Erinnerungen an drei deutsche Kriege

Erinnerungen an drei deutsche Kriege

von Elisa Kauffeld

Vor dem Ersten Weltkrieg geboren, im Zweiten Weltkrieg als Kriegerwitwe fast dauernd unterwegs und mit dem Überlebenskampf beschäftigt, im »Alter« eine der Aktiven in der Friedensbewegung. Elisa Kauffeld erinnert sich, schildert ihre Kriegseindrücke und bezieht Position – auch zum letzten der Kriege mit deutscher Beteiligung in diesem Jahrhundert.

Im Jahre 1913 geboren, kann ich mich natürlich nicht an den Kriegsbeginn 1914 erinnern aber an Einiges aus der Zeit des Krieges. Wir lebten nahe der französischen Grenze, in Königsfeld/Schwarzwald, und es gehört zu meinen allerersten Erinnerungen, dass ich schon als kleines Kind zum Sammeln von Trockenholz und auf die weiten Wege zum Milch holen mitgenommen wurde, dass wir statt elektrischem Licht eine Petroleumlampe hatten. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter ihre goldene Halskette abgegeben hatte und stolz eine blecherne mit kleinen Plättchen trug, auf denen stand: „Gold gab ich für Eisen hin.“ Der eigentliche Sinn ist mir erst viel später klar geworden: Schon 1870/71 machte Krupp mit Kanonen die besten Geschäfte.

Großmutter arrangierte im Sommer – es muss 1916 oder 1917 gewesen sein – Nachmittage, an denen Verwundete mit Kaffee und Kuchen, auch mit Hausmusik (von Hand, Konserve gab es noch nicht) erfreut wurden. Abgesehen von dem wenig angenehmen Geruch, den die Soldaten verbreiteten, erinnere ich mich gut an die humpelnden Gestalten, oft mit durchgebluteten Verbänden. Großmutter hatte einen französischen Kriegsgefangenen, der im Garten half. Ich mochte ihn gern leiden, seine fremde Sprache und sein oft hilfloses Lächeln. Ich nannte ihn »Kä-ssi-ssi-ssa«, denn immerzu fragte er „qu'est-ce que c'est que ça?“

Nein, auch nicht vergessen kann ich die mondhellen Nächte, wenn wir angezogen ins Bett gehen mussten, weil französische Flieger erwartet wurden. Wie oft bibberte ich vor Angst und durfte es doch nicht zugeben: „Denk doch an die tapferen Soldaten.“

Eines Tages bekam die Großmama Nachricht, dass ihr ältester Sohn „auf dem Felde der Ehre für's Vaterland“ gefallen sei. Verweinte Gesichter, schwarze Kleidung, ich durfte nicht mehr laut reden und schon gar nicht laut lachen. Alles war plötzlich anders geworden, die großen Geschwister schoben mich zur Seite, du bist noch zu klein, das verstehst du nicht. Nein, ich verstand wirklich nicht was das hieß, „für's Vaterland gefallen“? War er jetzt vielleicht auch einer von den schlecht riechenden Soldaten? Warum kam er nicht einfach nach Hause, wenn er doch nur »gefallen« war?.

Im April 1918 kam mein Vater aus britischer Gefangenschaft nach Deutschland zurück. Vier Jahre lang war er – wie er es selbst immer nannte – Gast von King George. Als Überseekaufmann lebte er mit der Familie viele Jahre in Burma, kam 1911 nach London, wo ich 1913 geboren wurde. Er wurde bei Kriegsbeginn interniert, während meine Mutter mit uns vier Kindern ausgewiesen wurde. Jetzt gehörte dieser fremde Mann zur Familie. Ich besah ihn sehr genau. Bis dahin kannte ich nur Soldaten und den Kä-ssi-ssi-ssa. Das Wort »Vater« war für mich fremd. Aber abends gab es einen Gute-Nacht-Kuss und dieser Vater hatte einen kitzelnden Bart. Ich fing an, ihn zu mögen.

Zweiter Weltkrieg

Den Kriegsbeginn 1939 erlebte ich in Spanien. Vor meiner Heirat war ich die erste Stewardess bei der Lufthansa. Mein Mann, gebürtiger Danziger, war Pilot – ebenfalls bei der Lufthansa. Er wurde zum Aufbau der spanischen Luftfahrtgesellschaft Iberia nach Spanien versetzt. So kam es, dass uns am 1. September 1939 die Nachricht vom Kriegsbeginn in Barcelona erreichte. Ich war schwanger und wir erinnerten uns beide an den Ersten Weltkrieg. In Spanien hatten wir zwar etwas von den Folgen des Bürgerkrieges gesehen, aber am eigenen Leib erfahren hatten wir den Krieg nicht.

Im Juni 1940 flog ich nach Bremen zu meinen Eltern. Ich benutzte kriegsbedingt die letzte Maschine über Rom, Zürich, München. Wie hatte Deutschland sich verändert! Überall Soldaten.

Und dann Bremen! Vor den Fenstern meines Elternhauses standen in etwa 30 cm Abstand große, mit Sand gefüllte Kisten als Bombenschutz. Im Keller war ein Raum, mit dicken Holzpfeilern abgestützt, als Luftschutzraum hergerichtet. Immer wieder bekam ich zu hören: „Wenn Du in Dein Zimmer gehst, vergiss die Verdunkelung nicht!“ Wie wichtig das war, musste ich erst noch lernen. Kaum war ich ein paar Tage zu Hause, ging nachts die Sirene. Die ganze Familie traf sich auf dem Flur und folgte den Radionachrichten (aus dem »Volksempfänger«). Ja, es waren einige Bomben gefallen, aber in einem anderen Stadtteil und es war zum Glück niemand zu Schaden gekommen.

Ich hatte sehr viel damit zu tun, Windeln, Hemdchen und was sonst so benötigt wird, für mein Baby zu nähen. Es gab ja nichts zu kaufen und da ich aus dem Ausland kam, hatte ich sowieso keine »Marken«. Von einem Arzt bekam ich einen ganzen Ballen Verbandmull, ca 80 cm breit, davon nähte ich Windeln. Aus alter Unterwäsche entstanden Hemdchen und aus Barcelona hatte ich Wolle mitgebracht. Meine Mutter nähte aus altem Bettzeug, was man für das erste Bettchen braucht.

