Wissenschaft, Rüstungstechnik und totaler Krieg

Wissenschaft, Rüstungstechnik und totaler Krieg

Historische Einblicke in eine Wechselbeziehung

von Jürgen Scheffran

Auf den ersten Blick scheint ein Widerspruch zu bestehen zwischen der »Destruktivkraft« Rüstung und der als »Produktivkraft« verstandenen Wissenschaft und Technik, deren Fortschritte zum Wohle der Menschheit beitragen sollen. Dabei ist der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt schon immer für Rüstung und Krieg benutzt worden, und Revolutionen in Naturwissenschaft und Technik hatten Umbrüche im Kriegswesen und in der Waffentechnik zur Folge. Im 20. Jahrhundert ermöglichten Wissenschaft und Technik eine Steigerung der Bedrohung ins Unermessliche. Der Einfluss der Kräfte, die sich für eine grundsätzliche Umkehr einsetzen und den aufklärerischen Impuls der Wissenschaft für eine nachhaltige Friedenssicherung und Entwicklung nutzen und die Gewaltmittel präventiv begrenzen wollen, ist nach wie vor sehr begrenzt.

Etwa 1480 schrieb Leonardo da Vinci an den Grafen Sforza: „Ich habe außerdem noch Pläne für eine Art von Bombarden, die ganz bequem und leicht zu transportieren sind und mit denen man kleine Steine gleich einem Ungewitter schleudern kann; mit dem Rauch derselben wird der Feind in großen Schrecken gestürzt und bei ihm eitel Schaden und Verwirrung gestiftet.“1 Er fährt fort: „Wo Bombarden ihre Wirkung verfehlen würden, will ich Schleudermaschinen, Wurfgeschütze, Trabuken und anderes Gerät von wunderbarer Wirksamkeit machen, wie es nicht im Gebrauch ist.“

Leonardos Zwiespalt

An der Schwelle zur Neuzeit und vor Herausbildung der modernen Wissenschaft stand Leonardo im Brennpunkt der Umwälzungen der Rennaissance. Es gab fast nichts, was er nicht unter die Lupe nahm und auf zahllosen Papieren festhielt.

Um seine Forschungen betreiben zu können, war Leonardo auf die Gunst und die Förderung der Mächtigen angewiesen, und die aussichtsreichsten Verdienstquellen waren zu dieser Zeit Kunst und Krieg. Angestoßen durch die ungesicherten Verhältnisse Norditaliens am Ende des 15. Jahrhunderts, bedingt auch durch die neuen Schusswaffen, suchte er sein Heil in der Waffentechnik. Er entwarf das U-Boot und den muskelbetriebenen Panzer, Riesenkatapulte und Armbrust-Maschinengewehre, das Radschloss- und das Schnellfeuergewehr, Orgelbüchsen und Dampfkanonen, Artilleriegranaten und Geschosse mit mehreren Sprengkapseln (Schrapnell). Zu seinem Repertoire gehörten stromlinienförmige Festungsbauten und eine Maschine zur Herstellung von Kriegsgerät. Er erwog die Möglichkeiten ökologischer Kriegsführung (Erntevernichtung, Unwetter als Waffe) und malte sich aus, Brandbomben und vergiftete Gasbomben auf den Feind zu schleudern, damit „alle, die das besagte Pulver einatmen, daran ersticken.“2

Wie selbstverständlich setzte er dabei die Erkenntnisse seiner »produktiven« Untersuchungen für »destruktive« Zwecke ein und umgekehrt. Er entwickelte beides im Wechselspiel, ohne eine Trennung zwischen friedlicher und militärischer Nutzung zu vollziehen. Für die militärische Flussumleitung benutzte er Erkenntnisse aus Geographie und Geologie, im Katapultbau die Mechanik, im Kanonenbau die für Standbilder entwickelte Gusstechnik, in der Sprengstoffherstellung die Chemie. Andererseits zog er aus den Erfahrungen mit Waffenbau und -anwendung allgemeine Erkenntnisse. Bei der Untersuchung der Flugbahn von Geschossen kam er auf das Problem des Luftwiderstandes, die von ihm intuitiv richtig gezeichnete parabel-ähnliche Flugbahn widersprach der bis dahin behaupteten Zusammensetzung aus zwei geraden Teilstücken. Bei Experimenten an Kriegsgerät bestimmte er einen durchschnittlichen Reibungskoeffizienten. Zur effektiveren Produktion von Kanonen und Gewehren beschritt er den Weg der Mechanisierung und Standardisierung und die Verwendung hydraulischer Kraft.

Eine Umsetzung von Leonardos Plänen hätte zu der Zeit eine wissenschaftlich-technische Revolution in Gang setzen können. An Phantasie mangelte es ihm nicht, eher an der praktischen Realisierbarkeit. Vieles war zu teuer, wie die Flussumleitung, anderes prinzipiell unrealisierbar wie die mechanische Flugmaschine. John Desmond Bernal schreibt dazu: „Ohne quantitative Kenntnis von Statik und Dynamik und ohne die Möglichkeit, eine Kraftquelle, wie etwa die Dampfmaschine, zu verwenden, konnte der Ingenieur der Rennaissance niemals wirklich die durch die traditionelle Praxis gesetzten Grenzen überschreiten.“3 Dennoch gelang es ihm intuitiv – Jahrhunderte vor ihrer eigentlichen Entdeckung – einige Grundsätze zu erraten, für die er den Begriff »Naturgesetz« prägte, darunter das Huygenssche Prinzip der Wellenausbreitung und der Energiesatz. Um Naturgesetze präzise zu formulieren, fehlte ihm aber das mathematische Handwerkszeug und um sie zu überprüfen die physikalischen Messgeräte.

Leonardo sah aber auch den Widerspruch zwischen seinem Anspruch, durch Technik die Mühsal menschlicher Existenz zu erleichtern, und dem eigenen Beitrag zur Zerstörung im Krieg, den er „bestialischen Wahnsinn“ nannte. In seinem Essay »Von der Grausamkeit des Menschen« schreibt er: „Man wird Geschöpfe auf Erden sehen, die einander fortwährend bekämpfen werden, und zwar unter sehr großen Verlusten und oft auch Todesfällen auf beiden Seiten. Sie werden keine Grenze kennen in ihrer BosheitDa wird auf der Erde, unter der Erde oder im Wasser nichts übrigbleiben, was sie nicht verfolgen, aufstöbern oder vernichten werden, und auch nichts, was sie nicht aus einem Land in ein anderes schleppen werden.“

Offensive und Defensive: Anfänge der Kriegstechnik

In der Frühgeschichte des Krieges spielten Wissenschaft und Technik keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Das Kampfgeschehen wurde bestimmt durch den Zweikampf. Die »Technik« bestand hier vor allem in der Beherrschung des eigenen Körpers und der Geschicklichkeit beim Umgang mit den eingesetzten Waffen. Oftmals waren es nur minimale Differenzen, die über Leben und Tod entschieden. Der Mensch war Hauptträger und -ziel der im Krieg eingesetzten Energie, deren Wirkung durch technische Instrumente gesteigert (Schwert, Streitaxt) oder abgeschwächt (Schild, Helm, Panzerung) wurde.

Beim Aufeinandertreffen von Armeen spielte das koordinierte Zusammenwirken der Individuen eine entscheidende Rolle; die organisiert eingesetzte Energie ist der ungeordneten überlegen. Nicht nur Masse entscheidet, auch taktisches Geschick und qualitative Merkmale der Bewaffnung und Beweglichkeit, Ausbildung und Disziplin können Vorteile bringen. Für Sokrates war „ein geordnetes Heerunendlich viel mehr wert als ein ungeordnetes“ und Platon sah in der Aufstellung einer Armee in Reih und Glied die einzige praktische Anwendung der Geometrie. Um die Kommunikation im Gefecht zu ermöglichen, war ein ausgefeiltes Meldewesen erforderlich. Um den Abstand zum Gegner zu überbrücken und ihn so auf Distanz zu halten, wurden Fernwaffen immer wichtiger.

Eine dynamische Komponente kam ins Spiel durch den Einsatz des Pferdes in der Kriegführung, dessen Stärke, Wendigkeit und Ausdauer dem Menschen überlegen war. Pferde wurden auch zur wichtigsten Energiequelle beim Transport militärischer Güter und Waffen. Durch die Beherrschung der Reitkunst konnten Hunnen und Mongolen zur erheblichen Gefahr für die technisch weiter entwickelten europäischen Nationen werden.

Die »Kriegskunst« des Feldherrn bestand darin, alle Elemente der Kriegführung ausreichend zu kennen und mit ihnen unter Berücksichtigung von Gelände, Zeit, Gegner geeignet zu operieren, wobei wissenschaftlich-technische Kenntnisse Vorteile brachten. So verdankt z.B. Alexander der Große einen Teil seiner Erfolge der Erziehung und Vorbildung durch Aristoteles. Es gab aber keine systematisch betriebene Forschung, die für den Krieg hätte genutzt werden können, eher eine ungeplante Sammlung von Alltagserfahrungen, die in Form von Überlieferung oder in der Struktur der Waffen selbst gespeichert wurden.

Die Antike brachte Anfänge der Physik (Mechanik), Mathematik (Dezimalsystem, Geometrie, Landvermessung, Algebra), Astronomie (Sternbilder, Zeitmessung) und Chemie (Metallherstellung, Baustoffe). Wissenschaftliche Begrifflichkeiten (Theorie und Experiment, Ursache und Wirkung, Deduktion und Induktion) waren Gegenstand der antiken Philosophie, verbanden sich aber noch nicht zu einer einheitlichen Methodik.

Was an Wissen für den Krieg nutzbar war, wurde ohne Bedenken eingesetzt, wobei der Krieg selbst zum wissenschaftlichen Gegenstand wurde. Besonders die Verwendung von Metallen erforderte große technologische Fertigkeiten (Schmelzen, Gießen, Formen), was zur Spezialisierung und Bildung neuer Berufszweige (Waffenschmied) beitrug.

Eine besondere gesellschaftliche Organisation erforderte das Wettrüsten zwischen Festungsbau und Belagerungstechnik. Allein schon die umgesetzten Massen an Material, um dicke Mauern zu errichten oder tiefe Gräben auszuheben, benötigten eine große Zahl von Menschen und das Zusammenspiel verschiedener Fachleute, unterstützt durch technische Geräte und Tragetiere. Um die in den Bollwerken gebundene Energie zu überwinden, war für ihre Eroberung ein hoher Energie- und Materialeinsatz erforderlich, wenn nicht durch List und Tücke ein Zugang geöffnet werden konnte. Die belagerte Gesellschaft war vollständig in den Krieg einbezogen und von der Außenwelt abgeschnitten, auch von externen Nahrungs- und Wasserquellen, was eine Autarkie über lange Zeiträume erforderlich machte. Die Belagerer mussten die Lebensmittel aus der näheren Umgebung besorgen. Wer am Ende den längeren Atem hatte, das war auch eine ökonomische Frage.

Mit der Stärke der Befestigung wuchs auch die Größe und Stärke der Belagerungs- und Eroberungsgeräte, die erhebliche Massen in Bewegung bringen und zugleich transportabel sein mussten. Im Römischen Reich gab es unter Vitruvius eigene Werkstätten und Lehrwerke zur Herstellung von Kriegsmaschinen. Katapulte wandelten ihre mechanisch gespeicherte in kinetische Energie und schleuderten zentnerschwere Blöcke gegen Befestigungsmauern oder Feuerbälle hinter feindliche Linien. Die Konstruktion der Katapulte setzte einen für die damalige Zeit recht hohen Stand wissenschaftlich-technischer Organisation voraus. Sie erforderte Kenntnisse aus dem Bereich der Mathematik (Arithmetik, Geometrie), Mechanik (Hebelgesetze, Beschleunigungskräfte, Ballistik, Aerodynamik, Elastizität), Chemie (geeignete Materialien). Es gab eigene Schulen (z.B. in Alexandria) die systematische Beobachtungen und Experimente anstellten. So sah sich Archimedes, der sonst keinen großen Wert auf die Anwendung seiner Forschung legte, angesichts der Belagerung seiner Heimatstadt Syrakus durch die Römer (214 v.Chr.) veranlasst, eine Vielzahl von Verteidigungswaffen zu konstruieren, darunter auch riesige Katapulte, die römische Schiffe zerstörten. Dennoch konnte Syrakus nach zweijähriger Belagerung durch Verrat und Überraschung bezwungen werden, wobei Archimedes selbst getötet wurde.

In der Schifffahrt und im Seekrieg dienten zunächst Muskelkraft (von Sklaven) und Windenergie als treibende Kraft, wobei letztere auch zur Überwindung interkontinentaler Distanzen potenziell geeignet war. Damit wurde es möglich, die für die Landkriegsführung wesentlichen Rohstoffe, Finanzmittel (Gold) und Waffensysteme über große Distanzen zu transportieren. Dies blieb im Wesentlichen der Stand der Rüstungstechnik bis zum ausgehenden Mittelalter.

Zweck und Mittel: Feuerwaffen und moderne Wissenschaft

Umbrüche in der Wissenschaft wie auch in der Kriegstechnik ergaben sich im Gefolge der Renaissance, wobei Leonardo antike Tradition und Moderne verbindet. Während Leonardo noch verschiedene Seiten der Technik verkörperte, trat in der weiteren Entwicklung das künstlerisch-tätige Moment zunehmend in den Hintergrund zugunsten der künstlichen Gegenstände, die als Mittel zum Zweck funktionieren sollten. Für Francis Bacon ist Wissenschaft das neue Werkzeug (novum organum), und ein Mittel zum Fortschritt, um das Wohl der Menschheit zu mehren, unter rationaler Anwendung der auf Wirkungssteigerung gerichteten neuen Wissenschaftsmethodik. Indem erlangtes Wissen als Grundlage für technische Entwicklungen dient, die wiederum Wissen erzeugen, nimmt Bacon die explosive wissenschaftlich-technisch Wachstumsdynamik vorweg.

Die Zweck-Mittel-Relation korrespondiert zur Ursache-Wirkungs-Beziehung in der Newtonschen Mechanik. Die Kraftwirkung und die dafür aufgewendete Energie wird zum Mittel, die bezweckte Beschleunigung einer Masse zu erreichen. Unter Angabe von Kräften und der Kenntnis von Masse, Ort und Zeit ist nach der mechanistischen Denkweise »im Prinzip« die Systemdynamik für alle Zeiten berechenbar. Die Grenzen liegen in der mangelnden Verfügbarkeit von Materie und Energie zur Erreichung des Zwecks und in der mangelnden Kenntnis der relevanten physikalischen Größen und ihrer Wechselwirkung.

Der Anspruch, die vermessenen und berechneten Naturgesetze zur Beherrschung und zweckmäßige Nutzung der Natur einzusetzen, feierte grandiose Erfolge. Das Wechselspiel von Empirie und Theorie führte zu einer Perfektionierung der technischen Mittel, die den Zufluss an Ressourcen (Materie, Energie, Information) in die effiziente Erreichung von Zielen und die Erfüllung von Zwecken transformieren.

Kaum geboren, wurde die neue Wissenschaft schon in das Kampfgetümmel hinein gezogen. Das analytische Instrumentarium erlaubte die bessere Beherrschung von Raum, Zeit, Masse, Kraft und Energie, und die wissenschaftliche Suche nach dem Neuen und Unbekannten war im Zeitalter des Kolonialismus zeitgemäß.

Die Initialzündung war die Entdeckung des Schwarzpulvers und die Ausbreitung der Feuerwaffen, deren Bedeutung Bacons Namensvetter Roger Bacon schon im 13. Jahrhundert erkannt hatte. Der Kanonendonner, den Leonardo vernahm, veranlasste auch andere, ihr Werk in den Dienst des Krieges zu stellen. So pries Galilei 1609 in einem Brief an den Dogen Leonardo Danato den „unschätzbaren Wert“ des Fernrohrs bei der Entdeckung des Feindes, und der Anfang des 16. Jahrhunderts lebende Mathematiker Niccolo Tartaglia versuchte, die größte Reichweite von Geschützen zu berechnen. Skrupel veranlassten ihn, sein Werk zu vernichten, erschien es ihm doch als „ein tadelnswertes, schändliches und barbarisches Unterfangen,eine Technik zu perfektionieren, die schädlich wäre für den Nächsten und verderblich für die Menschheit.“ Angesichts der drohenden Invasion Italiens durch die Türken änderte er seine Meinung aber wieder.4

Die Schwarzpulver-Revolution beförderte die zunehmende Technisierung und Verwissenschaftlichung des Krieges. Die Verbesserung der Feuerwaffen und die Untersuchung des Schießvorgangs führte auf Fragen der Mechanik (Kraft und Gegenkraft, Reibung und Luftwiderstand, Ballistik) und Chemie (Ausdehnung von Gasen, Zusammensetzung der Luft). Der Umgang mit der immer komplexer werdenden Rüstungstechnik erforderte eine Professionalisierung und Spezialisierung des damit umgehenden Personals, was sich in der Bildung vom Militärakademien und Ingenieurschulen niederschlug. Rüstungstechnik beanspruchte einen wachsenden Anteil der Innovationen in Naturwissenschaft und Technik und trieb deren Entwicklung mit voran. Der wissenschaftliche Wettbewerb wurde zunehmend kriegsentscheidend und staatlich gefördert. Mit der Technisierung verbunden war die industrielle Großproduktion in Pulverfabriken, Kanonengießereien und Büchsenmachereien, was die Mechanisierung und Standardisierung des Produktionsprozesses beförderte.

Die Kriegführung wandelte sich angesichts immer neuer Waffentypen. Hierzu gehörten Kanonen für Belagerung und Feldschlacht, Gewehre mit unterschiedlicher Zündmethode, Bajonette, Pistolen, Handgranaten, Minen, Brand- und Sprengbomben, Hohlgeschosse, Hagelgeschosse, Petarden, Raketen. Dem Ansturm der Artillerie war die antike Befestigungstechnik nicht mehr gewachsen, Stadtbefestigungen wurden zunehmend durch großräumige Landbefestigungen und eine aktive Defensive ersetzt, unter Einsatz von Artillerie, mobilen Forts und Feldfestigungen (Schützengräben).

Die Zahl der Opfer wuchs durch die Perfektionierung der Handfeuerwaffen sprunghaft an. Die Einführung des Schnellfeuer- und Maschinengewehrs ermöglichte das automatisierte Abschlachten und erschwerte das Manövrieren im Feld. Mit neuen Sprengstoffen (Nitrozellulose, Ballistit, Dynamit, TNT), schweren Artilleriegeschützen, Schrapnell- und Brandgeschossen wurden Flächenbombardements möglich.

Durch die Wirkungssteigerung wurde nicht nur der Energieeinsatz gesteigert, sondern auch die Reichweite. Das Kriegsbild wandelte sich, die kleinräumigen politischen Strukturen des Mittelalters lösten sich auf. Durch die Vielzahl neuer Waffentypen und die Überlegenheit der Offensive wurden Kriegführung und Militärstrategie immer komplexer. Zur Massierung des Feuers wurden Massenheere benötigt und gedrillte Soldaten. Die napoleonische Strategie von Mobilität und Konzentration der Mittel löste die starren Schlachtreihen des Absolutismus auf und ermöglichte die Vorherrschaft auf dem Kontinent. Die Eisenbahn erlaubte es, Truppen und Versorgungseinrichtungen in größerer Zahl und weit höherer Geschwindigkeit zu bewegen. Die Kriegsflotte mit Kanonen gewann entscheidende Bedeutung im Kampf um die Kolonien.

Der Wettlauf zwischen Artillerie und Festungsbau ging insgesamt unentschieden aus. Die Eroberung einer Festung wurde zum materialintensiven, kostspieligen Dauerbombardement (Sebastopol), die Feldschlacht zum opferreichen Grabenkrieg, so im russisch-japanischen Krieg 1904/05, v.a. aber im Ersten Weltkrieg. Hier war es gerade die Schutzlosigkeit gegenüber den auf beiden Seiten vorhandenen Angriffsmitteln, die eine Bewegung verhinderte.

Totaler Wissenschaftskrieg und neue Rüstungstriade

In seinem Werk »Vom Kriege« schreibt Carl von Clausewitz (1780-1831): „Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum Äußersten führen muss.“ Diese von Clausewitz erkannte Tendenz des Krieges alle Bereiche der Gesellschaft zu erfassen und damit zum totalen Krieg zu werden, entfaltete sich im 20. Jahrhundert in vollem Umfang. Die von dem holländischen Philosophen Hugo Grotius, der mit seinem 1625 erschienen Werk »De Jure Belli ac Pacis« die Grundlagen des Völkerrechts legte, geforderten rechtlichen Grenzen für die Mittel und Formen des Krieges spielten in den beiden Weltkriegen praktisch keine Rolle, umso mehr aber Wissenschaft und Technik. Im Winter 1940, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, schrieb der Herausgeber des Journal of the American Institute in seinem Editorial: „Krieg ist seinem Charakter nach universell, mit der gesamten Natur und Gesellschaft verbunden. Um den Krieg zu erfassen, muss die Wissenschaft einen gleichermaßen umfassenden Anspruch habenDas Studium des Krieges muss ein integraler Untersuchungsgegenstand seinEs muss mehr an allen Aspekten des Gewalteinsatzes orientiert sein als an der derzeitigen Konzeption des Friedens als einzigem Bezugsrahmen. Es muss eine totale Wissenschaft vom Krieg sein.“

Der Erste Weltkrieg wurde trotz verschiedener Neuerungen (U-Boot, Maschinengewehr, Motorisierung) im Wesentlichen noch mit den Waffengattungen und Strategien des 19. Jahrhunderts ausgetragen. Das relative Gleichgewicht der Kräfte und die Gleichwertigkeit der gegnerischen Waffensysteme führte zur Erstarrung aller Fronten. Vor und während des Krieges entwickelte neue Waffentypen wie der Panzer, das Militärflugzeug oder Gaskampfstoffe kamen zwar zum Einsatz, konnten jedoch die militärische Entscheidung kaum beeinflussen. Die langjährige Materialschlacht kostete Millionen Soldaten das Leben und wurde letztlich durch ökonomische Ressourcen entschieden. Die Massenproduktion an Waffen und Munition ging an die Grenze der industriellen Kapazität.

Trotz der nach dem Krieg weltweit auftretenden Friedensbestrebungen, der Gründung des Völkerbundes und der Ächtung chemischer Waffen hatte die qualitative Aufrüstung und Weiterentwicklung der Waffensysteme kein Ende. Kriegführungsstrategien passten sich an die veränderten Verhältnisse, zu Land, zur See und in der Luft an:

  • Im Ersten Weltkrieg noch relativ schwerfällig, wurde der Panzer zur mobilen und schlagkräftigen Waffe. Damit verbunden waren Theorien einer selbständigen Panzerwaffe (Lidell Hart) und das Konzept des »mechanisierten Blitzkriegs« (Guderian).
  • Die Mechanisierung der Seeflotte, die Kombination von Flugzeugträger, U-Boot-Flotte mit Torpedos und Landungstechniken eröffneten alle Dimensionen der Seeherrschaft, wie sie Mahan im 19. Jahrhundert vorgedacht hatte.
  • Mit der Entwicklung und Verbesserung von Kriegsflugzeugen wurde die Luftwaffe zur neuen Waffengattung. Luftkriegsstrategen (Douhet in Italien, Mitchell in USA, Göring in Deutschland) sahen im Flugzeug eine Angriffswaffe zur Erringung der Luftherrschaft und zur Terrorisierung der Bevölkerung.

