Das hehre Ideal des Erkennens und die harte politische Leidenschaft

Das hehre Ideal des Erkennens und die harte politische Leidenschaft

Zum 50. Todestag von Albert Einstein

von Fritz Stern

Als Historiker über einen Wissenschaftler wie Albert Einstein zu sprechen, ist immer auch eine etwas unheimliche Herausforderung. Gehört er nicht in diesem Gedenkjahr zuvörderst den Dienern im Tempel der Wissenschaft, um ein Wort Einsteins bei Max Plancks 60. Geburtstag aufzugreifen? Und doch darf man Einsteins Wirken im öffentlichen Leben, seine Empfindungen und Äußerungen als entfremdeter Deutscher und ungewisser Weltbürger als ein Lehrstück der Geschichte betrachten. Nur weiß ich leider und aus sicherster Quelle, wie Einstein selber über Wissenschaft und Geschichts-Studium dachte. Als achtzehnjähriger Student hatte ich das Glück, ihn zu treffen. Auf seine Frage, was ich denn studierte, gestand ich Unentschlossenheit, ob ich mit dem medizinischen Studium – das eine Art familiäre Erbschaft war – fortfahren oder meiner Leidenschaft folgen und zu Geschichte und Literatur umsiedeln sollte. Einsteins spontane Antwort: Das ist doch einfach, Medizin ist Wissenschaft, Geschichte ist es nicht – also Medizin.

Mitgestalter und Opfer

Ich bin seinem Rat nicht gefolgt, und so spreche ich heute als Historiker über Albert Einstein. Einstein hat Glanz und Elend deutscher Geschichte erlebt und erlitten. Zur Zeit Einsteins war Deutschland die Verheißung, später die Heimsuchung der Welt – das Land, das entscheidenden Einfluss auf die Weltpolitik hatte, und in dem für einen Augenblick, der ein Leben lang zu währen schien, das moralische Drama unserer Zeit stattfand. Albert Einstein war Mitgestalter und später Opfer dieses Dramas. Er war ein Mann voller Widersprüche in einem Land von Widersprüchen.

Als Fünfzehnjähriger entkam er der Wehrpflicht durch den Weggang aus Deutschland. Es ist ja auch schwer, sich Einstein im Feldgrau vorzustellen. In der Schweiz genoss er die liberale Atmosphäre und konnte die Sprache, die er sein ganzes Leben lang pflegte und wie wenige beherrschte, beibehalten. Er empfand eine Abneigung gegen das kaiserliche Deutschland mit seinem Prunk und seiner verunsicherten Arroganz. Die viel gepriesene Schneidigkeit lag ihm nicht. Zeit seines Lebens hatte er das größte Misstrauen gegen die Macht. Er passte nicht in die Welt von Kaiser Wilhelm, dieser Unglücksfigur deutscher Geschichte mit seinem Anspruch auf Gottesgnadentum. Als junger Mann war Einstein bereits überzeugt, dass „Autoritätsdusel der größte Feind der Wahrheit“ sei.

1913 lockten Max Planck und Walter Nernst Einstein mit einem einmaligen Angebot in das wilhelminische Berlin. In jenen Vorkriegsjahren war Berlin das Mekka der Wissenschaft in dem aufsteigenden Land Europas. Diese Zeit erscheint mir als die zweite deutsche Geniezeit – nach dem Aufblühen deutscher Kultur am Ende des 18. Jahrhunderts. Einstein sollte bezahltes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ohne Berufsverpflichtungen werden.

Und doch kam er im April 1914 mit einigem »Unbehagen« nach Berlin. Vielleicht kann man das damit erklären, dass manches bei Einstein an einen seiner Lieblingsdichter erinnert: Heinrich Heine. Ein deutscher Jude wie er, der sein Leben im Exil verbringen musste, wie Einstein später auch. Vor kurzem stieß ich auf eine Stelle bei Heine, die er 1854 kurz vor seinem Tode verfasste. Ich weiß nicht, ob Einstein sie kannte, glaube aber, er hätte sie als erquickende Bosheit empfunden: „Charakteristisch ist es, dass unsern deutschen Schelmen immer eine gewisse Sentimentalität anklebt. Sie sind keine kalten Verstandesspitzbuben, sondern Schufte von Gefühl. Sie haben Gemüth, sie nehmen den wärmsten Antheil am Schicksal derer, die sie bestohlen … Sogar unsere vornehmen Industrieritter sind nicht bloße Egoisten, die nur für sich stehlen, sondern sie wollen den schnöden Mammon erwerben, um Gutes zu thun. In den Freistunden, wo sie nicht von ihren Berufsgeschäften … in Anspruch genommen werden, beschützen sie Pianisten und Journalisten, und unter der buntgestickten, in allen Farben der Iris schillernden Weste trägt mancher auch ein Herz, und in dem Herzen den nagenden Bandwurm des Weltschmerzes.“

So brillant hart konnte auch Einstein sich ausdrücken. Kein Wunder, dass viele Deutsche beide Männer als großes Ärgernis empfanden. Einstein konnte ähnlich bitter über die Deutschen lästern: „Wenn diese Leute mit Franzosen und Engländern zusammen sind, welcher Unterschied! Wie roh und primitiv sind sie. Eitelkeit ohne echtes Selbstgefühl, Civilisation: schön geputzte Zähne, elegante Kravatte, geschniegelter Schnauz, tadelloser Anzug, aber keine persönliche Kultur.“ Einstein kam nach Berlin als Europäer. Er hatte kurz in Italien gelebt, sich in der Schweiz am wohlsten gefühlt, hatte in Prag gelehrt und Paris besucht, und seinen ersten wissenschaftlichen Auftritt erlebte er in Brüssel 1911. Er stolperte ins Weltbürgertum, ehe er es als politische Notwendigkeit erkannte. Vor dem ersten Weltkrieg spürte er wohl nur eine Bindung – zu den Juden, zu seinen »Stammesgenossen«, wie er sie bezeichnete. In Russland etwa wurden damals Juden verfolgt, und in Deutschland hatten es junge Juden aus Osteuropa niederträchtig schwer; Einstein hatte stets eine besondere Neigung zu sofortiger Sympathie für die ungerecht Zurückgesetzten.

Plötzlich ein globaler Held

Bei aller Kritik blieb Einstein sein Leben lang mit Deutschland tief verbunden – im Guten wie im Bösen. Allein die Sprache, die er mit konziser, eleganter Klarheit beherrschte, markierte tägliche Erinnerung. Das Böse, das er in Deutschland beobachtete und erfuhr, ließ ihn das Gute nie vergessen; noch im Exil, trotz allem Hass auf Hitlers Deutschland, erinnerte er sich an den einzigartigen Gewinn, den ihm die Berliner Zeit brachte, sprach in Amerika von „dem kleinen Kreis von Menschen, der früher harmonisch verbunden war … und in dieser menschlichen Sauberkeit kaum mehr von mir angetroffen worden ist.“

Kaum angekommen in Berlin, tief versunken in Arbeit und Familienjammer, der Politik eher fremd, erlebte Einstein den Ausbruch des Weltkriegs: für ihn eine unbegreifliche Tragödie. Er musste die deutsche Begeisterung vom August 1914 miterleben, zusehen, wie Freunde und Spitzen deutscher Wissenschaft sich zu dem Aufruf »An die Kulturwelt« bekannten, diesem Loblied auf deutsche Unschuld und auf die deutsche Synthese von Kultur und Macht. Dieses Aufbrausen nationaler Gefühle war für Einstein unfassbar: Krieg als Ende eines faulen Friedens, als gesegnete Opferbereitschaft für Gott und Volk, Sterben als Erlösung und Erhöhung.

Bereits 1914 stieß er zu einer kleinen Gruppe von Kriegsgegnern, die den »Bund Neues Vaterland« gründeten, in Hoffnung auf baldigen Frieden. Der Bund wurde zwei Jahre später verboten, 1922 wurde er neu gegründet als deutsche Liga für Menschenrechte. Einige der Begeisterten von 1914 erschraken über die Kriegsführung und wurden zu einer wichtigen Gruppe von Moderaten, die den Mut zur Selbstüberwindung hatten und für einen Vernunftfrieden plädierten. Max Planck gehörte zu diesen Menschen, wie auch Ernst Troeltsch, der noch während des Krieges Kontakt mit Einstein aufgenommen hat.

Einstein war voller Hoffnung, als das Kaiserreich zusammenbrach, und Deutschland, so glaubte er, von Machtreligion und Kadavergehorsam befreit war. Es war eine allzu kurze Zeit der Freude, bis er im eigenen Leben spürte, wie sehr das alte Deutschland sich an der neuen Republik rächen wollte. 1919 bestätigte eine englische Expedition bei Messungen während einer Sonnenfinsternis Einsteins Relativitätstheorie. Er empfand dies als eine »Gnade des Schicksals«. Aber die Folgen waren unvorhersehbar und nicht nur gnadenvoll. Er wurde unmittelbar und weltweit mit Ruhm umgeben, wurde zum globalen Held der Wissenschaft erkoren. Es war wohl kein Zufall, dass Einstein, ein Unbekannter von unbestimmter Nationalität, Zivilist und Kriegsgegner, gerade in diesem Moment zu einer Leitfigur der Menschheit erhoben wurde. Nach dem Weltkrieg waren die alten Helden, die Würdenträger in Staat und Kirche verbraucht und verunsichert. Er kam zur richtigen Zeit.

Mit dem Ruhm kamen Versuchung und Verantwortung. Er wurde Zielscheibe von entrüsteten Kollegen, von Physikern, von Angriffen mit klarem antisemitischen Unterton. Und er ließ sich vom Pöbel zur Polemik verführen. Aber Einstein empfand Ruhm als Verpflichtung, als Möglichkeit, Menschen für seine philosophisch-politische Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit, Frieden und Anstand zu gewinnen. Das erschien vielen als Ärgernis – auch viele seiner Freunde wünschten sich mehr Zurückhaltung. Der Krieg machte ihn zum Beschwörer des Friedens, schließlich zum militanten Pazifisten, wie er selbst sagte. Die Wissenschaft blieb Zentrum des Lebens, aber er wollte sich in den Dienst politisch-sittlicher Anliegen stellen. Sein Bekenntnis zum Weltbürgertum war eigene Erfahrung, zum Prinzip erhoben.

Einsteins viele Auslandsreisen dienten der Völkerversöhnung und wurden vom Auswärtigen Amt begrüßt. Er wurde der angesehenste Repräsentant deutscher Wissenschaft. Bemerkenswert ist, wie er in dieser Rolle auf allen Feldern vom Verlangen nach Wahrheit geleitet war; er war immer bereit zum Umdenken und zur Kritik gerade an Richtungen, die ihm am nächsten standen. Sein Einsatz für das Gedeihen einer jüdischen Heimat in Palästina etwa war eindeutig; er bemühte sich ganz besonders um die Errichtung der Hebräischen Universität in Jerusalem 1923, dessen oft unbequemer Schutzengel er blieb. Zugleich war aber seine Kritik in Briefen und gelegentlich in der Öffentlichkeit verblüffend hart.

