Sinne gehört bereits seit 1973 der restriktive Waffengebrauch zur Selbstverteidigung der Soldaten und die defensive, deeskalierende Absicherung ihres friedenserhaltenden oder humanitären Auftrages zu den Elementen von peacekeeping, das stets auf das Einvernehmen mit den Konfliktparteien und nicht auf eine gewaltsame Beendigung des Konfliktes zielt.

(…) Wir befürworten eine Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an Blauhelm-Einsätzen der UNO. Dies gilt jedoch nur für Einsätze, die die genannten grundlegenden Prinzipien erfüllen. (…) Solche friedenserhaltenden Maßnahmen wollen wir durch eine Grundgesetzänderung ermöglichen. Eine weitergehende Verfassungsänderung lehnen wir ab. (…) Wir setzen uns für die Aufstellung einer deutschen UNO-Bereitschaftstruppe mit besonderer Ausbildung ein.

Die SPD steht dafür, daß die Bundeswehr nicht zu einer frei verfügbaren Interventionsarmee wird und daß es keine Beteiligung der Bundeswehr an Kriegen, z.B. nach dem Muster des Golf-Krieges, gibt.“

„Der Vorschlag von Boutros Ghali, im Rahmen einer UNO-Reform Truppen zur Friedenssicherung (peace enforcement) aus Kontingenten möglichst vieler Mitgliedsstaaten zusammenzustellen, ihren Einsatz aufgrund einer Ermächtigung des Sicherheitsrats erfolgen zu lassen und sie dem Generalsekretär zu unterstellen, hat bisher im Sicherheitsrat keine Mehrheit gefunden. Auch die in Artikel 43 der UNO-Charta vorgesehenen UN-Streitkräfte sind bisher nicht realisiert worden. Wenn diese Vorschläge vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen und die Entscheidungsstrukturen der UNO so geändert worden sind, daß ein Mißbrauch der Weltorganisation durch Großmächte oder Staatengruppen ausgeschlossen ist, wird die SPD entscheiden, ob sie einer Beteiligung der Bundeswehr an solchen Streitkräften und einer entsprechenden Verfassungsänderung ihre Zustimmung geben wird.“ (SPD, Bonn 1992)

FDP

„Die F.D.P. will, daß Deutschland die Friedensaufgaben, die die Völkergemeinschaft von uns als führender Industrienation erwartet, uneingeschränkt wahrnehmen kann. Hierfür müssen die rechtlichen Voraussetzungen durch eine Grundgesetzänderung geschaffen werden. Die FDP fordert die Opposition im Deutschen Bundestag auf, sich nicht länger zu verweigern und endlich ihrer außenpolitischen Verantwortung gerecht zu werden.“

Voraussetzung für den Einsatz (dieser) UNO-Eingreiftruppe ist die Zustimmung der nationalen Parlamente und Regierungen.

„Die F.D.P. will, daß sich die Bundeswehr im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen an allen internationalen Maßnahmen zu Friedenssicherung beteiligen kann. Das umfaßt sowohl friedenserhaltende als auch friedensschaffende Maßnahmen. Für die F.D.P. sind internationale Bundeswehreinsätze grundsätzlich nur eingebettet im Rahmen der Systeme kollektiver Sicherheit von UNO und KSZE sowie in Systemen kollektiver Verteidigung wie NATO, WEU und einer zukünftigen gemeinsamen europäischen Verteidigung zulässig. Die F.D.P. will dafür eine Änderung unseres Grundgesetzes.“

„Internationale Friedenseinsätze für Wehrpflichtige und Reservisten müssen auf der Basis der Freiwilligkeit und nach Maßgabe der militärischen Ausbildungsanforderungen möglich sein. Kein Wehrpflichtiger oder Reservist darf gegen seinen Willen zur internationalen Friedenssicherung herangezogen werden.“

GRÜN

„Alle Planungen, die Bundeswehr an Schnellen Eingreiftruppen zu beteiligen, sind zu beenden. Das »Wartime Host Nation Support«-Abkommen, mit dem sich die Bundesrepublik zur logistischen Unterstützung von weltweit operierenden US-Interventionstruppen verpflichtet hat, muß gekündigt, das deutsch-französische Eurokorps aufgelöst werden.“

PDS

Die PDS fordert „das Verbot des Bundeswehreinsatzes außerhalb der Grenzen der BRD und bei inneren Konflikten.“

Staatsziele und Grundrecht sollen erweitert werden um:

„die Pflicht zu Abrüstung, Friedenssicherung und internationaler Hilfe.“

Republikaner

„Nachdem 50 Jahre lang das deutsche Volk und insbesondere die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs pauschal als Kriegsverbrecher und Gefahr für den Weltfrieden diffamiert wurden, sprechen wir uns gegen den Einsatz deutscher Soldaten als Welt-Hilfspolizisten aus; deutsche Soldaten dürfen nicht als Hilfstruppen im Dienste fremder außenpolitischer Interessen eingesetzt werden.

Wir Republikaner sprechen uns entschieden gegen die beabsichtigte Änderung des Grundgesetzes (Art. 87a GG) aus. Wir haben die Lehren aus der deutschen Geschichte gezogen. Aufgabe deutscher Streitkräfte muß daher ausschließlich die Verteidigung von Recht und Freiheit des eigenen Volkes bleiben.“

Die Bundesrepublik soll sich strikt aus allen internationalen Konflikten heraushalten.

5. Weltmilitärordnung

5.1 Abrüstung/Konversion

CDU

„Zentraler Bestandteil von Friedens- und Sicherheitspolitik ist die weltweite Abrüstung, Rüstungskontrolle und wirksame Einschränkung der Rüstungsexporte.“

SPD

„Die Chance des Abbaus der Militärarsenale, die das Ende des Kalten Krieges eröffnet hat, muß konsequenter genutzt werden.“

Die Abrüstungsvereinbarungen müssen dringend und schnell umgesetzt werden. „Künftig müssen auch Seestreitkräfte in den Abrüstungsprozeß einbezogen werden. Die im Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa vom November 1991 und in der Abschließenden Akte vom Juli 1992 vereinbarten Obergrenzen von Waffen und Personal sind weit überhöht.“

Die „hohe quantitative und qualitative Überlegenheit des Westens erlaubt ohne Sicherheitseinbuße einseitige Abrüstungsschritte der NATO oder einzelner Mitgliedsstaaten bei konventionellen Hauptwaffensystemen (z.B. Panzer, Artilleriewaffen, Fregatten und Jagdbomber).“

FDP

„Die kontrollierte Beseitigung der Massenvernichtungswaffen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion ist ein vorrangiges Ziel … .“

Es wird eine effektive Abrüstungshilfe insbesondere für die Chemie- und Nuklearwaffen von Rußland, der Ukraine, Weißrußland und Kasachstan, eingefordert. Die Mittel müssen deutlich aufgestockt werden.

GRÜN

„Wir treten darüber hinaus für weltweite Abrüstung und die Auflösung aller Armeen ein. Wir treten für koordinierte Rüstungskonversion und das konsequente Verbot aller Rüstungsexporte ein.“

BÜNDNIS 90/GRÜNE stehen „weiterhin für die Strategie der einseitigen friedens- und abrüstungspolitischen Vorleistungen im eigenen Land.

Wir fordern als Einstieg hierzu den sofortigen Stopp aller militärischen Großprojekte, insbesondere des Baus von Jäger 90/Eurofighter 2000 und des Panzerabwehrhubschraubers PAH2.“

„Wir wissen, das die Bundeswehr mit ihren bisher über 350.000 Soldaten nicht von heute auf morgen aufzulösen ist. Ihre Abschaffung ist ein Prozeß der Abrüstung und der Konversion, der politisch und gesellschaftlich schrittweise durchgesetzt werden muß. Deshalb fordern wir die Umwidmung des »Verteidigungsetats« im Bundeshaushalt zu einem Konversionsetat. (…) Berufssoldaten muß das Angebot zur Umschulung, beispielsweise für die Arbeit in der internationalen Katastrophenhilfe gegeben werden.“

PDS

Staatsziele und Grundrecht sollen erweitert werden um:

„die Pflicht zu Abrüstung … .“

Republikaner

„Wir Republikaner setzen uns für eine weltweite Ächtung der nuklearen, biologischen und chemischen Waffen sowie den Abbau des Nuklearwaffenpotentials unter Wahrung der deutschen Sicherheitsinteressen ein.“

5.2 Rüstungsexport/Rüstungsproduktion

CDU

„Zentraler Bestandteil von Friedens- und Sicherheitspolitik ist die weltweite Abrüstung, Rüstungskontrolle und wirksame Einschränkung der Rüstungsexporte.“

SPD

„Rüstungsexporte verschärfen Konflikte und ermöglichen neue Kriege. Immer noch tragen die Industrieländer als Hauptwaffenexporteure maßgeblich zur Aufrüstung im Süden bei. Für die Bundesrepublik fordern wir den vollständigen Verzicht auf Rüstungsexporte in Staaten außerhalb der NATO. Dabei muß, ebenso wie bei Rüstungskooperation, der Endverbleib im NATO-Gebiet sichergestellt sein. Die Strafen bei Übertretung von Rüstungsexportverboten müssen drastisch verschärft (…) werden.“ Schritte zur Konversion und restriktive europäische Rüstungsexportkontrollen müssen eingeleitet werden. Die zivile Nutzung von »dual-use«-Gütern und Kenntnissen muß sichergestellt werden.

FDP

Rüstungsexportkontrolle muß ausgebaut werden. „Die FDP fordert eine schnelle Harmonisierung der Rüstungsexportpolitik und eine einheitliche Rüstungskooperation in der EG. Dies ist für eine wirksame Kontrolle des Exports von Dual-Use-Gütern und in Kooperation hergestellten Rüstungsgütern unerläßlich.“ Der Aufbau restriktiver Rüstungsexportkontrollgremien in den mittel- und osteuropäischen Staaten und den GUS-Staaten wird gefordert und eine weltweite Senkung der Rüstungsexporte wird angestrebt. Ein weltweites Waffenregister muß ausgebaut und umgesetzt werden.

GRÜN

„In Wirklichkeit sitzen die »Schwarzen Schafe« auf der Regierungsbank, denn 95% aller deutschen Waffentransfers erfolgen legal, also mit Genehmigung der Bundesregierung. Dieser Skandal findet seinen Höhepunkt in den Bemühungen der CDU, die deutschen Exportgesetze mit den anderen EU-Waffenexporteuren zu »harmonisieren« (Lamers-Initiative) und damit die letzten Exportbeschränkungen zu beseitigen.“

„Gegen Rüstungsexporte gibt es nicht nur moralische Argumente, sondern auch gute volkswirtschaftliche, da die Rüstungsgüter neben offenen Subventionen häufig auch noch über Hermes-Kredite aus deutschen Steuergeldern bezahlt werden. Deswegen kann gegen Rüstungsexporte juristisch und ökonomisch vorgegangen werden, indem die offene und verdeckte Subventionierung ersatzlos entfällt. Ein realer Rüstungsexportstopp ist letztendlich nur durch den Verzicht auf Rüstungsproduktion erreichbar.“

PDS

PDS fordert ein Verbot aller Waffenexporte und die Beendigung von Militärhilfe, einen Entwicklungs- und Produktionsstopp für neue Waffensysteme.

Republikaner

„Die Soldaten der Bundeswehr haben Anspruch auf modernste konventionelle Waffen und Ausrüstung. Zu diesem Zweck fordern wir, daß die Leistungsfähigkeit der deutschen Rüstungsindustrie aufrechterhalten wird.“

5.3 Atomwaffen (B/C-Waffen)

CDU

Die Verbreitung moderner Massenvernichtungswaffen zu verhindern ist die wichtigste Aufgabe internationaler Rüstungskontrolle. Die Ächtung der biologischen und chemischen Waffen muß durchgesetzt werden.

SPD

„Wir werden darauf dringen, daß die NATO unzweideutig auf den atomaren Ersteinsatz verzichtet, daß alle land-, see- und luftgestützten taktischen Atomwaffen verschrottet werden … „ (SPD, Bonn 1992)

„Auf dem Gebiet der atomaren Abrüstung müssen die Vereinbarungen und Ankündigungen der USA und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion zügig umgesetzt werden. Frankreich, Großbritannien und China sind jetzt aufgefordert, ihren Beitrag zur atomaren Abrüstung zu leisten.“

„In einem ersten Schritt sollen alle land-, see- und luftgestützten taktischen Atomwaffen in Europa abgeschafft werden. Wir treten ein für eine Abrüstungskonferenz aller Atomwaffenstaaten mit dem Ziel der generellen, kontrollierten atomaren Abrüstung. Die SPD wird den Abzug aller Atomwaffen aus der gesamten Bundesrepublik Deutschland, nicht nur aus Ostdeutschland, durchsetzen.

Außerdem halten wir unter anderem folgende Sofortmaßnahmen für unerläßlich:

  • technische und finanzielle Hilfe des Westens für die Vernichtung des Spaltmaterials in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion;
  • einen vollständigen Produktionsstopp für waffenfähiges radioaktives Material;
  • einen umfassenden Atomteststopp;
  • erweiterte Rechte der Internationalen Atomenergieagentur zur Kontrolle der atomaren Abrüstung;
  • Beitritt aller Staaten zum Nichtverbreitungsvertrag.“

GRÜN

„Unser Ziel ist ein ABC-Waffenfreies Europa.“

PDS

Die PDS fordert „das umfassende und vollständige Verbot der Entwicklung, Produktion und Lagerung von Kernwaffen“.

Republikaner

„Im Rahmen von Rüstungskontrolle und Abrüstung verzichtet Deutschland auch in Zukunft auf die Produktion und den Besitz von ABC-Waffen.“

5.3.1 Einsatz

CDU

„Die Verteidigung der Mitgliedsstaaten der NATO bleibt auch in Zukunft der primäre politische und militärische Zweck des Bündnisses. Dazu gehört die Beibehaltung der nuklearen Schutzgarantien für die Mitgliedsstaaten. Deutschland bleibt als nicht-nuklearer Staat auch weiterhin auf den Schutz durch die westlichen Nuklearstaaten, vor allem die USA, angewiesen.

SPD

„Wir werden darauf dringen, daß die NATO unzweideutig auf den atomaren Ersteinsatz verzichtet, … „ (SPD, Bonn 1992)

5.3.2 Weiterverbreitung/NPT

CDU

„Der Schutz vor nuklearer Erpressung ist durch die weltweite Verbreitung von Technologien, die auch anderen Staaten die Verfügungsgewalt über Massenvernichtungsmittel ermöglicht, für Deutschland und Europa von großer Bedeutung.“

„Wir treten für die unbefristete Verlängerung und weltweite Durchsetzung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages ein.“

SPD

„Der atomare Nichtweiterverbreitungsvertrag muß unbefristet verlängert und durch den Beitritt weiterer Staaten gestärkt werden.“

FDP

„Der Nichtverbreitungsvertrag muß dafür auf unbegrenzte Zeit verlängert werden.“ Darüber hinaus wird gefordert: bessere Überprüfbarkeit, Stärkung der IAEO, Schaffung regionaler Kontrollbehörden, Sanktionskatalog bei Verstoß.

6. Institutionen

FDP

„Die Irreversibilität unserer Integration in die Europäische Gemeinschaft, unsere aktive Rolle in den Systemen kollektiver Verteidigung in Europa und im nordatlantischen Raum, WEU und NATO sowie unsere verantwortliche Mitwirkung in den regional bzw. global definierten Systemen kollektiver Sicherheit, KSZE und Vereinte Nationen, bilden den Handlungsrahmen für kalkulierbare deutsche Außenpolitik.“

PDS

PDS fordert „die Auflösung von NATO und WEU und ihre Ersetzung durch weltweite und gesamteuropäische kooperative Sicherheitssysteme, insbesondere durch eine demokratisch Reform der UNO und die Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses.“

6.1 Vereinte Nationen

SPD

„Frieden, Menschenrechte und Entwicklung weltweit zu fördern, ist die zentrale Aufgabe der UNO. Wir wollen ihre Fähigkeit stärken, sich dieser Aufgabe anzunehmen. Die UNO kann jedoch nur das leisten, was ihre Mitgliedsstaaten sie leisten lassen.“ Sie wird mit immer schwierigeren Aufgaben betraut, ohne daß ihr die dafür nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt würden. Deshalb setzen wir uns für eine aktive Rolle der Bundesrepublik Deutschland zur Stärkung und Reform der UNO ein, damit sie zu einem funktionierenden System kollektiver Sicherheit werden kann.“

FDP

„Nur im äußersten Fall darf die internationale Staatengemeinschaft zu militärischen Zwangsmitteln greifen. Ihre Anordnung ist allein den Vereinten Nationen durch Beschluß des Sicherheitsrates vorbehalten. Ausführende Organisationen handeln ausschließlich nur im UNO-Auftrag und nicht aus eigenem Recht.“

„Menschenrechtsverletzungen müssen von einem internationalen Strafgerichtshof verfolgt und geahndet werden.“

GRÜN

„Die UNO ist ein Spiegel unserer Welt: Hier treffen sich Gläubiger und Schuldner, großmächtige und abhängige Staaten, demokratisch und diktatorisch regierte Länder. (…) Zurecht ist die bisherige UN-Struktur wegen der Dominanz der reichen Industrieländer, der starken Bürokratisierung und ihrer häufigen Wirkungslosigkeit in die Kritik geraten. Trotzdem sind die Vereinten Nationen die wichtigste Ebene zur Lösung globaler Probleme.“

„Eine Stärkung der Vereinten Nationen, an der sich Deutschland mit eigenen personellen Kräften und eigener Infrastruktur in multilateralem Rahmen beteiligt, muß einhergehen mit einseitigen Schritten der Abrüstung, die konsequent die Abschaffung der Bundeswehr zum Ziele haben. Denn nur so wird deutlich, daß die Vereinten Nationen der Stärkung einer zivilen Weltordnung dienen und nicht zum Instrument der Militarisierung von Konflikten im Interesse global agierender Großmächte werden.“

6.1.1 Reformvorstellungen

Abschaffung der Wehrpflicht
  Ja Nein
CDU  
SPD  
FDP  
Grün  
PDS  
Reps  

CDU

„Wir wollen, daß die UNO zukünftig wirksamer zur Konfliktvermeidung und -verhütung beitragen kann und daß ihre Eingreifmöglichkeiten zur Sicherung und Wiederherstellung des Friedens verbessert werden. … Insbesondere müssen die völkerrechtlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der UNO bei schweren Verletzungen der individuellen und kollektiven Menschenrechte weiter entwickelt werden. Zugleich muß die institutionelle Stärkung zu einer größeren Wirksamkeit der UNO und ihrer Unterorganisationen bei der Katastrophenbekämpfung, der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit und bei der Lösung von Flüchtlingsproblemen genutzt werden.“

SPD

Die SPD setzt sich für folgende Schritte ein:

  • „eine Stärkung der Stellung des Generalsekretärs (…).
  • die vorbehaltlose Anerkennung der Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes (…)
  • eine veränderte Zusammensetzung des UNO-Sicherheitsrates, so daß sich alle Staaten und Regionen vertreten fühlen. (…)
  • eine Reform der Entscheidungsverfahren im Sicherheitsrat, die das Veto-Recht einschränkt; (…)
  • die Schaffung eines Umwelt-Sicherheitsrates;
  • eine Entlastung der UNO durch die Stärkung regionaler Abmachungen und Organisationen (…).“

„Wir setzen uns dafür ein, daß die UNO-Blauhelm-Einsätze in der UNO-Charta verankert werden.“

„Um den Weltfrieden zu sichern und die Durchsetzung des Völkerrechts zu garantieren, muß die UNO gestärkt und zu einer Weltfriedensinstanz mit internationalem Gewaltmonopol (Weltpolizei) entwickelt werden. Mit einer umfassenden Reform der UNO muß ausgeschlossen werden, daß die Weltorganisation durch Großmächte oder Staatengruppen für ihre Zwecke mißbraucht wird.“ (SPD, Bonn 1992)

„Durch eine ständig abrufbare Blauhelmtruppe muß der Generalsekretär die Möglichkeit haben, rechtzeitig auch vorbeugend in bedrohten Gebieten Blauhelme stationieren zu können.“

FDP

„Sie (die UN) müssen jeder Aggression, die internationales Recht verletzt, mit Entschiedenheit und effektiven Mitteln begegnen können. Die FDP unterstützt deshalb die Forderung nach einer ständigen Eingreiftruppe der Weltorganisation.“

Im Zuge der Straffung der Weltorganisation muß die Stellung des Generalsekretärs der UNO gestärkt werden.

„Die FDP fordert die Aufstellung eines Welthilfskorps, das im Falle von Natur-, Umwelt- oder Technologiekatastrophen direkt vom Generalsekretär der UNO mobilisiert werden kann.“

GRÜN

„Die Beschlüsse der Generalversammlung müssen aufgewertet werden. Der Sicherheitsrat als Exekutivorgan der Vollversammlung muß demokratisch gewählt und alle Regionen angemessen repräsentiert werden. Sonderrechte für Staaten, wie das Recht auf einen ständigen Sitz oder das Vetorecht sollten abgeschafft werden. (…) Wir fordern die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes für Menschenrechte, an dem neben betroffenen Personen auch anerkannte Nicht-Regierungsorganisationen klageberechtigt sind. Verbindliche Verfahren zur Durchsetzung der Menschenrechte und zur nichtmilitärischen Konfliktschlichtung sind in der UN-Charta festzuschreiben.“ Darüber hinaus wird die Einrichtung eines Sanktionshilfefond gefordert.

Republikaner

„… fordern daher: Die unverzügliche Streichung der Japan und Deutschland diskriminierenden »Feindstaatenklauseln« in der Satzung der Vereinten Nationen.

Die Bundesrepublik Deutschland sollte alle ihre weiteren Beitragszahlungen an die Vereinten Nationen von diesen (im SR und Streichung der Feindstaatenklausel) Voraussetzungen abhängig machen.“

6.1.2 Entwicklung der Blauhelmeinsätze/Kampfeinsätze

SPD

„Auch wenn das Spektrum der Blauhelm-Missionen breiter und ihre Durchführung zum Teil sehr viel komplizierter geworden ist, ist eine klare Grenzziehung möglich und erforderlich zwischen Blauhelm-Missionen (= peacekeeping) einerseits und Kriegsführung andererseits.“

„Das Spektrum der Blauhelm-Missionen ist breiter geworden. Dazu gehört auch:

l<~>die Absicherung humanitärer Aktionen zum Schutz der Zivilbevölkerung, von Hilfslieferungen und Waffenstillständen, UNO-Schutzzonen und -Mandatsgebieten, (…).“ (SPD, Bonn 1992)

Die UN muß als unparteilich wahrgenommen werden. „Das gilt insbesondere für die Auswahl und Durchführung von Maßnahmen zur Friedenserhaltung und -sicherung. Die UNO darf gerade in diesem Bereich nicht für Zwecke Dritter mißbraucht werden. Sie darf nicht Partei in Bürgerkriegen werden.“

FDP

Die FDP unterstützt den Ausbau der friedenserhaltenden und friedensschaffenden Missionen der Vereinten Nationen.

GRÜN

„BÜNDNIS 90/GRÜNE setzen sich für eine Präzisierung der UN-Charta ein, um den ursprünglich positiven politischen Ansatz von neutralen, deeskalierenden und vermittelnden UN-Einheiten in der UN-Charta als einzig zulässige Form solcher Einheiten erstmalig festzuschreiben. Die sog. »friedenschaffenden« UN-Einsätze lehnen wir ab und fordern, daß sie in der UN-Charta definitiv auszuschließen sind.“

6.2 KSZE

CDU

„Als Regionalorganisation der UNO hat die KSZE wichtige ergänzende Funktionen in Europa.“

SPD

„Die SPD tritt für den Ausbau der Möglichkeiten der KSZE ein, Konflikten vorzubeugen und ihre friedliche Beilegung herbeizuführen. Dazu gehören der Aufbau eines politischen und militärischen Frühwarnsystems sowie der Ausbau der Erkundungs- und Berichterstattermissionen.“

„Wir setzen uns für den schrittweisen Ausbau der KSZE in Richtung auf ein System kollektiver Sicherheit ein. Dies bedeutet die Erweiterung ihrer Zuständigkeiten, vor allem in den Bereichen Abrüstung, der Sicherheitspartnerschaft, der umfassenden Konfliktverhütung auch durch obligatorische Streitschlichtung und der Durchführung friedenserhaltender Maßnahmen einschließlich des Einsatzes von KSZE-Blauhelmen. Dazu ist ein KSZE-Sicherheitsrat zu schaffen. (…) Die Stärkung und der Ausbau der parlamentarischen Gremien der KSZE muß dabei konsequent und zielstrebig verwirklicht werden.“

FDP

„Eine gesamteuropäische Friedensregion muß auf dem Prinzip der kollektiven Sicherheit aufgebaut sein. … Sie (die KSZE) ist das tragende Gerüst für den Ausbau und die Schaffung neuer kollektiver Sicherheitsstrukturen in Europa. Sie kann als einzige auf absehbare Zeit die Funktion einer übergreifende Sicherheitsbrücke zwischen allen Staaten Europas erfüllen.“

Sie muß, auch in ihrer Parlamentarischen Komponente, weiterentwickelt und mit wirkungsvolleren Entscheidungs- und Durchsetzungsmechanismen ausgestattet werden. Sie sollte als Modell regionaler Konfliktverhütung für andere Weltregionen dienen.

Ihr Ausbau muß konsequent vorangetrieben; ihre Fähigkeit zur Früherkennung ausgebaut und die Mechanismen zur Konfliktvorbeugung, Krisenmanagement und politischer Kooperation verbessert werden.

Das Prinzip „Konsens Minus Eins“-Entscheidungsprinzip soll zu Mehrheitsentscheidungen ausgebaut werden.

„Die Schaffung eines europäischen Sicherheitsrates darf kein Fernziel bleiben.“

„Die KSZE braucht Zähne. Sie muß jedoch nicht über eine eigene militärische Interventionsfähigkeit verfügen.“

„Die FDP setzt sich für den Ausbau einer gesamteuropäischen Friedensregion ein. Dauerhaften Frieden in Europa kann es nur geben, wenn die Vereinigten Staaten, Kanada, die Russische Föderation und die neuen unabhängigen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion einbezogen sind.“

GRÜN

„BÜNDNIS 90/GRÜNE treten dafür ein, die KSZE zum zentralen Forum europäischer Außen- und Sicherheitspolitik zu machen, in deren Rahmen die einzelnen Staaten Souveränitätsrechte abgeben.“ Sie fordern den strukturellen Umbau der KSZE in eine regionale nichtmilitärische Sicherheitsorganisation. Der Ausbau der KSZE-Institutionen muß vorangetrieben werden. Ansatzpunkte sind: „ein verbindlicher Mechanismus der friedlichen Streitbeilegung, ein Konflikt- und Krisenverhütungszentrum, ein Beauftragter für Menschenrechte und Institutionen zur Stärkung der Demokratie, Konfliktvermittlungsmissionen, dauerhafte Strukturen der militärischen Vertrauensbildung und Abrüstung, kontinuierliche Einbeziehung von Nicht-Regierungsorganisationen.“

6.3 Europäische Union/Militarisierung der EU/WEU

WEU
Ausbau Erhalten Abschaffen
CDU    
SPD    
FDP    
Grün    
PDS    

CDU

„Die Gemeinschaft muß offen sein für neue Mitglieder, welche die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzung für den Beitritt erfüllen. Wir wollen, daß der Weg in die Europäische Gemeinschaft diesen Ländern zugleich Zugang zu den westlichen Sicherheitsstrukturen, zur Westeuropäischen Union und zur NATO eröffnet.“

„Wir wollen eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Westeuropäische Union (WEU) als sicherheitspolitischen Pfeiler der Europäischen Union ausbauen.“

„Wir wollen mit unseren Freunden und Partnern ein Netz europäischer Sicherheit knüpfen, in dem sich NATO, WEU und KSZE ergänzen.“

„Wir wollen den europäischen Pfeiler des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses stärken, indem wir die WEU ausbauen.“

„Wir brauchen europäische Streitkräfte mit der nötigen Handlungsfähigkeit … .“

SPD

„Ihrer Verantwortung für ein friedliches und stabiles Gesamteuropa würde die EG nicht gerecht, wenn sie sich gegen die Aufnahme neuer Mitglieder sperren würde. Wir setzen uns deshalb für eine Erweiterung der EG ein. Allerdings hat sie Grenzen: Die Erweiterung darf den Integrationsprozeß nicht behindern und muß sich an klaren Kriterien orientieren.“ (Demokratische und entwickelte wirtschaftliche Strukturen.)

Die gesamteuropäische Zusammenarbeit sollte in Ergänzung zur Kooperation der EG mit Nicht-Mitgliedern stärker als bisher im Europarat stattfinden. Dazu sollte er alle europäischen Staaten umfassen und sich vertieft den Bereichen Menschen- und Grundrechte, Rechts- und Verfassungsfragen sowie kultureller und wissenschaftlicher Zusammenarbeit widmen.

„Wir setzen uns deshalb für eine Erweiterung der EG ein. Allerdings hat sie Grenzen: Die Erweiterung darf den Integrationsprozeß nicht behindern und muß sich an klaren Kriterien orientieren. Dazu gehören auf der Seite beitrittswilliger Staaten demokratische und entwickelte wirtschaftliche Strukturen, die die Integration ermöglichen. … Die Ost-Öffnung der EG ist notwendig. Sie erfolgt auf der Grundlage der genannten Kriterien und entsprechend den bestehenden Assoziierungsabkommen, die auf den EG-Beitritt vorbereiten.“

„Die Militarisierung der Europäischen Union ist der falsche Weg zur Einigung Europas.“

Die Petersberg-Erklärung ist weder durch Maastricht noch durch den WEU-Vertrag gedeckt. Die WEU soll ausschließlich zur Abklärung und Abstimmung westeuropäischer sicherheitspolitischer Positionen dienen.

FDP

„Das Eurokorps bildet den operativen Kern einer gemeinsamen europäischen Verteidigung und muß in Zukunft auch für internationale Friedensaufgaben auf der Grundlage von UNO-Beschlüssen ausgerüstet werden.“

„Die Westeuropäische Union soll den europäischen Pfeiler im Bündnis bilden. Die WEU muß nach Vertragsende 1998 in eine gemeinsame europäische Verteidigung überführt werden.“

„Die mittel- und osteuropäischen Staaten müssen eng an die Europäische Gemeinschaft angebunden werden.“

„Den der Europäischen Gemeinschaft durch Europaverträge verbundenen Staaten sollte bei Erfüllung bestimmter Kriterien, noch ehe eine EG-Vollmitgliedschaft möglich ist, eine immer engere Zusammenarbeit mit den bisher nur westlichen Organisationen (EG, NATO und WEU) bis hin zur vollen NATO-Mitgliedschaft angeboten werden.“

„Auch die Baltischen Staaten sind Anwärter für die Europäische Union.“

„Die WEU sollte den Beitrittskandidaten für die Europäische Gemeinschaft in Mittel- und Osteuropa die Assoziierung anbieten.“

GRÜN

„Europa braucht gerade jetzt einen neuen Anlauf zur Entmilitarisierung von Politik und Gesellschaft. Nicht ein neuer Euromilitarismus, wie ihn die christliberale Bundesregierung über die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« der Maastrichter Verträge und der Westeuropäischen Union betreibt, sondern Abrüstung und zügige wirtschaftliche und politische Öffnung der Europäischen Union für alle Länder Mittel- und Osteuropas sind das Gebot der Stunde. Nicht der Ausbau von Militärbündnissen, sondern nur das Zusammenwirken von wirtschaftlicher und politischer Integration kann eine dauerhafte Perspektive des Friedens schaffen.“

„BÜNDNIS 90/GRÜNE sagen eindeutig Ja zur politischen Integration Europas. (…) Das Europa, das wir meinen, beschränkt sich nicht auf die jetzige Europäische Union. Wir sind gegen die Schaffung einer »Supermacht Europa«. Eine Vertiefung der Integration darf nicht zu Lasten der Erweiterung und Öffnung nach Mittel- und Osteuropa gehen. Unser Ziel ist die gesamteuropäische Integration. (…) Wir wollen einen Dreiklang der Reformen der Europäischen Union: Radikale gesamteuropäische Öffnung, Demokratisierung, sozialer und ökologischer Umbau. Wir wollen einen europäischen »Staatenverbund«, in dem Elemente eines Bundesstaates und eines Staatenbundes zusammenkommen. Für die supra-nationale Kooperation müssen alle beteiligten Länder auf Teile der nationalstaatlichen Souveränität verzichten.“

„Unser Ziel ist eine gemeinsame europäische Politik, die verhindert, daß die Europäische Union eine Wohlstandsfestung auf Kosten des Südens und des Ostens wird. Europa muß vielmehr offen für Flüchtlinge und ein sicheres Asyl werden.“

BÜNDNIS 90/GRÜNE fordern einen ökologisch-sozialen Umbau der Wirtchaftsweise Europas.

PDS

Forderung nach einer Auflösung der WEU.

„Die PDS will insbesondere:

  • einen sozial gerechten und ökologisch verträglichen europäischen Einigungsprozeß. Das muß Vorrang vor den Verwertungsinteressen des Kapitals haben. (…)
  • eine europäische Einigung, die alle Staaten des Kontinents einbezieht. (…)
  • die Demokratisierung der europäischen Institutionen und Entscheidungsprozesse.“

Republikaner

„Der Einigungsprozeß darf jedoch nur mit dem Ziel eines europäischen Staatenbundes (»Europa der Vaterländer«) vorangetrieben werden. Wir lehnen eine Europäische Union im Sinne eines föderalen Bundesstaates (»Vereinigte Staaten von Europa«) ab: Europa ja – diese EG nein!“

Der Vertrag von Maastricht wird abgelehnt. „Ein von Brüsseler Bürokraten gesteuerter europäischer Bundesstaat ohne Grenzen und die geplante Wirtschafts- und Währungsunion werden zum Verlust unserer Währung, zum Verlust deutscher Arbeitsplätze, zu einem weiteren Anstieg der Subventionierungen und der Masseneinwanderung, zur Vernichtung weiterer bäuerlicher Betriebe und zu einem Import von Kriminalität führen.“

6.4 NATO

UN-Sicherheitsratssitz für die BRD
  Ja Nein
CDU  
SPD  
FDP  
Grün  
PDS  
Reps  

CDU

„Die politischen und strategischen Aufgaben der NATO haben sich durch die Veränderungen in Europa erweitert.“

„Die NATO ist zum Partner der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und der Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas geworden. … Die NATO muß durch kollektives Krisenmanagement dazu beitragen, Krisen und Konflikte zu verhüten und zu lösen, die eine Gefahr für die europäische Stabilität werden können.“

SPD

Die NATO hat an Bedeutung verloren. „Bis zur vollen Wirksamkeit eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems auf der Basis der KSZE sollte die NATO in einem Prozeß des Übergangs eine wichtige stabilisierende sicherheitspolitische Rolle wahrnehmen.“ Der Nordatlantische Kooperationsrat wird unterstützt; er soll erweitert werden. „NATO, Nordatlantischer Kooperationsrat und KSZE sollten sich durch eine immer engere Abstimmung und Zusammenarbeit so miteinander vernetzen, daß ein von der KSZE getragener gesamteuropäischer Sicherheitsraum entsteht.“

„Im Zuge dieser grundlegenden Veränderungen und Neugestaltung der europäischen Sicherheitsstrukturen schließen wir eine Erweiterung der NATO um neue Mitglieder in Mittel- und Osteuropa nicht aus. (…) Eine Erweiterung darf nicht dazu führen, daß sich neue Konfliktlinien nach außen bilden oder alte verschärfen.“

„Wir werden darauf dringen, daß die NATO unzweideutig auf den atomaren Ersteinsatz verzichtet, daß alle land-, see- und luftgestützten taktischen Atomwaffen verschrottet werden und keine Massenvernichtungswaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik stationiert bleiben.“ (SPD, Bonn 1992)

„Die NATO muß zu weiterer drastischer Abrüstung bereit sein und eine wirklich defensive Strategie und Streitkräftestruktur in und für Europa entwickeln. Dazu gehört der Verzicht auf den atomaren Ersteinsatz, die Strategie der atomaren Abschreckung muß aufgegeben werden.“

FDP

„Die NATO muß in einer Zeit des Umbruchs der wichtigste Garant für Stabilität und Sicherheit in Europa bleiben. Die FDP bekennt sich zur europäisch-amerikanischen Bindung im nordatlantischen Bündnis.“

„Die integrierten Einsatzverbände der NATO bilden das Rückgrat für zukünftige Friedensaufgaben in Europa.“

„In Zukunft wird das Bündnis (die NATO) neben der Wahrung des Friedens im Bündnisgebiet weitergehende Aufgaben im Auftrag von UNO und KSZE wahrnehmen müssen.“

„Die praktische Zusammenarbeit im Nordatlantischen Kooperationsrat muß intensiviert werden. Dieses Gremium könnte eine operative Rolle bei friedenserhaltenden und friedensschaffenden Maßnahmen übernehmen.“

GRÜN

„Die Entmilitarisierung der Politik – dies bedeutet auch die Auflösung der NATO – und der Aufbau ziviler Strukturen sind Prozesse, die parallel laufen müssen.“

„Eine Formierung der westlichen Militärbündnisse als Gegenpol zu Rußland würde ein Wiederaufleben der atomaren Konfrontation des Kalten Krieges und das politische Ende der demokratischen Kräfte in Rußland bedeuten. Die Politik einer Ausdehnung der NATO nach Osten stellt kein Konzept für die Schaffung von Sicherheit in Europa dar. Sie würde im Gegenteil zur Vergrößerung der Gefahr einer kriegerischen Konfrontation beitragen. Denn die NATO hat ihren ursprünglichen militärischen Charakter der atomaren und konventionellen Abschreckung einschließlich einer atomaren Ersteinsatz-Option nicht verändert, sondern ihm lediglich noch die Möglichkeit für eine globale Intervention hinzugefügt. Sie ist strukturell ungeeignet, die komplizierten neuen zivilen und politischen Aufgaben einer gesamteuropäischen Friedensordnung in Europa wahrzunehmen.“

PDS

Fordert die Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch weltweite und gesamteuropäische kooperative Sicherheitssysteme.

Republikaner

„Wir Republikaner fordern, daß die NATO in eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur überführt wird, in der Deutschland seine Souveränität behält.“

6.4.1 Deutsch-amerikanisches Verhältnis

CDU

„Bei der Wahrung von Sicherheit und Frieden in und für Europa bleiben wir auch in Zukunft auf die Partnerschaft mit unseren nordamerikanischen Verbündeten und deren militärische Präsenz in Europa angewiesen.“

SPD

„Europa und Nordamerika bleiben auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aufeinander angewiesen. Ohne ihre enge Zusammenarbeit lassen sich die gemeinsamen globalen Herausforderungen nicht bewältigen.“

„Die Anwesenheit amerikanischer Truppen auf deutlich vermindertem Niveau in Europa ist unter dem Gesichtspunkt der Verflechtung sinnvoll.“

Es gibt „Modernisierungsbedarf“ in den transatlantischen Beziehungen. Es wird eine breitere, nicht auf sicherheitpolitische Bereiche beschränkte Zusammenarbeit mit den USA angestrebt (ökologische, kulturelle, gesellschaftliche etc.).

FDP

Es „ist eine fortdauernde Präsenz amerikanischer Soldaten in Europa notwendig.“

„Europa muß in der atlantischen Partnerschaft mehr Selbstverantwortung übernehmen.“

Republikaner

„… fordern: * Keine Stationierung fremder Truppen in Deutschland; (…) * Der Abzug fremder Truppen von deutschem Boden muß weiter fortgesetzt werden.“

7. Globale Apartheid/Nord-Süd-Politik

CDU

„Im Bewußtsein der Einen Welt müssen wir eine Partnerschaft zwischen den Staaten und Völkern der Erde schaffen. … Dies ist nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit und Solidarität, sondern dient auch unseren Interessen, … .“

„Die reichen Industriestaaten müssen bereit sein, ihr Verhalten dort zu ändern, wo es zu Ungerechtigkeiten in der Welt beiträgt. Wir werden unseren Beitrag zur Lösung der internationalen Schuldenkrise leisten und Schuldenerlaß mit Umweltschutz verbinden.“

SPD

Im Bewußtsein der Einen Welt müssen schrittweise Elemente einer Weltinnenpolitik entwickelt werden. „Als ein solches Element sehen wir die Entwicklung regionaler Kooperationsräume, die miteinander vernetzt sind. Dabei muß mit anderen Kulturen und Religionen ein offener und vorurteilsfreier Dialog über universale Werte, gemeinsame Interessen und Instrumente geführt werden.“

Die SPD will Entwicklungspolitik als weltweite Strukturpolitik betreiben. Es wird gefordert, bis zum Jahr 2000 0,7 Prozent des BSP für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus fordert sie Schuldenreduzierung, eine Weltwirtschaftsordnung, die den Entwicklungsländern größere Chancen einräumt, den Abbau von Exportsubventionen und Protektionismus, Programme zur Alphabetisierung, die Senkung der Kindersterblichkeit und Maßnahmen einer wirksamen Empfängnisverhütung, ein internationales Bildungskonzept, Programme zum Klimaschutz sowie zum Natur- und Artenschutz.

FDP

Eine umfassende Entwicklungszusammenarbeit mit den Entwicklungsländern liegt in unserem ureigenen Interesse.

„Die Welt der Zukunft ist die »Eine Welt«. Diese Erkenntnis verlangt eine radikale Bewußtseinsänderung. Die traditionelle Nord-Süd-Politik muß schrittweise zu einer Weltinnenpolitik entwickelt werden, die vom Gedanken einer globalen Entwicklungs- und Umweltpartnerschaft getragen wird und alle Politikbereiche einbeziehen muß. Wie eng Entwicklung, Sicherheit und Stabilität zusammenhängen, zeigen die weltweit zunehmenden Migrations- und Flüchtlingsbewegungen. Es ist verständlich, daß manche, die tagtäglich Armut und Hunger, Verfolgung und Gewalt ohne Aussicht auf Besserung erleben, aufbrechen, um Frieden und Wohlstand zu suchen. … Flüchtlings- und Migrationsbewegungen gefährden über kurz oder lang auch die Sicherheit und Stabilität bei uns, … .“

„Die Eindämmung des Bevölkerungswachstums muß oberste Priorität erhalten. Bevölkerungsexplosion, internationale Verteilungskämpfe – insbesondere um Energie und Wasser – Flüchtlingsströme und Umweltzerstörung bedrohen die Menschheit und zwingen zum Handeln.“

„Die Entwicklungsländer müssen über ihr politisches und wirtschaftliches System selbst bestimmen können. Ein Überstülpen von westlichen Modellen auf Partnerländer mit völlig anders gearteter Kultur und Tradition darf es nicht geben. Der Entwicklungsgang eines jeden Landes muß differenziert betrachtet werden. Der Erfolg von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft zeigt jedoch, daß sie das effizienteste System für eine nachhaltige und menschenwürdige Entwicklung sind.“

PDS

Die PDS fordert, daß

  • die von der UNO als »Länder mit niedrigem Einkommen« eingestuften Staaten von der BRD ihre Schulden erlassen bekommen;
  • der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt der BRD sofort auf die international vereinbarte Höhe von 0,7% gebracht und mittelfristig deutlich erhöht wird;
  • der Grundsatz »Abrüstung für Entwicklung« durchgesetzt und mindestens ein Drittel der im Rüstungsetat eingesparten Mittel in die armen Länder des Südens geleitet wird.“

GRÜN

„Die bundesdeutschen Entwicklungshilfeleistungen sind 1993/94 mit einem Anteil von nur noch 0.35% am Bruttosozialprodukt auf einen Tiefstand gesunken. Ein Großteil der Entwicklungshilfe muß als verkappte oder offene Exportförderung für die bundesdeutsche Industrie bezeichnet werden. (…) Schrittweise soll ein Anteil von 1% des Bruttosozialproduktes zur Verfügung gestellt werden, um die Armut durch die Förderung dezentraler Wirtschaftsstrukturen zur Selbstversorgung zu bekämpfen, die Grundbildung zu verbessern, die Rolle der Frauen zu stärken, demokratische Prozesse zu unterstützen und vor allem der zunehmenden ökologischen Zerstörung im Süden und Osten zu begegnen. Dabei darf die notwendige verstärkte Unterstützung der Länder des Ostens nicht durch eine Einschränkung der Unterstützung für den Süden finanziert werden.

Eine so verstandene Entwicklungspolitik muß zur Querschnittsaufgabe werden, die alle relevanten Politikressorts umfaßt. Alle Maßnahmen der bundesdeutschen Wirtschafts-, Außenwirtschafts-, Finanz-, Landwirtschafts-, Handels-, Umwelt- und Technologiepolitik müssen künftig auf ihre »Süd-« und »Ost-Verträglichkeit« überprüft werden. Bei einer erwiesenen Entwicklungsunverträglichkeit sind »Strukturanpassungen« im Norden erforderlich.

BÜNDNIS 90/GRÜNE setzen sich für eine Politik des Teilens, für eine Politik der politischen und ökonomischen Selbstbeschränkung des Nordens ein. Wir müssen mit dem ökologisch-solidarischen Umbau der Weltgesellschaft bei uns beginnen.“

Republikaner

Der Ansatz der Entwicklungszusammenarbeit »Hilfe zur Selbsthilfe in gleichberechtigter Zusammenarbeit« ist gescheitert. „Das Maß deutscher Entwicklungspolitik muß die Sicherung des ökologischen Gleichgewichts der Erde und damit der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit sein.“

Es wird gefordert:

  • „eine Wirtschaftsordnung, welche die natürlichen Lebensgrundlagen schützt;
  • nur noch ökologische Preise und solche, die am tatsächlichen Wert fixiert sind.“
  • teilweise Reduzierung der Schulden einiger Drittweltländer
  • „in Deutschland ausgebildete Fachkräfte und ausländische Studenten sind verpflichtet, nach abgeschlossener Ausbildung in ihr Heimatland zurückzukehren.“

„Ökologie und ungebremstes Bevölkerungswachstum schließen sich gegenseitig aus. Entwicklungshilfe wird daher nur noch an solche Länder gegeben, die eine wirkungsvolle Geburtenkontrolle betreiben.“

„Bei der Ausführung ihrer Entwicklungshilfe hat sich die Bundesrepublik Deutschland in Verantwortung gegenüber dem deutschen Steuerzahler grundsätzlich nationaler Organisationen und Institutionen (…) zu bedienen.“ Kirchen zählen nicht dazu.

7.1 Ende des Wachstums/Weltwirtschaftsordnung

CDU

„Mit ihr (der gemeinsamen europäischen Währung) werden wir weltwirtschaftlichen Turbulenzen besser widerstehen und den Wirtschaftsstandort Europa stärken können.“

„Ein Welthandelssystem mit freiem Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr bringt Vorteile für alle. Wir setzen uns deshalb für den Abbau des Protektionismus und die Öffnung der Märkte ein.

SPD

„Das Ziel (der EG) ist die Festigung des Wirtschaftsstandorts Europa. Dazu braucht die EG nicht zu einer protektionistischen Festung zu werden.“

„Wir streben deshalb eine Reform des Weltwirtschaftssystems an, die umwelt- und ressourcenschonendes Produzieren und Konsumieren begünstigt und die Wettbewerbsfähigkeit der Länder des Südens und der nach-kommunistischen Reformstaaten verbessert.“

Protektionismus und Exportsubventionen sollen abgebaut werden.

FDP

„Liberale sind überzeugt davon, daß Demokratie, soziale Marktwirtschaft, freier Welthandel und Abbau des Protektionismus entscheidend zu einer weltweit tragfähigen Entwicklung beitragen.“

GRÜN

BÜNDNIS 90/GRÜNE schlagen „die Schaffung eines demokratisch gewählten UN-Weltwirtschaftsrates vor, der anstelle des jährlichen Weltwirtschaftsgipfels der sieben mächtigsten Staaten Koordinierungsfunktionen übernimmt. Dort sollen Leitlinien und konkrete Schritte für eine ökologische und solidarische Wirtschafts- und Währungspolitik vereinbart und vor allem auch überwacht werden. Durch formalisierte Mitwirkungsrechte von Nichtregierungsorganisationen sollte eine erweiterte demokratische Kontrolle der Regierungen in diesem Gremium gewährleistet sein.

Wir treten für die Umwandlung der Weltbankgruppe in dezentrale, nicht-profitorientierte Fonds-Strukturen ein, um eine gezielte, regional sinnvolle und abgestimmte Förderungspolitik zu ermöglichen.“

„BÜNDNIS 90/GRÜNE treten für eine Ausweitung des Finanztransfers von Norden nach Süden und Osten ein.“

PDS

„Die Hauptursachen für die globalen Probleme sind die kapitalistischen Produktions-, Verteilungs- und Konsumtionsweise in den Herrschaftszentren der Weltwirtschaft sowie die Herrschaft des Patriarchats. Die bürokratisierte Konkurrenz- und Konsumgesellschaft ist das übergreifende soziale Problem unseres Erdballs. Die von dort ausgehende Unterordnung des menschlichen Lebens unter die Zwänge des Weltmarkts sowie hemmungslose Natur- und Ressourcenvergeudung stellen die Existenz der menschlichen Zivilisation in Frage.“

7.1.1 Reform des GATT

GRÜN

„Das GATT muß institutionell weiterentwickelt und in Verbindung mit der UNCTAD in den UN-Rahmen integriert werden. Ziel ist die Schaffung einer »Internationalen Handelsorganisation« auf Grundlage einer Konvention für eine ökologisch-solidarische Weltwirtschaft.“

8. Mittel-/Osteuropa

CDU

„Wir wollen dazu beitragen, ihren demokratischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aufbau zu sichern. Anderenfalls sind schwerwiegende Rückwirkungen für Deutschland und ganz Europa möglich.“

„Die gemeinsamen Traditionen und ideen- und geistesgeschichtlichen Fundamente unseres Kontinents verbinden seine Völker über nationale und regionale, politische und wirtschaftliche Unterschiede hinweg.“

„Sie (die Bundeswehr) fördert die militärische Stabilität und die Integration Europas.“

SPD

Sie brauchen eine verläßliche europäische Perspektive, z.T. inklusive der EG-Mitgliedschaft. „Unterstützung kann immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Ausschlaggebend sind letztlich immer der Wille zur Reform und seine entschlossene Umsetzung in den Reformstaaten selbst. Nicht die Höhe unserer Unterstützung, sondern ihre langfristige Wirkung ist entscheidend. Sie erfolgt auf mehrfache Weise: finanzielle und technische Hilfe, Schuldenerleichterung, Beratungsleistungen zum Aufbau sozialstaatlicher Infrastruktur und rechtsstaatlicher Verwaltungsstrukturen, Konversion von militärischen Anlagen und humanitäre Hilfe.“

„Wir unterstützen nachhaltig die Wiederbelebung innerosteuropäischer Märkte durch die Schaffung von Freihandels- und Zollunionsgebieten und anderen Formen des Wirtschaftsaustausches sowie durch die Bildung wirtschaftspolitischer Großräume.“

GRÜN

„Auf die inzwischen eingetretenen gefährlichen Entwicklungen muß auch bündnisgrüne Friedenspolitik neue Antworten geben:

  • in den Krisen und Konflikten MIttel- und Osteuropas haben rassistische und nationalistische Kräfte starken Auftrieb bekommen. Chauvinismus und ethnische Konflikte sind in Kriege gemündet, die in ihrer Grausamkeit bis zum Völkermord gehen.
  • Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die damit verbundene tiefe gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise hat in Rußland zum politischen Aufstieg einer rotbraunen Allianz der Reformgegner geführt. Sie propagieren imperialistische Drohungen gegen die unabhängig gewordenen Nachbarstaaten und wollen die Errichtung einer national-chauvinistischen Diktatur.
  • Die mittel- und osteuropäischen Staaten fühlen sich massiv bedroht und fordern ihre Aufnahme in die NATO.