Am 20. August 1940 bekam ich mein erstes Kind zu Hause. Aber mitten im Geburtsvorgang – das Kind hing noch an der Nabelschnur – mussten wir in den Keller: Die Sirenen kündigten einen Bombenangriff an. Zu aller Freude über das Baby kamen jetzt immer mehr Bombenangriffe, sodass wir keine Nacht mehr durchschlafen konnten. Schließlich machten meine Eltern sich große Sorgen und schickten mich nach Danzig (heute Gdansk) zu meiner Schwiegermutter. Da herrschte noch »tiefster Frieden« und es hätte schön sein können, aber ich hatte keine Wohnung und bei der Schwiegermutter mitten in der Altstadt war es auf Dauer zu eng. So fuhr ich mit unserem Kind in Deutschland hin und her, um meinen Mann zu treffen, der inzwischen als Soldat bei der Luftwaffe mal im Westen und mal im Osten eingesetzt war.

Wir trafen uns in Göttingen, glaube ich, als unser Hotel bombardiert wurde. Einige Menschen knieten nieder und beteten, andere fingen an zu singen, zu weinen, zu heulen, zu schreien, manche bekamen Platzangst und wollten unbedingt raus. Mitten dazwischen mein kleines Kind auf meinem Schoss! Aber schließlich ging auch dieser Alarm zu Ende. Der Anblick draußen war unvergesslich: Glasscherben über Glasscherben. Es war ja ein modernes Hotel.

Ein anderes Mal trafen wir uns in Straßburg und dann wieder in Ostpreußen. Im Oktober 1942 wohnte ich mit Sohn und Mann vorübergehend in Rathenow an der Havel. Mein Mann hatte nur wenig Dienst, weil sein Flieger, eine Heinkel, in der Werft war und einen neuen Motor bekam. Wir genossen das Verheiratet sein. Am 14. November hatte ich unseren Sohn zu Bett gebracht und wunderte mich, dass mein Mann noch nicht zu Hause war. Als es klingelte wollte ich loslaufen um zu öffnen, aber eine seltsame Kraft hieß mich sitzen zu bleiben. Dann hörte ich fremde Stimmen und dann Hacken zusammenschlagen, ein Mann in Uniform schnarrte: „Ihr Mann ist heute auf dem Felde der Ehre für's Vaterland gefallen. Sie sollten stolz auf ihn sein.“

Von jetzt ab lebte ich für unser Kind, aber ich konnte nicht weinen. Es war wohl ein drei viertel Jahr später, ich wohnte bei meiner Schwester in der Nähe Stettins, da kam unverhofft ihr Mann von der Front auf Kurzurlaub. Diese Begegnung löste den Krampf in mir und das Weinen von vielen Monaten kam heraus.

Ich hatte ja noch immer keine Wohnung, darum fuhr ich nach Danzig um das Unmögliche zu versuchen und dort bekam ich den Luxus, den kaum jemand zu träumen gewagt hatte: eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Balkon und sogar mit einem Stückchen Garten.

Ein Bekannter von früher kam öfter auf Fronturlaub. Einmal brachte er ein Huhn mit das, auf dem Balkon mit einem Bein an ein Stuhlbein gebunden, brav jeden Tag ein Ei ablieferte. Ein andermal organisierte er ein paar Angorakaninchen. Im Oktober 1944 heiratete ich zum zweiten Mal, eben diesen »provider«.

Der Winter 1944/45 war geprägt von Versuchen, irgendwie in den Westen zu kommen. Ein Soldatenpfarrer besorgte mir einen Platz auf der »Wilhelm Gustloff«, ursprünglich ein K.d.F. (Kraft durch Freude)-Dampfer, jetzt Flüchtlingsschiff nach Schweden. Doch als ich mich mit Sohn und Gepäck an der Pier einfand, lachte der Mann an der Sperre mich nur aus: „Ja, da könnt ja jeder kommen.“ Ein paar Tage später war ich sehr froh, dass das nicht geklappt hatte: Tausende Menschen ertranken, als das Schiff von einem Torpedo getroffen wurde.

Zweimal versuchte ich es mit der Bahn, zweimal ging auch das daneben. Schließlich sagte ich mir, auch Russinnen lieben ihre Kinder, vielleicht sind die Greuel, die über die Sowjets erzählt werden, nur Märchen. So beruhigte ich mich und es kam das Frühjahr 1945.

Es war Februar, ich wohnte in Langfuhr im Westen von Danzig, da konnte man die »Stalinorgeln« im Osten hören. Viele Bekannte hatten den Absprung in den Westen geschafft. Am Flughafen traf ich einen bekannten Flugkapitän von der Lufthansa. Er sollte eine defekte Maschine nach Berlin bringen. Ich war zum zweiten Mal schwanger und konnte ihn überreden, uns mitzunehmen. Ich musste nur das Luftschutzgepäck zu Hause holen, die Wohnung abschließen, die Kaninchen- und Hühnerställe öffnen, damit die Tiere nicht verhungerten.

Nun flog ich wieder einmal nach Berlin, nach knapp fünf Jahren. Es war zwar eine viermotorige Maschine, aber einer der Motoren war ausgefallen und einem anderen musste ich während des ganzen Fluges Treibstoff zu pumpen. Wir schafften es aber, Berlin zu erreichen. Berlin war zu dieser Zeit jeden Abend Ziel der US-amerikanischen Bomber. Da wurden Züge voller Menschen einfach aus den Bahnhöfen herausgefahren. Wenn der Angriff vorbei war, kamen sie zurück. Wir fuhren nach Stettin, wo wir im Bahnhofsbunker übernachten mussten. Das waren riesige Hallen, überfüllt mit Menschen jeden Alters, hauptsächlich Frauen mit Kindern, alle Flüchtlinge, aber auch Soldaten. Die meisten waren schon lange unterwegs, niemand hatte Gelegenheit gehabt, sich selbst oder die Wäsche zu waschen. Es stank und ich wollte lieber draußen übernachten, doch da heulten die Sirenen und Schutz war wichtiger als gute Luft.

Noch eine Erfahrung machte ich in diesem Bunker: Wenn du nichts mehr hast, dann sind ein Paar Stiefel, ein Wintermantel dein Kapital. Und eben darauf hatten es andere die noch weniger besaßen abgesehen. Alles, wirklich alles mussten wir irgendwie an uns festbinden.

Später ging es nach Pölitz, wo mein Mann zur Fliegerabwehr eingesetzt war, und nach ein paar Wochen dann zurück nach Berlin. Als hier wieder einmal die Sirenen heulten, kam der Angriff viel schneller als vorauszusehen war. Wir kamen nicht mehr in den Bunker. So nahm ich mein Kind auf den Arm und stellte mich auf eine Türschwelle, das heißt unter einen verstärkten Türsturz. Wir hörten mehrere auf einander folgende Einschläge, dann einen unbeschreiblichen Krach, als wollte die Welt untergehen. Als sich der Qualm und der Staub endlich gelegt hatten, sah ich in einiger Entfernung weiße Gardinen aus einem Fenster wehen, davor waren vorher Häuserfronten!