1919 schrieb er an Paul Ehrenfest: „Am meisten freut mich die Realisierung des jüdischen Staates in Palästina. Es kommt mir vor, dass unsere Stammesgenossen doch sympathischer sind (zum mindestens weniger brutal) als diese scheußlichen Europäer.“ Sein Besuch in Jerusalem hat ihn tief bewegt. Aber schon in den späteren zwanziger Jahren warnte er Chaim Weizmann, seinen Freund, den Chemiker und Hauptvertreter des Zionismus, vor den Gefahren eines jüdischen Nationalismus; ohne Rücksichtnahme auf die Lebensinteressen der Araber, war er überzeugt, würde die zionistische Sache zerbrechen. Er fürchtete den „blödsinnigen Nationalismus und Rassenfimmel“, den man den anderen nachmacht „nach einer beispiellosen Schule des Leidens“. Der deutsche Mord an den Juden war für ihn der unfassbare Schluss dieser Schule des Leidens. Aber trotz aller Bedenken und kontinuierlicher Kritik hat er sich stets für den Staat Israel eingesetzt. Und nach Weizmanns Tod 1952 wurde er gebeten, das Amt des Präsidenten anzunehmen. Er blieb in Princeton, einsam und besorgt.

Die Nationalsozialisten hassten Einstein. Er war der Feind schlechthin: Jude, Pazifist, linker Streiter für Vernunft und Versöhnung. 1933 wurde er ausgebürgert, enteignet, seine Bücher wurden verbrannt. Schon Anfang der Zwanziger erkannte Einstein im Nationalsozialismus Hass und Gewalt, den Willen zu Krieg und Zerstörung. Er blieb sich treu und versuchte bereits im Frühling 1933, die Welt von den Gefahren Hitlers zu überzeugen. Dem opferte er sogar seinen Pazifismus und verlangte die Aufrüstung gegen Hitler. Gleichzeitig sah er mit Schrecken, wie die deutsche Geisteselite sich um Hitler scharte, ihn als Retter verherrlichte und das Ausstoßen jüdischer Kollegen befürwortete oder hinnahm. Wenige versuchten, die Ehre der Universitäten zu retten, zu einer Zeit, wo Protest gegen das Regime vielleicht noch hätte Wirkung haben können. Der Protest kam nicht, und das Schweigen ermutigte die Nazis zu immer größerer Radikalität.

Nicht versöhnt

Verletzend schrieb Einstein seinem Freund Fritz Haber, der als ehemaliger Frontsoldat im Amt hätte bleiben können und freiwillig und verzweifelt aus ihm ausschied, um nicht seine jüdischen Kollegen entlassen zu müssen: „Ich freue mich sehr, … dass Ihre frühere Liebe zur blonden Bestie ein bisschen abgekühlt ist … Hoffentlich gehen Sie nicht nach Deutschland zurück. Es ist doch kein Geschäft, für eine Intelligenzschicht zu arbeiten, die aus Männern besteht, die vor gemeinen Verbrechern auf dem Bauche liegen und sogar bis zu einem gewissen Grade mit diesen Verbrechern sympathisieren. Mich haben sie nicht enttäuschen können, denn ich hatte für sie niemals Achtung und Sympathie …“

Einstein konnte Deutschland nicht vergeben, diesem Land von »Massenmördern«. Er hat nur den Anfang der Bundesrepublik erlebt; er hat sämtliche ihm angebotenen Ehrungen abgelehnt, bis auf die Benennung eines Gymnasiums in Berlin nach seinem Namen. Es wäre vermessen zu spekulieren, ob er später zum Umdenken bereit gewesen wäre. Man darf aber vermuten, glaube ich, dass er den Mut zur Selbst-Befreiung in der DDR im Herbst 1989 begrüßt hätte: Leipzig am 9. Oktober, das hätte ihn beeindruckt.

Er starb am 18. April vor 50 Jahren in Princeton – mehr in Sorge als Hoffnung. Auch die Vereinigten Staaten sah er am Ende mit großem Misstrauen. Nach Hiroshima war er ein eindringlicher Mahner, dass Wissenschaftler ihre eigene große Verantwortung tragen müssten. Machtbesessenheit war ihm verhasst, sein Verlangen nach einer Weltregierung stieß auf taube Ohren, sein Wirken für eine vernünftige Nuklear-Politik hatte kaum Erfolg. McCarthys Amerika sah er mit deutschen Augen und unterschätzte die Gegenwehr im Lande.

Aber trotz aller Enttäuschungen hat Einstein sich menschlicher Größe nie verschlossen. In seinem Beitrag zur Gedenkfeier für Max Planck im Jahr 1947 heißt es: „Wem es vergönnt war, der Menschheit einen großen schöpferischen Gedanken zu schenken, der hat es nicht nötig, von der Nachwelt gepriesen zu werden. Denn ihm ward Höheres zuteil durch eine eigene That. Und doch ist es gut, ja sogar nötig, dass sich hier an diesem Tage Abgesandte der nach Wahrheit und Erkenntnis strebenden Forscher aus allen Teilen der Erde vereinigen. Sie legen Zeugnis dafür ab, dass auch in diesen Zeiten, in denen politische Leidenschaft und rohe Gewalt so große Sorgen und Leiden über die Menschen verhängen, das Ideal des Erkennens unvermindert hoch gehalten wird. Dies Ideal, das von jeher die Forschenden aller Nationen und Zeiten eng verbunden hat, war in Max Planck in seltener Vollkommenheit verkörpert.“ Es ist der Geist dieses Nachrufs, den wir im Gedenken an Albert Einstein zu bewahren haben.

Prof. em. Dr. h.c. mult. Fritz Stern, Historiker, Columbia University New York. Der Text ist eine gekürzte Fassung des Vortrags, den er am 6. März 2005 vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Berlin gehalten hat.

Keine Kenntnis von den Erkenntnissen

Keine Kenntnis von den Erkenntnissen

Zur Göttinger Erklärung gegen deutschen A-Waffenbesitz

von Corinna Hauswedell

Unter dem Titel »Keine Kenntnis von den Erkenntnissen« veröffentlichte Corinna Hauswedell zum 30. Jahrestag der Göttinger Erklärung in W&F eine Würdigung der »Göttinger 18«; jener Amtomwissenschaftler, die sich in einem Apell 1957 gegen die beabsichtigte atomare Bewaffnung der Bundeswehr wandten und versicherten, dass sie nicht bereit seien, sich „an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Der Autorin ging es damals nicht nur darum, die historischen Umstände in Erinnerung zu rufen, es ging ihr auch darum den Blick zu öffnen für Konstanten und Veränderungen im Engagement der WissenschaftlerInnen gegen die Atomkriegsgefahr – einschließlich deren Wirkungen auf die Politik. Wir erlauben uns einen Nachdruck dieses Artikels aus W&F 2-1987, auch deshalb, weil er einen Blick auf die Bewegung in den 80er Jahren wirft und wohl wissend, dass das Engagement der WissenschaftlerInnen sich seitdem weiter verändert hat – aber darauf beziehen sich andere Artikel in dieser W&F Ausgabe.

Wenn „… die Wissenschaftler sagten, ein kleines Land wie die Bundesrepublik schütze sich am besten durch einen ausdrücklichen Verzicht auf den Besitz atomarer Waffen, dann habe das mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nichts zu tun … man müsse aber Kenntnis von den Erkenntnissen haben, die diese Wissenschaftler nicht hätten, weil sie nicht zu ihm gekommen seien…“1 Diese erste heftige Reaktion Adenauers auf die »Göttinger Erklärung« enthüllte nicht nur die feudalistisch geprägte Denkungsart des Kanzlers, sondern auch in erschreckender Weise das Politikverständnis der Regierenden: Alle anderen sind inkompetent und unter Berufung auf Wissenschaftlichkeit wird die Wissenschaft von der Politik ausgeschlossen.

Dabei waren es gerade der bemerkenswert demonstrative Mangel an Sachkenntnis und die damit intendierte Verharmlosung in einer Presseerklärung Adenauers vom 5. April 1957 („Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie. ..“2) die die »Göttinger 18« schließlich zu ihrem öffentlichen Auftreten provoziert hatten. Vorausgegangen waren zwischen 1954 und 1956 Meldungen über die geplante atomare Ausrüstung der Bundeswehr mit US-Raketen und im November 1956 ein Brief der Atomwissenschaftler an Verteidigungsminister Strauß, „öffentlich zu erklären, dass die Bundesregierung Atomwaffen weder herzustellen noch zu lagern gedenke.“3 Die Antwort war unbefriedigend geblieben und Adenauers Presseerklärung musste nun aufs Äußerste beunruhigen. „…sie musste fast zwangsläufig der deutschen Bevölkerung ein völlig falsches Bild von der Wirkung der Atomwaffen vermitteln. Wir fühlten uns also verpflichtet zu handeln… Erstens musste die deutsche Bevölkerung über die Wirkung der Atomwaffen voll aufgeklärt, jeder Beschwichtigungs- oder Beschönigungsversuch musste verhindert werden. Zweitens musste eine veränderte Stellung der Bundesregierung zur Frage der atomaren Bewaffnung angestrebt werden. Daher durfte sich die Erklärung nur auf die Bundesrepublik beziehen.“4 So schilderte W. Heisenberg die Motive der »Göttinger«. „Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit…“, das war der Antrieb für die achtzehn Wissenschaftler, als »Nichtpolitiker« in die Politik einzugreifen. Sie nahmen dafür den Vorwurf der Inkompetenz in kauf, mussten sich, wie schon andere vor ihnen, des Vaterlandsverrats bezichtigen lassen. So argwöhnte Adenauer, sie hätten „es geradezu auf eine Schwächung der Bundesrepublik abgesehen.“5

C.F. von Weizsäcker erläuterte zwei Wochen, nachdem die Veröffentlichung zunächst Empörung und dann Beschwichtigungsversuche regierender Politiker ausgelöst hatte, die hinter der Erklärung stehenden Überlegungen:

  • „Erstens: Der Westen schützt seine eigene Freiheit und den Weltfrieden durch die atomare Rüstung auf die Dauer nicht; diese Rüstung zu vermeiden, ist in seinem eigenen Interesse ebenso wie in dem des Ostens.
  • Zweitens: Die Mittel der Diplomatie und des politischen Kalküls reichen offenbar nicht aus, dieser Wahrheit Geltung zu verschaffen; deshalb müssen auch wir Wissenschaftler reden und sollen die Völker selbst ihren Willen bekunden.
  • Drittens: Wer glaubwürdig zur atomaren Abrüstung raten soll, muss überzeugend dartun, dass er selbst die Atombombe nicht will.

Nur dieser dritte Satz bedarf noch eines weiteren Kommentars. In der Schrecksekunde nach der Veröffentlichung unserer Erklärung wurde uns von prominenter Seite vorgeworfen, wir hätten uns an die falsche Adresse gewandt; wir hätten einen Appell an unsere Kollegen in der ganzen Welt richten sollen. Diesen Vorwurf halte ich für ein Missverständnis. Dass die große Welt nicht auf Appelle abrüstet, haben wir erlebt. Wir hatten uns dorthin zu wenden, wo wir eine direkte bürgerliche Verantwortung haben, nämlich an unser eigenes Land…“6

Dass die »Göttinger« sich gegen das lähmende und diskriminierende geistige Klima des Kalten Krieges überhaupt zu ihrer Manifestation zusammenfanden, macht bereits ein Gutteil ihrer moralischen und politischen Bedeutung aus.

Die drei Punkte Weizsäckers verweisen auf die Substanz und das Anliegen der »Göttinger 18« und damit zugleich über den historisch-konkreten Anlass der »Göttinger Erklärung« hinaus. Sie enthalten bereits wesentliche Elemente dessen, was heute mit dem Begriff des »neuen Denkens« impliziert ist.