Eine Formierung der westlichen Militärbündnisse als Gegenpol zu Rußland würde ein Wiederaufleben der atomaren Konfrontation des Kalten Krieges und das politische Ende der demokratischen Kräfte in Rußland bedeuten. Die Politik einer Ausdehnung der NATO nach Osten stellt kein Konzept für die Schaffung von Sicherheit in Europa dar. Sie würde im Gegenteil zur Vergrößerung der Gefahr einer kriegerischen Konfrontation beitragen. Denn die NATO hat ihren ursprünglichen militärischen Charakter der atomaren und konventionellen Abschreckung einschließlich einer atomaren Ersteinsatz-Option nicht verändert, sondern ihm lediglich noch die Möglichkeit für eine globale Intervention hinzugefügt. Sie ist strukturell ungeeignet, die komplizierten neuen zivilen und politischen Aufgaben einer gesamteuropäischen Friedensordnung in Europa wahrzunehmen.“

Republikaner

„Wir Republikaner sehen eine besondere Verpflichtung deutscher Außenpolitik im Einsatz für die deutschen Minderheiten in Osteuropa.“

„Im Zwei-plus-Vier-Vertrag ist die Bundesrepublik Deutschland zum Preis für die Wiedervereinigung West- und Mitteldeutschlands die Verpflichtung zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze eingegangen. Damit wurde Ostdeutschland bei der Wiedervereinigung ausgeklammert. … Um eine dauerhafte Friedensordnung in Mittel- und Osteuropa gestalten zu können, setzen wir uns daher für eine friedliche und einvernehmliche Ausgestaltung der vertraglichen Beziehungen mit unseren osteuropäischen Nachbarstaaten mit dem Ziel einer friedlichen Vollendung der deutschen Einheit unter Einbezug Ostdeutschlands ein. Jedem Versuch, Grenzen mit Gewalt oder unter Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu verändern, erteilen wir ebenso eine eindeutige Absage wie einer Legitimierung der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg.“

9. Ökologie und Konflikt

CDU

„Wir betrachten die Entwicklungspartnerschaft zugleich als Teil der globalen Umweltpartnerschaft und damit auch als eine Aufgabe der Umweltaußenpolitik. … Wir werden unseren Beitrag zur Lösung der internationalen Schuldenkrise leisten und Schuldenerlaß mit Umweltschutz verbinden.“

FDP

„… sowie Umweltzerstörung bedrohen die Stabilität unserer Welt.“

„Europa muß auch als ein ökologischer Sicherheitsraum begriffen werden. So gehören Kernkraftwerke sowjetischer Bauart zu den größten Gefahren in Europa.“

SPD

„Extrem unsichere Kernkraftwerke (in Ost-/Mitteleuropa) sind auch für uns eine unmittelbare Sicherheitsgefahr.“

„Auch nach dem Scheitern des Kommunismus darf die Produktions- und Lebensweise der Industrieländer mit ihrem verschwenderischen Energie- und Rohstoffverbrauch nicht zum globalen Leitbild werden. … Deshalb und im Interesse unserer Nachkommen müssen wir die Herausforderung annehmen, eine umwelt- und ressourcenschonende Produktions- und Lebensweise zu entwickeln. … Unser Planet braucht weitreichende ökologische und keine militärischen Offensiven.“

PDS

„Die ökologische Krise spitzt sich in raschem Tempo zur weltweiten Überlebensfrage zu.“

GRÜN

„Wir fordern zusätzlich die Einrichtung eines internationalen Umweltfonds, in den alle Staaten schrittweise 1 Prozent des Bruttosozialproduktes einzahlen und aus dem die Welt-Ökologiepolitik mitfinanziert werden kann.“

10. Menschenrechte

SPD

„Wir wollen gutnachbarliche Beziehungen zu allen Staaten und Völkern der Region. Dabei legen wir einen Schwerpunkt auf die Förderung von Menschenrechten und Demokratien einschließlich der Wiederansiedlung von Flüchtlingen.“

FDP

Das Nichteinmischungsgebot verliert dort seine Gültigkeit, wo Menschenrechte auf schwerwiegende Weise verletzt werden. Hier hat die Staatengemeinschaft das Recht zur Durchsetzung der Menschenrechte zu intervenieren.

„Menschenrechtsverletzungen müssen von einem internationalen Strafgerichtshof verfolgt und geahndet werden. Angesichts der vielen eklatanten Menschenrechtsverletzungen, insbesondere an Frauen und Kindern, muß es eine Sonderberichterstattung für besonders schutzbedürftige Gruppen geben. Die Menschenrechte müssen im Budget der Vereinten Nationen einen deutlich größeren Stellenwert erhalten. Die FDP setzt sich außerdem für die Schaffung eines UNO-Hochkommissars ein, der mit einem Initiativrecht ausgestattet sein soll, um von sich aus gravierende Menschenrechtsverletzungen aufgreifen und vor die internationalen Menschenrechtsinstanzen bringen zu können.“

„Wir wollen eine Strukturreform der Organe zur Durchsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch Zusammenfassung der Menschenrechtskommission und des Gerichtshofes in Straßburg zu einem ständig tagenden Gerichtshof.“

GRÜN

„Alle Menschenrechte sind allgemeingültig, unteilbar und bedingen einander. Individuelle Freiheitsrechte, politische, wirtschaftliche, soziale Rechte und unterschiedliche kulturelle Traditionen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.“

„Wir wissen, daß es vor allem der unermüdlichen Arbeit der internationalen Menschenrechtsbewegung, der vielen Organisationen wie … und zahllosen Basisinitiativen zu verdanken ist, daß der Universalitätsanspruch der Menschenrechte zu einem Grundwert der internationalen Gemeinschaft geworden ist. Dieser Universalitätsanspruch bedeutet die gegenseitige gewaltfreie Einmischung in die Menschenrechtsverhältnisse anderer Gesellschaften und Staaten, auch in die Menschenrechtsverhältnisse in Deutschland. (…)

Bis heute ist die Menschenrechtsfrage immer den wirtschaftlichen, militärischen und bündnispolitischen Interessen untergeordnet worden. Aktuelles Beispiel dafür ist die Außenwirtschaftspolitik der Bundesregierung gegenüber den Regimen im Iran und in der Volksrepublik China. Die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung diesen und anderen Staaten gegenüber stellt kaum mehr als ein Alibi für die Bevölkerung der deutschen Exportwirtschaft dar. Dies wollen wir grundlegend ändern.

(…) Wir wollen die Einsetzung von Menschenrechtsreferenten statt »Militärattachés« an allen Auslandsvertretungen. In ihre Hand und in die der angesprochenen Menschenrechtsorganisationen gehört die Abfassung der »Länderberichte«, die in ihrer heutigen Form Werkzeug der restriktiven »Ausländerpolitik« der Bundesregierung sind.“

„Wir fordern die Verbesserung der Menschenrechtsinstrumente im Kontext von Europarat und KSZE, insbesondere Initiativen zur Verbesserung des Minderheitenschutzes.“ Sie fordern die Erarbeitung einer Europäischen Minderheitenkonvention.

11. Frauen

CDU

„Entwicklungszusammenarbeit muß gezielt dazu beitragen, Benachteiligungen von Frauen abzubauen und ihre politischen, ökonomischen und sozialen Chancen zu verbessern.“

FDP

Angesichts der vielen eklatanten Menschenrechtsverletzungen, insbesondere an Frauen und Kindern, muß es eine Sonderberichterstattung für besonders schutzbedürftige Gruppen geben.

„Frauen sollten künftig freiwillig und gleichberechtigt, d.h. mit der Waffe auch im Rahmen von internationalen Friedenseinsätzen der Bundeswehr, in den Streitkräften Dienst leisten können. Dabei unterliegen sie nicht der Wehrpflicht.“

GRÜN

„Keinesfalls darf es eine »allgemeine Dienstpflicht« für Frauen und Männer geben, wie konservative Politiker dies als angeblichen Ersatz für die Wehrpflicht vorhaben.«

PDS

„Die Hauptursachen für die globalen Probleme sind die kapitalistischen Produktions-, Verteilungs- und Konsumtionsweise in den Herrschaftszentren der Weltwirtschaft sowie die Herrschaft des Patriarchats.“

12. Alternativen

12.1 Demokratisierung von Außenpolitik

CDU

„Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Gemeinschaft müssen gleichberechtigt an der Gesetzgebung im Sinne eines Zweikammersystems mitwirken. Das Parlament kontrolliert die EG-Kommission als europäische Exekutive. … Nach dem Prinzip der Subsidiarität soll die politische Verantwortung zunächst von lokalen, dann von regionalen und nationalen sowie schließlich von gemeinschaftlichen Organen getragen werden.“

„Parteien, Kirchen, Verbände, Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Gruppen haben eine besondere Verantwortung für die Förderung des europäischen Einigungsprozesses sowie für die politische und gesellschaftliche Gestaltung des gemeinsamen Europas. … Wir fördern Initiativen, die in und außerhalb der Partei für die Einigung Europas eintreten und durch ihr Engagement zur Zusammenarbeit der Völker Europas beitragen.“ (Initiativen schreibt Finanzanträge!!! d. Red.)

„Nichtregierungs-Organisationen, wie die Kirchen und die politischen Stiftungen, haben in den vergangenen Jahrzehnten in hervorragender Weise bewiesen, daß sie in der Lage sind, der Bevölkerung in den Entwicklungsländern unmittelbar zu helfen. Ihr Engagement ist eine unverzichtbare Ergänzung staatlicher Maßnahmen und besonders unterstützenswert.“

„Auswärtige Kulturpolitik ist ein notwendiger Beitrag zum friedlichen und solidarischen Zusammenleben der Völker und integraler Bestandteil unserer Außen-, Entwicklungs- und Europapolitik. … Eine der Aufgaben unserer auswärtigen Kulturpolitik muß es daher sein, deutsche Sprachkenntnisse, deutsche Kultur und ein Bild von Deutschland im Ausland zu vermitteln.“

SPD

„Die SPD wird künftig einer Übertragung von Zuständigkeiten an die Europäische Union nur dann zustimmen, wenn die Europäische Union wirklich demokratisch gestaltet und das Europäische Parlament die Rechte besitzt, die einer Volksvertretung in der parlamentarischen Demokratie zukommen. Die europäische Verfassung soll den Grundsätzen der Demokratie auf europäischer Ebene Geltung verschaffen. Das Subsidiaritätsprinzip muß konsequent angewandt werden: soviel europäische Regelungen wie nötig, soviel dezentrale Entscheidungskompetenzen wie möglich.“

FDP

„KSZE: Die Parlamentarischen Versammlungen und Nicht-Regierungsorganisationen müssen stärker an zukünftigen Konfliktlösungen beteiligt werden.“

GRÜN

Das Demokratiedefizit der EU muß durch eine Dezentralisierung und des Prinzips der Subsidiarität überwunden werden. „ Die Europäische Union soll nur die Aufgaben wahrnehmen, die auf der Ebene der Kommunen, Regionen und Mitgliedsstaaten nicht erfüllt werden können. Denn Probleme sollen dort gelöst werden, wo es von der Sache her geboten und der demokratische Einfluß am größten ist.“ Es wird eingefordert, daß „die Rechte des Europäischen Parlamentes ausgebaut werden, um Kontroll- und Mitentscheidungsmöglichkeiten zu stärken; Initiativrecht für europäische Gesetzesvorhaben, gleichberechtigte Beteiligung an Entscheidungen in allen Bereichen der EG-Politik, Erweiterung der Haushaltskompetenzen und Wahl, bzw. Abwahl der Kommission (…).“

„BÜNDNIS 90/GRÜNE treten für die Demokratisierung der Außen- und Sicherheitspolitik ein.

Diese Demokratisierung, die gesellschaftliche Aktivität, die öffentliche Debatte sind heute notwendiger denn je. Initiativen wie »Hilfe für die Kinder von Tschernobyl«, »Den Winter überleben – Gastfreundschaft für Flüchtlinge aus Jugoslawien«, Organisationen wie amnesty international und der BUND, Kulturstiftungen und Schulpartnerschaften sind wichtige Partner für unsere Außenpolitik.“

PDS

„Wir wollen direkte Bürgerbeteiligung. … Gegenöffentlichkeiten stärken, die Medien demokratisieren und die Beteiligung der gesellschaftlichen Bewegungen und Gewerkschaften an der öffentlichen Meinungsbildung; … Die Auflösung aller Geheimdienste.“

Die PDS fordert eine Demokratisierung europäischer Institutionen und Entscheidungsprozesse. Die Rechte des Parlaments sollen gestärkt werden, Mitwirkungsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern verbessert, ein Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel eingeführt, eine Zweite Europäische Kammer eingerichtet, in denen soziale Bewegung o.ä. vertreten sein sollen.

12.2 Nicht-militärische Konfliktlösungsansätze

CDU

„Internationaler Dialog, Konfliktverhütung und Krisenmanagement, Ausbau der internationalen Rüstungskontrolle und weltweite Abrüstung sind zentrale Elemente unserer Politik.“

SPD

„Zur Unterstützung der UNO und auf Anforderung einzelner Staaten bei Maßnahmen zur Bekämpfung von Umweltschäden, der humanitären und der Katastrophenhilfe setzt sich die SPD für die Gründung eines zivilen Friedenskorps (Umwelt- und Katastrophenhilfswerk) ein. Es soll die vorhandenen Ressourcen privater Hilfsorganisationen und der Bundeswehr aufeinander abstimmen und bei Einsätzen koordinieren.“

Ein UNO-Beitrag schließt Maßnahmen zur Konfliktverhütung mit ein. Die SPD fordert mehr Unterstützung für vorbeugende Diplomatie. „Politische und wirtschaftliche Maßnahmen müssen wirksamer und konsequenter als bisher angewandt werden und Unschuldige so weit wie möglich verschonen. Neben Beratung, Vermittlung und Schlichtung gehören dazu Kooperationsangebote einerseits und Sanktionen andererseits, die bis zu einem Embargo“ reichen können. Ein Fond für embargogeschädigte Drittstaaten muß eingesetzt werden. „Die Wirtschaftssanktionen sind mit angemessenen Embargomaßnahmen, notfalls mit Blockaden durchzusetzen, um Konflikte zu verhindern oder zu beenden. Auch Staaten, die Boykottmaßnahmen unterlaufen, müssen mit abgestuften Sanktionen, wie z.B. der Einstellung des Flugverkehrs, rechnen. Durch das Einfrieren von Auslandsguthaben und die Stillegung ihrer Transportmittel im Ausland kann den Konfliktparteien die Möglichkeit genommen werden, Sanktionen zu durchbrechen.“

FDP

Für die FDP ist Konfliktverhütung auf der Grundlage dieses erweiterten Sicherheitsbegriffes zuallererst vorausschauende Bekämpfung von Konfliktursachen durch Schaffung angemessener Lebensgrundlagen. In zweiter Linie gehören hierzu die Mechanismen der präventiven Diplomatie, der Konfliktregelung und -eindämmung, der Streitschlichtung sowie nichtmilitärische Sanktionen.

GRÜN

„Frieden und Sicherheit bedürfen in erster Linie der vorausschauenden Verhinderung von Konflikten, der friedlichen Streitbeilegung, des Ausbaus der Institutionen, die Demokratie und Menschenrechte, insbesondere auch Minderheitenrechte sichern, und für den Fall, daß diese Mittel versagen, wirksamer Instrumente von nichtmilitärsichen Druck und Einflußnahme.“

„Die Entmilitarisierung der Politik – dies bedeutet auch die Auflösung der NATO – und der Aufbau ziviler Strukturen sind Prozesse, die parallel laufen müssen. Abrüstung schafft neue Handlungsmöglichkeiten für zivile Konfliktlösungen: durch den Abbau von Feindbildern, durch die Umwidmung der Mittel und Ressourcen, durch einen neuen Zugang zur Konfliktlösung.“

Die Friedensdividende soll u.a. für den Aufbau eines zivilen Friedensdienstes verwendet werden.

13. Friedenswissenschaften

GRÜN

Die Friedensdividende soll u.a. für die Unterstützung der Friedensforschung ausgegeben werden.

Anhang

1. Adressen

  • CDU Bundesgeschäftsstelle, Konrad-Adenauer Haus, Friedrich-Ebert-Allee 73, 53113 Bonn
  • SPD Bundesgeschäftsstelle, Erich-Ollenhauser Haus, Ollenhauerstr. 1, 53113 Bonn
  • Bündnis90/Die Grünen, Bundesgeschäftsstelle, Im Ehrental 2, 53332 Bornheim
  • FDP Bundesgeschäftsstelle, Adenauerallee 266, 53113 Bonn
  • PDS Bundesgeschäftsstelle, Karl-Liebknecht-Haus, Kleine Alexanderstr. 28, 10178 Berlin
  • Republikaner Bundesgeschäftsstelle, Plittersdorfer Str. 91, 53173 Bonn

2. Veröffentlichungen zur Wahl

  • Wahlcharta 94. Entwicklung und Umwelt. (Hrg.): terre des hommes, Germanwatch, BUND, Deutsche Sektionen der Gesellschaft für internationale Entwicklung, Verein entwicklungspolitischer Initiativen in Niedersachsen (VEN), Eine-Welt-Netzwerk Hamburg, LAG3W in NRW.
  • Und Simsalabim: Wie aus Kriegsschiffen Piratenjäger werden – Argumentationshilfe gegen Lügenmärchen, Schönredner und andere Wahlkämpfer zu Rüstungsexport. (Hrg.): BUKO-Kampagne »Stoppt den Rüstungsexport«
  • Spiegel Spezial: Superwahljahr '94. Kandidaten, Zahlen, Hintergründe.
  • Bürklin, Wilhelm; Roth, Dieter (Hrg.): Das Superwahljahr. Deutschland vor unkalkulierbaren Regierungsmehrheiten?. Bundverlag, April 1994.

Quellen

PDS: Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus, Beschluss auf dem 3. Parteitag der PDS, Januar 1993. Republikaner: »Wir machen uns stark …, Für deutsche Interessen«, Parteiprogramm 1993, verabschiedet im Juni 1993 in Augsburg. FDP: Wahlprogramm 1994, Diskussionsentwurf des Wahlprogramms zur Bundestagswahl 1994, beschlossener Entwurf des Bundeshauptausschusses, Oktober 1993. SPD: Perspektiven einer neuen Außen- und Sicherheitspolitik, Beschluß des SPD-Parteitages, Wiesbaden, November 1993.
(2) Beschlußlage, Parteitag Bonn, November 1992, der auf dem Wiesbadener Parteitag bekräftigt wurde. Bündnis 90/Grüne: Bundestagswahlprogramm. Außenpolitischer Aufbruch ins 21. Jahrhundert: Verantwortung für die Weltgesellschaft und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen übernehmen. CDU: Freiheit und Verantwortung, Leitantrag des CDU-Bundesvorstandes zum neuen Grundsatzprogramm an den 5. Parteitag 21.-23. Februar 1994 in Hamburg, Oktober 1993.

Wahltermine im Superwahljahr 1994
  März Juni September Oktober Dezember
Europa 12.6        
Bundestag       16.10  
Landtag Niedersachsen Sachsen-Anhalt Bayern/ Branden- burg/ Sachsen Mecklenburg- Vor- pommern/ Thüringen Saarland
Kommunal Schleswig-Holstein Saarland/ Baden- Württbg./ Rheinland- Pfalz/
Thüringen/ Mecklenburg- Vorpommern/ Sachsen/ Sachsen- Anhalt
  NRW  
Ergebnisse der Wahlen 1990
(alle Angaben in %)
CDU/CSU SPD FDP B.90/Grüne* PDS Rep.
Europa   37,7 37,3 5,6 8,4   7,1
Bundestag   43,8 33,5 11 3,8/1,2** 2,4 2,1
Landtagswahlen
  Niedersachsen 42 44,2 6 5,5    
  Meckl.-Vorp. 38,3 27 5,5 9,3 15,7  
  Brandenburg 29,4 38,2 6,6 6,4 13,4  
  Thüringen 45,4 22,8 9,3 6,5 9,7  
  Sachsen 53,8 19,1 5,3 5,6 10,2  
  Sachsen-Anhalt 39 26 13,5 5,3 12  
  Bayern 54,9 26 5,2 6,4    
  Saarland 33,4 54,4 5,6 2,7    
* Zum Teil unter anderem Namen bzw. mit anderen Bürgerbewegungen zusammen.
** Grüne und Bündnis 90/Grüne traten bei der Wahl 1990 noch getrennt an. 3,8 % Grüne/1,2 % B90/Grüne

Caroline Thomas ist Redakteurin der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden.

(West-)Europäisierung der Sicherheitspolitik oder neue Friedenspolitik in Europa

(West-)Europäisierung der Sicherheitspolitik oder neue Friedenspolitik in Europa

von Martin Broszka, Corinna Hauswedell und Klaus Peter Weiner

»Abschied vom Kalten Krieg«, »Das System von Jalta löst sich auf«, »Der Beginn der Nach-Nachkriegszeit« –Schlagzeilen, die den Wandel der durch die Ost-West-Konfrontation geprägten Epoche andeuten. Ein Schauplatz dieses Wandels ist Europa, sein östlicher Teil mit einer noch größeren Dynamik als der Westen: Die stürmischen Entwicklungen in der Sowjetunion, in Polen und Ungarn, die Konkretisierungen des Gemeinsamen Europäischen Hauses durch Michail Gorbatschow bei seinen Besuchen in Bonn, Paris und Straßburg im Juni und Juli auf der einen Seite, der Beginn der »heißen Phase« für den EG-Binnenmarkt 1993, die Versuche einer Neuorientierung im westlichen Bündnis seit dem Brüsseler NATO-Gipfel im Mai dieses Jahres andererseits.
Das Ende alter Gewißheiten erfordert neue Sicherheiten im Umgang miteinander, nicht gegeneinander. Die globalen Herausforderungen haben alle, auch »Good Old Europe«, eingeholt. Verschiedene Entwicklungsrichtungen sind offen: Modernisierung auf den alten Grundlagen, vielleicht etwas befreit vom Druck der ehemaligen Großmächte. Die bisherigen Konzepte westeuropäischer Sicherheitspolitik tendieren in diese Richtung. In Europa könnte aber auch –in Korrespondenz mit den anderen Teilen der Welt –in den nächsten Jahren der Versuch Konturen gewinnen, die Gedanken einer »Festung« durch die Ideen eines »Gemeinsamen Hauses« abzulösen. Für den Übergang von militärisch geprägter (hegemonialer) Politik zu ziviler (gleichberechtigter) Kooperation könnte ein Beispiel entstehen. Die Rolle ökonomischer Macht müßte dabei neu bestimmt werden.
Die zunächst ausschließlich vorgesehene kritische Bestandsaufnahme der (West-)Europäisierung der Sicherheitspolitik schien uns zu kurz zu greifen angesichts der (zumindest) gesamteuropäischen Dimension des Wandels. Deshalb haben wir uns entschieden – etwas anders als bei den Dossiers Nr. 1 bis 3 -, das politische Umfeld des Themas einschließlich der friedenspolitischen Alternativen stärker zu berücksichtigen. Die Dynamik, Widersprüchlichkeit und Offenheit der Entwicklung in Europa setzen einem »klassischen« Dossier Grenzen. Manches ist ausschnitthaft, Hintergrundinformation und Diskussionsbeitrag liegen diesmal eng beieinander.
Teil 1 des Dossiers verfasste Klaus Peter Weiner, Teil 2 erarbeitete Michael Broskza, die Teile 3 und 4 stammen von Corinna Hauswedell. 

I. Die Krise der Nato

Auf das westliche Bündnis kommen Anpassungserfordernisse zu, deren Umsetzung “sich als eine der schwierigsten Phasen” in der vierzigjährigen Geschichte der NATO erweisen könnte1. Diese von – der NATO nahestehenden – Fachleuten abgegebene Situationseinschätzung deutet nicht nur die Dimension der Probleme an, denen sich die herrschende Sicherheitspolitik gegenwärtig und in den nächsten Jahren gegenübergestellt sieht. Sie spiegelt zugleich die Skepsis gegenüber den eigenen Fähigkeiten wider, die Reorganisation der NATO angesichts der internationalen Umbruchsituation über das Management der aktuellen Interessendifferenzen und Meinungsunterschiede zwischen den NATO-Staaten hinaus bündnisverträglich und organisationskonform gestalten zu können.

Denn ein Bündel von Problemen hat zu einer Konstellation geführt, die es auch den Kräften, die das Bündnis politisch tragen, als zunehmend fraglich erscheinen läßt, ob sich die Grundlagen der NATO ohne eine einschneidende Reform des Bündnisses in die neunziger Jahre verlängern lassen. Zu dem Problembündel gehören die wachsenden Probleme der USA, nationale Ressourcen und Globalpolitik in Einklang zu bringen, das veränderte ökonomische Kräfteverhältnis zwischen den USA und Westeuropa, die zunehmende politische Bedeutung der außerhalb der NATO-Vertragsgrenzen liegenden Weltregionen und die Dynamik der Reformpolitik der UdSSR verbunden mit ihrer auf substantielle Abrüstungsschritte zielenden Außen- und Sicherheitspolitik. Eine Neubestimmung der Funktionen, der Politik und Struktur der NATO ist für den Fortbestand des Bündnisses notwendig.

Diese Neubestimmung fällt mit einem sukzessiven Bedeutungsverlust der NATO als dem zentralen Bezugsrahmen der Sicherheits- und Militärpolitik ihrer Mitgliedstaaten zusammen. Durch die »selbstabschreckende« Wirkung nuklearer und konventioneller Rüstung erodiert die Rolle der NATO als militärisch-politisches Druckpotential, ihre Funktion als politische Klammer ökomomischer Konkurrenten schwächt sich mit dem Hegemonieverlust der USA zunehmend ab und ihre Aufgabe, die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche System zu garantieren, übernehmen zunehmend die Europäische Gemeinschaft (EG) und die Westeuropäische Union (WEU).

Vorschläge zur Reorganisation des westlichen Sicherheitssystems und zur Neuformulierung seiner strategischen Konzeption haben daher Konjunktur. Beide Teile des Bündnisses, der nordamerikanische und der europäische Teil, suchen nach einer neuen »Geschäftsgrundlage«. Die Notwendigkeit des Wandels liegt offen, hingegen sind Richtung, Weg und Ziel weiterhin Gegenstand der bündnisinternen Auseinandersetzung. Während die USA eine neue, den real verfügbaren Ressourcen angepaßte und stärker an den als national deklarierten Interessen ausgerichtete globalstrategische Konzeption formulieren2, befinden sich die europäischen NATO-Staaten auf der Suche nach einer »europäischen Identität«3 als Grundlage ihrer außen-, sicherheits- und militärpolitischen Kooperation in einer »Zwei-Säulen-NATO.«

»Europäisierung«: Interessengemeinschaft zur Wahrung der Entspannung

Sicherheitspolitische Motive sind ein Grundzug der westeuropäischen Integration. Bereits die Gründerväter hatten die westeuropäische Integration nicht nur als ökonomisches, sondern auch als politisches Projekt auf den Weg gebracht. Dennoch scheiterten bis in die siebziger Jahre Versuche einer engeren sicherheits- und außenpolitischen Kooperation der westeuropäischen Staaten, für die die NATO als ein hinlänglicher Rahmen erschien. Erst die Verdichtung des Konfliktpotentials zwischen den westeuropäischen Staaten und den USA in der Reagan-Ära forcierte die politische und institutionelle Ausformung einer eigenständigeren Sicherheitspolitik im westeuropäischen Rahmen. Sie sollte die europäischen NATO-Staaten in die Lage versetzen, ihre Interessen gegenüber den USA besser zur Geltung zu bringen.

Die Differenzen mit der Reagan-Administration in den Bereichen Entspannungs- und Rüstungskontrollpolitik, Militärstrategie, Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen und Umgang mit der Dritten Welt4 hatten es den westeuropäischen Staaten als nicht ausreichend erscheinen lassen, zur Wahrung ihrer Interessen lediglich auf die von den USA dominierte NATO angewiesen zu sein, da die Remilitarisierung der Sicherheitspolitik durch die USA die spezifischen Entspannungsinteressen der westeuropäischen Staaten zu verdrängen drohte5. Dies führte zur Suche nach einem Kooperationsrahmen, in dem die negativen Folgen der Konfrontationspolitik der USA begrenzt werden konnten. Diese Entwicklung vollzog sich auf mehreren Ebenen:

• Auf Initiative der Bundesrepublik nahmen die EG-Staaten 1981 die Sicherheitspolitik in den Kompetenzrahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) auf. Aber während die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Sicherheitspolitik als in der EPZ und dem Europäischen Rat zu behandelnde Themenkreise festgeschrieben werden konnten, scheiterte das Ziel, neben dem »Rat der Außenminister« einen »Rat der Verteidigungsminster« zu schaffen, an dem Widerstand Dänemarks, Griechenlands und Irlands6. Parallel weitete das Europäische Parlament seine Debatten auf sicherheitspolitische Themen aus und richtete einen Unterausschuß »Sicherheit und Abrüstung« ein.

• In der 1987 ratifizierten Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) verpflichten sich die EG-Staaten, in der Außenpolitik geschlossener zu agieren und die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Sicherheitspolitik verbindlich zu koordinieren. Hingegen mußten die EG-Staaten die militärpolitischen Aspekte der Sicherheitspolitik in die WEU verweisen7.

• Die 1984 reaktivierte WEU soll die Behandlung der “spezifischen Sicherheitsinteressen Europas” 8 ermöglichen. Als Themenkomplexe wurden die Analyse des militärischen Kräfteverhältnisses als Grundlage eines zu erstellenden Sicherheitskonzepts, die Abschätzung internationaler Entwicklungen auf die Sicherheit Westeuropas und eine Intensivierung der Rüstungskooperation vereinbart. Die Außen- und Verteidigungsminister der WEU-Staaten kamen überein, halbjährliche Treffen durchzuführen und eine Reform des institutionellen Gefüges der Organisation vorzunehmen9.

• 1987 verabschiedete der Ministerrat der WEU die »Plattform der Europäischen Sicherheitsinteressen«10, deren Eckpunkte die Bekenntnisse zur nuklearen und konventionellen Abschreckung, zum Bündnis mit den USA und zu den Nuklearpotentialen Frankreichs und Großbritanniens bilden. Zugleich wird an der im Harmel-Bericht formulierten Konzeption von politischer Entspannung auf der Grundlage militärischer Stärke festgehalten. Die Anerkennung der in der Plattform formulierten Positionen bildete die Voraussetzung für den Beitritt Spaniens und Portugals zur WEU. Die Verdichtung der Kooperation im Ministerrat der WEU geht jedoch einher mit dem Verfall der Organisation. Da sich die WEU-Staaten bisher weder über eine Reform des institutionellen Gefüges der WEU noch über einen Erhöhung des Haushalts oder den Sitz der Organisation nach einer Kollokation verständigen konnten, zeigen die Agenturen und Gremien der WEU Auflösungstendenzen11.

• Parallel zu der multilateralen hat sich das Netzwerk der bilateralen Kooperation verdichtet. Anknüpfend an den Elysée-Vertrag von 1963 setzten die Bundesrepublik und Frankreich 1988 einen »Sicherheits- und Verteidigungsrat« ein. Aufgabe des Rates ist die Erarbeitung einer abgestimmten Militärkonzeption als Grundlage einer »Europäischen Sicherheitsunion«. Den militärischen Unterbau des Rates bilden eine gemischtnationale Brigade, gemeinsame Manöver und Rüstungsprojekte. Frankreich erklärte sich darüber hinaus bereit, die Bundesregierung vor einem Einsatz nuklearer Kurzstreckenraketen zu konsultieren12. Die bundesdeutsch-französische Miltärkooperation hat jedoch die Befürchtung eines »Sonderbündnisses« hervorgerufen und ließ weitere WEU-Staaten Interesse an einer engeren westeuropäischen Streitkräfteverzahnung anmelden13.

Das Interesse an einer europäischen Fraktionierung in der NATO – unter Einschluß Frankreichs – mußte nach dem Kurswechsel in der Politik der USA gegenüber der UdSSR wieder nachlassen, zumal trotz aller Tendenzen zur Verselbständigung das Bündnis mit den USA von den europäischen NATO-Staaten als nach wie vor notwendig erachtet wird.

Management der sicherheitspolitischen »Dilemmata« der NATO

Dennoch sind die Tendenzen einer »Europäisierung« der Sicherheitspolitik nicht ein auf die konfrontative Phase der Reagan-Adminstration beschränktes Intermezzo in den Bündnisbeziehungen gewesen. Die zweite Phase der Europäisierung der Sicherheitspolitik beinhaltet vielmehr den Versuch, den Übergang von einem hegemonial durch die USA strukturierten Militärbündnis in eine »Zwei-Säulen-NATO« bündnisverträglich zu managen.

Die Rückkehr der USA zu einer kooperative Elemente aufnehmenden Politik gegenüber der UdSSR war begleitet von zwar nicht neuen, aber mit ungewohnter Deutlichkeit vorgetragenen Forderungen nach einer gerechteren Lasten- und Risikoteilung. In diesen Forderungen drückt sich ein Wechsel in der Politik der USA gegenüber Westeuropa aus, dem ein relativer Positionsverlust der USA in der Weltwirtschaft und das Ende ihrer historischen Ausnahmestellung als Hegemonialmacht zugrundeliegt.

Die Zunahme des weltwirtschaftlichen Gewichts Westeuropas, die gewachsene eigene Abhängigkeit von der Entwicklung der Weltwirtschaft und die Überforderung der nationalen Wirtschaft durch eine expansive Weltmachtpolitik werden in den USA als Ursachen eines relativen Machtverlustes gewertet, der eine Überprüfung der »nationalen Interessen« und eine Reformulierung ihrer Durchsetzungsstrategien erforderlich macht14. In dieser – unilateralistisch gefärbten – Neubestimmung globalstrategischer Zielsetzungen steht nicht mehr Westeuropa, sondern der pazifische und karibische Raum im Zentrum der Überlegungen15. Diese Relativierung der einst einen privilegierten Stellenwert in der strategischen Politik der USA einnehmenden Region Westeuropa versuchen Vorschläge einer weitgehenden Reduzierung der Bündnisverpflichtungen zu operationalisieren. Sie zielen darauf ab, die europäischen Verbündeten zur Übernahme eines höheren Anteils an den Rüstungslasten zu bewegen (burden sharing) oder das Engagement der USA in Westeuropa zu reduzieren (devolution). Einige Vorschläge gehen bis zu einer Aufkündigung des militärischen Bündnisses mit den europäischen NATO-Staaten (disengagement)16 Kern der Vorschläge ist es, die aus der Mitgliedschaft in der NATO resultierenden Lasten und Risiken in einem stärkeren Maß als bisher auf den europäischen Teil der NATO abzuwälzen.

Eine »gerechtere« Lastenteilung, die mit einer politischen Aufwertung der europäischen NATO-Staaten im Bündnis einhergehen würde, löst für die USA aber nicht das Dilemma der mit der Strategie der »extended deterrence« verbundenen nuklearen Risiken. Daher ist vorgeschlagen worden, die nukleare Eskalationsgefahr dadurch zu beseitigen, “daß Nuklearwaffen künftig nicht mehr als Bindeglied zu einem erweiterten, noch verheerenderen Krieg eingesetzt werden.” 17

Auch ohne Übernahme dieser offenen Absage an die gültige Bündnisstrategie in die offizielle Militärpolitik der USA sind mit dieser Aussage die Fundamente der NATO erschüttert worden18. Denn erstens können die europäischen NATO-Staaten und insbesondere die Bundesrepublik das strategische Nuklearpotential der USA nicht mehr als Unterpfand ihrer Politik reklamieren. Zweitens erhalten für die USA mit einer strategischen Abkoppelung vom europäischen »Schauplatz« –unter dem Gesichtspunkt der Wiedererlangung militärischer Handlungsfähigkeit – regional begrenzte nukleare und konventionelle Kriegsführungskonzeptionen einen neuen Stellenwert19.

Vor dem Hintergrund der Suche nach einer neuen Globalstrategie in den USA trägt die »Europäisierung« der Sicherheitspolitik einen doppelten Charakter. Zum einen kommt sie den Forderungen der USA nach Übernahme größerer Lasten entgegen, um eine nach wie vor als notwendig erachtete Reduzierung des militärischen Engagements der USA in Europa zu verhindern20. Ein besseres »Marketing« westeuropäischer Rüstungsanstrengungen in den USA und eine durch intensivierte Kooperation gesteigerte Effektität der Rüstungspolitik soll die Forderung nach einer neuen Lastenteilung entschärfen und Vorschläge eines reduzierten Engagements der USA in Westeuropa zurückdrängen. Zugleich wird versucht, den Risikoverbund mit den USA aufrechtzuerhalten.21.

Gleichzeitig ist »Europäisierung« der Sicherheitspolitik Vorbereitung für den Fall, daß eine Reduzierung des sicherheitspolitischen Beitrags der USA zur NATO eintritt und von den westeuropäischen Staaten kompensiert werden muß – mit der Folge, daß eine solche Entwicklung wahrscheinlicher wird. Denn ein effektivierter Beitrag der westeuropäischen Staaten zur NATO verstärkt auch den politischen Druck in den USA, die projektierten Einsparungen im Rüstungsetat bei den Ausgaben für die NATO vorzunehmen. Der Einstieg in den Ausstieg als Garantiemacht des europäischen NATO-Teils wäre dann vollzogen.

Damit sind auch die europäischen NATO-Staaten in ein Bündnisdilemma geraten: »Europäisierung« der Sicherheitspolitik in der Diskrepanz zwischen weitreichenden Ankündigungen und verhaltener Dynamik, einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte.

»Europäisierung«: Nationale Machtpolitik im westeuropäischen Rahmen

Die Bewegungsform der Europäisierung der Sicherheitspolitik läßt sich aber nicht nur aus den Konfliktstrukturen mit den USA erklären. Das wird in der erst in Ansätzen erkennbaren dritten Phase der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik deutlich. Denn die Formierung einer westeuropäischen Außen- und Sicherheitspolitik verschränkt sich mit Umorientierungen in der Politik einzelner EG-Staaten, die über die EG verstärkt »nationale« Ziele verfolgen.

So versucht die Bundesrepublik ihr ökonomisches Potential über die EG in internationalen Einfluß umzusetzen. Dieses “Ausgreifen in die Weltpolitik” 22 markiert gegenwärtig eine wichtige außen- und sicherheitspolitische Tendenz. Nach der Westintegration und der Entspannungspolitik, die beide die äußere Handlungsfreiheit der Bundesrepublik vergrößerten, werden nun die als national deklarierten Interessen global definiert. Die beanspruchte Ausweitung des außenpolitischen Handlungsfeldes geht einher mit dem Versuch, Machtpolitik, die auch den Einsatz militärischer Mittel nicht ausschließt, zu relegitimieren. Das politische Muster eines – im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien – eher niedrigen Profils in der Außen-, Sicherheits-, Militär-, Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik beginnt auszulaufen. Die Bundesrepublik entwickelt sich zu einem “Staat wie jeder andere”, der für sich ein Anrecht auf eine “verantwortliche Machtpolitik” reklamiert23.

Aufgrund des antizipierten äußeren und inneren Widerstandes kann die Bundesrepublik einen offenen »nationalen« Kurswechsel kaum vollziehen, sondern verfolgt ihn über die westeuropäische Integration. Denn auf der westeuropäischen Ebene lassen sich die verschiedenen nationalen Interessen in einem globalen Handlungsanspruch, der die »weltpolitischen Herausforderungen« als potentielle Gefährdungen eigener Interessen rezipiert und “die Bereitschaft zu einem auch sicherheitspolitisch relevanten Engagement in der Dritten Welt” 24 einfordert, zusammenfassen. Die Perzeption einer äußeren Bedrohung nationaler Interessen verschiebt sich mit der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik so zunehmend von den sozialistischen Länder auf die außereuropäischen Regionen in der Dritten Welt.

Kompensatorischer Ausgleich divergenter nationaler Interessen

Die »Fraktionierung« der europäischen NATO-Staaten kann nicht verdecken, daß es zwischen den Mitgliedstaaten jenseits einer Konservierung tradierter Sicherheitsstrukturen nach wie vor große Differenzen über Zielstellung, Reichweite und Tempo der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik gibt. Denn die Erosion der Klammerfunktion der hegemonialen Stellung der USA in der NATO setzt sich nicht umgekehrt proportional in eine Zunahme gemeinschaftlicher sicherheits- und militärpolitischer Interessen der westeuropäischen Staaten um. Vielmehr treten auch divergente nationale Interessen wieder deutlicher zutage.

Trotz der politischen Verflechtung der EG-Staaten hat sich die westeuropäische Integration bisher nicht zu einer politischen Gemeinschaft mit einer weitgehend autonomen Sicherheits- und Militärpolitik entwickelt. Vorhandene Strukturen der politischen Integration, wie die EPZ oder der Europäische Rat, eignen sich aufgrund des Zwangs zum Konsens weniger zum machtbetonten Agieren als zum weltpolitischen Reagieren25. Diese “mangelnde politische Selbstorganisationsfähigkeit und Identität” 26 Westeuropas wird gelegentlich als Diskrepanz zwischen Problemstrukturen und Lösungskapazitäten beklagt, die es politisch zu überbrücken gelte27. Aber der oft geforderte »große Sprung« in die sicherheitspolitische Integration ist kaum wahrscheinlich.

Denn im integrationspolitischen Alltag sind Fortschritte nur unter der Voraussetzung möglich, daß einzelstaatliche Interessen zu »Paketen« zusammengefaßt und unterschiedliche Interessen kompensiert werden. Die Heterogenität der EG-Staaten in Wirtschaft und Politik wirkt einer Vertiefung der Integration entgegen, auch wenn der Zwang zur gegenseitigen Abstimmung zunimmt. Der sicherheitspolitische Akteur Westeuropa verfügt daher nicht über die politische und ideologische Geschlossenheit einer Weltmacht, sondern bleibt nach innen und nach außen vielfältig und komplex strukturiert28. Als national fragmentiertem Machtzentrum sind der Kohärenz und Wirksamkeit westeuropäischer Außen- und Sicherheitspolitik innere Schranken gesetzt, deren Überwindung einen kompensatorischen Ausgleich nationaler Interessen verlangen.

II. Wege und Hindernisse westeuropäischer Militärintegration

Die Institutionen der militärischen Zusammenarbeit

Westeuropäische Union (WEU)

Unter dem Eindruck der zwei von Deutschland entfachten Weltkriege schlossen die Benelux-Staaten, Frankreich und Großbritannien 1948 einen gegenseitigen Beistandspakt ab. Der Brüsseler Pakt wurde, obwohl die Beistandsverpflichtung im Kriegsfall weiterreichend ist, schon bald vom Ost-West Gegensatz überlagert. Die Vertragsstaaten wurden Mitglieder der NATO und mußten sich mit dem Problem der Wiederaufrüstung Deutschlands beschäftigen. Nachdem der Versuch der Schaffung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gescheitert war, fand man den Kompromiß, daß die BRD zwar als NATO-Mitglied voll aufgerüstet wurde, sich jedoch als Mitglied des zur Westeuropäischen Union (WEU) erweiterten Brüsseler Paktes Rüstungskontrollen unterwerfen mußte. In den Pariser Verträgen vom 23.10.1954 verpflichtete sich die Bundesregierung auf die Herstellung, den Erwerb und Besitz bestimmter konventioneller Waffensysteme und Massenvernichtungswaffen auf ihrem Boden zu verzichten. Zur Überprüfung wurde in Paris ein Rüstungskontrollamt geschaffen. Die Beschränkungen für den konventionellen Bereich sind nach und nach gefallen, bis sie 1984 auf französischen Vorschlag ganz aufgehoben wurden (siehe S. XIII).

Im WEU-Vertrag wurde ein Primat der NATO festgelegt. In Artikel VI heißt es, daß mit der WEU keine Parallelorganisation zur NATO aufgebaut werden solle. Bis Anfang der 80er Jahre hatte die WEU weder militärisch noch politisch große Bedeutung, obwohl die vorgesehen Gremien – der Rat der Außenminister und die Versammlung von Parlamentariern aus den Mitgliedsstaaten – regelmäßig tagten und das Pariser Amt Kontrollen durchführte.

Nur aus Frankreich, das 1966 aus der militärischen Integration der NATO ausgetreten war, kamen gelegentlich Anstöße für eine Vitalisierung der WEU. Aber erst 1984, nachdem die Bundesregierung eine entsprechende französische Initiative aufgenommen hatte, kam es anläßlich der 30 Jahr-Feier zu einer Neubelebung. In der “Erklärung von Rom” wurde beschlossen, die WEU strukturell zu reformieren und besser für die Koordination westeuropäischer Politik zu nutzen. Der Rat der Minister wurde um die Verteidigungsminister erweitert. Das weitgehend arbeitslos gewordene Kontrollamt wurde mit der neuen Aufgabe der Ausarbeitung von Studien zur Sicherheitspolitik und zu Rüstungskontroll- und Abrüstungsfragen betraut.

Ein weiterer Schritt, die WEU zu aktivieren erfolgte mit der »Plattform über europäische Sicherheitsinteressen von Den Haag« vom 27. Oktober 1987. Mit ihr wurde die WEU eindeutig in den Gesamtkontext der Bildung einer westeuropäsichen Union gestellt. “Wir sind überzeugt, daß die Schaffung eines integrierten Europas unvollständig bleiben wird, solange es nicht Sicherheit und Verteidiung einschließt… Wir sehen die Revitalisierung der WEU als einen wichtigen Beitrag zum größeren Prozeß der Europäischen Einigung.”29 Um die ihr von Befürwortern einer Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik zugeschriebene Schrittmacherrolle übernehmen zu können, müßte die WEU auf alle interessierten Staaten erweitert werden. In einem ersten Schritt wurden 1988 Spanien und Portugal aufgenommen; mit Griechenland und der Türkei wird über das zukünftige Verhältnis verhandelt.

Die Revitalisierung blieb Stückwerk. Dazu gehört die politische Unsicherheit, welche Funktion die WEU zukünftig haben soll. Angesichts der abrüstungspolitischen Aktivitäten in Osteuropa wackelt sogar der Konsens, die WEU als ein auf Westeuropa begrenztes Bündnis zu begreifen30. Im November 1988 beschloß der Rat, über ein neues Konzept zu verhandeln, mit der möglichen Konsequenz einer Änderung des WEU- Vertrages.

Eurogroup

Die EUROGROUP ist eine in den NATO-Statuten oder Abkommen nicht vorgesehene informelle Gruppierung westeuropäischer NATO-Mitglieder (und damit ohne Frankreich). Sie entstand 1968, um “sicherzustellen, daß der europäische Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung so stark, zusammenwirkend und wirksam wie möglich ist”.31

Um diese Ziele zu erreichen finden häufig parallel zu Sitzungen diversen Gremien der NATO, wie des Ministerrats, Sitzungen ohne US-amerikanische, isländische und kanadische Vertreter statt. Themen der zahlreichen Arbeitsgruppen der EUROGROUP sind Abstimmung von Bedarfsplanungen, Interoperabilität der Streitkräfte und Ausrüstungen, aber auch Abstimmung von taktischen Planungen und militärischen Doktrinen. In den späten 80er Jahren ist die EUROGROUP vor allem ein Instrument der Darstellung des europäischen Anteils an der NATO, nicht zuletzt in den USA, geworden. So schrieb der damalige Vorsitzende der EUROGROUP, der niederländische Verteidigungsminister van Eekelen 1988 in seinen Jahresbericht: “Die EUROGROUP hat eine Menge Arbeit geleistet, um Politikern, Regierungsvertretern und der Öffentlichkeit in Amerika klarzumachen, daß wir einen fairen Anteil zur NATO leisten.”32

Independent European Programme Group (IEPG)

Als Antwort auf die amerikanische Herausforderung im Rüstungsbereich wurde 1976 in Rom die Unabhängige Europäische Programmgruppe (Independent European Programme Group) gegründet. Ihr gehören alle europäischen NATO-Mitgliedsstaaten außer Island (das keinerlei Rüstungsindustrie hat), gegenwärtig sind das 13, an. Der große Unterschied zur Eurogroup besteht darin, daß Frankreich aktives Mitglied ist.

Als Ziele der Gruppe wurden 1976 festgelegt:

  • “zu einer effektiveren Nutzung der verfügbaren Mittel für Forschung, Entwicklung und Beschaffung beizutragen;
  • die Standardisierung und Interoperabilität von Gerät zu fördern und voranzutreiben;
  • die Aufrechterhaltung einer gesunden industriellen und technologischen Basis für die Verteidigung Europas und des Bündnisses zu gewährleisten;
  • zum Wohle beider Seiten des Atlantik die europäische Identität gegenüber den Vereinigten Staaten und Kanada zu stärken.”33

Die eigentliche Arbeit erfolgt in einer Reihe von Ausschüssen. Hier wird versucht, die Bedarfsanforderungen der verschiedenen Streitkräfte zu vergleichen, und falls sinnvoll, zu koordinieren. Dafür werden Unterausschüsse gebildet. Vertreter der beteiligten Staaten sind Beamte aus den den jeweiligen Verteidigungsministerien und Beschaffungsbehörden.

Als koordinierendes Gremium fungiert die Runde der nationalen Rüstungsdirektoren34, die sich in der Vergangenheit ca. acht Mal jährlich getroffen haben. Grundlegende Entscheidungen werden von der Runde der zuständigen Staatssekretäre, oder der Runde der Verteidiungsminister getroffen. Solche Sitzungen erfolgen, je nach Bedarf, nur wenige Male pro Jahre.

Treffen der Verteidigungsminister gibt es erst seit 1984, als beschlossen worden war, die IEPG politisch aufzuwerten und ihren Aufgabenbereich zu erweitern. Es sollten nicht nur einzelne Projekte koordiniert, sondern auch allgemeine Zukunftsplanung betrieben werden. Unter anderem wurde ein Aktionsplan für die (west)europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Aeronautik erarbeitet, und der Vredeling-Bericht in Auftrag gegeben (siehe unten).

Die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft (EG)

Der Vertrag von Rom, auf dem die Europäische Gemeinschaft fußt, schließt Rüstungsfragen explizit aus. In Artikel 223 ist festgelegt, daß jedes Mitglied die Maßnahmen ergreifen kann, “die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen.” Die eingeschlossenen Materialien sind in einer besonderen Liste aufgeführt.

Diese Enthaltsamkeit ist immer wieder in Frage gestellt worden. Das zentrale Argument lautet, daß eine Staatengemeinschaft diesen Bereich einfach nicht ausschließen kann, insbesondere, wenn sie in eine politische Union münden soll. So heißt es schon im vom EG-Ministerrat gebilligten Tindemans-Bericht über die Europäische Union von 1975, daß die “Europäische Union … so lange unvollständig (bleibt), wie sie keine gemeinsame Verteidigungspolitik besitzt.”35

In den frühen 70er Jahren geriet zunächst die Außenpolitik in den Sog der EG-Integration, was in der Etablierung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) deutlich wurde.

Eine Vorreiterrolle bei der Etablierung rüstungs- und sicherheitpolitischer Themen hatte ab Ende der 70er Jahre das Europäische Parlament (EP).

In den 80er Jahren ist die Beschäftigung von EG-Organen mit rüstungs- und sicherheitspolitischen Fragen deutlich intensiver geworden. Ein Grund dafür ist die verstärkte Diskussion um die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas. Auf dem Weg zur Europäischen Union, die – mit unterschiedlichen Nuancen – offizielles Ziel aller EG-Staaten ist, gerät dieser Bereich immer stärker ins Blickfeld. Zum anderen haben politisch relevante Kräfte in Frankreich – sowohl Gaullisten als auch Sozialisten – ihre sehr skeptische Haltung gegenüber einer Westeuropäisierung der Rüstungs- und Militärpolitik aufgegeben und sind stattdessen zu aktiven Befürwortern geworden. Als Bremser sind somit vor allem Politiker aus kleineren EG-Staaten wie Dänemark, Griechenland und Irland geblieben.

Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ)

1970 vereinbarten die Mitgliedsstaaten der damaligen EWG auf einer Tagung in Luxemburg, Stellungnahmen und Maßnahmen zur Außenpolitik mit dem Ziel der Koordination gemeinsam zu besprechen. Von einem völlig informellen Abstimmungsinstrument hat sich die EPZ allerdings inzwischen zu einer auch in der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) festgeschriebenen Institution entwickelt, mit festen Regeln und Sekretariat in Brüssel.