Den neuen Angriffswaffen und -strategien konnten die aus dem Ersten Weltkrieg stammenden Strategien der Totalverteidigung nicht viel entgegen setzen. Sowohl die französische Maginotlinie wie auch der deutsche Westwall sollten im Zweiten Weltkrieg nur wenig Bestand haben.

Schon der Erste Weltkrieg hatte Elemente einer wissenschaftlichen Kriegsführung gezeigt, doch der Zweite Weltkrieg sollte dies noch bei weitem überbieten. Die Phase zwischen den Kriegen, eine der fruchtbarsten Perioden der Naturwissenschaft und Technik, legte dazu die Grundlage. Die Erfolge nahmen unter der Wirkung der verschärften internationalen und nationalen Spannungen der 30er Jahre eine Wendung zum Destruktiven. Die Machtergreifung durch die Nazis führte zur totalen Mobilisierung der Forschung für Kriegszwecke, was zu Friktionen führte. Gleichzeitig wurde die deutsche Forschung durch die Emigration von Wissenschaftlern geschwächt wie auch durch den ideologischen Druck einer arischen Wissenschaft. Die langfristige Grundlagenforschung wurde gegenüber der kurzfristigen Zweckforschung vernachlässigt. Der internationale Erfahrungsaustausch zwischen Wissenschaftlern wurde eingeschränkt.

Dies hatte zunächst keine Auswirkung auf den Kriegsverlauf. Die Erfolge der deutschen Blitzkriegs-Strategie überraschten die Angegriffenen, gegnerische Verteidigungsketten wurden rasch überwunden. Erst nachdem die Alliierten unter forcierten Rüstungsanstrengungen eine Gegenstreitmacht aufgebaut hatten und der deutsche Vorstoß im Osten zum Erliegen kam, konnte der deutsche Angriff an allen Fronten zurückgeschlagen werden. Dabei gab die totale Mobilmachung menschlicher und materieller Ressourcen den Ausschlag, insbesondere die industrielle Massenproduktion von Rüstungsgütern. Allein die USA fertigten zwischen 1939 und 1945 100.000 Panzer, 800.000 Maschinengewehre, 36 Milliarden Geschützgranaten, 41 Milliarden Gewehrpatronen und 500.000 Kampfflugzeuge. Bestimmend für den Kriegsverlauf waren auch neue technische Entwicklungen im Bereich der Produktion (Fließband), der Nachrichtentechnik (Funk) und des Transports (Verbrennungsmotor).

Das durch die Weltkriege angetriebene Wettrüsten der Gehirne brachte in der Triade aus Zerstörungs-, Träger- und Führungsmitteln neue Entwicklungen hervor:

  • Mit der Entwicklung von Chemie- und Biowaffen war schon während und nach dem Ersten Weltkrieg die Grundlage für Massenvernichtungswaffen gelegt worden. Der Chemiker Fritz Haber entwickelte die Gaswaffe zu Kriegszwecken. Die IG Farben war nicht nur verantwortlich für die Munitions- und Kunststoffproduktion des Krieges, sondern auch für die Herstellung des KZ-Gases Zyklon-B und des chemischen Kampfstoffes Tabun. Die biologische Kriegführung spielte eine unrühmliche Rolle, als Japan in den 30er Jahren in der besetzten Mandschurei Mikroben als »billige und effektive Waffe« entwickelte und in furchtbaren Experimenten erprobte. Die Atombombe übertraf in ihrer kombinierten Zerstörungswirkung (Druckwelle, Feuerball, Radioaktivität) die Wirkung chemischer Sprengstoffe um das 10.000-fache. Das Manhattan-Projekt war ein wissenschaftlich-technisches Großexperiment, unter Beteiligung Tausender Wissenschaftler. Der Einsatz der Atombombe gegen Hiroshima und Nagasaki sollte die Wirkung der neuen Waffe demonstrieren.
  • Das deutsche Reich investierte Milliardensummen in das Raketenprogramm. Seit Anfang der 1930er Jahre hatte ein Team um Wernher von Braun, mit Unterstützung durch das Heereswaffenamt, die Grundlagen der Raketentechnik entwickelt. 9.300 deutsche V1-Marschflugkörper und 3.000 V2-Raketen wurden ab Juni 1944 u.a. gegen England abgeschossen, hatten aber aufgrund ihrer Ungenauigkeit und Unzuverlässigkeit keine kriegsentscheidende Bedeutung mehr. Ebenso wenig die bis 1945 produzierten 1.400 Düsenflugzeuge mit Strahltriebwerken.
  • Der Einsatz von Funkwellen bestimmte die Kommunikation während des gesamten Krieges. Durch die Erfindung des Radars und die Entschlüsselung des deutschen Geheimcodes konnte England sich die Luft- und Seehoheit sichern. Um das Radar von einem Laboratoriumsexperiment in ein militärisch brauchbares Gerät zu überführen, wurde die Operationsforschung (Operations Research) geboren, die verschiedene mathematische Verfahren zur effizienten Nutzung von Ressourcen und die Unterstützung von Entscheidungsprozessen umfasst. Damit verbunden war die Entwicklung der Informationsverarbeitung und der ersten Computer.

Rüstungseskalation im Kalten Krieg

Mit der gelenkten Atomrakete wurde eine Waffe geboren, gegen die es bis heute keinen wirksamen Schutz gibt. Die Vernichtung der Erde auf Knopfdruck wurde möglich. Die Tendenz zum Äußersten, die den Wechselwirkungen des Krieges eigen ist, hatte einen Gipfel erreicht. Das unermessliche Bedrohungspotenzial in der Hand eines Angreifers steigerte zugleich dessen Verwundbarkeit, sofern der Gegner über die gleichen Waffen verfügte. Traditionelle Gesetzmäßigkeiten der Kriegführung verloren angesichts des nuklearen Overkills an Bedeutung. Der Begriff der Verteidigung im militärischen Sinn wurde bedeutungslos. Angesichts der gegenseitig gesicherten Vernichtung entstand die paradoxe Situation, dass die beiden Supermächte zwar allmächtige Waffen zu Tausenden in ihren Händen hielten, aber sie nicht als Gewaltmittel einsetzen konnten. Allmacht und Ohnmacht fielen hier unmittelbar zusammen.

Um die vollständige Zerstörung zu vermeiden, musste der nächste große Krieg verhindert werden. Die zum Kriege drängenden Kräfte waren jedoch nicht geschwächt, sondern im Militärisch-Industriellen Komplex stärker denn je. Der Anspruch, Sicherheit durch neue Bedrohungsmittel herstellen zu wollen, trieb die Spirale von Bedrohung und Gegenbedrohung. Der Kalte Krieg transformierte zum »totalen Wettrüsten«, er glich einer jahrzehntelangen Belagerung, die bis zum Äußersten ging und die Menschheit an den Rand einer atomaren Vernichtung brachte.

Rüstungszyklen und Krieg der Netze

Auch nach dem Ende der Blockkonfrontation wird an der Aufrechterhaltung und technischen Perfektionierung von Waffensystemen und Gewaltstrukturen gearbeitet, um jederzeit und an jedem Ort Krieg führen zu können. Die fortgesetzte Modernisierung betrifft längst nicht mehr nur die mit einem Waffensystem verbundenen Komponenten (Gewaltmittel, Trägermittel, Führungsmittel), sondern auch die sozio-ökonomische Infrastruktur, in die ein Waffensystem eingebettet ist, in der es erdacht, konstruiert, entwickelt, getestet, hergestellt, stationiert, eingesetzt und wieder beseitigt wird.

Das Wettrüsten der Gehirne perpetuiert die Rüstungsdynamik ad infinitum. Wissenschaftler erdenken neue waffentechnische Möglichkeiten und suchen politische Zwecke zu ihrer Rechtfertigung. Die Mittel des Krieges verselbständigen sich, sie brauchen den Feind, ob er nun real existiert oder nur in der Phantasie. Das Schlachtfeld wird zum Beobachtungsfeld zur Erprobung neuer Waffen, der Krieg insgesamt zum wissenschaftlichen Experiment.

Die Ambivalenz, die schon bei Leonardo erkennbar war, wird zum Strukturmerkmal moderner Hochtechnologie-Rüstung. Diese ist Ausfluss ziviler Entwicklungen und prägt diese zugleich. Längst zu groß und zu teuer für eine Förderung allein durchs Militär, wird die wissenschaftlich-technische Entwicklung insgesamt für die Rüstung verplant. Die Revolution in Military Affairs umfasst nahezu den gesamten High-Tech Sektor (Nanotechnik, Bio- und Gentechnologien, Computer- und Kommunikationssysteme, künstliche Intelligenz, Sensorik, Nuklearsysteme, Trägersysteme, Weltraumtechnik, Laser, Materialwissenschaften), sie findet ihren Ausdruck in neuen Waffensystemen und Formen der Kriegführung (Cyberwar, Biowar, asymmetrische Kriegführung). Im Mikro- und Nanobereich verschmelzen Physik, Chemie und Biologie. Die Entwicklung ist zum einen gekennzeichnet durch globale räumliche Ausweitung von Waffeneinsatz, Transport und Kommunikation, Verkürzung der Entscheidungszeiten, Verbesserung der Zielgenauigkeit, Schadensbegrenzung beim Waffeneinsatz, Anwachsen der Informationsflut und Komplexität, Computerisierung und Automatisierung der Kriegführung, wachsende »Intelligenz« der Waffensysteme.

Über den Kalten Krieg hinaus reicht das Bestreben, die durch die Atomwaffe entstandene Selbstverwundbarkeit militärisch zu überwinden und strategische Kriege wieder führbar zu machen. Während die Luftabwehr gegen Flugzeuge Fortschritte machte, stagnierte die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen aufgrund physikalischer Grenzen und überirdischer technischer Anforderungen. Die von Reagan in seiner Star-Wars-Rede 1983 entwickelte Vision von der Unverwundbarkeit bleibt jedoch weiter lebendig. Durch ballistische Raketen, Raketenabwehr und Weltraumrüstung wird der Weltraum zum potenziellen Kriegsschauplatz und seine Beherrschung zum strategischen Ziel. Der Traum von der Eroberung und Kontrolle des Weltraums, der vom US Space Command geträumt wird, ist ein Traum von globaler Herrschaft, der in eine neue Form des totalen Krieges einmündet.

Wissenschaft und Technik spielen auch eine Schlüsselrolle im Netzwerk globalisierter Gewalt, das im weltumspannenden Netz aus Sensoren, Kabeln, Antennen, und Computern seinen militärischen Ausdruck findet. Das C3I-System (command, control, communication and intelligence) dient als Kräftevervielfacher (Force Multiplier) und erlaubt die Steuerung aller Elemente ebenso wie die umfassende Überwachung potenzieller Gegenspieler. Da Netze überall hinreichen, verknüpfen sie die Globalisierung der Gewalt mit der Miniaturisierung von Gewalt, was in den Informationskriegen auf unseren Computern ebenso zum Ausdruck kommt wie in Nanosystemen, Mini-Kampfmaschinen und Killer-Mikroben. Durch sie findet der Krieg Einzug in unseren Nahbereich, unsere Wohnung, ja den eigenen Körper. Der Anspruch zur Beherrschung des äußeren Raumes (outer space) findet sein Gegenstück in der Beherrschung des inneren Raum (inner space) innerhalb der Gesellschaften.

Der totale Kontrollanspruch findet seinen Widerpart im Terrorismus, der sich dieser Kontrolle widersetzt und sie doch durch die Wahl seiner Mittel weiter provoziert. Terrornetzwerke, die durch dezentrale Organisation und diffuse Kommunikationsstrukturen gekennzeichnet sind, lassen staatliche Angriffe, mit welchem Gewaltapparat auch immer versehen, ins Leere laufen. Sie nutzen das Prinzip der Selbstorganisation für destruktive Zwecke. Schon immer konnten nichtstaatliche Akteure beträchtliche Schäden anrichten und den Gang der Geschichte beeinflussen, doch im Zeitalter von Flugzeugen, Schiffstankern, Atombomben und Kernkraftwerken gibt es dafür ganz andere Mittel, wie der 11. September zeigt. Aufgrund des Destruktionspotenzials der Mittel wird ihr Einsatz zum Zweck, und ihre Wirkung wird multipliziert durch die voraussehbaren staatlichen Reaktionen. Das Wechselspiel von individuellem und staatlichem Terror perpetuiert den archaischen Zyklus der Gewalt auch im 21. Jahrhundert. Dem Terror den Krieg zu erklären, redet einer neuen Totalität des Krieges das Wort, der innerhalb der globalisierten Gesellschaft ausgetragen wird. Das Ziel der Sicherheit geht so auf allen Ebenen verloren.

Ein Ausweg lässt sich nur finden, wenn der Zyklus der Gewalt verlassen wird, durch Verzicht und Kontrolle der Gewaltmittel und friedliche Konfliktlösung, die die gegenseitigen Interessen respektiert. Grotius hat den Weg des Völkerrechts vorgezeichnet. Im Wechselspiel aus Aufrüstung, Abschreckung, Angriff, Abwehr, Abrüstung liegt die Präferenz bei Abrüstung. Wissenschaft und Technik müssen die Allianz mit dem Militär schrittweise auflösen, die Rüstungstechnik muss einer präventiven Rüstungskontrolle unterworfen werden.

Anmerkungen

1) Leonardo da Vinci: Erfinder – Maler – Forscher, Winterthur: Belser, 1981.

2) Ebenda.

3) J.D. Bernal: Sozialgeschichte der Wissenschaften, Rowohlt, 1970.

4) Siehe die entsprechenden Dokumente in W. Quitzow, Naturwissenschaftler zwischen Krieg und Frieden, Düsseldorf: Schwann, 1986, S. 33-35.

Dr. Jürgen Scheffran ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F. Er arbeitet als Senior Research Scientist im Program in Arms Control, Disarmament and International Security (ACDIS)an der University of Illinois in Urbana-Champaign.

Pazifismus im Ersten Weltkrieg

Pazifismus im Ersten Weltkrieg

Der Bund Neues Vaterland

von Karlheinz Lipp

Vor 90 Jahren, im Juli 1914, begann der Erste Weltkrieg. Die Begeisterung mit der deutsche Soldaten in den Krieg zogen und der auch große Teile des deutschen Volkes erlagen ist viel beschrieben worden. Auf die Friedensbewegten in Deutschland muss diese Kriegsbegeisterung am Anfang lähmend gewirkt haben. Doch bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn nahmen die Antikriegsaktionen wieder zu. Karlheinz Lipp über die Arbeit des im November 1914 gegründeten pazifistischen »Bund Neues Vaterland«. Ein Bündnis, das sich nicht nur auf eine konsequente Antikriegspolitik festlegte, sondern sich auch für einen europäischen »überstaatlichen Zusammenschluss« einsetzte, indem der friedliche Wettbewerb dominieren sollte.

Die Entfesselung des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 wirkte auf die Friedensbewegung wie ein lähmender Schock. Der Stuttgarter Pfarrer und langjährige Friedensaktivist Otto Umfrid formulierte dies sehr prägnant. Die Friedensbewegung habe versucht, so Umfrid, einen „in den Abgrund rollenden Lastwagen mit einem Seidenfaden aufzuhalten.“

Bis zum Beginn des Krieges versuchte die Deutsche Friedensgesellschaft, 1892 in Berlin von Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried gegründet, als größte Friedensorganisation mit ca. 10.000 Mitgliedern in ca. 100 Ortsgruppen (Stand: 1914) die imperialistische Politik des Kaiserreichs zu korrigieren – allerdings vergeblich. Als zu dominant erwiesen sich die nationalistisch-militaristischen Vereinigungen, die der Friedensgesellschaft an Mitgliederzahlen, Finanzen, Presseorganen und politischem Einfluss sehr deutlich überlegen waren.

Eine neue Friedensorganisation

Im Oktober 1914 erschien im von Lilli Jannasch neu gegründeten Verlag Neues Vaterland eine Schrift von Otto Lehmann-Rußbüldt mit dem Titel »Die Schöpfung der Vereinigten Staaten von Europa«. Der Autor und der Sportreiter Kurt von Tepper-Laski erreichten über ein Rundschreiben pazifistisch eingestellte Personen. Das Ziel und einigende Band sollte ein Zusammenschluss zwecks konsequenter Friedensarbeit sein. Am 16. November 1914 wurde dann in Berlin der »Bund Neues Vaterland« gegründet. Dieser Bund umfasste Konservative, Liberale und alle Flügel der Sozialdemokratie. „Der Bund ist eine Arbeitsgemeinschaft deutscher Männer und Frauen, die sich unbeschadet ihrer sonstigen politischen und religiösen Stellungnahme zusammenschließen, um an den Aufgaben, die dem deutschen Volk aus dem europäischen Krieg erwachsen, mitzuarbeiten.“

Den Vorsitz führte Tepper-Laski. Im Vorstand arbeiteten ferner mit: Der Elektroingenieur und Telefunken-Direktor Georg Graf von Arco, der Landrat a.D. Karl von Puttkamer, Lehmann-Rußbüldt, Jannasch und Ernst Reuter (Nach dem Zweiten Weltkrieg Regierender Bürgermeister von Berlin).

Begünstigt wurde die Entstehung dieser neuen Friedensorganisation einerseits durch die Erstarrung des Krieges an der Westfront nach der Marneschlacht und andererseits durch die erwachende Kritik an der offiziellen Behauptung vom angeblichen Verteidigungskrieg, den Deutschland führe. Schließlich sollte der Vorkriegspazifismus neu konturiert und schärfer akzentuiert werden.

Als Ziele des Bundes wurden im § 1 der Satzung festgelegt:

„1. Die direkte und indirekte Förderung aller Bestrebungen, die geeignet sind, die Politik und Diplomatie der europäischen Staaten mit dem Gedanken des friedlichen Wettbewerbs und des überstaatlichen Zusammenschlusses zu erfüllen, um eine politische und wirtschaftliche Verständigung zwischen den Kulturvölkern herbeizuführen. Dieses ist nur möglich, wenn mit dem seitherigen System gebrochen wird, wonach einige Wenige über Wohl und Wehe von hundert Millionen Menschen zu entscheiden haben.

2. Insoweit sich bei der Arbeit für dieses Ziel ein Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Politik der Staaten ergibt, darauf hinzuwirken, beide in volle Übereinstimmung zu bringen – zum Besten des deutschen Volkes und der gesamten Kulturwelt.“ (Lehmann-Rußbüldt, 139)

Außenpolitisch wird die gesamteuropäische Dimension deutlich. Das Plädoyer für einen »überstaatlichen Zusammenschluss« deutet schon auf einen kommenden Völkerbund hin. Dem Kaiser und der Regierung wird das Entscheidungsmonopol in der Politik abgesprochen. Damit zeigt sich ein neuer Ansatz der pazifistischen Bewegung, nämlich das Drängen auf innenpolitische Reformen im Sinne einer Demokratisierung. Die wirtschaftliche Konkurrenz der Großmächte wurde als ein Hemmnis auf dem Weg zum Frieden erkannt und sollte durch eine Verständigung der »Kulturvölker« überwunden werden.

Internationale Kontakte

Neue Friedensorganisationen entwickelten sich mit Kriegsbeginn auch in anderen Ländern. So der »Nederlandsche Anti-Oorlog-Raad« (Antikriegsrat), die britische »Union of Democratic-Control«, das »Komitee zum Studium der Grundlagen eines dauernden Friedens« in der Schweiz sowie die »League to Enforce Paece« in den USA (ab 1915). In Frankreich existierte mit der »Ligue des Droits de l´Komme« bereits vor 1914 eine Vereinigung, die eine stärkere Transparenz der Politik forderte.

Im »Bund Neues Vaterland« arbeiteten einige ehemalige Diplomaten mit, die die Außenpolitik des Kaiserreichs kritisch beurteilten, so etwa Fürst Lichnowsky (ehemaliger Botschafter in London). Die außenpolitische Kompetenz dieser Personen führte schließlich zu einer von Reuter verfassten Denkschrift, die sich kritisch mit der deutschen Außenpolitik beschäftigte. Im März 1915 wurde diese in Schreibmaschinenschrift, also nicht im Druck, vervielfältigt und an Interessenten verteilt – mit einer positiven Resonanz. Hier zeigte sich ein typisches Merkmal dieser pazifistischen Vereinigung: Ziel war nicht die Entwicklung zu einer Massenbewegung, sondern die Einflussnahme auf die Außenpolitik durch einen hohen Sachverstand.

Schon einen Monat später, im April 1915, nahm der »Bund Neues Vaterland« an einer pazifistischen Konferenz in Den Haag teil und konnte dadurch die internationalen Kontakte erweitern. Die Minimalforderungen dieser Tagung für einen dauernden Frieden bestanden aus fünf Punkten:

  • Keine Annexionen oder Gebietsübertragungen ohne die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung,
  • Liberalisierung des Handels mit den Kolonien,
  • Fortsetzung der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907,
  • Vereinbarungen über den Rüstungsabbau,
  • Kontrolle der Außenpolitik durch die Parlamente.

Die Deutsche Friedensgesellschaft, die durch die Doppelmitgliedschaften der bekannten Pazifisten Ludwig Quidde und Walther Schücking mit dem Bund Neues Vaterland verbunden waren, stimmte am 15. Juni den Minimalforderungen zu. Schückings Denkschrift über die Haager Verhandlungen wurde vom Auswärtigen Amt sehr zurückhaltend aufgenommen. Daraus ergab sich für die pazifistische Organisation der Schluss, zukünftig stärker an die Öffentlichkeit heranzutreten. Innerhalb der SPD erreichten die fünf Punkte der Friedensorganisationen eine gewisse Resonanz. So veröffentlichten Hugo Haase, Eduard Bernstein und Karl Kautsky in der Leipziger Volkszeitung am 19. Juli den Aufruf »Das Gebot der Stunde«, in dem Annexionen abgelehnt und ein Verständigungsfriede befürwortet wurde. Allerdings fand dieser Aufruf in der Partei keine Mehrheit, sondern verstärkte das Auseinanderdriften der Flügel in der Sozialdemokratie.

Deutliche Kritik an Annexionen

In der Innenpolitik erfolgte seit Mitte 1915 eine verstärkte Diskussion über die Frage der Kriegsziele. Hieran beteiligte sich auch die deutsche Friedensbewegung mit öffentlichen Stellungnahmen. Den Ausgangspunkt dieser Kontroversen bildete eine Eingabe von sechs großen Wirtschaftsverbänden (u.a.: Bund der Landwirte, Bund der Industriellen) an die Reichsregierung am 10. März und nochmals am 20. Mai, in dem große Gebietszugewinne (Belgien, Longwy-Briey, Landwirtschaftsgebiete im Osten) gefordert wurden.

Dies bedeutete eine klare Gegenposition zu den Minimalforderungen für einen dauernden Frieden. Entsprechend reagierte der Bund Neues Vaterland im Juni mit einer Flugschrift »Sollen wir annektieren?«, überwiegend von Quidde verfasst: „Die Gedanken, die diese Eingabe entwickelt, enthalten eine furchtbare Gefahr für die Gewinnung eines rechtzeitigen ehrenhaften Friedens und für die Sicherheit des Deutschen Reiches nach erfolgtem Friedensschluß […]. Die Gewinnenden wären lediglich jene mächtigen Interessentenkreise, die durch die Annexionen im Osten das Werk der inneren Kolonisation glücklich von Altdeutschland auf die annektierten Gebiete gelenkt hätten oder die durch die Annexionen im Westen dem Ziele einer unbedingten Beherrschung des Marktes durch die kartellierte Schwerindustrie näher gekommen wären.“ (Grumbach, 376 und 405)

Diese Schrift wurde in 700 Exemplaren gedruckt und an Minister, Reichstagsabgeordnete und Persönlichkeiten verschickt. Bereits kurz nach der Versendung verbot das militärische Oberkommando in den Marken die weitere Verbreitung und beschlagnahmte den Restbestand.