Auch Heisenberg entwickelte in der direkten Konfrontation mit Adenauers Vorwürfen (siehe oben) die Notwendigkeit, sich der neuen Herausforderung des Atomzeitalters zu stellen: „Wir seien überzeugt, dass jede atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu einer gefährlichen Schwächung der politischen Stellung der Bundesrepublik führen müsste, dass also gerade die Sicherheit, an der ihm mit Recht soviel gelegen sei, durch eine atomare Bewaffnung aufs Äußerste gefährdet wird. Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der sich die Fragen der Sicherheit ebenso radikal veränderten wie etwa beim Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit und man müsse sich in diese Veränderung erst gründlich hineindenken, bevor man leichtfertig den alten Denkmustern folgen dürfe.“7

Die Infragestellung der atomaren Abschreckung (und der damit verbundenen Rüstungsspirale), die Notwendigkeit des eigenständigen Handelns der Menschen (nicht nur der Politiker), die Bereitschaft »im eigenen Land« mit Abrüstung zu beginnen (einseitig und konkret), diese Schlussfolgerungen, die Weizsäcker bereits 1957 andeutete, sind politischer Natur. Möglich geworden sind sie allerdings aus der (natur-) wissenschaftlichen Kenntnis von dem Ausmaß der atomaren Gefahr.

Nach 30 Jahren fortgesetzter atomarerAufrüstung mehren sich die Anzeichen, dass dieser Zusammenhang – dass das Atomzeitalter eine wirkliche neue Politikkonzeption für die Friedenssicherung verlangt – auch zunehmend in die Politik Eingang findet.

Bei weitem nicht überall allerdings ist dies schon so. Das Antwortschreiben von VerteidigungsministerWörner an die lnitiatoren des Internationalen Naturwissenschaftlerkongresses in Hamburg im November 1986 »Wege aus dem Wettrüsten« ist noch vom alten Denken geprägt: „…Entscheidend ist dabei allerdings, dass den sicherheitspolitischen Zusammenhängen Rechnung getragen wird. Gestatten Sie mir festzustellen, dass in diesem Punkt die Stellungnahmen zu allen Bereichen möglicher und erforderlicher Abrüstung aus wissenschaftlicher Sicht eine Reihe schwerwiegender Mängel aufweisen…“8 Sicherheitspolitik und wissenschaftliche Sicht bleiben anscheinend unvereinbar für die Regierenden unserer Landes.

Die Veränderungen in den Reihen der »Nichtpolitiker«, 30 Jahre nach der»Göttinger Erklärung« gerade auch bei den Naturwissenschaftlern, geben allerdings Anlass zu mehr Zuversicht. Nach den »Göttingern« sind sehr viele hinzugekommen, die ihre Stimme erheben, die Mitarbeit an Rüstungsprojekten verweigern. Man organisiert sich in unterschiedlicher Weise; Kongresse zu einzelnen Waffensystemen sowie zu allgemeinen Rüstungsfragen sind eine übliche Form des fachlichen Meinungsaustausches wie der politischen Stellungnahme geworden. International ist die Zusammenarbeit – gemeinsam die zu lösenden Aufgaben.

Ein Anlass für diese neue Qualität und Qualifizierung im Friedensengagement der Wissenschaftler (wie vieler anderer Berufsgruppen) war die erneute Zuspitzung der atomaren Rüstungsdiskussion anlässlich der Stationierung der Mittelstreckenraketen 1983 in Europa.

Vergleicht man heute die Stellungnahme der Naturwissenschaftler, etwa die »Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums« (1984) mit der alten »Göttinger Erklärung« fällt das neue Selbstbewusstsein ins Auge. An die Stelle von Berufung auf »Nichtpolitiker« – Status und »Wissenschaft« tritt die explizite Zielstellung, „Öffentlichkeit und Politiker über die geplante Militarisierung des Weltraums und ihrer Konsequenzen sachlich zu informieren sowie konstruktive Beiträge zur Friedenssicherung zu leisten.“9

Die Verantwortung der Wissenschaft wird konkret wahrgenommen: Als »Dienstleistung« von Experten für die Friedensbewegung und die Öffentlichkeit und zunehmend als Initiatoren gegenüber der Politik. Während die »Göttinger« noch schrieben, „wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen“, liegen jetzt der Vertragsentwurf zur Weltraumrüstung sowie die »Hamburger Abrüstungsvorschläge« vor.

In dieser Entwicklung kommen tiefgreifende Prozesse zum Ausdruck: Die wachsende Bedeutung der Wissenschaft für alle gesellschaftlichen Bereiche, das sich in Richtung Selbsttätigkeit ändernde Politikbewusstsein vieler Menschen.

Die entsprechenden Rückwirkungen auf die Politik selbst stehen noch aus. Die Chancen allerdings sind größer geworden. An der »Kenntnis von den Erkenntnissen« mangelt es nicht!

Anmerkungen

1) Archiv der Gegenwart vom 12.4.1957.

2) Zit. nach Der Spiegel vom 17.4.57.

3) Otto Hahn: Mein Leben, München 1986, S. 231.

4) Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, München 1979, S. 265.

5) Zit. nach ebd.

6) Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen 1957. Zitiert aus dem Vortrag am 29.4.1957 in Bonn für die Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Studentenschaften, ebd.

7) W. Heisenberg, a.a.0.

8) Brief des Bundesministers der Verteidigung vom 19.12.86 an Prof. Dr. Peter Starlinger.

9) Aus »Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums«, verabschiedet auf dem Kongress »Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor der Militarisierung des Weltraums« am 7./8. Juli 1984 in Göttingen.

Dr. Corinna Hauswedell ist (heute) für das Bonn International Center for Conversion (BICC) Mitherausgeberin des Friedensgutachtens. Sie ist Vorsitzende des Arbeitskreises Historische Friedensforschung und W&F Vorstandsmitglied

Der Sieg

Der Sieg

von Günter Giesenfeld

Die Redaktion von W& F bittet mich, einen Gastkommentar zu schreiben zum 30. Jahrestag „der Beendigung des Vietnamkrieges.“ Erst nach einem Moment stutze ich: wir nannten das damals „den Sieg“, und zwar „des vietnamesischen Volkes gegen die Aggression der USA“. Heutzutage mag das nostalgisch klingen, oder überholt – obwohl ich doch das Adjektiv »imperialistisch« schon gleich weggelassen habe. Trotzdem: Von welcher Perspektive es man auch immer betrachtet, und nach allen Kriterien der historischen Wissenschaften ist die Formulierung vom »Sieg« absolut korrekt!

Dazu ein kleines Notfall-Set an Erinnerungs-Essentials zur Geschichte dieses Krieges (besser: dieser Kriege): Es war zunächst ein Kolonialkrieg (nein: ein antikolonialistischer Befreiungskampf), der um 1860 begann, als Frankreich nach und nach ganz Indochina besetzte und zu einer Kolonie machte, das heißt: die absolute Macht übernahm, die Menschen und Ressourcen des Landes ausbeutete und jeglichen Widerstand gnadenlos niedermassakrierte (auch wieder so ein Wort, aber eben auch zutreffend). Der erste Sieg über diese Fremdherrschaft wurde 1945 errungen (Gründung des unabhängigen Staates DRV), aber die Kolonialmacht kehrte zurück und wurde trotz amerikanischer Unterstützung ein zweites Mal geschlagen (Dien Bien Phu 1954). Dann nahmen die USA die Sache selber in die Hand, besetzten unter Missachtung des internationalen Abkommens von Genf den Süden und versuchten, den Norden »in die Steinzeit zurück« zu bombardieren. 1975 mussten auch sie das Land verlassen, in dem sie nie etwas zu suchen gehabt hatten. In dieser Zeit war »Vietnam« längst zu einem Symbol geworden, an dem der kalte Krieg in einen lokalen heißen übergeführt wurde, probehalber sozusagen, um, wie es Eisenhower sah, „ein Exempel, zu statuieren.“ Der letzte Kolonialkrieg war schon längst übergegangen in einen jener »modernen« Kriege, die die USA zur Erringung und Wahrung ihrer Welt-Vormachtstellung bis heute führen.

Wie lange dauert es, bis ein Krieg im Gedächtnis der Nachwelt so eingeebnet wird, dass sich die üblichen Reflexionen erübrigen: wer ihn angefangen, wer ihn gewonnen und wer warum ihn verloren hat? Und nach einem Anstandsabstand verbietet es uns die politische Korrektheit auch, darüber nachzudenken, ob dieser oder jener Krieg »gerechtfertigt«, vielleicht, als aufgezwungener Verteidigungskampf, ein »guter« war, wo doch die Kriege allesamt so grausam sind! Die Artikel und Sendungen zu diesem Jahrestag werden wieder einmal die stereotypen Formulierungen verwenden, die von der historischen Forschung längst widerlegt sind: „Bürgerkrieg“, „Kommunismus“, „Vietnamtrauma“, und immer wieder die zynische Rede von einem Vietnam, das „den Krieg gewann und den Frieden verlor“. Sie stammen aus der damaligen Kriegspropaganda des Westens, die vor allem in den Spielfilmen zum Thema fortlebt, haben aber eine neue Funktion: Sie setzen jenen Prozess in Gang, mit dem Kriege, je mehr sie in der Vergangenheit versinken, zu kaum mehr genau erklärungsbedürftigen »Katastrophen« stilisiert werden, welche die Menschheit überfallen und die folglich »beendet« werden müssen.

Wo das Kriegserinnern, wie auch jetzt anlässlich des 60. Jahrestags des »Endes« des 2. Weltkriegs, immer offener »beider Seiten« zu gedenken versucht (alliierte Soldaten und Waffen-SS, Flüchtlinge in dieser und jener Richtung), wo in der Lokalpresse meiner Stadt vor allem hervorgehoben wird, sie habe sich den Amerikanern „ohne Widerstand“ ergeben und dies als ein Widerstandsakt gegen die Naziherrschaft erscheinen soll, da hat dieser Prozess bereits unser Gedächtnis kolonisiert in bezug auf Ereignisse, die hierzulande stattfanden. Was Wunder, dass dies noch viel besser funktioniert, wenn es sich um ein fernes kleines Land handelt, das zwar irgendwann eine gewisse Rolle auch in der Innenpolitik »Deutschlands« gespielt hat, heute jedoch eher zu den geistigen Kinderkrankheiten einer Generation (der 68er) gezählt wird, die jetzt schon in Rente ist.

Wie aber verhält es sich in Vietnam selbst? Dort betrifft das Erinnern nicht eine Niederlage, sondern einen Sieg, der die »Geburt einer Nation« vollendete. In Vietnam werden also große Feiern stattfinden, Paraden, Feste, Staatsakte, und es wird, trotz des Willens zur Eingliederung in die »neue globalisierte Welt«, vom »Sieg« die Rede sein, und in Veteranentreffen auch vom »Heldentum«, mit dem dieser ungleiche Kampf geführt und gewonnen wurde. Aber Fakt ist auch, dass ca. 80 % der Bevölkerung Vietnams keine persönlichen Erinnerungen mehr an diesen Krieg haben. Außerdem kann die Nachkriegszeit in Vietnam charakterisiert werden als eine Periode voller Enttäuschungen, in der den Menschen in diesem Land der Frieden und das Genießen der Früchte ihres Siegs vorenthalten wurde. Dies begann gleich nach 1975, als es den USA und dem Westen gelang, das Land komplett zu isolieren und in die Abhängigkeit von den sozialistischen Staaten zu treiben. Und das setzte sich fort in den Aggressionen der Roten Khmer und der Vertreibung der Völkermörder und die internationale Bestrafung dafür durch die Invasion chinesischer Truppen im Norden und die Unterstützung Chinas und des Westens für die Pol-Pot Banden. Eine Zeitlang konnte man den Enthusiasmus und die Opferbereitschaft des Volkes aus dem Befreiungskampf noch für den Aufbau einsetzen, aber der Boykott – und eigene Fehler – verhinderten, dass es in Vietnam ein Aufbau-Wunder gab, wie etwa in der BRD nach 1950.