Erste Bewährungsprobe der EPZ war die Abstimmung einer einheitlichen Haltung der Westeuropäer zum KSZE-Prozess. Schon hier zeigt sich, daß sich Außen- und Sicherheitspolitik nicht trennen lassen. Dies wurde von den Verantwortlichen bald auch positiv vertreten. Im Londoner Bericht der Außenminister über die EPZ vom Oktober 1981 etwa reklamiert man das Recht “bestimmte außenpolitische Fragen zu erörtern, die die politischen Aspekte der Sicherheit berühren.” 36 In der »Feierlichen Deklaration zur Europäischen Union« vom Juni 1983 versprachen sich die Staats- und Regierungschefs der EG-Staaten: “verstärkte Konsultationen im Bereich der Außenpolitik enschließlich der Koordinierung der Positionen der Mitgliedsstaaten zu den politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Sicherheit.”37

Die ablehnenden Haltungen der dänischen und griechischen Regierung und das Sonderproblem Irland haben die EPZ allerdings bisher nicht zu einem zentralen Instrument der sicherheitspolitischen Abstimmung der westeuropäischen NATO-Mitgliedsstaaten werden lassen. Dies wird von Befürwortern einer »Europäischen Sicherheitsunion«, wie Alfred Dregger, oder dem CDU-MdEP Hans-Gerd Pöttering als unbefriedigend kritisiert.38 Schon während der Verhandlungen zur Einheitlichen Europäischen Akte, die mit der im Kasten 4 wiedergegebenen »weichen« Formulierung zur Kompetenz in rüstungs- und sicherheitspolitischen Fragen führte, gelang es den Befürwortern, eine spätere Revision zu vereinbaren. Artikel 30, Ziffer 12 der EEA sieht vor, daß 5 Jahre nach Inkrafttreten (d.h. am 1. Juli 1992), die Bestimmungen über die EPZ überprüft, und falls notwendig, geändert werden.

Europäisches Parlament (EP)

Die erste große Diskussion um Rüstungspolitik im Europäischen Parlament war vor allem eine Diskussion darüber, ob das Parlament dieses Thema überhaupt diskutieren könne. Einige Abgeordnete verließen den Saal, andere argumentierten heftig dagegen. Aber eine Mehrheit aus liberalen, christdemokratischen und konservativen Abgeordneten überstimmte die der Gaullisten und Links-Fraktionen, so erstmals am 6. April 1973, als in einem EP-Bericht stand, daß “die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik in der Praxis fast nie von der Verteidigungs und Sicherheitspolitik zu trennen ist”39 1978 nahm das Parlament nach heftiger Debatte mehrheitlich den ersten »Klepsch-Bericht« an. Vom deutschen CDU-MdEP Egon Klepsch verfaßt, wurde in ihm eine Verstärkung der Zusammenarbeit der westeuropäischen Staaten bei der Rüstungsbeschaffung bis hin zur Schaffung einer gemeinsamen Rüstungsagentur befürwortet.40

Danach nahm der Widerstand ab, die Mehrheiten für die Behandlung von Rüstungsthemen wuchsen. Der vom EP im Februar 1984 angenomme Vertragsentwurf für eine Europäische Union (Spinelli-Entwurf) legt in Artikel 68 ausdrücklich fest, daß Kompetenzen auch für den militär-, rüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Bereich eingefordert werden sollten.

Im April 1984 wurde auf Anregung von Egon Klepsch ein Unterausschuß »Sicherheit und Abrüstung« eingerichtet, in dem – unter dem Vorsitz von MdEP Hans-Gert Pöttering – zahlreiche Resolutionen und Berichte erarbeitet worden sind, zu Themen wie der Bedeutung Nordeuropas für die Europäische Sicherheit, über die Sicherheit Westeuropas, oder Waffenexporte. Debatten über rüstungs- und militärpolitische Themen gehören mittlerweile zum Alltagsgeschäft in Straßburg und Brüssel, gegen die sich nur noch kleinere Gruppen von Abgeordneten, wie die der Regenbogenfraktion, wenden.

Im März 1989 verabschiedete das EP eine umfassende Entschließung zur »Sicherheit in Westeuropa«. Darin wurde unter anderem die Verstärkung der Rüstungszusammenarbeit der Westeuropäer in der IEPG gefordert und beschlossen, daß “die in der Einheitlichen Europäischen Akte als Ziel angestrebte Europäische Union auch eine europäische Sicherheitspolitik betreiben muß”, daß der Europäische Rat eine Sachverständigengruppe einsetzen solle, um schon jetzt die Revision von Artikel 30 Ziffer 6 der EEA vorzubereiten, sowie daß “Sicherheitsfragen verstärkt im Rahmen der EPZ behandelt werden und daß gegebenenfalls, wenn dies durch aktuelle Ereignisse geboten erscheint, Sondertagungen über Sicherheitsprobleme einberufen werden” 41.

EG-Kommission

Verglichen mit dem EP war die Kommission in der Frage der EG-Zuständigkeit für Fragen der Rüstung und Sicherheit lange Zeit deutlich zurückhaltend. Als das EP den ersten Klepsch-Bericht beschloß, ließ sich die Kommission vom britischen Rüstungsexperten David Greenwood ein Gutachen erstellen, in dem dieser die Möglichkeiten für eine aktivere Rolle der EG sehr viel skeptischer beurteilte als die Mehrheit des EP42.

Erst Ende der 80er Jahre hat die EG-Kommission, vor allem einzelne Mitglieder wie der französische Präsident Jacques Delors und der deutsche Vizepräsident Karl-Heinz Narjes begonnen, eine aktivere Politik der EG-Kommission zu betreiben.

Ein Instrument ist die Neudefinition der Liste der Waren, für die die EG gemäß der Römischen Verträge nicht zuständig ist. Nach einem Bericht des zuständigen EG-Kommissars Lord Cockfield gehen den EG-Staaten jährlich mehr als 200 Millionen ECU an Zolleinnahmen dadurch verloren, daß eigentlich zivile Güter wie Transportflugzeuge für die Streitkräfte zollfrei in die EG importiert werden.43 Ein anderes Instrument der EG-Bürokratie ist die Technologieförderung und Forschung im Rahmen großer Programme wie ESPRIT. In vielen Bereichen der Hochtechnologie sind militärische und zivile Technologien so verwandt, daß über die Steuerung ziviler Forschung auch der militärische Sektor beeinflußt wird.

Deutsch-französische militärische Zusammenarbeit

Schon im Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 wurde vereinbart, regelmäßige Konsultationen zwischen Verteidigungsministern und den Generalstabschefs durchzuführen, Militärpersonal auszutauschen und die Rüstungskooperation zu verstärken. Daraus erwuchsen einige konkrete Rüstungskooperationsprojekte, aber keine besonders engen militärpolitischen Bande – die vorgesehenen Konsultation etwa fanden nicht statt. Das änderte sich erst ab 1982. Die gewandelte Haltung der französischen Sozialisten und, weniger umfassend, auch der Gaullisten zu verstärkter europäischer Zusammenarbeit bei Militär- und Rüstungspolitik, sowie die Sorge um ein »Abdriften« der Westdeutschen in Neutralität leiteten eine Phase verstärkter deutsch-französischer Zusammenarbeit ein. Erstes Ergebnis war die 1982 vereinbarte »Revitalisierung« des militärpolitischen Teil des Elysée-Vertrages. Ein »Ausschuß für Sicherheit und Verteidigung«, bestehend aus zivilen Offiziellen und Offizieren wurde ins Leben gerufen, um Ansätze und Probleme der Zusammenarbeit zu erörtern. Anfang 1988 wurde das Netzwerk noch enger geknüpft, indem die Einrichtung eines kleinen Sekretariat in Paris beschlossen wurde. Die seit längerem jährlich zweimal stattfindenden Treffen der Staats- und Regierungschefs, sowie Außen- und Verteidigungsminister, wurden unter Einbeziehung einiger weiterer Mitglieder aufgewertet und erhielten einen neuen Namen: Deutsch-französischer Rat für Verteidigung und Sicherheitspolitik.

Am medienwirksamsten war sicherlich die Einrichtung einer gemischten Brigade in Böblingen. Die Einschätzungen schwanken zwischen “Spielwiese der Armeen” und “Laboratorium der taktischen Zusammenarbeit”44

Das Verhältnis der Institutionen zueinander

“Die Sicherheitsunion kann schrittweise verwirklicht werden, ohne daß dazu neue Verträge zeitraubend ausgehandelt werden müßten. Alle möglichen Ansätze sind dazu zu nutzen: die Europäische Gemeinschaft (EG), die Westeuropäische Union (WEU), die Einheitliche Akte und die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ). Auch bilaterale Vertragswerke, wie z. B. der Elysée-Vertrag und die darin begründete deutsch-französische Kooperation, können wesentliches beitragen.”45 So beschreibt der Befürworter einer militärpolitischen Integration Westeuropas, Alfred Dregger, sein politisches Konzept. Für ihn sind die vielfältigen Institutionen kein Hindernis, sondern sie bieten die Möglichkeit, daß sich Staaten mit »unterschiedlichen Geschwindigkeiten« auf die Sicherheitsunion hin bewegen können. Wichtigste westeuropäische Pole sind dabei WEU und EPZ für die politische Integration und IEPG und EG-Kommission für die Rüstungszusammenarbeit46. Selbst zwischen multi- und bilateralen Vorstößen, wie der »Achse« Bonn-Paris werden keine Widersprüche gesehen.

Es ist allerdings fraglich, ob diese Vorstellung realistisch ist. Die Multiplizierung der Institutionen zeigt sowohl die Stärke als auch die Schwäche der Befürworter einer verstärkten sicherheits- und rüstungspolitischen Integration. Sie sind in der Lage, das Thema überall auf die Tagesordnung zu bringen, aber bisher ist auf keinem Forum der große Durchbruch gelungen.

Projekte und Probleme der Rüstungskooperation

Im fünften Jahrzehnt NATO ist das Waffengerät der Truppen unterschiedlicher als im ersten. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, neun verschiedene Kampfpanzertypen (Leopard I, Leopard II, M-48, M-60, M-1, AMX-30, AMX-32, Chieftain, Centurion), mit zum Teil unterschiedlicher Munition, unterschiedlichen Betriebsstoffen und natürlich unterschiedlichen Ersatzteilen. Nicht einmal die Funkkommunikation ist möglich, so daß im Ernstfall Fernmelde-Offiziere mit der jeweils eigenen Geräteausstattung zu den militärischen Verbänden der anderen Verbündeten abgestellt werden müssen47.

Der Mangel an Koordination, Kooperation und Interoperabilität ist – immer wieder –festgestellt und von offizieller Sieite zutiefst bedauert worden. Er resultiert sicher nicht aus einem Mangel an Möglichkeiten des Gesprächs. Bereits im Rahmen der westeuropäischen NATO-Mitgliedsstaaten gibt es die Doppelstruktur von IEPG und Eurogroup, hinzukommen andere Gremien innerhalb der Gesamt-NATO, und, besonders wichtig, häufige bi- und multilaterale Ad-Hoc- Gespräche.

Noch relativ groß ist das Interesse an Kooperation in den allersten Phasen der Entwicklung eines neuen Waffensystems. An den Diskussionen darüber beteiligen sich Experten aus vielen Staaten (siehe Kasten zu IEPG-Projekten). Bald jedoch zeigen sich regelmäßig Probleme: die Anforderungen der einzelnen Streitkräfte sind unterschiedlich, die Zulaufzeiten stimmen nicht überein, und die beteiligten Rüstungsfirmen zeigen Desinteresse. Nach und nach werden es weniger Partner, bis nur wenige übrig bleiben – bei laufenden Projekten mit bundesdeutscher Beteiligung im Schnitt 2,8.48

Die Abwicklung vereinbarter Kooperationsprojekte kann auf verschiedene Art geschehen, wobei sowohl für die Herstellerfirmen als auch die Abnehmer, die Beschaffungsbehörden, unterschiedliche Modelle möglich sind. Eine Möglichkeit ist, daß eine Firma in einem Land die Systemführerschaft übernimmt und für die Abwicklung den anderen Beschaffungsbehörden gegenüber verantwortlich ist. Ein Beispiel für dieses Modell ist die deutsch- französische Zusammenarbeit beim Alpha Jet Trainings- und Erdkampfflugzeug, für die Dassault verantwortlich zeichnet. Ein anderes Modell ist die Gründung von internationalen Managementfirmen durch die beteiligten Rüstungsfirmen. Die Beschaffungsbehörden können entweder direkt mit diesen in Kontakt treten, Modell Euromissile (gemeinsame Tochter von MBB und Aerospatiale) oder ihrerseits eine gemeinsame Beschaffungsbehörde organisieren, Modell Tornado (hier kontrolliert die NAMMA, siehe S. XI, die Panavia, eine gemeinsame Tochterfirma von MBB, British Aerospace und Aeritalia).

Untersuchungen über Rüstungskooperation in der NATO unterscheiden zwei Fälle, in denen es regelmäßig zu Kooperation kommt49: entweder weil die Kosten für ein Projekt für einen Staat zu groß sind, oder weil durch Kooperation relativ billig Technologie ins Land geholt werden kann. Darüber hinaus gibt es noch eine dritte Fallgruppe: wenn auf höchster politischer Ebene Kooperation beschlossen wird. Das derzeit wichtigste deutsch-französische Kooperationsprojekt, der Panzerabwehrhubschrauber PAH-2, wäre nicht zustandegekommen, hätten nur die Rüstungsbürokratien in beiden Ländern zu entscheiden gehabt. Aber die Bundesregierung und ihr französisches Pendant wollten das Projekt als politisches Signal, nicht zuletzt, weil wenige Jahre vorher ein anderes Großprojekt, der deutsch-französische Panzer Napoleon, kläglich gescheitert war.

Kooperation verteuert Rüstungswaren, nicht nur weil viel international koordiniert werden muß, sondern vor allem, weil die einzelnen beteiligten Staaten strikt darauf bestehen, daß an die einheimische Rüstungsindustrie Aufträge vergeben werden, die in etwa dem eigenen Anteil am Projekt entsprechen, auch wenn die Firmen im eigenen Land teurer produzieren als andere. Unter diesen Bedingungen macht es für die nationalen Rüstungsindustrien Sinn, sich an Koproduktionsprojekten zu beteiligen, aber sonst ist aus ihrer Sicht nationale Produktion vorzuziehen, da die Firmen als »Systemführer« finanziell und technologisch besser fahren als Partner in Koproduktionsprojekten. Die zunehmende technologische Kompetenz der bundesdeutschen Rüstungsindustrie zeigt sich nicht zuletzt in ihrem abnehmenden Interesse an Koproduktionsprojekten. “Es ist in letzter Zeit zunehmend schwieriger geworden, erfolgreich zu kooperieren”50 resümiert der zuständige Beamte aus dem BMVg.

Andererseits müssen auf Grund des ständigen Kostenanstieg für Rüstungsprojekte aller Art übernationale Lösungen gefunden werden. Andernfalls sind die Projekte, schon gar in Zeiten sinkender Rüstungshaushalte nicht finanzierbar. Wenn Kooperation Beschaffung verteuert und auch immer schwieriger auszuhandeln ist, bleibt als Möglichkeit die Ausweitung des Rüstungsmarktes, z. B. auf westeuropäische Ebene. Eine Variante einer solchen Ausdehnung ist die gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern durch eine übernationale Behörde. Eine andere ist die Öffnung der jetzt meist national gehaltenen Vergabe von Rüstungsaufträge für ausländische Firmen.

Schon seit den 50er Jahren gibt es Bestrebungen, eine übernationale Beschaffungsbehörde der NATO-Streitkräfte zu schaffen, die ohne großen Erfolg blieben, aber zur Einrichtung des Instituts der NATO-Rüstungsagentur (S. XI) geführt haben, aber ohne Erfolg. Mitte der 70er Jahre wurde die Idee einer gemeinsamen westeuropäischen Rüstungsbeschaffungsagentur mehrheitsfähig. Mehrere Berichte, die zwischen 1975 und 1979 im EG-Rahmen behandelt wurden, so der Tindemans-Bericht über die europäische Union von 1975 und der Klepsch-Bericht an das EP von 1978, erwähnen eine solche Behörde. Inzwischen ist die Zahl der Befürworter weniger geworden; inzwischen wird das Konzept einer NATO-Europa-weiten Beschaffungsbehörde allgemein als unrealistisch angesehen51.

Trotz aller Bekenntnisse zum Willen zu mehr Zusammenarbeit: nationale Regierungen und Parlamente wollen weiter allein entscheiden, welche Rüstungsgüter in welcher Zahl beschafft werden. “Dabei stehen”, so schrieb der damalige Abteilungsleiter Rüstungswirtschaft im BMVg, Generalleutnant Wolfgang Tebbe,“nationale Interessen auf dem Spiel.”52

Diese nationalen Interessen sind vor allem wirtschaftliche: würde der jetzt praktizierte Schutz der nationalen Rüstungsindustrien aufgegeben, würden einige Firmen verdrängt werden. Beschäftigung und Technologie könnten verloren gehen. Die enge Bindung zwischen nationaler Industrie, eigenen Streitkräften und Rüstungsbürokratie, der nationale Militärisch-Industrielle-Komplex (MIK) würde aufgebrochen.

Einige Vorschläge für Kompromisse zwischen nationalem Interesse an Technologie und Beschäftigung und übernationalem Interesse an Kostendämpfung und Zusammenarbeit machte eine von der IEPG 1986 eingesetzte Kommission. Unter dem Vorsitz des ehemaligen niederländischen Verteidigungsministers Henk Vredeling erarbeitete eine Gruppe von der Rüstungsindustrie nahestehenden Experten Konzepte für eine Reform des Beschaffungswesens ohne wesentliche Einschränkung der nationalen Souveränität. Wesentliche Elemente sind:53

Gegenseitige Information über Ausschreibungen und Anpassung der Ausschreibungsrichtlinien, einschließlich der Schaffung eines Sekretariats in Brüssel

Konkurrenz von mehreren Konsortien mit Partnern aus verschiedenen Ländern um Großprojekte

Vergabe von Aufträgen nach dem Prinzip der »juste retour«. Nicht in jedem Koproduktionsprojekt soll genauso viel Geld in ein Land fließen, wie in das Projekt gesteckt wird, sondern der Ausgleich soll über viele Projekte und zwar möglichst informell, erfolgen

besondere Förderung der südeuropäischen Länder mit weniger entwickelter Rüstungsindustrie

Schaffung eines gemeinsamen Fonds für Rüstungsforschung analog zur Forschungsförderung der EG im Hochtechnologiebereich.

Der Ministerrat der IEPG nahm auf seiner Sitzung im November 1988 die meisten Vorschläge der Vredeling-Kommission an (siehe Kasten). Ausgespart blieb der gemeinsame Forschungsfonds – hier wurde eine Entscheidung vertagt, bzw. eine Studiengruppe für die “Entwicklung eines Europäischen Technologieprogramms” eingesetzt.54

Auf der Juli-Tagung des Ministerrates ist nun ein Forschungs-Pool namens EUCLID eingerichtet worden, dessen Aufgabenstellung im grundsätzlichen mit EUREKA vergleichbar ist.

Insgesamt wird im Vredeling-Bericht die westeuropäische Rüstungsindustrie als weit schwächer dargestellt als sie ist. Gegenwärtig geht von ihr die stärkste Dynamik in Richtung Westeuropäisierung aus (siehe unten).

Die Bedeutung des EG-Binnenmarktes

“Die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes setzt Fakten auch für den Rüstungssektor – einmal, weil die Mehrzahl der europäischen Firmen mit Rüstungskapazitäten gleichzeitig – zumeist sogar überwiegend – am zivilen Markt tätig ist, und zum anderen, weil der fortschreitende EG-weite Abbau der administrativen Unterschiede im Wirtschaftsleben der einzelnen Mitgliedsländer auch die nationalen Vergabevorschriften und Verwaltungspraktiken beeinflussen wird. Schließlich aber wird von den Erfolgen des Binnenmarktes ein heilsamer Zwang ausgehen, da es offenkundig werden dürfte, daß es im Interesse der Länder liegt, die Vorteile eines großen Marktes auch bei der Beschaffung von Rüstungsgütern zu nutzen und so die Verteidigungshaushalte zu entlasten.”55 So sieht der für die Kooperation im BMVg verantwortliche Beamte, Ministerialdirigent Dr. Lothar Weber die Vorteile eines gemeinsamen Rüstungsmarktes. Er spricht für die Gruppe von Bürokraten und Politikern, denen es vor allem um eine Verbilligung der Beschaffung geht. Sie sind eine wichtige Lobby für die Westeuropäisierung.

Großes Interesse an einem (west)europäischen Rüstungsmarkt haben auch die umsatzstarken Rüstungsfirmen, allerdings aus anderen Gründen. Sie sind, zumindest in Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik, an die Grenzen der nationalen Märkte gestoßen. Der Konzentrationsprozeß, der schon in den 70er Jahren soweit fortgeschritten war, daß nur noch ein Hersteller in jedem Sektor angebotsfähig war, ist in Richtung horizontaler Integration weitergegangen. British Aerospace ist nicht nur praktisch konkurrenzlos im Bau von Flugzeugen und Lenkwaffen, sondern hat inzwischen auch Royal Ordnance, den größten Hersteller von Infanteriewaffen und Panzern aufgekauft. MBB ist nach der Übernahme von VfW auch ins Panzermanagement eingestiegen, über eine Minderheitsbeteiligung an Krauss-Maffei. Jetzt will das Management von Daimler Benz diesen Konzentrationsprozeß weiter vorantreiben. In Frankreich erfolgt die Koordination innerhalb der Rüstungsindustrie schon lange über den Staat, in dessen Besitz sich außerdem die meisten großen Rüstungsfirmen befinden.

Trotzdem ist die westeuropäische Rüstungsindustrie in vielen Hochtechnologiebereichen der Rüstung den US-Amerikanern unterlegen. Der Markt und die Hersteller sind zu zersplittert. Die USA aber sind das Maß des Weltniveaus für die westeuropäische Rüstungsindustrie. J. H. J. Bosma, Vorstandsvorsitzender eines der größten westeuropäischen Rüstungselektronik-Herstellers, der Philips-Konzerntochter Signal erläuterte in einem Interview seine Vorstellungen: “ Meiner Meinung nach könnte die europäische Verteidigungsindustrie allein alles entwickeln, was unsere Streitkräfte brauchen. Wir könnten als europäische Industrie also stärker sein und könnten einen Teil der amerikanischen industriellen Position in Europa ersetzen – hierzu allerdings benötigen wir einen harmonisierten Markt und engere Zusammenarbeit.”56

Der EG-Binnenmarkt wird von den großen Rüstungsfirmen als ein Vehikel angesehen, um über die nationalen Märkte hinauszuwachsen. Durch den Binnenmarkt vereinfacht sich grenzüberschreitendes Vorgehen, zum Beispiel, weil es ein gemeinschaftliches Steuer- und Gesellschaftsrecht gibt. Grenzüberschreitende Euro-Unternehmen wie Panavia oder Euromissile können dann leichter organisiert werden. Auch grenzüberschreitende Kapitalbeteiligungen und -täusche, wie gegenwärtig etwa zwischen Aerospatiale und MBB vorgesehen, werden einfacher.

Wichtiger aber ist die politische Symbolwirkung des gemeinsamen Marktes. Wenn Markt-, Industrie- und Technologiepolitik zunehmend über Brüssel bestimmt werden, läßt sich dann der Rüstungssektor aussparen? Schon ohne Zutun von Rüstungsfirmen oder Politikern scheint das angesichts der engen Verflechtung von ziviler und militärischer Technologie in vielen Bereichen nicht möglich.

Gegen die Kräfte, die eine stärkere Westeuropäisierung der Rüstungsproduktion von der Angebotsseite, den Firmen, her betreiben, gibt es aber auch starke Widerstände. So sehen US-amerikanische Firmen in der beabsichtigten stärkeren Abschottung des IEPG- oder EG-weiten westeuropäischen Rüstungsmarktes eine Bedrohung57 Kleinere Rüstungshersteller bangen um ihre Existenz. Aber auch den großen Rüstungsfirmen ist die Entwicklung nicht ganz geheuer. Zusammen mit vielen Rüstungsbürokraten, Miltärs und Politikern fürchten sie den Verlust der engen nationalen Zusammenarbeit, von der sie profitiert haben.

Die Westeuropäisierung des Rüstungsmarktes ist deshalb nur in kleinen Schritten zu erwarten, wobei die großen Firmen gute Chancen haben, ihre Vorteile zu optimieren. Ein frühes Beispiel bietet gegenwärtig das Verhalten des Managements von Daimler Benz. Einerseits zielt die Fusion mit MBB auf den größeren Markt, die Konkurrenz mit US-Firmen auf gleichem Niveau. Gleichzeitig aber machte das Management zur Bedingung, daß vor Übernahme die Durchführung des für die Zukunft wichtigsten Projekts für MBB, den Jäger-90, von der Bundesregierung garantiert werden müsse – ohne echten Wettbewerb.

Nur wenige Rüstungsfirmen und Politiker wollen einen völlig freien Rüstungsmarkt58, nicht einmal, wenn garantiert wäre, daß alle Aufträge an westeuropäische Firmen gingen. Die meisten Befürworter wollen einen auf Westeuropa erweiterten Markt in Kombination mit einer westeuropäischen Rüstungsindustriepolitik, in der die Wettbewerbsfähigkeit der Rüstungsindustrie gefördert wird, ohne daß politisch gewollte Kapazitäten zerstört werden. Offen ist, wer die Koordination der Rüstungsindustriepolitik übernehmen sollte, in Frage kämen sowohl IEPG oder EG. Mit der Schaffung des Binnenmarktes als Schritt hin auf die geplante Europäische Union scheint die Übernahme einer solchen Funktion durch die EG wahrscheinlicher.59 Der IEPG dürfte die Aufgabe zufallen, diesen Prozeß von der Beschaffungsseite her durch Zurückdrängen nationaler Alleingänge gegenüber abgestimmtem Verhalten der beteiligten Staaten abzusichern.

Aktionsplan für die schrittweise Schaffung eines Europäischen Rüstungsmarktes vom 13. Juli 1988 (Auszüge) vom Ministerrat der IEPG beschlossen am 9.11.1988

1.Einleitung

1.1. Auf ihrer Sitzung am 22. Juni 1987 vereinbarten die IEPG-Verteidigungsminister eine Reihe langfristiger Zielsetzungen zur Verbesserung der europäischen Rüstungsindustrie.

Dazu haben sie generell folgende Entscheidungen getroffen:

  • die schrittweise Schaffung eines Europäischen Rüstungsmarktes soll angestrebt werden
  • Hindernisse im grenzüberschreitenden Wettbewerb sollen beseitigt werden.
  • Aufträge sollen bereitwilliger an Lieferfirmen in anderen Ländern vergeben werden,
  • Forschungsaktivitäten sollen die weitestgehende Nutzung der europäischen Ressourcen an geistigen Fähigkeiten und finanziellen Mitteln ermöglichen,
  • Länder mit weniger entwickelter Rüstungsindustrie sollen an der Zusammenarbeit auf dem Rüstungssektor beteiligt werden…

2.2. Angesichts der sehr wichtigen nationalen Interessen werden die IEPG-Länder nur dann bereit sein, grenzüberschreitenden Wettbewerb zuzulassen, wenn sie sicher sind, in angemessener Zeit einen gerechten Ausgleich zu erhalten, der ihren vitalen Interessen und ihren Möglichkeiten entspricht. Deshalb muß eine Art von »Juste Retour« vorgesehen werden.

Möglicherweise kann ein Spannungsverhältnis zwischen »Juste Retour« und der Forderung nach Wettbewerb auftreten. Aber »Juste Retour« ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, um die Unterstützung der Mitgliedsstaten für einen grenzüberschreitenden Wettbewerb zu erhalten. Deshalb und um die Möglichekit der Finanzierung einer angemessenen konventionellen Verteidigung sicherzustellen sollte der wirtschaftliche Aspekt bei Beschaffung in der Regel Vorrang haben vor einem 100prozentigen Ausgleich um jeden Preis. »Juste Retour« muß im Zusammenhang gesehen werden mit dem Streben nach einer leistungsfähigen und geographisch/technologisch ausgewogenen Rüstungsindustrie….

2.4. Neben dem grenzüberschreitenden Wettbewerb wird die umfassende und systematische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Forschung und Technologie das Kernstück bei der Schaffung eines Europäischen Rüstungsmarktes sein…

Quelle: Kommunique der Minstertagung der IEPG in Luxemburg, Material für die Presse, herausgegeben vom BMVg, Bonn 18.11.1988

Einheitliche Europäische Akte von 1986 (Auszüge)

Titel III

Vertragsbestimmungen über die Europäische Zusammenarbeit in der Außenpolitik

Artikel 30

Für die Europäische Zusammenarbeit in der Auáenpolitik gelten folgende Bestimmungen:

(1)
Die Hohen Vertragsparteien, die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind, bemühen sich, gemeinsam eine europäische Außenpolitik auszuarbeiten und zu verwirklichen.

(6)
a)
Die Hohen Vertragsparteien sind der Auffassung, daß eine engere Zusammenarbeit in Fragen der europäischen Sicherheit geeignet ist, wesentlich zur Entwicklung einer außenpolitischen Identität Europas beizutragen. Sie sind zu einer stärkeren Koordinierung ihrer Standpunkte zu den politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Sicherheit bereit.
b)
Die Hohen Vertragsparteien sind entschlossen, die für ihre Sicherheit notwendigen technologischen und industriellen Voraussetzungen aufrechtzuerhalten. Sie setzen sich hierfür sowohl auf einzelstaatlicher Ebene als auch, wo dies angebracht ist, im Rahmen der zuständigen Institutionen und Organe ein.
c)
Dieser Titel steht einer engeren Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheit zwischen einigen Hohen Vertragsparteien im Rahmen der Westeuropäischen Union und des Atlantischen Bündnisses nicht entgegen.

Quelle: Bundesgesetzblatt, II, Nr. 39, 24.12.1986, S. 1103 ff

Mitgliedschaften westeuropäischer Staaten
LAND EUROGROUP IEPG WEU EG
Belgien x x x x
Dänemark x x x
BRD x x seit 1954 x
Frankreich x x x x
Griechenland x x   seit 1986
Großbritannien x x x seit 1973
Irland seit 1973
Island
Italien x x seit 1954 x
Luxemburg x x x x
Niederlande x x x x
Norwegen x x
Portugal seit 1976 x seit 1988 seit 1986
Spanien seit 1982 seit 1983 seit 1988 seit 1986
Türkei x x
x=Gründungsmitgliedschaft
(EUROGROUP: 1968, IEPG: 1976, WEU: 1948; EG: 1958)
Aufhebung von Beschränkungen im Rahmen der WEU
9.05.1958 gelenkte Panzerabwehrraketen;
16.10.1958 Marinesschulschiff mit Wasserverdrängung von 4800 bis 5000 t;
21.10.1959 gelenkte Boden-Luft und Luft-Luft Flugabwehrraketen mit
Annäherungszünder;
24.05.1961 Influenzminen (Seeminen); Raketenzerstörer mit taktischen Raketen für
den Seekampf bis zu 6000 t Wasserverdrängung; Hilfsschiffe bis zu 6000 t
Wasserverdrängung;
19.10.1962 U-Boote bis zu 450 t;
9.10.1963 sechs U-Boote bis zu 1000 t Wasserverdrängung;
1968 Luft-Boden Lenkflugkörper für die taktische Verteidigung;
1971 Oberfläche-Oberfläche Lenkflugkörper für die taktische
Seeverteidigung;
1973 U-Boote bis zu 1800 t;
1980 Streichung aller Beschränkungen im Kriegsschiffbau;
17.06.1984 strategische Bomber; Flugkörper großer Reichweite und Lenkflugkörper.
Quelle: Böge u.a., S. 12 f
NATO-Rüstungsagenturen
NATO-Agenturen haben ihre Rechtsgrundlage im Ottawa Abkommen vom
20.9.1951. Sie sind rechtlich autonome Einheiten der NATO und berechtigt, im Rahmen der
ihnen eingeräumten Zuständigkeiten, Verträge mit Rüstungsfirmen abzuschließen. Die
NATO-Agenturen sind dem NATO-Ministerrat verantwortlich; die wirtschaftliche Kontrolle
erfolgt durch den NATO-Rechnungsprüfungsausschuß.
Bestehende NATO-Rüstungsagenturen:
NAMMA (NATO MRCA Development and Production Management Agency)
NEFMA (NATO European Fighter Aircraft Development, Production and Logistics Management
Agency)
NAPMA (NATO AWACS Programme Management Agency)
NHMO (NATO Hawk Management Office)
NACISA (NATO Communications and Informations System Agency)
NAMSA (NATO Maintenance and Supply Agency)
CEOA (Central Europe Operating Agency)

Name Sitz Projekt Personal Beteiligte Staaten
NAMMA München MRCA TORNADO 211 BRD, UK, I
NEFMA München Jäger-90 147 BRD, UK, I, S
NAPMA Brunssum (NL) E-3A AWACS 85 NATO-Staaten außer F, GB, IS
NHMO Rueil-Malmeison(F) HAWK 127 B, DK, BRD, F, GB, I, NL, NOR
NACISA Brüssel (B) Fernmelde- und Führungssystem 253 NATO-Staaten außer S
NAMSA Capellen (L) Ersatzteilversorgung 1189 alle NATO-Staaten außer IS
CEOA Versailles (F) NATO-Pipelines 73 B, BED, GB, CDA, L, NL, USA
Quelle: Wehrdienst 1141/88 vom 5.9. 1988. S. i

III. Festung oder Gemeinsames Haus

Vor dem Hintergrund einer zu Ende gehenden Ära des Kalten Krieges, dem allmählichen Ausstieg aus einer bipolar geprägten Welt erscheinen die Bestrebungen einer Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik zumindest als ein sehr eindimensionaler Lösungsansatz, ihre inhaltliche Substanz bleibt im wesentlichen der alten Epoche verhaftet. Die internen Reibungen und Probleme dieses Prozesses verweisen nicht zuletzt auch auf diesen Tatbestand.

Die wiederbegonnene »Europa-Diskussion« geht über diesen Kontext hinaus, speist sich auch aus neuen Denkansätzen in Ost und West.

Zwei alternative Sicherheitskonzepte

“Wir wollen die schmerzliche Teilung Europas, die wir niemals hingenommen haben, überwinden … Ausgehend von der gegenwärtigen Entwicklung zu mehr Zusammenarbeit und den künftigen gemeinsamen Herausforderungen streben wir an, eine neue politische Friedensordnung in Europa zu schaffen…

Für die vorhersehbare Zukunft gibt es keine Alternative zur Bündnisstrategie der Kriegsverhinderung. Dies ist eine Abschreckungsstrategie, die auf einer geeigneten Zusammensetzung angemessener und wirksamer nuklearer und konventioneller Streitkräfte beruht, die weiterhin auf dem gebotenen Stand gehalten werden… Die Präsenz nordamerikanischer konventioneller und nuklearer Streitkräfte in Europa bleibt von vitaler Bedeutung für die Sicherheit Europas…Die wachsende politische Einigung Europas kann zu einer verstärkten europäischen Komponente unserer gemeinsamen Sicherheitsanstrengung und ihrer Wirksamkeit führen.…” (Erklärung der Staats- und Regierungschefs bei der NATO-Gipfelkonferenz in Brüssel am 29./30.5.1989, aus: Bulletin Nr. 53, 31.5.1989)

“Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion betrachten es als vorrangige Aufgabe ihrer Politik, an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anzuknüpfen, um so zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen. Sie sind entschlossen, gemeinsam an Vorstellungen zu arbeiten, wie dieses Ziel durch den Aufbau eines Europa des Friedens und der Zusammenarbeit – einer europäischen Friedensordnung oder des gemeinsamen europäischen Hauses – in dem auch die USA und Kanada ihren Platz haben, erreicht werden kann…

Europa, das am meisten unter zwei Weltkriegen gelitten hat, muß der Welt ein Beispiel für stabilen Frieden, gute Nachbarschaft und eine konstruktive Zusammenarbeit geben, welche die Leistungsfähigkeit aller Staaten ungeachtet unterschiedlicher Gesellschaftssysteme zum gemeinsamen Wohl zusammenführt… verurteilen das Streben nach militärischer Überlegenheit. Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. Die Sicherheitspolitik und Steitkräfteplanung dürfen nur der Verminderung und Beseitigung der Kriegsgefahr und der Sicherung des Friedens mit weniger Waffen dienen. Das schließt ein Wettrüsten aus…” (Aus der gemeinsamen Erklärung von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow, Bonn, 13.6.1989, aus: FAZ vom 14.6.1989)

Sehr unterschiedliche – auf Dauer nicht vereinbare – Konzeptionen von Sicherheitspolitik, bzw. Vorstellungen von Sicherheit überhaupt, existieren gegenwärtig noch nebeneinander. Die politische Führung der Bundesrepublik bewegt sich in beiden Konzeptionen: Während im West-West-Kontext der NATO militärische Stärke in Europa noch als ein zentrales (konfrontatives) Sicherheitsparadigma gilt, ist in der gemeinsamen Erklärung von Kohl und Gorbatschow eine neue Gewichtung ziviler (gemeinsamer) Kriterien erkennbar. Die friedliche Begegnung von Ost und West scheint heute – wenn auch spät – Katalysator für die Zivilisierung der Politik werden zu können. Dies geschieht vor allem über die Bewußtmachung systemübergreifender globaler Herausforderungen, die auch über Europa hinausweisen.

Das von Michail Gorbatschow propagierte »Gemeinsame Haus Europa« kann vor allem als innovatives gedankliches Modell einer (auch in einigen westlichen Ansätzen schon diskutierten) neuen gemeinsamen Konzeption der Sicherheit und des Zusammenlebens an einem Brennpunkt der Welt dienen. Insofern spricht auch nichts gegen die Synonymisierung mit dem Begriff der »Europäischen Friedensordnung«. Gesamteuropa in diesem Sinne jedoch heute als ein einheitliches (völkerrechtliches) Gebäude theoretisch und praktisch zu projizieren, scheint weder realistisch noch hilfreich für die zukünftigen Entwicklungen. Es soll im folgenden vor allem darum gehen,

  • Erfordernisse neuer Sicherheit zwischen Staaten und Völkern zu präzisieren,
  • die Probleme eines solchen Neulandes »Gesamteuropa« unter den heutigen politischen Realitäten in aller Widersprüchlichkeit zu erfassen,
  • sowie auf Defizite bisheriger Konzepte zu verweisen.

Erfordernisse friedlicher Kooperation in Europa

In der Tat beinhalten die genannten unterschiedlichen Sicherheitskonzeptionen zwei alternative Entwicklungswege für Europa (und die Welt): Das Weitergehen in Richtung einer »Westeuropäisierung der Sicherheitspolitik« impliziert unter anderem eine militärisch geprägte Wissenschafts- und Technikentwicklung, den Primat konfrontativer bzw. aggressiver Denkansätze in der Außen- und Wirtschaftspolitik, die Mißachtung anderer (sozialer, ökologischer) Prioritäten gesellschaftlicher und internationaler Kooperation. Dies gilt insgesamt, wenn sich die EG mit ihrem Binnenmarkt vorrangig zu einem “Rollfeld für Multis” (W. Kartte, Chef des Bundeskartellamtes, SPIEGEL 23/1989) entwickelt.

“Mit Sorge betrachten wir deshalb eine Tendenz in der Europäischen Gemeinschaft zur Herausbildung einer dritten, sich ökonomisch und militärisch selbst behaupten wollenden »Supermacht«, die zugleich versucht, Osteuropa zu ihren Bedingungen zu integrieren. Unsere Vorstellungen von Europa zielen auf die Schaffung einer neuen Europäischen Friedensordnung, die frei ist von Militärbündnissen – und damit frei ist für eine ökologische, soziale und ökonomische Kooperation, die auf der Basis der Gleichberechtigung aller Europäischen Staaten und Gesellschaften aufbaut und aus der alle Beteiligten ihren wechselseitigen Nutzen ziehen können…” (Offener Brief der GRÜNEN an Gorbatschow, Frankfurter Rundschau, 14.6.1989)

Die »Bauelemente« aus der gemeinsamen Erklärung von Kohl und Gorbatschow skizzieren eine solche politisch-alternative Richtung, ohne jedoch die zentrale Frage der Militärbündnisse schon zu berühren.

Ein Nebeneinanderexistieren beider Sicherheitskonzeptionen für die nächste Zeit realistisch vorausgesetzt, wird es darum gehen müssen, die Entwicklungsbedingungen für das Neue im Alten gezielt zu fördern. Zentrale Gedanken hierfür sind:

  • Das Gemeinsame Haus Europa, die Europäische Friedensordnung versteht sich als Teil eines zukünftigen Systems internationaler Sicherheit, das friedliche Kooperation auch mit der Dritten Welt einschließt (zur gegenwärtig negativen Rolle Europas beim Anteil am Weltrüstungsexport, siehe u.a. SIPRI-Datenbank, in: IFIAS (Hrsg.), Frieden und Abrüstung Nr.26, Bonn 1988.) Der KSZE-Prozeß kann hierfür wegen der an ihm Beteiligten sowie der dort einbezogenen Themenfelder eine wichtige Grundlage sein.
  • Die »Besonderheiten« Gesamteuropas liegen vor allem in seiner besonderen Friedensverantwortung gegenüber Dritten aufgrund seiner geostrategischen und intersystemaren Lage und Erfahrungen, sowie in seinen Völkervielfalt einschließenden kulturellen Wurzeln. Dies widerspricht jeder Form chauvinistischer Abschottung sowie Großmachtpolitik. (Vgl. u.a. M. Gorbatschow, Perestroika, München 1987, S. 255 ff; W. Brandt, Die richtige Perspektive heißt 2000, SPIEGEL Nr. 23/1989)
  • Europa ist ein »Pulverfaß« im doppelten Sinne – mit der größten Waffenkonzentration auf der Welt und dem engsten Netz hochindustrieller Anlagen. Krieg bzw. militärische Optionen sind deshalb in Gesamteuropa in besonderer Weise obsolet (vgl. hierzu u.a. M. Schmidt/W. Schwarz, Das Gemeinsame Haus Europa, in: IPW-Berichte 9+10/1988, Berlin (DDR); G. Zellentin, Sind Militär und Gesellschaft noch vereinbar? Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 2/1989).
  • Die Entmilitarisierung Gesamteuropas ist zugleich Voraussetzung und paralleler Prozeß zu der Entwicklung neuer ziviler Kooperationsstrukturen auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichtechnischem, ökologischem und kulturellem Gebiet. Vertrauensbildende Schritte können eine wechselseitige Dynamik entfalten.

Neuland Gesamteuropa

Alle sprechen heute von der »Überwindung der Spaltung Europas«. Die politischen Entwicklungen in West (EG-Integration) und Ost (Perestroika) sind aber zu neu, andere Probleme demgegenüber zu alt (die deutsche Frage) als daß Gegenstand und Wege der Überwindung der Spaltung Europas schon vereinheitlicht wären. Zu unterschiedlich sind noch die Interessenlagen.

EG: Markt und (Über-)Macht

Die Besorgnisse über die Übermacht der westeuropäischen Integration, vor allem in Gestalt des Binnenmarktes ab 1993, sind unüberhörbar und berechtigt (von östlicher Seite vergl. exemplarisch die sowjetischen Teilnehmer des 86. Bergedorfer Gesprächskreises »Das Gemeinsame Europäische Haus aus Sicht der SU und der BRD« im Dezember 1988, Hamburg, 1989; vgl. aber auch die »Festung Europa«-Debatte in den USA)

Die »Selbstbehauptungs-„Linie in der Bundesrepublik – auch jenseits der Unionspolitik – reicht von der Forderung, die “EG müsse zu einem Faktor der Sicherheit (gemeint die militärische, d.V.) werden… gegen die Instabilitäten im kommunistischen Herrschaftsbereich” (C. Bertram, 'Die Zeit' vom 16.6.89) bis zum Philosophieren über das allgemein menschliche Streben nach “Macht und Einfluß”, das natürlich in einem friedlichen Europa nicht aufhöre (E. Bahr, Zum Europäischen Frieden, Berlin 1989, S. 90). “Die Flagge folgt dem Handel” …ist solange noch nicht her. Die Hegemoniebefürchtungen gegenüber den 12 EG-Staaten bestätigen sich auch durch die Austragungsformen von Führungsansprüchen im Innenverhältnis der EG selbst: Die scheinkompensatorischen Zuweisungen ökonomischer bzw. militärischer Macht vor allem zwischen Frankreich und der Bundesrepublik (siehe u.a. E. Bahr, a.a.O., S. 52 ff) enthalten noch wenig verantwortliche Politikansätze für die Zukunft, aber viel nationalistisch geprägtes Machtstreben.

Die ökonomische Integration Westeuropas wird zu den Realitäten des nächsten Jahrzehnts gehören; schon deshalb muß sie zu einer wichtigen Säule in einer Europäischen Friedensordnung werden.

“Die Etablierung einer westeuropäischen Dominanz würde die Teilung Europas verlängern. Das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West würde weiter zunehmen…Dann wird es in Europa Destabilisierung nicht als Übergangsphase zu neuen Strukturen, sondern als Dauerzustand geben.” (G. Gaus, Deutsche Volkszeitung, Nr. 23, 2.6.1989).

Perestroika – Quo Vadis ?

Die politischen Neuorientierungen im Osten, haben viel angestoßen, was eine Europäische Friedensordnung befördern kann; nicht vor allem, weil es den Vereinnahmungsabsichten des Westens entgegenkommt, sondern weil dort versucht wird, der Modernisierung mittels des Primats der Politik auf nationaler und internationaler Ebene zum Durchbruch zu verhelfen. Welche konkreten Entwicklungen Ungarn und Polen nehmen werden, wie sich das komplizierte Wechselverhältnis von Politik und Ökonomie auswirken wird, ist gegenwärtig offen (vgl. u.a. Poszgay, in Frankfurter Rundschau, 13.1.89). Chancen und Gefahren liegen nahe beieinander; ob daraus Instabilität für Gesamteuropa erwächst, hängt allerdings wesentlich auch von der Politik des Westens ab. “Wir müssen eine Verflechtung von Interessen und Kooperationen in Europa schaffen, die es keinem Land mehr erlaubt, sich aus diesem Verbund zu lösen, ohne seine vitalsten Eigeninteressen auf das Schwerste zu verletzen. Wir brauchen gegenseitige Abhängigkeit im guten Sinne des Wortes.” (D. Genscher, Worten müssen auch bei uns Taten folgen, in: SPIEGEL, Nr. 24/1989). Was hier als »systemöffnende Zusammenarbeit« propagiert wird, muß sich –wenn »Gegenseitigkeit« Gleichberechtigung trotz Ungleichheit bedeuten soll – wirklich neue Inhalte und Strukturen der Kooperation suchen. Joint Ventures reichen nicht. “Die Arbeitsteilung könnte weitaus substitutiver (statt komplementärer) Natur sein. …Je intraindustrieller die Arbeitsteilung würde, um so geringer wäre die Gefahr, daß im Westen protektionistische Kräfte gegen eine verstärkte Importkonkurrenz aus dem Osten zum Zuge kommen”. (J.P. Donges, Handelsbeziehungen zwischen Ost und West auf der Basis unterschiedlicher Wirtschaftssysteme, Bremen, April 1988.) Es existieren umfangreiche Vorschläge für gesamteuropäische Institutionen auf dem Gebiet des Umweltschutzes, der Energiewirtschaft, der humanitären Fragen (vgl. u.a. M. Gorbatschow vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 6.7.89, u.a. in: tageszeitung v. 7.7.89).

Das deutsche Problem

Bewegung in Europa ohne Aufwerfen der deutschen Frage ist aufgrund der deutschen Kriegsgeschichte nicht denkbar. Allein das (angesichts der ökonomischen Potenz der Bundesrepublik) berechtigte Mißtrauen der Nachbarn erfordert absolute Abstinenz gegenüber allen »gesamtdeutschen« Vorhaben. Auch wenn die Veränderungen in Europa den Deutschen nach 40 Jahren einen souveräneren Umgang mit ihrer Nationalität ermöglichen können: Die deutsche Besonderheit liegt nicht in einer wie auch immer gearteten Extralösung neben dem gesamteuropäischen Einigungsprozeß, sondern in einer besonders bewußten Verantwortung als Friedensfaktor in eben diesem Prozeß. Nur im Ergebnis dessen, im Kontext von möglicherweise insgesamt veränderten staatlichen (konföderativen) Strukturen in Gesamteuropa wird auch deutsche Zweistaatlichkeit einen neuen vielleicht “außerordentlichen modus vivendi” finden können (G.S. Kennan, The German Problem, in: German Issues, April 1989; vgl. auch T. Sommer, Quovadis Germania,'Die Zeit' vom 23.6.1989 und G. Gaus, in: Die Deutsche Volkszeitung vom 2.6.1989). Jede andere auch von links heute wieder oder neu in die Debatte gebrachte separate deutsche Lösung (vgl. »Memorandum für Blockfreiheit und Neutralität«, in: Mediatus 6/1989) mißachtet die Anerkennung des historischen Status Quo als Ausgangspunkt für Veränderungen. Das bedeutet auch, daß die wünschenswerte Überwindung der (Militär)Blöcke, nicht dort beginnen kann, wo – wie in der DDR – staatliche und systembedingte Blockidentität so existentiell wie in keinem anderen Land Europas miteinander verbunden sind. Diesem Fakt tragen eher Anforderungen an die DDR Rechnung, über Modernisierung unter sozialistischen Vorzeichen – etwa die Verbindung von Gemeineigentum, ökologischen Kriterien und individuellen Freiheiten – neu nachzudenken (vgl. G. Gaus, a.a.O.; E. Eppler, Rede zum 17. Juni 1989, in: Frankfurter Rundschau vom 19.6.1989).

Defizite vorhandener Konzeptionen

Konzeptionelles Nachdenken über ein Europa des Friedens und der gleichberechtigten Zusammenarbeit erfordert unter den aktuellen Entwicklungen neue Anstrengungen auch seitens der Friedensbewegung. Die Kunst wird darin bestehen, umfassende Alternativen zum Status Quo mit konkreten Schritten für die einzelnen Bereiche – Abrüstung, Wirtschaftsbeziehungen, technologische und ökologische Zusammenarbeit, Demokratie und Kultur – zu verbinden. Realismus und Visionsfähigkeit sind zusammen gefordert.

Die vorhandenen Konzepte tragen der neuen Lage aus unterschiedlichen Gründen nur partiell Rechnung.

Strukturelle Angriffsunfähigkeit in Europa

Die seit einigen Jahren relativ intensiv geführte Debatte – zunächst in der Bundesrepublik Deutschland, inzwischen auch im weiteren NATO-Bereich, sowie im Rahmen der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) – unter den Oberbegriffen strukturelle Nichtangriffsfähigkeit bzw. defensive Verteidigung versteht sich erklärtermaßen als militärstrategische Alternative zur Flexible Response-Konzeption der NATO. (Eine gute Kurz-Übersicht der verschiedenen Ansätze bietet das Bulletin of Atomic Scientists, September 1988, S. 23; s.a. IWIF-Dossier Nr. 3).

Ihr wesentliches Defizit – sieht man einmal von der grundsätzlichen Schwäche eines solchen eindimensionalen Ansatzes ab – ist ein immanentes: Da die Bedrohungsperzeptionen und damit die Philosophie der Abschreckung keiner prinzipiellen Prüfung unterzogen werden, bleiben alle defensiven Verteidigungsansätze paradoxerweise letztlich Kriegsführungsoptionen. Neuere Erkenntnisse, die Europa allein wegen seiner hohen Verwundbarkeit aufgrund der hochindustriellen Strukturen als weder atomar noch konventionell (defensiv) zu verteidigen ausweisen, werden noch nicht rezipiert. (Vgl. W. Schwarz, Strukturelle Angriffsfähigkeit in Europa, in: Beiträge zur Konfliktforschung 2/1989, S. 5 ff.). Im Ansatz werden diese Defizite erstmals im »Comprehensive Concept« of Defence and Disarmament for NATO: From Flexible Response to Mutual Defensive Superiority, London 1989, bearbeitet, indem auch die Gesamtstruktur der Militärblöcke thematisiert wird (vgl. Informationsdienst Wissenschaft & Frieden 2/89).