Überwachung und Verfolgung

Im Sommer 1915 plante der »Bund Neues Vaterland« ein umfangreiches Großprojekt mit zahlreichen Autoren über die Grundzüge eines dauerhaften Friedens unter der Federführung Quiddes. Es blieb jedoch beim Plan, denn im Herbst setzten die Militärbehörden dem Projekt ein Ende. Die Überwachungsmaßnahmen verschärften sich nun deutlich. Über deutsche Annexionen sollte nicht länger öffentlich diskutiert werden. Den Hintergrund bildete ein Artikel »Schüsse in den Rücken« in der rechtsstehenden Rheinisch-Westfälischen Zeitung am 26. September 1915. Schwerindustrielle, großagrarische, militärische sowie alldeutsche Interessen arbeiteten Hand in Hand gegen die Friedensbewegung – und die Dolchstoßlegende ließ auch schon grüßen!

Die Verbreitung anti-annexionistischer Positionen konnte zwar eingeschränkt, aber nicht vollständig verhindert werden. Quiddes Schrift »Reale Garantien für einen dauernden Frieden« (Ein Zitat des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg) wurde versandt und erreichte dankbare Abnehmer. Vor allem gegenüber dem Ausland konnte die Friedensbewegung ihre kritische Haltung verdeutlichen und einige Schriften erfuhren Übersetzungen. Solche kleinen Erfolge beschleunigten erst recht die umfangreichen Repressionen: Verschärfung der Presse- und Briefzensur, deutliche Beschränkung der Versammlungstätigkeit pazifistischer Organisationen, Bespitzelung und Observierung, Reisebeschränkungen, Publikationsverbote, Beschlagnahmung von Schriften, Hausdurchsuchungen und Festnahmen.

Die alldeutsche Presse setzte ihre Diffamierungskampagnen von vor 1914 gegen die Friedensbewegung ungehindert fort, vor allem der Vorwurf des angeblichen Landesverrats wurde öfters bemüht, obwohl es während der gesamten Kriegszeit nie zu einer solchen Anklage kam.

Am 2. Oktober verhinderte ein Verbot die Versendung von Mitteilungen des »Bundes Neues Vaterland« an die eigenen Mitglieder, kurz darauf fand eine Hausdurchsuchung in der Geschäftsstelle statt. Bis Ende 1915 konnte die Arbeit stark eingeschränkt fortgeführt werden. Dies änderte sich schlagartig am 7. Februar 1916. Da wurde dem Bund mitgeteilt, dass „für die Dauer des Krieges jede weitere Betätigung im Sinne der Bestrebungen des Bundes nebst Herstellung und Versendung von Mitteilungen, Sonderdrucken, Flugschriften“ verboten sei. Mehrere Proteste der Friedensorganisation an den Reichstag folgten, blieben jedoch ergebnislos. Am 31. März 1916 erfolgte die Verhaftung von Lilli Jannasch, der Geschäftsführerin des Bundes. Sie blieb 14 Wochen in so genannter Schutzhaft ohne irgendeine Vernehmung. Auch Elsbeth Bruck, Jannaschs Nachfolgerin, wurde inhaftiert. Eine Anklage wegen angeblichen Hochverrats verlief aus Mangel an Beweisen im Sande. Die Lahmlegung des »Bundes Neues Vaterland« bedeutete den Anfang eines gezielten Schlages gegen die Friedensbewegung, nur wenig später traf es die Deutsche Friedensgesellschaft mit ihren Organen.

Trotz dieser herben Rückschläge zeigte sich die pazifistische Bewegung kreativ und gründete neue Organisationen, so die kleine, intellektuelle »Vereinigung Gleichgesinnter« und die wichtigere »Zentralstelle Völkerrecht«.

Vier Friedensorganisationen bündelten ihre Beschwerden in zwei Eingaben an den Reichstag am 1. Juli 1917 und neu überarbeitet am 2. Oktober, unterstützt durch eine umfangreiche Denkschrift »Pazifismus und Belagerungszustand«. Anhand vieler Beispiele wurden die illegalen Übergriffe der Behörden dokumentiert und angeprangert.

„Die unterzeichneten Organisationen Deutsche Friedensgesellschaft, Bund Neues Vaterland, Nationaler Frauenausschuß für dauernden Frieden und Zentralstelle Völkerrecht gestatten sich, an den Deutschen Reichstag die Bitte zu richten, dieser wolle noch in der bevorstehenden Tagung bewirken, daß entweder durch völlige Aufhebung des Belagerungszustandes oder durch ein Notgesetz zur Abänderung des Belagerungszustands-Gesetzes die gesetzlich gewährleistete Versammlungs-, Vereins- und Preßfreiheit wiederhergestellt und die Zensur auf rein militärische Angelegenheiten beschränkt werde.“ (Quidde, 281)

1918 und Weimarer Republik

Die gleichen pazifistischen Organisationen richteten im Februar 1918 Eingaben an den Reichstag, in denen Forderungen für einen möglichen Friedensschluss im Osten und Westen formuliert wurden. Offene oder versteckte Annexionen wurden weiterhin abgelehnt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker befürwortet. Nationalen Minderheiten sollte kulturelle Autonomie sowie ein internationaler Minderheitenschutz gewährleistet werden.

Bei Kriegsende hatten sich die pazifistischen Positionen erweitert und radikalisiert, insbesondere soziale und innenpolitische Faktoren des Friedens spielten nun eine weitaus wichtigere Rolle, ebenso die internationale Versöhnungsarbeit. Dies spiegelte sich auch im neuen Programm des »Bundes Neues Vaterland« von 1918/19 wider.

„Die Arbeit des Bundes umfaßt folgende Gebiete:

1. Mitarbeit an der Völkerversöhnung insbesondere durch Zusammenarbeit mit ähnlich gerichteten Organisationen des Auslandes; Abschaffung der bewaffneten Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung der Völker und Parteien.

2. Kampf für die Abschaffung jeder Gewalt- und Klassenherrschaft, Kampf für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit durch Einflußnahme auf Presse, Parteien und Regierungen.

3. Mitarbeit an der Verwirklichung des Sozialismus durch wissenschaftliche und propagandistische Arbeit im Sinne der Londoner Gesellschaft der Fabier (Fabian Society) und vorbereitende Mitwirkung an der Durchführung organisatorischer Maßnahmen der öffentlichen Gewalten unter Heranziehung von Fachleuten.

4. Kultur der Persönlichkeit durch Pflege aller geistigen und sittlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen unter gleichzeitiger Betonung des Gemeinschaftsinteresses.“ (Benz, 135f.)

Dieses Programm hatte auch nach der Umbenennung des Bundes im Jahre 1922 in »Deutsche Liga für Menschenrechte« Bestand.

Trotz einer verhältnismäßig geringen Zahl von ca. 2.000 Mitgliedern zeigte diese Friedensorganisation unter ihren Sekretären Otto Lehmann-Rußbüldt und Kurt R. Grossmann (ab 1926) eine beachtliche Dynamik. Außenpolitisch stand die Versöhnung mit Frankreich und Polen im Blickpunkt der Aktivitäten: Kundgebungen, Konferenzen, Broschüren, Briefkontakte. Bei Vortragsreisen in Deutschland kam es mitunter zu heftigen Auseinandersetzungen mit nationalistischen Gruppen. Innenpolitisch richtete sich die Liga gegen die republikfeindliche Haltung der Reichswehr, die illegale Aufrüstung sowie die »Schwarze Reichswehr«. Ferner setzte sich diese pazifistische Vereinigung für politische Gefangene ein und forderte die Abschaffung der Todesstrafe sowie ein demokratisches Justizwesen.

In der Endphase der Weimarer Republik stand der Kampf gegen den Nationalsozialismus im Mittelpunkt der Arbeit. Nach dem 30. Januar 1933 wurde die Liga ein Opfer des NS-Terrors.

Führende Mitglieder gründeten nach einer erfolgreichen Flucht im Exil neue Friedensgruppen.

Literatur

Benz, Wolfgang (Hg.): Pazifismus in Deutschland. Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939. Frankfurt/Main 1985.

Eisenbeiß, Wilfried: Die bürgerliche Friedensbewegung in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. Organisation, Selbstverständnis und politische Praxis 1913/14-1919. Frankfurt/Main 1980.

Grumbach, Salomon: Das annexionistische Deutschland. Lausanne 1917.

Holl, Karl: Pazifismus in Deutschland. Frankfurt/Main 1988.

Lehmann-Rußbüldt, Otto: Der Kampf der deutschen Liga für Menschenrechte vormals Bund Neues Vaterland für den Weltfrieden 1914-1927. Berlin 1927.

Lipp, Karlheinz: Pazifismus im Ersten Weltkrieg. Ein Lesebuch. Herbolzheim 2004.

Quidde, Ludwig: Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914-1918. Aus dem Nachlaß Ludwig Quiddes hg. von Karl Holl unter Mitwirkung von Helmut Donat.

Boppard a. Rh. 1979.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.

Terror grenzenlos?

Terror grenzenlos?

Höchste Zeit zur Deeskalation

von Corinna Hauswedell

Es gibt genügend Gründe, warum uns die schrecklichen Ereignisse von Beslan nicht loslassen dürfen, obwohl jener Ort in Nordossetien, der Anfang September Schauplatz des blutigsten Geiseldramas wurde, bereits wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist.

Mehrere hundert Kinder in einer Schule wurden Opfer eines brutalen Terroranschlages. Der Tabubruch – das Eindringen militärischer Gewalt in diesen von allen Kulturen als besonders geschützt erachteten, zivilen Lebensbereich – war immens. Wir haben diese Zerstörung jungen Lebens – nach zahllosen Selbstmordattentaten, nach den Enthauptungen in Bagdad, nach den Folterbildern von Abu Ghraib – als schockierendes Anwachsen von Inhumanität erlebt. Die Führung der russischen Großmacht hat den Anschlag – ähnlich wie die US-Regierung nach dem 11. September – als totale Kriegserklärung gewertet. Die Maßnahmen zur Einschränkung der ohnehin schwachen russischen Demokratie, die Präsident Putin als innenpolitische Konsequenz eingeleitet hat, sind besorgniserregend; seine Drohungen, präventive Schläge gegen Terroristen auch außerhalb russischen Territoriums durchzuführen, bergen das Potenzial neuer internationaler Eskalation.

Wie kann einer weiteren Entgrenzung von Recht und Moral, der ungeheuren politischen Machtanmaßung sowohl der vermeintlich Schwächeren wie der Starken auf der internationalen Bühne, entgegen gewirkt werden? Kofi Annan hat in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung deutliche Worte zur Illegalität der Kriegführung im Irak gefunden, hat politische Doppelstandards westlicher Staaten kritisiert und eine stärkere Rolle der UNO und ihrer multilateralen Strukturen bei der internationalen Friedenssicherung gefordert. Doch wie sollen Deeskalationsstrategien aussehen, wenn immer häufiger regionale Konflikte wie im Kaukasus, im Nahen Osten oder auf dem afrikanischen Kontinent, die ihre eigene Geschichte und Muster haben, zu Schlachtfeldern im globalen Krieg gegen den Terror erklärt und gemacht werden; wenn der Krieg gegen den Terror eine Dynamik auslöst, die – wie im Irak – den Terroristen Tausende neuer Kämpfer in die Arme treibt und ein Land zum Hauptkampfplatz unterschiedlichster Kräfte, auch innerhalb des islamistischen Fundamentalismus, macht?

Ist es nicht höchste Zeit, alle verfügbaren Erfahrungen im Umgang mit internationalen Konflikten und mit regionalen bzw. nationalen Krisenszenarien zusammen zu tragen und auf ihre Tauglichkeit für diese scheinbar neue, globale Konfliktkonstellation hin zu prüfen? Die Behauptung, dass nach historischen Einschnitten wie dem Ende des Kalten Krieges 1989 oder den Anschlägen des 11. Septembers nichts mehr so sei wie zuvor, hat sich mittlerweile als wenig hilfreich und obendrein als sachlich falsch herausgestellt.

Dass sich der 45. Deutsche Historikertag, sonst eher ein behäbiges Verbandstreffen des Elfenbeinturmes, diesmal in gut besuchten Sektionen dieser aktuellen Brandthemen annahm, mag ermutigen. Man hörte begründete Warnungen, Terrorismus nicht mit Krieg gleich zu setzen, schon gar nicht mit »Totalem Krieg«. Sodann der Hinweis darauf, dass Terrorakte mehr als einmal in der Geschichte zum Ausgangspunkt für große Kriege wurden. Plädoyers für Differenzierungen zwischen den Netzwerken von Al Qaida und lokalen Gruppen, dazu Analysen der politischen Dimension des Terrors sowie Fallstudien über die Vergeblichkeit, Terror mit militärischen Mitteln besiegen zu wollen. Aufschlussreich auch das Nachdenken – wie Gudrun Krämer anregte – warum in der islamischen Welt die Wendepunkte 1989 und 11.9. anders wahrgenommen werden als vielerorts im Westen.

Man muss nicht in die von Josef Joffe in der ZEIT so beschriebene »Verständnis-Falle« tappen, wenn man nach Antworten auf die Fragen sucht, wo mögliche Wurzeln für die Eskalation terroristischer Handlungen zu finden sind, oder – vielleicht wichtiger – welche Mechanismen von Aktion und Reaktion den Terrorismus in Gang halten. Diese Analysen werden wir brauchen, um aus der Spirale der Gewalt, die sich zwischen nichtstaatlichen und staatlichem Terror immer schneller dreht, heraus zu kommen.

Der neue Terror ist vor allem grenzenloser als viele alte Formen des Terrors. Das begründet ein neues Bedrohungsgefühl, mit dem wir leicht in eine irrationale »Alarmismus-Falle« geraten können. Bei allem, was ein islamistisches Netzwerk wie Al Qaida von beispielweise der IRA Nordirlands unterscheidet, verweisen seriöse Forschungen wie die von Peter Waldmann aber eben auch auf (gemeinsame) Tatbestände wie, dass der Terrorismus vor allem eine Methode der Provokation der Macht sei, und insofern eine, wenn auch moralisch verwerfliche, Kommunikationsstrategie verfolgt werde. Hierauf die geeignete »Antwort« durch eine kommunikative Gegenstrategie zu finden, wird absehbar eine der großen Herausforderungen der internationalen Politik sein. Dürfen sich Staaten oder nichtstaatliche Organisationen erpressen lassen durch das zunehmend eingesetzte Mittel der Geiselnahme? Ist mit Terroristen zu verhandeln? Wenn ja, welches sind die Maßstäbe? Ist Vertrauensbildung hier eine geeignete Kategorie? Im Falle Nordirlands war es u.a. der Bereitschaft einzelner demokratischer Politikerinnen und Politiker, wie der Britin Mo Mowlam oder dem US-Senator George Mitchell, zu danken, dass – in einer oft umstrittenen Gratwanderung – die Einbeziehung auch radikaler Parteien in den langwierigen, oft von Rückschlägen begleiteten politischen Dialog- und Friedensprozess gelang, der schließlich auch zum Gewaltverzicht führte.

Der Ost-West-Konflikt hält ganz andere, aber zweifelsohne ähnlich ambivalente Erfahrungen in Sachen Deeskalation bereit. Das Paradox, dass der militärisch und ideologisch am höchsten gerüstete Konflikt unserer Zeitrechnung, der die Welt mehrfach an den atomaren Abgrund geschickt hat, letztlich unblutig zu Ende gegangen ist, wird die Forschungen weiter zu beschäftigen haben. Auch hier war Kommunikation im Spiel: Détente á la Kennedy sollte sich als weniger tragfähig erweisen als deutsche Ostpolitik. Unterschiedliche (Bedrohungs)Wahrnehmungen voneinander prägten das Konflikthandeln von Freund und Feind. Wo geredet wurde, wurde (fast) nicht geschossen. Am Ende (und Anfang einer neuen Ordnung) stand die KSZE: Welche Garantien bot dagegen die von den Gnaden bipolarer Ordnung abhängige Abschreckungslogik, deren Verschwinden heute von manchen bedauert wird? Wie viel Status-quo-Erhalt war der Preis der Deeskalation? Wie viel friedliche Veränderung machte sie andererseits möglich? Wie überzeugend war das in den 80er Jahren entstandene Konzept »Gemeinsamer Sicherheit«? Wie tragfähig ist das aus der Globalisierung erwachsene Konzept von »Human Security«? Ist das wachsende Zusammenspiel militärischer und ziviler Komponenten bei der Friedenssicherung einer Deeskalation von Konflikten eher förderlich oder hinderlich? Wie kann heute internationale Abrüstung als Teil einer erfolgversprechenden Deeskalationsstrategie (re)konstruiert werden?

Viele Fragen, auf die auch die multidisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung helfen kann, Antworten zu finden. Zweifelsohne lassen sich strukturbildende Merkmale für eine »Einhegung« von internationalisierten Konflikten aus der bipolaren, aber durchaus auch asymmetrischen Blockkonfrontation für die unipolare und von wachsenden Machtungleichheiten geprägte internationale Konstellation heute bereit stellen. Der Wegfall der bipolaren Konfrontation hatte den Blick für die Eigengesetzlichkeiten und Deeskalationschancen lokaler oder regionaler Konflikte geöffnet und in den 90er Jahren mehrere erfolgreiche Friedensprozesse in Gang gesetzt. Die Welt läuft Gefahr, dass diese Erfahrungen im »war against terror« verloren gehen.

Die Zeit drängt. Und es ist nicht einmal in erster Linie der Mangel an Analyse und wissenschaftlichen Konzepten, der wirksamen Deeskalationsstrategien entgegen steht. André Glucksmann hat in einem bemerkenswerten Essay anhand des Beslan-Desasters grundsätzliche Fragen von Menschenrechtspolitik, Kriegführung und Anti-Terror-Kampf aufgeworfen und die »Kopf in den Sand«-Haltung der Mächtigen der Welt angeprangert: „Als Putin 1999 in Tschetschenien einmarschiert, behauptet er, gegen 2000 Terroristen anzutreten. Er schickt seine Bomber, seine Panzer und 100.000 Soldaten zur Eroberung eines Landes, das so groß ist wie Groß-Paris … Er schleift Grosny … Wenn ein solches Schlachthaus als Terrorbekämpfung gilt, muss man sich fragen, warum die Engländer nicht Belfast dem Erdboden gleich machten, die Spanier Bilbao, die Franzosen Algier … Wir sind ein aktiver Teil in diesem Desaster …“

Höchste Zeit also für Deeskalationsstrategien, die die Augen nicht verschließen vor den Konfliktinhalten, ihren Ursachen, Interessenlagen und Wahrnehmungen. Deeskalation, das heißt nicht Frieden; aber es ist die Suche nach anderen Formen des Konfliktaustrages als mittels der inhumanen, tödlichen Gewaltspirale.

Dr. Corinna Hauswedell ist Vorsitzende des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, Mitherausgeberin des Friedensgutachtens und im geschäftsführenden Vorstand von Wissenschaft und Frieden

Der Krieg und die Kultur

Der Krieg und die Kultur

Eine evolutionspsychologische Perspektive

von Marianne Müller-Brettel

Im vorliegenden Beitrag fragt die Autorin nach der funktionalen Verankerung der Institution Krieg in der Geschichte der Menschheit. Unter dieser Perspektive schreibt sie dieser Institution eine gewisse positive Bedeutung zu. Durch die eigene Entwicklungsdynamik aber hat das Militär- und Kriegswesen zwischenzeitlich seine positive Funktion verloren bzw. wurde diese in das Gegenteil verkehrt, so dass Überleben und weitere Entwicklung der Menschheit die Abschaffung der Institution Krieg erfordern. Wir stellen diese »dialektische« Betrachtung zur Diskussion.

In den Jahren der Epochenwende schien der Krieg als Mittel der Politik in Europa überwunden:

  • Die Mittelsteckenraketen wurden abgebaut.
  • Die Berliner Mauer fiel ohne einen einzigen Schuss.
  • Aus den Reihen der Nationalen Volksarmee wurde ein Konversionsplan vorgelegt, wie alle Einrichtungen der DDR-Armee innerhalb von zehn Jahren in zivile Bereiche hätten überführt werden können.
  • Der Warschauer Pakt löste sich auf und die Rote Armee wurde aus Deutschland abgezogen.
  • Rüstungsfirmen erarbeiteten gemeinsam mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern Pläne, um anstelle von Panzern und Minen zivile Güter zu produzieren.
  • Die Partei der Grünen diskutierte einen Austritt der Bundesrepublik aus der NATO.
  • Die OSZE bot eine praktikable Grundlage zur Lösung von Konflikten zwischen europäischen Staaten.

Warum trotz alledem Krieg?

Trotz dieser Erfolge alternativer Konfliktlösungen gilt heute, ein gutes Jahrzehnt später, die Bereitschaft, Soldaten rund um den Globus einzusetzen, als Voraussetzung für eine verantwortungsvolle deutsche Außenpolitik. Waren die Hoffnungen der Friedensbewegung naiv? Bedeutet die biologische Ausstattung des Menschen, seine Fähigkeit zur Aggression, dass er von Natur aus zum Krieg disponiert ist und höchstens durch entsprechende Bildung oder eine internationale, bewaffnete Organisation davon abgehalten werden kann, wie Freud 1933 in seiner Antwort an Einstein darlegte? Ist es die kapitalistische Dynamik der Konkurrenz und des tendenziellen Falls der Profitrate, die immer wieder zu Kriegen um neue Märkte, billige Rohstoffe und die Ausschaltung von Konkurrenten führt, wie Marx analysierte? Ist der von Huntington prophezeite »clash of civilizations« die Ursache von immer neuen Kriegen oder ist der Krieg der Vater aller Dinge, wie Heraklit zitiert wird?1

Jede dieser Theorien erklärt einen Aspekt von Krieg. Für den Menschen wie für jedes höhere Lebewesen ist die Aggressivität eine wichtige Eigenschaft fürs Überleben. Dass kapitalistische Gesellschaften um Rohstoffe und Absatzmärkte Kriege führen, haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt und dass bei gewaltsamen Auseinandersetzungen kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen, wird niemand bestreiten wollen. Inwiefern aber ist der Krieg der Vater aller Dinge?

Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege stehen in Europa bei der Diskussion der Bedeutung von Kriegen ihre negativen Auswirkungen wie Gewaltanwendung und Zerstörung im Vordergrund, und wir können die Kriegsbegeisterung deutscher Intellektueller von 1914 kaum noch nachvollziehen. Trotz der Grausamkeit heutiger Kriege reicht jedoch ihre Verurteilung nicht aus, um sie zu verhindern. Mit moralischen Argumenten sind viele Kriege geführt, aber keine verhütet oder beendet worden. Im Laufe der Geschichte haben sich vielfältige Formen von Kriegen herausgebildet wie zum Beispiel Eroberungsfeldzüge, Zweikämpfe, Kabinettskriege, Völkerschlachten und Bürgerkriege, entsprechend vielfältig sind auch ihre Ursachen und die Antworten auf die Frage, warum die meisten Gesellschaften seit der Jungsteinzeit (Neolithikum) regelmäßig Kriege führen. Über die politischen, ökonomischen, ethnischen und psychologischen Ursachen ist viel geforscht und geschrieben worden. Was aber ist mit der Bedeutung von Kriegen nicht für die Zerstörung von Kulturen, sondern, wie Heraklit meint, für deren Aufbau und Erhalt?