Aus der Heldenrolle mit weltgeschichtlicher Bedeutung fiel Vietnam zurück in die Situation eines rückständigen Entwicklungslandes, das extrem schlimme Kriegsfolgen zu beseitigen hatte und in dieser Kriegszeit an derjenigen geschichtlichen Entwicklung gehindert wurde, die seine Nachbarstaaten nahmen. Dann brach das sozialistische System zusammen und die von dort fließende solidarische Hilfe blieb aus. Errungenschaften der »Revolution«, die auf dieser Hilfe beruhten (z.B. das kostenlose Gesundheits- und Erziehungssystem), mussten aufgegeben werden. Der Anschluss an den Westen und die Integration in ein globales kapitalistisches Wirtschaftssystem waren jetzt ohne Alternative. Die »Öffnungs-Politik«, 1986 initiiert, spülte zugleich westliches Konsum- und Konkurrenzdenken ins Land. Alte Traditionen und kulturelle Werte, die mit zum Sieg beigetragen hatten, wurden verdrängt, und neu entstehende, vor allem materielle Bedürfnisse konnten wegen des ausbleibenden Aufschwungs nicht befriedigt werden.

In den jüngeren Generationen entstand ein Lebensgefühl, in dem sich Anspruchsdenken und Rückzug in die individuelle Sphäre mischten. Bei manchen, vor allem jungen Schriftstellern, äußerte sich das in einer zuweilen zynischen Ablehnung der revolutionären Tradition, in der Weigerung, die heroische Vergangenheit als ihre eigene zu betrachten. Damit provozierten sie nicht nur den erbitterten Widerstand der Älteren, die plötzlich ihre Verdienste, ihre Opfer, die das Leben der meisten von ihnen so geprägt und erfüllt haben, dass es für sie danach keine Perspektive mehr gab, in Frage gestellt sahen. Diese »jungen Wilden« brachten darüber hinaus sogar die existentielle Frage in die öffentliche Diskussion ein, ob diese Krieg überhaupt sinnvoll war, die Opfer »etwas gebracht« haben, womit ein Tabu gebrochen wurde, das für das nationale Selbstverständnis der Vietnamesen von existentieller Bedeutung ist.

Diese Auseinandersetzungen, die wie ein Generationenkonflikt erscheinen, aber eher ein grundsätzlicher Disput über nationale Identität sind, zeigen sich einem fremden Besucher in Vietnam nicht unmittelbar im Alltagsleben. Und sie werden auch in den Reden zum Jubiläum nicht auftauchen. Die Oberfläche, die sich derzeit einem Besucher (in den Städten) bietet, ist geprägt von einem Umbruch, der sich vor allem ökonomisch zeigt: Kosum- und Warenwerbung, Freizeitindustrie, unpolitisches Karrieredenken. Regierung und Partei tun sich schwer, angesichts noch immer verbreiteter Armut, angesichts von Analphabetismus, von Mängeln in der Bildungs- und Gesundheitsversorgung oder im Kampf gegen AIDS an die Solidarität der Menschen zu appellieren. Aber das Schisma ist noch nicht so stark, dass es die soziale Einheit und Ordnung ernsthaft gefährden würde. Und vor allem ist es nicht so strukturiert, wie es eine westliche Presse naiv behauptet bzw. gerne sähe: Hier kann nicht die Rede sein von einer Opposition der Bevölkerung gegen das Regime, sondern die Bruchstellen sind in Partei und Regierungsapparat ebenso evident wie in bestimmten Gruppen, Klassen und Institutionen. Dazu kommt, dass die offizielle Rhetorik, der öffentliche Disput noch immer geprägt sind vom hohen Ideal der nationalen Einheit, das auf der einen Seite eine manchmal zweifelhafte Behandlung bestimmter Konflikte in den Minderheiten-Regionen oder im kulturellen Bereich legitimieren muss. Auf der anderen Seite ist dieses Ideal aber immer noch für die Mehrheit der Bevölkerung die Basis ihres Selbstverständnisses als Volk und als Nation, hat infolgedessen immer noch das Potenzial, den Sinn für soziale Harmonie, der in einer langen kulturellen Tradition wurzelt, zu erhalten.

Denn zu lange haben die Kriege in Vietnam gedauert, zu sehr waren sie durch den Kampf ums Überleben sowohl des Einzelnen als auch des Landes als identifikatorischer Bezugspunkt geprägt, als dass diese Erfahrungen, auch als überlieferte, so schnell ihre Wirkungskraft verlieren könnten. Die Anstrengungen des Staates, das oft beschämende Schicksal der Veteranen zu mildern, für die Opfer des Einsatzes von Giftstoffen (Dioxin) zu sorgen, auch die Privilegien, die aktive Kriegsteilnehmer (Kämpfer für die Befreiung!) genießen, all dies wird nicht in Frage gestellt, auch von denen nicht, die die heroisierende und alle Widersprüche und das elende Verkommen im Dreck vieler Soldaten und Zivilisten verdrängende Behandlung des Krieges in historischen und künstlerischen Darstellungen ablehnen.

Das Gedenken an diesen Krieg kann für uns nur darin bestehen, dass wir dafür sorgen, die nivellierende Verharmlosung zu verhindern, und das ist nur durch genaues Erinnern möglich, und nicht durch das Feiern eines abstrakten, übermenschlichen »Heldentums« (wie es in Vietnam lange Zeit geschah), nicht als Rehabilitation »soldatischer Tugenden«, wie es bei uns geschah und geschieht. Das Gedenken an diesen Krieg, an Kriege überhaupt, muss stets ein entmystifizierendes sein, verbunden mit der Neugier auf die geschichtlichen Fakten, von denen mit dem zeitlichen Abstand immer mehr sich der Erkenntnis und dem Lernen aus der Geschichte darbieten, einem Lernen, das Stellung bezieht und einen Sieg der »richtigen Sache« auch nach 30 Jahren noch als einen solchen anerkennt.

Günter Giesenfeld, Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Vietnam, Autor von Büchern und Artikeln zu Indochina. Professor für Neuere deutsche Literatur und Medien an der Philipps-Universität Marburg, Lehre und Forschungsprojekte zu den Massenmedien, Filmhistoriker und Filmemacher. Seit einem Jahr Pensionär.

Kommunikation als Deeskalationsstrategie

Sozialliberale Ostpolitik:

Kommunikation als Deeskalationsstrategie

von Gottfried Niedhart

Die Themen und Schwerpunkte der friedenswissenschaftlichen Forschung, die unter der normativen Vorgabe von Gewaltreduktion und Friedenswahrung steht, entstammen zumeist den Konflikten der Gegenwart. Bei der Suche nach Konfliktlösungen sehen sich sozialwissenschaftlich orientierte und zugleich empirisch arbeitende Friedensforscher zu Fallstudien gezwungen, die der Vergangenheit entstammen.1 Parallel dazu interessieren sich Historiker mit ihren zeitlich und räumlich begrenzteren Fragestellungen für Hypothesen- und Theoriebildungen der sozialwissenschaftlichen Nachbarwissenschaften.2 Insgesamt gesehen wird man eher von Koexistenz als von Interdisziplinarität sprechen müssen. Im Folgenden handelt es sich um die Beschreibung eines historischen Einzelfalls, der als Beispiel für einen gelungenen Konfliktabbau in den internationalen Beziehungen gilt.

Der Ost-West-Konflikt trat im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren in eine Phase, die mit den Begriffen Entspannung oder Détente bezeichnet wird und die den weiteren Verlauf des die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschenden Weltkonflikts entscheidend veränderte.3 Unterhalb der Ebene der Supermächte – aber von Bedeutung auch für die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen – spielte die Bundesrepublik Deutschland dabei eine zentrale Rolle. Ihre »neue« Ostpolitik führte zu einer Normalisierung ihrer Beziehungen mit der Sowjetunion und den übrigen Staaten des Warschauer Pakts.4 Als „vielfach vernetzte Ausgleichsmacht“5 hatte die Bundesrepublik einen bedeutsamen Anteil an der Deeskalation des Ost-West-Konflikts.

Im Unterschied zu Asien blieb der Ost-West-Konflikt in Europa unterhalb der Schwelle zum Krieg. Zugleich wurde er von den Zeitgenossen zunächst keineswegs als Konflikt verstanden, wie man ihn aus der Geschichte der internationalen Politik als Interessenkonflikt herkömmlicher Art kannte. Schon den Autoren des Schlüsseldokuments NSC-68, das für die Einstellung der USA gegenüber der Sowjetunion im Frühjahr 1950 richtungweisende Bedeutung hatte, stand vor Augen, der amerikanischen Öffentlichkeit verdeutlichen zu müssen, dass der Kalte Krieg ein »wirklicher Krieg« war, in dem das Überleben der freien Welt auf dem Spiel stand.6 In der Bundesrepublik, die ein Produkt des Kalten Kriegs war, überwog in den 1950er Jahren eine ähnliche Sichtweise. Bundeskanzler Adenauer nahm zwar nicht an, die Sowjetunion suche ein kriegerisches Abenteuer. Ihre Politik folge allerdings „Welteroberungsplänen“ und sie wolle Westdeutschland „im Wege des Kalten Krieges“ vereinnahmen. Eine Lösung des Konflikts war für Adenauer nur als Ergebnis westlicher Überlegenheit denkbar: „Erst muss der Westen einschließlich der USA so stark sein, dass die Russen Angst haben. Dann erst kann man mit den Russen verhandeln.“7

Nachdem sich der Kalte Krieg mit den Krisen um Berlin und Kuba zwischen 1958 und 1962 gefährlich zugespitzt hatte, wurden Vorstellungen entwickelt, wie man zu einer Einhegung des Konflikts, vielleicht sogar zu seiner Entschärfung kommen könnte. Ohne den Ost-West-Konflikt beenden zu können, gelang es doch, ihn in eine Phase der Entspannung zu überführen, in der an die Stelle der Konfrontation das Bemühen um antagonistische Kooperation8 trat. Die Bundesrepublik spielte dabei zunächst die Rolle eines Nachzüglers, weil sie aufgrund deutschlandpolitischer Orthodoxien nur schwer aus den Konfliktmustern des Kalten Kriegs herausfinden konnte. Mit der neuen Ostpolitik, die schrittweise mit der Regierung der Großen Koalition 1966/67 einsetzte, um mit der sozialliberalen Regierung 1969/70 den Durchbruch zu erzielen, gelangte die Bundesrepublik in eine Schlüsselposition und nahm eine entspannungspolitische Pionierrolle ein.9 Sie stand dabei im Schatten von zwei Kriegen: dem Zweiten Weltkrieg, der in Europa von Deutschland ausgegangen war und gut zwanzig Jahre nach seinem Ende im kollektiven Gedächtnis der Europäer noch überaus präsent war; und dem Kalten Krieg, der sich auf Deutschland und Europa gelegt hatte und das Land wie den Kontinent teilte. In dieser Lage hatte die Ostpolitik eine doppelte Funktion. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg war sie Versöhnungspolitik, im Hinblick auf den Kalten Krieg verstand sie sich als Deeskalationspolitik. Darüber hinaus aber versuchte die Bundesrepublik die Entspannungspolitik zu nutzen, um aus dem Schatten der Kriege herauszutreten und auf die Überwindung der aus beiden Kriegen resultierenden Teilung Europas hinzuwirken.