Gemeinsame Sicherheit – System kollektiver Sicherheit (SKS)

Das unbestrittene Verdienst des seit dem Palme-Bericht 1982 vor allem von der Sozialdemokratie propagierten Konzeptes der gemeinsamen Sicherheit liegt in der ersten westlichen Formulierung des »Miteinander im Atomzeitalter«. Ansonsten gelten ähnliche grundsätzliche Defizite wie oben. “Eine Fortentwicklung des Gedankens der gemeinsamen Sicherheit zu einer kollektiven Sicherheit” (D. S. Lutz, Kollektive Sicherheit in und für Europa – eine Alternative, Baden-Baden 1985) bezieht eine mehrdimensionale Sicht der neuen Europäischen Friedensordnung (innergesellschaftlich, verteidigungspolitisch, Ost-West-, und Nord-Süd-Ebene) ein. Trotzdem bleibt das SKS selbst eine auf ein militärisches Gewaltmonopol gestützte Allianz vor allem zum Zwecke der Kriegsverhinderung bzw. Kriegsbeendigung (»negativer Frieden«); es findet keine Entmilitarisierung des Sicherheitsbegriffes statt (zur Kritik am SKS vgl. auch G. Zellentin, ebenda, S. 327 ff).

Interessanter als der Endzustand eines SKS erscheinen unter den heutigen Bedingungen die Schritte und Phasen auf dem Weg dahin, u.a.: der Verzicht auf Destabilisierung, Vertrauensbildung, einseitige Abrüstung, atomwaffenfreie Zonen, Defensivumrüstung, Lockerung der Blockintegration. Auch Böge/Wilke entwickeln vor allem Schritte zu einem Europäischen System kollektiver Sicherheit (ESkS) (im Sinne einer Vollendung des KSZE-Prozesses), mit dem Ziel der Lockerung und schließlichen Auflösung der Blöcke (vgl. V. Böge/P. Wilke, Sicherheitspolitische Alternativen, Baden-Baden 1984). Kritikwürdig erscheint hier vor allem die Vorstellung, die Großmächte USA und UdSSR könnten aus dem ESkS weitgehend ausgegrenzt werden.

Gegenüber den genannten Konzepten hat die durch die aktuelle politische Entwicklung vor allem im Osten angestoßene Grundsatzdebatte über das Europäische Haus bzw. die Europäische Friedensordnung den Vorteil einer umfassenderen (globaleren) Sicht auf das Thema. Man kann kritisieren, daß hierin auch die Gefahr einer Diffusität und Abgehobenheit liegt, weil Europa in der konzipierten Form als Handlungsträger gar nicht existent sei (vgl. D. Senghaas, Die Zukunft Europas, Frankfurt 1986). Die Kehrseite eines Pragmatismus, der letztlich Entspannung auf die militärische Seite reduziert (die zugegebenermaßen erst noch zu erreichen ist), ist jedoch in den bisherigen Konzepten evident.

In den Blöcken – für Blocküberwindung

Hilfreicher als Modellbastelei scheinen Beiträge der Friedensbewegung zur Europadebatte, die sich vor allem vornehmen, Prinzipien zu entwickeln, die als unverzichtbar gelten müssen, wenn Demilitarisierung und neue friedliche Kooperationsformen entstehen sollen. (Siehe u.a. Thesen von A. Buro, Antworten der Friedensbewegung auf die »Europäisierung der NATO«, in: Die GRÜNEN, Euromilitarismus, Bonn 1985). Eine prinzipielle Kritik muß an allen Bestrebungen ansetzen, mit der »Europäisierung« der Sicherheitspolitik in neuem Rahmen Aufrüstung und Militärpolitik zu befestigen.

Neu nachgedacht werden muß vor allem über das komplizierte Wechselverhältnis von blockübergreifender Kooperation und der Auflösung der Blöcke als Zielvorstellung. Die meisten vorhandenen Konzeptionen über Blockfreiheit und Neutralismus werden der neuen Situation, den Chancen und Problemen einer möglichen Konvergenz zwischen Ost und West nicht gerecht. (Eine kritische Würdigung der europapolitischen Konzeptionen aus Friedensbewegung und Friedensforschung findet sich bei V. Böge, Arbeitspapier des Instituts für Internationale Politik, Nr. 2, Januar 1988).

“Warum sollte es nicht zentraleuropäische Gesprächskreise geben für verschiedene Sachgebiete? Das könnte mit Experten beginnen, die von den Regierungen entsandt werden. Auf der nächsten Stufe könnten Regierungsvertreter hinzukommen. Das Ganze könnte förmlich zum Teil des KSZE-Prozesses erklärt werden. Blockübergreifende Ebenen würden sicherlich zu einer schrittweisen inneren Veränderung der Blöcke führen. Da kann in ferner Zukunft auch eine Auflösung der Blöcke vorstellbar sein, doch zur Zeit hätte sie eine gefährliche Destabilisierung zur Folge…. (G. Gaus, in: DVZ vom 2.6.1989).

Die Bevölkerung der einzelnen Länder muß an diesem Prozeß des gesamteuropäischen Dialoges direkt beteiligt werden. Das kann durch Teilnahme von »Bürgervertretern« in solchen zentraleuropäischen Gesprächskreisen erfolgen. Es müssen aber auch neue, nichtstaatliche kooperative Strukturen entwickelt werden: Dazu kann der Ausbau von Städtepartnerschaften gehören, die Errichtung von gemeinsamen Beratungsgremien der sozialen Bewegungen (u.a. Abrüstung, Ökologie, Frauenpolitik), die Gründung wissenschaftlicher Einrichtungen »von unten«, um alternative Expertise zu fördern.

IV Schlußfolgerungen

  1. Die Konzeptionen einer (West-) Europäisierung der NATO haben ihre Wurzel in der Krise der NATO als westlichem militärischen und ökonomischen Machtblock. Es geht um geographisch und politisch unterschiedliche Reflexionen der Bedrohung bzw. der Abschreckungsdoktrin; es geht auch um die Dynamik der ökonomischen Integration Westeuropas, um wirtschaftliche Konkurrenzen zwischen den großen kapitalistischen Zentren.
  2. Im Zuge des weltweiten Rückgangs der bipolar geprägten Ost-West-Konfrontation treten die beiden Akteure der »Europäisierung« – die USA und West-Europa – deutlicher hervor: Dort die Forderungen nach einer »gerechteren Lastenteilung im Bündnis«, hier unterschiedliche Konzepte einer »Selbstbehauptung Europas«, die auch den ideologischen Effekt einer eigenständigen »Friedensstrategie« für Europa einschließen.
  3. Die Widersprüche und Reibungen innerhalb Westeuropas bei dem Versuch, die Militärintegration neu zu strukturieren, haben ihre Ursachen nicht nur vordergründig im institutionellen Bereich, sondern hängen mit der Schwierigkeit zusammen, militärische Modernisierung unter bereits im NATO-Bündnis gescheitertem Vorzeichen neu zu fundieren.
  4. Mit diesem Grunddilemma – der Verbindung nationaler Interessen und Weltmachtansprüche vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen einer ganz neuen Qualität – hängt es zusammen, daß es gegenwärtig völlig offen ist, ob und in welcher Weise der EG-Binnenmarkt 1993 auch einen Fortschritt im Sinne eines einheitlichen westeuropäischen Rüstungsmarktes bringen wird.
  5. »Europäisierung« ist aus den genannten inhaltlichen Gründen, einschließlich seiner ideologischen Wirkung, kein georaphisch fundiertes Modell einer Friedenspolitik in Europa. Hierzu gehört auch die Tatsache, daß der Begriff der »Europäisierung« nur schwerlich über die Exklusivität des Sicherheitsverständnisses seitens des Westens gegenüber dem Osten Europas hinwegtäuschen kann.
  6. Die neuen Tendenzen im Ost-West-Verhältnis, die Veränderungen im Osten noch mehr als im Westen schaffen Voraussetzungen für eine Gesamteuropa einbeziehende friedenspolitische Diskussion. Gedanken eines »gemeinsamen europäischen Hauses« bzw. einer »Europäischen Friedensordnung« finden erstmals Eingang in Ost-West-Dokumente (gemeinsame Erklärung von Michail Gorbatschow und Helmut Kohl).
  7. Der neue inhaltliche Ansatz – gemeinsame Sicherheit zur Lösung globaler Menschheitsprobleme – wendet sich auch gegen die Gefahren eines Eurozentrismus und erweitert die Tagesordnung der (bisher militärisch geprägten) Sicherheit, um alle Fragen ziviler, internationaler Kooperation (Wirtschaftsbeziehungen, Ökologie, wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, Kultur und Demokratie). Der KSZE-Prozeß kann wegen der daran Beteiligten (inklusive der USA) und der Themenfelder eine gute Grundlage für eine Neubelebung gesamteuropäischer Friedenspolitik sein.
  8. Die gegenwärtige ökonomische Ungleichheit zwischen West- und Ost-Europa darf nicht zum Ausgangspunkt eines neuen kalten Krieges (diesmal zum Zwecke wirtschaftlicher Hegemonie), eines neuen Anlaufs zum »Siegen« werden. Neue Grundsätze und Strukturen ökonomischer Kooperation müssen zwischen Ost und West entstehen.
  9. Die Friedensbewegung sollte mit eigenen Initiativen in die gesamteuropäische Friedensdiskussion eingreifen. Wesentliche Prinzipien hierfür können sein:

    • Kritik an allen neuen Militärprojekten und -strukturen unter dem Vorzeichen »Europäisierung« (das gilt sowohl für die multilateralen Rüstungsvorhaben wie für die bilateralen, insbesondere die deutsch-französische Militärzusammenarbeit). Ansatzpunkte dieser Kritik sind u.a. die Beibehaltung der Abschreckung, die neuen Beiträge zum Wettrüsten, zur Herausbildung eines militärisch-industriellen Komplexes, zur Forcierung des Rüstungsexportes
    • Die Anerkennung des Status quo der Grenzen in Europa
    • Das Eintreten für gewaltfreie Konfliktlösung und das Prinzip der Nichtbedrohung. Dazu gehört als erste Weichenstellung die Umstrukturierung der militärischen Potentiale in Richtung einer Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit, als Übergang zu weiterer bis vollständiger Abrüstung
    • Einseitige Schritte der Abrüstung; multilaterale Verhandlungen
    • Vertrauensbildende Schritte auch auf den Feldern ziviler Kooperation
    • Schaffung neuer staatlicher und nichtsstaatlicher Strukturen gesamteuropäischer, blockübergreifender Zusammenarbeit.
    • Die genannten Prinzipien verstehen sich als Voraussetzung auf dem Weg zu einer schließlichen Auflösung der Militärbündnisse und der Blöcke.
    • Es geht um die Zurückdrängung alter und neuer Nationalismen zu Gunsten globaler humaner Lösungen.

Damit Kurt Tucholsky nicht recht behält, der in den 20er Jahren argwöhnte: “Europa? Ein Vaterlandskomplex mit Ladehemmungen.”

Anmerkungen

1) Die NATO in den 90er Jahren. Ein Sonderbericht des Ausschusses der Nordatlantischen Versammlung, Brüssel 1988, S.7 Zurück

2) So die in sich nicht widerspruchfreie, aber den »main stream« der Diskussion in den USA repräsentierende Studie Discriminate Deterrence. Report of The Commission on Integrated Long-Term Strategy, U.S. Government Printing Office, Washington D.C. 1988 Zurück

3) Vgl. Plattform der Europäischen Sicherheitsinteressen, in: Europa-Archiv 22/1987, S.D613-D616, hier S.D613 Zurück

4) Vgl. Oldag, Andreas, Allianzpolitische Konflikte in der NATO. Die sicherheitspolitischen Interessen der USA und Westeuropas, Baden-Baden 1985 Zurück

5) Weidenfeld, Werner, Bilanz der Europäischen Integration, in: ders./Wessels, Wolfgang, Jahrburch der Europäischen Integration 1981, Bonn 1982, S.26 Zurück

6) Vgl. »Feierliche Deklaration zur Europäischen Union«, in: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Europäische Politische Zusammenarbeit. Dokumentation, S.352-364, hier S.362 Zurück

7) Vgl. Einheitliche Europäische Akte, in: Europa-Archiv 6/1986, S.D163-186, hier S.D176-D178. Zurück

8) Rede des amtierenden Vorsitzenden des Ministerrates der WEU, Außenminister H.-D. Genscher, vor der Versammlung der WEU in Rom am 29.10.1984, zit. n. Europa Archiv 24/1984, S.D 708-710, hier S.D 709 Zurück

9) Vgl. »Erklärung von Rom«, in: Europa-Archiv 24/1984, S.D 705-707 Zurück

10) Vgl. Plattform …, a.a.O. Zurück

11) Vgl. Hintermann, Eric, European Defence: a Role for WEU, in: European Affairs 3/88, S.31-38 Zurück

12) Vgl. Statz, Albert, Eine Achse der Aufrüstung? Militärzwillinge Bundesrepublik/Frankreich, hrsg. von: Die GRÜNEN im Bundestag, Bonn 1988; Yost, David S., Franco-German Defense Cooperation, in: The Washington Quarterly 1/1988, S.173-195; Kaiser, Karl/Lellouche, Pierre (Hrsg.), Deutsch-französische Sicherheitspolitik. Auf dem Wege zu mehr Gemeinsamkeit?, Bonn 1986 Zurück

13) Vgl. Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Versammlung der Westeuropäischen Union, BT-Drs. 11/1546 Zurück

14) Vgl. Kennedy, Paul M., The Rise and Fall of Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987; Calleo, David, Beyond American Hegemony: The Future of the Western Alliance, New York 1987 Zurück

15) Vgl. Brzezinski, Zbignew, America's New Geostrategy, in: Foreign Affairs, Spring 1988, Vol. 66, S.680-699; Discriminate Deterrence …, a.a.O., S.5-12; Tonelson, Alan, The Real National Interest, in: Foreign Policy No. 65, Winter 1985/86, S.49-68; Zurück

16) Vgl. Gray, Collin S., NATO: Time to Call it a Day?, in: National Interest No.10, Winter 1987/88; Calleo, David P., NATO's Middle Course, in: Foreign Policy No. 69, Winter 1986/87, S.135-147 Zurück

17) Discriminate Deterrence …, a.a.O., S.33 Zurück

18) Vgl. Haftendorn, Helga, Transatlantische Dissonanzen. Der Bericht über »Selektive Abschreckung« und die Strategiediskussion in den USA, in: Europa-Archiv 8/1988, S.213-222; Howard, Michael/ Kaiser, Karl/de Rose, Francois, Differenzierte Abschreckung, in: Europa-Archiv 5/1988, S.129-131 Zurück

19) Vgl. ebd.; Schülert, Irene, Die Entwicklung der NATO-Strategie – auf dem Weg in die Kriegsführungsfähigkeit?, in: Heisenberg, Wolfgang/Lutz, Dieter S. (Hrsg.), Sicherheitspolitik kontrovers. Auf dem Weg in die neunziger Jahre, Baden-Baden 1987, S.260-270 Zurück

20) Vgl. Hunter, Robert E., Will the United States remain a European power?, in: Survival 3/1988, S.210-231 Zurück

21) Vgl.Brock, Lothar/Jopp, Mathias/Ropers, Norbert/Schlotter, Peter, France, Grat Britain and West Germany: Dissenting Promoters of Security in Western Europe, PRIF Reports No.4., Frankfurt a.M. 1989 Zurück

22) Hacke, Christian, Weltmacht wider Willen: die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988, S.467. Den “neuen Größenwahn” (Arnulf Baring) dieses Weltmachtanspruchs verdeutlicht die Entlehnung des Titels bei Ernst Fraenkel (USA. Weltmacht wider Willen, Berlin/West 1957). Zurück

23) Vgl. Schwarz, Hans-Peter, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985, S.141. Zurück

24) Bertram, Christoph, Aufgaben und Perspektiven der Sicherheitspolitik Westeuropas in den neunziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18/1988, S.3-11, hier S.7.Vgl. auch ders., Sicherheitspolitische Perspektiven für Westeuropa, in: Genscher, Hans-Dietrich (Hrsg.), nach vorn gedacht. Perspektiven deutscher Außenpolitik, Bonn 1987, S.91-111 Zurück

25) Vgl. Luard, Evan, A European Foreign Policy?, in:International Affairs 4/1986, S. 573-582 Zurück

26) Senghaas, Dieter, Die Zukunft Europas. Probleme der Friedensgestaltung, Frankfurt/M. 1986, S. 97 Zurück

27) Vgl. Weidenfeld, Werner, 30 Jahre EG. Bilanz der Europäischen Integration, Bonn 1987 Zurück

28) Vgl. Rummel, Reinhardt, Zusammengesetzte Außenpolitik, Westeuropa als internationaler Akteur, Kehl a.Rh., Straßburg 1982 Zurück

29) Zitiert nach: Assembly of the Western European Union, Document 1140, S. 7-10 Zurück

30) Siehe z. B. den Redebeitrag des Präsidenten der Versammlung der WEU, Charles Goerens, anläßlich einer Tagung der Versammlung in Florenz vom 21.-23. März 1989 über das Thema: ”Die Zukunft der Europäischen Sicherheit”, Assembly of Western European Union, General Affairs Committee, Paris, 1989, S. 12 Zurück

31) Zitiert aus NATO-Brief. Nr. 5, 1987, S. 20 Zurück

32) Willem F. Van Eekelen, Die Eurogroup und der Amerikanisch-Europäische Dialog, in; NATO-Brief, Nr. 4, 1988, S. 11 Zurück

33) Vgl. Eduardo Serra Rexach, Die unabhängige Europäische Programmgruppe auf dem richtigen Weg, in: NATO- Brief, Vol. 34, Nr. 5, 1986, S. 27 Zurück

34) In der Bundesrepublik ist dies der jeweilige HauptAbteilungsleiter Rüstung im BMVg Zurück

35) Der Tindemans- Bericht über die Europäische Union, in: Europa-Archiv, 31. Jg., Nr. 3, 1976, S. D64 Zurück

36) Londoner Bericht, in: Europa Archiv, 37. Jg. Nr. 2, 1982, S. D46 Zurück

37) Feierliche Deklaration zur Europäischen Union vom 21.6.1983, Bulletin 65, S. 602 Zurück

38) Vgl. Hans-Gert Pöttering, Vom Protest zum gemeinsamen Konzept. Sicherheits- und Abrüstungspolitik in der der EG, in: Das Parlament, Nr. 3, 13.1.1989, S. 8 Zurück

39) Zitiert in: Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft und Dokumentation, Sicherheit und Rüstung: Die Rolle des Europäischen Parlaments in Verbindung mit der Arbeit der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, Reihe Politik, Nr. 9, März 1985, mimeo, S. 2 Zurück

40) Vgl. EP-Sitzungsdokument 1978/79, Dok. 83/78 Zurück

41) Zitiert nach der Unterrichtung des Bundestages, Bundestagsdrucksache 11/4339, S. 6 Zurück

42) David Greenwood, Report on a Policy for Promoting Defence and Technological Cooperation among West European Countries for the Commission of the European Communities, mimeo, o. O., 1980 Zurück

43) Vgl. Jonathan Braude, EEC seeks to create single European Market, in: Jane's Defence Weekly, 28 May 19, 1988, S. 1044 Zurück

44)in Albert Statz, Militärzwillinge Bundesrepublik/Frankreich. Eine Achse der Aufrüstung?, Bonn 1988 Zurück

45) Dregger, Alfred, Europäische Sicherheitsunion, in: Europäische Wehrkunde 1/1989, S. 5 Zurück

46) Vgl. etwa die Vorstellungen bei David Greenwood, Errichtung der europäischen Säule: Fragen und Institutionen, in: NATO-Brief, Vol. 36, No. 3, 1988, S. 19 Zurück

47) Vgl. Peter Runge, Rüstungszusammenarbeit, Anspruch und Wirklichkeit, in: Wehrtechnik, No. 4, April 1988, S. 20 Zurück

48) Errechnet für Stand 31.8.1987, nach Wehrtechnik, Nr. 4, April 1988, S. 27 Zurück

49) Vgl. z. B. M. Brzoska, P. Lock und H. Wulf, Rüstungsproduktion in Westeuropa, Hamburg 1980 und Wulf, Herbert, Europäische Zusammenarbeit in der Rüstungsproduktion, in: Lothar Brock und Mathias Jopp (Hrsg.), Sicherheitspolitische Zusammenarbeit und Kooperation in der Rüstungswirtschaft in Westeuropa, Baden-Baden 1986 Zurück

50) Vgl. Runge, S. 26 Zurück

51) Vgl etwa Greenwood, S. 19 Zurück

52) Tebbe, Wolfgang, Internationale Rüstungskooperation, in: Wehrtechnik, April 1988, S. 30 Zurück

53) Towards a Stronger Europe, A Report by an Independent Study Team Established by Defence Ministers of Nations fo the Independent European Programme Group to Make Proposals to Improve the Competitiveness of Europe's Defence Equipment Industry, mimeo, Brüssel 1987 Zurück

54) Vgl. Kommunique der Minstertagung der IEPG in Luxemburg, Material für die Presse, herausgegeben vom BMVg, Bonn 18.11.1988 Zurück

55) Lothar Weber, Eine Wende des Denkens? Europäischer Rüstungsmarkt, in: Europäische Wehrkunde/WWR, Nr, 7, 1988, S. 399 Zurück

56) Wehrtechnik, Nr. 8, August 1988, S. 43 Zurück

57) Vgl. etwa U.S. Welcomes Changes in Europe, but fears of trade barriers lingers, in: Aviation Week und Space Technology, June 12, 1989, S. 127-137 (die gesamte Nummer der Zeitschrift ist dem Thema Binnenmarkt gewidmet) Zurück

58) Ein gewisse Ausnahme ist Großbritannien. Hier wird seit Anfang der 80er Jahre verstärkt auf Wettbewerb bei der Rüstungbeschaffung gesetzt, was bei der Rüstungsindustrie durchaus auf starke Kritik stöpßt. Siehe etwa Hall, S. 58 Zurück

59) Vgl. Greenwood S. 19 Zurück

Corinna Hauswedell ist Vorsitzende der IWIF, Bonn, Michael Broskza und Klaus Peter Weiner arbeiten als Friedensforscher und Politikwissenschaftler in Heidelberg bzw. Marburg

Die Macht- und Militärpolitik der Bundesrepublik

Die Macht- und Militärpolitik der Bundesrepublik

von Detlef Bald

Herausgegeben von W&F in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V.

Der Paradigmenwechsel von der Verteidigung zur Intervention

Fünfzig Jahre Bundeswehr – das Jubiläum wurde im Jahr 2005 mit großem öffentlichen Gepränge gefeiert. Das parteiübergreifende Wort von der »Erfolgsgeschichte einer Armee in der Demokratie« überstrahlte gleichermaßen die staatlichen und parlamentarischen Repräsentanten beim morgendlichen ökumenischen Festgottesdienst im Berliner Dom wie beim Großen Zapfenstreich im abendlichen Dunkel vor dem Reichstag.1 Diese Feiern rahmten den Reigen der monatelangen Festveranstaltungen ein, deuteten das Selbstbewusstsein der öffentlichen Anerkennung und zollten, wie es allenthalben lautete, der »Armee im Einsatz« den gehörigen Respekt. Dabei wird kaum wahrgenommen, dass der in den Scheinwerfern der Medien glänzende Pomp der aktuellen Feierlichkeiten durch polizeiliche weiträumige Absperrungen unter Ausschluss der Bevölkerung in Szene gesetzt und somit eine eigenartige Akzeptanz des Militärs behauptet, aber als Distanz offenkundig wird. Ein Blick auf das Gründungsjahr 1955 zeigt, dass damals nahezu zwei Drittel der Bevölkerung ihre Aufstellung ablehnten und dass „selbst die Mehrheit derer, die meinen, Deutschland brauche eine Armee, …keine ausgesprochenen Freunde des Militärs“2 waren. Konrad Adenauer war entsetzt über den verbreiteten Widerstand, der sich in dem Slogan äußerte: „Nie wieder deutsche Soldaten!“, volkstümlich auch verstanden als: »Militär bedeutet Krieg«. Die Erinnerung daran war noch wach: „Krieg gehört für die meisten zum Furchtbarsten, was sie sich vorstellen können, sowohl für ihr eigenes Leben als auch für Deutschland.“3 Aus friedenswissenschaftlicher Sicht wird darauf im Jubiläumsjahr Bezug genommen. Da heißt es: „Grundsätzliche Kritik tut Not, und die politische Analyse aus antimilitaristischer Perspektive muss den historischen Rückblick einschließen. Was sich zeigt, sind Kontinuitäten deutscher militaristischer Politik und ihrer Umsetzung durch das Militär.“4 Solche harschen Worte geben aber ein Bild der Bundeswehr der Gegenwart ab, das augenscheinlich in der offiziell reklamierten »Erfolgsgeschichte« einer demokratischen Armee kaum vorkommt. Diese widersprüchlichen Einschätzungen lassen sich am besten beurteilen, wenn die bestimmenden Faktoren der Militärpolitik und -geschichte der Bonner Republik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kategorial und komparativ analysiert werden.

Das Paradigma des Kalten Krieges

Das internationale System

Das Jahr 1945 bietet für das deutsche Militär im Unterschied zu anderen staatlichen Institutionen am ehesten die Voraussetzungen der »Stunde Null«. Nach der Kapitulation im Mai 1945 löste der Alliierte Kontrollrat im Vollzug der Potsdamer Beschlüsse am 2. August 1945 alle Einrichtungen der Wehrmacht – »völlig und endgültig« – auf, damit der »Hort des Militarismus« ein für alle Male ausgelöscht werde. Es handelte sich um eine Entscheidung ex negativo. Die Alliierten wollten verhindern, dass deutsche Machtpotentiale, die ein Jahrhundert lang mit expansiven Strategien die Nachbarn bedrohten, erneut den Frieden gefährdeten.5

Die »Stunde Null« verlangte nach der Demilitarisierung auf Dauer die Abkehr von jeder Übersteigerung des Militärischen nach innen und außen, nicht aber den Verzicht auf Militär. Die Alliierten gestanden daher den Deutschen wohl Militär zu, mochten ihnen aber nicht die Verfügungsgewalt über diese Streitkräfte übertragen. Sie wurden von außen domestiziert. Hier gab es den ersten Bruch mit nationalstaatlichen Traditionen: die Bundeswehr wurde international vollständig integriert entworfen. Die Kompetenzen der deutschen, der politischen und militärischen Leitung waren strukturell gewissermaßen amputiert. Im Ernstfall hätten Bundeskanzler wie Generalinspekteur praktisch nicht über direkte Einsätze deutscher Verbände entscheiden können. Die Konstellation der Nachkriegszeit war ausschlaggebend für Existenz und Entwicklung der Bonner Republik und nota bene für ihr Machtmittel, die Bundeswehr. Die Alliierten des Krieges, an ihrer Spitze im Westen die USA (und im Osten die Sowjetunion), beherrschten die besatzungsrechtliche Ordnung in Deutschland. Die Bundesrepublik übernahm viele Vorbehaltsrechte des Besatzungsstatuts und legitimierte im Mai 1955 im völkerrechtlichen Werk der Pariser und Bonner Verträge diese alliierte Suprematie für die weitere Zukunft. Was in Potsdam 1945 von den Alliierten als einseitiges Diktat verabredet worden war, fand so in angepasster Form und in ausdrücklichem »Einverständnis« (Generalvertrag) der Deutschen seine Gültigkeit bis 1990.

Im Generalvertrag übertrugen die Alliierten den Deutschen die „volle Macht eines souveränen Staates«, also keineswegs die volle Souveränität, sondern wie es im englischen Text hieß, die „full authority«. Zugleich sicherten sie sich Vorbehaltsrechte und schränkten kaum verbrämt – aber deutlich – die Souveränität der Bonner Republik ein, um „die von den Drei Mächten bisher ausgeübten und innegehabten und weiterhin beizubehaltenden Rechte“ für das eigene Militär auf deutschem Boden geltend zu machen.6 Ihre Suprematie setzte den Rahmen für die Bundeswehr. Seit 1955 gab es die doppelte Signatur alliierter Truppen: einerseits die unter NATO-Befehl und andererseits die unter nationalem Befehl stehenden Einheiten. Die »nationalen« Verbände der USA, Großbritanniens und Frankreichs (und im Osten die sowjetischen auf dem Boden der DDR) hatten einen grundsätzlich anderen Status, mit eigenen, im Truppenvertrag, in Protokollen und Noten verbrieften Rechten und Befugnissen.7 Diese »alliierte« Signatur bedeutete eine gespaltene Machthierarchie in Deutschland, hier also: die der ehemaligen Besatzungsmächte über die deutsche Politik bzw. gegenüber einem Regierungshandeln, das nach Souveränität strebte. Im Westen hatten die Drei diese höchste Kompetenz, im Osten allein die Sowjetunion, aber alle Vier behielten Potsdamer Reservatsrechte für Deutschland als Ganzes bis 1990. Machtpolitisch kann in dieser Struktur der Suprematie der höchste Ausdruck der »Eindämmung« deutscher Hoheitsgewalt gesehen werden.8

Für die Bonner Republik ergab sich das Dilemma, immer wieder an die Grenzen der Unabhängigkeit zu stoßen. Im politischen Alltagsgeschäft traf es besonders das Kanzleramt, das Außenministerium sowie das Verteidigungsministerium. Aber auch das Innenministerium war wegen der Kompetenz der Krisen- und Notstandsplanung, die bis 1968 in den Händen der Alliierten lag, davon betroffen.9 In Berlin wurde die »nationale« Befugnis der Alliierten am deutlichsten, da in den Regelungen des Jahres 1955 die Stadt weiterhin den Status eines Besatzungsgebietes behielt. Nach dieser Völkerrechts- und Verfassungslage hatte die Bundeswehr mit der Verteidigung Berlins nichts zu tun. Da galten alliierte Kompetenzen.

Die internationale Kontrolle und Eindämmung

Das Vertragssystem der NATO und WEU, das die Kontexte und Bedingtheiten für die Bundeswehr vorgab, kann als eine Art Staatsräson bezeichnet werden. Insofern könnte man die ambivalenten Verhältnisse dieser historischen Phase der deutschen Militärgeschichte nach 1950 in Anlehnung an zeitgenössische Sprachstile als »embedded history« bezeichnen.10 Die Auswirkungen waren weitreichend. Die Bundeswehr wurde in ein komplexes internationales Kontrollregime eingebunden, das seit den fünfziger Jahren alle Materialien, Waffenbestände und Kasernenanlagen durch Vor-Ort-Inspektionen quantitativ überprüfte. Der Westen suchte Planungssicherheit vor den Deutschen, um mit den Deutschen die Stabilität des Kalten Krieges in Europa zu gewährleisten.

Die »Eindämmung« wurde auch militär- und sicherheitspolitisch – also die qualitative Seite militärischer Potentiale – von den Amerikanern strikt umgesetzt. Nach den abschließenden Verhandlungen über den Beitritt der Deutschen zum Bündnis im Oktober 1954 wurde die nur wenige Jahre zuvor errichtete Organisationsstruktur der NATO umgemodelt und festgelegt, dass nahezu alle wichtigen Daten über operative Konzepte, Einsatzplanungen usw. der anglo-amerikanischen Verfügungsgewalt – das Paradebeispiel der Aktenklassifizierung: »for American eyes only« -vorbehalten blieben. In der internationalen Stabsarbeit war so z.B. für deutsche Offiziere der Tatbestand der informatorischen Diskriminierung gegeben; wichtige Befehlsstränge wurden entsprechend konzipiert. Das wog um so schwerer, als eigenständige Stabsorganisationen (»Generalstab«) zur Planung militärischer Einsätze den Deutschen verwehrt waren. Auch im Bündnis behielten die USA das Sagen. Nur auf der nachgeordneten Leitungsebene taktischer Umsetzung gab es die Befugnis, nach den jeweils gültigen Doktrinen und vorgegeben Direktiven die Befehle für den Ernstfall vorzubereiten. Es brauchte lange Jahre, bevor aus partnerschaftlicher Kooperation Vertrauenswürdigkeit und Anerkennung entstand oder erst nach zähen Verhandlungen eine andere Mitwirkung erreicht wurde. Asymmetrische Verhältnisse innerhalb des westlichen Bündnisses kennzeichnen also in den ersten Jahrzehnten den Status der Bundeswehr.

Kontinuität zum Zweiten Weltkrieg existierte im militärstrategischen Ansatz der USA und ihrer Militärdoktrin. Die erste globale Nuklearstrategie der »massiven Vergeltung« war ganz im Geiste des Zweiten Weltkriegs entworfen. Die damaligen extremen, mit moderner Technologie organisierten Zerstörungen und die Vernichtungsoperationen wurden noch »optimiert«. Es erfolgte eine Diversifizierung des militärischen Denkens. Stalingrad, Tokio oder Dresden sowie Hiroshima und Nagasaki mochten Metaphern der Barbarei und der Vernichtung sein – Überschreitungen moralischer und völkerrechtlicher Grenzen, aber für die militärischen Experten wurden sie nach dem Krieg Beispiele künftiger und global berechenbarer Kriegführung.11 Dabei wurden die Doktrinen und Operationen der Wehrmacht wieder hoffähig, da ihre Effizienz gegen die Rote Armee – nun im Kalten Krieg – attraktiv erschien. In akribischer Arbeit hatten deutsche Stabsoffiziere die Erfahrungen des »Ostfeldzuges« für die USA aufbereitet.12 Die Kooperation funktionierte. Die konventionelle Kriegführung wurde modernisiert, allerdings der Einsatz von Atomwaffen systematisch integriert. Die USA benötigten nur wenig Zeit, diesen »revolutionären Wandel in der militärischen Denkart« konzeptionell aufzugreifen; schon 1947 waren die Weichen für die entsprechende Rüstungspolitik, Taktik und Strategie des Kalten Krieges gestellt.13 Die Auswirkungen via NATO für die Bundeswehr kamen schnell und massiv.

Diese Ordnung des Anfangs war der Bonner Regierung vorgegeben. Westbindung bedeutete Wertebindung, Freiheit bedingte Machtbindung. Kanzler Adenauer koppelte den Akt der Staatswerdung an die Aufstellung des Militärs. Die Wiederaufrüstung war für ihn die Voraussetzung zur Erlangung der Souveränität.14 Adenauer hatte sein Handeln von Beginn an darauf gerichtet, die Demilitarisierung umzukehren und zu einer Remilitarisierung zu gelangen. Wenigen ist aufgefallen, dass er z.B. schon „1947 das Instrument der Armee als ein wesentliches Element staatlicher Souveränität betrachtete.“15 Die Absicht des Kanzlers, seine Vorstellung vom »Wesen eines Staates« umzusetzen und eigenständig von der »Wehrhoheit« Gebrauch zu machen, konnte unter den gegebenen Umständen keinen vollen Erfolg haben.16 Die Einsicht, ein Staat gelte sonst eben nichts, führte deshalb zu vielfältigen Aktivitäten mit der Devise »Wandel durch Integration«, um die militärischen Fesseln abzuschütteln bzw. den politischen Spielraum zu erweitern. Schon 1950 war der erste Etappenerfolg zu verzeichnen. Die Alliierten akzeptierten, dass das Kanzleramt eine Geheimplanung zur Aufrüstung in Auftrag gab. Im Oktober 1950 wurde die Himmeroder Denkschrift fertiggestellt.17 Doch der Gleichklang der Interessen von Washington und Bonn brauchte seine Zeit, die neue Gestalt des Militärs in der Ära Adenauer entstehen zu lassen.

Die ehemaligen Generale und Admirale der Wehrmacht, die in Himmerod die militärische Zukunft entwarfen, hatten ganz das Ideal einer »neuen Wehrmacht«, wie sie die spätere Bundeswehr nannten, vor Augen. Nach dem Muster der Vernichtungsdoktrin des »Totalen Krieges« im Osten kam eine »Worst-Case«-Verteidigung zustande, welche die operativen Maximen des Generalstabs der Wehrmacht in das Panorama des Kalten Krieges stellte und eine europaweite „Gesamtverteidigung von den Dardanellen bis nach Skandinavien“ ins Visier nahm. Eine echte Massenarmee vom Typ mobiles und motorisiertes Expeditionsheer sollte „von vornherein offensiv“ und im Hinterland des Gegners mit Atombomben vorgehen können.18 Das war die Quintessenz dessen, was in der Folgezeit »Vorwärtsverteidigung« genannt wurde und im Einklang mit der massiven Vergeltung (massive retaliation) stand. Insofern war es für Kanzleramt und militärische Führung nur plausibel, für die deutschen Formationen Atomwaffen anzustreben. Die nukleare Einsatzbefugnis, gewissermaßen der zweite Schlüssel zur Freigabe im Ernstfall, blieb in amerikanischer »nationaler« Hand.

Mehr als ein Jahrzehnt lang litten die deutsch-amerikanischen Beziehungen darunter, dass im Rahmen der Integration ins Bündnis die Bonner Politik versuchte, an den Stellschrauben des Atomwaffeneinsatzes zu drehen. Das Zugriffsrecht wurde den Deutschen verweigert. Der Höhepunkt der Friktionen kam aus dem Bonner Drängen, den Wandel der Strategie hin zur »flexiblen Reaktion« zu verhindern. Diese Entwicklung leiteten die USA ein, weil nach dem Sputnik-Schock 1957 deutlich wurde, dass es für sie ein »Fenster der Verwundbarkeit« durch sowjetische Atomwaffen gab. Helfen sollte die Option der politischen Deeskalation von Krisen und Konflikten. Für die Bundeswehr hieß dies: Atombomben, auch die für die Artillerie des Heeres, sollten nicht mehr massiv sondern selektiver und flexibler die Verteidigung absichern. Bonn aber suchte an den alten Verhältnissen festzuhalten. Daher kam es während der Berlinkrise 1961 zu einer scharfen Zuspitzung, als die politisch Verantwortlichen, Kanzler Adenauer, Minister Strauß sowie die militärische Führung, u.a. auch der Vertreter bei der NATO, Generalmajor Johannes Steinhoff, in Washington wiederholt intervenierten. Sie forderten, nach der alten Doktrin massiv vorzugehen, auch deutsche Divisionen einzusetzen oder gegebenenfalls eine Atomwaffe als Warnsignal »against no target« über der Ostsee oder einem Truppenübungsplatz in der DDR zur Explosion zu bringen. Ende November noch betonte Strauß in den USA, die Deutschen bestünden auf mehr Mitsprache beim Einsatz der Atomwaffen. Dieses Vorgehen rechtfertigten beteiligte deutsche Diplomaten später auf Anfrage, sie hätten in Washington „nicht den Verdacht bestärken dürfen, dass sie risikoscheu“ seien.19

Im Ergebnis folgte aus dem deutsch-amerikanischen Kompetenzgerangel, dass die USA (1.) die eindeutigen Zuständigkeiten, die ihnen als Alliierte zugesichert waren und besonders im Besatzungsstatut von (West-) Berlin zutage traten, nicht antasten ließen und dass sie (2.) ihre politischen Interessen, die deutschen militärischen Potentiale zu »zähmen«, strikt weiter verfolgten. Die Berlin-Krise war die Lehrstunde, sich weiter in die Sicherheitsarchitektur des Westens einzupassen. Deutsche Bemühungen, diese Grenzen aufzuweichen oder zu verschieben, wurden schlussendlich in die Schranken gewiesen. Latente Widerstandskräfte erlahmten schließlich. Natürlich gab es gewisse pragmatische Verbesserungen hier und dort. Der Harmel-Bericht von 1967, militärische Macht und »Entspannung«, nach amerikanischem Verständnis also vor allem (nur) die politische Deeskalation von Krisen, mit einander zu verbinden, wies die Richtung. Das Paradigma der Bonner Sicherheitspolitik war neben »Potsdam« eben auch durch den Antagonismus des Kalten Krieges justiert – und allein von Bonn aus nicht auflösbar.

Das Dilemma der Atombewaffnung

Nicht erst 1961, in der historischen Situation der Berlin-Krise, wurde das Dilemma einer nuklear integrierten Verteidigung in Deutschland offenbar, im Ernstfall das zu vernichten, was als Ziel jeglicher Verteidigung zu erhalten galt. Die mögliche Weggabelung wurde nicht genutzt oder, wenn es eine Politikalternative denn wirklich gegeben hat, vertan. Jedenfalls hatten grundsätzlich andere Optionen der Verteidigung mit Adenauer keine Chancen. Daher wurden alternative konventionelle, defensiv orientierte oder durch Milizkomponenten bestimmte Konzepte seit 1950 verworfen und ihre Vertreter zuletzt 1955 – nur Graf Schwerin und Bogislaw von Bonin seien namentlich erwähnt20 – aus dem Personalstamm der Bundeswehr entfernt. Seitdem war die Hoffnung auf nukleare Stabilität die eigentliche Garantie der Sicherheit. Sicherheit durch Atomwaffen hing von der mit dieser Doktrin verbundenen, aber immer unkalkulierbaren Glaubwürdigkeit der Abschreckung ab. Das Sicherheitsdilemma Deutschlands blieb bestehen, auch wenn eine militärische Ratio forderte, die Atomwaffen nur »vernünftig« und nur dann einzusetzen, „wenn andere Mittel zum Erreichen des taktischen Zieles nicht ausreichen.“ Von dieser Position aus kritisierte Generalinspekteur Ulrich de Maizière „den geplanten großzügigen, fast unbekümmerten Einsatz atomarer Gefechtsfeldwaffen im jeweiligen Verteidigungsraum.“21 Im Durchschnitt der Jahre war die Bundeswehr mit 4.000 Atombomben ausgestattet, 1992 betrug ihre Anzahl noch 2.500.

Obwohl allgemein zugängliche wissenschaftliche Analysen schon 1971 erkannten, dass bei einem auch nur geringen Einsatz dieser Waffen ein zivilisiertes Überleben in Mitteleuropa für Jahrhunderte nicht mehr möglich wäre, gab es keine Wende in der Atombewaffnung.22 Die Kategorien des integrierten Atomwaffeneinsatzes blieben im Ernstfall gültige Maxime der Verteidigung. Die Tatsache, dass die Atomwaffen das vernichteten, was es zu verteidigen gilt, und dass Deutschland daher in einem flächendeckenden Atomkrieg nicht verteidigungsfähig ist, setzte sich in der Führung der Bundeswehr nicht durch. Sie suchte dem Dilemma zu entgehen, indem sie auf dem Automatismus des eskalatorischen Verbunds der Atomstrategie bestand. Es gab kein Entkommen aus der Falle der Rüstungsspirale der Abschreckung mit der gespaltenen Sicherheit, bei der Fiktion und Realität so nah bei einander lagen. Die Kontinuität ist unübersehbar. Der Denkhorizont des »Totalen Krieges«, der der Generalstabsschule der Weltkriege entstammte, begleitete die Modernisierung der Rüstung und die militärischen Doktrinen bis zum Ende des Kalten Krieges.

Die Bildung eines genuin militärischen Milieus

Das Paradigma der Militärgeschichte des Kalten Krieges hat noch seine innenpolitischen Flanken. Der Primat der demokratischen Politik und die zivil-militärischen Beziehungen sind vor dem Hintergrund der deutschen Militärgeschichte zwei wichtige Aspekte des »Militarismus der neueren Geschichte«, nämlich als Verfassungsproblem und als „Belastung des sozialen Lebens.“23 Die Einbindung des Militärs in das parlamentarische Regierungssystem erfolgte in der »Wehrgesetzgebung« von 1954 bis 1957. Gerade diese formale institutionelle Verankerungen im System der Bundesorgane spiegelt tatsächlich diesen Neuanfang als Lehre aus der Geschichte wider. Die Erfahrungen der Weimarer Republik, als die Reichswehr sich eine weitgehende Eigenständigkeit – »Staat im Staate« – reservieren konnte, und der Militarismus im Kaiserreich sowie im NS-Regime begründeten die strikte Geltung des Grundgesetzes und der politischen Verantwortung. Jede, auch nur symbolische persönliche Zuordnung (via Kaiser oder Führer) wurde gegenüber sachlichem Verwaltungshandeln und rechtsstaatlicher Bindung aufgegeben. Die radikalen Einschnitte trennten das Neue scharf vom Alten. Das Prinzip einer »legislatorisch gesteuerten Verwaltung«, um die Willensbildung des Parlaments dauerhaft umzusetzen, konnte nach schwierigen Phasen der Umsetzung Erfolge zeitigen, da eine zivile, mit Juristen besetzte Verwaltung die formalen Vorgaben schließlich umsetzte.24

Der Primat staatlicher Einbindung fand im Militär leichter Akzeptanz als die parlamentarischen Zuständigkeiten. Die formale Zuordnung wurde in den fünfziger und sechziger Jahren nur bedingt angenommen. Denn die junge Republik zeigte ein anderes Selbstverständnis. In traditionalistisch obrigkeitlicher Manier nahm das Militär einen Sonderstatus ein. Wie wäre es sonst zu verstehen, dass Regierung und Bundestag die Kompetenzen nach der Verfassung wenig und erst allmählich Stück für Stück wahrzunehmen bereit waren. Das betraf sowohl das Budgetrecht, das Recht auf Auskunft im Bundestagsausschuss oder die Respektierung des Wehrbeauftragten. Dieser Neuanfang wirkte mittelfristig lähmend, da auch Minister, z.B. Strauß, ihre Distanz zur parlamentarischen Kontrolle nicht verbargen und offen als zivile Einmischung desavouierten.25 Bis zu Beginn der siebziger Jahre forderten Vertreter der Militärelite entsprechende Änderungen des Grundgesetzes, wie eine im Einzelnen wechselvolle Militärgeschichte zeigt.

Die »Belastung des sozialen Lebens« als letzter Faktor des Paradigmas der Militärgeschichte nach 1945 stand von Anfang an unter öffentlichen Erwartungen und internationalem Druck. Die Abkehr von militaristischen Traditionen und Kontinuitäten sowie die Absage an das genuin militärische Milieu der sozialen Abkapselung und an antiparlamentarische Haltungen schien daher klar. In Widerspruch dazu hielten wichtige Repräsentanten der ehemaligen Wehrmacht das traditionalistische Selbstverständnis eines Militärs »sui generis« hoch. Hinter diesem Begriff verbirgt sich das Streben nach einer traditionalistischen sozialen und normativen Sonderstellung gegenüber Staat und Gesellschaft. Diese Welt des Primats des Militärischen stand am Anfang der Bundeswehr und wies der praktischen Politik im Amt Blank und beim Aufbau nach 1955 die Richtung. Schon die Himmeroder Denkschrift von 1950, die »Magna Charta« einer »neuen Wehrmacht«, dokumentiert diese Tendenzen einer politisch sauberen Vergangenheit im Nationalsozialismus und »zeitlos« gültiger militärischer Traditionen. Die Vergangenheit wurde entsorgt. Neben der Militärstruktur und den operativen Maximen (wie oben dargelegt) folgte auch die normative Fixierung der Bundeswehr dem Soldatenbild einer idealisierten Vergangenheit. Es wurden Traditionslinien aufgemacht, die die Grundwerte der Bonner Verfassung konterkarierten. Rückblickend wird dies gerne als »Gründungskompromiss« beschworen, was die Verhältnisse verfälscht und eine Gründungslegende des demokratischen Neuanfangs aufpoliert.

Der in diesem Dokument von Himmerod vorhandene Reformansatz von Wolf Graf von Baudissin orientierte sich an den rechtsstaatlichen, freiheitlichen und pluralistischen Werten des Grundgesetzes. Doch Baudissin konnte nur isolierte, marginale und unsystematische Einsprengsel einfügen.26 Die Geschichte der »Inneren Führung« ist daher im Anfang eine Geschichte des Defizits. Die Politik für den inneren Aufbau der Bundeswehr folgte also zunächst restaurativen und sogar reaktionären Leitbildern. Die Folgen für Norm und Realität waren verheerend. Als 1966 die Gewerkschaften erstmals in Kasernen werben durften, traten Generalinspekteur Heinz Trettner und mehrere Generäle aus Protest zurück; als der Inspekteur der Luftwaffe Johannes Steinhoff 1968 die „zeitlose Gültigkeit“ des „vorbildlichen Führertums“ von Offizieren der Wehrmacht lobte,27 fand er nur Beifall; als im Frühjahr 1969 Generalmajor Hellmut Grashey den Offizieren des 20. Juli die Ehre absprach und pointiert feststellte, nun könne man „endlich“ die „Maske“ der „Inneren Führung“ ablegen, erfuhr er an der Führungsakademie Beifall; als etwa zur gleichen Zeit der Inspekteur des Heeres, Albert Schnez, eine von der obersten militärischen Führung gebilligte Studie vorlegte, die eine „Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach militärischem Vorbild einklagte, zeigte sich das Substrat des »Sui-generis«-Denkens in aller Klarheit. Ein Journalist bezeichnete die Manifestation des Ewig-Gestrigen mit den Worten: „Die Restaurateure bliesen zum letzten Gefecht.“28 Ein anderer fand die Bewertung: „Ins Kaiserreich ließe sich auch diese Bundeswehr hervorragend integrieren.“29 Dieses Urteil über zwanzig Jahre Militäraufbau in der Bonner Republik ist nicht einmal polemisch. Selbst alte Generäle waren zutiefst vom Zustand der Bundeswehr enttäuscht; die Nationalkonservativen Hans Speidel und Adolf Heusinger sowie der Reformer Graf Baudissin stimmten darin überein, dass die Reform des Militärs in der Bonner Republik „gescheitert“ sei.30

Die Ära Adenauer hat die weitere Entwicklung der Militärgeschichte beträchtlich belastet, da der Traditionalismus seit Himmerod mit antipluralistischen und geschichtsklitternden Parolen einen sanktionierten Status gefunden hat. So wurde die Opposition zur Militärreform in die Bundeswehr regelrecht eingebaut und der Konflikt zur Demokratisierung gemäß der »Wehrgesetzgebung« und dem entsprechenden Konzept der »Inneren Führung« installiert. Im Militär konnte die Gegenposition zur Reform Erfolg haben, da sie auch als Bestandteil einer dezidierten Vergangenheits- und Geschichtspolitik auf den Ebenen der Politik festzustellen ist.31 So bildeten sich zwei „Fronten, die sich in der einen oder anderen Form“ äußerten und auch politisch die Gestalt der Bundeswehr immer wieder zwiespältig kennzeichnete.32 Die legislatorisch gesteuerte Militärreform hatte über Jahre nur formale Relevanz, sie wurde lange nicht als legitimer Rahmen der Existenz des Militärs angenommen. Die immanenten Widersprüche waren auch für die Militärführung konstitutiv.33 Diese Problematik ist stark zu betonen, da die Geschichte der Bundeswehr nicht nur in der zweiten Reformphase zu Beginn der siebziger Jahre sondern bis in die Gegenwart (nach dem Umbruch 1990) von der Auseinandersetzung um diese beiden soldatischen Leitbilder bestimmt ist.

Der Paradigmenwechsel nach 1990

Die Machtgeometrie über den Atlantik beherrschte auch nach 1990 die Militärgeschichte. Die alliierten Rechte, wie sie in Potsdam 1945 formuliert worden waren, gestalteten den Übergang vom besatzungsrechtlich »penetrierten System« hin zur Souveränität des vereinten Deutschland.34 Keine originären Rechte fremder Herrschaft beschränkten die Souveränität und also die Hoheit über das Militär. Die Doktrin von der Bedrohung aus dem Osten, die wesentlich Legitimität und Identität der alten Bundeswehr geprägt hatte, verlor schließlich jegliche Bedeutung. Verteidigungsauftrag und gesellschaftlicher Konsens erkannten eine Friedensdividende: Frieden und Sicherheit im Haus Europa unter Einschluss Russlands. Die am 19. November 1990 unterzeichnete »Charta für ein neues Europa« signalisierte den epochalen Umbruch der Sicherheitsarchitektur. Deutschland war nur noch von Freunden umgeben.

Ein neues Kapitel der Militärgeschichte wurde aufgeschlagen. Am Tag nach der Einigung ertönte bei Kanzler Helmut Kohl ein bis dahin ungewohnter Klang staatlicher Politik. Im Bundestag erklang die Terminologie der »internationalen Verantwortung« und der »nationalen Interessen« dieses Landes. Publizistisch wurde Deutschland als europäische Macht mit Begriffen beschworen wie „Großmacht wider Willen«, »Zentralmacht Europas«.35 War es Versuchung oder Realismus, als US-Präsident George Bush den Deutschen eine „partnership in leadership“ anbot?