Evolutionspsychologische Perspektive

Diesem Aspekt soll im Folgenden nachgegangen werden. Hierfür ist es notwendig zwischen der von Menschen geschaffenen Welt, der Welt der Artefakte, und der unabhängig von ihm und seiner Tätigkeit existierenden Welt, der natürlichen Welt, zu unterscheiden. Artefakte sind vom Menschen geschaffene Dinge wie Werkzeuge, Gebäude oder Kunstgegenstände, die von ihm entwickelten gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, sowie die in der jeweiligen menschlichen Gemeinschaft kommunizierten Ideen, Theorien und Glaubensbekenntnisse. Man könnte sagen, die Summe aller Artefakte einer Sippe, Ethnie oder Nation ist ihre Kultur. Im Unterschied zu Dingen, die unabhängig von der menschlichen Tätigkeit entstehen und vergehen, wachsen und absterben, gedeihen und verderben, müssen Artefakte vom Menschen nicht nur erschaffen, sondern auch rekonstruiert und unterhalten werden. Gebäude zerfallen, Werkzeuge werden unbrauchbar und eine Stradivari verliert ihren wunderbaren Klang, wenn sie nicht regelmäßig gespielt wird. Theorien, soziale Institutionen und Ideen verschwinden, werden sie nicht in der Kommunikation rekonstruiert und in Büchern und Denkmälern dokumentiert. Religionen verlieren ihre Macht, wenn niemand mehr an sie glaubt und keiner mehr ihre Rituale pflegt.

Artefakte haben für den Menschen eine existentielle Bedeutung. Die Millionen Menschen, die im nördlichen Europa leben, würden ohne die Zivilisation verhungern und erfrieren. Die Entstehung der – nach derzeitigem Wissensstand – ersten Agrargesellschaften und Hochkulturen in der Jungsteinzeit ermöglichte der menschlichen Gattung ein Überleben auch unter ungünstigen Bedingungen. Damit setzte eine qualitativ neue Entwicklung ein: Einige Gruppen der menschlichen Gattung begannen den Verlust ihrer Nahrungsquellen nicht durch das Suchen neuer Lebensräume (Wanderung), sondern durch die Veränderung der vorhandenen (Ackerbau) zu kompensieren. Dank seiner spezifischen emotional-kognitiven Fähigkeiten kann der homo sapiens nicht nur seine Ideen in Artefakten materialisieren und seine Vorstellungen, Bedürfnisse, Absichten und Tätigkeiten reflektieren, sondern er kann auch einmal erworbenes Wissen in einer spezifischen Art tradieren, so dass nicht jede Generation das Rad neu erfinden muss. Er besitzt nicht nur die Fähigkeit Verhaltensweisen nachzuahmen und den Gebrauch von Werkzeugen zu erlernen, sondern erkennt auch die in den Artefakten angelegten Intentionen, also die Zwecke, zu denen sie von seinen Vorfahren erschaffen worden sind: „Werkzeuge weisen auf die Probleme hin, die sie lösen sollen, und sprachliche Symbole verweisen auf die kommunikativen Situationen, die sie repräsentieren sollen.“2 Dadurch ist der Mensch in der Lage, einmal erworbenes Wissen nicht nur in direktem Kontakt zwischen Eltern und Kindern an die nächste Generation weiterzugeben, sondern er kann das Wissen in Form der in Artefakten vergegenständlichten Intentionen, also unabhängig von der direkten Kommunikation, tradieren, was die Akkumulation von Wissen über viele Generationen hinweg, die Weiterentwicklung von Werkzeugen, Ideen oder Organisationen entsprechend ihren Bedeutungen für die jeweilige Gemeinschaft und letztlich den Aufbau von Zivilisationen ermöglicht. Nach Tomasello ist es diese besondere Art der kulturellen Weitergabe (Wagenhebereffekt), die den Menschen vom Tier unterscheidet und die Kumulation von Gütern, Fertigkeiten und Wissen ermöglicht.3 Dank dieser Fähigkeit können Menschen Kulturen aufbauen, die sie bis zu einem gewissen Grad von der Unbill der Natur unabhängig machen. Diese Kulturen ersetzen dem Menschen die wenigen für ihn auf der Erde vorhandenen ökologischen Nischen, die natürlichen Lebensräume also, in denen er Nahrung und Schutz vor Witterung findet, vor Feinden sicher ist und sich fortpflanzen kann. Diese Unabhängigkeit befähigte die menschliche Gattung, sich über die ganze Erde auszubreiten und in allen Klimazonen anzusiedeln.

Die Kulturentwicklung sicherte auf der einen Seite Überleben und Wachstum der Gattung Mensch, zwang aber auf der anderen Seite dazu, die je eigene Kultur zu unterhalten und zu erneuern. Während die Natur sich auch ohne das Eingreifen des Menschen verändert und reproduziert, werden zur Aufrechterhaltung von Kulturen ständig neue materielle, physische und psychische Ressourcen benötigt, da Artefakte die Eigenschaft haben, ohne das Eingreifen des Menschen, zu zerfallen. Es ist diese Eigenschaft der vom Menschen geschaffenen Dinge, die von ihm viel Arbeit erfordert.4 Im Unterschied zu anderen Gattungen, die in natürlichen ökologischen Nischen leben, muss der homo sapiens stets große Anstrengungen unternehmen, um die Kultur, also seine ökologische Nische, zu erhalten.

Interpretieren wir die Aussage „Krieg ist der Vater aller Dinge“ dahingehend, dass mit den Dingen die Artefakte gemeint sind, können wir weiter folgern, dass die Bedeutung von Kriegen darin liegt, die für die Instandhaltung und Erneuerung der Artefakte notwendigen materiellen und menschlichen Ressourcen zu beschaffen. Kriege dienen demnach nicht nur, wie die Aggression von Tieren, der Verteidigung des Reviers und der Jungen, sondern sind auch ein Mittel, die Rekonstruktion der jeweiligen Kultur zu sichern und neue Kulturen aufzubauen. Es gibt kaum eine Hochkultur, bei deren Aufbau Kriege nicht eine große Rolle gespielt hätten. Auch bei der Bildung moderner Nationalstaaten hatten Kriege eine wichtige Funktion. Bis heute sind Armeen in den meisten Ländern ein wichtiger Bestandteil der nationalen Identität.

Funktionswidrigkeit der Institution Krieg

Aber Kriege dienen nicht nur der Rekonstruktion, sondern auch der Zerstörung von Kulturen. Kaum eine Hochkultur existierte länger als tausend Jahre. Und es scheint einen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit, mit der Reiche entstehen, und der Geschwindigkeit, mit der sie zerfallen, zu geben. Man könnte auch sagen, je weniger Kriege für die Bildung von Reichen notwendig waren, je langsamer sie entstanden sind, je größer der Anteil der gegenseitigen Assimilation im Vergleich zur militärischen Eroberung und gewaltsamen Unterdrückung war, desto stabiler sind sie gewesen. Das Dilemma, dass auf der einen Seite eine Kultur während einiger Generationen mit Hilfe von Kriegen wachsen kann, langfristig aber jede auf Krieg angewiesene Kultur sich selbst gefährdet, spiegelt sich in der Ambivalenz der Bevölkerung gegenüber Militär und Krieg wider. In den eigenen Armeen kristallisiert sich die Hoffnung einer Bevölkerung auf Sicherheit ebenso wie ihre Furcht vor einem Krieg.

Die Zwiespältigkeit von Kriegen erleben wir zur Zeit auch in unseren hochindustrialisierten Gesellschaften. Auf der einen Seite beschleunigte die kapitalistische Entwicklungsdynamik die Akkumulation von Gütern und Wissen. Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik, quasi unsere ökologische Nische, kann ihrem Anspruch, den Unternehmen Profite und den Beschäftigten Wohlstand und soziale Sicherheit zu garantieren, nur durch ein ständiges Wirtschaftswachstum gerecht werden. Wirtschaftswachstum aber erfordert einen hohen Bedarf an billigen Rohstoffen, weltweite Sicherung von Absatzmärkten, Ausschaltung von Konkurrenz sowie Rüstungsproduktion und Waffenexport. Alles Faktoren, die das Kriegsrisiko erhöhen, denn die Geschichte lehrt uns, dass keine expansive Kultur langfristig auf das Mittel Krieg verzichten konnte.

Müssen wir mit diesem Dilemma leben, weil Krieg der Vater von allem ist? Ist ohne Krieg unsere Zivilisation nicht aufrecht zu erhalten? Ist Krieg gar eine biologische Notwendigkeit? Betrachtet man das Kriegführen unter diesem Blickwinkel, ist es müßig darüber zu streiten, ob Kriege auf die Biologie des Menschen zurückzuführen sind oder gesellschaftliche Ursachen haben. Denn die Kultur ist zwar ein Produkt gesellschaftlicher Tätigkeit, hat aber als ökologische Nische gleichzeitig eine zentrale biologische Funktion, nämlich das Überleben der menschlichen Gattung zu sichern. Dies bedeutet aber nicht, dass Kriege eine zwingende biologische Notwendigkeit sind. Denn zum einen ist Krieg nicht und war nie das einzige Mittel, die für die Rekonstruktion einer Kultur notwendigen Ressourcen zu beschaffen. Zum anderen zeigt uns der Vergleich mit der Tierwelt, dass Kriege spezifisch menschlich sind.

Nicht der Krieg, sondern die Kultur ist für das Überleben der Gattung Mensch eine biologische Notwendigkeit. Ohne Artefakte könnten wir uns weder ernähren noch fortpflanzen. Die Etablierung des Krieges dagegen, durch welche historischen Zufälle und Einflüsse auch immer, als ein Mittel der Kulturrekonstruktion und Kulturentwicklung ist eine historische Tatsache, aber kein Naturgesetz. Heraklit beschreibt einen wichtigen Aspekt von Kriegen, der sich konkret auf die Geschichte unserer Zivilisation bezieht. Dies bedeutet aber nicht, dass die Aussage „Krieg ist der Vater von allem“ ein allgemeines Entwicklungsgesetz ist. Neben den expansiven Kulturen hat es immer Kulturen gegeben, die sich ohne Kriege rekonstruieren konnten und viele Kriege, wenn nicht die meisten, sind nicht um das Überleben einer Ethnie oder Nation geführt worden, sondern um das Überleben einer bestimmten Elite und die Rettung ihrer Privilegien.

Krieg ist also nicht nur keine biologische, sondern auch keine kulturelle Notwendigkeit. Biologisch notwendig ist nur der Erhalt der Zivilisation als ökologische Nische für Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Zunehmend wächst aber die Gefahr, dass Kriege nicht der Rekonstruktion, sondern der Vernichtung unserer zivilisatorischen Errungenschaften dienen. Krieg erfordert die Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte. Für demokratische Abstimmungen, kritische Debatten, Menschenrechte und allgemeinen Wohlstand ist in Kriegszeiten kein Platz. Auch für die kapitalistische Wirtschaft bringt ein Krieg nicht nur Gewinn. Zwar kann die Rüstungsindustrie ihre Profite erhöhen, die übrigen Wirtschaftsbereiche aber müssen, jedenfalls kurzfristig, Einbußen in Kauf nehmen, denn Handel braucht Frieden. Nicht zuletzt besteht bei einem Krieg im 21. Jahrhundert immer die Gefahr, dass die militärisch stärkere zwar die militärisch schwächere Gesellschaft unterwerfen kann, Sieger und Besiegte aber gleichermaßen zu Schaden kommen.

Wir stehen heute vor der Aufgabe, eine Kultur des Friedens zu schaffen, eine Kultur, die auf das Mittel Krieg verzichten kann. Das bedeutet, eine Kultur, die für ihre Rekonstruktion nur so viele Ressourcen benötigt, wie sie aus eigener Kraft und ohne Ausbeutung oder Ausplünderung anderer Kulturen hervorbringen kann. Dies ist, nach mehreren tausend Jahren expansiver Entwicklung, in der das Mittel Krieg ein konstitutiver Faktor war, keine leichte Aufgabe. Inwieweit sie gelingen wird, hängt von jedem einzelnen ab.

Anmerkungen

1) Die Stelle bei Heraklit heißt: „Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ (29 fr. 53, zit. nach W. Capelle (1953): Die Vorsokratiker. Fragmente und Quellenbericht (S. 135). Stuttgart: Kröner). Meine Ausführungen beziehen sich nicht auf das Ursprungszitat, sondern auf die verkürzte Form, in der dieses Zitat in der Friedensdiskussion meist verwendet wird.

2) Tomasello, M. (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (S. 16). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

3) ebd.

4) vgl. 1 Mose, 3.17-19: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweisse deines Ansgesichts sollst du dein Brot essen …“

Dr. Marianne Müller-Brettel ist Psychologin und hat sich als wiss. Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin vor allem mit der Geschichte der Friedenspsychologie auseinandergesetzt

Die Arroganz der Demokratien

Die Arroganz der Demokratien

Der »Demokratische Frieden« und sein bleibendes Rätsel

von Harald Müller

Kant hat die Friedlichkeit der Demokratien aus den Nutzenerwägungen der Bürgerinnen und Bürger begründet. Spätere Überlegungen haben im Menschenbild der Aufklärung, im Respekt vor Menschenwürde und menschlichem Leben sowie in der Präferenz für rationale, gewaltfreie Konfliktlösung eine zweite Hemmschwelle gegen den Krieg identifiziert. Die demokratischen Entscheidungsstrukturen seien schlecht geeignet, die für den Krieg erforderliche Überraschung hervorzubringen.1 Die Neigung der Demokratien, intedependente Wirtschaftsbeziehungen einzugehen und in internationalen Organisationen zu arbeiten, schaffe gemeinsame Interessen mit möglichen Feinden und Kooperationsstrukturen, die bei der friedlichen Beilegung von Konflikten helfen.2
Der empirische Befund ist umstritten;3 Demokratien führen selten oder nie Krieg gegeneinander. Ob sie auch gegenüber Dritten friedlicher sind, ist weniger eindeutig, Die meisten Autoren schließen, dass sich kein Unterschied im Gewaltverhalten erga omnes zeigt. Andere glauben, ein relativ friedlicheres Verhalten demokratischer Staaten entdeckt zu haben.4 Die Frage bleibt offen, wie Demokratien wechselseitig die Friedfertigkeit aneinander schätzen können, wenn sie gegenüber Dritten gar nicht gegeben ist, in anderen Worten: welches die Kausalmechanismen des »Demokratischen Friedens« zwischen Demokratien sein sollen, wenn sie gegenüber Nichtdemokratien nicht funktionieren.5 Hierin besteht das ungelöste Rätsel der so attraktiven Theorie vom Demokratischen Frieden.6

Selbstbild und Feindbild

Dieser wissenschaftliche Diskurs hat in den politischen hineingewirkt. Die Theorie des demokratischen Friedens prägt Selbstbild und Feindbild in den Demokratien. Sie liefert – im Sinne Carl Schmitts – das Kriterium der Unterscheidung von Freund und Feind7 mehr noch als im Kalten Krieg, in dem der Begriff des »Antikommunismus« den Anschluss von Diktaturen wie Spanien, Portugal, den Philippinen, des Schah-Iran, der griechischen Obristen und türkischen Generale an »den Westen« zuließ.8 Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wirken derartige Mesalliancen schmerzhafter. Zwar werden auch im »Krieg gegen den Terror«, Bündnisse mit nichtdemokratischen Ländern aus Opportunitätsgründen akzeptiert: Pakistan und China, Usbekistan und Sudan sind Beispiele; die wenig humane Art des syrischen Geheimdienstes im Umgang mit Gefangenen, wird von der CIA zielgerecht genutzt, um aus mutmaßlichen Terroristen nutzbringende Informationen herausquälen zu lassen. Dennoch liegt die Schmerzgrenze des öffentlichen Diskurses für diese Mesalliancen anscheinend niedriger als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts; die Debatte über den Charakter der amerikanisch-saudischen Beziehungen, die Frage, ob eine so enge Allianz mit einem autoritären Staat, der weltweit eine der doktrinärsten Formen islamistischer Theologie fördert, akzeptabel sei, liegt der Neigung einflussreicher Debattenbeteiligter zugrunde, sich in Zukunft lieber auf einen demokratisierten Irak zu stützen.9 Die Opfer und Mühen dieser Demokratisierung scheinen gegenüber dem moralischen Nutzen weniger bedeutsam.

Die Frontlinie verläuft zwischen dem aufgeklärten, die Menschenrechte achtenden, einem liberalen, marktwirtschaftlicher Wohlfahrt zugewandten und moralisch extrem positiv besetzten »Wir« und einem atavistischen, menschenverachtenden, staatsdirigistischen und moralisch abgewertetem »Sie«. Dieses »Sie« wird in seiner extremen Form zur Quelle aller Gefahren; der Schwenk vom Hauptfeind Al Qaeda zum Hauptfeind Irak deutet darauf hin. Al Qaeda als Nicht-Staat eignet sich weniger für die auf das Demokratiekriterium abgestellten dichotomische Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Die Vorstellung von der islamistischen Terrororganisation als eigentlichem Feind provoziert Frontlinien wie »westliche Zivilisation gegen Islam« (unerwünscht aus gesellschaftspolitischen Gründen), »Staat versus Nichtstaat« (was zwar der realen Anti-Terror-Koalition entspricht, nicht aber dem Bedürfnis nach moralischer Aufladung), oder »säkular gegen fundamentalistisch« (was unerwünschte Friktionen im eigenen Lager provozieren könnte, etwa unter den fundamentalistischen Unterstützern Präsident Bushs, den durchweg republikanisch gesinnten »wiedergeborenen Christen« auf der amerikanischen Rechten). Auch die moralischen Konsequenzen einer Grenzziehung Fundamentalismus/Säkularismus sind aus westlicher Sicht unbefriedigend, weil Länder wie China oder Syrien dem »Wir« zuzurechnen wären, was den Moralwert des eigenen Lagers senkt. Diese Eindeutigkeit ist unerwünscht, gilt doch in den USA, die diesen Diskurs prägen, China trotz gewisser Interessengemeinsamkeiten gegen die Al Qaeda als künftiger Rivale, Syrien trotz der geheimdienstlichen Zusammenarbeit als Feind des Verbündeten Israel. Kurzum: Die Frontlinie Demokratie/Nichtdemokratie enthält die höchste moralische Selbstbefriedigungs- und Mobilisierungschancen.

Jede moderne Gesellschaft enthält ein Gewaltpotential.10 Dieses wird sublimiert, unterdrückt oder umgelenkt; in Extremfällen – im »wilden« Krieg, im Staatszerfall – wird es bestimmend für das gesellschaftliche Erscheinungsbild.11 Aktualisiert sich dieses Potential, so wird die wir/sie-Unterscheidung zum Mechanismus, der die negative Energie auf den Feind fokussiert, indem das Bündel der dem »anderen« zugeschriebenen Eigenschaften als hoch negativ, moralisch verwerflich (»Achse des Bösen«) und physisch gefährlich charakterisiert wird. Dies war beiderseits bei der alten Dichotomie Kommunismus/Antikommunismus der Fall und findet sich im Gegensatz Demokratie/Nichtdemokratie gleichfalls, wobei sich die unterstellte Drohung wahlweise gegen das eigene Lager oder gegen schutzlose Dritte richten kann. Die Personifizierung des Bösen in einem Schurken (Noriega, Khomeiny, Ghaddafi, Aideed, Saddam, Milosevic) verstärkt den Fokussierungseffekt. 12 Zugespitzt ist die Konzentration von Negativa und Gefährlichkeit im Diskurs über die »Schurkenstaaten«, bei denen die Verachtung von Menschenrechten, das Streben nach Massenvernichtungswaffen, die Unterstützung des Terrorismus und allgemeine Feindseligkeit zusammenfallen.13

Der dichotomische Diskurs über Schurkenstaaten trägt die Rechtfertigung von Gegengewalt in sich. Er stellt zugleich die geltenden Verfahrensregeln für Entscheidungen über Krieg und Frieden in Frage. Wenn es um den Gegensatz zwischen Demokratien und Nichtdemokratien geht, ist es fraglich, ob letzteren die Teilhabe an der Entscheidung gewährt werden soll. Nicht zufällig hat der Bundeskanzler im Kosovo-Konflikt stets davon gesprochen, dass die »Staatengemeinschaft« den militärischen Einsatz gerechtfertigt habe, obgleich lediglich das westliche Bündnis den Krieg beschlossen hatte. Und explizit hat Richard Perle, Vorsitzender des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, seine „tiefe Besorgnis“ darüber erklärt, dass den VN das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, falle doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zu.14 Die neue »Nationalen Sicherheitsstrategie« Bushs erklärt für die USA als Führungsmacht des demokratischen Lagers in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus und den Schurkenstaaten das Recht, auch ohne unmittelbare Bedrohung einen Militärschlag zu beschließen, um Risiken im Keime zu ersticken.15 Solche Angriffe können – wie im Falle des Irak – auf die Veränderung des politischen Systems im angegriffenen Staat abzielen. Denn nur die Demokratisierung des Feindstaates garantiert die Beseitigung der Gefahr.

Dabei behält sich die amerikanische Regierung den Ersteinsatz von Kernwaffen vor; im Zuge der Irak-Diskussion hat sie ihn angedroht. Die Einsatzszenarien umfassen die nukleare Vergeltung gegen Schläge mit biologischen und chemischen Waffen, die Zerstörung dieser Waffen und ihrer Produktionsanlagen sowie den Angriff auf tiefverbunkerte Führungsstellungen des Gegners – die beiden letzten Einsatzformen entsprechen rein militärischen Zielsetzungen außerhalb von Abschreckungs/Vergeltungsszenarios.16 Das moralische Übel eines Kernwaffeneinsatzes mit seinen unvermeidlichen »Kollateralschäden« in der Zivilbevölkerung wird in Kauf genommen, um den Feind zu besiegen; dieser Umstand zeigt, wie groß die Distanz zwischen dem demokratischen »Wir« und dem nichtdemokratischen »Sie« sein muss, um dieses Übel zu rechtfertigen.

Es sind also keine »externen« Umstände, welche die Gewaltbereitschaft der demokratischen Gemeinwesen begründen, sondern die spezifische Motivation, die sich in Intervention und Krieg umsetzt, entspringt dem genuin demokratischen Selbstbewusstsein. Es sind die hohe Wertigkeit von Menschenrechten, die gewaltfreien Verfahren der Konfliktbearbeitung im Innern, die offene Debatte, die den Stolz der Demokratie auf sich selbst und die Abwertung der Nichtdemokratie und das Misstrauen in deren Verlässlichkeit, Friedfertigkeit, moralische Wertigkeit und – im Extremfall – Existenzberechtigung begründet. Das demokratische Selbstbewusstsein, dessen Gehalte den Argumenten zugunsten einer Friedfertigkeit der Demokratien zugrundeliegt, wird selbst zum Konfliktgrund und zur Ursache oder wenigstens zum Katalysator von Gewalt – in der Beziehung zu Dritten. Dieses Paradox ist der Kern der »Antinomien des demokratischen Friedens«.