Beschreibt man den Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren als Durchbruch zur Deeskalation des Ost-West-Konflikts, so ist gleichzeitig generell daran zu erinnern, dass jede Deeskalation nicht bereits die Lösung des Konflikts bereithält. Tatsächlich blieben 1969/70 die Konfliktfelder (Rüstungspolitik, Politik in der Dritten Welt, Menschenrechtspolitik) allesamt erhalten. Wie sich herausstellen sollte, war die Ost-West-Entspannung alles andere als ein linearer Prozess. In den unvermeidlichen Rückschlägen lag ein reales, vor allem aber psychologisch wirksames Gefahrenpotential, das die Gefahr des Rückgriffs auf älteres Konfliktverhalten heraufbeschwor. Dass es auch in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, die vielfach als zweiter Kalter Krieg bezeichnet werden, nicht zu einem Rückfall in den Kalten Krieg der 1950er Jahre kam, ist auf die Formen der Annäherung und des Kompromisses zurückzuführen, die in der Phase der Détente praktiziert worden sind.10

Auch die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesregierung war nicht frei von Ambivalenzen. Denn die Bundesrepublik hielt als revisionistischer Staat, der sie bis 1990 war, daran fest, dass die Teilung Deutschlands und Europas überwunden werden sollte – und zwar unter westlichen Vorzeichen. Zugleich aber änderten sich die Wahrnehmung der Sowjetunion und die Einstellung zu ihr grundlegend, so dass neue Formen des Umgangs miteinander entwickelt werden konnten. Der Ostpolitik lag ein Stufenkonzept zugrunde. Primär und kurzfristig ging es auf der Grundlage des Status quo und des Gleichgewichts um vertraglich abgesicherte Kooperation, die den Ost-West-Konflikt deeskalieren sollte und an die Stelle des Kalten Kriegs die Konfliktform der Détente treten ließ.11 Der Zustand der Détente blieb ein Konfliktzustand, weil der Status quo zwar respektiert, jedoch nicht legalisiert werden sollte. Längerfristig ging es nicht um die Deeskalation des Ost-West-Konflikts, sondern um seine Auflösung. Präziser als Egon Bahr in seiner Rolle als Vordenker der Ostpolitik es tat, konnte es nicht formuliert werden: „Das Hauptziel der sowjetischen Europapolitik ist die Legalisierung des Status quo. Das Hauptziel unserer Politik ist die Überwindung des Status quo. Es handelt sich hier um einen echten Gegensatz der Interessen.“12

Bevor im Folgenden näher auf den verständigungspolitischen Ansatz der Ostpolitik als Beitrag zur Deeskalation des Ost-West-Konflikts eingegangen wird, ist nachdrücklich zu betonen, dass diese friedenspolitisch fraglos höchst bedeutsame Seite der Ostpolitik nicht isoliert betrachtet werden darf. Sie stellte den deutschen Beitrag zu einem Gesprächsfaden dar, der auch von der Sowjetunion entwickelt wurde, verstand sich aber als Schritt in einem dialektisch angelegten Prozess, den Bahr als Pressesprecher des West-Berliner Senats in der bekannten Tutzinger Rede schon 1963 in die Formel »Wandel durch Annäherung« gegossen hat. Die „Überwindung des Status quo“ war demnach daran gekoppelt, dass „der Status quo zunächst nicht verändert werden soll.“ Auch Willy Brandt als Berliner Regierender Bürgermeister sprach 1963 in Tutzing. Sein Text war zurückhaltender, wenn auch in der Sache nicht weniger deutlich. In Abgrenzung zur bisherigen Deutschlandpolitik, die mit dem Bau der Berliner Mauer definitiv gescheitert war, plädierte er für „Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“. Ungewöhnlich offen fügte er hinzu, worin das strategische Ziel bestehen sollte, nämlich in der „Transformation der anderen Seite.“13 Kontakte zum Osten, die deutscherseits die Hinnahme von durchaus schmerzhaften Nachkriegsrealitäten voraussetzten, waren das zureichende Minimum,14 um die als Bedrohung wahrgenommenen Fronten auflockern zu können. Um sie überwinden zu können, bedurfte es eines Wandels in den Ländern des Warschauer Pakts. Er war nur als gradueller und friedlicher Wandel vorstellbar. Aus östlicher Sicht und nicht zuletzt in den Augen der DDR-Führung handelte es sich gleichwohl um eine »Aggression«, wenn auch eine „auf Filzlatschen.“15

Das Interesse der Länder Osteuropas an Verträgen über die territoriale Ordnung in Europa, an wirtschaftlicher Kooperation und Technologietransfer war stärker als die Befürchtungen, die gegenüber dem »Sozialdemokratismus« gehegt wurden.16 Dem entsprach in Bonn der Wunsch, die deutsch-deutsche Grenze durchlässiger zu machen und die Lage in und um Berlin zu verbessern. Diese Interessenkonstellation bot gute Rahmenbedingungen, damit sich die Politik der Ost-West-Kommunikation entfalten konnte.17 Dass auch die Sowjetunion „ihrer eigenen Interessen wegen nicht nur Konfrontation, sondern auch Kommunikation“ wünschte, gehörte zu den Kernüberzeugungen, von denen die Ostpolitik ausging.18 Kommunikation war ein Schlüsselbegriff, der in den Politikanalysen Brandts immer wieder auftauchte. Der Bau der Berliner Mauer war für Brandt ein untrügliches Zeichen, dass neue Ansätze entwickelt werden mussten, um „die Erstarrung der Fronten zwischen Ost und West“ aufbrechen zu können. An die Stelle der Festungsmentalität auf beiden Seiten wollte er seit 1962/63 den „Austausch“ zwischen Ost und West setzen, nach „gemeinsamen Projekten“ suchen, „so viele sinnvolle Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“ herstellen, „wie jeweils erreichbar sind“: „Wir brauchen soviel reale Berührungspunkte und soviel sinnvolle Kommunikationen wie möglich.“19

Von der Programmatik zur operativen Politik war es – wie stets – ein beschwerlicher Weg. Nur ein langer Atem konnte helfen, die im Kalten Krieg verfestigten Einstellungsmuster zu verändern und an ihre Stelle »kommunikative Methoden« zu setzen.20 Dazu gehörte die Signalisierung von Verständigungs- und Versöhnungsbereitschaft durch Erklärungen und Gesten. Die eigene Bereitschaft zur Kommunikation erfolgte in der Erwartung, sie werde entsprechende Reaktionen des Gegenübers auslösen. Solche Erklärungen setzten auf Seiten der Bundesrepublik schon mit den geheim gebliebenen Fühlungnahmen Adenauers in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft ein, als er auf der Basis des Status quo mit der Sowjetunion ins Gespräch kommen wollte. Die Friedensnote der Regierung Erhard und die Aussetzung der Hallstein-Doktrin für die Staaten des Warschauer Pakts durch die Regierung der Großen Koalition waren weitere einseitige Bekundungen, die Sprachlosigkeit des Kalten Kriegs überwinden zu wollen.

Die Kanzlerschaft Brandts zeichnete sich durch eine konsequente und wirkungsvolle Fortsetzung dieser Schritte aus. Die Anerkennung der DDR als Staat, die gut vorbereitete Aufnahme von Verhandlungen mit der Sowjetunion und Polen waren kommunikative Akte neuer Qualität. Brandts Kniefall schließlich am Mahnmahl des Warschauer Ghettos war ein wortloses, als Ausdruck der Körpersprache aber umso wirksameres Signal, „am Abgrund der deutschen Geschichte“21 neue Formen der Kommunikation entwickeln zu wollen. Solchen öffentlichen Bekundungen von Kommunikationsbereitschaft war seit Anfang 1969, als der durch die sowjetische Okkupation der Tschechoslowakei ausgelöste Schock langsam in den Hintergrund rückte, eine dichte Folge von Kontakten auf der diplomatischen Ebene vorausgegangen, bei denen Möglichkeiten einer deutsch-sowjetischen Annäherung ausgelotet wurden. Die Zeit, „in der das direkte Gespräch mit der sowjetischen Führungsetage nicht existierte,“22 war zu Ende gegangen. Im Dezember 1969 wurde eine neue Etappe erreicht, als die Verhandlungen über einen Gewaltverzicht in Moskau begannen und zudem eine direkte Nachrichtenverbindung zwischen dem Kreml und dem Kanzleramt eingerichtet wurde. Wie der kurz zuvor zwischen Washington und Bonn verabredete »back channel« eröffnete sie „die Chance, neben den förmlichen Gesprächen einen informellen Kontakt zu entwickeln.“23

Was die kommunikative Infrastruktur betraf, so hatte sich die Lage seit den frühen 1960er Jahren deutlich verbessert. Persönliche Begegnungen häuften sich und über den »Kanal« konnten Nachfragen und ergänzende Informationen weitergegeben werden. Blieb die Frage, ob sich dialogische Situationen in ausreichender Zahl und von angemessener Länge institutionalisieren ließen und in der Folge Kommunikation zu einer dauerhaften Erfahrung werden konnte. Würde sich Brandts Hoffnung erfüllen, die er als Außenminister in der Großen Koalition im August 1967 geäußert hatte? Er wollte „den Dialog intensivieren“ und „damit mehr als nur eine Unterbrechung in dem Duell zwischen Ost und West erreichen.“24

Das sichtbarste Zeichen für verbesserte Kommunikation waren vertragliche Vereinbarungen, die die Phase der Entspannung deutlich und – wie sich zeigen sollte – unumkehrbar von der Phase des Kalten Kriegs unterschieden sein ließ. Sie erstreckten sich zunächst auf die Bereiche Wirtschaft und Politik, bald aber auch auf den humanitären und kulturellen Sektor. Die Grunderfahrung bestand darin dass kommunikative Signale erwidert wurden. Auch stieg die Fähigkeit zur vorurteilsfreieren Bewertung von Informationen der jeweils anderen Seite. Schon vor den Bundestagswahlen 1969 war eine SPD-Delegation unter Leitung von Helmut Schmidt aus Moskau mit dem Eindruck zurückgekommen, es werde dort an einem „glaubwürdig“ erscheinenden Gesprächsfaden gesponnen und es gebe Anzeichen für die Bereitschaft zur „Institutionalisierung von Austausch und Zusammenarbeit.“25 Im Oktober 1973 ging Schmidt, der sich durchaus als Skeptiker gegenüber zu hoch gesteckten Erwartungen über die Wirkung der Entspannungspolitik verstand, so weit, von einer Entschärfung der Blockkonfrontation zu sprechen. Die „traditionellen Kategorien Ost und West“ hätten „an Bedeutung verloren.“26

Schmidt hatte natürlich nicht vergessen, dass der Antagonismus des Ost-West-Konflikts andauerte. Was sich aber verändert hatte, waren Art und Umfang der Kontakte. Man konnte „Erfahrungen“ sammeln, so Egon Bahr schon im Herbst 1970, „wie man miteinander reden kann. Was die Intensität, die Offenheit und die Ernsthaftigkeit angeht, war dies erstmalig seit dem Ende des Krieges.“27 Bahr sagte nicht: Seit dem Ende des Kalten Kriegs. Doch handelte es sich auch darum. Die Kontrahenten waren jetzt zunehmend in der Lage, auf Bedrohungsperzeptionen und Feindbilder alter Prägung zu verzichten und sich über wechselseitige Wahrnehmungen – auch und gerade, wenn sie differierten – zu verständigen. Dadurch war es möglich, Fehlwahrnehmungen zu reduzieren. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser gänzlich neuen Dialogerfahrung stellte die Begegnung Brandts mit Breschnew in dessen Sommerresidenz in Oreanda auf der Krim im September 1971 dar. Auf sowjetische Einladung wurde ohne starre Tagesordnung über die internationale Lage insgesamt und den Stand der Ost-West-Beziehungen im besonderen gesprochen – ein präzedenzloser Vorgang, der in der Bundesrepublik und im westlichen Bündnis für enormes Aufsehen sorgte. Brandt nutzte die Gesprächschance selbstbewusst, aber er ließ keine Illusionen aufkommen. „Schwierige Themen“ seien „erst andiskutiert“ worden. Das „eigentlich Neue“ bestand für Brandt in der Art des Umgangs miteinander. Beide Seiten wüssten jetzt genauer, wo es „Übereinstimmungen, Annäherungen, Unterschiede“ gebe.28

Pointiert formuliert, handelte es sich um die Verwestlichung der Kommunikation in den Ost-West-Beziehungen. Sei es auf der Yacht des Präsidenten in Washington, wo die Unterredungen zwischen Kissinger und dem sowjetischen Botschafter Dobrynin gelegentlich stattfanden, sei es ein Motorboot, mit dem Breschnew und Brandt einen Ausflug auf das Schwarze Meer hinaus machten – auch die Orte ließen erkennen, dass sich die Ost-West-Gespräche vom Verhandlungsduell zum offener werdenden Dialog entwickelt hatten.

Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass sich wenn auch nicht mehr Feinde, so doch Gegner gegenübersaßen. Aber genau darin – im Wandel vom Feind zum Gegner – bestand der Fortschritt, den die Détente gegenüber dem Kalten Krieg darstellte. Entspannungspolitik und Gegnerschaft waren miteinander verschränkt. „Auch in der Phase der Entspannung,“ so wurde dem sowjetischen Botschafter in Bonn Ende Oktober 1970 bedeutet, blieben „Kommunisten Kommunisten“ und „Sozialdemokraten Sozialdemokraten.“29

Anmerkungen

1) Ein Beispiel ist die in letzter Zeit zu beobachtende Flut von Arbeiten zur Theorie des Demokratischen Friedens. Siehe z. B. Elman, Miriam F. (ed.): Paths to Peace: Is Democracy the Answer? Cambridge, Mass. 1997; Huth, Paul K./Allee, Todd L.: The Democratic Peace and Territorial Conflict in the 20th Century, Cambridge 2002; Lipson, Charles: Reliable Partners. How Democracies Have Made a Separate Peace, Princeton/Oxford 2003; Rasmussen, Mikkel V.: The West, Civil Society and the Construction of Peace, Houndmills/New York 2003.

2) Siehe etwa Ziemann, Benjamin (Hg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002; Wegner, Bernd (Hg.): Wie Kriege entstehen, Paderborn 2000; ders. (Hg.): Wie Kriege enden, Paderborn 2002.

3) Als Überblick Loth, Wilfried: Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung, München 1998.

4) Allgemein dazu Bender, Peter: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung, München 1995.

5) Hanrieder, Wolfram F.: Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, Paderborn 1995, S. 448.

6) Im Schlussabsatz heißt es: „[…] the Cold War is in fact a real war in which the survival of the free world is at stake.“ Foreign Relations of the United States 1950, Bd. 1, S. 292.

7) Belege bei Niedhart, Gottfried/Altmann, Normen: Zwischen Beurteilung und Verurteilung: Die Sowjetunion im Urteil Konrad Adenauers. In: Foschepoth, Josef (Hg.): Adenauer und die Deutsche Frage, Göttingen 1988, S. 104, 107, 109.

8) Zum Begriff siehe Link, Werner: Der Ost-West-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Stuttgart 1988.

9) Zum neuesten Stand der Diskussion siehe Schönhoven, Klaus: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969, Bonn 2004; Niedhart, Gottfried/Bange, Oliver: Die »Relikte der Nachkriegszeit« beseitigen. Ostpolitik in der zweiten außenpolitischen Formationsphase der Bundesrepublik Deutschland im Übergang von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 415-448.

10) Hanhimäki, Jussi M.: Ironies and Turning Points: Détente in Perspective. In: Westad, Odd Arne (ed.): Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London 2000, S. 326-342.

11) Für die Ebene der Supermächte, deren Vorgaben den Rahmen auch für die Ostpolitik vorgaben, vgl. Garthoff, Raymond: Détente and Confrontation. American-Soviet Relations from Nixon to Reagan, 2. Aufl. Washington 1994.

12) Aufzeichnung Bahrs als Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt vom 18.9.1969. Akten zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1969, S. 1040.

13) Die Reden Brandts und Bahrs in der Evangelischen Akademie Tutzing am 15.7.1963 finden sich in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe, Bd. 9, S. 565ff. und 572ff.

14) In Anlehnung an Czempiel, Ernst-Otto: Das zureichende Minimum: der negative Friede. In: Jens, Walter/Matthiessen, Gunnar (Hg.): Plädoyers für die Humanität. Zum Gedenken an Eugen Kogon, München 1988, S. 173-176.

15) Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 157, 159; Uschner, Manfred: Egon Bahr und seine Wirkung auf uns. In: Lutz, Dieter S. (Hg.): Das Undenkbare denken. Festschrift für Egon Bahr, Baden-Baden 1992, S. 129.

16) Dazu u.a. Bahr, Zeit, S. 547ff.

17) Birnbaum, Karl E.: The Politics of East-West Communication in Europe, Farnborough 1979.

18) Willy Brandt in einem im Februar 1969 veröffentlichten Artikel. Zit. bei Schönhoven, Wendejahre, S. 408.

19) Brandt unter Rückgriff auf eine Rede, die er im Oktober 1962 an der Harvard Universität gehalten hatte, am 15.7.1963 in Tutzing. Wie oben Anm. 13, S. 567.

20) Haftendorn, Helga: Versuch einer Theorie der Entspannung. In: Sicherheitspolitik heute II/1975, S. 232.

21) Brandt, Willy: Erinnerungen, Frankfurt 1989, S. 214

22) Bahr, Zeit, S. 251.

23) Bahr, Zeit, S. 283. Vgl. auch Keworkow, Wjatscheslaw: Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Berlin 1995.

24) Zit. bei Schönhoven, Wendejahre, S. 382.

25) So Helmut Schmidt Ende August 1969 während einer Parteiratssitzung der SPD. Zit. bei Niedhart, Gottfried: Revisionistische Elemente und die Initiierung friedlichen Wandels in der neuen Ostpolitik 1967-1974. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 249.

26) Ebd. S. 263.

27) Ebd. S. 255.

28) Ebd. S. 256.

29) Ebd. S. 257.

Prof. Dr. Gottfried Niedhart lehrt am Historischen Institut der Universität Mannheim

Wissenschaft, Rüstungstechnik und totaler Krieg

Wissenschaft, Rüstungstechnik und totaler Krieg

Historische Einblicke in eine Wechselbeziehung

von Jürgen Scheffran

Auf den ersten Blick scheint ein Widerspruch zu bestehen zwischen der »Destruktivkraft« Rüstung und der als »Produktivkraft« verstandenen Wissenschaft und Technik, deren Fortschritte zum Wohle der Menschheit beitragen sollen. Dabei ist der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt schon immer für Rüstung und Krieg benutzt worden, und Revolutionen in Naturwissenschaft und Technik hatten Umbrüche im Kriegswesen und in der Waffentechnik zur Folge. Im 20. Jahrhundert ermöglichten Wissenschaft und Technik eine Steigerung der Bedrohung ins Unermessliche. Der Einfluss der Kräfte, die sich für eine grundsätzliche Umkehr einsetzen und den aufklärerischen Impuls der Wissenschaft für eine nachhaltige Friedenssicherung und Entwicklung nutzen und die Gewaltmittel präventiv begrenzen wollen, ist nach wie vor sehr begrenzt.

Etwa 1480 schrieb Leonardo da Vinci an den Grafen Sforza: „Ich habe außerdem noch Pläne für eine Art von Bombarden, die ganz bequem und leicht zu transportieren sind und mit denen man kleine Steine gleich einem Ungewitter schleudern kann; mit dem Rauch derselben wird der Feind in großen Schrecken gestürzt und bei ihm eitel Schaden und Verwirrung gestiftet.“1 Er fährt fort: „Wo Bombarden ihre Wirkung verfehlen würden, will ich Schleudermaschinen, Wurfgeschütze, Trabuken und anderes Gerät von wunderbarer Wirksamkeit machen, wie es nicht im Gebrauch ist.“

Leonardos Zwiespalt

An der Schwelle zur Neuzeit und vor Herausbildung der modernen Wissenschaft stand Leonardo im Brennpunkt der Umwälzungen der Rennaissance. Es gab fast nichts, was er nicht unter die Lupe nahm und auf zahllosen Papieren festhielt.

Um seine Forschungen betreiben zu können, war Leonardo auf die Gunst und die Förderung der Mächtigen angewiesen, und die aussichtsreichsten Verdienstquellen waren zu dieser Zeit Kunst und Krieg. Angestoßen durch die ungesicherten Verhältnisse Norditaliens am Ende des 15. Jahrhunderts, bedingt auch durch die neuen Schusswaffen, suchte er sein Heil in der Waffentechnik. Er entwarf das U-Boot und den muskelbetriebenen Panzer, Riesenkatapulte und Armbrust-Maschinengewehre, das Radschloss- und das Schnellfeuergewehr, Orgelbüchsen und Dampfkanonen, Artilleriegranaten und Geschosse mit mehreren Sprengkapseln (Schrapnell). Zu seinem Repertoire gehörten stromlinienförmige Festungsbauten und eine Maschine zur Herstellung von Kriegsgerät. Er erwog die Möglichkeiten ökologischer Kriegsführung (Erntevernichtung, Unwetter als Waffe) und malte sich aus, Brandbomben und vergiftete Gasbomben auf den Feind zu schleudern, damit „alle, die das besagte Pulver einatmen, daran ersticken.“2

Wie selbstverständlich setzte er dabei die Erkenntnisse seiner »produktiven« Untersuchungen für »destruktive« Zwecke ein und umgekehrt. Er entwickelte beides im Wechselspiel, ohne eine Trennung zwischen friedlicher und militärischer Nutzung zu vollziehen. Für die militärische Flussumleitung benutzte er Erkenntnisse aus Geographie und Geologie, im Katapultbau die Mechanik, im Kanonenbau die für Standbilder entwickelte Gusstechnik, in der Sprengstoffherstellung die Chemie. Andererseits zog er aus den Erfahrungen mit Waffenbau und -anwendung allgemeine Erkenntnisse. Bei der Untersuchung der Flugbahn von Geschossen kam er auf das Problem des Luftwiderstandes, die von ihm intuitiv richtig gezeichnete parabel-ähnliche Flugbahn widersprach der bis dahin behaupteten Zusammensetzung aus zwei geraden Teilstücken. Bei Experimenten an Kriegsgerät bestimmte er einen durchschnittlichen Reibungskoeffizienten. Zur effektiveren Produktion von Kanonen und Gewehren beschritt er den Weg der Mechanisierung und Standardisierung und die Verwendung hydraulischer Kraft.

Eine Umsetzung von Leonardos Plänen hätte zu der Zeit eine wissenschaftlich-technische Revolution in Gang setzen können. An Phantasie mangelte es ihm nicht, eher an der praktischen Realisierbarkeit. Vieles war zu teuer, wie die Flussumleitung, anderes prinzipiell unrealisierbar wie die mechanische Flugmaschine. John Desmond Bernal schreibt dazu: „Ohne quantitative Kenntnis von Statik und Dynamik und ohne die Möglichkeit, eine Kraftquelle, wie etwa die Dampfmaschine, zu verwenden, konnte der Ingenieur der Rennaissance niemals wirklich die durch die traditionelle Praxis gesetzten Grenzen überschreiten.“3 Dennoch gelang es ihm intuitiv – Jahrhunderte vor ihrer eigentlichen Entdeckung – einige Grundsätze zu erraten, für die er den Begriff »Naturgesetz« prägte, darunter das Huygenssche Prinzip der Wellenausbreitung und der Energiesatz. Um Naturgesetze präzise zu formulieren, fehlte ihm aber das mathematische Handwerkszeug und um sie zu überprüfen die physikalischen Messgeräte.