Die Instrumentalisierung der NATO

Die Parameter der neuen Sicherheitspolitik wurden auf der NATO-Tagung am 6. Juli 1990 sichtbar. In dieser Londoner Erklärung wurde der »Blick in ein neues Jahrhundert gerichtet«, für die das Bündnis die treibende Kraft des Wandels sein werde. Da die Sowjetunion nicht mehr das Feindbild darstelle, wurde die etablierte Militärkonzeption der Integration taktischer Nuklearwaffen aufgegeben. Die Prestigewaffen der Phase des Kalten Krieges, Tausende von Atombomben wurden bis 1995 aus den Beständen der Bundeswehr entfernt und zerstört. Das Gebiet Mitteleuropas, die höchst gerüstete Zone in der Welt, war unverhofft gewaltig demilitarisiert worden. Bis 1995 zogen etwa 900.000 ausländische Soldaten ab. Es handelte sich um alliierte und Bündnistruppen, darunter auf dem Gebiet der DDR 400.000 sowjetische Soldaten. Dann wurden infolge der Wiener Abrüstungsverträge von Bundeswehr und NVA Zehntausende schwerer Waffen (Panzer, Haubitzen usw.) verschrottet. Die deutschen Soldaten von nominell 495.000 plus 180.000, also 675.000 Personen (1990 war das Personal real 445.000 plus 90.000, also 535.000), wurden in Etappen von 370.000 auf 270.000 (2005) dezimiert. Die bis 1990 errichtete Militärstruktur wurde quantitativ beseitigt. Bezeichnende militärische »Fähigkeiten« waren über Nacht obsolet geworden.

Die NATO gab auch für die zweite Hauptphase der Geschichte der Bundeswehr den Rahmen vor. Den Wendepunkt markiert das am 8. November 1991 in Rom verabschiedete »Neue Strategische Konzept«. Darin wurde zunächst bekräftig, beim Aufbau einer dauerhaften Friedensordnung in Europa eine »Schlüsselrolle« spielen zu wollen. Dafür sei eine neuartige Form der Kooperation und der Integration Ost- und Mitteleuropas sowie ein weitreichender Umbau der Organisations- und Befehlsstruktur erforderlich. Der Stellenwert dieser Strategie, die anstelle der nuklearen Ausrichtung (der MC 14-Planungen) gegen die Warschauer-Vertrags-Staaten trat, wird erkennbar, weil in diesem von den Amerikanern vorgefertigten Militärkonzept der globale Interventionsanspruch – erstmals für die NATO – formuliert wurde: „Im Gegensatz zur Hauptbedrohung der Vergangenheit sind die beiden Sicherheitsrisiken der Allianz ihrer Natur nach vielgestaltig und kommen aus allen Richtungen, was dazu führt, dass sie schwer vorherzusehen und vielgestaltig sind.“36 Als »vitale Interessen« wurden ökonomischer Wohlstand und globale Rohstoffversorgung benannt, die »out of area«, d.h. außerhalb des gültigen NATO-Verteidigungsbereichs, gesichert werden müssten: „Die Sicherheit des Bündnisses muss jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken berührt werden…“37 Neben den lebenswichtigen Ressourcen wurden unter den globalen Risiken vor allem Terrorattacken aufgezählt. Mit diesem Dokument bereiteten die USA die Plattform, mit militärischem Denken ihre Fähigkeit als Siegermacht des Kalten Krieges im Verbund mit den NATO-Partnern weltweit einzusetzen.38

Die römischen Beschlüsse der NATO hatten für die Bundeswehr noch weitere Auswirkungen. Im Blick auf gesicherte Kontrolle bzw. erwünschte Kalkulierbarkeit deutscher Militärverbände wurde, um zugleich auf die nach 1990 gegebene deutsche Souveränität Rücksicht zu nehmen, eine Lösung gefunden. Im Prozess der Einigung war in manchen Nachbarländern die Sorge vor deutscher Macht erneut aufgetaucht. Auch die Schwierigkeiten der Regierung Kohl, die Ostgrenze Deutschlands verbindlich anzuerkennen, brachten Unruhe. So konnten diese Probleme geradezu elegant eingefangen werden, indem die »zukünftigen Streitkräfte« auf der Ebene der Großverbände (Divisionen/Korps) multinational zu führen seien. Auf diese Weise konnte die multinationale Kooperation mit internationaler Transparenz verbunden werden. Nach einigen Erprobungszeiten nahm man sogar Staaten des ehemaligen Warschauer Vertrages (Polen, Tschechien) in diese Form der militärischen Integration auf.

Die deutschen Interessen an Interventionen.

Die Bundeswehr war auf Interventionen »out of area« nicht unvorbereitet. Der Umschwung erfolgte bereits Jahre vor der neuen Politik in der NATO und vor dem Fall der Mauer. In einem bekannt gewordenen Dokument hatte die militärische Führung schon 1987 ein Gutachten erstellen lassen, unter welchen Umständen „Einsätze im Rahmen nationaler maritimer Krisenoperationen außerhalb des NATO-Vertragsgebietes“ zulässig seien. Die „Wahrung deutscher Interessen“ wurde als hoch brisant eingestuft, jedoch könnten Truppen jederzeit zu „humanitärer und Katastrophenhilfe“ entsandt werden, Waffeneinsatz sei auch zum Schutz von Handelsschiffen möglich.39 Nach diesem Vorgeplänkel einer prinzipiellen Öffnung des Einsatzspektrums der Bundeswehr kam schon bald eine Grundsatzerklärung. Noch galt als offizieller Konsens das, was »Kultur der Zurückhaltung« genannt wurde, die Deutschen würden militärische Interventionen außer zur Verteidigung ablehnen. Im Februar 1989 gab der für Strategie und Sicherheitspolitik im Ministerium auf der Hardthöhe zuständige Generalmajor Klaus Naumann, der spätere Generalinspekteur, die ersten öffentlichen Signale: „Die deutsche Einschätzung der Rolle militärischer Macht ist es, die unsere Situation im Bündnis so ungeheuer erschwert. Staaten, die aus Tradition ein gewachsenes und gesundes Verhältnis zur Macht haben, sehen die Zukunft der Rolle militärischer Macht im globalen Kontext weit nüchterner, weit objektiver als wir. In diesem zusammenwachsenden Europa, das in einer interdependenten Welt entsteht, und das immer, in jeder seiner Handlungen, globalen Kontext zu berücksichteigen hat, muss man Macht in allen Facetten ausüben können.“ Naumann bedauerte, dass infolge der historischen Erfahrungen, aber auch wegen eines „Versöhnungs- und Friedenspathos“ die „legitime Anwendung“ von Gewalt diskreditiert sei. Solange dieser Widerspruch nicht aufgelöst sei, werde die Bonner Republik in Europa eine „untergeordnete Rolle spielen.“40 Ein neues Konzept militärisch gestützter Interessenwahrnehmung deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik war entworfen, bevor die Welt im Zusammenbruch des Ostblocks die Wende im sicherheitspolitischen Denken fühlte.

Kaum war die Mauer in Berlin gefallen, wurde der neue Ansatz vorgestellt. Ganz im Sinne des Friedensgedankens sprach Generalinspekteur Dieter Wellershoff schon 1990 den »erweiterten Sicherheitsbegriff« – schlicht und einfach – aus: „Helfen, retten, schützen!“ sei die einzige Ausrichtung der Bundeswehr, wo immer dies erforderlich sei.41 Die Argumente wurden eingängig vorgetragen: „Und wir können nicht tatenlos bleiben, wenn anderswo Frieden gebrochen, das Völkerrecht mit Füßen getreten und Menschenrechte verletzt werden. Wir müssen bereit sein, Mitverantwortung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt zu übernehmen.“42 Wer mochte sich diesem menschlich-moralischem Appell verschließen! Der Nachsatz des Ministers Volker Rühe, es ginge um Einsätze „im Dienst der Völkergemeinschaft«, eben nicht nur im Auftrag der Vereinten Nationen, war unmissverständlich. Diese Aussagen werden so ausführlich zitiert, da es notwendig erscheint zu verdeutlichen, dass bereits im Zuge der Einigung Deutschlands die sicherheitspolitisch Verantwortlichen in Militär und Politik für das Interventionskonzept aktiv und offen geworben haben. Es war schon zu Zeiten der Bonner Republik so weit vorangetrieben worden, dass es anlässlich der Geburtsstunde der Berliner Republik in den Grundzügen öffentlich vorgestellt werden konnte.

Im Januar 1992 erfolgte die amtliche Neuausrichtung des Auftrags der Bundeswehr. Das Spektrum für die »Armee im Einsatz« fand sich mit globalen »Herausforderungen« umschrieben. Nationale Interessen wurden herausgestellt, um militärische Fähigkeiten umfassend einzusetzen. Die Zielrichtung wurde präzisiert: „Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität; die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und der Zugang zu strategischen Rohstoffen.“43 Die Forderung nach „ungehindertem Zugang zu den Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ stieß zwar auf heftigen Protest der SPD-Opposition im Bundestag und wurde auch zum Erbe deutscher kolonialer Weltmachtträume gerechnet. Aber die wenigen Proteste änderten nichts an der anvisierten Zielsetzung, den »Umbau« der Bundeswehr einzuleiten. Es war kein gerader, aber ein direkter Weg, der von diesen Grundentscheidungen zur Neugestaltung der Bundeswehr hin zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien von Minister Peter Struck vom 21. Mai 2003 führten, die durch das populäre Wort, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, Aufsehen erregten. Im Einklang mit der ausformulierten NATO-Strategie wurde das Aufgabenfeld der Risiken für die Bundeswehr vage umrissen, „Krisen und Konflikte, Bedrohungen und deren Ursachen im erweiterten geographischen Umfeld“ (Ziffer 47) zu verhindern oder zu bekämpfen. Kollektiv, also im Zusammenwirken mit anderen Mächten, solle deutsches Militär auf diese „Anforderungen“ reagieren, „aus welcher Richtung sie auch kommen mögen.“ In terminologischer Unübersichtlichkeit sollte mit militärischen Mitteln Sicherheit hergestellt werden, „wo immer diese gefährdet ist.“

Rationalität und Effektivität der Bundeswehr leiten sich von diesem Einsatzspektrum ab und verlangen entsprechende operative Doktrinen, Rüstungsverbünde und Ausbildungskonzepte. Symbolträchtig an der Spitze dieser Modernisierung lässt sich da das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam benennen. Hier verwirklichte sich erstmals nach 1945 wieder, was legendär der Generalstab als operative Planungs- und Führungseinrichtung leistete oder in gewisser analoger Funktion das Oberkommando der Wehrmacht. Typisch für diese neuzeitliche Organisation können die aufgetretenen Friktionen gelten, die zugeordneten Führungskommandos von Heer, Marine und Luftwaffe einzubinden. In traditionalistischem Verständnis wird die »Souveränität« der Teilstreitkräfte hoch gehalten.

Die zivilistische Parole des Rettens ist inzwischen entfallen, nun heißt es plastisch: „Kämpfen, stabilisieren, helfen!“ Der postnationale Typ vom Militär der Moderne hat damit seinen Eingang ins deutsche Militärkonzept gefunden, zumal es Struck gelungen war, die konservativen traditionalistischen Vertreter im Heer auszuspielen, die ihre großen und schwerfälligen Panzertruppen der Kalten-Kriegs-Konzeption erhalten wollten. Struck vermochte es, sich gegen heftiges Widerstreben durchzusetzen, auch wenn noch im Januar 2006 zwei höchste Generale – der Inspekteur der Streitkräftebasis, Hans Heinrich Dieter, und der stellvertretende Inspekteur des Heeres, Jürgen Ruwe – wegen latenter Opposition ihren Hut nehmen mussten. Nach der Übergangszeit von mehr als zehn Jahren war 2003 endgültig Schluss mit der alten Bundeswehr. Im Zuge der weiteren Konkretisierung dieses Militärkonzeptes fiel 2004 eine merkwürdige Veränderung auf. Der Leitbegriff »Reform« tauchte nicht mehr auf, stattdessen fand sich für die zukünftige Militärpolitik die unspezifische Bezeichnung »Transformation«. Sie „bestimmt Denken, Ausbildung, Konzepte, Organisation und Ausrüstung, sie schafft etwas völlig Neues. Der Transformationsprozess bietet die Gelegenheit, die Bundeswehr durch innovative Lösungsansätze effizienter zu gestalten.“44

Die traditionalistische Kontinuität und Rechtslastigkeit.

Die innere Lage der Bundeswehr blieb von der Änderung des politischen Paradigmas der militärisch gestützten Außenpolitik nicht unberührt. Schon 1991 trat der Einschnitt markant hervor, als die Parole „Der Krieg ist der Ernstfall“ die neue Ausrichtung eingängig und symbolträchtig widerspiegelte. Da konnte man das Leitwort von Gustav Heinemann, der Frieden sei der Ernstfall, endlich umkehren: „Auf die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr hin ist also alles auszurichten, Ausbildung, Ausrüstung und Struktur. Ethos, Erziehung, Sinnvermittlung und Motivation müssen sie mit einschließen…“45 Ein Kämpferkult wurde geboren, ähnlich wie in den fünfziger Jahren kam wieder auf: „Kämpfen können und kämpfen wollen!“ 1994 wurde zu einem wichtigen Jahr der inneren Formierung der Bundeswehr. Die Abwicklung der NVA war praktisch abgeschlossen, die ausländischen Truppen aus Ost und West waren abgezogen, jetzt konnte militärische Souveränität erfahren werden. Die Armee suchte sich zu festigen, daher sollten störende Einflüsse fern gehalten werden. Das Heer schritt voran, dem Leitbild vom »Staatsbürger in Uniform« den Todesstoß zu geben. Pluralität im Militär und Integration in die Gesellschaft – die alten Ideale der »Inneren Führung« von Baudissin – wurden verfemt. In der Weisung zum Leitbild des Offiziers wurde erklärt, Militär und Gesellschaft seien unvereinbare Gegensätze. Sie hätten jeweils „unterschiedliche Werthierarchien, Leitbilder, Normen und Verhaltensweisen.“ Während hier die Verhältnisse der „freiheitlichen, pluralistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ gelten würden, stünden „dagegen“ auf militärischer Seite die Normen der „hierarchisch aufgebauten Armee“ mit ihrem Leitbild der „Ein- und Unterordnung.“46 Diese Weisung des damaligen Inspekteurs des Heeres und späteren Generalinspekteurs Bagger ging nach alter Weise von normativer Abkapselung und sozialer Abgeschlossenheit des Militärs aus – ein korporativer Körper sui generis.47

Der Leiter des Heeresamtes, Generalmajor Jürgen Reichardt, setzte noch eins drauf, als er 1998 die innere Ordnung nach dem NS-Prinzip der »Gefolgschaftstreue« formen wollte. Skurrile Extreme traten hervor, als dessen Dienststelle Publikationen förderte, in denen „Geist und Haltung der SS-Leibstandarte Adolf Hitler“ gelobt und ihr Kommandeur als tapferer vorbildlicher Offizier gefeiert wurde. Ein historischer Revisionismus machte rechte Traditionen zugänglich, das Erbe der Generale Halder und Seeckt wurde beschworen und „die gesamte Tradition des preußisch-deutschen Generalstabs für den Generalstabsdienst der Bundeswehr als verbindlich“ erklärt. Die Hardthöhe honorierte den traditionalistischen Autor und versetzte ihn an die Führungsakademie, zuständig für Ausbildung und Lehre; dann wurde ihm das Kommando einer Division übertragen.

Die Maximen dieser exklusiven militärischen Eigenwelt zeigten Wirkung. Einen ersten auffälligen Höhepunkt gab es 1997, als nach dem Bericht des Wehrbeauftragten 185 Fälle von Rechtsextremismus an 140 Standorten zu verzeichnen waren. Die Rechtslastigkeit und Auffassungen rechtsextremer Art nahmen gerade bei jüngeren Offizieren zu, bis zu 25 Prozent im Jahr 1999. Dazu hieß es: „Besondere Ausprägung erfahren nationalistisches und fremdendistanzierendes Gedankengut, Merkmale, die als die zentralen Dimensionen gerade auch für Rechtsextremismus gelten.“ Darüber hinaus fanden sich in dieser Gruppe, die Disziplin und Autorität sehr hoch achtete, politische Überzeugungen, die „bereits bestimmte Missachtungen der demokratischen Prinzipien und Regeln“ erkennen ließen.48 Die Übergriffe von Coesfeld im Jahr 2004 stehen für ähnliche Grenzüberschreitungen, hier als drakonische Schinderei nach 08/15-Manier. Wehrpflichtige wurden in Städtenahkampf und gemäß Folterexzessen aus dem Irak-Krieg geschult. Der Boden der Brutalität und Verrohung ermöglichte schlimme Verwerfungen verdrehter »kriegsnaher« Ausbildungsmaximen. In über 20 Kasernen zeigte sich ein düsteres Klima der organisierten Unterdrückung und zwangsweisen Einpassung in ein Kollektiv der Gewaltübung. Wie in der Mitte der neunziger Jahre war auch diese Affäre von entsprechenden Positionen aus der Generalität begleitet. Ein Heeresinspekteur versuchte 2004 die Vergangenheit revisionistisch zu interpretieren, sein Nachfolger begeisterte sich für »archaische Kämpfer« als Vorbild für den Kriegertyp der neuen Armee, andere Generale diffamierten das Leitbild der »Inneren Führung« als „unglückliche Konstruktion«. Der Kommandeur der Elitetruppe für Spezialeinsätze (KSK) knüpfte „wegen der besonderen soldatischen Elemente“ Traditionslinien zu den als Beste der Wehrmacht angesehenen Ritterkreuzträgern.49

Ein anderer Aspekt, der gerne übersehen wird, gibt wichtige Hinweise auf militärisch-gesellschaftliche Beziehungen. Dabei geht es um die Annahme, die Bundeswehr werde von der Gesellschaft als normal akzeptiert.50 Die Wehrpflicht ist das Beispiel. An ihr wird hauptsächlich festgehalten, um Zeit- und Berufssoldaten für die Bundeswehr zu rekrutieren. Die Zeichen der Ablehnung verweisen auf erhebliche Dissonanzen der jungen Generation zum Militär, werden aber von Politik und Militär bemäntelt. Seit Mitte der neunziger Jahre liegen signifikante statistische Daten vor: die Zahl der 135.000 Wehrpflichtigen war seitdem immer geringer als die der 146.000 Wehrdienstverweigerer (1994). Der Trend verfestigte sich weiter: 160.569 im Jahr 1995, sogar 189.644 im Jahr 2002. Bemerkenswert ist, dass in all den Jahren gleichermaßen einige tausend Soldaten und Reservisten – nachträglich – den Wehrdienst verweigerten. Nach eigenem Selbstverständnis müssten sie besser Kriegsdienstverweigerer genannt werden, weil sie gegen die Auslandseinsätze (Kosovo- und Irakkrieg) protestieren. Die Wehrpflicht lässt eine Erosion der gesellschaftlichen Legitimität der »Armee im Einsatz« erkennen.

Ein Milieu der militärischen Eigenwelt und kommunikativer Eigenheiten hat sich seit den neunziger Jahren in der Bundeswehr verfestigt. Die militärische Führung distanzierte sich von der Gesellschaft, aber zugleich auch von den Werten und den Zielen der Militärreform, die der Bundeswehr bei ihrer Gründung auf den Weg mitgegeben war.51 Das Konzept der »Inneren Führung«, orientiert an den Grundwerten der freiheitlichen Verfassung, wird formal insgesamt natürlich nicht bestritten. Äußerungen zur Geschichtspolitik und Weisungen aus der obersten Führungsetage haben allerdings eine enorme Deformation im Alltag des Militärs begünstigt. Am Vorabend der 50-Jahr-Feiern der Bundeswehr zeigten sich massiv »gegenkulturelle Tendenzen« mit Anzeichen einer militärischen Parallelkultur. Die Bundeswehr schottete sich allmählich von der Pluralität und Zivilität der Gesellschaft ab. Nimmt man Äußerungen der Militärelite zum Maßstab, waren es gerade herausgehobene wichtige Repräsentanten der Bundeswehr, welche die Eigenwertigkeit eines Denkens in »Sui-generis«-Kategorien untermauerten.

Die Leichtigkeit beim Umgehen mit der Gültigkeit des Rechts.

Schließlich wurde das rechtliche Fundament für internationale Einsätze der Bundeswehr gewendet. Dabei ist vorauszuschicken, dass kaum neue Rechtsmaterie der alten hinzugefügt wurde, sondern dass die Geltung gegebener nationaler und internationaler Rechtsnormen durch neue Interpretationen verändert wurde. Die Handlungsräume der Politik wurden erweitert. Auf der staatlichen Ebene hat das Grundgesetz an Verbindlichkeit verloren. Ihm liegt schon in der Präambel die große Idee zugrunde, der deutsche Staat werde dem Frieden der Welt dienen. Im Parlamentarischen Rat hatte der spätere Bundespräsident Heuss diese Ausrichtung der Verfassung mit der kriegerischen und militaristischen Vergangenheit begründet, die den »exzeptionellen Charakter« dieser friedensgebundenen Politik ausmache. Sie hatte jene »Kultur der Zurückhaltung« im Konsens der Gesellschaft ausgemacht, deutsches Militär werde niemals gegen einen anderen Staat eingesetzt. Dem entsprach, militärische Hilfs- und Schutzmissionen im Auftrag der Vereinten Nationen – die sogenannten Blauhelm-Einsätze – zu unterstützen. Das war früher selbstverständlich. In die »Militärpolitischen Grundlagen« vom Januar 1991, in denen weltweite Einsätze gemäß dem »erweiterten Sicherheitsbegriff« erstmals für möglich erklärt wurden, war entsprechend der Satz eingefügt: „Die Bundeswehr hat den Auftrag, im Zusammenwirken mit anderen staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräften Deutschlands… nach klarstellender Ergänzung des Grundgesetzes an kollektiven Einsätzen… teilzunehmen.“ Kampfeinsätze und die Entsendung »out of area« wurden damals von allen Parteien, außer von Teilen der CDU und dem Wehrpolitischen Arbeitskreis der CSU, abgelehnt. Die grundrechtliche Klärung fand nicht statt.

Statt einer Ergänzung des Grundgesetzes genügte vielen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. April 1994. Jener Teil des Urteils, der die deutsche Beteiligung an friedenssichernden UN-Operationen als verfassungsrechtlich legal feststellte, war erwartet worden. Doch dass den Militärbündnissen NATO und WEU die gleiche Völkerrechtsqualität wie der UNO – »ein System kollektiver Sicherheit« – zuerkannt wurde, führte zu Irritationen. Das Gericht legitimierte Einsätze im Auftrag der NATO oder WEU. Es definierte die Bündnisse um, erklärte die wörtliche Bindung der Verträge, welche die Zielsetzung der Verteidigung und die geographisch-regionale Reichweite festlegten, de facto für obsolet. Die Regierung nutze die nun gegebene »informelle Funktionserweiterung« des Völkerrechts, um qua Bündnis weltweit mit Militär zu handeln.52 Auf dieser Basis wurde der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr im Kosovo 1999 legitimiert.53

Der Tatbestand legaler Waffeneinsätze der Bundeswehr im Ausland und besonders »out of area«, also außerhalb des Bündnisgebietes, ist nach Geist und Wortlaut von Grundgesetz und Bündnisvertrag höchst problematisch. Allerdings wurde seit Beginn der neunziger Jahre die alte Eindeutigkeit unter Hinweis auf den »erweiterten Sicherheitsbegriff« aufgeweicht. Mit Bedacht schlugen Politiker und Militärs diesen Weg ein. Die Kritik, eine „verlotterte Politik“ mit einem „missbräuchlichen Verfassungsgebaren“ zu betreiben, scherte sie nicht.54 So erfolgte auf der Basis von Protokollen und Deklamationen nationaler und internationaler Gremien Schritt für Schritt eine Uminterpretation, bis nach einiger Zeit ein neues sicherheitspolitisches Selbstverständnis des Interventionismus entstanden war. Das geflügelte Wort des Ministers Struck, Deutschlands werde „am Hindukusch“ verteidigt, entspricht genau diesem Umgang mit der Rechtslage. So wurde das Völkerrecht transformiert. Die Stärke des Rechts wich dem Recht auf Stärke.55 Die Spannung der konkurrierenden Rechtsverständnisse besteht weiterhin fort.

Die Bundesregierung allerdings war bestrebt, die Schwächen der alten Legalität aufzuheben. Dazu diente der für diese Zwecke von deutscher Seite stark beeinflusste Entwurf der Europäischen Verfassung. In deren Text wurde eine breite Palette an Interventionen vorgestellt, die von humanitären Aufgaben, Rettungseinsätzen und Konfliktverhütung bis zu „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen“ und der „Bekämpfung des Terrorismus“ reicht.56 Die inhaltliche Übereinstimmung zwischen der NATO-Strategie, den Verteidigungspolitischen Richtlinien und der EU-Agenda ist kaum zufällig. Die Bedeutung für Deutschland liegt darin, dass diese europäische Beschlussebene die offene Flanke der völkerrechtlichen Legalisierung und Legitimierung militärischer Einsätze sichern würde. Die übergeordnete Dimension der EU-Verfassung könnte die heiklen Schwächen und Widersprüche der bestehenden Rechtslage der Entsendung »out-of-area« abmildern, wenn nicht aufheben.57 Das bestehende Völkerrecht gewänne mit dieser EU-Verfassung bzw. eines Sondervertrags mit diesen inhaltlichen Festlegungen eine neue Qualität, ohne dass die Sonderproblematik nach der unzweideutigen Geltung des Grundgesetzes mit seinem Friedensgebot damit gelöst wäre.58

Schließlich wurde das Thema des Einsatzes der Bundeswehr im Innern auf die Tagesordnung gesetzt. Im Januar 2003 bereits vernahm die erstaunte deutsche Öffentlichkeit, die Bundeswehr müsse zum Schutz von Personen und Objekten vor terroristischen Bedrohungen im Innern eingesetzt werden können. Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident, und Wolfgang Schäuble, damals Bundestagsabgeordneter, forderten dafür eine Änderung des Grundgesetzes.59 Beide bildeten die Speerspitze einer Lobby, um – in der Zeit der Fertigstellung der Verteidigungspolitischen Richtlinien des Ministers Struck – die Aufgaben der Bundeswehr auszuweiten. Sie hatten Erfolg. Erstmals erhielt die Bundeswehr im Mai 2003 den Auftrag, sich auf Einsätze im Innern vorzubereiten: „Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption.“ (Ziffer 80) Die »zahlreichen« Aufgaben sind nicht einzeln, enumerativ fest gehalten sondern pauschal unter Schutz der „Bevölkerung“ und der „lebenswichtigen Infrastruktur des Landes“ vor Terrorismus und „asymmetrischen Bedrohungen“ subsumiert. Die Einsatzoptionen gelten „immer dann«, wenn „nur“ die Bundeswehr über die „erforderlichen Fähigkeiten“ verfügt.

Das ist die Lage gemäß diesem administrativen und nicht parlamentarischen Akt, dem Erlass von Minister Struck. In historischer Perspektive ist ein qualitativer Punkt – das Tabu der Nachkriegsgeschichte -außer Kraft gesetzt, das Militär nicht im Innern einzusetzen. Welche dienstrechtlichen Konsequenzen sich daran fügen und welche gesellschaftlichen oder politischen Umstände für die Einsätze konkret gemeint sind, bleibt bei diesen diffusen amtlichen Worten offen. Doch damit nicht genug. Kaum war Schäuble im Herbst 2005 zum Innenminister ernannt, setzte er den Einsatz der Bundeswehr anlässlich der Fußballweltmeisterschaft auf die innenpolitische Agenda.60 Er erwies sich als treibende Kraft, für diesen Zweck das Grundgesetz zu ändern. Flankiert wurden diese Initiativen durch das Konzept, eine »sicherheitspolitische Dienstpflicht« als Teil eines erweiterten innenpolitischen Sicherheitsbegriffs durchzusetzen.61 Stoiber hatte sich in einem entsprechenden Gesetzentwurf bereits 2004 dafür eingesetzt. Seit der Bildung der Großen Koalition wurde dann pausenlos, pragmatisch und scheibchenweise dieses Ziel propagiert. Nach den Planungen des Verteidigungsministeriums sollen mindestens 7.000 Soldaten – Sanitäts- und Küchenpersonal mit »zivilen« Hilfsdiensten, aber auch militärische Spezialkräfte zum Schutz vor biologischen und chemischen Kampfstoffen – eingesetzt werden.62 Das Projekt – Einsatz des Militärs im Innern – wird vorbereitet. Bereits im Jahr 1993 hatte sich Schäuble, damals Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien im Bundestag, in einem Brief an die Fraktionsabgeordneten gewandt. Darin waren diese Ziele schon aufgeführt. Wegen „weltweiter Wanderungsbewegungen und internationalem Terrorismus“ würden die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit „verwischen“ ; daher müssten die „perfektionistischen Beschränkungen“ des Grundgesetzes aufgehoben werden.63 Da Struck als Minister einen entsprechenden Auftrag der Bundeswehr bereits 2003 erteilt hat, wird die SPD unter seinem Fraktionsvorsitz die entsprechenden Pläne der CDU/CSU kaum verhindern wollen, sondern gewiss mittragen.

Der Paradigmenwechsel des Auftrags der Bundeswehr nach 1990 ist gravierend. Innen- und außenpolitisch wurden die Grenzen erweitert, die einem geziemenden Machtbegriff Geltung verschafften. Nachdenkenswert ist, dass die Erfahrungen der deutschen Geschichte in ihrem normativen Gehalt nun so verstanden werden, dass das Militär als politisches Instrument offenbar einen anstrebenswerten, hohen Stellenwert gewonnen hat. Ein nationales Verständnis von Staat, Politik und Macht hat den Wandel bestimmt. Die Lehre von 1990 scheint zu sein, die deutsche Macht der Berliner Republik im Bewusstsein souveränen Handelns auszugestalten.

Deutsche Orientierung an einer militärgestützten Politik

Die Bonner Republik wurde mit Militär begründet. Die 1955 erlangte Staatlichkeit war direkt an die »Wiederbewaffnung« gekoppelt. Auch die zeitgleich konzipierte Atombewaffnung hatte im Verständnis des ersten Bundeskanzlers außergewöhnliche Bedeutung für das internationale Prestige dieses Landes – nach Westen wie nach Osten. Unter allen Kanzlern wurde der nationale Status auf militärische Potentiale gegründet. Kanzler Adenauer folgte als Realpolitiker den Spuren eines Bismarckschen Staatskonzepts, das sogar Kanzler Brandt in seiner Vision der Entspannungspolitik nicht aus den Augen verlor, sondern mit der Devise höherer Aufwendungen für die Sicherheit eine neue internationale Stabilität ausbalancierte. Der Kalte Krieg selbst war von Beginn an bis zu den neunziger Jahren eine Phase der Hochrüstung, nur vergleichbar mit der aus der Geschichte bekannten Zeitspanne, in Hochspannungszeiten Armeen für den Einsatz zu mobilisieren. Im Kalten Krieg war dies der permanente Zustand.

Die Aufwendungen für die Bundeswehr wurden damit begründet, dass Deutschland am intensivsten von einem expansiven Osten bedroht sei, da es sich im Schnittpunkt der antagonistischen Bedrohung in Europa entlang der Grenze an der Elbe befand. Deutsche Politik aus Bonn war daher von Beginn an eine Politik, die sich am simplifizierenden Actio-reactio-Schema orientierte. Der Begriff der »Kultur der Zurückhaltung« würde falsch verstanden und zu einem Friedensmythos verklärt, wenn der hohe Grad an militärgestützter Außenpolitik übersehen würde; Zurückhaltung meint im Kern nur, dass eigenständige deutsche Militärpolitik nicht zugestanden war. Auch wenn kein ernster Konflikt einen Militäreinsatz im Rahmen der Verteidigung erzwungen hat, hatte das Militär in der gesamten Epoche der Bonner Republik für die Handlungsfähigkeit nach außen einen sehr hohen Stellenwert. Das entsprach dem machtdefinierten Denken seit Moltke, den Staat durch Hochrüstung im Frieden zu sichern, um so abzuschrecken.

Die Demokratisierung des Militärs erfolgte in den ersten beiden Jahrzehnten nur rudimentär, weitgehend formalistisch. Sie wurde der Effizienz und Funktionalität untergeordnet. Die Militärpolitik entschied sich für das Vorbild der Wehrmacht als vorbildliche Tradition, nicht nur de facto sondern ausdrücklich mitgetragen von den Bedenken mancher Politiker wie Strauß. Das erklärt die Leichtigkeit, wie in Strategie oder Tradition, in Ausbildung oder Auftreten restaurative Prinzipien die modernisierte »neue Wehrmacht« prägten. Ein eigentümlich vermengtes Milieu aus Facetten militaristischer Haltungen und in Maßen antidemokratischer bzw. antipluralistischer Einsprengsel entstand und führte dazu, dass entsprechende inhaltliche Diskrepanzen zwischen Traditionalismus und Reformorientierung die Bundeswehr in all den fünfzig Jahren ihrer Existenz begleiteten. Diese »Frontstellung«, wie Baudissin früh erkannte, darf nicht mit der Antinomie von konservativ versus liberal missverstanden werden, da es sich um gegensätzliche Militärkonzepte handelt. Diese Ambivalenz belastete die Militärgeschichte seit dem geheimen, dem Parlament unbekannten Gründungsplan (aus Himmerod) von 1950, der schon im Amt Blank zur Folie der Entscheidungen wurde.

Das Jahr 1990 markiert tatsächlich einen Wendepunkt in der Militärpolitik. Das alte, von den Alliierten im wesentlichen vorgegebene und mitbestimmte Paradigma hat seine Relevanz verloren. »National« und »staatlich« wurden mit erweiterten, auch traditionellen Inhalten gefüllt. Die Bundeswehr hat einen gewandelten und politisch expliziten Status erhalten. In einem internationalen Geflecht zwischen Washington, Brüssel und Bonn wurde das vorbereitete geopolitische Interventionskonzept des »erweiterten Sicherheitsbegriffs« gleich nach der Einigung präsentiert. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat diesen Wandel mitgetragen – ein anderer Teil hat Protest und Widerstehen deutlicher entwickelt, wie beispielsweise die Daten der Kriegsdienstverweigerung anzeigen. Die Akzeptanz der Einsätze »out of area« hat die Kritiker der militärgestützten Außenpolitik erstaunt; sie mussten feststellen, dass sich „die Militarisierung schon zu stark in allen gesellschaftlichen Bereichen festgesetzt“ hätte.64 Der »Umbau« der Bundeswehr der Berliner Republik ist unter größten Mühen und mit vielfachen Kontroversen vollzogen worden. Die Führung versuchte ihre Interessen mit hergebrachten Konzepten durchzusetzen, Konsens und Konsolidierung mit Hilfe von sozialer Anpassung und persönlicher Disziplinierung zu erzwingen. Das Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« verlor dabei nicht nur an Bedeutung, sondern es wurde in Wort und Schrift von Vertretern der Generalität bekämpft und an den Rand geschoben. Dabei wurde öffentlichen Initiativen und Anstößen aus der Zivilgesellschaft, militaristisch belastete Traditionsnamen aus den Kasernen zu tilgen (wie im Februar 2006 in Fürstenfeldbruck), in Maßen statt gegeben, aber zeitgleich wurde eine traditionalistische Vergangenheits- und Traditionspolitik sowie die legendengleiche Glättung der Bundeswehrgeschichte der frühen Jahre verfolgt. Diese leistete vielen rechten und rechtslastigen Ereignissen und Machtfantasien Vorschub. Ein militärisches Milieu hat sich ausgebreitet, zu dem es passt, dass – als folkloristisches Apercu – im Jubiläumsjahr 2005 das Degen tragen für Offiziere gefordert wurde.

Von anderer Qualität ist die seit einem Jahrzehnt vorgetragene Politik, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. In kleinen Etappen vorbereitet – schon seit 1994 von dem Fraktionsvorsitzenden der CDU, Wolfgang Schäuble, angestrebt und nun vom Innenminister Schäuble betrieben -, soll die Fußballweltmeisterschaft 2006 genutzt werden, um solche Sicherheitsbedürfnisse plausibel erscheinen zu lassen. Auf diesem Wege wird das Paradigma der Sicherheitspolitik der Berliner Republik nachhaltig neu bestimmt. Die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – der Slogan des Kaiserreichs: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!“ – werden die Politik wohl nicht zögern lassen, dieses Tabu der Bonner Republik zu brechen. Kennzeichen der neuen Politik der Berliner Republik, Auftrag und Struktur der Bundeswehr zu transformieren, ist nach innen und nach außen eine schleichende Militarisierung.

Politik gegen die Demokratisierung der Bundeswehr

Restaurativer Traditionalismus in der Bonner Republik

Die Neugründung der beiden deutschen Staaten war in Ost und West mit der Kernfrage verbunden, in wie weit mit dem freiheitlichen Neuanfang eine Abkehr von Nationalsozialismus und Militarismus vollzogen wurde. Das Kriegsende leitete die Wende ein. Die totale Kapitulation der Wehrmacht und das Ende des NS-Regimes gaben den Anstoß. Das Jahr 1945 wies dem Militär im Unterschied zu anderen staatlichen Institutionen am ehesten die Richtung, einen Neubeginn zu wagen. Eine »Stunde Null« war gegeben, Fakten waren geschaffen. Zu den Fakten zählte die Entscheidung des Alliierten Kontrollrates vom 2. August 1945, im Vollzug der Potsdamer Beschlüsse der Siegermächte alle militärischen Einrichtungen der Wehrmacht – »völlig und endgültig« – aufzulösen und ihre Einrichtungen ein für alle Male auszulöschen. Die internationale Entscheidung zerschlug ex negativo die militärischen Strukturen deutscher Machtpotentiale. Begründet wurde dies historisch damit, dass von dort – dem »Hort des Militarismus« – ein Jahrhundert lang der Frieden in Europa bedroht worden war. Dieser Typ eines historischen Sonderweges sollte für alle Zukunft ausgeschlossen sein. In einem ersten Schritt wurde die Wehrmacht aufgelöst. Im Begriff der »Stunde Null« war damit zugleich der zweite Schritt verbunden, die eigene Vergangenheit, den Militarismus und die NS-Militärpolitik der Wehrmacht in Krieg und Besatzung zu reflektieren – eine »Stunde Null« der historisch-politischen Besinnung. Umkehr war das Gebot.

Zukunft und Format jedes Militärs in Deutschland sollten grundsätzlich auf ein neues Fundament gestellt werden. Die Besinnung verlangte die Orientierung an den Wertvorstellungen von Demokratie und Republik. Die Abkehr vom Militarismus der Geschichte fußte auf der Ethik des politischen Handelns. Eine militärische Restauration durfte im Militär der Nachkriegszeit keinen Platz haben. Mit dieser Einschätzung der Völkergemeinschaft korrespondierte auf deutscher Seite die Haltung vieler, denen Friedrich Meinecke Ausdruck mit dem Wort verlieh, die deutsche Katastrophe verlange einen „radikalen Bruch mit unserer militärischen Vergangenheit«.1 Dies bekräftigte Gerhard Ritter auf dem Historikertag 1953, als er im Vergleich mit dem preußisch-deutschen Militarismus des 19. Jahrhunderts feststellte, die Wehrmacht habe den extremsten Militarismus der deutschen Geschichte – „niemals ist die Militarisierung alles Lebens so radikal durchgeführt“ worden – verkörpert.2 Damit richtete er den Blick auf die Rolle des Militärs in der Innenpolitik, der sich ebenso der Sozialwissenschaftler Leopold von Wiese widmete. Unübertroffen deutete auch Hans Herzfeld die »Selbstgesetzlichkeit« des Militärischen im NS-System als politisches Konzept der Radikalisierung des modernen Militarismus.3

Die »Stunde Null« schloss daher dem Sinn nach nicht das Militär an sich aus, sondern verlangte insbesondere die Abkehr von allen Übersteigerungen des Militärischen. Als daher seit 1950 die Aufstellung von Streitkräften mit der durch Besatzungsstatut reglementierten Bonner Regierung politisch verhandelt wurde, gaben die Alliierten in Konsequenz der Potsdamer Beschlüsse dieses Militär nicht unter alleinige deutsche Verfügungsgewalt. Einsatzleitung und Rüstungskontrolle der Bundeswehr wurden an NATO und WEU übertragen. Jede eigenständige Aktion nach außen wurde strukturell unterbunden und daher die Bundeswehr international vollständig integriert. Nach innen jedoch hatte die politische und militärische Spitze der Bundeswehr die Zuständigkeit, die Verhältnisse nach eigener Maßgabe zu regulieren und die Vergangenheits- und Traditionspolitik zu bestimmen.4 Daher entstand das Problem, dass über Jahrzehnte von relevanten Vertretern der Bundeswehr Traditionslinien zum Militarismus aufgebaut wurden. Um solche Beispiele geht es hier.

Die Militärpolitik des Traditionalismus

Um sich dem Thema angemessen nähern zu können, ist zur notwendigen Abgrenzung voraus zu schicken, dass nach dem Krieg in der jungen Bundesrepublik der Militarismus im allgemeinen keine Akzeptanz genoss; vielmehr war das Wort des damaligen Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, verbreitet: „Der Militarismus ist tot.“ Dennoch findet sich das Phänomen – im Begriff der »Wieder-Bewaffnung » zufällig zu erkennen -, dass einzelne Faktoren und Elemente aus militaristischen Zeiten aufgegriffen und für die Gestaltung der Entwicklung der Bundeswehr genutzt wurden, ohne in notwendiger Weise kritisch das Vergangene zu prüfen, ob es mit den Grundwerten der jungen Bundesrepublik ausreichend übereinstimme. So wurde die Militärpolitik des Generals Hans von Seeckt beim Aufbau der Streitkräfte hoch geschätzt. Da schien die politische Brisanz nur am Rande eine Rolle zu spielen, dass er in der Weimarer Republik für die antidemokratische Politik des Militärs vom »Staat im Staate« große Verantwortung trug. Unter dieser Perspektive hätte ein Seeckt niemals ein Vorbild für die Bundeswehr sein können. In diesem Beispiel wird eine militärinterne Vergangenheitspolitik des Traditionalismus erkennbar, die nicht im Einklang mit den Grundwerten der Verfassung steht. Gerade sie hatte eine geschichtsklitternde Schlagseite, die restaurative Elemente aus den Epochen des Militarismus in die Innenpolitik der jungen Republik holte.

In diesem Beitrag wird besonders dieser Vergangenheitspolitik des Militärs der Bonner Republik Aufmerksamkeit geschenkt. An drei Beispielen aus den Jahren 1950/55, 1969 und 1982 wird aufgezeigt, wie restaurative Kontinuitäten von Vertretern des militärpolitischen Traditionalismus hergestellt und vertreten wurden. Die gewählten Beispiele illustrieren Initiativen aus der Militärelite, die mit einigem Erfolg wirkungsvoll ihre Interessen, ihre Programme und Konzepte voran brachte. Die Wege und Initiativen, diese anlässlich politischer Ereignisse in der Bundeswehr zu realisieren, verweisen auf jeweils einzigartige Situationen, mit eigenem Gewicht und gemäß der jeweiligen politischen Konstellation selbständig darzustellen. In diesem Beitrag können sie nur mit ein paar Strichen gezeichnet werden. Zugleich bieten diese drei typischen Beispiele traditionalistischer Politik einen eigentümlichen Zusammenhang; in ihrer Abfolge beziehen sie sich auch bemerkenswert auf einander.

Der ehemalige Offizier der Wehrmacht und General der Bundeswehr, Gerd Schmückle, hat den Begriff Traditionalismus eingeführt, um die Gegenposition zur Reform der »Inneren Führung« zu kennzeichnen.5 Man kann darüber streiten, ob »Traditionalismus« glücklich gewählt ist, doch er hat sich eingebürgert und bezeichnet treffend einige charakteristische Merkmale einer Militärpolitik, die im direkten Rückgriff auf historische Vorbilder die Ausrichtung der Bundeswehr zu konstruieren sucht – vom Soldatenbild bis zu operativen Maximen.6 Der Traditionalismus ist inhaltlich umfassend angelegt und bezieht sich auf mehrere Ebenen der Militärpolitik: in Distanz zur pluralistischen Gesellschaft strebt er nach einer einheitlichen Eigenwelt des Militärs, indem Anpassung und Unterordnung, Stärke und Disziplin im Innern betont werden; das zielt auf personelle Homogenisierung und politisch-korporative Geschlossenheit. Dazu werden historische Verhältnisse verharmlost und vor allem von ihren politischen und gesellschaftlichen Belastungen befreit, um so benennbare Faktoren aus Zeiten des Militarismus und des Untertanenstaates in »sauberer« Form zum Vorbild zu nehmen. Das findet sich in der Bundeswehr beispielsweise bei der sozialen Protektion in der Personalpolitik, der institutionellen Stellung des Militärs im System der politischen Repräsentanz oder der Ausrichtung der Ausbildung gemäß einem Sui-generis-Denken usw. Solche Ausprägungen aber stehen mit der Wertordnung des Grundgesetzes in Konflikt bzw. sind damit grundsätzlich nicht vereinbar. Sie unterminieren wenigstens die Zielsetzungen der aufgeklärten politischen Kultur der freiheitlichen Grundordnung dieser Republik, gerade weil immer wieder Facetten des Alten vom Traditionalismus in der Bundeswehr rekultiviert und reaktiviert wurden. Wenn man erinnert, dass 1945 eine Abkehr von denjenigen Symbolen, Denkfiguren und Institutionen geklärt war, die den Militarismus genährt hatten, ist es brisant, dass Einzelfaktoren des Militarismus erneut Einfluss gewannen. Auch der große Reformer der Bundeswehr, Wolf Graf von Baudissin, erfuhr den Kampf des Traditionalismus gegen die demokratische Reformpolitik und bezeichnete ihn als tatsächlich bedrohliche „wirklichkeitsfremde, gefährliche Ideologie«.7

Der Traditionalismus der Bundeswehr hat einen doppelten Bezug zur innenpolitischen Dimension des Militarismus. Zum einen handelt es sich um die zivil-militärischen Beziehungen, also um die Entwicklung des militärischen Milieus nach der Art des Sui-generis-Denkens mit der Ideologie der sozialen Abkapselung sowie der pluralistischen Vorbehalte. In Summe zielen sie auf gegenkulturelle Entwicklungen im Militär. Diese Faktoren des Militarismus der Geschichte werden auch als „Belastung des sozialen Lebens“ bezeichnet.8 Dem »Militarismus als Verfassungsproblem«, die andere Seite des innenpolitischen Militarismus, sollte in der Bonner Republik der Boden entzogen sein. Die Bundeswehr wurde strikt in das parlamentarische Regierungssystem eingebunden, wie es sich im Grundgesetz in Verbindung mit der »Wehrgesetzgebung« von 1954 bis 1957 manifestiert. Die legalistisch angelegte Reform und die Verankerungen im System der Bundesorgane begründeten den Neuanfang, gewiss eine Lehre aus der Geschichte. Die Dominanz des Militärischen im Kaiserreich und im NS-System, aber auch in der Weimarer Republik, als die Reichswehr sich eine Eigenständigkeit – »Staat im Staate« – reservieren konnte, sollte endgültig vorüber sein. Die Geschichte der Bundeswehr zeigt, dass der Traditionalismus sich mit dem Reformentwurf des Militärs der Bundesrepublik nicht abfinden konnte.

Das Beispiel von 1950: die Himmeroder Denkschrift

Die Geschichte der Bundeswehr fängt mit der Geheimplanung vom Oktober 1950 an, als die Himmeroder Denkschrift verfasst wurde. Sie gilt als die »Magna Charta« der »neuen Wehrmacht« der Bonner Republik und ist doch das erste Dokument des Traditionalismus. Wie selbstverständlich stellte man sich in die Kontinuität zur Wehrmacht. Die Vergangenheit wurde politisch von allen Verbrechen im Nationalsozialismus gesäubert, im Weltkrieg schienen vermeintlich ewig gültige militärische Tugenden erfahrbar. So konstruierte man das Bild des Militärs der Zukunft und fixierte Militärstruktur, operative Maximen und auch das Soldatenbild normativ an einer künstlichen und idealisierten Vergangenheit. Nicht bloß die entsprechenden, zum Teil schwülstigen und abgehobenen Formulierungen über „Ehre«, den „Wehrwillen des Volkes“ oder die „Rehabilitierung der Wehrmacht“ verweisen auf die ideologischen Aspekte, sondern die Tatsache, dass es diesem Denken an der Unterscheidung von Militär und Militarismus in der deutschen Geschichte mangelte. Dafür war gerade Hermann Foertsch, jener prominente NS-General, verantwortlich, da er sein Bild des »inneren Gefüges« von 1942 von der alten auf die »neue Wehrmacht« übertrug. Trotz solcher Zeugnisse wird Himmerod als »Gründungskompromiss« der Bundeswehr gefeiert. Dieses Wort verfälscht Geschichte und dient dazu, die Gründungslegende des demokratischen Anfangs zu konstruieren, obwohl der Geist der Uneinsichtigen offensichtlich war: „Die Denkkategorien und Sprachfiguren (…) entstammen fast ausschließlich der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Zweiten Weltkriegs.“9

Die wenigen Reformsätze in der Himmeroder Denkschrift stammten ausschließlich von Baudissin. Er konnte Kernaussagen zur Geltung der rechtsstaatlichen, freiheitlichen und pluralistischen Grundwerte der Verfassung im Militär formulieren. Sie waren marginale Einsprengsel, von denen aus Baudissin mit langem Atem das Konzept der Militärreform mit dem Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« entwickelte und dafür in Politik, Parlament und Gesellschaft kämpfte.10 Er und seine Mitstreiter waren schon im Amt Blank praktisch isoliert; die Papiere wurden gefiltert und kontrolliert.11 Nicht alle Mitarbeiter seines Arbeitsstabes waren auch Mitstreiter. Heinz Karst, der Arbeitsgruppe »Inneres Gefüge« zugeordnet, ist ein Beispiel dafür. Im August 1955 inszenierte er einen Eklat: In Abwesenheit von Baudissin legte er anlässlich der Beratung der Wehrgesetze im Bundestag eine Denkschrift – »Karstiade« genannt – vor, in der er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen im Namen der »Gruppe Innere Führung« für die Position der Traditionalisten eintrat. Dabei wandte er sich „entschieden gegen jeden Zivilkult“ im Militär. Der Primat ziviler und parlamentarischer Politiker vor den Militärs werde „bei den Soldaten nur als Diffamierung ausgelegt.“ Karsts Distanz zur »Inneren Führung« erleichterte es ihm, Baudissin persönlich zu provozieren. Die »Karstiade« war im Kern ein politisches Pamphlet gegen den demokratischen Neubeginn, der, als „eisiges Misstrauen“ des Parlaments gegen Soldaten bezeichnet, auf wenig Zustimmung stieß. Der Vorrang der Zivilisten“ – gemeint waren Minister und Staatssekretäre, aber auch die Existenz von »zivilen« Abteilungen im Ministerium – vor der Generalität sei untragbar, die Streitkräfte bedürften eines „wachsamen Vertrauens“ statt „misstrauischer Kontrollen“ von Parlament und Öffentlichkeit. Karst wies darauf hin, dass der „bei Fortgang dieser Entwicklung“ der „sicherste Weg (sei, um) Militarismus herbeizuführen und damit die Demokratie wirklich zu gefährden«.12

Der politische Skandal der »Karstiade« lag, auf den Punkt gebracht, darin dass er während des Gesetzgebungsverfahrens eine machtpolitische Revision forderte. Der Primat der Politik sollte zugunsten des Militärs aufgegeben werden. Die „Rechtmäßigkeit eines zivil-ministerialen Kontrollrechts über das Militär“ wurde in Frage gestellt.13 Karst fand den Beifall der Kameraden und im Ministerium, da er dem verbreiteten Traditionalismus öffentlich Ausdruck verlieh. Es war eine Affäre ersten Ranges, dass er, ein Mitarbeiter Baudissins, den politischen Rahmen der Militärreform leugnete. Die Geschichte der »Inneren Führung« ist daher im Anfang eine Geschichte der Distanzierung, eine Geschichte der Diffamierung und des Defizits. Damit übertraf das Militär das allgemeine Klima der Ära Adenauer, das schon durch eine dezidierte revisionistische Vergangenheitspolitik auffiel.14 Militärreform und Traditionalismus standen kontrovers einander gegenüber; sie bildeten zwei „Fronten, die sich in der einen oder anderen Form“ dauerhaft politisch durchsetzten und dazu beitrugen, die Bundeswehr immer wieder zwiespältig, grau changierend zu kennzeichnen.15

Der Anfangserfolg des Traditionalismus hatte gravierende Auswirkungen. Der innere Aufbau der Bundeswehr folgte restaurativen und sogar reaktionären Leitbildern. Die Ausbildung im Heer etwa verwirklichte das Modell der frühen dreißiger Jahre; die Führungsakademie orientierte sich an der Ausbildung zum Generalstab von 1936.16 Die soziale Rekrutierung folgte dem Vorbild der Reichswehr, die eigentlich das Ideal des Kaiserreichs von 1890 angestrebt hatte.17 Als 1966 die Gewerkschaften erstmals in Kasernen werben durften, traten Generäle aus Protest zurück; als 1969 der General der Gebirgsjäger und stellvertretende Inspekteur des Heeres, Hellmut Grashey, den Offizieren des 20. Juli die Ehre absprach, erfuhr er an der Führungsakademie Beifall; als dann General Schnez, Inspekteur des Heeres, im Einklang mit der obersten Führung in der Geheimstudie die Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach militärischem Vorbild einklagte, zeigte sich das traditionalistische Substrat des Sui-generis-Denkens in aller Klarheit.18Das Desaster nach zwanzig Jahren Militäraufbau der Bonner Republik war erschreckend: Generale der Gründungszeit – sowohl die nationalkonservativen Hans Speidel und Adolf Heusinger als auch der liberale Baudissin – stimmten darin überein, die Reform des Militärs sei in der Bonner Republik gescheitert.19

Das Beispiel von 1969: Das Papier der Hauptleute von Unna

In der historischen Situation, als die Ära Brandt mit Reformen im Innern und mit der Öffnung nach Osten durch die Entspannungspolitik Bewegung in die erstarrten Verhältnisse der Ära Adenauer brachte, schlug auch für die Bundeswehr die Stunde vertiefter demokratischer Reformen.20 Politisch hatte der gerade gewählte Bundespräsident Gustav Heinemann mit seinem Wort: „Der Frieden ist der Ernstfall“ aufmerken lassen. In konservativen Kreisen erzeugte dies eine Welle der Empörung. Die oberste militärische Führung, die mit der Studie des Inspekteurs des Heeres, Albert Schnez, im Sommer 1969 noch geglaubt hatte, eine zivil-militärische Plattform traditionalistischen Gedankenguts geschaffen zu haben, war angesichts der epochalen Wende alarmiert. Die »Schnez-Studie«, die ein Grundsatzdokument des eigenen Selbstverständnisses und der zukünftigen Militärpolitik sein sollte, stieß auf heftige Kritik; sie musste dann unter diesem Druck praktisch aus dem Verkehr gezogen werden. Auf jeden Fall war sie diskreditiert.