Varianz im Diskurs und im Verhalten von Demokratien

Der dichotomische Diskurs und die Bereitschaft zu seiner Umsetzung in gewaltsames Außenverhalten weist unter demokratischen Staaten Varianz auf. In der Irak-Debatte zeigen sich diese Unterschiede. Da ist ein Diskursführer, der auf die gewaltsame Auseinandersetzung zusteuert: die Vereinigten Staaten (ebenso Israel); wir notieren proaktive Gefolgschaft in Großbritannien und Spanien, mit Abstrichen auch in Italien und Polen; zögerliche Mitläuferschaft in Dänemark, Ungarn, der Tschechischen Republik und den demokratischen Transformationsländern Osteuropas; Widerstreben und partielle Kritik in den Niederlanden, Kanada, den skandinavischen Ländern, Österreich sowie Indien; kritische Meinungsführerschaft in Frankreich; und Totalopposition in Deutschland. Der Blick auf die Wirkungsweise demokratischer Antinomien reicht nicht aus, um diese Ausdifferenzierung zu erklären. Es empfiehlt sich, einen Blick auf die Rahmenbedingungen zu werfen, um die interdemokratische Varianz aufzuhellen:

  • Allianzbeziehungen beeinflussen den Diskurs.17 Sie schaffen Verpflichtungen und Erwartungen von Solidarität oder Konformität sowie sicherheitspolitische Abhängigkeiten. Sie stellen Einflusskanäle bereit, die von den stärkeren zu den schwächeren Mitgliedern laufen. In einer asymmetrischen Allianz wie der NATO tragen sie zur Dominanz der Führungsmacht bei. Demokratische Allianzbeziehungen helfen also, den Unterschied in der Position zwischen alliierten und ungebundenen Staaten zu erklären. Sie beantworten die Frage, warum kleinere Allianzmitglieder mit starken Sicherheitsbedürfnissen dazu neigen, Positionen der Führungsmacht zu übernehmen.
  • Militärtechnische Entwicklungen können dazu führen, dass die nutzenorientierten Bedenken gegen Kriege nachlassen. Wenn Kriege kurz dauern, auf der eigenen und auf der gegnerischen Seite wenig Opfer fordern und wahrscheinlich im Sieg enden werden, fällt der Entschluss leichter. Eben dies ist der – versprochene – Trend der »Revolution in militärischen Angelegenheiten«, die in den USA weit fortgeschritten ist.18
  • Die Demokratie gibt auch Ideologien und Interessen, die von den friedliebenden Durchschnittspräferenzen abweichen, Durchsetzungschancen, wenn sie über Ressourcen und Zugangschancen zu den Entscheidungsprozessen verfügen. Die Weltbilder der sicherheitspolitischen Eliten sind stärker von Feindbildern und vom militärischen Denken geprägt als die der Durchschnittsmenschen, und es gibt mächtige rüstungswirtschaftliche Interessen. Wo ihr Einfluss überproportional wächst – unter legaler Nutzung der Verfahren in der Demokratie 19 – verschiebt sich das Diskurs- und Entscheidungsspektrum weg vom Kant‘schen Ideal.
  • Schließlich fließen in die Identitäten und die weltpolitischen Rollen der Demokratien20 andere Elemente ein als das Bewusstsein »ich bin demokratisch«. Mit dem Demokratie-Selbstbewusstsein verbinden sich Konzepte wie
  • »Weltführungsmacht« (besondere Verantwortung und Entscheidungsbefugnis),
  • »Special Relationship« (starke Loyalität zum Bündnispartner),
  • »Mission Civilisatrice« (demonstrative Unabhängigkeit),
  • »Zivilmacht« (militärische Zurückhaltung),
  • »Good Citizen« (unbedingte Verfahrenstreue),

verbinden sich Gedächtnissyndrome wie

  • die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit (militärische Zurückhaltung),
  • die frühere Zugehörigkeit zum Warschauer Vertrag (Beweis besonderer NATO-Treue),
  • der einstige Status als Kolonialmacht (weltpolitische Verantwortung).

All diese Elemente verbinden sich mit dem »demokratischen Selbstbewusstsein«. Präferenzen und Handlungsoptionen in Bezug auf äußeres Gewaltverhalten werden durch diese Varianten aufgefächert.

Unterschied im Diskurs der Regierungen und der Öffentlichkeit

Regierungen und Völker stimmen nicht zwangsläufig überein. Durchweg in allen Demokratien tragen Mehrheiten den dichotomischen Diskurs mit: Saddam Hussein gilt als gefährlicher, moralisch minderwertiger Feind; seine Ablösung wird gewünscht. Ein Alleingang ohne Mandat der Vereinten Nationen wird abgelehnt. Der Anspruch des Völkerrechts auf Universalismus dominiert über den Versuch, aus dem dichotomischen Diskurs eine partikularistische Entscheidungs-Prärogative für die Demokratien abzuleiten. 21

In vielen Demokratien sitzt die Ablehnung des Krieges noch tiefer. Sie bezieht sich nicht lediglich auf das Verfahren, sondern auf die Rechtfertigung der Gewalt unter den gegebenen Umständen. Da eine unmittelbare Gefahr nicht zu erkennen ist, da auch keine akuten, massenhaft tödlichen Verletzungen von Menschenrechten vorliegen wird eine Kriegsbeteiligung abgelehnt.

Die Kantsche Prognose über die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger trifft auf die öffentliche Meinung in den Demokratien zu; die öffentlichen Meinungen sind weniger manipulationsanfällig, als dies gelegentlich angenommen wird. Es zeigt andererseits, dass die in der Theorie des Demokratischen Friedens angenommene Umsetzung des Volkswillens in Regierungspolitik nicht vorausgesetzt werden kann: Die Kriegsbefürworter bilden eine von ihren Völkern abgehobene Diskursgemeinschaft. Daraus lässt sich schließen, dass die oben diskutierten Rahmenbedingungen auf Regierungen und Bevölkerung unterschiedliche Wirkungen ausüben.

  • Allianzzwänge teilen sich den Mitgliedern der Exekutive, die in die Kommunikationen und die institutionelle Kooperation mit ihren Ritualen eingebunden sind, ungleich stärker mit als den Bevölkerungen,22 für die das Bündnis eine abstrakte Verpflichtung jenseits des Alltagslebens darstellt.
  • Vermutlich gilt dies auch für die Wirkung der Militärtechnik und dem dadurch geänderten Nutzenkalkül. Den Entscheidungsträgern sind militärische Szenarien vertraut; sie haben ein klareres (wenn auch nicht zwingend korrektes) Bild über Risiken und Chancen eines Krieges. Für die Bevölkerung ist Krieg wohl stets ein bedrohliches Syndrom, das spontane Abwehr provoziert.
  • Identitätsbewusstsein dürfte Exekutive und Volk nicht scheiden; Rollenvorstellungen hingegen unter Umständen schon. Rollen bestehen aus Eigen- und Fremdzuschreibungen und werden in ständiger Praxis implementiert. Für internationale Rollen fällt sowohl die Wahrnehmung der Fremdzuschreibung wie die implementierende Praxis der Exekutive zu, während die auswärtige Rolle für die Bevölkerung diskursives Abstraktum ist, welches im Alltagsverhalten selten praktiziert werden muss (etwa wenn man als Tourist im Ausland in einer Diskussion zum Vertreter der eigenen Außenpolitik mutiert).
  • Sicherheitspolitische Diskursgemeinschaften und materielle Rüstungsinteressen schließlich wirken mit höherer Konzentration und Wirkung auf die Exekutive – auf deren Beeinflussung sie abzielen – als auf die Bevölkerung. Auch dieser Faktor trägt zu einer Differenzierung zwischen Regierung und Volk bei.23

Selbstbewusstsein, Arroganz und Demut

Die »Antinomien« kommen im Selbstbild der Demokratien nicht vor. Sie bleiben ein blinder Fleck, der zur ihrer Arroganz im internationalen System beiträgt. Die Weltführungsmacht USA ragt auch in dem Anspruch, ohne völkerrechtliche Verfahren Richtungsentscheidungen zu treffen, aus der Gesamtheit der Demokratien heraus. Die NATO hat diese Option im »Neuen Strategischen Konzept« in Anspruch genommen und im Kosovo-Krieg auch praktiziert. Mit zunehmender Überlegenheit fällt es schwer, die Heterogenität, die die politischen Systeme auf dem Globus immer noch auszeichnet, zu ertragen.

Bedenklich und im »Demokratischen Frieden« nicht vorgesehen ist der Einfluss religiöser Elemente. Wo sich demokratisches Selbstbewusstsein mit religiösem Sendungsbewusstsein vermischt, spitzt sich die wir/sie-Dichotomie zu, die Bereitschaft zur Gewaltanwendung steigt; im westlichen Lager nicht anders als bei Fundamentalisten anderer Prägung.24 Wenn Präsident Bush vom „Kreuzzug“ oder im Zusammenhang mit einem Irak-Krieg vom „göttlichen Auftrag der USA“ sprach „sich zu verteidigen und die Welt zum Frieden zu führen“, so ist dies mehr als rhetorische Floskel, es entspricht tiefer Überzeugung.25Das religiöse Erbe der »westlichen Zivilisation« ist ambivalent.26 Es hält auch die Rezeptur der Demut bereit, die Karl W. Deutsch vor vier Jahrzehnten gegen die Arroganz der Macht empfohlen hat.27 Das Wissen um die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten gehört ebenso dazu wie das Bewusstsein eigener Fehlbarkeit. Die Einsicht in die Antinomien eben der Strukturen und Prozesse, von denen wir die eigene Friedlichkeit erhoffen, unterläuft die Arroganz und gibt Anlass zur Demut.

Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des seit Juli 2000 laufenden Forschungsprogramms der HSFK »Antinomien des demokratischen Friedens«, in dessen Rahmen die Widerspüchlichkeiten und Anomalien der Theorie in zahlreichen Projekten untersucht wird.

Anmerkungen

1) vgl. u.a. Russett, Bruce: Grasping the Democratic Peace, Principles for a Post-Cold War World, Princeton, NJ: Princeton University Press 1993; Owen, John M.: How Liberalism Produces Democratic Peace, in: International Security, Bd. 19, Nr. 2, 1994, S. 87-125; Ray, James Lee: Democracy and International Conflict, An Evalutation of the Democratic Peace Proposition, Columbia, SC: University of South Carolina Press 1995; Doyle, Michael W.: Ways of War and Peace. Realism, Liberalism, and Socialism, New York/London 1997.

2) Russett, Bruce/Oneal, John R.: Triangulating Peace, Democracy, Interdependence, and International Organizations, New York: W. W. Norton 2001.

3) Geis, Anna: Diagnose: Doppelbefund – Ursache: ungeklärt? Die Kontroverse um den »demokratischen Frieden«, in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. 42, Nr. 2, 2001, S. 283-298; Errol A. Henderson: Democracy and War. The End of an Illusion?, Boulder, Col. 2002.

4) Czempiel, Ernst-Otto: Kants Theorem. Oder: Warum sind die Demokratien (noch immer) nicht friedlich?, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Bd. 3, Nr. 1, 1996, S. 79-102.; Benoit, Kenneth: Democracies really are more pacific (in general), in: Journal of Conflict Resolution, Bd. 40, Nr. 4, 1996, S. 636-657; Rummel, Rudolph J.: Libertarianism and International Violence, in: Journal of Conflict Resolution, Bd. 29, Nr. 3, 1983, S. 419-455.; Russett, Bruce/Oneal, John R.: Triangulating Peace: Democracy, Interdependence, and International Organizations, New York: W. W. Norton 2001.

5) Risse-Kappen, Thomas: Democratic Peace – Warlike Democracies? A Social Constructivist Interpretation of the Liberal Argument, in: European Journal of International Relations, Bd. 1, Nr. 4, 1995b, S. 491-517.

6) Müller, Harald: Antinomien des demokratischen Friedens, in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. 43, Nr. 1, 2002, S. 46-81.

7) Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, München 1963.

8) Lebow, Richard Ned / Gross Stein, Janice: We all lost the Cold War, Princeton 1994, Kap. 1.

9) vgl. die Argumentation bei Pollack, der recht gut die Überlegungen in der Administration Bush reflektert, Pollack, Kenneth M.: The Threatening Storm: The Case for Invading Iraq, New York, Random House 2002.

10) Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, München 1992.

11) Sofsky, Wolfgang: Der wilde Krieg, in: ders., Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg, Frankfurt 2002, S. 147-183.

12) Müller, Harald: Zwischen Information, Inszenierung und Zensur. Zum Verhältnis von Demokratie, Krieg und Medien. HSFK-Standpunkte 4/2002.

13) Litwak, Robert S.: Rogue States and U.S. Foreign Policy. Containment after the Cold War, Washington, D.C. 2000; Klare, Michael: Rogue States and Nuclear Outlaws. America’s Search for a New Foreign Policy, New York 1995.

14) International Herald Tribune, 28. 11. 2002, S. 4.

15) The White House: The National Security Strategy of the United States of America, Washington, D.C., September 2002.

16) U.S. Department of Defense: Nuclear Posture Review Report (excerpts), Washington, D.C. 2002, http://www.globalsecurity.org, 14. Mar. 2002.

17) Risse-Kappen, Thomas: Cooperation among Democracies: The European Influence on U.S. Foreign Policy, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1995a.

18) Müller, Harald / Schörnig, Niklas: Revolution in Military Affairs. Abgesang kooperativer Sicherheitspolitik der Demokratien?, HSFK-Report Nr. 8/2001, Frankfurt/M; Müller, Harald / Schörnig, Niklas: Mit Kant in den Krieg? Das problematische Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und der Revolution in Military Affairs, in: Friedenswarte 4/2002.

19) Downs, Anthony: An Economic Theory of Democracy, New York 1957; für ein empirisches Beispiel vgl. Sengaas‘ Studie zum amerikanischen Rüstungskomplex in Dieter Senghaas: Rüstungs und Militarismus, Frankfurt/M 1972.

20) Wisotzki, Simone: Die Nuklearwaffenpolitik Großbritanniens und Frankreichs. Eine konstruktivistische Analysie, Frankfurt/M 2002; Kirste, Knut / Maull, Hanns W.: Zivilmacht und Rollentheorie, in Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Jg. 3, Haft 2/1996, S. 283-312.

21) Chicago Council on Foreign Relations / German Marshall Fund Of The United States: Worldviews 2002, www.worldviews.org, 2002.

22) vgl. die Überlegungen bei Wolf, Klaus Dieter: Die Neue Staatsräson – Zwischenstaatliche Kooperation als Demokratieproblem in der Weltgesellschaft, Baden-Baden: Nomos 2000.

23) Knopf, Jeffrey W.: Domestic Society and International Cooperation, Cambridge: Cambridge University Press 1998.

24) Almond, Gabriel A. / Sivan, Emmanuel / Appleby, R. Scott: Fundamentalism, Genus and Species, in: Marty, Martin E. / Appleby, R. Scott (Hg.): The Fundamentalism Project, Bd.5, Chicago/London 1995, 399-425; Almond, Gabriel A. / Sivan, Emmanuel / Appleby, R. Scott: Explaining Fundamentalisms, in: ebd., 425-444.

25) lt. Christian Wernicke/Nico Fried, Nato will ihren Zerfall abwenden, in Süddeutsche Zeitung, 12. 2. 2003, S. 1.

26) Appleby, R. Scott: The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence and Reconciliation, Lanham u.a., 2000.

27) Deutsch, Karl W.: Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg/B 1970, S. 309-311.

Prof. Dr. Harald Müller ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Professor für Internationale Beziehungen an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/Main

Das Völkerrecht in der Entwicklung als Friedensordnung

Das Völkerrecht in der Entwicklung als Friedensordnung

von Bernhard Gräfrath

Die Entwicklung des Völkerrechts vollzieht sich in Abhängigkeit von der Entwicklung der internationalen Gesellschaft – und zwar nicht linear oder unmittelbar, sondern über die Vereinbarungen von Staaten. Sie ist daher sehr stark mit der Entwicklung der internationalen Beziehungen verbunden. Unser Autor geht ein auf die Ereignisse im letzten Jahrhundert, die sich auf die Entwicklung des Völkerrechts entscheidend ausgewirkt haben, und untersucht anschließend die aktuellen Tendenzen.
In dem vergangenen „kurzen Jahrhundert“1 hat es zwei einschneidende Ereignisse gegeben, die sich auf das Völkerrecht als Rechtsordnung bestimmend ausgewirkt haben: Das war zum einen die sozialistische Oktoberrevolution mit dem Dekret über den Frieden und der Veröffentlichung der Geheimabmachungen über die Aufteilung der imperialistischen Beute nach dem ersten Weltkrieg. Sie ebnete den Weg zur Ächtung des Krieges als Mittel der internationalen Politik, orientierte auf die Gleichberechtigung und friedliche Zusammenarbeit aller Staaten und die Entfaltung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Mit ihr endete eine Periode, die mit dem Westfälischen Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg begonnen hatte. Sie war wesentlich durch die Vorherrschaft Europas in den internationalen Beziehungen gekennzeichnet, setzte zwar den »Religionskriegen« ein Ende, beschränkte das Völkerrecht aber auf die so genannten »zivilisierten Völker«, d. h. die christlich dominierten Staaten. Das »Europäische Völkerrecht« sanktionierte den Kolonialismus der imperialistischen Mächte, die Intervention und den Krieg als Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen. Es ist fast in Vergessenheit geraten, dass bis 1917 das Recht zum Kriege als Kriterium staatlicher Souveränität galt und die nichteuropäischen Völker und ihr Territorium als Objekt kolonialer Ausbeutung und Eroberung angesehen wurden.

Das zweite Ereignis war der Sieg der Antihitlerkoalition im Zweiten Weltkrieg, aus dem die Organisation der Vereinten Nationen hervorging. In ihrer Charta wurde zum ersten Mal in der Geschichte die souveräne Gleichheit aller Staaten als grundlegendes Prinzip des Völkerrechts anerkannt. Es wurden grundlegende Rechtsprinzipien zwischen allen Staaten vereinbart, darunter die souveräne Gleichheit der Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Verbot der Drohung mit und der Anwendung von Gewalt sowie die Pflicht zur friedlichen internationalen Zusammenarbeit und Streitbeilegung. Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der brutalen menschenvernichtenden Gewalt, mit der die deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg versucht hatten ihre Vorstellungen von der Neuordnung Europas und die Weltherrschaft durchzusetzen, war man entschlossen sicherzustellen, dass zukünftig nicht mehr die Gewalt der Mächtigen, sondern das Recht die Beziehungen zwischen den Staaten bestimmen und den Frieden gewährleisten sollte.

Versuche der USA, gestützt auf ihr damaliges Atombombenmonopol, diese Ordnung noch in ihrem Entstehen ihren Interessen unterzuordnen, scheiterten. Es dauerte jedoch fast 20 Jahre, bis es in der Praxis gelang, eine allgemeine Orientierung der internationalen Beziehungen auf die Prinzipien der Charta durchzusetzen. Der Dekolonisierungsprozess, der 1960 seinen Höhepunkt erreichte, markiert den Triumph der Völker über die imperialistische Kolonialherrschaft und gab den Menschenrechten einen neuen Stellenwert in der friedlichen internationalen Zusammenarbeit der Staaten. Er führte schließlich auch dazu, dass am 18. Dezember 1962 selbst die USA, Großbritannien und Frankreich der Resolution 1825 (XVII) der UNO-Generalversammlung zustimmen mussten, die darauf drängte, die bereits 1945 in der Charta verankerten grundlegenden Prinzipien erneut zu bekräftigen und klarer zu formulieren, um ihr Gewicht als Maßstab der internationalen Beziehungen zu verstärken. Ausdrücklich wurde in der Resolution unterstrichen, dass diese Prinzipien „für die Weiterentwicklung des Völkerrechts und für die Förderung der Herrschaft des Rechts zwischen den Völkern“ von überragender Bedeutung sind. Es war offensichtlich und wurde in der Debatte auch gesagt, dass es darum ging, auch in den internationalen Beziehungen die Herrschaft des Rechts an die Stelle der imperialistischen Willkürherrschaft zu setzen. Ein entsprechender Text wurde schließlich nach langen Verhandlungen mit der so genannten Prinzipiendeklaration als Resolution 2625 (XXV) anlässlich des 25. Jahrestages der UNO am 24. Oktober 1970 von der Generalversammlung einmütig verabschiedet.

In der öffentlichen Diskussion stehen, wenn über die Entwicklung des Völkerrechts gesprochen wird, normalerweise die Sicherheitsfragen im Vordergrund. Es wäre aber falsch dabei zu übersehen, dass Wissenschaft, Technik, Ökonomie, Kommunikation und natürlich auch die Militärtechnik mit ihrer gewaltigen Entwicklung in den letzten 50 Jahren einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts ausgeübt haben. Nicht nur traditionelle Bereiche des Völkerrechts wie das Seerecht, Kriegsrecht, das Diplomaten- und Vertragsrecht haben wesentliche Veränderungen erfahren. Es sind auch völlig neue Gebiete in die Reichweite des Völkerrechts gelangt, wie z.B. das Weltraumrecht, das Luftrecht, das Umweltrecht, die Förderung und der Schutz von Menschenrechten, die Telekommunikation und wichtige Aspekte des Wirtschaftsrechts. Andere Bereiche haben eine völlig neue Bedeutung erlangt, wie z.B. die internationale Zusammenarbeit im medizinischen Bereich oder bei der Kriminalitätsbekämpfung. Ohne Zweifel ist das Netz der internationalen Zusammenarbeit der Staaten heute wesentlich umfänglicher, vielfältiger und engmaschiger, und es funktioniert weit gehend unauffällig im Hintergrund, effektiv und ohne große Schlagzeilen zu verursachen. Gerade die Vielgestaltigkeit und das schnelle Wachstum des völkerrechtlichen Regelwerks erfordert und verstärkt die Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit der grundlegenden Prinzipien und zwingenden Normen, die nicht durch einfachen Vertrag und schon gar nicht durch »andersartige« Praxis verändert, aufgehoben oder »weiterentwickelt« werden können. Sie halten das ganze System zusammen und gewährleisten mit der Erhaltung des Friedens seine Funktionsfähigkeit.

Allerdings ist es in all diesen Jahren nicht gelungen, die ökonomischen Beziehungen in das System einzugliedern. Alle Versuche, Regeln für eine neue internationale Wirtschaftsordnung aufzustellen und durchzusetzen, sind am Widerstand der industriell hochentwickelten Länder gescheitert, und die UN Konzeption der Entwicklungshilfe ist praktisch zur Not- und Katastrophenhilfe degeneriert. Es sind diese Defizite in der Völkerrechtsentwicklung, die heute seiner Wirksamkeit Grenzen setzen, seine Effektivität ernsthaft beeinträchtigen, sich als Hindernis für notwendige neue Regeln erweisen und nicht nur in den so genannten Entwicklungsländern die Entstehung von Konflikten begünstigen. Die Politik des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank tragen nicht zur Entwicklung der wenig entwickelten Länder und zum Abbau ihrer »Schulden« bei sondern zum Abbau öffentlicher Einrichtungen und Betriebe, zu neuer Schuldknechtschaft, zur Polarisierung von Reichtum und Armut. Wenn es im Gefolge des ökonomischen und politischen Druckes zum Zerfall von Staaten oder zu schwer wiegenden sozialen Konflikten innerhalb eines Staates kommt, wird dies zum Vorwand genommen, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit Millionen Toten erkämpfte Gewaltverbot ausgerechnet im Interesse des angeblichen Schutzes der Menschenrechte außer Kraft zu setzen, den Kern des gegenwärtigen Völkerrechts zu unterlaufen.