Mich hielt nichts mehr, ich wollte nach Bremen. Zwar wusste ich von den Dauerangriffen auf die Stadt, aber »zu Hause« war sicher alles besser zu ertragen. Bremen hatte sich in kaum vorstellbarer Weise verändert. Das Elternhaus stand noch, aber ringsherum Ruinen, Trümmer und Lücken. Wenn wir das Haus verließen, mussten wir Deckung suchen. Die Briten, die sich auf der anderen Weserseite befanden, schossen auf alles was sich bewegte. Im April 1945 waren mein Sohn und ich zu einer Art siamesischer Zwillinge geworden: Wir aßen, schliefen, taten alles gemeinsam.

So kam der Mai 1945. Nach Flugzeuglärm, Bombeneinschlägen, Granatfeuer plötzliche Stille. Bremen war eingenommen! Das einzige intakte Haus, das meines Vaters, wurde beschlagnahmt um darin ein Lazarett einzurichten. Wir fanden Unterschlupf in einer Ruine und ich wurde von den Briten mehrfach zum Dolmetschen geholt. Doch eines Tages änderte sich die Stimmung. Ich wurde festgenommen und in unserem eigenen Wohnzimmer streng bewacht. Ich hatte keine Ahnung, was das alles bedeutete, als zwei Offiziere eine Pistole auf den Tisch warfen, die sie bei der Durchsuchung unseres Hauses und Gartens gefunden hatten – wem diese gehörte, das wurde nie wirklich herausgefunden. Sie herrschten mich an: „Stand up! That's yours, you are a spy!“ „Dies ist ein Kriegsgericht und auf Spionage steht Erschießen.“

Was diese Männer da sagten, war so außerhalb meines Denkens, dass ich es kaum begriff. Aber es war wirklich tödlicher Ernst. Da fiel mir mein Bauch ein. „Sie dürfen mein Kind nicht mit mir erschießen, ich bin schwanger.“ Das war's! Nach ein paar Stunden »Gefangenschaft« in unserer Waschküche konnte ich nach Hause gehen, in die Ruine.

Zeit zur Gegenwehr

Die Nachkriegsjahre waren ausgefüllt mit dem Kampf um Lebensmittel und Brennstoff. Kaufen konnte man nur auf Marken und das war wirklich nur eben an der Überlebensgrenze. Ich hatte drei kleine Kinder, die Nahrung, Kleidung und ein halbwegs warmes Zimmer brauchten. Politik machten andere, meine ganze Kraft gehörte der Familie.

34 Jahre vergingen, ehe ich anfing, mich zu wehren. 1979, als die Debatte um die Aufstellung der Pershing II begann, gründeten wir mit einigen Gleichgesinnten die Friedens-Initiative Jever/Schortens1, die anfangs zu den Sitzungen regelmäßig Besuch vom MAD hatte. Da mich keine Berufszwänge mehr plagten, wurde mein Name überall als Kontaktadresse angegeben und in kurzer Zeit war ich »erfasst«. Big brother knackte bei Telefongesprächen und ich bekam Anrufe der Art, „ich solle doch nach Moskau gehen, woher ich denn Geld bekäme“, bis hin zu Morddrohungen. Andererseits hatte ich nun Freunde und Freundinnen wie nie vorher im Leben.

In vielen Aktionen versuchten wir, über Massenvernichtungsmittel, Atombombentests und ungerechtfertigte Kriegseinsätze zu informieren. Wir veranstalteten Schweigekreise, Straßentheater, Infostände, sammelten Geld z.B. für »Ärzte ohne Grenzen«, demonstrierten vor dem hiesigen NATO-Flugplatz und vieles anderes.

Die SeniorInnenblockade in Mutlangen gegen die dort stationierten Pershing II am 28.und 29. April 1986, zwei Tage nach der Katastrophe von Tschernobyl, wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Von da ab blockierte ich die Zufahrten zu Massenvernichtungswaffenlagern, protestierte gegen Atombombentests: viele Male in Mutlangen, in Ludwigswinkel, in Bonn vor den Botschaften der USA, Chinas und Frankreichs, zuletzt in Büchel/Eifel gegen die dort lagernden Atombomben. Auch in Gorleben stand ich viele Male quer gegen die Atomenergie.

Zu Beginn der 90er-Jahre stellte ich eine Wanderausstellung gegen die entsetzlichen Atombombentests auf der Welt zusammen. Alle Testgebiete wurden vorgestellt, die Folgen mit Fotos aus dem Dispensarium in Alma Ata, Kasachstan, gezeigt und der Widerstand dagegen deutlich gemacht. 1995 sammelte ich 10.555 Unterschriften gegen die Atomenergie in ganz Deutschland. Mit zwei Freundinnen brachte ich das Paket in den Bundestag. Je eine Frau der verschiedenen Fraktionen CDU, SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen und wir drei Frauen aus verschiedenen Bundesländern, alte und neue, aus drei verschiedenen Generationen trafen uns dort im November 1996. Die FDP zog es vor, diesen Termin zu vergessen. 1997 übersetzte ich das Buch »Moruroa et nous« (»Moruroa und Wir«) ins Deutsche.2

Zwischendurch schlug ich mich mit den Gerichten herum, mit denen ich wegen meiner »Straftaten« zu tun hatte. In meinen Verteidigungsreden lernte ich, die Kriegserlebnisse aufzuarbeiten. Ich lernte über Dinge zu sprechen, die ich tief im Innern vergraben hatte um sie nicht wieder vor Augen zu haben. Ich lernte zu begreifen, dass etwas bewegt werden kann, wenn wir Alten reden.

Fast 80 Jahre war ich, als ich 20 Stunden gemeinnützige Arbeit ableistete anstatt eine Geldstrafe zu zahlen. Ich tat es als Öffentlichkeitsarbeit. Am 8. August 1997 beging ich meine bis jetzt letzte »Straftat«. Mit einer Gruppe junger Leute, meiner »Wahlfamilie«, von der GAAA (Gewaltfreie Aktion Atombomben Abschaffen) drangen wir in das Atomwaffenlager in Büchel ein. Mit großen Transparenten und Flötenmusik erwarteten wir unsere Festnahme. 20 Minuten lang spazierten wir ungehindert durch das ach so gut gesicherte Gelände! Der Amtsrichter in Cochem hatte dafür natürlich kein Verständnis, auch nicht der Richter am Landgericht Koblenz. Das Urteil: 20 Tagessätze à 20,- DM (Rentnerin im unteren Bereich).