Die »Alten« lancierten deshalb ein Nachfolgepapier. Gegen den Wechsel in der Regierung gingen sie in die Offensive. Das Ziel war, die Reformen des Ministers Helmut Schmidt zu verhindern. Dessen Politik empfanden sie als unvereinbar mit ihrem Profil und sie nahmen sie wie einen Fehdehandschuh auf. Auf der Hardthöhe hatten sich viele prominente Traditionalisten eingenistet; Karst konnte sich eloquent als Sprachrohr nach vorne spielen. Gerade hatte er seine Bekenntnisse zum Militär der Zukunft publiziert und das bislang umgehängte Mäntelchen des Mitstreiters der »Inneren Führung« abgestreift und bekannt, „Freiheit und Demokratie sind keine letzten Werte.“21 Im Frühjahr 1969 prahlte er, die »Innere Führung« sei auf „den Klippen“ zerschellt, „weil sie letztlich ein Widerspruch in sich selbst war, da sie eine unsoldatische Armee konstruieren wollte.“22 In Augustdorf und Detmold besprachen die Generale das Vorgehen; Karst, der General für Erziehung und Bildung im Heer, übernahm für das neue Papier die Aufgabe, „die Passagen, die die politischen Äußerungen beinhalten,“ zu formulieren.23 Inhaltlich wurde geklotzt und – taktisch raffiniert – ein gröberer Aufguss der »Schnez-Studie« gefertigt. Ein anderer Beteiligter an der »Schnez-Studie«, der Kommandeur der Division in Unna, stand für die praktische Vernunft. Er, General Eike Middeldorf, gab dann im Kommandostab in Unna seinen Hauptleuten den Auftrag, als aktive Offiziere der Panzertruppe eine Kritik der Unzulänglichkeiten der militärischen Praxis für diese Denkschrift aufzuschreiben. Das »Unna-Papier« fokussierte diese verschiedenen Autoren und Interessen zu einem eminent politischen Gegenentwurf, um gegen die »linke« Politik des zu dem Zeitpunkt gerade designierten Ministers Front zu machen.24 Dabei wurde die Legalität der Regierung gegen die Legitimität der Praktiker gestellt. Jedes Vertrauen zu dieser Politik sei geschwunden. Die Reformpolitik wurde in Seecktscher Manier – ein historisch schwerwiegender Vorgang – als „Politisierung der Armee“ abgelehnt. Heftiger noch wurde die Ost- und Entspannungspolitik attackiert, da sie die „Verharmlosung der wahren Zielsetzung“ der sowjetischen Politik betriebe. Entspannung gefährde die Existenz der Bundeswehr und bilde „die Gefahr für Geist, Gefüge und Bestand der Armee.“ Der Primat der Politik wurde abgelehnt, aber auch die sozialliberale Regierung wegen der anvisierten Reformen nicht akzeptiert. In kaum kaschierter Form wurden die Vorbehalte des Traditionalismus gegenüber Parlament und Demokratie herausgestellt.

Konsequenzen wurden gefordert. Erst einmal sollte die politische Leitung im Ministerium boykottiert werden. Kooperation mit ihr war unzulässig. Das Verbot sollte die Besprechungen und Beziehungen der Generalität auf der Hardthöhe treffen. Das »Unna-Papier« ging aufs Ganze: „Das Eigengewicht militärischer Entscheidung darf nicht durch opportunistische Haltung und eine zunehmend politische Hörigkeit militärischer Führer gefährdet werden…“ Es ist schon wert, diese Worte aus der Feder von Generälen ernst zu nehmen und im Licht der Loyalität des Generalinspekteurs de Maizière und weiterer Generäle zur neuen Regierung zu betrachten: sie seien opportunistisch und hörig. Sie wurden desavouiert, ja wohl auch diffamiert.

Die Formulierungen dieser Passagen des »Unna-Papiers« enthalten den grundsätzlichen Anspruch des Militärs nach mehr Macht im Staate. Die schwersten Geschütze zielten auf den Primat von Parlament und Politik. Die „Verantwortung vor Staat und Auftrag“ des Militärs begründe „das Eigengewicht militärischer Entscheidung.“ Mit der Forderung nach einem höheren Status der militärischen Repräsentanten in Staat und Gesellschaft griff das »Unna-Papier« Ansprüche auf, die schon vom ehemaligen Generalinspekteur Heinz Trettner und von Inspekteur Schnez erhoben worden waren. Die Balance im Regierungssystem sollte deutlich zugunsten von mehr »Eigengewicht« für das Militär verändert werden. Das »Unna-Papier« wollte zumindest die politische Parität: einen »gleichberechtigten Dialog« zwischen Militär und Politik. Nach traditionalistischem Politikbegriff konnte der Primat der Politik in der Auslegung des Grundgesetzes nicht akzeptiert werden.

Das mentale und ideologische Muster des Sui-generis-Denkens wurde im »Unna-Papier« voll abgedeckt: der Soldat sei „in erster Linie Kämpfer«, daher müsse alles der „Schaffung kampfkräftiger Verbände“ dienen. Die „Erziehung des Soldaten“ sei auf den „Kampfwert des Soldaten“ auszurichten. Dem habe sich die „Integration in die Gesellschaft“ ebenso wie die »Innere Führung« unterzuordnen. Daher fanden „die gesamten Reformpläne“ der Bundesregierung nur Ablehnung, vor allem die Reform des Bildungssystems. Stattdessen müsse militärische Erziehung Härte und Kampf vermitteln, im Gefechtsdrill sei das wichtigste »Disziplinierungsmittel« des Soldaten zu sehen. Der Vorgesetzte benötige größere dienstliche Macht, er müsse Arreststrafen ohne richterliche Zustimmung, einschließlich »verschärften Arrests« verfügen können. Da dem die rechtsstaatliche Geltung des Grundgesetzes entgegenstehe, müsse eine eigenständige »Wehrjustiz« wieder eingeführt werden, damit schlussendlich „wieder ein frisch-fröhlicher Geist in die Truppe kommt.“ Weiter sollten die individuellen Grundrechte aufgehoben und die Zuständigkeiten des Wehrbeauftragten beschnitten werden. Im »Unna-Papier« fehlte keine Forderung nach einem genuinen militärischen Milieu. Das traditionalistische Credo aus Weimarer Zeiten tauchte wie selbstverständlich im Fazit des »Unna-Papiers« auf: „In dieser Form ist »Demokratisierung der Armee« nicht nur unangebracht, sondern schädlich.“

Erste Entwürfe und Passagen des »Unna-Papiers« kursierten schnell auf den Etagen der Hardthöhe. Sie boten die Sprachregelung für die so genannte sachliche Auseinandersetzung mit der neuen Reformpolitik. Die Vehemenz des restaurativen Umbruchs und des politischen Anspruchs in Unna, der Fantasien an Revolte und Putsch frei setzte, war noch nicht verflogen, als im Dezember 1970 die letzte Fassung verbreitet wurde. Bundestagsabgeordnete fürchteten, die Bundeswehr werde sich mit Gewalt als „Retter des Vaterlandes“ aufspielen.25 Ein wenig später wurde das »Unna-Papier« der Öffentlichkeit zugänglich. Das Ministerium suchte zu beschwichtigen. Minister Schmidt verlangte Besprechungen. In einer anderen Runde bemühte sich der Generalinspekteur persönlich um die Hauptleute. Sie gewannen den Eindruck, de Maizière fände ihre Aussagen und Thesen „vollinhaltlich begrüßenswert.“ Bemerkenswert ist, dass ein Referent im Führungsstab des Heeres Mut bezeugte und eine kritische Stellungnahme der Spitze des Hauses vorlegte. Allerdings kassierte Inspekteur Schnez, der das »Unna-Papier« allerorten „sehr positiv“ bewertete, sogleich diese Äußerung. Er vertrat weiterhin seine traditionalistische Position gegen die Regierungspolitik.

Die Hardthöhe befand sich in der größten Führungskrise seit ihrer Gründung. Der damalige Generalinspekteur Ulrich de Maizière meinte im Nachhinein, die Bundeswehr wäre in diesen Monaten auf einen »Knickpunkt« ihrer Geschichte zugesteuert. Mit dem »Unna-Papier« hatte die alte Garde die Initiative ergriffen, die Gleichberechtigung von Minister und Militär zu fordern, ein Gegenhalten gegen die Reformpolitik zu organisieren und Minister Schmidt den Schneid ab zukaufen. Mit Bedacht urteilte de Maizière, die Traditionalisten hinter dem »Unna-Papier« hätten „sozusagen eine neue Reform präsentieren“ wollen. Es zeugt von Formulierungsgabe, mit dem Begriff »neue Reform« dieses traditionalistische Militärkonzept gegen die Demokratisierung der Bundeswehr zu neutralisieren. Es sollte den Skandal verharmlosen. Doch de Maizière sprach die politische Brisanz noch an: dies sei „das letzte Mal“ gewesen, dass die Auseinandersetzung in Militär und Politik um das Schicksal der »Inneren Führung« und um die demokratische Gestalt der Bundeswehr zu einer „verhältnismäßig starken Konfrontation“ zwischen Reformern und Traditionalisten geführt hätte.26

Zeigte Minister Schmidt die notwendige Kraft an Courage gegenüber der traditionalistischen Gruppe in der etablierten Militärelite? Erfasste er den grundsätzlichen Charakter des Widerstandes hinter dem »Unna-Papier« zutreffend oder missdeutete er ihn als konservative Opposition gegen die Sozialdemokratie? Es erscheint verwunderlich, dass er anlässlich einer öffentlichen Erörterung des »Unna-Papiers« erklärte, das „Engagement, was letztlich dahinter steckt, respektieren“ zu wollen.27 Eine vorgelegte ideologiekritische Analyse ließ er unbeachtet.28 War dies ein Zugeständnis an die Erfordernisse politischer Stabilität, damit der Druck der Traditionalisten nicht wie ein Vulkan ausbrach? Seine Reaktionen geben Rätsel auf. Wollte er den wichtigsten Kontrahenten, Inspekteur Schnez, im Amt belassen, um sein Wirken kontrollieren zu können? Aber wenn es, wie de Maizière hinter den Kulissen beobachtete, diese letzte harte Konfrontation gab, dann hätte die Reformpolitik de facto sich am Ende durchgesetzt. Doch die Politik machte den Traditionalisten in der Sache zu große Konzessionen. Das Dokument der Panzermänner und der Generale von Unna erfüllte den Zweck, dass sich die Gegner der Reform – klamm-heimlich – auf dieser Basis verständigen konnten, von der aus sie im aktuellen Geschäft die Umsetzung der Reform verschleppten und die Reichweite der Reformziele begrenzten.29 Mittelfristig motivierte es die Gegenkräfte. Schmidt hat diesen Aspekt der Militärpolitik im »Unna-Papier« nicht hinlänglich beachtet. Denn in der obersten Etage der Bundeswehrführung wurde weiterhin gegen den Stachel gelöckt. Schon 1973 konnte wieder nach altem Duktus ein Generalmajor in einer Zeitschrift der Bundeswehr schreiben: „Die Gesellschaft ist nicht das Maß aller Dinge.“30 Oder 1975, als ein Generalmajor an der Parade des Sieges der Faschisten in Madrid teilnahm.31

Das Beispiel von 1982: Die Munitionierung der konservativen Wende

Die »geistig-moralische Wende« der Regierung des Kanzlers Helmut Kohl kam im Herbst 1982. Die Verwirklichung dieses Leitbegriffs der Politik ins Militärische übernahm Manfred Wörner. Er beriet sich auf der Hardthöhe mit ehemaligen Generälen. Die »Lodenmantelfraktion« der Alten hatte als führenden Kopf Heinz Karst. Er hatte die Strippen gezogen. Nun zogen sie nicht nur auf die Hardthöhe sondern auch durch die Säle der Stäbe, der Akademien und Schulen der Bundeswehr und predigten das Ethos der Vergangenheit: die ideologischen Ziehväter des Traditionalismus aus der Gründerzeit der Bundeswehr wurden von der Söhnegeneration reaktiviert. Die bekannten »Schnez-Söhne« hatten bei Wörner das Sagen.32 Ihre Gedanken prägten die »geistige Wende« im Militär.

Bislang war unbekannt, dass Karst für die Wendepolitik noch eine ganz besondere Rolle spielte. Er hatte die Quintessenz seiner traditionalistischen Position zu Papier gebracht und eine 50seitige Studie für den designierten Minister Wörner verfasst, in der er den »Zustand« der Bundeswehr darlegte und eine »Therapie« als Leitidee einer zukünftigen Politik verschrieb. Nach seinen Angaben hatte er diese Studie „im Herbst 1982“ in einer „Zeit des Schwebezustandes zwischen der alten und der neuen Regierung“ übergeben.33 Diese »Karst-Studie« ist das richtungsweisende Dokument der Gesinnungswende, das in diesem historischen Knotenpunkt präsentiert und politisch einflussreich wurde. Jahre später wurde sie anonym der Öffentlichkeit zugespielt und wegen der Übereinstimmung mit der amtlichen Politik als eigenständige Arbeit des Planungsstabs des Ministeriums in ihrem parteipolitischen Gehalt präsentiert.34 Die »Karst-Studie« gründete ausdrücklich auf der »Schnez-Studie«. Berater und Planungsstab des Ministers folgten ihren Grundlinien wie selbstverständlich.35

Auch die Generalstabsoffiziere Dieter Farwick und Dieter Stockfisch beispielsweise, wichtige Vertreter aus der »Söhne-Generation« in Wörners Umfeld, begründeten ihre Kompetenz mit der Kenntnis der »Schnez-Studie«. Erwähnenswert ist, dass Baudissin in einem frühen Briefwechsel Hubatschek auf die Folgen seiner traditionalistischen Politik aufmerksam machte. Er warnte davor, die Ziele der »Inneren Führung« plakativ abzulehnen und die „Integration in die pluralistische Gesellschaft“ als ein „verhängnisvolles Konzept«, weil es zur „Desintegration aus der militärischen Gemeinschaft“ führe, zu bekämpfen. Das Ziel der Wendepolitik, eine soziale Abschottung sowie ein korporatives Eigen- und Sonderleben im Militär zu verfolgen, sei falsch. Baudissin war besorgt, dass Hubatschek gleich nach Übernahme seines Amtes erklärt hatte, die „spezifisch soldatischen Normen“ wieder beleben zu wollen.36 Er unterstrich den Trugschluss einer sozialen Homogenität durch Abschottungstendenzen und Antipluralismus. Jede Militärpolitik der Bonner Republik dürfe niemals Abklatsch der Seecktschen Ziele der Weimarer Republik sein oder sich über ähnliche Rekultivierungen in den fünfziger Jahren legitimieren wollen. Baudissin empörte sich über derartige Tendenzen der Wendepolitik, aber stellte betrübt fest, „dass es den Graben zwischen »Fortschrittlern« und »Traditionalisten« bis heute gibt, dass er also keine selbst errichtete Kulisse ist.“37

Die »Karst-Studie« war eminent politisch formuliert. Ihre Gegnerschaft zu den Werten der sozialliberalen Koalition wurde nicht verdeckt sondern unverbrämt bekannt. Dort lagen die Wurzeln allen Übels: „Es ist der Geist der Truppe«, der unter den Reformen von Schmidt gelitten habe; die Bundeswehr sei zu einer „Friedensarmee“ gemäß dem Wort Heinemanns, der Frieden sei der Ernstfall, verkommen. Die Front gegen die Sozialdemokratie durchzog die Seiten: Ursache für die als desolat bezeichnete Lage der Bundeswehr sei die sozialdemokratische Ämterpatronage: „Die »Baracke« hat die Bundeswehr noch in der Hand“38. Da zeigte sich der taktische Schachzug der traditionalistischen Argumentation, Demokratisierung des Militärs mit sozialdemokratischer Politik gleichzusetzen. Karst schlug auf die Partei ein, meinte aber nur die Verwirklichung der Grundwerte der Verfassung im Militär. Die Zielsetzung dieser Politik, die Integration von Militär und Gesellschaft sowie das Konzept der »Inneren Führung« für die Bundeswehr zu wollen, führe in die Irre und habe nur den nivellierenden Pluralismus und damit die „totale Vergesellschaftung“ des Militärs zu verantworten. Die Politik der Sozialdemokratie habe in den vergangenen 13 Jahren weitreichende fatale Folgen gehabt, da „der antisoldatische Affekt, der „Zivilismus“ Pate stand.“ 39 Dem gegenüber betonte die »Karst-Studie« den höheren Wert des Militärischen über die zivil-militärischen Verhältnisse: „Nur wenn die Gesellschaft sich mit dem Verfassungsauftrag der Bundeswehr identifiziert, sind die Soldaten integriert.“40 Die Begriffe wurden inhaltlich einfach umgepolt. Das Muster des Traditionalismus griff vollständig, jede Demokratisierung des Militärs abzulehnen und entsprechend das Übel in der Sozialdemokratie und in der »Inneren Führung« zu finden. Mit dem Ideal, das Militär als „Spiegelbild der Gesellschaft“ zu formen, sei es nun vorbei: „Der Wertepluralismus (…) eroberte auch die Bundeswehr und löste eine tragfähige Basis gemeinsamer Wertvorstellungen auf.“ Dank der Wendepolitik sei das „Ende der Zivilisierung“ des Militärs in Sicht.41

Die »Karst-Studie« machte noch einen Nebenkriegsschauplatz gegen einige wissenschaftliche Einrichtungen der Bundeswehr auf. Sie wurden unter Ideologieverdacht gestellt, die Reformen von Schmidt unterstützt zu haben. Schon das »Unna-Papier« hatte gegen einzelne Professoren Stellung bezogen. Nun ging es gegen das Militärgeschichtliche Forschungsamt (damals Freiburg) und das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (damals München). Mit dem Thema Tradition der Wehrmacht wurde eine Kampagne wegen mangelnder Objektivität in der Forschung in Gang gesetzt. Das Amt hätte die Geschichte der Wehrmacht im Nationalsozialismus manipuliert und „das deutsche Militär diffamiert“ sowie „das Ansehen des deutschen Soldaten (…) böswillig“ angegriffen.42 Es gab Friktionen zwischen der Hardthöhe und den Forschern, da Bonn die wissenschaftliche Freiheit zu begrenzen suchte.43 Am Rande wurde daher gefordert, Manfred Messerschmidt, den international renommierten Historiker, als Leitenden Wissenschaftler abzulösen.44 Gegen das SOWI, das bekanntlich unter Thomas Ellwein wichtige Grundlagen für die Bildungsreform von Minister Schmidt erarbeitet hatte, gab es eine ähnliche Diffamierung. Eine Stellungnahme verstieg sich zu der kühnen Behauptung, diese Forschungen „würden die Integration von Bundeswehr und Gesellschaft beeinträchtigen und die Identifikationsschwierigkeiten der Soldaten mit ihrem Auftrag“ erhöhen.45 Bonner Eingriffe, die Freiheit der Wissenschaft einzuhegen, führten zur Ablösung des Institutsleiters, Ralf Zoll, der an die Universität Marburg wechselte. Die anvisierte Auflösung des Instituts aber gelang nicht.

Allem voran in der »Karst-Studie« stand das Diktum, „soldatische und erzieherische Elementaria“ seien vonnöten.46 In traditionalistischer Manier war damit der Ruf nach realistischer bzw. kriegsnaher Ausbildung verbunden. Richtungsweisend wurde das alte Feindbild des Kalten Krieges mit Hinweis auf die „Realität der Bedrohung“ reaktiviert; die „unvermeidliche Orientierung am Gegner» verstand die »Karst-Studie« als Voraussetzung, um den Aufbau einer einsatzfähigen „Kriegsbundeswehr“ einzuklagen. »Kriegsbundeswehr« – der Leitbegriff dieser Wende-Studie – war schon eine bemerkenswerte Wortschöpfung. Die »Karst-Studie« ging noch auf Strategie und Rüstung der Bundeswehr ein. Gegenüber dem Dilemma der nuklearen Verteidigung, das zu vernichten, was es zu verteidigen gelte, fand sie die Lösung, dass vor allem Glaubwürdigkeit die Soldaten erfassen müsste. Aus dem Dilemma der nuklearen Kriegführung in Europa führe nur die mentale Stärke der Soldaten heraus: „Bei selektivem Einsatz von Atomsprengkörpern wäre Verteidigung noch durchzuführen (…). Die Streitkräfte können im Verteidigungsfall nur mit entschlossenem Willen zum Sieg am Ort ihres Gefechts kämpfen. Anders kann überhaupt keine Truppe ihre Waffen gebrauchen.“47 Nur „soldatische Erziehung“ könne die Zweifel am nuklearen Einsatz ausräumen. Der „Irrweg“ der „einseitigen Ausbildung des Menschen über die Ratio“ sei zu beenden, Härte und Drill seien bei einem Atomkrieg unerlässlich, da nur „allein eine so erzogene und zusammengeschweißte Kampfgemeinschaft bestehen kann!“48 In Konsequenz dessen müssten sich die Universitäten der Bundeswehr in Militärakademien wandeln: „Auch wenn sich linke Medien und Geister gegen die Akademielösung wehren und von Kadettenanstalt raunen, so wäre sie ideal.“49

Kontinuitätslinien des Traditionalismus

Die drei Beispiele des Traditionalismus sind drei Beispiele aus der Geschichte der Bundeswehr. Die Jahresdaten der Dokumente scheinen auf den ersten Blick eher zufällig zu sein, aber sie repräsentieren Eckdaten der Geschichte der Bundesrepublik. 1950 ging es in Himmerod um die Geheimplanung des Militärs; 1955 korrespondiert inhaltlich ganz eng damit, da der Aufbau der Bundeswehr von Regierung und Parlament konkret begonnen wurde. 1969 markiert mit der ersten sozialdemokratisch geführten Regierung den Beginn der großen inneren, nachholenden Reform des Militärs, gegen die in Unna angeschrieben wurde. 1982 stellte sich ein konservativer Kanzler in Bonn die Aufgabe, die Auswirkungen dieser Reform zu revidieren. Alle Jahresdaten sind politische Schnittstellen, in denen langfristige, strukturrelevante Beschlüsse über die Entwicklung der Bundeswehr anstanden. Die Papiere der Traditionalisten wurden zum Zweck der politischen Einflussnahme verfasst.

In den drei zentralen Dokumenten, die stark programmatischen Charakter haben, lassen sich inhaltliche Bereiche einkreisen. Erstens: Das Plädoyer für ein Soldatentum mit eigenen Werten und ewigen Tugenden, gestärkt und gewissermaßen gestählt durch eine lange historische Tradition »sauberer« Werte, zuletzt in den Kämpfen der Wehrmacht zu würdigen. Sie fordern daher ein genuines militärisches Milieu, in Haltung und Geist von der zivilen Gesellschaft geschieden, eine Zurückweisung der Geltung wesentlicher Werte der Verfassung. Infolgedessen markiert die Militärreform der »Inneren Führung« und des »Staatsbürgers in Uniform« das Gegenkonzept zu dieser Militärpolitik. Aus der Position dieser Traditionalisten sind der Primat parlamentarischer Regierungen, das Prinzip der Kongruenz (Baudissin) und der Integration von Militär und Gesellschaft in vieler Hinsicht falsch und gefährlich, abzulehnen und zu bekämpfen. Andernfalls würde das Selbstbild des gesellschaftlichen Sonderstatus und der korporativen Kampfgemeinschaft aufgeweicht werden. Rekrutierung und Ausbildung, Meinungsbildung und politische Toleranz in den Streitkräften unterliegen dieser Militärpolitik. Diese Dokumente haben viele Phasen der Bundeswehr mitbestimmt, je nach dem, ob ihr Einfluss direkt Erfolge verzeichnen konnte wie 1950/55 und 1982 oder dann 1969 dazu diente, das Konzept der »Inneren Führung« in seiner Reichweite zu begrenzen. Die so betriebene Militärpolitik hat Relevanz für die Geschichte der Bundesrepublik, da sie nicht nur das Phänomen einer Übergangsphase direkt nach dem Krieg war, sondern in der langen Nachkriegszeit als »Belastung des sozialen Lebens« auffällt.

Ein zweiter Bereich betrifft die operative Kriegführung, auch die Strategie. Da erstaunt, wie sehr Maximen des Kontinent weit geführten »Ostfeldzuges« der Wehrmacht über die Assimilation via US-Armee in der NATO weiter existierten. Im Umkehrschluss brauchte es entsprechende umfangreiche Rüstungen; die Standards der Hochrüstung des Kalten Krieges verstanden sich zugleich als notwendiges Minimum jeglicher Abschreckung. Nicht allein in Himmerod (1950) stand für die »neue Wehrmacht« der Gedanke der Raum greifenden Vernichtung im Vordergrund; auch noch in den Dokumenten von Unna (1969) und Bonn (1982) faszinierten die Schrecken der vernichtenden Atomkriegführung. Die Auswirkungen der nuklearen Verteidigung führten sogar bei dem Traditionalisten des letzten Dokuments von 1982 – der Zeit der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss – nicht zur Besinnung. Die Dogmen der Kriegführung der seit Ludendorff propagierten Formel vom »totalen Krieg« wirkten bis in die achtziger Jahre nach.

Der dritte Bereich, der dem Primat der Politik gilt, verblüfft. Es ist ja da die Auffassung verbreitet, in diesem Zusammenhang gäbe es bei der Bundeswehr keine Probleme: Bonn sei insofern nicht Weimar, als die Bonner Republik sich ihr Militär selbst geschaffen habe und nicht wie in Weimar, ein kaiserlich konstituiertes Militär hätte übernehmen müssen. Tatsache ist jedoch, dass die institutionelle Eingliederung des Militärs in das demokratisch bestimmte Regierungssystem offensichtlich manchen Traditionalisten ein Dorn im Auge war. Bereits 1950/55 wurde der vom Grundgesetz her gegebene Primat der Politik nur bedingt hingenommen. Ein ausgeprägter Anspruch auf höhere Repräsentanz des Militärs in der Politik ist unverkennbar. Die Forderung, den Primat der Politik aufzuheben und ein System der Parität im Verhältnis zu den vom Parlament gewählten und legitimierten Politikern einzuführen, wurde aufgestellt. Zivile Leitung im Ministerium wie in der Bundeswehrverwaltung war verdächtig. Noch in Unna zeigte sich, dass es weniger um Image oder Prestige ging als um den Status erhöhter Machtteilhabe des Militärs. In das demokratische Regierungssystem sollten auch 1969 Einschnitte in das Grundgesetz mit weit reichenden Konsequenzen erfolgen. Die Weimarer Verhältnissen waren überhaupt kein Tabu. Im dritten, dem Bonner Papier stand dies nur latent zur Debatte, es wurde mehr Respekt im Staat und mehr Akzeptanz in der Gesellschaft eingefordert.

Bei der Analyse dieser drei Dokumente aus traditionalistischer Feder ergab sich die spannende Erkenntnis, dass diese auch über die Biographie eines Soldaten mit einander in Verbindung stehen. Heinz Karst vereinigte starke intellektuelle mit rhetorischen Fähigkeiten, seine persönliche Ausstrahlung im kleinen Kreis und die straffe Haltung vor jedem Plenum zeichneten ihn als aufrechten Soldaten. Damit machte er Eindruck. Karst hatte sich als junger Offizier und Mitarbeiter von Baudissin noch als Vertreter der Militärreform gerieren können, aber in der entscheidenden Situation 1955 wechselte er demonstrativ die Front hin zur etablierten Militärelite der Traditionalisten. Als General gehörte er leitend zu jener Gruppe, die den Vorspann der »Schnez-Studie« und im »Unna-Papier« das politische Konzept gegen die drohende Umsetzung weiterer Reformen im Innern zimmerte. Sein Einsatz für die traditionalistische Ausrichtung der Bundeswehr geriet bis zur bissigen Schärfe seinen Kontrahenten gegenüber, als er den Erfolg der Reformen von Schmidt ahnte. Im Hintergrund des rechtskonservativen Parteien-Spektrums knüpfte er ein militärisch-politisches Expertennetzwerk, das ihn 1982 als General außer Diensten befugte, mit Hilfe solcher Seilschaften und mit seiner programmatisch formulierten Studie »endlich« die Wende in der Militärpolitik richtungsweisend zu begleiten und daneben die Traditionsdebatte anzuheizen.

Der militärpolitische Traditionalismus hatte in der Bundesrepublik großen Einfluss, da er am Anfang gewissermaßen in die Bundeswehr inkorporiert wurde. Er war sanktioniert und konnte doch nicht verhindern, dass die Militärreform legalisiert wurde. Er suchte sich mit Verbindungslinien in den Wertehorizont der Vergangenheit zu legitimieren, obwohl diese Militärgeschichte weitgehend eine Geschichte des Militarismus war. In der Übergangsepoche vom Kriegsende zur Republik bleibt es nachvollziehbar, dass Vergangenes noch einmal komprimiert in Erscheinung trat. Noch nach Jahrzehnten wirkte der Traditionalismus fort und wurde immer wieder generiert. Dies ist ein Problem der Bundeswehr, aber allerdings auch ein Ereignis der Geschichte der Bundesrepublik. Sie ist damit konfrontiert, dass es nicht nur in den Anfängen der Bundeswehr sondern während langer Jahrzehnte eine „so bereitwillige wie schmerzhafte Rückkehr zu diesem Traditionsfundus (…) in der Tat“ gab.50 Manche dieser Elemente konnten den Alltag der Bundeswehr gestalten. Doch so sehr diese Politik mit den Wurzeln aus militaristischen Zeiten beschworen wurde, gelang es nicht, die Gestalt der Bundeswehr so weit nach »sauberen« Vorbildern der Vergangenheit zu bestimmen, dass der Militarismus als solcher wieder Früchte tragen konnte.

Wesentliche Prinzipien der Demokratisierung des Militärs wurden vom Traditionalismus – in all den Parolen und Programmen – geleugnet. Als politischer und historischer Revisionismus hatte er folglich Schwierigkeiten, sich ganz auf den Boden der freiheitlichen Grundordnung zu stellen. Er bot nie und bietet auch heute kein alternatives Militärkonzept für die Bundesrepublik Deutschland. Seine Einflüsse hatten politisch und soziokulturell negative, manchmal fatale Auswirkungen. Er nutzte Schnittmengen mit dem rechtskonservativen Parteienspektrum, fand immer wieder Anhänger und hinterlässt bis in die Gegenwart seine Spuren. Dies erklärt den spannungsreichen Spagat zwischen Norm und Wirklichkeit, an dem die Bundeswehr im Innern leidet.51 Gerade deshalb begründen allein die Werte der Verfassung auch in Zukunft die notwendige neue Kultur des Friedens und der Sicherheit im Militär.

Anmerkungen

Der Paradigmenwechsel von der Verteidigung zur Intervention

1) Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin 11. Nov. 2005, S. 131.

2) Gerhard Schmidtchen: Wozu dient die Bundeswehr?, in: Der Spiegel, 29/1956, S. 30; vgl. die Umfragedaten bei Detlef Bald: Die Atombewaffnung der Bundeswehr. Militär, Öffentlichkeit und Politik in der Ära Adenauer, Bremen 1994, S. 100 ff.

3) Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.): Die Ablehnung des Militärs. Eine psychologische Studie der Motive, Allensbach 1961, S. 1, 4.

4) Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (Hg.): Am Hindukusch und anderswo. Die Bundeswehr – Von der Wiederbewaffnung in den Krieg, Köln 2005, S. 8.

5) Vgl. den Teil: Politik gegen die Demokratisierung des Militärs.

6) Zitiert bei Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955 – 2005, München 2005, S. 40.

7) Vgl. Pariser- und Bonner Verträge. Pariser Protokoll, revidierte Bonner Verträge, Saarabkommen und ergänzende Dokumente, München 1955; Wolfgang Däubler: Stationierung und Grundgesetz. Was sagen Völkerrecht und Verfassungsrecht? Reinbek 1982.

8) Rolf Steininger u.a. (Hg.): Die doppelte Eindämmung. Europäische Sicherheit und die deutsche Frage in den Fünfzigern, München 1993; vgl. H.-J. Rupieper: Der besetzte Verbündete. Die amerikanische Deutschlandpolitik von 1949 bis 1955, Opladen 1991.

9) Vgl. Dieter Sterzel (Hg.): Kritik der Notstandsgesetze. Mit dem Text der Notstandsverfassung, Frankfurt/M. 1968; Thomas Ellwein, Joachim J. Hess: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. Opladen 1987, S. 427 ff.

10) Klaus Naumann: Machtasymmetrie und Sicherheitsdilemma. Ein Rückblick auf die Bundeswehr des Kalten Krieges, in: Mittelweg 36, Jg. 14, 6/2005, S. 17.

11) Vgl. Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001; Jehuda Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht, Frankfurt/M. 1967; Detlef Bald: Hiroshima, 6. August 1945. Die nukleare Bedrohung, München 1999; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): 200 Tage und 1 Jahrhundert. Gewalt und Destruktivität im Spiegel des Jahres 1945, Hamburg 1995.

12) Weiterführende Literatur bei Bald: Bundeswehr, S. 21 ff.

13) Hinweis auf das epochale Dokument NSC 68, ausführlich bei Bernd Greiner: Atomtests und amerikanische Militärstrategie. Ein Dokument aus dem Jahre 1947, in: 1999, 1 (1986). S. 120.

14) Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Frankfurt/M. 1967, S. 77.

15) Zitat von Antonius John, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik (Hg.): Nach-Denken. Über Konrad Adenauer und seine Politik, Bonn 1993, S. 145.

16) Konrad Adenauer: »Wir haben es geschaffen«. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1953-1957. Düsseldorf 1990, S. 510.

17) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 28 ff.

18) Vgl. das Dokument bei Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus (Hg.): Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950 und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977.

19) Im Zusammenhang und mit Literaturhinweisen siehe Bald: Hiroshima, S. 121 ff., hier S. 124.

20) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 53; ein Beispiel mit Dokumenten des Milizkonzepts von Schwerin bei Detlef Bald: Miliz als Vorbild?, Baden-Baden 1987, S. 71 ff.

21) Ulrich de Maizière: In der Pflicht. Lebensbericht eines deutschen Soldaten im 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Herford 1989, S. 229.

22) Vgl. Carl-Friedrich von Weizsäcker (Hg.): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971.

23) Jürgen Kocka: 1945. Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern, Heinrich August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt/M. 1979, S. 157.

24) Edwin Czerwick: Demokratisierung und öffentliche Verwaltung in Deutschland. Von Weimar zur Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, 2/2002, S. 183 ff.

25) Vgl. Georg Picht (Hg.): Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr. 3 Folgen, Witten 1966; René König (Hg.): Beiträge zur Militärsoziologie, Sonderheft 12, Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1968.

26) Vgl. Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995; zu Wolf Graf von Baudissin und die Zivilisierung des Militärs auch: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff.; Detlef Bald, Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hg.): Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär, Baden-Baden 1999.

27) Inspekteur Johannes Steinhoff anlässlich des Stapellaufs des Zerstörers Mölders, 13. April 1968.

28) Bernd C. Hesslein (Hg.): Die unbewältigte Vergangenheit der Bundeswehr. Fünf Offiziere zur Krise der Inneren Führung, Reinbek 1977, S. 24.

29) Armin Halle: Vortrag in Tutzing, 19. April 1970, zitiert in Bald, Bundeswehr, S. 69.

30) Befragung von 1969 bei Klaus Reinhardt, Generalstabsausbildung in der Bundeswehr, Bonn, Herford 1977.

31) Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

32) Wolf Graf von Baudissin: Abschiedsvorlesung, 18. Juni 1986, Universität Hamburg, in: Ders., Dagmar Gräfin Baudissin: »…als wären wir nie getrennt gewesen«. Briefe 1941-1947, hrsg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001, S. 267.

33) Wido Mosen: Bundeswehr – Elite der Nation? Determinanten und Funktionen elitärer Selbseinschätzung von Bundeswehrsoldaten, Neuwied, Berlin 1970, S. 329; Oskar Negt: In Erwartung der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer, Carl Nedelmann: Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit, München 1967, S. 210; vgl. Jakob Moneta u.a.: Bundeswehr in der Demokratie. Macht ohne Kontrolle?, Frankfurt/M. 1974, S. XIII (Einleitung von Imanuel Geiss).

34) Wolfram F. Hanrieder: Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, 2. Aufl. Paderborn 1995; Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, München 1992.

35) Vgl. Christian Hacke: Weltmacht wider Willen. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1993; Hans-Peter Schwarz: Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994

36) Das Neue Strategische Konzept des Bündnisses, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 128, 13. Nov. 1991, S. 1039.

37) NATO-Gipfelkonferenz in Rom. Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit, ebenda, S. 1033.

38) Vgl. Jo Angerer, Erich Schmidt-Eenboom (Hg.): Siegermacht NATO. Dachverband der neuen Weltordnung, Berg/Starnberger See 1993.

39) Dokument vom 16. Okt. 1987 bei Caroline Thomas, Randolph Nikutta: Bundeswehr und Grundgesetz. Zur neuen Rolle der militärischen Interventionen in der Außenpolitik, in: Militärpolitik Dokumentation, Jg. 13, Bd. 78/79, 1990, Frankfurt/M. 1991, S. 70 ff.

40) Klaus Naumann, Ansprache in Hamburg, 27. Febr. 1989, in: Mittler-Brief 3/1989, S. 3.

41) Vgl. Dieter Wellershoff (Hg.): Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel, Bonn 1991.

42) Volker Rühe: Betr.: Bundeswehr. Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel, Berlin 1993, S. 165.

43) Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr, Bonn Januar 1992.

44) Bundesministerium der Verteidigung (Hg.): Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr, Berlin 10. Aug. 2004.

45) Johann Adolf Graf von Kielmansegg: Der Krieg ist der Ernstfall, in: Truppenpraxis 3/1991, S. 304 ff.

46) Hartmut Bagger: Anforderungen an den Offizier des Heeres, Bonn 29. Juli 1994.

47) Die folgenden Zitate und weitere Einzelheiten in dem Heft »Bundeswehr – quo vadis« der Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 15, 1997; Detlef Bald: Zwischen Gründungskompromiss und Neotraditionalismus. Militär und Gesellschaft in der Berliner Republik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 24, 1999, S. 99 ff.

48) Arwed Bonnemann, Christine Posner: Die politischen Orientierungen der Studenten an den Universitäten der Bundeswehr im Vergleich zu Studenten an öffentlichen Hochschulen, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 20, 2002, S. 49 f.; Paul Schäfer: Bundeswehr und Rechtsextremismus, Dossier/Beilage Nr. 28, in: Wissenschaft und Frieden, Jg. 16, 1998; zu »hochgradig rechtslastigen« Tendenzen vgl. Elmar Wiesendahl: Rechtsextremismus in der Bundeswehr, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 16, 1998, S. 244.

49) Zitatbelege bei Bald: Bundeswehr, S. 184 ff.

50) Vgl. zusammenfassend Berthold Meyer: Die Dauerkontroverse um die Wehrpflicht – ein Beispiel für Konfliktverwaltung, Frankfurt/M. 2005 (HSFK-Report 11/2005).

51) Vgl. Jürgen Groß: Demokratische Streitkräfte, Baden-Baden 2005; Detlef Bald, Andreas Prüfert (Hg.): Innere Führung. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform, Baden-Baden 2002.

52) Caroline Thomas, Randolf Nikutta: Anything goes. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12. 7, 1994. Ein Kommentar, in: Wissenschaft und Frieden, 3/1994.

53) Vgl. Bald: Bundeswehr, S. 162 ff.; Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000.

54) Vgl. Dieter S. Lutz (Hg.): Deutsche Soldaten weltweit? Blauhelme, Eingreiftruppen, »out of area«- Der Streit um unsere sicherheitspolitische Zukunft, Reinbek 1993, S. 8.

55) Vgl. Dieter S. Lutz, Hans J. Giessmann (Hg.): Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, Baden-Baden 2003.

56) Art III-210, vgl. auch Art I-40.

57) Vgl. Wolfgang Wagner: Für Europa sterben? Die demokratische Legitimität der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Frankfurt/M. 2004.

58) Vgl. Lothar Schröter (Hg.): Europa und Militär. Europäische Friedenspolitik oder Militarisierung der EU? Schkeuditz 2005.

59) FAZ, 30. Jan. 2003, 1. Febr. 2003.

60) Vgl. Wolfgang Schäuble: Soldaten vor die Fußballstadien, in: SZ, 16. Dez. 2005.

61) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 35 und 87 a), Bundesrat, Drucksache 181/04, 5. März 2004.

62) Vgl. Peter Blechschmidt, Annette Ramelsberger: Pläne des Verteidigungsministeriums, in: SZ, 9. Febr. 2006.

63) Zitiert in FR, 22. Dez. 1993.

64) Pflüger: Bundeswehr, S. 110.

Restaurativer Traditionalismus in der Bonner Republik

1) Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, 5. Aufl. Wiesbaden 1955, S. 156.

2) Vgl. Gerhard Ritter: Das Problem des Militarismus in Deutschland, in Historische Zeitschrift, 177/1954, S. 46f.; Manfred Messerschmidt: Das Gesicht des Militarismus in der Zeit des Nationalsozialismus, in Wolfram Wette (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945, Berlin 2005, S. 265 ff.; zur Sozial- und Strukturgeschichte der militaristischen Vergangenheit in der Wehrmacht vgl. Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann (Hg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 349 ff.

3) Hans Herzfeld: Der Militarismus als Problem der Neueren Geschichte, in Schola I, 9/1946, S. 41 ff.

4) Vgl. Detlef Bald, Johannes Klotz, Wolfram Wette: Mythos Bundeswehr. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege in der Bundeswehr, Berlin 2001.

5) Vgl. Gerd Schmückle: Kommiss a.D., Stuttgart 1971.

6) Vgl. meinen Ansatz, wichtige Merkmale des historischen Geschehens zu benennen: Detlef Bald:Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005, München 2005; ders.: Militär und Gesellschaft 1945-1990. Die Bundeswehr der Bonner Republik, Baden-Baden 1994, S. 53 ff.; auch: Kämpfe um die Dominanz des Militärischen, in Bald, Klotz, Wette: Mythos Wehrmacht, S. 17 ff.

7) Gespräch mit Wolf Graf von Baudissin, in Axel Eggebrecht (Hg.): Die zornigen alten Männer. Gedanken über Deutschland seit 1945, Reinbek 1979, S. 216. Zum Überblick der Reformpolitik vgl. Hilmar Linnenkamp, Dieter S. Lutz (Hg.): Innere Führung. Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995.

8) Jürgen Kocka: 1945. Neubeginn oder Restauration?, in Carola Stern, Heinrich August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt/M. 1979, S. 157; vgl. zum neuesten Stand der Diskussion Wolfram Wette (Hg.): Schule der Gewalt. Militarismus in Deutschland, Berlin 2005.

9) Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus (Hg.): Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977, Einleitung.

10) Vgl. Anmerkung 6 und 7; zu Wolf Graf von Baudissin und die Zivilisierung des Militärs auch: Claudia Fröhlich, Michael Kohlstruck (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 84 ff.; Detlef Bald, Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hg.): Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär, Baden-Baden 1999.

11) Vgl. Dietrich Genschel: Wehrreform und Reaktion. Die Vorbereitungen der Inneren Führung 1951-1956, Hamburg 1972, S. 149 ff.

12) BA-MA (Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg) Bw 9/2527-113 Heinz Karst: Bedenken über die innenpolitische Entwicklung der Vorbereitungen für den Aufbau der Streitkräfte, 1. Aug. 1955; der politische Horizont wird in der von Karst verfassten Schrift deutlich: Vom künftigen deutschen Soldaten, Bonn 1955.

13) BA-MA Bw N 717/5 Tagebuch Innere Führung, 24. Aug. und 14. Sept. 1955.

14) Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

15) Wolf Graf von Baudissin. Abschiedsvorlesung, 18. Juni 1986, Universität Hamburg, in: Ders.. Dagmar Gräfin Baudissin: »…als wären wir nie getrennt gewesen«. Briefe 1941-1947, hrsg. von Elfriede Knoke, Bonn 2001, S. 267.

16) Vgl. Mathias Jopp: Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel des Bildungswesens in der Bundeswehr, Frankfurt/M. 1983; Detlef Bald: Generalstabsausbildung in der Demokratie. Die Führungsakademie der Bundeswehr zwischen Traditionalismus und Reform, Koblenz 1984.

17) Vgl. Detlef Bald: Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982.

18) Vgl. Wido Mosen: Bundeswehr – Elite der Nation? Determinanten und Funktionen elitärer Selbsteinschätzung von Bundeswehrsoldaten, Neuwied, Berlin 1970, S. 329; Oskar Negt: In Erwartung der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer, Carl Nedelmann: Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit, München 1967, S. 210.

19) Klaus Reinhardt: Generalstabsausbildung in der Bundeswehr, Bonn, Herford 1977.

20) Zur Militärreform in der Ära Brandt vgl. Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack, Martin Rink (Hg.): Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr, Freiburg/Br. 2005, S. 341 ff.

21) Heinz Karst: Das Bild vom Soldaten. Versuch eines Umrisses, Boppard 1967, S. 50.

22) IfZ (Institut für Zeitgeschichte München) ED 447/4 H. Karst an Prof. Hausmann, 8. Jan. 1969; Hamburger Morgenpost, 26. April 1969.

23) IfZ ED 437,109 Interview K. von Schubert mit Generalmajor R. von Rosen, 9. Dez. 1982.

24) Text bei Klaus Heßler: Militär, Gehorsam, Meinung, Berlin 1971, S. 115 ff.; leichter zugänglich bei Klaus von Schubert (Hg.): Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Dokumentation 1945-1977, Teil 2, Bonn 1978, S. 447 ff.

25) Vgl. Jakob Moneta u.a.: Bundeswehr in der Demokratie. Macht ohne Kontrolle?, Frankfurt/M. 1974, S. XIII (Imanuel Geiss in der Einleitung).

26) IfZ ED 437/108 Interview K. von Schubert mit U. de Maizière, 1982.

27) IfZ ED 437/114, 33 Wortprotokoll von der Tagung des Bundesministers der Verteidigung mit Hauptleuten (…), 10. Mai 1971.

28) Vgl. die Kritik eines Offiziers: IfZ ED 447/47 Leutnant J. B., Stellungnahme zu den Hauptmanns-Thesen, 1. Mai 1971. Er schreibt: „Schaut man sich die Geschichte der Bundeswehr an, so ist sie die eines verdeckten oder unverdeckten Grabenkampfes zwischen Reformern und Traditionalisten. (…) Diese zwei Denkschulen, die von Anfang an in der Bundeswehr einen kalten Krieg probten, die eine angetreten unter dem Gesichtspunkt militärischer Schlagkraft und Unvereinbarkeit von Militär und Gesellschaft, die andere unter dem der Friedenssicherung durch Abschreckung und der prinzipiellen Vereinbarkeit von Militär und Gesellschaft, bilden sozusagen systemimmanente Krisenherde, solange sich die Bundeswehr in Absprache mit der Gesellschaft nicht für ein Bild entscheidet.“

29) Vgl. Detlef Bald: Bundeswehr und gesellschaftlicher Aufbruch 1968. Die Widerstände des Militärs in Unna gegen die Demokratisierung, in: Westfälische Forschungen, 48/1998, S. 297 ff.

30) Generalmajor von Reichert, in: Wehrkunde, 8/1973, S. 398.

31) IfZ ED 447/4 Genlt. Horst Hildebrandt in Madrid, 27. Mai 1975.

32) Kurt Kister: Innere Führung ohne Überzeugung, in: Franz H.U. Borkenhagen (Hg.): Bundeswehr. Demokratie in oliv? Streitkräfte im Wandel, Berlin 1986, S. 162 f.

33) Heinz Karst: Zustand und Therapie in Geist und Haltung der Bundeswehr, 11. Jan. 1983. Die hier zitierte Fassung datiert von diesem Datum. Karst teilte am 6. April 1983 dem Ministerium, Fü S I, mit, Manfred Wörner habe sein Exemplar früher, im „Herbst 1982“, vor der Ernennung zum Minister erhalten.

34) Heinz Vielain: Bundeswehr in der Hand der SPD, in: Welt am Sonntag, 25. März 1984.

35) Vgl. Dieter Farwick, Gerhard Hubatschek: Die strategische Erpressung – eine sicherheitspolitische Lösung, München 1981.

36) Gerhard Hubatschek: Wertewandel in der Bundeswehr, in: Die Welt, 11. Nov. 1982, S. 7.

37) IfZ ED 437/114-23 W. Graf Baudissin an G. Hubatschek, 21. Febr. 1983.

38) Karst-Studie, S. 14 f.

39) Karst-Studie, S. 49.

40) Karst-Studie, S. 3.

41) Dieter Stockfisch: Das Ethos des Soldaten heute, in Truppenpraxis, 5/1983, S. 329; Dieter Farwick: Die Innenansicht der Bundeswehr, in Criticon, Jan./Febr. 1982.

42) Rolf Elble: Einleitung, in Soldat im Volk, Sept. 1984, S. 4.

43) Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum »Historikerstreit«, München 1988, S. 194 ff.; Detlef Bald, Martin Kutz, Manfred Messerschmidt, Wolfram Wette: Zurück, marsch, marsch!, in Die Zeit, 6. Mai 1994, S. 52.

44) Vgl. Wolfram Wette: Die Bundeswehr im Banne des Vorbildes Wehrmacht, in: Bald, Klotz, Wette: Mythos Wehrmacht, S. 87 ff.

45) IfZ ED 437/114-50 Fü S I 6 an Parl. Staatssekretär, 22. Juni 1983 (Bezug: Bericht von F.W. Steege vom Psychologischen Dienst).