Das klassische Beispiel für diese Entwicklung war der Krieg der NATO gegen Jugoslawien und die im Zusammenhang damit entwickelte NATO-Strategie, die inzwischen auch eine EU-Strategie ist und die das Völkerrecht praktisch ignoriert. Offensichtlich befinden wir uns nach dem Untergang der sozialistischen Staaten in Europa in einer Restaurationsperiode, in der die durch NATO und EU verkörperte »Heilige Allianz« versucht, so wie im Innern der Staaten, die sozialen Sicherheitssysteme in den internationalen Beziehungen die völkerrechtlichen Fortschritte nach dem II. Weltkrieg wieder abzubauen. Das ist besonders deutlich an zwei Eckpunkten der völkerrechtlichen Entwicklung zu beobachten: am Gewaltverbot und an dem Grundsatz der Förderung der Menschenrechte.

Zur Durchsetzung des Gewaltverbots wurde in der Charta versucht, die UNO als kollektives Sicherheitssystem zu konstruieren. Im Kapitel VII enthält die Charta spezielle Regeln, deren Besonderheit darin besteht, dass sie den Sicherheitsrat ermächtigen, im Namen der Mitgliedstaaten der UNO verbindliche Beschlüsse zu fassen, wenn eine Friedensbedrohung oder -verletzung vorliegt und – wenn notwendig – ökonomische, selbst militärische Sanktionen zur Wahrung bzw. Wiederherstellung des Friedens anzuordnen. Dazu bedarf es allerdings einer Mehrheit von 9 der 15 Sicherheitsratsmitglieder, darunter der 5 ständigen Mitglieder (USA, Großbritannien, Frankreich, China, Russland). Das Vetorecht war 1945 als Sicherung gegen den Missbrauch der weit reichenden Kompetenzen des Sicherheitsrates gedacht. Über viele Jahre war jedoch damit die Beschlussfähigkeit des Sicherheitsrates durch den Kalten Krieg behindert. Nach dem Untergang der sozialistischen Staaten in Europa und der Etablierung der »Freien Marktwirtschaft« als globales ökonomisches System ist aber das ökonomische und militärische Übergewicht der USA so groß, dass das »Einstimmigkeitsprinzip« im Sicherheitsrat keine genügende Sicherheit gegen einen missbräuchlichen Einsatz der Kompetenz des Sicherheitsrates bietet. Praktisch agiert die US-Außenpolitik heute nach der Formel: Wenn möglich mit der UNO, wenn nötig ohne oder auch gegen die UNO.

In der Praxis des Sicherheitsrates sind die Bestimmungen der Charta, die Sanktionen gegen Friedensbedrohungen oder Verletzungen vorsehen, lange Zeit nicht angewandt und dann wesentlich entstellt worden. Der Sicherheitsrat hat mit schwammigen Klauseln die Anwendung militärischer Gewalt an einzelne Staaten oder Bündnissysteme delegiert (wie im Irak, in Somalia, Ost-Timor, Haiti und auch bei der Besetzung des Kosovo) und damit die Entscheidung und Kontrolle über den Einsatz militärischer Mittel aus der Hand gegeben – dazu gibt es in der Charta keine Berechtigung. Die bisherige Praxis des Sicherheitsrates ist um so bedenklicher, als er seit 1990 mit einer sehr breiten Definition der Friedensgefährdung arbeitet, die im Einzelfall als Vorwand oder Tor für völkerrechtswidrige Interventionen missbraucht werden kann.

Darüber hinaus hat sich der Sicherheitsrat Kompetenzen als Gesetzgeber und Richter angemaßt, für die es in der UNO-Charta keinerlei Rechtsgrundlage gibt. Aus der Fülle der Beispiele sei hier nur auf die Sanktionsbeschlüsse gegen Libyen hingewiesen, die Einrichtung des Strafgerichtshofes für Jugoslawien und Ruanda, die Grenzregelung zwischen Kuweit und Irak, das Reparationssystem gegen Irak, das ähnlich wie seinerzeit der Versailler Vertrag für Deutschland eine dauernde ökonomische Kontrolle und Ausbeutung des Irak vorsieht. Leider hat gerade auch die letzte Resolution des Sicherheitsrates zur Fortsetzung der Blockade des Irak (1284 (1999)) erneut bestätigt, dass Frankreich, China und Russland derzeit kein ausreichendes Gegengewicht gegen die Interessen der USA darstellen. Sie bringen ihren Unwillen über die Methoden der USA zwar durch Stimmenthaltung zum Ausdruck, haben aber zur Zeit nicht die Kraft, den völkerrechtswidrigen Aktionen der USA mit einem Veto zu begegnen. Auch im Kosovo dulden sie, dass die UN mit der Kfor als Aushängeschild für die Interessen der NATO missbraucht wird. Unter dem Druck der USA schweigt der Sicherheitsrat seit Jahren zu den Verbrechen und der fortgesetzten illegalen Besetzung Palästinas durch Israel. Dagegen hat sich der Sicherheitsrat, wann immer es im Interesse der USA lag und sie in der Lage waren, dafür im Sicherheitsrat eine Mehrheit zusammenzubringen, über seine engen »polizeilichen« Kompetenzen zur Gewährleistung des Friedens hinweggesetzt und wie eine Weltregierung agiert. Der Sicherheitsrat hat gegebenenfalls sogar die dazu notwendigen »Notverordnungen«, die im State Department entworfen wurden, wie ein »Weltgesetzgeber« erlassen. Das hat nicht nur zu schwer wiegenden Deformationen des UN-Systems geführt, sondern auch dazu beigetragen, die geltende Völkerrechtsordnung auszuhöhlen.

Wie gefährlich es z.B. ist, den Schutz der Menschenrechte als Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Mittel, den Krieg, auszugeben, wird durch das Strategie-Konzept der NATO vom April 1999 unterstrichen. Darin wurde der NATO-Krieg gegen Jugoslawien zur Richtschnur für zukünftige militärische Aktivitäten der NATO erhoben. Ausdrücklich wird der militärische Einsatz für Fälle vorgesehen, die „nicht unter Artikel 5 (des NATO-Vertrages) fallen,“ d.h. die nicht der kollektiven Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff oder der Erfüllung eines UN-Mandates dienen, also völkerrechtswidrig sind. Solche militärischen Aktionen werden als „Krisenreaktionseinsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ schön geredet. Dabei kann es sich z.B. um ausgedehnte und lang anhaltende Luftbombardements wie im Krieg gegen Jugoslawien handeln. Zu den Risiken, die angeblich zu solchen »Krisenreaktionseinsätzen«, d.h. zum Krieg berechtigen, werden ausdrücklich gezählt: „ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten…“ Dass derart begründete militärische Aktionen nach geltendem Völkerrecht verboten sind, wird in dem Strategiebeschluss der NATO sorgfältig verschwiegen.

Inzwischen ist die EU dabei, nach dem Beispiel der NATO eine »Eingreiftruppe« aufzustellen. Auch hier handelt es sich nicht mehr um ein klassisches Verteidigungsbündnis gegen einen Angriff, sondern um eine völkerrechtswidrige Interventionstruppe, die im Interesse der EU eingesetzt werden soll, wenn diese das für nötig hält. Auch diese Eingreiftruppe soll unabhängig davon eingesetzt werden, ob ein bewaffneter Angriff oder ein Mandat des Sicherheitsrates vorliegt. Obgleich eigentlich durch das Grundgesetz gebunden, betätigt sich die Bundesregierung als treibende Kraft dieser Entwicklung. Nach dem Grundgesetz dient die Bundeswehr ausschließlich der Verteidigung. Deshalb hieß bislang der zuständige Minister Verteidigungsminister und nicht Eingreifminister. Es lässt sich weder mit dem Grundgesetz noch mit dem geltenden Völkerrecht rechtfertigen, dass die Bundeswehr von einer auf die Verteidigung orientierten Armee in eine militärische Einheit verwandelt wird, die als Eingreiftruppe in fremden Ländern eingesetzt werden kann, um Krisen zu bewältigen, die die EU oder NATO u.U. selbst herbeigeführt haben. Diese Umstellung ist Teil einer Politik der Neuordnung Europas und der Welt und sucht die geltende Völkerrechtsordnung, die auf der souveränen Gleichheit der Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruht, auszuhebeln.

Nun gibt es »Völkerrechtler« und natürlich Publizisten, die diese Abweichung vom geltenden Völkerrecht als moderne Entwicklung des Völkerrechts zu rechtfertigen versuchen. Sie behaupten, dass jede neue Regel unter Verletzung oder zumindest Veränderung, eben Weiterentwicklung des Rechts entstanden ist. Als typisches Beispiel der neueren Zeit wird dann auf die Entstehung der ökonomischen Zone im Seerecht verwiesen, durch die wesentliche Teile des freien Meeres der allgemeinen Nutzung entzogen wurden. Zweifellos entwickeln sich zahllose Regeln in und durch die Praxis weiter. Zu Regeln werden solche Praktiken aber erst dadurch, dass sie von den Beteiligten, das sind auch die Betroffenen, als Recht anerkannt werden. Eine Praxis, die die Aufhebung des Gewaltverbots oder der souveränen Gleichheit der Staaten beinhaltet, hat deshalb ebenso wenig wie die Wiedereinführung der Sklaverei schon von ihrem Gegenstand her eine Chance, die geltenden Regeln des Völkerrechts abzulösen. Solche Praktiken bleiben schwer wiegende Verletzungen grundlegender Prinzipien des gegenwärtigen Völkerrechts.

Ein Teil der Verwirrung, die z.Zt. systematisch genährt wird, hängt auch damit zusammen, dass man sich in der Frage der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte unter dem Druck der herrschenden Meinung weit gehend auf die Position des Neokolonialismus, der nur den internationalen Aspekt des Neoliberalismus beschreibt, eingelassen hat. Menschenrechte sind – so scheint es – zum zentralen internationalen Thema, zum eigentlichen Inhalt internationaler Politik geworden. Häufig wird der Schutz der Menschenrechte dem geltenden Völkerrecht gegenübergestellt, um so genannte humanitäre Interventionen zu rechtfertigen. „Der Begriff »Menschenrechte« taucht dabei interessanterweise besonders dann auf, wenn es um die Rechtfertigung von Krieg und Gewalt geht.“2 Außerdem ist fast immer, wenn von Menschenrechten die Rede ist, nur der kleine Sektor von Menschenrechten gemeint, der der Entfaltung des Privateigentums dient. Es wird so getan, als würde die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte von 1948 die Menschen nicht „als Personen betrachten, denen sowohl politische und bürgerliche Freiheiten als auch soziale, kulturelle und wirtschaftliche Rechte zustehen“ und davon ausgehen, dass „der Genuss der bürgerlichen und politischen Freiheiten und der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte miteinander untrennbar verbunden ist und ein seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte beraubter Mensch nicht eine Person ist, die die Deklaration als Ideal eines freien Mannes betrachtet.“3 Die Identifizierung der Menschenrechte mit der Wertegemeinschaft Marktwirtschaft bedeutet für immer größere Teile der Völker Minderung, oft sogar Verlust grundlegender Menschenrechte. Selbst das Recht auf Leben wird dem untergeordnet, was man daran sehen kann, dass – wie im Kosovo unter offener Verletzung des Gewaltverbots – sogar der Einsatz von Raketen, giftigen Urangeschossen und Bomben gegen wehrlose Zivilbevölkerung als Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte ausgegeben werden.Die Losung von der Universalität und dem Schutz der Menschenrechte wird unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft oft als ein Vehikel zur Rechtfertigung einer Interventionsordnung missbraucht, die die Existenz eines Weltrechts mit den Individuen als Subjekt vortäuscht, um die transnationale, sich über die Souveränität der Staaten hinwegsetzende Herrschaft des Privateigentums zu sichern. Obgleich in den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen vom Recht auf Privateigentum oder freie Marktwirtschaft nicht die Rede ist, geht es in der internationalen Menschenrechtsdebatte seit den 80er Jahren nicht mehr um die Rechte des Menschen, sondern um die Sicherung der Entfaltungsmöglichkeiten des Privateigentums und der so genannten freien Marktwirtschaft. Sie ist praktisch zum zentralen Menschenrecht und Kriterium von Demokratie erhoben worden, obgleich sie in keinem der Menschenrechtspakte vorkommt. „Menschenrechte werden schlicht mit kapitalistischer Marktwirtschaft und den sie kennzeichnenden politischen Herrschaftsverhältnissen identifiziert.“ (Joachim Hirsch) Immer offensichtlicher wird jedoch, dass zügellose, d.h. politisch nicht kontrollierte Marktwirtschaft die Demokratie aushöhlt und immer größere Teile des Volkes vom Genuss der Menschenrechte ausschließt. In dieser Ordnung der globalisierten Marktwirtschaft wird das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, frei über seinen politischen Status, seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung sowie seine natürlichen Reichtümer zu bestimmen, durch das Selbstbestimmungsrecht des Kapitals ersetzt. „Der Begriff Demokratie verliert so wichtige emanzipative Bedeutungen und wird zur Legitimation eines internationalen Regimes der ökonomisch-sozialen Apartheid.“ (Joachim Hirsch)

Wenn man Demokratie mit der derzeitigen westlichen Demokratie gleichsetzt und diese als Kriterium der Gewährleistung der Menschenrechte ausgibt, kann man jede politische Herrschaftsform, die den Versuch unternimmt, den Grundsatz »Eigentum verpflichtet« durchzusetzen, als mehr oder weniger schwere Menschenrechtsverletzung ausgeben, als Berechtigung zur Intervention, als Einsatzfall für die Eingreiftruppe missbrauchen. Indem Meinungs- und Pressefreiheit den Gesetzen der freien Marktwirtschaft, der Herrschaft des Privateigentums untergeordnet werden, werden diese Freiheiten nicht nur 80 % der Bevölkerung entzogen, sondern zugleich zum Instrument zur Manipulierung des Volkes degradiert. Die Qualität einer nationalen Regierung wird nicht mehr daran gemessen, was sie für das Wohlergehen des Volkes bewirkt, sondern wie wirksam sie gewährleistet, dass aus dem Volksvermögen die Zinsen des Kapitals gezahlt werden. Regierungen, die Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Volkes sein wollten und sollten, werden in immer mehr Ländern zu bloßen Bütteln von Gläubigern, zu Exekutivorganen des Internationalen Währungsfonds.

Wenn Menschenrechtsverletzungen als Grund, der Schutz der Menschenrechte als Rechtfertigung für einen Krieg ausgegeben werden, so ist das ein zynischer Etikettenschwindel, mit dem das Verhältnis von Gewaltverbot und Menschenrechten in sein Gegenteil verkehrt wird. Im geltenden Völkerrecht gibt es eine solche Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Gewalt nicht. Außerdem ist der Menschenrechtskatalog sehr umfänglich. Es gibt zahllose Menschenrechtsverletzungen der verschiedensten Art, gegen die unterschiedliche Reaktionen vorgesehen und möglich sind. Noch niemand ist auf die Idee gekommen, die Verursachung oder Existenz von Millionen Arbeitslosen, von Obdachlosen, Rassendiskriminierung, die Todesstrafe, die Verschleppung von Gerichtsverfahren usw. als Rechtfertigung für den Einsatz von Raketen und Bomben geltend zu machen. Selbst schwere Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen nicht den Einsatz militärischer Sanktionen, es sei denn sie nehmen die Dimension einer Friedensgefährdung an.

Vor allem aber sind das Gewaltverbot und die Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten selbst Menschenrechte, unveräußerliche Bestandteile des Rechts auf Leben. Förderung und Schutz der Menschenrechte lassen sich nicht von der Einhaltung und Durchsetzung des Gewaltverbots der UN-Charta trennen, zu seiner Aufhebung oder Umgehung nutzen. Schon 1982 hatte der Internationale Menschenrechtsausschuss, ein Organ des Menschenrechtspaktes für politische und Bürgerrechte, in seinem Kommentar zum Recht auf Leben erklärt: „Bereits in der Charta der Vereinten Nationen ist die Androhung oder Anwendung von Gewalt durch einen Staat gegen einen anderen Staat verboten, ausgenommen in Ausübung des unveräußerlichen Rechts auf Selbstverteidigung. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Staaten die oberste Pflicht haben, Kriege, Akte des Völkermords und andere Akte massenhafter Gewalt, die willkürlich Todesopfer fordern, zur verhindern. Jede Bemühung der Staaten zur Abwendung der Gefahr eines Krieges, insbesondere eines Atomkrieges, und zur Festigung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wäre die wichtigste Voraussetzung und Garantie für die Gewährleistung des Rechts auf Leben.“

Für den Fall, dass Menschenrechtsverletzungen zu einer Friedensbedrohung oder -verletzung werden, hat der Sicherheitsrat die Möglichkeit und die Aufgabe, das festzustellen und geeignete Maßnahmen einzuleiten. Auch dann handelt er nicht als Weltregierung sondern als Polizei, zur Sicherung oder Wiederherstellung des Friedens, damit die Betroffenen eine friedliche Lösung finden und vereinbaren können. Wenn jedoch die NATO oder einzelne Staaten für sich das Recht in Anspruch nehmen, ohne und gegebenenfalls gegen den Sicherheitsrat zu entscheiden, wann eine Krise oder ein Konflikt eine Dimension erreicht hat, die den Einsatz militärischer Mittel rechtfertigt, und auch noch zu oktroyieren, wie die Lösung des zugrundeliegenden Konflikts auszusehen hat, dann sind wir am Ende der geltenden Völkerrechtsordnung und an der Schwelle des 21. Jahrhunderts wieder im 19. Jahrhundert angelangt. Dann geht in den internationalen Beziehungen wieder Macht vor Recht. Statt von Neoliberalismus sollte man dann richtiger von Neoimperialismus sprechen.

Offensichtlich befindet sich auch die Entwicklung des Völkerrechts z. Zt. in einer Restaurationsperiode, in der versucht wird, die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzten Positionen wieder aufzuheben, zumindest aber aufzuweichen. In ihrem Kampf um Frieden und Gleichberechtigung haben die Völker – auch die ökonomisch schwachen Staaten – eine starke Position, weil sie sich in ihrem Kampf auf geltende Normen stützen können. Die weitere Entwicklung wird davon abhängen, dass sich das internationale Kräfteverhältnis verändert und es möglich wird, wesentliche Grundpositionen einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung einzuführen und durchzusetzen. Das setzt allerdings voraus, dass es gelingt, den transnationalen Monopolen Zügel anzulegen und ein Element sozialer Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen einzuführen.

Anmerkungen

1) Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, 5. Auflage 1997. München/Wien.

2) Joachim Hirsch, Die Globalisierung der Menschenrechte, Freitag, 19.01.01, S. 11.

3) Resolution 421E(V) der Generalversammlung, vom 4. 12. 1950.

Dr. Bernhard Gräfrath ist emeritierter Professor für Völkerrecht. Er war von 1977 bis 1986 Mitglied im UN-Menschenrechtsausschuss und von 1986 bis 1990 Mitglied der UN-Völkerrechtskommission.

Erinnerungen an drei deutsche Kriege

Erinnerungen an drei deutsche Kriege

von Elisa Kauffeld

Vor dem Ersten Weltkrieg geboren, im Zweiten Weltkrieg als Kriegerwitwe fast dauernd unterwegs und mit dem Überlebenskampf beschäftigt, im »Alter« eine der Aktiven in der Friedensbewegung. Elisa Kauffeld erinnert sich, schildert ihre Kriegseindrücke und bezieht Position – auch zum letzten der Kriege mit deutscher Beteiligung in diesem Jahrhundert.

Im Jahre 1913 geboren, kann ich mich natürlich nicht an den Kriegsbeginn 1914 erinnern aber an Einiges aus der Zeit des Krieges. Wir lebten nahe der französischen Grenze, in Königsfeld/Schwarzwald, und es gehört zu meinen allerersten Erinnerungen, dass ich schon als kleines Kind zum Sammeln von Trockenholz und auf die weiten Wege zum Milch holen mitgenommen wurde, dass wir statt elektrischem Licht eine Petroleumlampe hatten. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter ihre goldene Halskette abgegeben hatte und stolz eine blecherne mit kleinen Plättchen trug, auf denen stand: „Gold gab ich für Eisen hin.“ Der eigentliche Sinn ist mir erst viel später klar geworden: Schon 1870/71 machte Krupp mit Kanonen die besten Geschäfte.

Großmutter arrangierte im Sommer – es muss 1916 oder 1917 gewesen sein – Nachmittage, an denen Verwundete mit Kaffee und Kuchen, auch mit Hausmusik (von Hand, Konserve gab es noch nicht) erfreut wurden. Abgesehen von dem wenig angenehmen Geruch, den die Soldaten verbreiteten, erinnere ich mich gut an die humpelnden Gestalten, oft mit durchgebluteten Verbänden. Großmutter hatte einen französischen Kriegsgefangenen, der im Garten half. Ich mochte ihn gern leiden, seine fremde Sprache und sein oft hilfloses Lächeln. Ich nannte ihn »Kä-ssi-ssi-ssa«, denn immerzu fragte er „qu'est-ce que c'est que ça?“

Nein, auch nicht vergessen kann ich die mondhellen Nächte, wenn wir angezogen ins Bett gehen mussten, weil französische Flieger erwartet wurden. Wie oft bibberte ich vor Angst und durfte es doch nicht zugeben: „Denk doch an die tapferen Soldaten.“

Eines Tages bekam die Großmama Nachricht, dass ihr ältester Sohn „auf dem Felde der Ehre für's Vaterland“ gefallen sei. Verweinte Gesichter, schwarze Kleidung, ich durfte nicht mehr laut reden und schon gar nicht laut lachen. Alles war plötzlich anders geworden, die großen Geschwister schoben mich zur Seite, du bist noch zu klein, das verstehst du nicht. Nein, ich verstand wirklich nicht was das hieß, „für's Vaterland gefallen“? War er jetzt vielleicht auch einer von den schlecht riechenden Soldaten? Warum kam er nicht einfach nach Hause, wenn er doch nur »gefallen« war?.

Im April 1918 kam mein Vater aus britischer Gefangenschaft nach Deutschland zurück. Vier Jahre lang war er – wie er es selbst immer nannte – Gast von King George. Als Überseekaufmann lebte er mit der Familie viele Jahre in Burma, kam 1911 nach London, wo ich 1913 geboren wurde. Er wurde bei Kriegsbeginn interniert, während meine Mutter mit uns vier Kindern ausgewiesen wurde. Jetzt gehörte dieser fremde Mann zur Familie. Ich besah ihn sehr genau. Bis dahin kannte ich nur Soldaten und den Kä-ssi-ssi-ssa. Das Wort »Vater« war für mich fremd. Aber abends gab es einen Gute-Nacht-Kuss und dieser Vater hatte einen kitzelnden Bart. Ich fing an, ihn zu mögen.

Zweiter Weltkrieg

Den Kriegsbeginn 1939 erlebte ich in Spanien. Vor meiner Heirat war ich die erste Stewardess bei der Lufthansa. Mein Mann, gebürtiger Danziger, war Pilot – ebenfalls bei der Lufthansa. Er wurde zum Aufbau der spanischen Luftfahrtgesellschaft Iberia nach Spanien versetzt. So kam es, dass uns am 1. September 1939 die Nachricht vom Kriegsbeginn in Barcelona erreichte. Ich war schwanger und wir erinnerten uns beide an den Ersten Weltkrieg. In Spanien hatten wir zwar etwas von den Folgen des Bürgerkrieges gesehen, aber am eigenen Leib erfahren hatten wir den Krieg nicht.

Im Juni 1940 flog ich nach Bremen zu meinen Eltern. Ich benutzte kriegsbedingt die letzte Maschine über Rom, Zürich, München. Wie hatte Deutschland sich verändert! Überall Soldaten.