Drei Kriege gegen Serbien

Am 24. März 1999 griff Deutschland zum dritten Mal in diesem Jahrhundert Serbien an. Nachdem 1914 serbische Nationalisten den österreichisch-ungarischen Thronfolger ermordet hatten, wurde Serbien zum ersten Mal von Deutschland angegriffen und weitgehend zerstört. Weil Jugoslawien sich nicht in die Kriegspläne Adolf Hitlers einfügen wollte, wurde es im April 1941 zum zweiten Mal von Deutschland angegriffen und zur Kapitulation gezwungen. Furchtbare Greuel wurden an der serbischen Bevölkerung begangen. Im dritten Krieg nahm die deutsche Luftwaffe gemeinsam mit den USA und anderen NATO-Staaten wieder Ziele in Serbien unter Beschuss. Im Namen der Menschenrechte wurden Menschen getötet und Hass gesät, unter einer rot-grünen Regierung, von der ich zutiefst enttäuscht worden bin. Am Ende dieses Jahrhunderts, in dem die furchtbarsten Kriege von deutschem Boden ausgingen, bin ich entsetzt, wie bereitwillig deutsche PolitikerInnen wieder Krieg führen.

Als ich während des Kosovo-Krieges im Mai beim Internationalen Friedensappell in Den Haag war, fiel mir das erste Bild von unserem ganzen Planeten ein, einem blau-grünen Edelstein, eingebettet in die weite Schwärze des Weltalls, kostbar und zerstörbar. Wenn nicht jede und jeder von uns die Verantwortung für die Menschenrechte übernimmt, statt sie an das Militär zu delegieren, wird diese Welt kein friedvoller Ort werden.

Anmerkungen

1) Die Arbeit der Friedens-Initiative Jever/Schortens wurde 1997 aus Anlass ihres 18-jährigen Bestehens in einer Broschüre dokumentiert.

2) Das Buch »Mururoa und Wir« ist über die Autorin zu beziehen

Elisa Kauffeld lebt in Schortens bei Wilhelmshaven.

Von Suttner zu Orwell

Von Suttner zu Orwell

Oder: Nennen wir den Krieg Frieden

von Gerhard Zwerenz

Für ihr Buch »Die Waffen nieder« erhielt Bertha von Suttner 1905 den Friedensnobelpreis. Als sie neun Jahre später starb, steuerte Deutschland auf den Ersten Weltkrieg zu und Felix Dahn dichtete: Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen! Wo Männer fechten hat das Weib zu schweigen!“
Gerhard Zwerenz über das Jahrhundert, an dessen Beginn eine erste internationale Friedenskonferenz stand, das durch zwei Weltkriege gezeichnet wurde und an dessen Ende wieder einmal Deutschland Krieg führte.

Im August, im August blüh' n die Rosen… Im August 1914 blühten die Kanonen. Pünktlich am 1.8. erklärte Deutschland Russland den Krieg. Am 3.8. folgte die Kriegserklärung an Frankreich. Am 4.8. sagte WiIhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Dankbar bewilligte der Reichstag sofort einstimmig die Kriegskredite. Motto: Nach innen Burgfrieden – nach außen Eroberungskrieg. Das Volk von 1914 jubelte. Vermochte auch nur eine oder einer sich vorzustellen was vier Jahre später, 1918, geschehen würde? Blinde patriotische Leidenschaft und vollkommene Ahnungslosigkeit Richtung Zukunft bestimmen den Zeitgeist.

Begann der l. Weltkrieg am 1. August, verlegte Hitler den Beginn des Nachfolgekrieges 1939 auf den 1. September, vermied jedoch in seiner Rundfunkansprache um 10 Uhr das Wort Krieg, denn die Deutschen jubeln diesmal nicht. Hat Schaden klug gemacht? Ergriff das Volk eine Ahnung davon was ihm blühte? Ließ der September 1939 klarer blicken als der August 1914?

Wenn ja, war die Klarsicht von kurzer Dauer: Schon am 27. 9. kapitulierte Warschau, ein knapper Monat September genügte für den großen Sieg, das Volk der Deutschen holte den unterlassenen Jubel umgehend nach – 1914 war es der Jubel des aggressiven Übermuts, fehlender Information und kritischer Selbsteinschätzung gewesen, jetzt verloren die Menschen im Siegesrausch ihre Ängste.

Ab 1943 blieben die Siege aus. Am 18.2. 1943 fragte Goebbels im Sportpalast: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Das versammelte Volk bejahte berauscht. Es folgten totaler Luftkrieg, totaler Rückzug und die Endniederlage vom 8. Mai 1945.

Der ausbleibende Jubel vom 1. September gründete nicht in bösen Vorahnungen, sondern in unguten Erinnerungen an 1914-1918. Seither waren erst zwei Jahrzehnte vergangen. Erinnerte Erfahrung ängstigte das Volk, nicht begründete, reale Zukunftsangst. Erschaudernd blickte es zurück, nicht voran. Ist das Kommende etwa stets unbekannt und verriegelt? Hatte auch nur einer am ersten Neujahrstag, mit dem das 20. Jahrhundert begann, einen blassen Schimmer von dem, was bevorstand? Ahnte einer der Militärs, die 1914 die deutschen Armeen befehligten, was der baldige Übergang vom Bewegungskrieg zum Stellungskrieg bedeutete? Konnte sich jemand 1918 die Geschehnisse von 1933, 1939, 1945 vorstellen? Sah einer im Mai 1945 voraus, dass Hitlers geschlagene Generäle kein Jahrzehnt später ein neues deutsches Heer aufstellen würden? Wer vermutete 1945, dass die siegreiche Sowjetarmee ab 1990 in schwächliche Restbestände zerfiele? Wer hätte 1989/90 geglaubt, ein Jahrzehnt später zählten deutsche Soldaten zu den Besiegern und Besetzern Jugoslawiens, dieser Siegernation von 1945 – ganz wie die Sowjetunion?

Nietzsche starb, nur 55 Jahre alt, am 25. August 1900 – er hätte hervorragend ins 20. Jahrhundert gepasst mit seiner herrenhaften Enthemmungsphilosophie. Auch der Dionysiker erfasste nicht, was da nahte, sonst wäre er geblieben. Vielleicht bewahrte ihn der gnädige Irrsinn, der ihn besetzt hielt, vor dem analytischen Blick ins anbrechende Jahrhundert.