46) Vorbemerkung, Karst-Studie, S. 1.

111) Karst-Studie, S. 4 f.

112) Karst-Studie, S. 8.

49) Karst-Studie, S. 33.

50) Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 982.

51) Vgl. Detlef Bald, Andreas Prüfert (Hg.): Innere Führung. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform, Baden-Baden 2002.

Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor und ist Mitglied der Forschungsgruppe »Demokratisierung von Streitkräften im Kontext europäischer Sicherheit« am Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH).

4 Jahre Rot-Grün

Eine friedenspolitische Bilanz

4 Jahre Rot-Grün

von Michael Brzoska / Heiner Busch / Regina Hagen / Jakob Knab / Otfried Nassauer / Jürgen Nieth / Tobias Pflüger / Kathrin Vogler

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft & Frieden e.V. (IWIF)

zum Anfang | In der Gewaltlogik gefangen

Unter Rot-Grün wuchs die Bedeutung des Militärischen

von Jürgen Nieth

„Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“. Mit diesen Worten beginnt Kapitel XI (»Europäische Einigung, internationale Partnerschaft, Sicherheit und Frieden«) der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom Oktober 1998. Und weiter heißt es: „Die neue Bundesregierung wird die Grundlinien bisheriger deutscher Außenpolitik weiterentwickeln: die friedliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Nachbarn, die Pflege der transatlantischen Beziehungen, die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Union… die besondere Verantwortung für Demokratie und Stabilität in Mittel-, Ost- und Südosteuropa… Grundlagen sind dabei die Beachtung des Völkerrechts und das Eintreten für Menschenrechte, Dialogbereitschaft, Gewaltverzicht und Vertrauensbildung. Die Bundesregierung begreift die internationale Zusammenarbeit als Politik der globalen Zukunftssicherung.“

Wenngleich das Friedensthema nicht gerade an herausragender Stelle dieses ersten Rot-Grünen-Dokuments steht – danach folgt nur noch der Punkt »Kooperation der Parteien« – waren die Hoffnungen in großen Teilen der Bevölkerung, vor allem bei den friedenspolitisch Engagierten, groß, schließlich war der eine Koalitionspartner aus der Umwelt- und Friedensbewegung hervorgegangen, waren Teile der Regierungsmannschaft selbst aktiv in der Friedensbewegung der 80er Jahre. Auch die Regierungsvereinbarung selbst weckte Erwartungen. Zum Beispiel wenn es da heißt:

  • Die Bundesregierung wird „sich mit aller Kraft um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregelung bemühen. Sie wird sich dabei von der Verpflichtung zur weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, zu einem ökonomischen, ökologischen und sozial gerechten Interessenausgleich der Weltregionen und zur weltweiten Einhaltung der Menschenrechte leiten lassen.“
  • „Die neue Bundesregierung wird im Rahmen der anstehenden NATO-Reform darauf hinwirken, die Aufgaben der NATO jenseits der Bündnisverpflichtung an die Normen und Standards der VN und der OSZE zu binden.“
  • „Die kontrollierte Abrüstung von atomaren, chemischen und bakteriologischen Massenvernichtungswaffen bleibt eine der wichtigsten Aufgaben globaler Friedenssicherung. Die neue Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest.“
  • Oder wenn sich die neue Bundesregierung dazu bekennt, dass „die Rüstungsobergrenzen deutlich unter das heutige Niveau zu senken sind“, dass unter Umständen auch ein „einseitiger Abrüstungsschritt… eine sinnvolle Abrüstungsdynamik in Gang setzen“ kann; dass der deutsche Rüstungsexport außerhalb der NATO und EU „restriktiv gehandhabt“ werden soll.1

Hoffnungsvolle Signale waren auch die Ankündigungen, dass die unter der Kohl-Regierung fast bis auf Null zurückgefahrene Förderung der Friedensforschung wieder aufgenommen wird, dass der Zivile Friedensdienst endlich ernst genommen und unterstützt wird.

Die Ernüchterung

Die Ernüchterung kam schneller als erwartet: Die Regierung war noch kein halbes Jahr im Amt, da beteiligten sich deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder an einem Angriffskrieg, von Ende März bis fast Mitte Juni 1999 bombardierten u.a. ECR-Tornados der Bundeswehr unter Bruch des Völkerrechts die Republik Jugoslawien. An die Stelle des versprochenen Einsatzes für „Krisenprävention und… friedliche Konfliktregelung“ rückte das Streben nach militärischer Mitsprache und Machtdemonstration auch außerhalb des NATO-Gebietes. Statt die „NATO… an die Normen und Standards der VN und der OSZE zu binden“, wurden VN und OSZE vor der Bombardierung Jugoslawiens nicht einmal gefragt und damit entscheidend geschwächt. Statt beizutragen zu einer „weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen,“ wurde der Krieg wieder zur Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, wurde internationales Recht gebrochen.

Sicher gab es damals in dieser Region aufgrund der dauernden Menschenrechtsverletzungen internationalen Handlungsdruck, doch Kenner der Situation, wie das langjährige Mitglied der OSZE-Mission, der Ex-Bundeswehr-General Heinz Loquai, sprechen bis heute von einem „vermeidbaren Krieg“ und bringen dafür zahlreiche Belege.2 Zwischen den internen Lageberichten des Auswärtigen Amtes und der Regierungspropaganda lagen Welten. Während intern noch zehn Tage vor Beginn der Bombardierungen lediglich von „Zusammenstößen zwischen UCK und Sicherheitskräften“ gesprochen wurde, die „bislang nicht die Intensität der Kämpfe vom Frühjahr/Sommer 1998 erreicht haben“,3wurden in der Öffentlichkeit zur Legitimation des Krieges Fakten verschwiegen, verdreht und notfalls auch erfunden. So der sogenannte »Hufeisenplan«, der zum Beleg für die geplante Vertreibung der Kosovaren durch jugoslawisches Militär herhalten musste und den es so wohl nie gab. „Diese Grafiken sind entstanden im deutschen Verteidigungsministerium.“ 4 Oder z.B. die Gräuelmärchen des Verteidigungsministers vom „Konzentrationslager im Stadion“, von Serben, die Schwangeren Frauen „die Bäuche aufgeschlitzt und die Föten gegrillt“ hätten.5 Es gibt viele Beispiele, bei denen sich die Frage stellt, ob die Regierenden wussten, dass es sich um Lügen handelt, ob diese bewusst in Umlauf gebracht wurden, um den Krieg in der deutschen Öffentlichkeit zu rechtfertigen oder ob die Herren Minister »nur« ihnen untergeschobene Falschinformationen ungeprüft weiterverbreitet haben. Im jedem Fall wäre später eine Aufarbeitung und Korrektur notwendig gewesen. Sie blieb aus, wie insgesamt die eigentlich unbedingt notwendige und „die vielfach von offizieller Seite vor und während des Krieges versprochene breite und intensive Diskussion der Konsequenzen und Lehren aus dem militärischen Eingreifen der NATO bis heute nicht stattgefunden hat.“6 Die Aufarbeitung des »Weges in den Krieg« und eine Untersuchung möglicher alternativer Strategien blieb aus; statt auf die Entwicklung ziviler Konfliktlösungsvarianten richtete sich in der Folgezeit das Denken und Handeln auf die Steigerung der militärischen Leistungsfähigkeit. Der Krieg gegen Jugoslawien wurde so zum Wendepunkt in der deutschen Außen- und Militärpolitik.

Der Krieg als »Normalfall«

Die folgenden Monate wurden von einer Debatte um Strukturveränderungen der Bundeswehr dominiert. Und ob Weizsäcker-Kommission, Kirbach-Papier oder das Eckpunkte-Papier Scharpings, die Kernaussagen gleichen sich: Es geht um die Verkleinerung der Bundeswehr bei gleichzeitiger Effektivierung. Und unter Effektivierung wird vor allem eine Umorientierung verstanden: Weg von der Verteidigungsarmee, die nur im Falle eines Angriffs auf das Bündnis einsatzbereit sein muss, hin zur Interventionsarmee, die jederzeit weltweit einsatzfähig ist und dementsprechend auch hochgerüstet werden muss. Die Weizsäcker-Kommission empfahl „die deutschen Streitkräfte auf eine schnelle Reaktion in zwei gleichzeitigen Krisen hin auszurichten“ und sich darauf zu konzentrieren „Kräfte für multinational geführte Einsätze und gemeinsame europäische Kontingente bereitzustellen“ .7 Der damalige Generalinspekteur Kirbach sprach davon, dass das Einsatzgebiet der Bundeswehr „künftig vorrangig außerhalb der Grenzen Deutschlands“ liegen wird und es darum geht „eine große Operation über einen mittleren Zeitraum… oder zwei mittlere Operationen mit sehr langer Einsatzdauer… sowie mehrere kleinere Operationen von sehr kurzer bis zu sehr langer Einsatzdauer… gleichzeitig durchführen zu können.“8

Auch für den Verteidigungsminister ging es darum, an mehreren Orten gleichzeitig intervenieren zu können. Deshalb hatte für ihn „die Verbesserung der strategischen Verlegefähigkeit… erste Priorität“9

Als der Bundeskanzler im September 2001 dem US-Präsidenten die Bundeswehr für den Krieg gegen den Terrorismus anbot, mag das zum Teil aus der aktuellen Situation heraus geschehen sein, in jedem Fall aber lag es in der Kontinuität der letzten drei Jahre, in denen Krisenbewältigung fast ausschließlich militärisch gedacht wurde; drei Jahre, in denen Kriegsführungsfähigkeit mit Normalität verwechselt wurde, anstatt den Frieden und die Vermittlungsfähigkeit als das Normale und das Erstrebenswerte zu sehen.

Fazit

Sicher soll nicht verkannt werden, dass es unter Rot-Grün in einigen Bereichen friedenspolitische Maßnahmen gab, die sich positiv von der Vorregierung abhoben. Die Einrichtung einer Deutschen Stiftung Friedensforschung zählt dazu genauso wie die Förderung des Zivilen Friedensdienstes oder die Initiativen für eine Einschränkung des Handels mit Kleinwaffen. Weitere Beispiele finden sich in den Einzelbilanzen dieses Dossiers. Und doch fällt mir bei aller Wertschätzung einzelner Maßnahmen und Initiativen und auch angesichts der Tatsache, dass von Schwarz-Gelb sicher nicht mehr zu erwarten gewesen wäre, an diesem Punkte Kurt Tucholsky ein, der vor 80 Jahren textete: „Gut, das ist der Pfennig aber wo ist die Mark?“ Tucholsky fortgesetzt müsste es heute weiter heißen: Die Mark ist Milliarden und milliardenfach ins deutsche Militär geflossen. Aus der 1998 versprochenen deutlichen Absenkung der „Rüstungsobergrenzen … unter das heutige Niveau“ wurde nichts.

Und die Ökonomie sagt Entscheidendes über den Stellenwert: Nicht die Förderung des einen oder anderen Friedensprojekts, nicht der eine oder andere friedenspolitische Ansatz bestimmen die Bilanz der rot-grünen Regierung. Dominierend ist, dass sich in diesen vier Jahren Deutschland erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder an zwei Angriffskriegen beteiligt hat, dass sich heute wieder wie selbstverständlich deutsche Soldaten in Afghanistan an Kampfeinsätzen beteiligen, dass 2002 mehr Bundeswehrsoldaten außerhalb des NATO-Gebietes stationiert sind als jemals zuvor. Bestimmend ist, dass das Trio Schröder – Scharping – Fischer offensichtlich dem Irrglauben anhängt, politische Lösungen ließen sich mit militätischen Mitteln erzwingen. Da bleibt dann kaum Raum für das Versprechen der Koalitionsvereinbarung, sich mit aller Kraft „um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregelung (zu) bemühen“ und beizutragen „zur weiteren Zivilisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen.“

Anmerkungen

1) Alle vorstehenden Zitate: Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Frankfurter Rundschau, 22.10.1998.

2) Heinz Loquai: Der Kosovo Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg. Nomos Verlag, Baden-Baden, 2000.

3) Lageberichte des Auswärtigen Amtes, vor Gericht verwertet zur Ablehnung von Flüchtlingen aus dem Kosovo. AZ:514-516.80/33841, siehe auch W&F 2/99, S. 8.

4) Heinz Loquai in der Panorama-Sendung der ARD vom 18.05.2000, zitiert nach W&F, 3/2000, S. 66.

5) Der Spiegel, 26.04.99, S. 26, Interview mit Rudolf Scharping.

6) Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz: Für die politische Zukunft des Kosovos hat der Westen kein Konzept. Offener Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. FR 24.03.01.

7) Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr, Berlin, 2000, S. 53

8) Eckwerte für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Streitkräfte, S. 12

9) Die Bundeswehr – sicher ins 21. Jahrhundert – Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf, Berlin, Juni 2000

Jürgen Nieth, verantwortlicher Redakteur von W&F

zum Anfang | Rüstungskontrolle: Kaum Widerstand gegen Bush´s Kahlschlagpolitik

von Otfried Nassauer

„Eine wesentliche Aufgabe sieht die neue Bundesregierung in der präventiven Rüstungskontrolle.

Sie ergreift Initiativen, um im Rahmen der KSE-Verhandlungen die Rüstungsobergrenzen deutlich unter das heutige Niveau zu senken. Sie macht ihren Einfluss geltend, um den internationalen Regimes zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen Geltung zu verschaffen, besonders grausame Waffen wie Landminen weltweit zu verbieten und die weitere Reduktion strategischer Atomwaffen zu befördern. Zur Umsetzung der Verpflichtungen zur atomaren Abrüstung aus dem Atomwaffensperrvertrag wird sich die neue Bundesregierung für die Absenkung des Alarmstatus der Atomwaffen, sowie für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen.

Die neue Bundesregierung unterstützt Bemühungen zur Schaffung atomwaffenfreier Zonen. Sie wird eine Initiative zur Kontrolle und Begrenzung von Kleinwaffen ergreifen.“

(Aus Kapitel XI.6 Abrüstung und Rüstungskontrolle der rot-grünen Koalitionsvereinbarung vom 20.10.1998)

Kaum Außenminister, löckte Joschka Fischer den Stachel: Washington, so der Minister, möge – zumindest im Blick auf die NATO – einen Verzicht auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen bedenken. Trotz Fischers gleichzeitigem deutlichen Bekenntniss zur Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik unter Rot-Grün wurde er daraufhin politisch regelrecht »zusammengefaltet«. Binnen Tagen war klar: Alles bleibt wie es ist; die Initiative – aus amerikanischer Sicht ein Frontalangriff auf die US-Nuklearstrategie – war mausetot. Danach kamen in der Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungspolitik aus Berlin – wenn überhaupt – nur leise Töne:

  • Initiativen im Rahmen der Verhandlungen über das zweite Abkommen über konventionelle Stabilität in Europa (KSE-2), um der Stabilität Priorität gegenüber den amerikanischen Wünschen nach mehr Flexibilität zu verleihen (weitgehend gescheitert);
  • Versuche, im Rahmen einer informellen Gruppe der nichtnuklearen Fünf der NATO, die Rolle nuklearer Waffen im Kontext der NATO-Strategie zurückzudrängen zugunsten einer Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes (partiell erfolgreich);
  • Unterstützung für ein weitgehendes nukleares Teststoppabkommen (bedingt erfolgreich);
  • Unterstützung für ein Abkommen über ein Verbot der Produktion waffenfähiger Kernmaterialien und für ein Verifikationsverfahren zur Absicherung der B-Waffen-Konvention aus dem Jahre 1972 (beides gescheitert);
  • Bemühen um eine substantielle Grundlage für die erste Konferenz der Vereinten Nationen, die sich mit der Begrenzung des illegalen (aber nicht des legalen) Handels mit Kleinwaffen beschäftigen sollte (gescheitert).

Die Herausforderungen des George W. Bush

Die Zeit spielte wie so oft in der Diplomatie eine entscheidende Rolle. Vieles, was unter der Clinton-Administration in Washington auf den Weg gebracht werden konnte, gelang erst in deren letzten Monaten und bot der Bush-Administration Optionen zum Rückzug, die diese nur zu gerne nutzte.

Richard Haass, Direktor für Politische Planung im US-Außenministerium: Die neue Regierung betreibe »Multilateralismus a la carte«. „Wir werden uns jedes Abkommen einzeln anschauen und eine Entscheidung treffen.“ Das Ergebnis der bisherigen Einzelfallentscheidungen ist bildlich gesprochen eine Schneise der Verwüstung in der Rüstungskontroll-Landschaft (Daran ändert es nichts, dass die Regierung Bush erstmals einen Rüstungskontrollvertrag mit Rußland unterzeichnete. In ihm steht nichts, was die Interessen Washingtons beeinträchtigt, aber vieles, das für einen weiteren Abbau rüstungskontrollpolitischer Regeln genutzt werden kann).

Nach nur achtzehnmonatiger Amtszeit hat die neue US-Administration deutliche Zeichen gesetzt:

  • Der ABM-Vertrag wurde gekündigt und mit ihm entfallen auch viele Begrenzungen für eine künftige Militarisierung des Weltraums.
  • Die Unterschrift der USA unter die römische Konvention des Internationalen Strafgerichtshofs ist zurückgezogen worden.
  • Abgelehnt wurde das Protokoll für ein Verifikationsabkommen, mit dem das Verbotsabkommen für biologische Waffen wirksamer gemacht werden sollte; eigene Vorschläge für ein solches Protokoll präsentierte Washington nicht.
  • Verhindert wurde, dass im Juli 2001 bei der ersten UN-Konferenz über den illegalen Handel mit Kleinwaffen ein zwar nur sehr begrenztes, trotzdem aber doch sinnvolles Aktionsprogramm zur Begrenzung des Kleinwaffenhandels verabschiedet werden konnte.
  • Zurückgezogen wurde die Zusage der Regierung Clinton, bis zum Jahr 2006 auf Antipersonenminen zu verzichten und dem Ottawa-Vertrag über ein Verbot dieser Waffen beizutreten.

Die nächsten Schritte sind absehbar:

  • Auf Wunsch des Pentagons wird überprüft, ob die USA auch ihre Unterschrift unter den CTBT, den Teststopp-Vertrag, zurückziehen soll. Im Verteidigungsministerium ist man der Auffassung, der Vertrag behindere die Entwicklung einer neuen Generation nuklearer Waffen. Im Energieministerium wird z. Zt. die Vorbereitungszeit für die Wiederaufnahme nuklearer Tests signifikant verringert.
  • Auf mittlere Sicht ist damit zu rechnen, dass auch der Weltraumvertrag in Frage gestellt werden wird. Er behindert die Weltraumrüstungspläne der US-Administration.
  • Konservative Hardliner und Militärs ziehen in Zweifel, ob der INF-Vertrag, mit dem einst die nuklearen Mittelstreckenraketen in Ost und West abgebaut wurden, noch im Interesse Washingtons ist, denn er verbietet nur Washington und Moskau den Bau und Besitz auch konventioneller Mittelstreckenraketen.

Besonders problematisch aber ist, dass die Haltung der Washingtoner Administration, weit über die Rüstungskontrolle hinaus, auch in anderen Bereichen dazu beiträgt, die internationalen Beziehungen zu deregulieren. Manche in den Washingtoner Amtsstuben würden gar am liebsten die Wiener Konvention über internationale Verträge – wie viele völkerrechtliche Rechtsakte von Washington zwar unterzeichnet jedoch nie ratifiziert – durch einen Widerruf der US-Unterschrift aus dem Verkehr ziehen. Diese Konvention fordert von den Signatarstaaten eines Abkommens, das noch nicht ratifiziert ist, sich so zu verhalten als sei der Vertrag bereits in Kraft. Es darf also nicht gegen den Geist der unterzeichneten Vereinbarung verstoßen werden. Obwohl z.B. der SALT2- und der START2-Vertrag nie in Kraft getreten sind, haben sich alle Beteiligten an deren Regelungen gebunden gefühlt.

Würden die USA ihre Unterschrift unter die Wiener Konvention zurückziehen, so stünde auf einen Schlag eine Vielzahl internationaler Rüstungskontrollabkommen vor dem Aus: Allen voran das Abkommen über einen umfassenden Atomteststopp – CTBT, Verträge wie der KSE2-Vertrag über Konventionelle Stabilität in Europa oder auch die Zusatzprotokolle der Genfer Konvention, das wichtigste internationale Dokument zur Begrenzung inhumaner Kriegführung.

Beredtes Schweigen im deutschen Walde?

Dieser rasanten Entwicklung wusste die Bundesregierung wenig entgegenzusetzen. Ihre Haltung in den ersten Monaten der neuen US-Administration erweckte den Eindruck, Berlin schwanke zwischen ungläubigem Staunen, Nichtverstehen und der Hoffnung, nichts werde so heiß gegessen wie es gekocht wurde. Mantraartige Beschwörungen der Bedeutung des Multilateralismus, der fundamentalen Bedeutung von Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie rituell wiederholte Mahnungen, es gelte das rüstungskontrollpolitisch Erreichte zu erhalten, prägten die Folgezeit, in der aber schnell die Erkenntnis unvermeidlich wurde, dass es der Regierung Bush mit dem Ausstieg zumindest aus dem ABM-Vertrag Ernst war. Hoffnungen, Russland werde mehr als nur hinhaltenden Widerstand leisten, erwiesen sich bald als illusionär. Die Mahnungen wurden zur faktischen Bitte: Washington möge das rüstungskontrollpolitische Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Auch hier wurde schnell deutlich, dass dieser Bitte nicht entsprochen werden würde.

In Reaktion auf die Terroranschläge des 11. Septembers machte George W. Bush mit seiner Rede zur Lage der Nation im Januar deutlich: Terrorismus und Proliferation sind künftig wichtige Interventionsgründe; rüstungskontrollpolitische Mittel zur Proliferationsverhinderung und -verlangsamung sind vielleicht nützlich, aber nicht länger prioritär. Seither – und vor allem angesichts der rüstungskontrollpolitischen Deregulierungspolitik der US-Regierung – sucht die Bundesregierung nach probaten Mitteln zur Schadensbegrenzung. Substantielle Initiativen, um alleine oder im Kontext der Europäischen Union zu Politikkonzepten zu kommen, die Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie Proliferationsverhinderung durch Nichtverbreitungsinitiativen befördern, blieben jedoch aus. Dies blieb auch in Washington nicht verborgen. Schon Anfang dieses Jahres wusste der deutsche Botschafter in den USA, Wolfgang Ischinger, zu berichten, dass er gefragt wurde, wo denn die deutschen und europäischen Initiativen zur Stärkung der Nichtverbreitung bleiben würden.

Berlin tut sich in der Tat schwer, in dem neuen, der Rüstungskontrolle so wenig zugetanen Umfeld in Washington zu agieren. Dies ist drei Faktoren geschuldet:

  • Zum einen will die Bundesregierung nicht offen gegen den amerikanischen Partner agieren, mit Washington aber ist wenig möglich. Sie befürchtet, dass Initiativen gemeinsam mit der EU oder gar Russland seitens der USA als Affront gewertet würden.
  • Zum zweiten ahnt Berlin, dass die Regierung Bush die allermeisten – auch gutgemeinten Vorschläge – ablehnen würde, weil sie diese entweder für weniger effizient als das Mittel militärischer Intervention erachtet oder weil sie glaubt, dass neue Regeln die Handlungsfreiheit der USA beschränken.
  • Zum dritten gibt es neuartige, sehr ernstzunehmende Probleme, denen sich Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungspolitik künftig stellen müssen. Für diese fehlen weltweit noch die Antworten. Das wichtigste: Rüstungskontrollpolitik und Nichtverbreitung sind bislang Mittel in den zwischenstaatlichen Beziehungen; zurzeit gibt es keine überzeugende Antwort auf die Frage, wie diese Mittel gegenüber nichtstaatlichen Akteuren – z.B. transnationalen Terrorgruppen auf der Suche nach Massenvernichtungswaffen – griffig gemacht werden könnten.

Erstaunlich aber bleibt, dass auch jenseits der objektiven Probleme, da wo Initiativen möglich wären, fast schon Agonie zu herrschen scheint:

  • Weder Berlin noch Brüssel verfolgten ernsthaft die bereits ergriffene Initiative weiter, Nordkorea – gegebenenfalls gemeinsam mit Rußland und China – mittels wirtschaftlicher Zugeständnisse zur Aufgabe seiner Raketenprogramme und -proliferation zu bewegen.
  • Weder Berlin noch Brüssel ergriffen die Initiative, notfalls auch ohne die USA zu einer Verifikationsregelung für die B-Waffenkonvention zu kommen.
  • Weder Berlin noch Brüssel arbeiten daran, ein schlüssiges Konzept zur Stärkung von Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung zu entwickeln. Dabei wäre das ein notwendiger Schritt hin zu einer asymmetrischen, an den Stärken der eigenen Handlungsmöglichkeiten orientierten Politik Europas.

Last Waltz?

Ach ja, da war noch etwas: So gering die Rolle der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik im praktischen Handeln der Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren war, so dramatisch wird in den letzten Sitzungswochen des alten Bundestages nun aufs Tempo gedrückt. Als gelte es ein rhetorisches, rüstungskontrollpolitisches Vermächtnis zu formulieren, arbeiten die Koalitionsfraktionen nun gleich an drei Entschließungsanträgen zum Thema. Einer befasst sich mit der Notwendigkeit eines weitergehenden Verbotes von Landminen, ein zweiter mit Initiativen, um doch noch zu einem Verifikationsprotokoll für B-Waffen zu kommen und schließlich gibt es noch einen Antrag zum Thema nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.

Die ersten Entwürfe der Anträge lassen sich in substantiellen Teilen gut an. Zwar fehlen weitgehend innovative Ideen im Hinblick auf die künftig neuen rüstungskontrollpolitischen Fragestellungen. Auch zeigt sich nur punktuell, nicht aber strukturell der politische Wille, der Deregulierungspolitik der Bush-Administration konzeptionell eigenes entgegenzusetzen. Aber der größte Mangel ist ein anderer: Der neuen Dynamik zu abrüstungspolitischen Rhetorik wird kaum eine neue Dynamik abrüstungspolitischen Handelns folgen. Wie sollte sie auch? Bis zum Wahltag sind Wahlkampf und Sommerpause. Und danach werden die Karten neu gemischt.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit. Weitere Informationen: www.bits.de

zum Anfang | Die neue Triade: Atomwaffen, Raketenabwehr, Weltraumrüstung

Deutschland schweigt – und mischt mit

von Regina Hagen

„In der Koalitionsvereinbarung verpflichten sich die unterzeichnenden Parteien auf die Eckpunkte ihrer künftigen Regierungspolitik. … Auf der Ebene politischer Bekenntnisse wird die Koalitionsvereinbarung für viele Pazifisten und Friedensbewegte teilweise unerträglich sein.“ Diese Vermutung des Arbeitskreises Frieden der Grünen trog nicht.1 Die Vereinbarungen der rot-grünen Bundesregierung vom 20. Oktober 1998 blieben bezüglich der nuklearen Abrüstung tatsächlich hinter den Forderungen des grünen Wahlprogramms für die Bundestagswahl 1998 zurück. Dabei kristallisierte sich bereits heraus, welcher der beiden Koalitionspartner im weiteren Verlauf der Legislaturperiode bei sicherheitspolitischen Fragen den Ton angeben würde.2

Andererseits – im Vergleich zur Politik der Kohl-Regierung gaben die Absichtserklärungen der neuen Koalitionäre Anlass zur vorsichtigen Hoffnung. Die Regierung hält, so der Text, „an dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest und wird sich in Zusammenarbeit mit den Partnern und Verbündeten Deutschlands an Initiativen zur Umsetzung dieses Ziels beteiligen.“ Die neue Regierung werde Initiativen ergreifen, um „die weitere Reduktion strategischer Atomwaffen zu befördern“ und sich „für eine Absenkung des Alarmstatus der Atomwaffen, sowie für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen.“ Des weiteren „[unterstützt] die neue Bundesregierung Bemühungen zur Schaffung atomwaffenfreier Zonen.“3

Ersteinsatz und nukleare Teilhabe

Mit dem Beschluss vom Herbst 1998, der Teilnahme der Bundeswehr an einem Angriff gegen Rest-Jugoslawien ohne UN-Mandat zuzustimmen, wurde das Versprechen „Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik“ bereits zu Beginn der Legislaturperiode ad absurdum geführt. Kurz danach schlug Außenminister Fischer auf einer Tagung der NATO-Außenminister überraschend vor, in der neuen Bündnisstrategie auf den Ersteinsatz von Kernwaffen zu verzichten. Mit seinem unkoordinierten Vorstoß fing er sich aus den USA einen derben Rüffel ein. Seine US-amerikanische Kollegin Madeleine Albright ließ keinen Zweifel, dass derart ungebührliche Äußerungen nicht tolerierbar seien.

Damit war die Chance zu einer Diskussion über die Rolle von Atomwaffen und die damit verbundenen Einsatzstrategien vertan. Fast widerstandslos schwimmt Rot-Grün seither im Strom der Entscheidungen mit, ein eigener Gestaltungswille ist nicht zu erkennen.

Wenige Monate später, im April 1999, verabschiedete die NATO mit Billigung der deutschen Regierung ihr neues Strategisches Konzept. Darin wurde für die Bündnispolitik des 21. Jahrhunderts ausdrücklich festgeschrieben: „Nukleare Streitkräfte werden weiterhin eine wesentliche Rolle spielen. … Die strategischen Nuklearstreitkräfte des Bündnisses, vor allem diejenigen der Vereinigten Staaten, bieten die oberste Garantie für die Sicherheit der Verbündeten. … Das Bündnis wird daher angemessene nukleare Streitkräfte in Europa beibehalten.“4

Nach Angaben des Berlin Information-center for Transatlantic Studies (BITS) lagern in Büchel und Ramstein nach wie vor 11 bzw. 54 freifallende Atombomben des Typs B61-11 der USA.5 Die Bomben werden von der US Air Force gewartet. Zum Einsatz kämen sie im Ernstfall, der von deutschen Soldaten unter Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen regelmäßig geübt wird, von deutschen Tornados. Gemäß Artikel II des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages von 1968 ist Deutschland verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen.“

Nukleare Abrüstung? Fehlmeldung. Ersteinsatz? Bleibt Politik des 21. Jahrhunderts. Absenkung des Alarmstatus? Ach was. Aufkündigung der nuklearen Teilhabe? Keine Rede. Diskussion über den Status der britischen und französischen Atomwaffen im militärisch zusammenwachsenden Europa? Schon gar nicht.

Raketenabwehr – mit EADS zu MEADS und darüber hinaus

Mit der Aufrechterhaltung einer einheitlichen Sicherheitszone begründete Bundeskanzler Schröder im Februar 2001 auch die Forderung nach Einbeziehung Europas in US-amerikanische Raketenabwehrpläne. Nationale Raketenabwehr für die USA, so Schröder, ließe Europa ungeschützt und führe zu einer Abkopplung auf sicherheitspolitischem, technologischem und wirtschaftlichem Gebiet.

Damit vollzog der Bundeskanzler scheinbar einen Schwenk – hatte sich Außenminister Fischer doch zuvor unter Verweis auf die destabilisierende Wirkung wiederholt gegen den Aufbau von Abwehrsystemen durch die USA gewandt. Bei näherer Betrachtung jedoch predigte die Bundesregierung zwar Zurückhaltung, versucht(e) aber selbst, nach Kräften mitzumischen.

Da ist zum einen die Einbindung Deutschlands in die Abwehrpläne der NATO. Unter dem Überbau von C³I (Command, Control, Communication, Intelligence) sollen sich die Pfeiler Gegenproliferation, (nukleare) Abschreckung und erweiterte integrierte Luftverteidigung zur »totalen Verteidigung« zusammenfügen.

Hinter dem Stichwort der »erweiterten« Luftverteidigung verbergen sich Systeme zur Abwehr gegen das gesamte Spektrum angreifender Flugkörper, von Flugzeugen über Marschflugkörper bis zu ballistischen Mittelstreckenraketen. Die Vorbereitungsphase für das NATO-System läuft, was vor allem den daran beteiligten europäischen Luft-, Raumfahrt und Rüstungskonzern EADS freut. EADS ist gleichfalls beteiligt an der Entwicklung eines zweiten europäischen Raketenabwehrsystems: An Medium Extended Air Defense System (MEADS) beteiligen sich die USA, Italien – und Deutschland.

Anstatt ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen und die skeptische Beurteilung der Folgen von Raketenabwehr auf die internationale Sicherheit und Stabilität nach außen zu vertreten, ließ sich Rot-Grün widerstandslos in den Sog der Stationierungsbeschlüsse hineinziehen. „Teilhabe an der Technologie“ (Bundeskanzler Gerhard Schröder) wurde eingefordert, herausgekommen ist die Kündigung des Raketenabwehrvertrags und damit der Wegfall eines der wichtigsten Pfeiler des internationalen Rüstungskontrollgebäudes.

Die militärische Dimension Weltraum

Das US-Weltraumkommando strebt unverhohlen die Bewaffnung des Weltraums an. Vergleichsweise bescheiden muten im Vergleich die europäischen oder deutschen Vorhaben an.

„Die Koalition unterstützt aktiv die Bemühungen um den Zusammenschluss der Europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie,“ postuliert der rot-grüne Koalitionsvertrag. In den vergangenen Jahren konnten dabei beträchtliche Fortschritte erzielt werden.

Zur EADS schlossen sich die französische Aerospatiale Matra, die spanische Casa und die deutsche DaimlerChrysler Aerospace (DASA) zusammen.

Auch am zweiten großen Zusammenschluss in Europa ist DaimlerChrysler beteiligt. DASA formte mit der französischen Matra Marconi Space und der britischen BAE Systems den neuen Giganten Astrium.

Und das dritte Konsortium, MBDA, hat sich 2001 durch die Fusion von EADS, BAE Systems und Finmeccanica (Italien) zum zweitgrößten Raketenhersteller gemausert. Meteor, Aster, Exocet, Kormoran, Roland, Milan, Trigat LR, Mistral, Mica, Patriot, Stinger, Otomat, Scalp lauten die Namen der MBDA-Raketentypen. Darüber hinaus baut die Firma Komponenten wie Gefechtsköpfe, Antriebssysteme, Lenkvorrichtungen und Startsysteme für Raketen. Tochterfirmen von MBDA bauen die neue seegestützte Mittelstreckenrakete sowie das auf U-Booten stationierten Langstreckenmodell für die nukleare Force de Frappe in Frankreich.6

Von der deutschen Regierung mit Wohlwollen betrachtet ist in der Tat eine europäische Raumfahrtindustrie entstanden.

Die europäische Raumfahrt ist aber nicht nur industriell zusammengerückt. Im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität sind zunehmend militärische Weltraumkapazitäten gefragt. Die Europäische Union will (militärischen) Zugriff auf Systeme und Fähigkeiten der zivilen European Space Agency (ESA), die laut Satzung „für ausschließlich friedliche Zwecke auf dem Gebiet der Weltraumforschung, der Weltraumtechnologie und ihrer weltraumtechnischen Anwendungen“ gegründet wurde.

Unter der Präsidentschaft der deutschen Forschungsministerin Edelgard Bulmahn beschloss der ESA-Ministerrat, „die Fähigkeiten der ESA auch für die Entwicklung der eher sicherheitsorientierten Aspekte der europäischen Weltraumpolitik einzusetzen,“ wie dies bereits in einem Bericht an das ESA-Direktorium von 1999 gefordert wurde. Vor allem zwei Programme versprechen militärischen (Neben-) Nutzen: das Satellitennavigationssystem GALILEO und das Erdbeobachtungsprogramm GMES (Global Monitoring for Environment and Security).7

Daneben will Deutschland aber auch eigenständig Satellitenaufklärung betreiben. Der licht- und wetterunabhängige Radarsatellit SAR-Lupe, gebaut unter Beteiligung von EADS von der Bremer Firma OHB, soll die vorhandenen optischen Aufklärungssysteme Frankreichs ergänzen, die unter dem Namen Helios bekannt sind. Das länderübergreifende System soll zumindest eine begrenzte Unabhängigkeit von den Daten des US-Militärs herstellen.

Einer ungebremsten Militarisierung wird damit Vorschub geleistet. Ganz richtig erkannte das grüne Wahlprogramm von 1998: „Deutschland soll ferner eine Initiative für die internationale Kontrolle militärischer Fernaufklärungsmittel starten. Diese sind in den Dienst der UNO, der Konfliktprävention und Abrüstungskontrolle zu stellen.“ Das Gegenteil geschieht. In Berlin ist man sich des Problems bewusst, verweist aber darauf, dass Deutschland angesichts der aggressiven Weltraumrüstungspläne der USA nicht untätig bleiben könne, da ansonsten ein uneinholbarer Rückstand entstehe. Diplomatische Initiativen, um den Trend aufzuhalten, sind aus Deutschland nicht bekannt.

Schulter an Schulter ins nukleare 21. Jahrhundert

Lang ist die Liste von Versäumnissen und verpassten Chancen unter Rot-Grün, die sich in das bislang beschriebene Grundraster einfügen. Exemplarisch nur vier Beispiele:

  • In den Abstimmungen zu UNO-Resolutionen, die sich mit den Themen Atomwaffen, Raketenabwehr, negative Sicherheitsgarantien usw. befassen, hat sich Deutschland häufig enthalten oder mit »nein« gestimmt. Die offene Unterstützung entsprechender Initiativen lehnt Deutschland ab, glaubt seinen Einfluss vielmehr durch vertrauliche Diplomatie geltend machen zu können. Diese Strategie wurde von Deutschland auch bei der UN-Konferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag im Frühjahr 2002 verfolgt.
  • Die dritte und damit entscheidende Betriebsgenehmigung für den Garchinger Forschungsreaktor München II (FRM-II) wurde vom Bundesumweltministerium bislang verweigert. Dass die Planung nach 1998 auf der Basis von hochangereichertem Uran weiter voranschritt, weist auf mangelnden Durchsetzungswillen. Das grüne Wahlprogramm von 1998 hatte noch postuliert: „Der Einsatz von waffenfähigem Uran in Forschungsreaktoren ist hoch problematisch und außenpolitisch bedenklich. Deshalb wird die neue Bundesregierung überprüfen, ob Möglichkeiten einer Umrüstung des Forschungsreaktors München II vom Betrieb mit hochangereichertem auf niedrigangereichertes Uran bestehen.“ Die Möglichkeit hat bestanden – und wurde verschenkt.
  • Im August 2000 stellte Siemens einen Antrag auf Überprüfung laut Außenwirtschaftsgesetz, um die Optionen für einen Export der Hanauer MOX-Brennelementefabrik nach Russland auszuloten. Die Bundesregierung hat keine außen- und sicherheitspolitischen Bedenken gegen das Vorhaben vorgebracht. Experten hatten darauf hingewiesen, dass waffentaugliches Plutonium durch die Verarbeitung zu Brennstäben nicht vor Missbrauch zu Waffenzwecken geschützt sei. Der Handel scheiterte nicht an politischem Widerstand, sondern an Geldmangel.
  • Deutschland hat nach wie vor keine vollständige Bilanz der atomwaffenfähigen Materialien aufgestellt. Waffenfähiges Uran fehlt in der Aufstellung ganz. Plutonium ist nur insofern berücksichtigt, als es in Deutschland gelagert ist. Damit sind beträchtliche Bestände, die bei der Wiederaufarbeitung abgebrannter Kernelemente in England und Frankreich anfallen und vor Ort gelagert werden, nicht berücksichtigt.

Durch diese und ähnliche Fehlleistungen werden die wenigen positiven Entscheidungen, beispielsweise die Unterzeichnung des vollständigen Atomteststopp-Vertrags, deutlich überlagert.

Verschärft hat sich die Lage zudem, als sich die deutsche Regierung als Antwort auf die Terrorattacken des 11.September für „bedingungslose Solidarität“ mit dem US-amerikanischen Bündnispartner entschied.

  • Eine offizielle Ablehnung der neuen US-amerikanischen Atomwaffendoktrin blieb aus. Die »Nuclear Posture Review« vom Januar 2002 schreibt die Aufrechterhaltung des Nuklearpotentials der USA in weite Zukunft fort, fordert die Bereitschaft zur Wiederaufnahme von Atomwaffentests, empfiehlt die Entwicklung einer neuen, kleineren Atomwaffengeneration, benennt die verlängerte »Achse des Bösen« und erweitert die Einsatzempfehlungen gegen Nicht-Atomwaffenstaaten. Kritik durch die Bundesregierung blieb aus.
  • Das Abrüstungsabkommen zwischen den USA und Russland, das die Präsidenten Bush und Putin im Mai 2002 unterzeichneten, gesteht beiden Seiten maximal 2.200 strategische Atomwaffen zu. Der Vertrag erhält beiden Ländern die Option auf den mehrfachen Overkill, sieht keine Überprüfungsmechanismen vor, muss erst 2012 erfüllt werden, lässt aber den Ausstieg mit dreimonatiger Kündigungsfrist zu. Die Bundesregierung hat diese Mogelpackung ausdrücklich begrüßt und in ihrer „historischen Bedeutung“ gewürdigt.
  • Die NATO erklärte am 6. Juni 2002 die Bereitschaft, ihre Strukturen und Verteidigungsfähigkeiten „zur Durchführung des vollen Spektrums ihrer Aufträge“ an die neuen „asymmetrischen Bedrohungen“ anzupassen. In diesem Zusammenhang maß die nukleare Planungsgruppe der NATO „den in Europa stationierten und der NATO zur Verfügung stehenden Nuklearkräften … weiter großen Wert bei. … Die NATO muss“ nach Ansicht der Verteidigungsminister „für ihre Aufträge über Streitkräfte verfügen, die schnell überall dorthin verlegt werden können, wo sie gebraucht werden.“ Eine Beschränkung der Einsätze auf das Bündnisgebiet ist endgültig nicht mehr vorgesehen. NATO-Generalsekretär George Robertson bestätigte gegenüber Journalisten ausdrücklich, dass die NATO „mit ihrer Konzentration auf den Kampf gegen Terror einen wichtigen Richtungswechsel vollzogen“ hat. Dieser Umformulierung des Bündnisauftrags stimmte die deutsche Regierung ohne öffentliche Debatte oder Befragung des Parlaments ganz nebenbei zu.

Die wenigen Beispiele zeigen: Deutschland ist außen- und sicherheitspolitisch kein eigenständiger Akteur mehr. Entscheidungen werden von den USA oder im Rahmen von EU und NATO getroffen. Ein politischer Wille der Bundesregierung mit anderer Zielrichtung ist nicht in Sicht.

Fazit

In einem Interview kurz nach Amtsantritt meinte Außenminister Fischer: „Die Frage, wozu ein Grüner Außenminister ist, beantwortet sich innerhalb von vier Jahren.“8 Im Bereich Atomwaffen, Raketenabwehr und Weltraumbewaffnung ist er diese Antwort schuldig geblieben.

Die rot-grüne Bundesregierung hat binnen kürzester Zeit jegliche Chance vertan, auf eine Änderung der Atomwaffenpolitik in der NATO, wenn nicht sogar der USA, einzuwirken. Die Rolle von Kernwaffen und die Ersteinsatzdoktrin werden nicht mehr hinterfragt, die Bündnispartner wehren sich nicht gegen die Verschärfung der Atomwaffenpolitik der USA. Dasselbe Bild bei der Raketenabwehr, die zumindest in den Plänen der USA die Bewaffnung des Weltraums mit einschließt. Die deutsche Regierung hat versäumt, eine grundsätzliche Diskussion über dieses aufwendige Rüstungsprogramm zu führen. Anstatt im Bündnis behutsam und klug, aber hartnäckig um Unterstützung zu werben und Einfluss geltend zu machen, tappt das Trio Schröder, Fischer, Scharping blindlings hinter der Führungsmacht her und beteiligt sich selbst an unsinnigen, teuren und destabilisierenden Programmen zur Raketenabwehr.

So verwundert es dann auch nicht, dass aus friedenspolitischer Sicht die Aussagen in den Wahlprogrammen 2002 der beiden Koalitionäre noch hinter der Koalitionsvereinbarung von 1998 zurückbleiben.9 Die Begriffe »Atomwaffen« oder »Raketenabwehr« sucht man dort vergeblich. Im Vergleich dazu klang das Koalitionsvorhaben vor vier Jahren fast schon konkret.

Anmerkungen

1) Angelika Beer, Winfried Nachtwei, Christian Sterzig: Friedenspolitischer Aufbruch oder Kapitulation? Zum außen- und friedenspolitischen Teil der Koalitionsvereinbarungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Arbeitsgruppe Frieden, Abrüstung, Verteidigung, 23. Oktober 1998.

2) Der entsprechende Abschnitt im Bundestagswahlprogramm 1998 von Bündnis 90/Die Grünen, lautet: „Deutschland muss für eine radikale Abrüstung der NATO eintreten: – für Abrüstungsschritte im konventionellen Bereich in Fortführung des KSE-Vertrags; – für den Verzicht auf Atomwaffen; – für den sofortigen Abzug aller Atomwaffen vom Gebiet von Nicht-Kernwaffenstaaten. Deutschland soll eine Entnuklearisierung des deutschen Gebietes beschließen und sich für eine Verschrottung aller Atomwaffen einsetzen; – für die Einbeziehung der nuklearen Potentiale Großbritanniens und Frankreichs in die START-Verhandlungen. Eine Vergemeinschaftung von Atomwaffen, indem z.B. die Verfügungsgewalt über französische und britische Atomwaffen mit anderen EU-Staaten geteilt wird, lehnen wir ab; – für die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone in Europa unter Beteiligung Deutschlands und eine Festschreibung des Verzichts auf atomare Waffen im Grundgesetz.“ Die SPD begnügte sich dagegen in ihrem Wahlprogramm 1998 mit dem Hinweis, dass „die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung Initiativen … zu einer weltweiten Reduzierung von Massenvernichtungswaffen mit dem Ziel ihrer Abschaffung ergreifen [wird.]“

3) Aufbruch und Erneuerung. Deutschlands Weg in das 21. Jahrhundert, Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und B’90/Die Grünen, Bonn, 20. Oktober 1998.

4) Das strategische Konzept des Bündnisses, Kommuniqué der North Atlantic Treaty Organisation, 24. April 1999.

5) Otfried Nassauer: NATO’s Nuclear Posture Review. Should Europe end nuclear sharing?, BITS Policy Note 02.1, April 2002,

6) Ausführliche Informationen zu den Geschäftsfeldern von EADS, Astrium und MBDA finden sich in: Group of Ethical Shareholders of EADS, ENAAT (European Network Against Arms Trade), Forum voor Vredesactie und Campagne tegen Wapenhandel, Europe‘s Absolutely Deadly Systems. EADS Ethical Shareholders‘ Report 2002, May 2002.

7) Regina Hagen und Jürgen Scheffran: Weltraum – ein Instrument europäischer Macht?, Wissenschaft & Frieden 3/2001.

8) Fischer: Man kann die Welt nicht nach eigenen Prinzipien gestalten, Interview mit der Frankfurter Rundschau, 25.11.1998.

9) „Wir wollen eine Welt ohne Massenvernichtungswaffen, denn ihr Einsatz ist durch nichts und in keiner denkbaren Situation ethisch und politisch zu rechtfertigen. Deswegen sind wir für einen bedingungslosen Verzicht auf den Einsatz dieser Waffen und für einseitige Abrüstungsmaßnahmen. Wir treten für eine Stärkung des internationalen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregimes ein und wenden uns gegen jegliche weitere Aufrüstung mit Massenvernichtungswaffen auf der Erde und im Weltraum. … Für uns als Nichtatomwaffenstaat bleibt die Verhinderung der Weiterverbreitung und die nukleare Abrüstung … ein wesentlicher Eckpfeiler unserer Politik.“ Grundsatzprogramm von B’90/DIE GRÜNEN, vom März 2002. „Die Fortsetzung einer Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle leistet Beiträge zu einer vorausschauenden Friedenspolitik. Zu einer Weiterentwicklung der vertragsgestützten Abrüstungspolitik gibt es keine Alternative. Das Ziel der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen steht bei uns weiter an erster Stelle. Die Verträge zur Non-Proliferation, das Chemiewaffenübereinkommen, das B-Waffen-Übereinkommen und das Regime der Nichtverbreitung von Trägerwaffentechnologie (MTCR) sind zu stärken. Der START-Prozess muss fortgesetzt und der Atomteststopp-Vertrag (CTBT) ratifiziert werden.“ Regierungsprogramm der SPD 2002-2006.

Regina Hagen ist Koordinatorin von INESAP und aktiv im deutschen Trägerkreis »Atomwaffen Abschaffen – Bei uns anfangen!«.

zum Anfang | Restriktivere Rüstungsexportpolitik wäre möglich gewesen

von Michael Brzoska

Noch in der Opposition war für Bündnisgrüne und Sozialdemokraten die Rüstungsexportpolitik der Regierung Kohl ein gefundenes Fressen: Fast jede zweite Woche wurde im Durchschnitt eine Anfrage in diesem Politikbereich eingereicht und immer wieder wurden einzelne Geschäfte, etwa Lieferungen in die Türkei, kritisiert. In den Wahlprogrammen beider Parteien wurde Besserung versprochen. Nach bekannt werden der Koalitionsvereinbarung vom Herbst 1998 machte sich deshalb Enttäuschung breit. SPD und B90/Grüne hatten sich nur auf relativ schwache Aussagen zum Rüstungsexport geeinigt. Keine der beiden Parteien hatte dem Thema besonderes Gewicht beigemessen. Das machte sich schon darin bemerkbar, dass Rüstungsexporte gemeinsam mit der Bundeswehr in einem gemeinsamen Unterkapitel behandelt wurden.

Welche ihrer eher bescheidenen Ankündigungen hat die Bundesregierung nach knapp vier Jahren umgesetzt?

  1. Das erste Vorhaben der Bundesregierung betraf den im Mai 1998 beschlossenen EU-Verhaltenskodex zum Rüstungsexport. Diesen wollte die Bundesregierung für die transnationale europäische Rüstungsindustrie verbindlich machen.

Dieses Ziel hat die Bundesregierung nicht erreicht, nicht erreichen können. Denn nur einstimmig könnten die Mitgliedsstaaten aus der politischen Absichtserklärung vom Mai 1998, ihre Rüstungsexportpolitik entlang von acht Kriterien stärker zu harmonisieren, ein rechtlich verbindliches Dokument machen. Eine Reihe von ihnen, wie Frankreich und Großbritannien, sind dazu (noch) nicht bereit.

Mit dem Scheitern dieser Ankündigung erübrigte sich auch der Plan der Bundesregierung, für Transparenz und Beachtung der Menschenrechte in den verbindlichen Richtlinien zu sorgen. Aber auch ohne neue Richtlinien hätte sie hier für stärkere Verbesserungen in der EU-Rüstungsexportpolitik sorgen können, was sie jedoch nicht tat. Zentrales Beispiel sind die jährlichen Berichte zum Verhaltenskodex, die nach wie vor wenig transparent sind.

Keine Erwähnung fand in der Koalitionsvereinbarung der »Letter-of-Intent«-Prozess. Im Juli 1998 hatten sich die Regierungen der wichtigsten Rüstungsherstellerländer in der EU (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweden, Spanien) verabredet, bei kooperativ hergestellten Waffen einheitliche Rüstungsexportrichtlinien anzuwenden. Das auf dieser Grundlage ausgehandelte »Rahmenabkommen« stellt einen Forschritt gegenüber der vorhergehenden Praxis dar. Unter dem Rahmenabkommen hat jedes Teilnehmerland ein Veto-Recht gegenüber einzelnen Empfängerländern, während früher de facto das Recht des Landes in Anwendung kam, aus dem die Waffe letztendlich ausgeführt wurde. Allerdings ist bisher unklar, wie transparent für Parlamente und die breite Öffentlichkeit die Zusammenarbeit der Regierungen sein wird.