Und dann Bremen! Vor den Fenstern meines Elternhauses standen in etwa 30 cm Abstand große, mit Sand gefüllte Kisten als Bombenschutz. Im Keller war ein Raum, mit dicken Holzpfeilern abgestützt, als Luftschutzraum hergerichtet. Immer wieder bekam ich zu hören: „Wenn Du in Dein Zimmer gehst, vergiss die Verdunkelung nicht!“ Wie wichtig das war, musste ich erst noch lernen. Kaum war ich ein paar Tage zu Hause, ging nachts die Sirene. Die ganze Familie traf sich auf dem Flur und folgte den Radionachrichten (aus dem »Volksempfänger«). Ja, es waren einige Bomben gefallen, aber in einem anderen Stadtteil und es war zum Glück niemand zu Schaden gekommen.

Ich hatte sehr viel damit zu tun, Windeln, Hemdchen und was sonst so benötigt wird, für mein Baby zu nähen. Es gab ja nichts zu kaufen und da ich aus dem Ausland kam, hatte ich sowieso keine »Marken«. Von einem Arzt bekam ich einen ganzen Ballen Verbandmull, ca 80 cm breit, davon nähte ich Windeln. Aus alter Unterwäsche entstanden Hemdchen und aus Barcelona hatte ich Wolle mitgebracht. Meine Mutter nähte aus altem Bettzeug, was man für das erste Bettchen braucht.

Am 20. August 1940 bekam ich mein erstes Kind zu Hause. Aber mitten im Geburtsvorgang – das Kind hing noch an der Nabelschnur – mussten wir in den Keller: Die Sirenen kündigten einen Bombenangriff an. Zu aller Freude über das Baby kamen jetzt immer mehr Bombenangriffe, sodass wir keine Nacht mehr durchschlafen konnten. Schließlich machten meine Eltern sich große Sorgen und schickten mich nach Danzig (heute Gdansk) zu meiner Schwiegermutter. Da herrschte noch »tiefster Frieden« und es hätte schön sein können, aber ich hatte keine Wohnung und bei der Schwiegermutter mitten in der Altstadt war es auf Dauer zu eng. So fuhr ich mit unserem Kind in Deutschland hin und her, um meinen Mann zu treffen, der inzwischen als Soldat bei der Luftwaffe mal im Westen und mal im Osten eingesetzt war.

Wir trafen uns in Göttingen, glaube ich, als unser Hotel bombardiert wurde. Einige Menschen knieten nieder und beteten, andere fingen an zu singen, zu weinen, zu heulen, zu schreien, manche bekamen Platzangst und wollten unbedingt raus. Mitten dazwischen mein kleines Kind auf meinem Schoss! Aber schließlich ging auch dieser Alarm zu Ende. Der Anblick draußen war unvergesslich: Glasscherben über Glasscherben. Es war ja ein modernes Hotel.

Ein anderes Mal trafen wir uns in Straßburg und dann wieder in Ostpreußen. Im Oktober 1942 wohnte ich mit Sohn und Mann vorübergehend in Rathenow an der Havel. Mein Mann hatte nur wenig Dienst, weil sein Flieger, eine Heinkel, in der Werft war und einen neuen Motor bekam. Wir genossen das Verheiratet sein. Am 14. November hatte ich unseren Sohn zu Bett gebracht und wunderte mich, dass mein Mann noch nicht zu Hause war. Als es klingelte wollte ich loslaufen um zu öffnen, aber eine seltsame Kraft hieß mich sitzen zu bleiben. Dann hörte ich fremde Stimmen und dann Hacken zusammenschlagen, ein Mann in Uniform schnarrte: „Ihr Mann ist heute auf dem Felde der Ehre für's Vaterland gefallen. Sie sollten stolz auf ihn sein.“

Von jetzt ab lebte ich für unser Kind, aber ich konnte nicht weinen. Es war wohl ein drei viertel Jahr später, ich wohnte bei meiner Schwester in der Nähe Stettins, da kam unverhofft ihr Mann von der Front auf Kurzurlaub. Diese Begegnung löste den Krampf in mir und das Weinen von vielen Monaten kam heraus.

Ich hatte ja noch immer keine Wohnung, darum fuhr ich nach Danzig um das Unmögliche zu versuchen und dort bekam ich den Luxus, den kaum jemand zu träumen gewagt hatte: eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Balkon und sogar mit einem Stückchen Garten.

Ein Bekannter von früher kam öfter auf Fronturlaub. Einmal brachte er ein Huhn mit das, auf dem Balkon mit einem Bein an ein Stuhlbein gebunden, brav jeden Tag ein Ei ablieferte. Ein andermal organisierte er ein paar Angorakaninchen. Im Oktober 1944 heiratete ich zum zweiten Mal, eben diesen »provider«.

Der Winter 1944/45 war geprägt von Versuchen, irgendwie in den Westen zu kommen. Ein Soldatenpfarrer besorgte mir einen Platz auf der »Wilhelm Gustloff«, ursprünglich ein K.d.F. (Kraft durch Freude)-Dampfer, jetzt Flüchtlingsschiff nach Schweden. Doch als ich mich mit Sohn und Gepäck an der Pier einfand, lachte der Mann an der Sperre mich nur aus: „Ja, da könnt ja jeder kommen.“ Ein paar Tage später war ich sehr froh, dass das nicht geklappt hatte: Tausende Menschen ertranken, als das Schiff von einem Torpedo getroffen wurde.

Zweimal versuchte ich es mit der Bahn, zweimal ging auch das daneben. Schließlich sagte ich mir, auch Russinnen lieben ihre Kinder, vielleicht sind die Greuel, die über die Sowjets erzählt werden, nur Märchen. So beruhigte ich mich und es kam das Frühjahr 1945.

Es war Februar, ich wohnte in Langfuhr im Westen von Danzig, da konnte man die »Stalinorgeln« im Osten hören. Viele Bekannte hatten den Absprung in den Westen geschafft. Am Flughafen traf ich einen bekannten Flugkapitän von der Lufthansa. Er sollte eine defekte Maschine nach Berlin bringen. Ich war zum zweiten Mal schwanger und konnte ihn überreden, uns mitzunehmen. Ich musste nur das Luftschutzgepäck zu Hause holen, die Wohnung abschließen, die Kaninchen- und Hühnerställe öffnen, damit die Tiere nicht verhungerten.

Nun flog ich wieder einmal nach Berlin, nach knapp fünf Jahren. Es war zwar eine viermotorige Maschine, aber einer der Motoren war ausgefallen und einem anderen musste ich während des ganzen Fluges Treibstoff zu pumpen. Wir schafften es aber, Berlin zu erreichen. Berlin war zu dieser Zeit jeden Abend Ziel der US-amerikanischen Bomber. Da wurden Züge voller Menschen einfach aus den Bahnhöfen herausgefahren. Wenn der Angriff vorbei war, kamen sie zurück. Wir fuhren nach Stettin, wo wir im Bahnhofsbunker übernachten mussten. Das waren riesige Hallen, überfüllt mit Menschen jeden Alters, hauptsächlich Frauen mit Kindern, alle Flüchtlinge, aber auch Soldaten. Die meisten waren schon lange unterwegs, niemand hatte Gelegenheit gehabt, sich selbst oder die Wäsche zu waschen. Es stank und ich wollte lieber draußen übernachten, doch da heulten die Sirenen und Schutz war wichtiger als gute Luft.

Noch eine Erfahrung machte ich in diesem Bunker: Wenn du nichts mehr hast, dann sind ein Paar Stiefel, ein Wintermantel dein Kapital. Und eben darauf hatten es andere die noch weniger besaßen abgesehen. Alles, wirklich alles mussten wir irgendwie an uns festbinden.

Später ging es nach Pölitz, wo mein Mann zur Fliegerabwehr eingesetzt war, und nach ein paar Wochen dann zurück nach Berlin. Als hier wieder einmal die Sirenen heulten, kam der Angriff viel schneller als vorauszusehen war. Wir kamen nicht mehr in den Bunker. So nahm ich mein Kind auf den Arm und stellte mich auf eine Türschwelle, das heißt unter einen verstärkten Türsturz. Wir hörten mehrere auf einander folgende Einschläge, dann einen unbeschreiblichen Krach, als wollte die Welt untergehen. Als sich der Qualm und der Staub endlich gelegt hatten, sah ich in einiger Entfernung weiße Gardinen aus einem Fenster wehen, davor waren vorher Häuserfronten!

Mich hielt nichts mehr, ich wollte nach Bremen. Zwar wusste ich von den Dauerangriffen auf die Stadt, aber »zu Hause« war sicher alles besser zu ertragen. Bremen hatte sich in kaum vorstellbarer Weise verändert. Das Elternhaus stand noch, aber ringsherum Ruinen, Trümmer und Lücken. Wenn wir das Haus verließen, mussten wir Deckung suchen. Die Briten, die sich auf der anderen Weserseite befanden, schossen auf alles was sich bewegte. Im April 1945 waren mein Sohn und ich zu einer Art siamesischer Zwillinge geworden: Wir aßen, schliefen, taten alles gemeinsam.

So kam der Mai 1945. Nach Flugzeuglärm, Bombeneinschlägen, Granatfeuer plötzliche Stille. Bremen war eingenommen! Das einzige intakte Haus, das meines Vaters, wurde beschlagnahmt um darin ein Lazarett einzurichten. Wir fanden Unterschlupf in einer Ruine und ich wurde von den Briten mehrfach zum Dolmetschen geholt. Doch eines Tages änderte sich die Stimmung. Ich wurde festgenommen und in unserem eigenen Wohnzimmer streng bewacht. Ich hatte keine Ahnung, was das alles bedeutete, als zwei Offiziere eine Pistole auf den Tisch warfen, die sie bei der Durchsuchung unseres Hauses und Gartens gefunden hatten – wem diese gehörte, das wurde nie wirklich herausgefunden. Sie herrschten mich an: „Stand up! That's yours, you are a spy!“ „Dies ist ein Kriegsgericht und auf Spionage steht Erschießen.“

Was diese Männer da sagten, war so außerhalb meines Denkens, dass ich es kaum begriff. Aber es war wirklich tödlicher Ernst. Da fiel mir mein Bauch ein. „Sie dürfen mein Kind nicht mit mir erschießen, ich bin schwanger.“ Das war's! Nach ein paar Stunden »Gefangenschaft« in unserer Waschküche konnte ich nach Hause gehen, in die Ruine.

Zeit zur Gegenwehr

Die Nachkriegsjahre waren ausgefüllt mit dem Kampf um Lebensmittel und Brennstoff. Kaufen konnte man nur auf Marken und das war wirklich nur eben an der Überlebensgrenze. Ich hatte drei kleine Kinder, die Nahrung, Kleidung und ein halbwegs warmes Zimmer brauchten. Politik machten andere, meine ganze Kraft gehörte der Familie.

34 Jahre vergingen, ehe ich anfing, mich zu wehren. 1979, als die Debatte um die Aufstellung der Pershing II begann, gründeten wir mit einigen Gleichgesinnten die Friedens-Initiative Jever/Schortens1, die anfangs zu den Sitzungen regelmäßig Besuch vom MAD hatte. Da mich keine Berufszwänge mehr plagten, wurde mein Name überall als Kontaktadresse angegeben und in kurzer Zeit war ich »erfasst«. Big brother knackte bei Telefongesprächen und ich bekam Anrufe der Art, „ich solle doch nach Moskau gehen, woher ich denn Geld bekäme“, bis hin zu Morddrohungen. Andererseits hatte ich nun Freunde und Freundinnen wie nie vorher im Leben.

In vielen Aktionen versuchten wir, über Massenvernichtungsmittel, Atombombentests und ungerechtfertigte Kriegseinsätze zu informieren. Wir veranstalteten Schweigekreise, Straßentheater, Infostände, sammelten Geld z.B. für »Ärzte ohne Grenzen«, demonstrierten vor dem hiesigen NATO-Flugplatz und vieles anderes.

Die SeniorInnenblockade in Mutlangen gegen die dort stationierten Pershing II am 28.und 29. April 1986, zwei Tage nach der Katastrophe von Tschernobyl, wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Von da ab blockierte ich die Zufahrten zu Massenvernichtungswaffenlagern, protestierte gegen Atombombentests: viele Male in Mutlangen, in Ludwigswinkel, in Bonn vor den Botschaften der USA, Chinas und Frankreichs, zuletzt in Büchel/Eifel gegen die dort lagernden Atombomben. Auch in Gorleben stand ich viele Male quer gegen die Atomenergie.

Zu Beginn der 90er-Jahre stellte ich eine Wanderausstellung gegen die entsetzlichen Atombombentests auf der Welt zusammen. Alle Testgebiete wurden vorgestellt, die Folgen mit Fotos aus dem Dispensarium in Alma Ata, Kasachstan, gezeigt und der Widerstand dagegen deutlich gemacht. 1995 sammelte ich 10.555 Unterschriften gegen die Atomenergie in ganz Deutschland. Mit zwei Freundinnen brachte ich das Paket in den Bundestag. Je eine Frau der verschiedenen Fraktionen CDU, SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen und wir drei Frauen aus verschiedenen Bundesländern, alte und neue, aus drei verschiedenen Generationen trafen uns dort im November 1996. Die FDP zog es vor, diesen Termin zu vergessen. 1997 übersetzte ich das Buch »Moruroa et nous« (»Moruroa und Wir«) ins Deutsche.2

Zwischendurch schlug ich mich mit den Gerichten herum, mit denen ich wegen meiner »Straftaten« zu tun hatte. In meinen Verteidigungsreden lernte ich, die Kriegserlebnisse aufzuarbeiten. Ich lernte über Dinge zu sprechen, die ich tief im Innern vergraben hatte um sie nicht wieder vor Augen zu haben. Ich lernte zu begreifen, dass etwas bewegt werden kann, wenn wir Alten reden.

Fast 80 Jahre war ich, als ich 20 Stunden gemeinnützige Arbeit ableistete anstatt eine Geldstrafe zu zahlen. Ich tat es als Öffentlichkeitsarbeit. Am 8. August 1997 beging ich meine bis jetzt letzte »Straftat«. Mit einer Gruppe junger Leute, meiner »Wahlfamilie«, von der GAAA (Gewaltfreie Aktion Atombomben Abschaffen) drangen wir in das Atomwaffenlager in Büchel ein. Mit großen Transparenten und Flötenmusik erwarteten wir unsere Festnahme. 20 Minuten lang spazierten wir ungehindert durch das ach so gut gesicherte Gelände! Der Amtsrichter in Cochem hatte dafür natürlich kein Verständnis, auch nicht der Richter am Landgericht Koblenz. Das Urteil: 20 Tagessätze à 20,- DM (Rentnerin im unteren Bereich).

Drei Kriege gegen Serbien

Am 24. März 1999 griff Deutschland zum dritten Mal in diesem Jahrhundert Serbien an. Nachdem 1914 serbische Nationalisten den österreichisch-ungarischen Thronfolger ermordet hatten, wurde Serbien zum ersten Mal von Deutschland angegriffen und weitgehend zerstört. Weil Jugoslawien sich nicht in die Kriegspläne Adolf Hitlers einfügen wollte, wurde es im April 1941 zum zweiten Mal von Deutschland angegriffen und zur Kapitulation gezwungen. Furchtbare Greuel wurden an der serbischen Bevölkerung begangen. Im dritten Krieg nahm die deutsche Luftwaffe gemeinsam mit den USA und anderen NATO-Staaten wieder Ziele in Serbien unter Beschuss. Im Namen der Menschenrechte wurden Menschen getötet und Hass gesät, unter einer rot-grünen Regierung, von der ich zutiefst enttäuscht worden bin. Am Ende dieses Jahrhunderts, in dem die furchtbarsten Kriege von deutschem Boden ausgingen, bin ich entsetzt, wie bereitwillig deutsche PolitikerInnen wieder Krieg führen.

Als ich während des Kosovo-Krieges im Mai beim Internationalen Friedensappell in Den Haag war, fiel mir das erste Bild von unserem ganzen Planeten ein, einem blau-grünen Edelstein, eingebettet in die weite Schwärze des Weltalls, kostbar und zerstörbar. Wenn nicht jede und jeder von uns die Verantwortung für die Menschenrechte übernimmt, statt sie an das Militär zu delegieren, wird diese Welt kein friedvoller Ort werden.

Anmerkungen

1) Die Arbeit der Friedens-Initiative Jever/Schortens wurde 1997 aus Anlass ihres 18-jährigen Bestehens in einer Broschüre dokumentiert.

2) Das Buch »Mururoa und Wir« ist über die Autorin zu beziehen

Elisa Kauffeld lebt in Schortens bei Wilhelmshaven.

Von Suttner zu Orwell

Von Suttner zu Orwell

Oder: Nennen wir den Krieg Frieden

von Gerhard Zwerenz

Für ihr Buch »Die Waffen nieder« erhielt Bertha von Suttner 1905 den Friedensnobelpreis. Als sie neun Jahre später starb, steuerte Deutschland auf den Ersten Weltkrieg zu und Felix Dahn dichtete: Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen! Wo Männer fechten hat das Weib zu schweigen!“
Gerhard Zwerenz über das Jahrhundert, an dessen Beginn eine erste internationale Friedenskonferenz stand, das durch zwei Weltkriege gezeichnet wurde und an dessen Ende wieder einmal Deutschland Krieg führte.

Im August, im August blüh' n die Rosen… Im August 1914 blühten die Kanonen. Pünktlich am 1.8. erklärte Deutschland Russland den Krieg. Am 3.8. folgte die Kriegserklärung an Frankreich. Am 4.8. sagte WiIhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Dankbar bewilligte der Reichstag sofort einstimmig die Kriegskredite. Motto: Nach innen Burgfrieden – nach außen Eroberungskrieg. Das Volk von 1914 jubelte. Vermochte auch nur eine oder einer sich vorzustellen was vier Jahre später, 1918, geschehen würde? Blinde patriotische Leidenschaft und vollkommene Ahnungslosigkeit Richtung Zukunft bestimmen den Zeitgeist.

Begann der l. Weltkrieg am 1. August, verlegte Hitler den Beginn des Nachfolgekrieges 1939 auf den 1. September, vermied jedoch in seiner Rundfunkansprache um 10 Uhr das Wort Krieg, denn die Deutschen jubeln diesmal nicht. Hat Schaden klug gemacht? Ergriff das Volk eine Ahnung davon was ihm blühte? Ließ der September 1939 klarer blicken als der August 1914?

Wenn ja, war die Klarsicht von kurzer Dauer: Schon am 27. 9. kapitulierte Warschau, ein knapper Monat September genügte für den großen Sieg, das Volk der Deutschen holte den unterlassenen Jubel umgehend nach – 1914 war es der Jubel des aggressiven Übermuts, fehlender Information und kritischer Selbsteinschätzung gewesen, jetzt verloren die Menschen im Siegesrausch ihre Ängste.

Ab 1943 blieben die Siege aus. Am 18.2. 1943 fragte Goebbels im Sportpalast: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Das versammelte Volk bejahte berauscht. Es folgten totaler Luftkrieg, totaler Rückzug und die Endniederlage vom 8. Mai 1945.

Der ausbleibende Jubel vom 1. September gründete nicht in bösen Vorahnungen, sondern in unguten Erinnerungen an 1914-1918. Seither waren erst zwei Jahrzehnte vergangen. Erinnerte Erfahrung ängstigte das Volk, nicht begründete, reale Zukunftsangst. Erschaudernd blickte es zurück, nicht voran. Ist das Kommende etwa stets unbekannt und verriegelt? Hatte auch nur einer am ersten Neujahrstag, mit dem das 20. Jahrhundert begann, einen blassen Schimmer von dem, was bevorstand? Ahnte einer der Militärs, die 1914 die deutschen Armeen befehligten, was der baldige Übergang vom Bewegungskrieg zum Stellungskrieg bedeutete? Konnte sich jemand 1918 die Geschehnisse von 1933, 1939, 1945 vorstellen? Sah einer im Mai 1945 voraus, dass Hitlers geschlagene Generäle kein Jahrzehnt später ein neues deutsches Heer aufstellen würden? Wer vermutete 1945, dass die siegreiche Sowjetarmee ab 1990 in schwächliche Restbestände zerfiele? Wer hätte 1989/90 geglaubt, ein Jahrzehnt später zählten deutsche Soldaten zu den Besiegern und Besetzern Jugoslawiens, dieser Siegernation von 1945 – ganz wie die Sowjetunion?

Nietzsche starb, nur 55 Jahre alt, am 25. August 1900 – er hätte hervorragend ins 20. Jahrhundert gepasst mit seiner herrenhaften Enthemmungsphilosophie. Auch der Dionysiker erfasste nicht, was da nahte, sonst wäre er geblieben. Vielleicht bewahrte ihn der gnädige Irrsinn, der ihn besetzt hielt, vor dem analytischen Blick ins anbrechende Jahrhundert.

Die Weltkriegsanfänge vom 1. August 1914 und 1. September 1939 bezeugen, dass eine Institution nicht zukunftsblind blieb: Seit 1905 lag der Schlieffen-Plan vor, den Deutschland 1914 in leicht modifizierter Weise zu realisieren versuchte, was den deutschen Militärs künftiges Verhalten diktierte, vom Angriff 1914 bis zur Niederlage 1918. Von jetzt an verwirklichten die Kriegsgegner ihre Ziele, inklusive Vertrag von Versailles. Im Wiederholungskrieg ab 1939 betrieb dann das faschistische Dritte Reich die Umsetzung seiner Zukunftsvisionen, wobei es auf die Planungen der Reichswehr zurückgreifen konnte, denn das Szenarium für Wiederaufrüstung und Revanchekrieg war insgeheim und bis ins Detail schon zu frühen Zeiten der Weimarer Republik ausgearbeitet worden. Zwar besitzen die Militärs, wie wir sehen, auch nicht die Fähigkeit der Vorausschau, doch greifen sie strategisch, taktisch und rüstungstechnisch vor und produzieren damit die ihnen gemäße Zukunft wie die Spinne, die einen Faden hinter sich lässt, den sie fleißig verwebt, auf dass darin die Opfer sich fangen. Fragt sich nur, wer Spinne ist und wer gefangen wird.

Das Modell büßte 1945 seine Vorbildfunktion und Wirksamkeit keineswegs ein. Wobei zwei Phasen deutlich zu unterscheiden sind: Phase a läuft durchweg streng geheim, mindestens intern und getarnt ab. Phase b, die Realisation, tritt dann plötzlich und überraschend zu Tage, die Öffentlichkeit staunt, reagiert begeistert, ungläubig oder entsetzt. Doch der Fall ist nun unübersehbar in der Welt und der August 1914 wie der September 1939 waren solche Geschichtsphasen. Nach kürzerer oder längerer Inkubationszeit ist das Ei geborsten und der alte Krieger neu geboren.

1914 brauste ihm ein Ruf wie Donnerhall entgegen. 1939 blieb das Volk in erinnerter Erfahrung befangen still – der Siegesjubel folgte später um so lauter. Am 24. März 1999 rieb das Volk sich wieder mal erstaunt die Augen: Bomben auf Jugoland? Man befand sich doch gar nicht in den Erntemonaten August/ September. Musste denn schon wieder gesiegt werden?

Die Oberen versicherten den Verunsicherten, diesmal sei man auf der Seite der Morallegitimierten und Stärkeren und könne gar nichts anderes als siegen. In der Tat hatten die Generäle vorsorgend wie immer Zukunft produziert.