Die Weltkriegsanfänge vom 1. August 1914 und 1. September 1939 bezeugen, dass eine Institution nicht zukunftsblind blieb: Seit 1905 lag der Schlieffen-Plan vor, den Deutschland 1914 in leicht modifizierter Weise zu realisieren versuchte, was den deutschen Militärs künftiges Verhalten diktierte, vom Angriff 1914 bis zur Niederlage 1918. Von jetzt an verwirklichten die Kriegsgegner ihre Ziele, inklusive Vertrag von Versailles. Im Wiederholungskrieg ab 1939 betrieb dann das faschistische Dritte Reich die Umsetzung seiner Zukunftsvisionen, wobei es auf die Planungen der Reichswehr zurückgreifen konnte, denn das Szenarium für Wiederaufrüstung und Revanchekrieg war insgeheim und bis ins Detail schon zu frühen Zeiten der Weimarer Republik ausgearbeitet worden. Zwar besitzen die Militärs, wie wir sehen, auch nicht die Fähigkeit der Vorausschau, doch greifen sie strategisch, taktisch und rüstungstechnisch vor und produzieren damit die ihnen gemäße Zukunft wie die Spinne, die einen Faden hinter sich lässt, den sie fleißig verwebt, auf dass darin die Opfer sich fangen. Fragt sich nur, wer Spinne ist und wer gefangen wird.

Das Modell büßte 1945 seine Vorbildfunktion und Wirksamkeit keineswegs ein. Wobei zwei Phasen deutlich zu unterscheiden sind: Phase a läuft durchweg streng geheim, mindestens intern und getarnt ab. Phase b, die Realisation, tritt dann plötzlich und überraschend zu Tage, die Öffentlichkeit staunt, reagiert begeistert, ungläubig oder entsetzt. Doch der Fall ist nun unübersehbar in der Welt und der August 1914 wie der September 1939 waren solche Geschichtsphasen. Nach kürzerer oder längerer Inkubationszeit ist das Ei geborsten und der alte Krieger neu geboren.

1914 brauste ihm ein Ruf wie Donnerhall entgegen. 1939 blieb das Volk in erinnerter Erfahrung befangen still – der Siegesjubel folgte später um so lauter. Am 24. März 1999 rieb das Volk sich wieder mal erstaunt die Augen: Bomben auf Jugoland? Man befand sich doch gar nicht in den Erntemonaten August/ September. Musste denn schon wieder gesiegt werden?

Die Oberen versicherten den Verunsicherten, diesmal sei man auf der Seite der Morallegitimierten und Stärkeren und könne gar nichts anderes als siegen. In der Tat hatten die Generäle vorsorgend wie immer Zukunft produziert.

Der Krieg ab 1. August 1914 war vom deutschen Generalstab und vom lieben Gott exakt terminiert worden: Die einheimische Landwirtschaft konnte die Felder noch in aller Ruhe abernten, die Feindfeldereien in Luxemburg, Belgien, Frankreich wurden bei reifenden Halmen in Besitz genommen – von Ostpreußen abgesehen, hier störten die eindringenden russischen Barbaren die Einbringung der Frucht. So kam es zur Schlacht von Tannenberg – seither ernteten von Hindenburg und von Ludendorff auf russisch-polnischer Scholle. Ihr Nachfolger als Oberbefehlshaber deutscher Soldaten wartete 1939 das Erntefest ab. So war die Scheuer daheim gut gefüllt als er aufbrach, die gut gefüllte polnische Scheuer einzusacken. Derart gestaltete sich des einen August zum September des anderen. Liebhaber von Spätsommer/Frühherbst waren beide, doch der September-Fan wandte bald seine ganze Liebe dem Juni zu. Wie vor ihm Napoleon fiel er an einem 22. Juni nach Russland ein – mit der erklärten Absicht, in der Ukraine, auf der Krim und bis zum Kaukasus hin die goldenen Weizenfelder abzuernten, woraus sich ergibt, dass er die beiden Monate zu seinen Favoriten erkor. Allerdings hatte der »Führer« ursprünglich nicht wie Bonaparte am 22. Juni losschlagen wollen, sondern 2-3 Wochen früher, da kamen ihm die JugoslawInnen in die Quere indem sie Revolution spielten. Belgrad wurde gebombt und kapitulierte nach 11 Tagen, 4 Tage später gab das besetzte Griechenland auf. Nochmal 12 Tage brauchte es zur Eroberung Kretas. Alles im Lot, nur musste der Beginn des Russlandfeldzuges verschoben werden. Das machte nichts, meinen die Militärhistoriker, allerdings fehlten die Tage dann im Herbst, der in Russland schon als Winter auftritt. Statt dass die Wehrmacht in der Ukraine erntete, senste General Winter erst auf riesigen Schlamm- , dann auf Schneefeldern herum. Also: Wer nach Moskau, Leningrad, Stalingrad marschieren will, darf nicht erst an einem 22. Juni aufbrechen, da hat er sich bereits uneinholbar verspätet. Das sind so eherne Kalenderfragen. Die Wehrmacht, die am 6. April 1941 gegen Jugoslawien losschlug, befand sich bereits jetzt in einem nicht wieder gutzumachenden Rückstand, was zu erkennen heutzutage nicht schwer fällt und was gewiss einer der guten Gründe dafür ist, dass die NATO schon am 24. März 1999 Jugoslawien zu bomben begann. Weil: Wer den Endsieg unbedingt erringen will, der muss einfach früh genug damit beginnen.

Die heutigen Feldherren und PolitikerInnen entstammen nicht mehr Landadel, Rinderherden-Schweinemassen- Schlächtern. Unsere westliche Wertegemeinschaft ist im kulturellen Fortgang verstädtert. Als Blüten des Asphaltdschungels jener Mega-Stadt, die von Bonn bis Berlin und Passau bis Kiel reicht, wissen diese modernen Machtübernahmemenschen gar nicht mehr, wie vaterländisch sich gute Feldkrume unter der Stiefelsohle anschmiegt. So kommt es zu den kalendarischen Verschiebungen, die den klassischen Erntemonaten August und September nicht mehr die frühere Bedeutung zubilligen. Die Kriege fangen früher im Jahr an, dafür hören sie auch nie mehr auf. Notfalls wird eine kurze Pause eingelegt, damit die Rüstungsindustrie Zeit zum Aufholen gewinnt. Auch hat das Abernten der Felder nicht mehr die einstige Bedeutung. An Fress- und Saufwaren ist schließlich kein Mangel. Kompliziert ist lediglich die Verteilung, weil garantiert bleiben muss, dass wir immer genug kriegen und die anderen hinreichend Not leiden. Sonst verfallen zu viele auf dumme Gedanken und zwingen uns, den nächsten Krieg schon Neujahr zu beginnen, während der vorige erst zu Silvester beendet wurde.