  1. In einer zweiten Ankündigung versprach die Bundesregierung den deutschen Rüstungsexport außerhalb der NATO und der EU restriktiv zu handhaben. Dies wurde allgemein so verstanden, dass weniger Rüstungswaren ausgeführt werden sollten als in den Jahren zuvor. Ob dieses Ziel umgesetzt wurde, lässt sich schwer beurteilen. Für eine exakte Einschätzung fehlen die grundlegenden Informationen, zum Beispiel zu Ablehnungen von einzelnen Geschäften oder auch wichtige Details zu Genehmigungen. Folgende Informationssplitter liefern ein durchwachsenes Bild:
    • In Geldwerten gerechnet ist das Volumen des deutschen Rüstungsexportes in etwa gleichgeblieben. Das aber liegt vor allem am Export von Kriegsschiffen, deren Ausfuhr sowohl vor als auch nach dem Regierungswechsel besonders leicht genehmigt wurde.
    • Größter und umstrittenster Importeur deutscher Rüstung blieb die Türkei, ein Nato-Mitgliedsstaat.
    • Der deutsche Anteil am weltweiten Rüstungshandel ist leicht gesunken.
    • In einige Krisenregionen, insbesondere nach Afrika, sind kaum Exporte genehmigt worden.
    • Der Handel mit Kleinwaffen wurde deutlich geringer.
  2. Besondere Beachtung fand in der Koalitionsvereinbarung die Frage der Menschenrechte, insbesondere auch beim Thema Rüstungsexporte. Der Menschenrechtsstatus sollte als neues Kriterium der Rüstungsexportpolitik eingeführt werden. Dieses Versprechen hat die Bundesregierung in neuen politischen Grundsätzen zum Rüstungsexport umgesetzt, die Anfang 2000 in Kraft gesetzt wurden. Die Regelungen in den neuen Grundsätzen sind stark an die Formulierungen des EU-Verhaltenskodex angelehnt. Danach sind Lieferungen von regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen eingesetztem Gerät an Staaten, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen vorkommen, nicht genehmigungsfähig. Bei Lieferungen anderer Rüstungswaren in solche Staaten werden „strenge Maßstäbe“ angewandt. Die Interpretationsbreite dieser neuen Bestimmungen zeigte sich mehrfach am Beispiel Türkei. So wurden einzelne Exporte, wie zum Beispiel von Leopard II-Panzern, auch innerhalb der rot-grünen Koalition heftig diskutiert. Eine Entscheidung wurde der Regierung letztlich abgenommen, weil die Türkei die Beschaffung von Panzern angesichts der schlechten Wirtschaftslage im Jahr 2001 aussetzte.
  3. Ein weiteres Vorhaben war die Vorlage eines jährlichen Rüstungsexportberichtes. Auch diesen Plan hat die Bundesregierung umgesetzt. Ende 2000 wurde der erste Bericht vom Wirtschaftsministerium vorgelegt, Ende 2001 der zweite. In den Berichten legt die Bundesregierung Grundzüge der rechtlichen Lage und ihrer politischen Linie dar. Beide Berichte enthalten auch viele Zahlen, zum Beispiel die Werte der Genehmigungen von Rüstungsexporten und der tatsächlichen Ausfuhr von Kriegswaffen. Bei den Genehmigungen der Rüstungsgüter werden auch die wichtigsten Warenkategorien angegeben. Die Abgrenzung ist jedoch zu grob um wirklich schlussfolgern zu können, um was für Rüstungswaren es sich handelt. Dies ist durchaus beabsichtigt, denn die Bundesregierung sieht sich auf Grund der gesetzlichen Vorschriften zum Schutz von Betriebsgeheimnissen außer Stande genauere Angaben zu veröffentlichen. Allerdings interpretiert sie ihren Spielraum sehr eng. Der zweite Bericht enthielt einige neue Zahlen, zum Beispiel zu Kleinwaffen und Exporten gebrauchter Waffen. Aber der Weg zu einer Transparenz der Rüstungsexporte, die eine faktisch fundierte politische Bewertung erlauben würde, ist weit. Letztendlich müsste hierfür das entsprechende Gesetz (Verwaltungsverfahrensgesetz) geändert werden. Aber auch ohne eine solche Änderung könnten die Rüstungsexportberichte informativer werden.
  4. Indirekt, in ihrem Kapitel über die Entwicklungspolitik, hatte die Bundesregierung eine weitere relevante Ankündigung gemacht: Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sollte Mitglied im Bundessicherheitsrat werden, in dem über strittige Rüstungsexporte entschieden wird. Das Ministerium mit Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul an der Spitze hat diese Stellung rasch zu nutzen gewusst, um neue Gesichtspunkte in die Bewertung von Rüstungsexporten einzubringen. So argumentierte das Ministerium zum Beispiel im Fall der Lieferung von Kriegsschiffen nach Südafrika gegen eine Genehmigung, weil damit Ziele der Entwicklungspolitik gefährdet würden. Allerdings fehlt dem Ministerium der Unterbau, um ähnlich umfassend wie Wirtschaftsministerium oder Auswärtiges Amt über mögliche Empfängerländer informiert zu sein. Es gelang dem Ministerium in den Verhandlungen über die neuen politischen Grundsätze auch nicht, entwicklungspolitische Kriterien wirkungsmächtig zu verankern. Sie sind lediglich zu berücksichtigen, mehr aber auch nicht.

Diese gemischte Bilanz wird oft schlechter bewertet, als sie tatsächlich ist. Denn häufig werden als Maßstab des Erreichten nicht die Koalitionsvereinbarungen, die weitgehend umgesetzt wurden, sondern weitergehende Äußerungen führender Koalitionspolitiker aus ihrer Oppositionszeit benutzt. Auch wurde während der Regierungsperiode von einzelnen Koalitionspolitikern immer wieder der Eindruck erweckt, man werde die Rüstungsexporte drastisch einschränken. Tatsächlich aber blieb die Rüstungsexportpolitik auch innerhalb der Regierung heftig umstritten. Besonders deutlich wurde dies im erwähnten Fall Türkei. Große Teile der SPD hielten daran fest, dass einem NATO-Mitgliedsstaat die Genehmigung für die Lieferung von Panzern nicht verwehrt werden könnte. Bündnisgrüne und eine Minderheit in der SPD hingegen argumentierten, dass die Türkei Menschenrechte verletze, den Nordteil Zyperns völkerrechtswidrig besetzt habe und das Militär nicht unter demokratische zivile Kontrolle stelle. Der Kompromiss war bekanntlich, einen Testpanzer liefern zu lassen, und die Entscheidung über die Lieferung weiterer Panzer erst später zu fällen. Sehr deutlich wurden die Differenzen auch bei der Formulierung der neuen politischen Grundsätze in der zweiten Hälfte des Jahres 1999. Wirtschafts- und Verteidigungsministerium, die keine Modifizierungen wünschten, standen dem Auswärtigen Amt und dem Entwicklungshilfeministerium gegenüber, die grundlegende Änderungen wünschten. Das Kanzleramt agierte als Schiedsrichter und vermittelte einen Kompromiss. Interessant war, dass in diesen Verhandlungen, in die auch Parlamentarier der Koalitionsfraktionen eingebunden waren, die Trennungslinien nicht hauptsächlich entlang der Parteigrenzen verliefen, sondern eher entlang der von Ministerien vertretenen Teilinteressen. Auch bei Einzelentscheidungen war es oft – soweit dies aus dem geheim tagenden Bundessicherheitsrat bekannt wurde – das sozialdemokratisch geleitete Entwicklungsministerium, das am heftigsten für Restriktivität stritt.

Wäre eine restriktivere Rüstungsexportpolitik möglich gewesen? Diese Frage kann eindeutig bejaht werden. In der Koalition waren beispielsweise die Lieferungen von Kriegsschiffen nach Südafrika, Panzern in die Türkei und Panzerbauteilen nach Israel durchaus umstritten. Aber gemessen an den Vorgängerregierungen wurde die Rüstungsexportpolitik restriktiver.

Fazit: Enttäuscht wurden in den letzten vier Jahren vor allem die Hoffnungen derjenigen, die trotz Koalitionsvereinbarung auf eine restriktivere Rüstungsexportpolitik gesetzt hatten.

Dr. Michael Brzoska ist stellvertretender Direktor des Bonner Konversionszentrums (BICC)

zum Anfang | Von deklarierter Friedenspolitik zu Kriegseinsätzen

von Tobias Pflüger

Es gibt nur wenige Politikbereiche, in denen es unter Rot-Grün substanzielle Änderungen gegenüber der Vorgängerregierung gab, und dazu gehört interessanterweise die Bundeswehr, die sich von einer Armee mit Hauptaufgabe Landesverteidigung und gelegentlichen Auslandseinsätzen zu einer „Armee im Einsatz“ , so der heutige Generalinspekteur Harald Kujat, entwickelte. Heute, im Sommer 2002, sind über 10.000 Soldaten der Bundeswehr im ständigen Auslandseinsatz. Das Spektrum reicht von sogenannten humanitären Aktionen bis hin zu Kampfeinsätzen (Kommando Spezialkräfte in Afghanistan).

Entscheidend für die Veränderung der Bundeswehr war die Beteiligung am NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien.1 Diese Kriegsteilnahme muss als Grundsatzentscheidung gewertet werden. Es sieht so aus, als wäre auch für die deutsche Armee seitdem der Krieg wieder „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ An eine Armee, die zur Interessenvertretung auch außerhalb des NATO-Gebietes und u. U. auch noch gleichzeitig an mehreren Orten einsatzbereit sein soll, gibt es aber andere Anforderungen, als an eine Armee, die nur zur Verteidigung des eigenen Territoriums und dem der Verbündeten dient.

Trotzdem blieb die Struktur der Bundeswehr nach dem Jugoslawien-Krieg vorerst erhalten, es kam damals nur zu kleinen Veränderungen: Die Gesamtzahl der Bundeswehrangehörigen wurde von 340.000 auf 324.000 korrigiert, die Anzahl der Soldaten der Krisenreaktionskräfte, die als einziges für Kampf- und Kriegseinsätze genutzt werden können und dürfen, wurde von 53.600 auf etwas über 60.000 erhöht.

Später, im Jahr 2001, wurde – so das verbindliche Ressortkonzept – die Zielgröße der Bundeswehr auf 280.000 Männer und Frauen und die Anzahl der neu so benannten Einsatzkräfte auf 150.000 festgeschrieben. Quantitativ wurde also in zwei Phasen reduziert, qualitativ aber aufgerüstet.

Bundeswehr im Auslandseinsatz: Vom Balkan bis zum Hindukusch

„Zugegeben, man verliert schon ein bisschen den Überblick, wo deutsche Soldaten im Kampf gegen den Terrorismus überall im Einsatz sind“, so Andreas Cichowitz am 28.02.2002 in den Tagesthemen der ARD. Deutsche Soldaten befinden sich derzeit in Georgien, Bosnien, Jugoslawien (Kosovo), Mazedonien, Usbekistan, in der Türkei, am Horn von Afrika (vor Somalia), in der arabischen See, im Mittelmeer, in Kuwait, in Bahrein, in Djibouti, in Kenia und in den USA (Florida) – und nicht zu vergessen in Afghanistan (im Rahmen von ISAF und in Kampfeinsätzen).

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr können in drei Kategorien eingeordnet werden: Da sind einerseits die »europäischen« Bundeswehreinsätze in Bosnien (SFOR = Stabilization Force), im Kosovo (KFOR = Kosovo Forces) und in Mazedonien (Fox). Zum zweiten gibt es die Beteiligung der Bundeswehr an der »Schutztruppe« in Kabul und näherer Umgebung (ISAF = International Security Assistance Force). Die dritte Kategorie der Bundeswehreinsätze sind alle Auslandseinsätze im Rahmen von »Enduring Freedom«, dem sogenannten Antiterroreinsatz.

Die »europäischen« Bundeswehreinsätze

Auf dem europäischen Kontinent hat die Bundeswehr derzeit am meisten Bundeswehrsoldaten stationiert.

  • Die SFOR-Einheiten sollten als Nachfolgeoperation der NATO-geführten IFOR (Implementation Force) ursprünglich nur von 1996 bis 1998 in Bosnien stationiert bleiben. Stattdessen entwickelte sich dort das erste NATO-Protektorat und damit der erste langfristige NATO-Einsatz. 2002 sind von den ursprünglich 3.000 noch 1.693 Bundeswehr-Soldaten an SFOR in Bosnien beteiligt. Der Großteil der Soldaten sitzt im Lager Rajlovac, dem Sitz des Deutschen Heereskontingentes SFOR, weitere Soldaten finden sich im Außenlager Filipovici, beim Stab in Mostar oder beim SFOR-Hauptquartier in Butmir bei Sarajevo. Das deutsche Kontingent ist Teil der Multinationalen Division Süd-Ost (MND-SE) mit Sitz in Mostar mit Kontingenten aus Frankreich, Italien, Marokko und Spanien. Das Ganze steht unter französischer Führung. An SFOR sind NATO-Staaten und 16 Nicht-NATO-Staaten beteiligt, davon 14 sogenannte PfP-Staaten, also Staaten, die am NATO-Programm »Partnership for Peace« teilnehmen, einschließlich Russland und der Ukraine.
  • Als Folge des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien wurden im Bereich Kosovo, das formal noch zu Jugoslawien gehört, aber de facto unabhängig bzw. NATO-Protektorat ist, ab dem 12.06.1999 Einheiten der KFOR stationiert. Bis zu 8.500 Bundeswehrsoldaten können bei diesem zweiten langfristigen Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan stationiert werden. Gegenwärtig sind 4.732 deutsche Soldaten im Kosovo.
  • Der Einsatz Fox in Mazedonien ist der Folgeeinsatz der Operation »Amber Fox«, der auf den Einsatz »Essential Harvest« folgte, dem NATO-Militäreinsatz, bei dem es offiziell darum ging, 3.000 Waffen von der auch in Mazedonien militärisch agierenden UCK einzusammeln. Im Rahmen von Task Force Fox sind derzeit 615 Soldaten der Bundeswehr in Mazedonien.

Der Einsatz in Afghanistan

Die Bundeswehr hat ca. 1.200 Soldaten im Rahmen von ISAF (International Security Assistance Force) im Einsatz, der »Schutztruppe« für den Großraum Kabul. Seit März 2002 hat sie dort auch die taktische Führung der Multinationalen Brigade Kabul übernommen. Damit stehen circa 4.700 Soldaten aus 18 Staaten unter dem Kommando eines deutschen Brigadegenerals. Der Einsatzradius der ISAF-Truppen ist ausdrücklich auf den Großraum Kabul beschränkt.

Der Einsatz im Rahmen von »Enduring Freedom«

Nach den brutalen Terroranschlägen des 11. September erklärte Gerhard Schröder für die Bundesregierung die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA im »Krieg gegen den Terror«. Da US-Präsident George W. Bush den »Krieg gegen den Terror« solange führen will, bis alle Terroristen »ausgeräuchert« sind, droht Deutschland mit dieser Zusage in einen permanenten lang anhaltenden Krieg einbezogen zu werden.

Der Bundestag hat dieser »Ermächtigung« zum Einsatz der Bundeswehr am 16. November 2001 unter dem Druck der Vertrauensfrage (für Gerhard Schröder) zugestimmt. Wörtlich heißt es: „Im Rahmen der Operation ENDURING FREEDOM werden bis zu 3.900 Soldaten mit entsprechender Ausrüstung bereitgestellt: ABC-Abwehrkräfte, ca. 800 Soldaten / Sanitätskräfte, ca. 250 Soldaten / Spezialkräfte, ca. 100 Soldaten / Lufttransportkräfte, ca. 500 Soldaten / Seestreitkräfte einschließlich Seeluftstreitkräfte, ca. 1800 Soldaten / erforderliche Unterstützungskräfte, ca. 450 Soldaten… Die Beteiligung mit deutschen Streitkräften an der Operation ENDURING FREEDOM ist zunächst auf zwölf Monate begrenzt… Einsatzgebiet ist das Gebiet gemäß Art. 6 des Nordatlantikvertrags, die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete… Deutsche Kräfte werden sich an etwaigen Einsätzen gegen den internationalen Terrorismus in anderen Staaten als Afghanistan nur mit Zustimmung der jeweiligen Regierung beteiligen.“

Der Beschluss bedeutet u.a.:

  • Eine Aushebelung des »Parlamentsheers«, d.h. der Festlegung, das jeder einzelne Einsatz durch das Parlament beschlossen wird,
  • die mögliche Ausdehnung des Einsatzgebietes auf ein Drittel des Globus’
  • und der mögliche Rückgriff auf alle Einsatzarten – von sogenannten humanitären Einsätzen bis hin zu Kampfeinsätzen.

Diese »Kriegsermächtigung« wurde Stück für Stück umgesetzt: Heute im Sommer 2002 befinden sich Bundeswehrsoldaten im Rahmen von »Enduring Freedom« an folgenden Orten: Luftwaffenbasis Tampa/Florida (10), Kuwait (50), Afghanistan (92), Mittelmeer (280), Arabische See/Horn von Afrika (820), Bahrein (140), Djibouti (140), Kenia (100).

Von besonderer Brisanz sind hier sicher die 92 Soldaten des Kommando Spezialkräfte bzw. aus den Einheiten der Division Spezielle Operationen in Afghanistan, von denen bekannt wurde, dass sie entgegen der am 16. November mitbeschlossenen unverbindlichen Protokollerklärung an Kampfeinsätzen beteiligt waren. Besonders risikoreich auch die Stationierung von 50 ABC-Abwehrkräften in Kuwait. Über sie sagt Friedrich Merz (CDU): „Alles ABC-Abwehrmaterial ist in Kuwait geblieben, wenn es dort in der Region zu einem Konflikt kommt, ist Deutschland dabei.“2 Das heißt den »ABC-Abwehrkräften« ist eine konkrete Funktion zugeordnet, wenn es zu dem von den USA geplanten Krieg gegen den Irak kommt.

Zusammenfassung

Unter Rot-Grün wurde die Bundeswehr neu ausgerichtet, sie hat sich zu einer Armee im Einsatz entwickelt. Inzwischen sind über 10.000 deutsche Soldaten außerhalb des NATO-Gebietes stationiert. Die Bundeswehr ist dabei, kriegsführungsfähig zu werden und sich im Kernbereich zu einer Interventionsarmee zu entwickeln. Sie hat sich unter Rot-Grün nicht nur an zwei Angriffskriegen beteiligt, sondern in Afghanistan auch an Kampfeinsätzen, bei denen offensichtlich gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen wurde (sie hat Gefangene an US-Truppen übergeben, obwohl diese die afghanischen Gefangenen nicht als Kriegsgefangene behandeln). Eine bittere Bilanz: Kriegseinsätze anstelle der im Koalitionsvertrag formulierten Friedenspolitik.

Anmerkungen

1) Der Jugoslawienkrieg und die deutsche Rolle soll hier nicht Thema sein, deshalb ein Verweis auf das Buch: Der Jugoslawienkrieg, Eine Zwischenbilanz. Hrsg. v. Johannes M. Becker und Gertrud Brücher, Münster, 2001, darin auch mein Beitrag zur Rolle der Bundeswehr im Jugoslawienkrieg.

2) Financial Times Deutschland vom 24.05.2002.

Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

zum Anfang | Traditionspflege ist Geschichtspolitik

von Jakob Knab

Vor acht Jahren beteuerte der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Rudolf Scharping, mir gegenüber: „Für Ihr ausführliches Schreiben zur Praxis der Traditionspflege durch den jetzigen Verteidigungsminister danke ich Ihnen. Ich stimme Ihnen zu, dass dieser Umgang mit der Tradition nicht hingenommen werden darf. (…) Die SPD würde sich nach einer Regierungsübernahme dieser Frage annehmen und dort Änderungen vorschlagen, wo der gültige Traditionserlass missachtet wird.“1

Ein Rückblick auf Rühes »Umgang mit der Tradition«: Sieben Jahre lang hatte die Hardthöhe einen hinhaltenden Abwehrkampf um die Traditionswürdigkeit des Nazi-Generals Dietl geführt. Erst am 9. November 1995 ordnete Rühe die überfällige Umbenennung der »Generaloberst-Dietl-Kaserne« Füssen in »Allgäu-Kaserne« an. Nach dem Regierungswechsel griff dann Staatsminister Michael Naumann mit einem gewaltigen Paukenschlag in die Debatte ein: Am 27. Januar 1999, dem Gedenktag der Befreiung von Auschwitz, erklärte er, dass Namen von Kasernen, die nach Nazi-Generälen benannt sind, umbenannt würden: „Das ändern wir jetzt. Das schwör ich ihnen. In zwei Jahren finden Sie keine mehr.“2

Eine klare Distanzierung von der Wehrmacht auch bei Generalleutnant Willmann, dem damaligen Inspekteur des Heeres: „Die Wehrmacht hat sich zum reinen Ausführungsorgan für das nationalsozialistische Regime entwickelt. Die Führung der Wehrmacht hat Hitler ihre Loyalität immer wieder, manchmal in übertriebenem Maße, bewiesen. Dies führte so weit, dass in der Wehrmacht sogar offensichtlich verbrecherische Befehle gegeben und kritiklos umgesetzt wurden.“3

In der »Willmann-Fibel« wird Feldwebel Erich Boldt als „vorbildlicher Soldat“ vorgestellt. Boldt starb 1961, als er beim Übungssprengen seinen Soldaten das Leben rettete.

Generalmajor Hans Hüttner (1885-1956) ist traditionswürdiger Kasernenpatron der Bundeswehr in Hof an der Saale. An ihm lässt sich die arbeitsteilige Täterschaft von Wehrmacht und Einsatzgruppen aufzeigen. Bei der Eroberung von Shitomir (Ukraine) kämpfte Hüttner an vorderster Front. Auf den Fersen folgten die Mordgesellen der Einsatzgruppe C, die in Shitomir ein Blutbad anrichteten. In den dienstlichen Beurteilungen gilt Hüttner als „überzeugter Nationalsozialist“ und als ein soldatischer Führer, der „vom Nationalsozialismus erfüllt ist“. Am 20. April 1943, an »Führers« Geburtstag, hielt Hüttner in Hof eine Durchhalterede: „Einmal wird auch dieser Krieg siegreich zu Ende gehen und dazu wollen wir allen unserem Führer helfen!“ Es gibt wohl beziehungsreiche Zufälle: Am 30. April 1985, dem 40. Todestag von Adolf Hitler, wurde die »General-Hüttner-Kaserne« in Hof an der Saale eingeweiht.4

Als im Frühjahr 2000 BMVg Rudolf Scharping eine Kaserne suchte, die er nach dem Judenretter und »Gerechten unter den Völkern« Feldwebel Anton Schmid (gest. 1942) benennen könnte, schlug der Führungsstab der Streitkräfte nicht etwa die »General-Hüttner-Kaserne« in Hof (Saale) zur Umbenennung vor, sondern zunächst sollte der Name der »Feldwebel-Boldt-Kaserne« in Delitzsch weichen.5

Am 8. Mai 2000 wurde dann die »Rüdel-Kaserne« in Rendsburg mit einer historisch falschen Begründung in »Feldwebel-Schmid-Kaserne« umbenannt. Alle unrichtigen Aussagen zu Rüdel gehen zurück auf diese AP-Agenturmeldung vom März 2000: „Dem Potsdamer Militärgeschichtlichen Forschungsamt zufolge gehörte der bisherige Namensgeber Rüdel als ehrenamtlicher Richter von August 1944 an dem Volksgerichtshof an. Dieser verurteilte mehr als 5000 Menschen.“6

Diese ist aber irreführend. Meine Forschung hat ergeben: Durch Entschließung vom 7. Oktober 1939 ernannte Hitler General Rüdel auf die Dauer von fünf Jahren zu einem ehrenamtlichen Mitglied des Volksgerichtshofes (VGH). General Rüdel nahm im Frühjahr 1940 an einer einzigen Verhandlung des VGH teil; sie endete aufgrund Rüdels Intervention mit einem Freispruch. Es konnte keine weitere Beteiligung General Rüdels am VGH nachgewiesen werden.

Gut gemeinte Vorstöße Scharpings in der Traditionspflege wurden von den Traditionalisten in der Bundeswehr stets ignoriert und blockiert. Bereits im Frühjahr 1999 hatte Scharping Truppe und Stäbe aufgefordert, von sich aus Vorschläge für die Umbenennung von historisch belasteten Kasernennamen zu unterbreiten. Das Ergebnis: kein einziger Vorschlag ging auf der Hardthöhe ein. Auch Scharpings Ansprache vom 20. Juli 2000 im Bendlerblock in Berlin wurde nicht rezipiert. Er hatte diese Soldaten der Wehrmacht gewürdigt: „Der Oberleutnant Albert Battel verhinderte 1942 in Galizien unter Androhung von Waffengewalt eine Mordaktion gegenüber jüdischen Bürgern. Durch die Kriegsereignisse entkam er seiner Verhaftung. Er überlebte und wurde nach dem Krieg in Israel geehrt.

Der Hauptmann Wilm Hosenfeld war Offizier der Besatzungstruppe in Warschau. Aus eigener Initiative versteckte und rettete er verfolgte polnische und jüdische Bürger. Er selbst starb 1952 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.

Ewald Kleisinger half als Offizier in Warschau verfolgten Juden. Er stellte ihnen Personalpapiere aus und verschickte sie in seine Heimatstadt, wo sie als vermeintlich christliche Fremdarbeiter überlebten. Seine Tätigkeit blieb bis Kriegsende unentdeckt. Auch Kleisinger wurde später als »Gerechter der Völker« geehrt.

Generalleutnant Theodor Groppe, Kommandant einer Infanteriedivision, wagte es Ende 1939, Ausschreitungen gegen Juden unter Androhung von Waffengewalt zu verhindern und offiziell gegen Befehle Himmlers zu protestieren. Er wurde seines Kommandos enthoben und aus dem Dienst entlassen. Nach dem 20. Juli 1944 wurde Theodor Groppe im Zuge der allgemeinen Säuberungswelle verhaftet und er entging dem Tode nur mit knapper Not.“7

Die Bundeswehr hat so ihre Probleme mit dem historisch gebildeten Staatsbürger in Uniform. Offensichtlich ist nicht einmal das historische Datum »22. Juni 1941« auf der Hardthöhe geläufig. Ausgerechnet am 22. Juni 2001 wollten die Traditionalisten der Bundeswehr den »Ball des Heeres« veranstalten. Erst zivile Proteste von außen bewirkten Einsicht beim neuen Inspekteur des Heeres: „Wie erst kürzlich zu erfahren war, muss davon ausgegangen werden, dass dem 60. Jahrestag des Kriegsbeginns zwischen Deutschland und der damaligen Sowjetunionen am 22. Juni 2001 in der Öffentlichkeit und den Medien besondere Beachtung geschenkt wird. Die zeitgleiche Veranstaltung »Ball des Heeres« erscheint mir daher nicht mehr angeraten.“8

Scharping sprach 1994 davon, dass diese „Tradition nicht hingenommen werden darf“, Naumann versprach 1999, dass alle Kasernen, die nach Nazi-Generälen benannt sind, umbenannt würden. Passiert ist – von einer Ausnahme abgesehen – nichts. Diese Kasernen sind immernoch nach Militärs benannt, die beim Angriffs- und Vernichtungskrieg mit dabei waren: General-Hüttner-Kaserne in Hof, Schulz-Kaserne in Munster, Hülsmann-Kaserne in Iserlohn, Lilienthal-Kaserne in Delmenhorst, General-Konrad-Kaserne in Bad Reichenhall, Röttiger-Kaserne in Hamburg, Peter-Bamm-Kaserne in Munster, Briesen-Kaserne in Flensburg, General-Fahnert-Kaserne in Karlsruhe, General-Henke-Kaserne in Neuwied, General-von-Seidel-Kaserne in Trier, Mölders-Kasernen in Visselhövede und Braunschweig, Schreiber-Kaserne in Immendingen, Medem-Kaserne in Holzminden, General-Heusinger-Kaserne in Hammelburg.

Offensichtlich ist auch die Debatte um die Traditionswürdigkeit des Feldmarschalls von Mackensen ein Tabu: Bei Hitlers Traditionsoffensive 1937/38 war Mackensen zum traditionswürdigen Kasernenpatron gekürt worden. Hier ein Auszug aus seinem Sündenregister: In der Schlacht von Gumbinnen hatte Mackensen in nur zwei Stunden 9000 (Neuntausend) seiner Männer in Tod und Verderben gehetzt. Er selbst sprach von »Massenmord« und »Massenschlächterei«. Den Durchbruch von Gorlice-Tarnow erzwang Mackensen mit Giftgas. Mackensen empfand Genugtuung angesichts der Ermordung Erzbergers: „Den Schädling sind wir los…“ Mackensen verdammte Stauffenbergs Tat als „fluchwürdiges Attentat“. Mitte November 1944 richtete Mackensen einen Aufruf an die Jugend, um vierzehn- bis siebzehnjährige Jungen zu „Opferbereitschaft und Fanatismus“ zu ermahnen. Mackensen hielt bis zuletzt an Adolf Hitler als »Retter« fest. Mackensen ist weiterhin Kasernenpatron der Bundeswehr in Hildesheim.9

Anmerkungen

1) Schreiben Scharpings vom 6. Juni 1994 an den Autor

2) Bonn will mehrere Kasernen umbenennen; in: Süddeutsche Zeitung vom 30. Januar 1999

3) Der Inspekteur des Heeres am 1. Dezember 1999: Wegweiser für die Traditionspflege im Heer, S. 110.

4) Ralph Giordano: Die Traditionslüge. Vom Kriegerkult in der Bundeswehr, Köln 2000, S. 336.

5) Schmid-Kaserne im vierten Versuch, in: Schleswig-Holsteinische Landeszeitung vom 20. April 2000.

6) Nach dieser AP-Meldung berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. März 2000.

7) http://www.bundeswehr.de/news/reden/reden_minister/200700.html

8) Schreiben von Generalleutnant Gert Gudera vom 9. April 2001.

9) Theodor Schwarzmüller: Zwischen Kaiser und »Führer«. Generalfeldmarschall August von Mackensen, Paderborn 1995.

Jakob Knab, Kaufbeuren, ist Gründer und Sprecher der »Initiative gegen falsche Glorie«

zum Anfang | Der Zivile Friedensdienst
Ein Lichtblick im rot-grünen Tunnel

von Kathrin Vogler

„Mit aller Kraft“ wollte sich die neu gewählte Bundesregierung „um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktprävention bemühen“, so jedenfalls steht es in der Koalitionsvereinbarung von 1998. Der grüne Militärexperte Winfried Nachtwei (MdB) erkannte darin gar die erstmalige Selbstverpflichtung einer Regierung „auf den Primat der Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung“, welche sich in einer Vielzahl von Projekten konkretisiere. Im Mittelpunkt seiner Beispielliste stehen hierbei auch die Ausbildung in Peacekeeping und -building, eine zu schaffende Infrastruktur ziviler Konfliktbearbeitung und Friedensfachdienste.1 Damit wollte Nachtwei das Gewicht ziviler Außenpolitik stärken und das Gewicht des Militärischen zurückdrängen.

Im Juni 1999 fiel mit der Verabschiedung eines Rahmenkonzepts für den Zivilen Friedensdienst durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Startschuss für den staatlich mitfinanzierten Friedensfachdienst. Gefordert worden war dieser schon Anfang 1997 von einer Reiher Prominenter unterschiedlicher politischer Couleur in der »Berliner Erklärung«, die auch wesentliche Eckpfeiler eines solchen Dienstes beschrieb. Danach sollte er „in nationalen und internationalen Konflikten mit den Methoden der gewaltfreien Konfliktaustragung (…) dazu beitragen, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern oder zu beenden oder nach gewaltsamen Konflikten Prozesse der Versöhnung in Gang zu setzen.“ 2

Dafür sollten Friedensfachkräfte in mehrmonatigen Ausbildungsgängen geschult und in subsidiärer und pluraler Trägerschaft durch Nichtregierungsorganisationen mit staatlicher Unterstützung eingesetzt werden. Vorgearbeitet hatte hierfür bereits die Landesregierung NRW mit dem von ihr finanzierten und von Friedensorganisationen unter Federführung des Forum Ziviler Friedensdienst (ZFD) und der AGDF gestalteten viermonatigen Ausbildungsgang zur »Friedensfachkraft«.

Können Deutsche Frieden schaffen?

Aus einzelnen Friedensgruppen gab es deutliche Kritik an den ZFD-Plänen, zumal wenn es um Einsätze in Ex-Jugoslawien ging. Die Deutschen seien mitverantwortlich für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien und schon deswegen nicht geeignet für einen Zivilen Friedensdienst in diesem Gebiet; für eine Friedensbewegung, die nicht fähig sei, „die Regierung des eigenen Landes von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg abzuhalten“ könne der ZFD im Ausland zur Ausweichmöglichkeit werden und von der Bundesregierung könne er als ziviles Alibi für die weitere Militarisierung der Außenpolitik missbraucht werden. Das Projekt wurde als elitär zurückgewiesen, da es den Opfern westlicher Kriegführungspolitik unterstelle, sie seien unfähig im Umgang mit Konflikten. Ganz grundsätzlich wurde auch die Berechtigung von NROs zu humanitären Einsätzen in Kriegsgebieten infrage gestellt: „Die zivilmilitärische Zusammenarbeit der Nicht-Regierungs-Organisationen (NROs) gehört als Begleitprogramm zur militärischen Intervention. (…) Die Rolle von Cap Anamur im Jugoslawienkrieg war beispielhaft. Ohne deren Organisation der Flüchtlingsunterbringung und Verteilung der Flüchtlinge in die von NATO-Soldaten vorbereitete Lager wäre eine Bombardierung des Kosovo von der Dauer und in diesem Umfang nicht möglich gewesen. In dieser militärischen Zusammenarbeit werden auch in der Zukunft – zumindest teilweise – die Aufgaben des Zivilen Friedensdienstes liegen.“3

ZFD fördert nicht die NATO

Aus der Erfahrung der vergangenen drei Jahre können diese Einschätzungen nicht bestätigt werden. Der Zivile Friedensdienst ist kein NATO-Ergänzungsbausatz. Im Gegenteil: Er fördert – wenn auch in kleinem Rahmen – friedenspolitisch sinnvolle Projekte, die sich weder anmaßen, den von Krieg betroffenen Menschen die deutsche Weltsicht aufzuzwingen, noch sich der eigenen Verantwortung an Gewaltzuständen entziehen. Einige Projekte sind eingebunden in friedens- oder entwicklungspolitische Zusammenhänge in Deutschland, die Erfahrungen der Friedensfachkräfte fließen über Berichte, Veröffentlichungen und Veranstaltungen zurück in die deutsche Öffentlichkeit und tragen hier zu einer notwendigen Sensibilisierung bei. Zivile Friedensdienste in unterschiedlicher Form existieren inzwischen in vielen weiteren europäischen Staaten, sie beginnen sich zunehmend zu koordinieren und zusammenzuarbeiten. Diese positiven Entwicklungen basieren auf dem Engagement von NROs; sie können durch staatliches Handeln behindert oder gefördert, aber nicht ersetzt werden.

Auf Drängen der Trägerorganisationen sind einige Defizite der Anfangszeit inzwischen behoben worden. So werden heute auch Staatsangehörige aus Nicht-EU-Staaten im Rahmen des ZFD ins Ausland entsandt. Eine wesentliche antimilitaristische Kritik war, dass keine ZFD-Projekte fürs Inland geplant seien. Inzwischen bildet das Forum ZFD die ersten Friedensfachkräfte für den Einsatz im Inland aus. Die Finanzierung ihrer Einsätze ist allerdings nicht klar, da sie nicht in die Zuständigkeit des BMZ fallen und nicht den bisherigen Fördergrundsätzen entsprechen.

Langsamer Start

Das größte Problem des ZFD nach drei Jahren ist aber sein geringer Umfang. Die wenigen Friedensfachkräfte im Einsatz können weder belegen, dass ihre Arbeit dem Ziel gewaltfreier Konfliktbearbeitung nutzt, noch können sie in Deutschland wirklich als positive AkteurInnen wahrgenommen werden und damit politisch gegen die Militarisierung der Außenpolitik wirken. Zu sehr sind sie mit ihren anspruchsvollen Aufgaben im Einsatzland beschäftigt, zu isoliert sind die durchschnittlich drei Friedensfachkräfte pro Einsatzland.

Heute, am Ende der Legislaturperiode, befinden sich nach offiziellen Angaben über 100 zivile Friedensfachkräfte in 38 Projekten und 32 Ländern im Einsatz. Von Null auf 100 in drei Jahren – sollte diese Beschleunigung charakteristisch für die Durchzugsstärke der rot-grünen Regierung sein, wenn es darum geht, „den Primat der Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung“ in die politische Praxis einfließen zu lassen, gibt es tatsächlich wenig Anlass für Begeisterung. Wie gering der rote wie der grüne Mainstream selbst die Erfolge auf diesem Sektor werten, erschließt sich aus den entsprechenden Passagen der aktuellen politischen Äußerungen. Der Zivile Friedensdienst taucht im Wahlprogramm der SPD nur mit einem Satz, bei den Grünen gar nicht auf. Das Projekt ist für die SPD einfach noch zu klein und zu unspektakulär, um für Vereinnahmungsversuche interessant zu sein. Für die Grünen hat es den entscheidenden Schönheitsfehler, nicht im Außenministerium angesiedelt zu sein. Diese Konstellation ist vielleicht ein großes Glück für den ZFD, dem so propagandistische Umarmungen durch den Außenminister und politisch motivierte Einmischungen in die Projekte weitgehend erspart blieben. Ein »wirksames Instrument« ziviler Konfliktaustragung ist der ZFD allerdings noch nicht. Dazu bedarf es einer dauerhaften Absicherung und einer erheblichen Ausweitung der Projekte.

„Damit der Zivile Friedensdienst über die Graswurzelebene hinaus stärker regional wirksam werden kann, sollte in den nächsten vier Jahren das Potenzial an Friedensfachkräften von 100 auf 500 gesteigert werden. Das muss einhergehen mit einer schrittweisen Steigerung der Projektförderung.“4 Dieser Forderung des Abgeordneten Nachtwei, der sich damit einer Initiative des Forum ZFD anschließt, bleibt noch hinzuzufügen, dass es nicht allein um Quantität gehen kann. Es geht nicht zuletzt auch um die Frage, welche Projekte zu welchen Bedingungen gefördert werden, und wie die Projekte mittelfristig zu echten multi- oder bilateralen Friedenskooperationen heranwachsen können. Hier sind weiterhin die Friedensorganisationen gefordert.

Alternativen: Zivil oder militärisch, Frieden oder Krieg?

Es geht darum, den ZFD langfristig zu einer echten Alternative zum Militär zu entwickeln und ihn auch in Konkurrenz zum Militär dauerhaft zu finanzieren. Das bedeutet, die zunehmenden Kosten des ZFD müssen auch durch Umverteilung aus dem Bundeswehrhaushalt finanziert werden, statt auf Kosten wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik. Nur dann kann der ZFD auf Dauer den Anspruch verwirklichen, mehr zu sein als eine gewaltfreie Ergänzung einer durch und durch gewalttätigen und einseitig interessengeleiteten Politik. Diese Perspektive bleibt allerdings bei allen aktuell vorstellbaren politischen Konstellationen Zukunftsmusik.

„Außenpolitik, die ihren Anspruch von Friedenspolitik auch in der Praxis bestmöglich einlösen will, braucht neue und erweiterte zivile Fähigkeiten. Verglichen mit einer enorm kostspieligen militärfixierten Sicherheitspolitik sind die dafür notwendigen Friedensinvestitionen ausnehmend preisgünstig und erfolgversprechend.“5 Genau deswegen findet der ZFD auch zunehmend Anhänger bei CDU/CSU und FDP. Auf dieser pragmatischen Ebene liegen seine großen Chancen in den nächsten Jahren, denn die Begehrlichkeiten der Militärs und die »Bündnisanforderungen« der USA sind von den europäischen Ländern nicht finanzierbar, ohne erhebliche soziale Spannungen zu riskieren. Mögliche Vereinnahmungsversuche durch die Regierungsparteien (welche auch immer dies nach dem 22. September sein mögen) sollten PazifistInnen und AntimilitaristInnen nicht davon abhalten, den Zivilen Friedensdienst zu unterstützen, zu verbreiten, kritisch zu begleiten und für ihre Ziele zu nutzen.

Es gibt viel Dunkel im rot-grünen Tunnel. Dies hier ist wenigstens ein Lichtblick.

Anmerkungen

1) Winni Nachtwei: Replik auf die Gemeinsame Erklärung von Friedensorganisationen, 05.11.1998, www.friedenskooperative.de/themen/lobby_05.htm

2) »Berliner Erklärung für einen Zivilen Friedensdienst«, u.a. unterzeichnet von Hildegard Hamm-Brücher, Hans Koschnik, Manfred Stolpe, Rita Süßmuth, Hans-Joachim Vogel, Antje Vollmer

3) Ralf Cüppers, Siglinde Neher: »Out of area in Zivil« – neu gelesen. www.bundeswehrabschaffen.de o.J.

4) Winfried Nachtwei: Gewalt verhüten – Frieden fördern: Rotgrüne Beiträge zur zivilen Konfliktbearbeitung, April 2002

5) Ebd.

Kathrin Vogler ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung (Minden)

zum Anfang | Terroristenhysterie zum Demokratieabbau genutzt

von Heiner Busch

„Die Anschläge vom 11. September haben es deutlich gemacht: Gegen die neue Dimension des Terrors braucht es wirksame neue Massnahmen.“ Dieser Satz findet sich nicht etwa in einer Rede des Bundesinnenministers, sondern in der »Bilanz grüner Regierungsarbeit«.1 Es ist der erste im Kapitel »Innenpolitik«. Die Partei, die sich selbst als »Bürgerrechtspartei« deklariert, versucht dort ganz im Stil und in der Werbesprache einer modernen etablierten Partei den »Grünfaktor« zu erklären: „Was zur Bekämpfung von Terroristen notwendig ist, wird getan. Deutschland bewegt sich jedoch nicht in Richtung Polizei- und Überwachungsstaat.“ Die schlimmsten Pläne des Koalitionspartners habe man abgewendet: Dank der Grünen gebe es keinen Ausbau des Bundeskriminalamts (BKA) zu einem „deutschen FBI mit geheimdienstlichen Befugnissen“ und keine Fingerabdrücke in Pässe und Personalausweise.2 Stimmt: Nicht das BKA ist der Hauptgewinner des »Terrorismusbekämpfungsgesetzes«, sondern die Geheimdienste. Statt des Fingerabdrucks wird es biometrische Daten in den Ausweisen geben. Das Ausländerzentralregister wird ausgebaut – mit vollem Zugriff für Polizei und Dienste. Mit dem Asylgeheimnis ist es faktisch vorbei, weil die Asylbehörden von sich aus Terrorismus-Verdächtige an Polizei und Dienste melden sollen. Das Sozialgeheimnis wird für Rasterfahndungen durchlöchert. Das Ausländerrecht wird verschärft, aber nicht ganz so scharf wie Schily es wollte. Die Kronzeugenregelung wird zwar (vorerst) nicht wieder eingeführt, Ende April aber beschloss der Bundestag eine Ausweitung des § 129a des Strafgesetzbuches – Unterstützung einer terroristischen Vereinigung – auf Vereinigungen im Ausland. Zu den rechtlichen Anti-Terror-Paketen kommt ein finanzielles von insgesamt drei Milliarden DM, davon 500 Millionen für das Bundesinnenministerium (BMI) und seine nachgeordneten Stellen (Bundesgrenzschutz – BGS, Bundeskriminalamt – BKA, Bundesamt für Verfassungsschutz – BfV etc.) sowie 50 Millionen für den Bundesnachrichtendienst (BND).3 Von den vielen geschluckten Kröten ist in der grünen Bilanz nicht die Rede.

Die SPD hatte sich über Jahrzehnte an der Allparteien-Koalition der Inneren Sicherheit beteiligt – nicht nur während der sozialliberalen Koalition, sondern auch nach der »geistig-moralischen Wende« Kohls. SPD-Landesinnenminister regierten in Bundesländern, deren Polizeigesetze sich kaum von denen der konservativ regierten unterscheiden. Sie regierten mit in der Innenministerkonferenz, die einen grossen Teil der Entscheidungen in Sachen Polizei und Geheimdienste für die Parlamente vorkaut. Die SPD stellte lange Zeit die Mehrheit im Bundesrat und hat dort an vielen Gesetzesprojekten (etwa den Geheimdienstgesetzen oder dem Ausländergesetz) mitgewirkt. Und sie hat – trotz Sperrminorität – zwei verheerenden Verfassungsänderungen unter der Regierung Kohl zugestimmt: Der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 1993 und dem Grossen Lauschangriff 1998. Noch Ende Juli 1998 – mitten in der heissen Wahlkampfphase – hatte die SPD ein Positionspapier zur Inneren Sicherheit vorgelegt, das einmal mehr die „gestiegene Kriminalitätsbelastung“ wiederkäute.4 Für einen grundrechtlich motivierten Schwenk der Partei gab es wahrlich keine Anzeichen.

Dass auf innen- und justizpolitischem Gebiet für sie nichts zu holen war, hatte die Spitze der Grünen Partei offenbar schon bei den Koalitionsverhandlungen akzeptiert. Das Kapitel Innenpolitik trägt deutlich die Handschrift der SPD. Das zeigt sich zu allererst an der »Leitlinie«, die man von Tony Blairs New Labour übernommen hatte: „Entschlossen gegen Kriminalität, entschlossen gegen ihre Ursachen.“5 Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs ohne wenn und aber hatte die Politik der alten Regierung gekennzeichnet, sie sollte bis auf Ausnahmen auch die Leitlinie der neuen sein. Und zwar nicht nur hinsichtlich der organisierten Kriminalität, sondern auch bei der Kleinkriminalität: „Alltagskriminalität“ sei „konsequent aber bürokratiearm zu bestrafen.“ Die Förderung der »Wiedergutmachung« und des Täter-Opfer-Ausgleichs waren allenfalls Beiwerk. An eine Entkriminalisierung z.B. des Ladendiebstahls war nicht zu denken. Einziger Lichtblick war der pragmatische Schwenk in der Drogenpolitik hin zur kontrollierten Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige. Die Modellprojekte begannen im Frühjahr 2002 mit bundesweit 1.120 Abgabeplätzen (gegenüber derzeit 3.000 in der Schweiz).6

Kontinuität ebenso bei der »Prävention«, die auch für die neue Regierung vor allem mit repressiven Mitteln und Kontrolle betrieben werden sollte: „Wir werden Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sowie kriminalpräventive Räte nachhaltig unterstützen.“ Das hieß nichts anderes, als an dem von Kanther propagierten »Sicherheitsnetz« weiter zu häkeln. Mit 13 Bundesländern schloss der BMI als BGS-Dienstherr seit 1998 solche Partnerschaften, Ende 2000 auch mit der Deutschen Bahn: Private Sicherheitsdienste und BGS-Bahnpolizei machen dort gemeinsame Sache.7

Dass am allgemeinen Ausbau des Systems der Inneren Sicherheit nicht gerüttelt würde, ergab sich aber nicht nur aus den Aussagen, sondern erst recht aus den Leerstellen der Koalitionsvereinbarung. Hier einige Beispiele:

  • Aussagen zur Schleierfahndung – unter Kanther im BGS-Gesetz verankert – sucht man dort vergebens. Aus den seither erschienenen BGS-Tätigkeitsberichten geht hervor, dass sie ausgebaut wurde.
  • Die strategische Überwachung durch den »elektronischen Staubsauger« des BND war mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 ausgedehnt worden. In der Koalitionserklärung wurde sie nicht erwähnt; seit der G-10-Gesetz-Änderung – in Kraft seit Juni 2001 – darf der BND nicht nur die über Satelliten gesteuerte, sondern auch die leitungsgebundene Telekommunikation durchfiltern.
  • Zur Beschränkung der exzessiven Telefonüberwachung (TÜ) steht nichts in der Koalitionsvereinbarung. Das vom Justizministerium beim Freiburger Max-Planck-Institut in Auftrag gegebene Gutachten, mit dem die Praxis der TÜ überprüft werden sollte, ist noch immer nicht veröffentlicht. Die Zahl der Überwachungsanordnungen ist dagegen weiter gestiegen. Die Telekommunikationsüberwachungsverordnung, die die Anbieterfirmen zur Aufbewahrung von Verbindungsdaten zwingt, war unter der Regierung Kohl gescheitert, Rot-Grün brachte sie Anfang 2002 modifiziert über die Bühne. Mit dem Anti-Terror-Gesetz haben nun auch die Geheimdienste Zugang zu diesen Daten.
  • Die DNA-Profildatei war unter Kanther mit grossem populistischem Aufwand durchgebracht worden. „In den letzten Jahren“, so lobt sich das BMI, sei sie massiv gewachsen „von einigen hundert auf inzwischen 164.000 Datensätze (Dezember 2001).“ 8
  • Demonstrationsrecht: Die Koalitionsvereinbarung enthielt keine Aussagen über eine Rücknahme des Vermummungsverbots. Kurz vor der Fußball Europa-Meisterschaft im Sommer 2000 verabschiedete der Bundestag eine Passgesetzänderung: Hooligans sollten mit Passbeschränkungen belegt werden können. Die Regelung wird mittlerweile ausgiebig gegen DemonstrantInnen angewandt. Betroffen sind insbesondere Personen, die in den im Januar 2001 eingerichteten »Gewalttäter-Dateien« des BKA erfasst sind. Verurteilungen sind dafür nicht nötig.9

Auch auf europäischer Ebene setzte die rot-grüne Regierung die Politik ihrer konservativen Vorgängerin nahtlos fort. Am 22. April 1999, neun Tage bevor mit dem Amsterdamer Vertrag die Schengen-Kooperation formal in die EU-Strukturen eingegliedert wurde, trat die deutsche Schengen-Präsidentschaft mit einer Note an ihre Partner heran: Das Schengener Abkommen sollte – nunmehr vom Rat der Innen- und Justizminister – überarbeitet werden. Zu erweitern wären insbesondere die grenzüberschreitenden verdeckten Ermittlungsmethoden. Wie das geschehen sollte, demonstrierte das BMI fünf Tage später in einem Vertrag mit dem Nicht-EU-Mitglied Schweiz, in dem die grenzüberschreitende Observation und der Austausch von verdeckten Ermittlern selbst für präventive Zwecke erlaubt werden. Das – so heisst es seitdem – sei das Muster für weitere Verträge auch im Rahmen der EU.

Auf das deutsche Konto gehen weiter Vorschläge einer EU-Grenzpolizei oder einer EU-Bereitschaftspolizeitruppe, mit der dann u.a. Gipfeltreffen wie in Göteborg oder Genua zu schützen seien. Das BMI brüstet sich in seinem »innenpolitischen Bericht« mit seinem Beitrag zur Neukonzeption des Schengener Informationssystems (SIS2), das dann in Zukunft auch Daten über »violent troublemakers« enthalten soll.10

Insgesamt betrachtet, wird man am Ende der Legislaturperiode nicht einmal behaupten können, die rot-grüne Koalition habe anfänglich gemachte Versprechungen nicht eingehalten. Denn tatsächlich war in der Koalitionsvereinbarung das Versprechen einer anderen, an den Grundrechten orientierten Innen- und Justizpolitik, an einem Rückbau der ausufernden Befugnisse und der tatsächlichen Macht von Polizei und Geheimdiensten, nicht enthalten. Ein zukünftiger Bundesinnenminister Beckstein wird keinen Lichtschalter umlegen müssen.

Anmerkungen

1) Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion: Hätten Sie’s gewusst? Bilanz grüner Regierungsarbeit 1998-2002, Berlin März 2002, S. 12

2) ebd.

3) siehe Andrea Böhm: Anti-Terror-Programm des Bundes, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 70, Nr. 3 2001, S. 19

4) Den Rechtsstaat stärken – den Inneren Frieden wahren – die Innere Sicherheit gewährleisten. SPD-Positionspapier zur Inneren Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland, Juli 1998

5) Frankfurter Rundschau 22.10.1998

6) Süddeutsche Zeitung 28.2.2002

7) Innenpolitik Spezial: Innenpolitischer Bericht 1998-2002, S. 18f (Sonderausgabe der vom BMI herausgegebenen Zeitschrift Innenpolitik)

8) ebd., S. 14

9) siehe detaillierter Olaf Griebenow/ Heiner Busch: Nach Göteborg und Genua, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 69, Nr. 2/2001, S. 63-69; Burkhard Hirsch: Rechtlos durch geheime Staatsdatei, in: Grundrechte-Report 2002, Reinbek 2002, S. 50-58

10) Innenpolitik Spezial a.a.O. (Fn 7), S. 17

Heiner Busch ist im Arbeitsausschuss des Komitees für Grundrechte und Demokratie