Leonardo sah aber auch den Widerspruch zwischen seinem Anspruch, durch Technik die Mühsal menschlicher Existenz zu erleichtern, und dem eigenen Beitrag zur Zerstörung im Krieg, den er „bestialischen Wahnsinn“ nannte. In seinem Essay »Von der Grausamkeit des Menschen« schreibt er: „Man wird Geschöpfe auf Erden sehen, die einander fortwährend bekämpfen werden, und zwar unter sehr großen Verlusten und oft auch Todesfällen auf beiden Seiten. Sie werden keine Grenze kennen in ihrer BosheitDa wird auf der Erde, unter der Erde oder im Wasser nichts übrigbleiben, was sie nicht verfolgen, aufstöbern oder vernichten werden, und auch nichts, was sie nicht aus einem Land in ein anderes schleppen werden.“

Offensive und Defensive: Anfänge der Kriegstechnik

In der Frühgeschichte des Krieges spielten Wissenschaft und Technik keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Das Kampfgeschehen wurde bestimmt durch den Zweikampf. Die »Technik« bestand hier vor allem in der Beherrschung des eigenen Körpers und der Geschicklichkeit beim Umgang mit den eingesetzten Waffen. Oftmals waren es nur minimale Differenzen, die über Leben und Tod entschieden. Der Mensch war Hauptträger und -ziel der im Krieg eingesetzten Energie, deren Wirkung durch technische Instrumente gesteigert (Schwert, Streitaxt) oder abgeschwächt (Schild, Helm, Panzerung) wurde.

Beim Aufeinandertreffen von Armeen spielte das koordinierte Zusammenwirken der Individuen eine entscheidende Rolle; die organisiert eingesetzte Energie ist der ungeordneten überlegen. Nicht nur Masse entscheidet, auch taktisches Geschick und qualitative Merkmale der Bewaffnung und Beweglichkeit, Ausbildung und Disziplin können Vorteile bringen. Für Sokrates war „ein geordnetes Heerunendlich viel mehr wert als ein ungeordnetes“ und Platon sah in der Aufstellung einer Armee in Reih und Glied die einzige praktische Anwendung der Geometrie. Um die Kommunikation im Gefecht zu ermöglichen, war ein ausgefeiltes Meldewesen erforderlich. Um den Abstand zum Gegner zu überbrücken und ihn so auf Distanz zu halten, wurden Fernwaffen immer wichtiger.

Eine dynamische Komponente kam ins Spiel durch den Einsatz des Pferdes in der Kriegführung, dessen Stärke, Wendigkeit und Ausdauer dem Menschen überlegen war. Pferde wurden auch zur wichtigsten Energiequelle beim Transport militärischer Güter und Waffen. Durch die Beherrschung der Reitkunst konnten Hunnen und Mongolen zur erheblichen Gefahr für die technisch weiter entwickelten europäischen Nationen werden.

Die »Kriegskunst« des Feldherrn bestand darin, alle Elemente der Kriegführung ausreichend zu kennen und mit ihnen unter Berücksichtigung von Gelände, Zeit, Gegner geeignet zu operieren, wobei wissenschaftlich-technische Kenntnisse Vorteile brachten. So verdankt z.B. Alexander der Große einen Teil seiner Erfolge der Erziehung und Vorbildung durch Aristoteles. Es gab aber keine systematisch betriebene Forschung, die für den Krieg hätte genutzt werden können, eher eine ungeplante Sammlung von Alltagserfahrungen, die in Form von Überlieferung oder in der Struktur der Waffen selbst gespeichert wurden.

Die Antike brachte Anfänge der Physik (Mechanik), Mathematik (Dezimalsystem, Geometrie, Landvermessung, Algebra), Astronomie (Sternbilder, Zeitmessung) und Chemie (Metallherstellung, Baustoffe). Wissenschaftliche Begrifflichkeiten (Theorie und Experiment, Ursache und Wirkung, Deduktion und Induktion) waren Gegenstand der antiken Philosophie, verbanden sich aber noch nicht zu einer einheitlichen Methodik.

Was an Wissen für den Krieg nutzbar war, wurde ohne Bedenken eingesetzt, wobei der Krieg selbst zum wissenschaftlichen Gegenstand wurde. Besonders die Verwendung von Metallen erforderte große technologische Fertigkeiten (Schmelzen, Gießen, Formen), was zur Spezialisierung und Bildung neuer Berufszweige (Waffenschmied) beitrug.

Eine besondere gesellschaftliche Organisation erforderte das Wettrüsten zwischen Festungsbau und Belagerungstechnik. Allein schon die umgesetzten Massen an Material, um dicke Mauern zu errichten oder tiefe Gräben auszuheben, benötigten eine große Zahl von Menschen und das Zusammenspiel verschiedener Fachleute, unterstützt durch technische Geräte und Tragetiere. Um die in den Bollwerken gebundene Energie zu überwinden, war für ihre Eroberung ein hoher Energie- und Materialeinsatz erforderlich, wenn nicht durch List und Tücke ein Zugang geöffnet werden konnte. Die belagerte Gesellschaft war vollständig in den Krieg einbezogen und von der Außenwelt abgeschnitten, auch von externen Nahrungs- und Wasserquellen, was eine Autarkie über lange Zeiträume erforderlich machte. Die Belagerer mussten die Lebensmittel aus der näheren Umgebung besorgen. Wer am Ende den längeren Atem hatte, das war auch eine ökonomische Frage.

Mit der Stärke der Befestigung wuchs auch die Größe und Stärke der Belagerungs- und Eroberungsgeräte, die erhebliche Massen in Bewegung bringen und zugleich transportabel sein mussten. Im Römischen Reich gab es unter Vitruvius eigene Werkstätten und Lehrwerke zur Herstellung von Kriegsmaschinen. Katapulte wandelten ihre mechanisch gespeicherte in kinetische Energie und schleuderten zentnerschwere Blöcke gegen Befestigungsmauern oder Feuerbälle hinter feindliche Linien. Die Konstruktion der Katapulte setzte einen für die damalige Zeit recht hohen Stand wissenschaftlich-technischer Organisation voraus. Sie erforderte Kenntnisse aus dem Bereich der Mathematik (Arithmetik, Geometrie), Mechanik (Hebelgesetze, Beschleunigungskräfte, Ballistik, Aerodynamik, Elastizität), Chemie (geeignete Materialien). Es gab eigene Schulen (z.B. in Alexandria) die systematische Beobachtungen und Experimente anstellten. So sah sich Archimedes, der sonst keinen großen Wert auf die Anwendung seiner Forschung legte, angesichts der Belagerung seiner Heimatstadt Syrakus durch die Römer (214 v.Chr.) veranlasst, eine Vielzahl von Verteidigungswaffen zu konstruieren, darunter auch riesige Katapulte, die römische Schiffe zerstörten. Dennoch konnte Syrakus nach zweijähriger Belagerung durch Verrat und Überraschung bezwungen werden, wobei Archimedes selbst getötet wurde.

In der Schifffahrt und im Seekrieg dienten zunächst Muskelkraft (von Sklaven) und Windenergie als treibende Kraft, wobei letztere auch zur Überwindung interkontinentaler Distanzen potenziell geeignet war. Damit wurde es möglich, die für die Landkriegsführung wesentlichen Rohstoffe, Finanzmittel (Gold) und Waffensysteme über große Distanzen zu transportieren. Dies blieb im Wesentlichen der Stand der Rüstungstechnik bis zum ausgehenden Mittelalter.

Zweck und Mittel: Feuerwaffen und moderne Wissenschaft

Umbrüche in der Wissenschaft wie auch in der Kriegstechnik ergaben sich im Gefolge der Renaissance, wobei Leonardo antike Tradition und Moderne verbindet. Während Leonardo noch verschiedene Seiten der Technik verkörperte, trat in der weiteren Entwicklung das künstlerisch-tätige Moment zunehmend in den Hintergrund zugunsten der künstlichen Gegenstände, die als Mittel zum Zweck funktionieren sollten. Für Francis Bacon ist Wissenschaft das neue Werkzeug (novum organum), und ein Mittel zum Fortschritt, um das Wohl der Menschheit zu mehren, unter rationaler Anwendung der auf Wirkungssteigerung gerichteten neuen Wissenschaftsmethodik. Indem erlangtes Wissen als Grundlage für technische Entwicklungen dient, die wiederum Wissen erzeugen, nimmt Bacon die explosive wissenschaftlich-technisch Wachstumsdynamik vorweg.

Die Zweck-Mittel-Relation korrespondiert zur Ursache-Wirkungs-Beziehung in der Newtonschen Mechanik. Die Kraftwirkung und die dafür aufgewendete Energie wird zum Mittel, die bezweckte Beschleunigung einer Masse zu erreichen. Unter Angabe von Kräften und der Kenntnis von Masse, Ort und Zeit ist nach der mechanistischen Denkweise »im Prinzip« die Systemdynamik für alle Zeiten berechenbar. Die Grenzen liegen in der mangelnden Verfügbarkeit von Materie und Energie zur Erreichung des Zwecks und in der mangelnden Kenntnis der relevanten physikalischen Größen und ihrer Wechselwirkung.

Der Anspruch, die vermessenen und berechneten Naturgesetze zur Beherrschung und zweckmäßige Nutzung der Natur einzusetzen, feierte grandiose Erfolge. Das Wechselspiel von Empirie und Theorie führte zu einer Perfektionierung der technischen Mittel, die den Zufluss an Ressourcen (Materie, Energie, Information) in die effiziente Erreichung von Zielen und die Erfüllung von Zwecken transformieren.

Kaum geboren, wurde die neue Wissenschaft schon in das Kampfgetümmel hinein gezogen. Das analytische Instrumentarium erlaubte die bessere Beherrschung von Raum, Zeit, Masse, Kraft und Energie, und die wissenschaftliche Suche nach dem Neuen und Unbekannten war im Zeitalter des Kolonialismus zeitgemäß.

Die Initialzündung war die Entdeckung des Schwarzpulvers und die Ausbreitung der Feuerwaffen, deren Bedeutung Bacons Namensvetter Roger Bacon schon im 13. Jahrhundert erkannt hatte. Der Kanonendonner, den Leonardo vernahm, veranlasste auch andere, ihr Werk in den Dienst des Krieges zu stellen. So pries Galilei 1609 in einem Brief an den Dogen Leonardo Danato den „unschätzbaren Wert“ des Fernrohrs bei der Entdeckung des Feindes, und der Anfang des 16. Jahrhunderts lebende Mathematiker Niccolo Tartaglia versuchte, die größte Reichweite von Geschützen zu berechnen. Skrupel veranlassten ihn, sein Werk zu vernichten, erschien es ihm doch als „ein tadelnswertes, schändliches und barbarisches Unterfangen,eine Technik zu perfektionieren, die schädlich wäre für den Nächsten und verderblich für die Menschheit.“ Angesichts der drohenden Invasion Italiens durch die Türken änderte er seine Meinung aber wieder.4

Die Schwarzpulver-Revolution beförderte die zunehmende Technisierung und Verwissenschaftlichung des Krieges. Die Verbesserung der Feuerwaffen und die Untersuchung des Schießvorgangs führte auf Fragen der Mechanik (Kraft und Gegenkraft, Reibung und Luftwiderstand, Ballistik) und Chemie (Ausdehnung von Gasen, Zusammensetzung der Luft). Der Umgang mit der immer komplexer werdenden Rüstungstechnik erforderte eine Professionalisierung und Spezialisierung des damit umgehenden Personals, was sich in der Bildung vom Militärakademien und Ingenieurschulen niederschlug. Rüstungstechnik beanspruchte einen wachsenden Anteil der Innovationen in Naturwissenschaft und Technik und trieb deren Entwicklung mit voran. Der wissenschaftliche Wettbewerb wurde zunehmend kriegsentscheidend und staatlich gefördert. Mit der Technisierung verbunden war die industrielle Großproduktion in Pulverfabriken, Kanonengießereien und Büchsenmachereien, was die Mechanisierung und Standardisierung des Produktionsprozesses beförderte.