Hitlers frühe Juni-Planung für den Überfall auf die Sowjetunion resultierte füglich aus der militärmetereologischen Einsicht, dass August/September diesmal zu spät wären. Die Verzögerungen wegen der widerspenstigen JugoslawInnen, die das Losschlagen gegen Moskau auf den 22. Juni verschieben ließen, rächten sich im Winter vor Moskau, als der siegreichen Wehrmacht der Arsch abfror.

Allerdings berichten die Soldaten der Panzertruppen, die im Sommer durch Weißrussland, die Ukraine und das weite Russland vorausstürmten, von unendlich großen berauschenden Weizenfeldern und Kornkammern, die sie stahlhelmbedeckt durchquerten. Die Erntemonate Juli/August wurden zu brausenden Siegesfeiern im Expresskrieg. Auch der September, an dessen 1. Tag der Überfall auf Polen zwei Jahre zurücklag, erwies sich noch als so wetter- wie kreuzzugsgünstig. Im Oktober freilich kam es zu Verfinsterungen, im November fuhr die launische Kriegsgöttin Schlitten und im Dezember gab es gefrorene Wehrmachts-Kadaver sowie einen Rückzug in Eis und Schnee à la Napoleon.

Im SPIEGEL Nr. 25/99 äußert Rudolf Augstein sich zum Buch »Der falsche Krieg« des 35jährigen Oxford-Professors Niall Ferguson, der die kühne, aber nicht uninteressante These vertritt, die Briten hätten 1914 nicht gegen Deutschland antreten müssen. Augstein ist anderer Ansicht und stapelt die alten geläufigen Schul-Argumente auf, wonach die Kollision unvermeidbar gewesen sei. Nichts davon kann Ferguson unbekannt geblieben sein und beide Seiten haben wahrscheinlich Recht, indem sie die kontroversen Fakten in ihrer jeweiligen Sicht ordnen und gegeneinander in Stellung bringen. Unerörtert bleibt, weshalb sowohl die deutschen wie die britischen Politiker 1914 den Zwängen nachgebend in den Krieg eintraten, was, wenn es als alternativlos gelten sollte, auf eine durchgängige Abwesenheit von Entscheidungsfreiheit schließen ließe. Geschichte ist dann bloßer blinder, blindmachender Zwang, d. h. Abwesenheit von jeder Kultur. Nun interpretiert Augstein seit Jahrzehnten Buchprodukte zu den Themen Jesus, Napoleon, Bismarck, Erster und Zweiter Weltkrieg, und die Historikergilde übt sich in freundlichen Leserbriefen oder schweigender Distanz. Verbindendes Glied aller ist die obligatorische Freiheitsleugnung der Geschichtswissenschaft. Setzten doch bürgerlich-orthodoxe wie marxistische HistorikerInnen die Mär von den „zu früh gekommenen Revolutionären“ in die ungelüfteten Stuben ihrer Hochschulwelt. Die unter disziplinösen Zwängen lebenden LehrerInnen kennen nur erzwungene Geschichtsabläufe, denn als Produkten der verordneten Unfreiheit fehlt ihnen die Vorstellung, ein realer Revolutionär könne nicht an seiner Verfrühung scheitern, jedoch an der Verspätung des vorhandenen Milieus. Nicht Marx/Engels existierten zu früh, sondern die 1848er kamen zu spät. Nicht Luxemburg/Liebknecht waren den Verhältnissen weit voraus, sondern Hindenburg/Ludendorff/Ebert/Noske gehörten in die Eiszeit. Um zu Augstein zurückzukehren, die kriegführenden Briten und Deutschen waren 1914 schlechthin nationale Dinosaurier und diese Spezies starb nie aus. Jeder Krieger des 20. Jahrhunderts zählt zu den groben Knochen der menschlichen Vorgeschichte, die von den stupiden braven ZeithistorikerInnen in den Himmel gehoben werden statt sie wenigstens interpretatorisch zur Hölle fahren zu lassen.

Notabene: Kein Kriegsheld ist alternativlos. Jeder entscheidet sich freien Willens zur Unfreiheit. Kein Krieg ist Zwangsvollzug. Jeder vermeidbar. Die promovierten ClaqueurInnen des verstaatlichten Zeitgeistes sehen überall nichts als folgerichtige Notwendigkeit, für sie passt wie der Deckel auf den Topf der Satz: „Die Deutschen befinden sich nur einmal in Gesellschaft der Freiheit. Am Tage ihrer Beerdigung.“ Das stammt allerdings von Karl Marx, der den Deutschen die Entscheidungsfreiheit nicht abspricht, ihren Hang zur Unfreiheit nur sarkastisch notiert. Dabei ist, nebenbei bemerkt, zwischen links und rechts kein Unterschied, ganz wie zwischen den Monaten März, Juni, August, September, wenn sie im Zeichen von Mars und Blutwurst stehen.

Das Ziel des Krieges in Permanenz mit gelegentlichen Pausen erreichten die USA im Himmel über dem Irak, aus dem die Raketen und Bomben aufs Land herniederfahren, weil zum gleichförmigen stillen Embargo-Hungertod von Zeit zu Zeit der explosive Tod hinzutreten soll, damit dem Exitus der notwendige Nachdruck beigesellt werde. Das Schweigen der UNO und unserer westlichen Wertegemeinschaft, das die Mordaktionen stilvoll begleitet, beweist, es gibt längst keinen Unterschied mehr in der Kriegstauglichkeit der Monate. Unsere Kriege heute sind endlos-zeitlos. Der logischen Einsichtigkeit halber nennen wir diesen Krieg Frieden, den wir folglich nicht jeweils extra erklären müssen. Es gibt keine Kriegsausbrüche mehr, wir erklären den Frieden und führen ihn. Denn wie der Julianische Kalender 1582 durch den Gregorianischen abgelöst wurde, so folgte auf den Gregorianischen 1984 der Orwellsche Kalender. Seitdem genießen wir die Segnungen der Turbo-Moderne. Wer also bewusst dem neuen Orwellschen Kalender nach lebt, weiß nicht nur, was die Stunde geschlagen hat, er überwindet zugleich die generelle Zukunftsblindheit und blickt wissend in die kommenden Zeiten des permanenten Friedens auf Erden und im Himmel.