Der Krieg ab 1. August 1914 war vom deutschen Generalstab und vom lieben Gott exakt terminiert worden: Die einheimische Landwirtschaft konnte die Felder noch in aller Ruhe abernten, die Feindfeldereien in Luxemburg, Belgien, Frankreich wurden bei reifenden Halmen in Besitz genommen – von Ostpreußen abgesehen, hier störten die eindringenden russischen Barbaren die Einbringung der Frucht. So kam es zur Schlacht von Tannenberg – seither ernteten von Hindenburg und von Ludendorff auf russisch-polnischer Scholle. Ihr Nachfolger als Oberbefehlshaber deutscher Soldaten wartete 1939 das Erntefest ab. So war die Scheuer daheim gut gefüllt als er aufbrach, die gut gefüllte polnische Scheuer einzusacken. Derart gestaltete sich des einen August zum September des anderen. Liebhaber von Spätsommer/Frühherbst waren beide, doch der September-Fan wandte bald seine ganze Liebe dem Juni zu. Wie vor ihm Napoleon fiel er an einem 22. Juni nach Russland ein – mit der erklärten Absicht, in der Ukraine, auf der Krim und bis zum Kaukasus hin die goldenen Weizenfelder abzuernten, woraus sich ergibt, dass er die beiden Monate zu seinen Favoriten erkor. Allerdings hatte der »Führer« ursprünglich nicht wie Bonaparte am 22. Juni losschlagen wollen, sondern 2-3 Wochen früher, da kamen ihm die JugoslawInnen in die Quere indem sie Revolution spielten. Belgrad wurde gebombt und kapitulierte nach 11 Tagen, 4 Tage später gab das besetzte Griechenland auf. Nochmal 12 Tage brauchte es zur Eroberung Kretas. Alles im Lot, nur musste der Beginn des Russlandfeldzuges verschoben werden. Das machte nichts, meinen die Militärhistoriker, allerdings fehlten die Tage dann im Herbst, der in Russland schon als Winter auftritt. Statt dass die Wehrmacht in der Ukraine erntete, senste General Winter erst auf riesigen Schlamm- , dann auf Schneefeldern herum. Also: Wer nach Moskau, Leningrad, Stalingrad marschieren will, darf nicht erst an einem 22. Juni aufbrechen, da hat er sich bereits uneinholbar verspätet. Das sind so eherne Kalenderfragen. Die Wehrmacht, die am 6. April 1941 gegen Jugoslawien losschlug, befand sich bereits jetzt in einem nicht wieder gutzumachenden Rückstand, was zu erkennen heutzutage nicht schwer fällt und was gewiss einer der guten Gründe dafür ist, dass die NATO schon am 24. März 1999 Jugoslawien zu bomben begann. Weil: Wer den Endsieg unbedingt erringen will, der muss einfach früh genug damit beginnen.

Die heutigen Feldherren und PolitikerInnen entstammen nicht mehr Landadel, Rinderherden-Schweinemassen- Schlächtern. Unsere westliche Wertegemeinschaft ist im kulturellen Fortgang verstädtert. Als Blüten des Asphaltdschungels jener Mega-Stadt, die von Bonn bis Berlin und Passau bis Kiel reicht, wissen diese modernen Machtübernahmemenschen gar nicht mehr, wie vaterländisch sich gute Feldkrume unter der Stiefelsohle anschmiegt. So kommt es zu den kalendarischen Verschiebungen, die den klassischen Erntemonaten August und September nicht mehr die frühere Bedeutung zubilligen. Die Kriege fangen früher im Jahr an, dafür hören sie auch nie mehr auf. Notfalls wird eine kurze Pause eingelegt, damit die Rüstungsindustrie Zeit zum Aufholen gewinnt. Auch hat das Abernten der Felder nicht mehr die einstige Bedeutung. An Fress- und Saufwaren ist schließlich kein Mangel. Kompliziert ist lediglich die Verteilung, weil garantiert bleiben muss, dass wir immer genug kriegen und die anderen hinreichend Not leiden. Sonst verfallen zu viele auf dumme Gedanken und zwingen uns, den nächsten Krieg schon Neujahr zu beginnen, während der vorige erst zu Silvester beendet wurde.

Hitlers frühe Juni-Planung für den Überfall auf die Sowjetunion resultierte füglich aus der militärmetereologischen Einsicht, dass August/September diesmal zu spät wären. Die Verzögerungen wegen der widerspenstigen JugoslawInnen, die das Losschlagen gegen Moskau auf den 22. Juni verschieben ließen, rächten sich im Winter vor Moskau, als der siegreichen Wehrmacht der Arsch abfror.

Allerdings berichten die Soldaten der Panzertruppen, die im Sommer durch Weißrussland, die Ukraine und das weite Russland vorausstürmten, von unendlich großen berauschenden Weizenfeldern und Kornkammern, die sie stahlhelmbedeckt durchquerten. Die Erntemonate Juli/August wurden zu brausenden Siegesfeiern im Expresskrieg. Auch der September, an dessen 1. Tag der Überfall auf Polen zwei Jahre zurücklag, erwies sich noch als so wetter- wie kreuzzugsgünstig. Im Oktober freilich kam es zu Verfinsterungen, im November fuhr die launische Kriegsgöttin Schlitten und im Dezember gab es gefrorene Wehrmachts-Kadaver sowie einen Rückzug in Eis und Schnee à la Napoleon.

Im SPIEGEL Nr. 25/99 äußert Rudolf Augstein sich zum Buch »Der falsche Krieg« des 35jährigen Oxford-Professors Niall Ferguson, der die kühne, aber nicht uninteressante These vertritt, die Briten hätten 1914 nicht gegen Deutschland antreten müssen. Augstein ist anderer Ansicht und stapelt die alten geläufigen Schul-Argumente auf, wonach die Kollision unvermeidbar gewesen sei. Nichts davon kann Ferguson unbekannt geblieben sein und beide Seiten haben wahrscheinlich Recht, indem sie die kontroversen Fakten in ihrer jeweiligen Sicht ordnen und gegeneinander in Stellung bringen. Unerörtert bleibt, weshalb sowohl die deutschen wie die britischen Politiker 1914 den Zwängen nachgebend in den Krieg eintraten, was, wenn es als alternativlos gelten sollte, auf eine durchgängige Abwesenheit von Entscheidungsfreiheit schließen ließe. Geschichte ist dann bloßer blinder, blindmachender Zwang, d. h. Abwesenheit von jeder Kultur. Nun interpretiert Augstein seit Jahrzehnten Buchprodukte zu den Themen Jesus, Napoleon, Bismarck, Erster und Zweiter Weltkrieg, und die Historikergilde übt sich in freundlichen Leserbriefen oder schweigender Distanz. Verbindendes Glied aller ist die obligatorische Freiheitsleugnung der Geschichtswissenschaft. Setzten doch bürgerlich-orthodoxe wie marxistische HistorikerInnen die Mär von den „zu früh gekommenen Revolutionären“ in die ungelüfteten Stuben ihrer Hochschulwelt. Die unter disziplinösen Zwängen lebenden LehrerInnen kennen nur erzwungene Geschichtsabläufe, denn als Produkten der verordneten Unfreiheit fehlt ihnen die Vorstellung, ein realer Revolutionär könne nicht an seiner Verfrühung scheitern, jedoch an der Verspätung des vorhandenen Milieus. Nicht Marx/Engels existierten zu früh, sondern die 1848er kamen zu spät. Nicht Luxemburg/Liebknecht waren den Verhältnissen weit voraus, sondern Hindenburg/Ludendorff/Ebert/Noske gehörten in die Eiszeit. Um zu Augstein zurückzukehren, die kriegführenden Briten und Deutschen waren 1914 schlechthin nationale Dinosaurier und diese Spezies starb nie aus. Jeder Krieger des 20. Jahrhunderts zählt zu den groben Knochen der menschlichen Vorgeschichte, die von den stupiden braven ZeithistorikerInnen in den Himmel gehoben werden statt sie wenigstens interpretatorisch zur Hölle fahren zu lassen.

Notabene: Kein Kriegsheld ist alternativlos. Jeder entscheidet sich freien Willens zur Unfreiheit. Kein Krieg ist Zwangsvollzug. Jeder vermeidbar. Die promovierten ClaqueurInnen des verstaatlichten Zeitgeistes sehen überall nichts als folgerichtige Notwendigkeit, für sie passt wie der Deckel auf den Topf der Satz: „Die Deutschen befinden sich nur einmal in Gesellschaft der Freiheit. Am Tage ihrer Beerdigung.“ Das stammt allerdings von Karl Marx, der den Deutschen die Entscheidungsfreiheit nicht abspricht, ihren Hang zur Unfreiheit nur sarkastisch notiert. Dabei ist, nebenbei bemerkt, zwischen links und rechts kein Unterschied, ganz wie zwischen den Monaten März, Juni, August, September, wenn sie im Zeichen von Mars und Blutwurst stehen.

Das Ziel des Krieges in Permanenz mit gelegentlichen Pausen erreichten die USA im Himmel über dem Irak, aus dem die Raketen und Bomben aufs Land herniederfahren, weil zum gleichförmigen stillen Embargo-Hungertod von Zeit zu Zeit der explosive Tod hinzutreten soll, damit dem Exitus der notwendige Nachdruck beigesellt werde. Das Schweigen der UNO und unserer westlichen Wertegemeinschaft, das die Mordaktionen stilvoll begleitet, beweist, es gibt längst keinen Unterschied mehr in der Kriegstauglichkeit der Monate. Unsere Kriege heute sind endlos-zeitlos. Der logischen Einsichtigkeit halber nennen wir diesen Krieg Frieden, den wir folglich nicht jeweils extra erklären müssen. Es gibt keine Kriegsausbrüche mehr, wir erklären den Frieden und führen ihn. Denn wie der Julianische Kalender 1582 durch den Gregorianischen abgelöst wurde, so folgte auf den Gregorianischen 1984 der Orwellsche Kalender. Seitdem genießen wir die Segnungen der Turbo-Moderne. Wer also bewusst dem neuen Orwellschen Kalender nach lebt, weiß nicht nur, was die Stunde geschlagen hat, er überwindet zugleich die generelle Zukunftsblindheit und blickt wissend in die kommenden Zeiten des permanenten Friedens auf Erden und im Himmel.

Die fortschreitende Erweiterung des Krieges von einem zeitlichen Kontinuum mit Anfang und Ende zum kalendarischen Kreislauf ohne Anfang und Ende, aber mit Zwischenpausen, hat zwingende Folgen zu denen die Verschnellerung aller Prozesse zählt. Nicht Fukuyamas »Ende der Geschichte« ergibt sich daraus, sondern Nietzsches »Ewige Wiederkehr des Gleichen« im engsten Radius. Stellen wir uns diese Geschichte als Wendeltreppe vor, so führt sie hinauf und hinab ohne Endpunkt. Es sei denn, sie verengt sich, dann sitzen die TreppensteigerInnen endlich fest. Wer daraufhin hinuntergeht, gelangt in die barbarischen Ausgangspositionen der Frühzeiten zurück und wird, falls Darwin recht hat, woran vernünftigerweise nicht gezweifelt werden dürfte, erst zum Raubtier, dann zur Molluske und endlich zur Ursuppe. Wer aber nicht zurückflüchten mag, der erstarrt vor Ort am letzten höchsten Punkt.

Kleists Idee von der Verfertigung des Gedankens beim Sprechen (Schreiben) enthüllt den Bewusstmachungsprozess, in dem Sachverhalte und Menschenverhalte analysiert, definiert und formuliert werden. Ob es sich um Vorgänge in Vergangenheit oder Gegenwart handelt ist sekundär, primär ist der Vorgriff ins Neue. Soweit es nicht um bloße Konversation, Unterhaltung, blöde Nachplapperei geht, was die Fügung »Verfertigung des Gedankens« bereits ausschließen sollte, ist das Produkt der Verfertigung ein vorher nicht vorhanden gewesener Gewinn – ein Zukunftsvorgriff und Novum also.

Nun ließe sich der Produktionsvorgang von Gedanken und Wörtern auf die materielle Produktion übertragen, denn in den Betrieben und Forschungs-Einrichtungen entstehen parallele Produkt-Neuerungen. Da sie aber insgesamt zur Waffenherstellung und Kriegführung oder Androhung von Luftschlägen dienen, erweist sich der Krieg als primärer Antreiber bei der Fabrikat-Verfertigung. Der Primat des Krieges und der Krieger führt zur Verfertigung der Vergangenheit als Zukunft, denn wo die Politik nicht weiter weiß, tritt das Militär an. Seine Neuerungen sind waffentechnischer Art, also von gestern, aber modernisiert; seine Siege stabilisieren die Vergangenheit, die als Erneuerung ausgegeben wird, jedoch immer nur die alten Gewaltverhältnisse reproduziert. Die letzte militärische Mega-Macht liquidiert die Zukunft eben dadurch, dass sie sie so nennt und zugleich verhindert. Die Sieger im Krieg sind im postkulturellen Endzeitalter stets dieselben und sie garantieren fortgesetzte Kriege mit immer denselben Siegern.

Selbstverständlich gibt es Aufstände gegen den Welten-Usurpator und vielerlei Subversionen. Seine Übermacht an Waffen, Militärs, Pfaffen, Beamten und Geheimdiensten garantiert den Machterhalt. Nur er selbst könnte sich abschaffen, was er nie wollen wird. Er kann allerdings zusammenbrechen, hat Kapital sich derart organisiert und elektronifiziert, dass die Effizienz keinen Freiraum mehr für Entscheidungen lässt. Die große Maschine steht dann einfach still wie Buridans Esel.

Es kann freilich auch sein, dass die AktionärInnen, die inzwischen die Mehrheit der westlichen Wertegemeinschaft bilden, genüsslich ihre Aktiensammlungen fressen und hernach sich selbst.

Was der Rest der Menschheit tun wird, steht in den Sternen, bei denen Mars die Venus besteigt, welches nahe liegende Bild wir in seinem handgreiflichen Symbolwert nutzen, weil es den für die fernste Zukunft vorausgesagten Kältetod der Erde in kürzere gesellschaftlich-menschliche Maße transportiert. Das Kapital verwirklicht sich selbst, indem es jeden Widerstand eliminiert und alle Qualitäten auf ihren quantitativen Nutzen reduziert. Derart formiert kennt die Welt von morgen nur noch spekulierende AktienjongleurInnen, die sich gegenseitig übers Ohr hauen müssen weil das sonstige Volk, das nicht mitkam, ein Außenseiterdasein fernab von Banken und Börsen führt. Orwell nannte diese unregierbaren, gar unregistrierbaren Wilden »Proles«. Sie gelten nicht mehr als Menschen und dürfen gejagt werden, während der Geldadel sich dem tellurischen Kältetod hingibt, der sich mit dem Verlust von Herzenswärme schon lange Zeit vorher angekündigt hatte.

Wenn der Orwellsche Kalender Tag und Stunde angibt, müssen natürlich auch die zeitlos Oppositionellen und ewig Widerspenstigen diszipliniert werden. Man verpasse ihnen die schönsten rechten Vorbilder.

Zu Beginn des 1. Weltkrieges dichtete Felix Dahn: „Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen! Wo Männer fechten, hat das Weib zu schweigen. Doch freilich, Männer gibt's in diesen Tagen – Die sollten lieber Unterröcke tragen.“

Die Parole »Die Waffen hoch!« war gegen Bertha von Suttners Buch »Die Waffen nieder« gerichtet. 1905 hatte die Autorin dafür den Friedensnobelpreis erhalten. 1914 starb sie, als hätte das ein höherer Regisseur so eingerichtet, denn ab 1914 war die kriegerische Seite von Dynamit Nobel gefragt, doch die anschließenden vier Kriegsjahre entließen neben wenigen linken RevolutionärInnen und vielen rechten WiederholungstäterInnen eine Spezies, die inzwischen vergessen gemacht worden ist: pazifistische Offiziere – diese lebenden Widersprüche, von denen NVA wie Bundeswehr keine Kenntnis nehmen durften bzw. dürfen.

Die Offizierspazifisten, darunter allerhand Generäle, die im 1. Weltkrieg ihr Damaskus-Erlebnis fanden und dem »Schwertglauben« (Friedrich Wilhelm Foerster) abschworen, waren keine Feiglinge, wie ihre unbelehrbaren Kameraden ihnen nachsagten. Im Gegenteil, ihr aufrechter, tapferer Kampf gegen den Krieg forderte von ihnen mehr Opfer, größere Charakterstärke und Zivilenergie als von den nationalen Herren, die, ganz wie befohlen, erst dem Kaiser, dann dem Führer dienten, danach evtl. noch anderen Machthabern.

Das nationale kriegerische Credo lautete: „Der Frieden ist ein Traum und nicht einmal ein schöner (…) der Krieg ist ein Glied in Gottes Weltordnung.“ (Generalfeldmarschall Moltke d.Ä.) Und: „Wir müssen Macht bekommen und sobald wir diese Macht haben, holen wir uns selbstverständlich alles wieder. Was wir verloren haben.“ (Generaloberst Hans von Seeckt) Dagegen steht: „Wer den großen Krieg nicht nur mitgemacht, sondern auch seelisch erlebt hat und dadurch zum Nachdenken über das wichtigste und zugleich furchtbarste Menschheitsproblem veranlasst worden ist: der ist als Pazifist heimgekehrt.“ (Hauptmann a.D. Willy Meier)1

Selbstverständlich erlitten die aufrechten Offizierspazifisten alle Arten von Verfolgung und Rachetaten, die den deutschen Staatsorganen zur Verfügung stehen. Das reicht von der Verachtung bis zu Zuchthaus, KZ und Mord, denn das Militär als Kaste fordert ewiges Leben. So wurde der Kapitänleutnant und Pazifist Hans Paasche schon 1920 von Freikorpsoffizieren vor den Augen seiner Kinder erschossen. Über Paasche, Schoenaich u.a. schrieb Kurt Tucholsky zahlreiche Artikel. Major Karl Mayr, 1940 von der Gestapo in Paris verhaftet, kam 1945 im KZ Buchenwald ums Leben. Den Hauptmann i.G. Hans-Georg von Beerfelde schlug die SA zum Krüppel. Über den Kapitänleutnant Heinz Kraschutzki, den Franco aus Freundschaft zu Hitler 9 Jahre in Haft hielt, sagte keine Geringerer als Pastor Martin Niemöller: „Das ist mein alter Marinekamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der 1. Weltkrieg die Augen geöffnet. Bei mir war leider noch ein 2. nötig.“2

Niemöllers »leider« ist natürlich ein unpassend Wort wie er selbst eine auszugrenzende Figur. Nehmen wir die jüngste Kriegsgeschichte noch einmal von vorn durch: Also – Bertha von Suttners berühmter Satz »Die Waffen nieder« verwandelte sich 1914 in »Die Waffen hoch«, 1917 in »Krieg dem Kriege« und endlich in den Aufruf »Dreht die Gewehre um!« Ab 1933 war Deutschland mit den Waffen wieder dran, diesmal ohne SPD, die Gewehre gingen 1939 los, ab 1945 flogen die Flinten ins Kornfeld und alle Hände, die danach griffen, sollten verdorren. Es verdorrten die Köpfe, als ab 1955 die Flinten wieder in Dienst genommen wurden, diesmal mit der SPD unter dem Befehl von Orwell, nun hieß der Friede Krieg oder umgekehrt und die Menschenrechte erlaubten die Friedenskriege der Mächtigen, während den Regierten jede Revolution bei Todesstrafe verboten wurde.

Das Karussell begann von vorn wie 1912/13 mit diversen Balkankriegen, also schrieb Kafka seinen Prozess-Roman erneut: Jeder ist schuldig, keiner bleibt ohne Anklage, ausgenommen die Gerichtsherren. In der Erstfassung waren sie hochwohlgeboren, heute werden sie gewählt. Was bleibt, stiften die JuristInnen. Wer es wagte, den AnklägerInnen den Schädel zu öffnen, blickte ins Innere des Orwellschen Käfigs: Ratten sitzen darin gefangen.

Kann sein, der kriegerische Wahnsinn ist nur noch in den apokalyptischen Bildern einzufangen, die entstehen, wenn die Köpfe der KriegsministerInnen mit den Dokumenten der TV-Kameras zusammenstoßen und die Lügen multiplizieren. Es gibt nun ein Buch mit dem Titel »Szenen einer Nähe« 3, das die nachprüfbaren Fakten liefert, die von Bildern nicht beigebracht werden, weil die Kamera wie das Gewehr eine verordnete und auswählende Schussrichtung hat. Die Sprache aber geht aufs Einzelne und zugleich aufs Ganze. Wer sich fragt, wie Hitler in der Kürze von 1933 bis 1939 die Hunderttausend-Mann-Reichwehr zur millionenstarken Angriffswehrmacht hochrüsten konnte, muss wissen, die Aufrüstung war schon 1925 zu Zeiten der Weimarer Republik bis ins Detail ausgearbeitet worden.

Gibt es eine Parallele von 1925 zu den Neunziger Jahren? »Szenen einer Nähe« bietet eine überraschend dichte Faktensammlung, die diese Nähe belegt. Manches Material war inzwischen vergessen (gemacht) worden. Andere Informationen werden hier erstmals präsentiert. Wer davon keine Kenntnis nimmt und keinen Nutzen zieht, verharrt in selbstverschuldeter Unmündigkeit und hat zu verantworten, was unverantwortbar sein sollte.

Selbstverständlich wird im Orwellschen Zeitalter das Unverantwortliche protegiert. Der Name der Dame Suttner ist vergessen, obwohl sie, weil von Adel, auf Wiedergutmachung klagen könnte. Schließlich zahlt Biedenkopfs sächsische Landeskasse dem 1918 entlaufenen Königsgeschlecht einige lausige Millionen, und auch des Kaisers Erbonkelschar kann auf die rechtsstaatliche Wiedereinsetzung in vorige Unrechte und Pfründe hoffen. Kurzum, wer fürs Vaterland Kriege führte, darf auf höchste Belohnung rechnen, was will dagegen diese lausige PazifistInnenschar, der am Kreuz angenagelte Christus etwa – was für ein aufwendiger Ritualmord, der tagelang andauern kann. Wo bleibt da die Effizienz? Ein paar Bombenraketen auf ne menschliche Ansiedlung, da gehen hundert kaputt, eine zweite Hundertschaft stirbt, lebendig begraben, das langgezogene Christus-Ende. So rechnet sich's, denn die endverbrauchten Waffen müssen produziert und im Depot ersetzt werden. Oder nehmen wir den letzten Menschenrechtskrieg, da vertrieben und töteten erst die einen die anderen, bis Europa hilfreich eingriff, nun vertreiben und töten die anderen die einen und in Relation zu ihrer Anzahl ergeben sich die gleichen Resultate. Unsere Soldaten und ihre kommandierenden Politiker aber verzeichnen einen Imagegewinn, der glückhaft reziprok zum Imageverlust ihrer engstirnigen KriegsgegnerInnen, dieser ewig quengelnden PazifistInnen steht. Was will ein Oberkommando der höllischen Heerscharen mehr?

Der Beitrag von Gerhard Zwerenz ist ein Vorabdruck aus »Krieg im Glashaus«. Alle Rechte bei Verlag Edition Ost, Berlin.

Anmerkungen

1) Zitiert nach: Pazifistische Offiziere, Donath-Verlag, Bremen 1999

2) ebenda

3) Szenen einer Nähe, Pahl-Rugenstein-Nachfolger, Bonn 1998

Gerhard Zwerenz ist Schriftsteller.