Die fortschreitende Erweiterung des Krieges von einem zeitlichen Kontinuum mit Anfang und Ende zum kalendarischen Kreislauf ohne Anfang und Ende, aber mit Zwischenpausen, hat zwingende Folgen zu denen die Verschnellerung aller Prozesse zählt. Nicht Fukuyamas »Ende der Geschichte« ergibt sich daraus, sondern Nietzsches »Ewige Wiederkehr des Gleichen« im engsten Radius. Stellen wir uns diese Geschichte als Wendeltreppe vor, so führt sie hinauf und hinab ohne Endpunkt. Es sei denn, sie verengt sich, dann sitzen die TreppensteigerInnen endlich fest. Wer daraufhin hinuntergeht, gelangt in die barbarischen Ausgangspositionen der Frühzeiten zurück und wird, falls Darwin recht hat, woran vernünftigerweise nicht gezweifelt werden dürfte, erst zum Raubtier, dann zur Molluske und endlich zur Ursuppe. Wer aber nicht zurückflüchten mag, der erstarrt vor Ort am letzten höchsten Punkt.

Kleists Idee von der Verfertigung des Gedankens beim Sprechen (Schreiben) enthüllt den Bewusstmachungsprozess, in dem Sachverhalte und Menschenverhalte analysiert, definiert und formuliert werden. Ob es sich um Vorgänge in Vergangenheit oder Gegenwart handelt ist sekundär, primär ist der Vorgriff ins Neue. Soweit es nicht um bloße Konversation, Unterhaltung, blöde Nachplapperei geht, was die Fügung »Verfertigung des Gedankens« bereits ausschließen sollte, ist das Produkt der Verfertigung ein vorher nicht vorhanden gewesener Gewinn – ein Zukunftsvorgriff und Novum also.

Nun ließe sich der Produktionsvorgang von Gedanken und Wörtern auf die materielle Produktion übertragen, denn in den Betrieben und Forschungs-Einrichtungen entstehen parallele Produkt-Neuerungen. Da sie aber insgesamt zur Waffenherstellung und Kriegführung oder Androhung von Luftschlägen dienen, erweist sich der Krieg als primärer Antreiber bei der Fabrikat-Verfertigung. Der Primat des Krieges und der Krieger führt zur Verfertigung der Vergangenheit als Zukunft, denn wo die Politik nicht weiter weiß, tritt das Militär an. Seine Neuerungen sind waffentechnischer Art, also von gestern, aber modernisiert; seine Siege stabilisieren die Vergangenheit, die als Erneuerung ausgegeben wird, jedoch immer nur die alten Gewaltverhältnisse reproduziert. Die letzte militärische Mega-Macht liquidiert die Zukunft eben dadurch, dass sie sie so nennt und zugleich verhindert. Die Sieger im Krieg sind im postkulturellen Endzeitalter stets dieselben und sie garantieren fortgesetzte Kriege mit immer denselben Siegern.

Selbstverständlich gibt es Aufstände gegen den Welten-Usurpator und vielerlei Subversionen. Seine Übermacht an Waffen, Militärs, Pfaffen, Beamten und Geheimdiensten garantiert den Machterhalt. Nur er selbst könnte sich abschaffen, was er nie wollen wird. Er kann allerdings zusammenbrechen, hat Kapital sich derart organisiert und elektronifiziert, dass die Effizienz keinen Freiraum mehr für Entscheidungen lässt. Die große Maschine steht dann einfach still wie Buridans Esel.

Es kann freilich auch sein, dass die AktionärInnen, die inzwischen die Mehrheit der westlichen Wertegemeinschaft bilden, genüsslich ihre Aktiensammlungen fressen und hernach sich selbst.

Was der Rest der Menschheit tun wird, steht in den Sternen, bei denen Mars die Venus besteigt, welches nahe liegende Bild wir in seinem handgreiflichen Symbolwert nutzen, weil es den für die fernste Zukunft vorausgesagten Kältetod der Erde in kürzere gesellschaftlich-menschliche Maße transportiert. Das Kapital verwirklicht sich selbst, indem es jeden Widerstand eliminiert und alle Qualitäten auf ihren quantitativen Nutzen reduziert. Derart formiert kennt die Welt von morgen nur noch spekulierende AktienjongleurInnen, die sich gegenseitig übers Ohr hauen müssen weil das sonstige Volk, das nicht mitkam, ein Außenseiterdasein fernab von Banken und Börsen führt. Orwell nannte diese unregierbaren, gar unregistrierbaren Wilden »Proles«. Sie gelten nicht mehr als Menschen und dürfen gejagt werden, während der Geldadel sich dem tellurischen Kältetod hingibt, der sich mit dem Verlust von Herzenswärme schon lange Zeit vorher angekündigt hatte.

Wenn der Orwellsche Kalender Tag und Stunde angibt, müssen natürlich auch die zeitlos Oppositionellen und ewig Widerspenstigen diszipliniert werden. Man verpasse ihnen die schönsten rechten Vorbilder.

Zu Beginn des 1. Weltkrieges dichtete Felix Dahn: „Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen! Wo Männer fechten, hat das Weib zu schweigen. Doch freilich, Männer gibt's in diesen Tagen – Die sollten lieber Unterröcke tragen.“

Die Parole »Die Waffen hoch!« war gegen Bertha von Suttners Buch »Die Waffen nieder« gerichtet. 1905 hatte die Autorin dafür den Friedensnobelpreis erhalten. 1914 starb sie, als hätte das ein höherer Regisseur so eingerichtet, denn ab 1914 war die kriegerische Seite von Dynamit Nobel gefragt, doch die anschließenden vier Kriegsjahre entließen neben wenigen linken RevolutionärInnen und vielen rechten WiederholungstäterInnen eine Spezies, die inzwischen vergessen gemacht worden ist: pazifistische Offiziere – diese lebenden Widersprüche, von denen NVA wie Bundeswehr keine Kenntnis nehmen durften bzw. dürfen.

Die Offizierspazifisten, darunter allerhand Generäle, die im 1. Weltkrieg ihr Damaskus-Erlebnis fanden und dem »Schwertglauben« (Friedrich Wilhelm Foerster) abschworen, waren keine Feiglinge, wie ihre unbelehrbaren Kameraden ihnen nachsagten. Im Gegenteil, ihr aufrechter, tapferer Kampf gegen den Krieg forderte von ihnen mehr Opfer, größere Charakterstärke und Zivilenergie als von den nationalen Herren, die, ganz wie befohlen, erst dem Kaiser, dann dem Führer dienten, danach evtl. noch anderen Machthabern.

Das nationale kriegerische Credo lautete: „Der Frieden ist ein Traum und nicht einmal ein schöner (…) der Krieg ist ein Glied in Gottes Weltordnung.“ (Generalfeldmarschall Moltke d.Ä.) Und: „Wir müssen Macht bekommen und sobald wir diese Macht haben, holen wir uns selbstverständlich alles wieder. Was wir verloren haben.“ (Generaloberst Hans von Seeckt) Dagegen steht: „Wer den großen Krieg nicht nur mitgemacht, sondern auch seelisch erlebt hat und dadurch zum Nachdenken über das wichtigste und zugleich furchtbarste Menschheitsproblem veranlasst worden ist: der ist als Pazifist heimgekehrt.“ (Hauptmann a.D. Willy Meier)1

Selbstverständlich erlitten die aufrechten Offizierspazifisten alle Arten von Verfolgung und Rachetaten, die den deutschen Staatsorganen zur Verfügung stehen. Das reicht von der Verachtung bis zu Zuchthaus, KZ und Mord, denn das Militär als Kaste fordert ewiges Leben. So wurde der Kapitänleutnant und Pazifist Hans Paasche schon 1920 von Freikorpsoffizieren vor den Augen seiner Kinder erschossen. Über Paasche, Schoenaich u.a. schrieb Kurt Tucholsky zahlreiche Artikel. Major Karl Mayr, 1940 von der Gestapo in Paris verhaftet, kam 1945 im KZ Buchenwald ums Leben. Den Hauptmann i.G. Hans-Georg von Beerfelde schlug die SA zum Krüppel. Über den Kapitänleutnant Heinz Kraschutzki, den Franco aus Freundschaft zu Hitler 9 Jahre in Haft hielt, sagte keine Geringerer als Pastor Martin Niemöller: „Das ist mein alter Marinekamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der 1. Weltkrieg die Augen geöffnet. Bei mir war leider noch ein 2. nötig.“2

Niemöllers »leider« ist natürlich ein unpassend Wort wie er selbst eine auszugrenzende Figur. Nehmen wir die jüngste Kriegsgeschichte noch einmal von vorn durch: Also – Bertha von Suttners berühmter Satz »Die Waffen nieder« verwandelte sich 1914 in »Die Waffen hoch«, 1917 in »Krieg dem Kriege« und endlich in den Aufruf »Dreht die Gewehre um!« Ab 1933 war Deutschland mit den Waffen wieder dran, diesmal ohne SPD, die Gewehre gingen 1939 los, ab 1945 flogen die Flinten ins Kornfeld und alle Hände, die danach griffen, sollten verdorren. Es verdorrten die Köpfe, als ab 1955 die Flinten wieder in Dienst genommen wurden, diesmal mit der SPD unter dem Befehl von Orwell, nun hieß der Friede Krieg oder umgekehrt und die Menschenrechte erlaubten die Friedenskriege der Mächtigen, während den Regierten jede Revolution bei Todesstrafe verboten wurde.

Das Karussell begann von vorn wie 1912/13 mit diversen Balkankriegen, also schrieb Kafka seinen Prozess-Roman erneut: Jeder ist schuldig, keiner bleibt ohne Anklage, ausgenommen die Gerichtsherren. In der Erstfassung waren sie hochwohlgeboren, heute werden sie gewählt. Was bleibt, stiften die JuristInnen. Wer es wagte, den AnklägerInnen den Schädel zu öffnen, blickte ins Innere des Orwellschen Käfigs: Ratten sitzen darin gefangen.

Kann sein, der kriegerische Wahnsinn ist nur noch in den apokalyptischen Bildern einzufangen, die entstehen, wenn die Köpfe der KriegsministerInnen mit den Dokumenten der TV-Kameras zusammenstoßen und die Lügen multiplizieren. Es gibt nun ein Buch mit dem Titel »Szenen einer Nähe« 3, das die nachprüfbaren Fakten liefert, die von Bildern nicht beigebracht werden, weil die Kamera wie das Gewehr eine verordnete und auswählende Schussrichtung hat. Die Sprache aber geht aufs Einzelne und zugleich aufs Ganze. Wer sich fragt, wie Hitler in der Kürze von 1933 bis 1939 die Hunderttausend-Mann-Reichwehr zur millionenstarken Angriffswehrmacht hochrüsten konnte, muss wissen, die Aufrüstung war schon 1925 zu Zeiten der Weimarer Republik bis ins Detail ausgearbeitet worden.

Gibt es eine Parallele von 1925 zu den Neunziger Jahren? »Szenen einer Nähe« bietet eine überraschend dichte Faktensammlung, die diese Nähe belegt. Manches Material war inzwischen vergessen (gemacht) worden. Andere Informationen werden hier erstmals präsentiert. Wer davon keine Kenntnis nimmt und keinen Nutzen zieht, verharrt in selbstverschuldeter Unmündigkeit und hat zu verantworten, was unverantwortbar sein sollte.

Selbstverständlich wird im Orwellschen Zeitalter das Unverantwortliche protegiert. Der Name der Dame Suttner ist vergessen, obwohl sie, weil von Adel, auf Wiedergutmachung klagen könnte. Schließlich zahlt Biedenkopfs sächsische Landeskasse dem 1918 entlaufenen Königsgeschlecht einige lausige Millionen, und auch des Kaisers Erbonkelschar kann auf die rechtsstaatliche Wiedereinsetzung in vorige Unrechte und Pfründe hoffen. Kurzum, wer fürs Vaterland Kriege führte, darf auf höchste Belohnung rechnen, was will dagegen diese lausige PazifistInnenschar, der am Kreuz angenagelte Christus etwa – was für ein aufwendiger Ritualmord, der tagelang andauern kann. Wo bleibt da die Effizienz? Ein paar Bombenraketen auf ne menschliche Ansiedlung, da gehen hundert kaputt, eine zweite Hundertschaft stirbt, lebendig begraben, das langgezogene Christus-Ende. So rechnet sich's, denn die endverbrauchten Waffen müssen produziert und im Depot ersetzt werden. Oder nehmen wir den letzten Menschenrechtskrieg, da vertrieben und töteten erst die einen die anderen, bis Europa hilfreich eingriff, nun vertreiben und töten die anderen die einen und in Relation zu ihrer Anzahl ergeben sich die gleichen Resultate. Unsere Soldaten und ihre kommandierenden Politiker aber verzeichnen einen Imagegewinn, der glückhaft reziprok zum Imageverlust ihrer engstirnigen KriegsgegnerInnen, dieser ewig quengelnden PazifistInnen steht. Was will ein Oberkommando der höllischen Heerscharen mehr?

Der Beitrag von Gerhard Zwerenz ist ein Vorabdruck aus »Krieg im Glashaus«. Alle Rechte bei Verlag Edition Ost, Berlin.

Anmerkungen

1) Zitiert nach: Pazifistische Offiziere, Donath-Verlag, Bremen 1999

2) ebenda

3) Szenen einer Nähe, Pahl-Rugenstein-Nachfolger, Bonn 1998

Gerhard Zwerenz ist Schriftsteller.