Die Kriegführung wandelte sich angesichts immer neuer Waffentypen. Hierzu gehörten Kanonen für Belagerung und Feldschlacht, Gewehre mit unterschiedlicher Zündmethode, Bajonette, Pistolen, Handgranaten, Minen, Brand- und Sprengbomben, Hohlgeschosse, Hagelgeschosse, Petarden, Raketen. Dem Ansturm der Artillerie war die antike Befestigungstechnik nicht mehr gewachsen, Stadtbefestigungen wurden zunehmend durch großräumige Landbefestigungen und eine aktive Defensive ersetzt, unter Einsatz von Artillerie, mobilen Forts und Feldfestigungen (Schützengräben).

Die Zahl der Opfer wuchs durch die Perfektionierung der Handfeuerwaffen sprunghaft an. Die Einführung des Schnellfeuer- und Maschinengewehrs ermöglichte das automatisierte Abschlachten und erschwerte das Manövrieren im Feld. Mit neuen Sprengstoffen (Nitrozellulose, Ballistit, Dynamit, TNT), schweren Artilleriegeschützen, Schrapnell- und Brandgeschossen wurden Flächenbombardements möglich.

Durch die Wirkungssteigerung wurde nicht nur der Energieeinsatz gesteigert, sondern auch die Reichweite. Das Kriegsbild wandelte sich, die kleinräumigen politischen Strukturen des Mittelalters lösten sich auf. Durch die Vielzahl neuer Waffentypen und die Überlegenheit der Offensive wurden Kriegführung und Militärstrategie immer komplexer. Zur Massierung des Feuers wurden Massenheere benötigt und gedrillte Soldaten. Die napoleonische Strategie von Mobilität und Konzentration der Mittel löste die starren Schlachtreihen des Absolutismus auf und ermöglichte die Vorherrschaft auf dem Kontinent. Die Eisenbahn erlaubte es, Truppen und Versorgungseinrichtungen in größerer Zahl und weit höherer Geschwindigkeit zu bewegen. Die Kriegsflotte mit Kanonen gewann entscheidende Bedeutung im Kampf um die Kolonien.

Der Wettlauf zwischen Artillerie und Festungsbau ging insgesamt unentschieden aus. Die Eroberung einer Festung wurde zum materialintensiven, kostspieligen Dauerbombardement (Sebastopol), die Feldschlacht zum opferreichen Grabenkrieg, so im russisch-japanischen Krieg 1904/05, v.a. aber im Ersten Weltkrieg. Hier war es gerade die Schutzlosigkeit gegenüber den auf beiden Seiten vorhandenen Angriffsmitteln, die eine Bewegung verhinderte.

Totaler Wissenschaftskrieg und neue Rüstungstriade

In seinem Werk »Vom Kriege« schreibt Carl von Clausewitz (1780-1831): „Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum Äußersten führen muss.“ Diese von Clausewitz erkannte Tendenz des Krieges alle Bereiche der Gesellschaft zu erfassen und damit zum totalen Krieg zu werden, entfaltete sich im 20. Jahrhundert in vollem Umfang. Die von dem holländischen Philosophen Hugo Grotius, der mit seinem 1625 erschienen Werk »De Jure Belli ac Pacis« die Grundlagen des Völkerrechts legte, geforderten rechtlichen Grenzen für die Mittel und Formen des Krieges spielten in den beiden Weltkriegen praktisch keine Rolle, umso mehr aber Wissenschaft und Technik. Im Winter 1940, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, schrieb der Herausgeber des Journal of the American Institute in seinem Editorial: „Krieg ist seinem Charakter nach universell, mit der gesamten Natur und Gesellschaft verbunden. Um den Krieg zu erfassen, muss die Wissenschaft einen gleichermaßen umfassenden Anspruch habenDas Studium des Krieges muss ein integraler Untersuchungsgegenstand seinEs muss mehr an allen Aspekten des Gewalteinsatzes orientiert sein als an der derzeitigen Konzeption des Friedens als einzigem Bezugsrahmen. Es muss eine totale Wissenschaft vom Krieg sein.“

Der Erste Weltkrieg wurde trotz verschiedener Neuerungen (U-Boot, Maschinengewehr, Motorisierung) im Wesentlichen noch mit den Waffengattungen und Strategien des 19. Jahrhunderts ausgetragen. Das relative Gleichgewicht der Kräfte und die Gleichwertigkeit der gegnerischen Waffensysteme führte zur Erstarrung aller Fronten. Vor und während des Krieges entwickelte neue Waffentypen wie der Panzer, das Militärflugzeug oder Gaskampfstoffe kamen zwar zum Einsatz, konnten jedoch die militärische Entscheidung kaum beeinflussen. Die langjährige Materialschlacht kostete Millionen Soldaten das Leben und wurde letztlich durch ökonomische Ressourcen entschieden. Die Massenproduktion an Waffen und Munition ging an die Grenze der industriellen Kapazität.

Trotz der nach dem Krieg weltweit auftretenden Friedensbestrebungen, der Gründung des Völkerbundes und der Ächtung chemischer Waffen hatte die qualitative Aufrüstung und Weiterentwicklung der Waffensysteme kein Ende. Kriegführungsstrategien passten sich an die veränderten Verhältnisse, zu Land, zur See und in der Luft an:

  • Im Ersten Weltkrieg noch relativ schwerfällig, wurde der Panzer zur mobilen und schlagkräftigen Waffe. Damit verbunden waren Theorien einer selbständigen Panzerwaffe (Lidell Hart) und das Konzept des »mechanisierten Blitzkriegs« (Guderian).
  • Die Mechanisierung der Seeflotte, die Kombination von Flugzeugträger, U-Boot-Flotte mit Torpedos und Landungstechniken eröffneten alle Dimensionen der Seeherrschaft, wie sie Mahan im 19. Jahrhundert vorgedacht hatte.
  • Mit der Entwicklung und Verbesserung von Kriegsflugzeugen wurde die Luftwaffe zur neuen Waffengattung. Luftkriegsstrategen (Douhet in Italien, Mitchell in USA, Göring in Deutschland) sahen im Flugzeug eine Angriffswaffe zur Erringung der Luftherrschaft und zur Terrorisierung der Bevölkerung.

Den neuen Angriffswaffen und -strategien konnten die aus dem Ersten Weltkrieg stammenden Strategien der Totalverteidigung nicht viel entgegen setzen. Sowohl die französische Maginotlinie wie auch der deutsche Westwall sollten im Zweiten Weltkrieg nur wenig Bestand haben.

Schon der Erste Weltkrieg hatte Elemente einer wissenschaftlichen Kriegsführung gezeigt, doch der Zweite Weltkrieg sollte dies noch bei weitem überbieten. Die Phase zwischen den Kriegen, eine der fruchtbarsten Perioden der Naturwissenschaft und Technik, legte dazu die Grundlage. Die Erfolge nahmen unter der Wirkung der verschärften internationalen und nationalen Spannungen der 30er Jahre eine Wendung zum Destruktiven. Die Machtergreifung durch die Nazis führte zur totalen Mobilisierung der Forschung für Kriegszwecke, was zu Friktionen führte. Gleichzeitig wurde die deutsche Forschung durch die Emigration von Wissenschaftlern geschwächt wie auch durch den ideologischen Druck einer arischen Wissenschaft. Die langfristige Grundlagenforschung wurde gegenüber der kurzfristigen Zweckforschung vernachlässigt. Der internationale Erfahrungsaustausch zwischen Wissenschaftlern wurde eingeschränkt.

Dies hatte zunächst keine Auswirkung auf den Kriegsverlauf. Die Erfolge der deutschen Blitzkriegs-Strategie überraschten die Angegriffenen, gegnerische Verteidigungsketten wurden rasch überwunden. Erst nachdem die Alliierten unter forcierten Rüstungsanstrengungen eine Gegenstreitmacht aufgebaut hatten und der deutsche Vorstoß im Osten zum Erliegen kam, konnte der deutsche Angriff an allen Fronten zurückgeschlagen werden. Dabei gab die totale Mobilmachung menschlicher und materieller Ressourcen den Ausschlag, insbesondere die industrielle Massenproduktion von Rüstungsgütern. Allein die USA fertigten zwischen 1939 und 1945 100.000 Panzer, 800.000 Maschinengewehre, 36 Milliarden Geschützgranaten, 41 Milliarden Gewehrpatronen und 500.000 Kampfflugzeuge. Bestimmend für den Kriegsverlauf waren auch neue technische Entwicklungen im Bereich der Produktion (Fließband), der Nachrichtentechnik (Funk) und des Transports (Verbrennungsmotor).

Das durch die Weltkriege angetriebene Wettrüsten der Gehirne brachte in der Triade aus Zerstörungs-, Träger- und Führungsmitteln neue Entwicklungen hervor:

  • Mit der Entwicklung von Chemie- und Biowaffen war schon während und nach dem Ersten Weltkrieg die Grundlage für Massenvernichtungswaffen gelegt worden. Der Chemiker Fritz Haber entwickelte die Gaswaffe zu Kriegszwecken. Die IG Farben war nicht nur verantwortlich für die Munitions- und Kunststoffproduktion des Krieges, sondern auch für die Herstellung des KZ-Gases Zyklon-B und des chemischen Kampfstoffes Tabun. Die biologische Kriegführung spielte eine unrühmliche Rolle, als Japan in den 30er Jahren in der besetzten Mandschurei Mikroben als »billige und effektive Waffe« entwickelte und in furchtbaren Experimenten erprobte. Die Atombombe übertraf in ihrer kombinierten Zerstörungswirkung (Druckwelle, Feuerball, Radioaktivität) die Wirkung chemischer Sprengstoffe um das 10.000-fache. Das Manhattan-Projekt war ein wissenschaftlich-technisches Großexperiment, unter Beteiligung Tausender Wissenschaftler. Der Einsatz der Atombombe gegen Hiroshima und Nagasaki sollte die Wirkung der neuen Waffe demonstrieren.
  • Das deutsche Reich investierte Milliardensummen in das Raketenprogramm. Seit Anfang der 1930er Jahre hatte ein Team um Wernher von Braun, mit Unterstützung durch das Heereswaffenamt, die Grundlagen der Raketentechnik entwickelt. 9.300 deutsche V1-Marschflugkörper und 3.000 V2-Raketen wurden ab Juni 1944 u.a. gegen England abgeschossen, hatten aber aufgrund ihrer Ungenauigkeit und Unzuverlässigkeit keine kriegsentscheidende Bedeutung mehr. Ebenso wenig die bis 1945 produzierten 1.400 Düsenflugzeuge mit Strahltriebwerken.
  • Der Einsatz von Funkwellen bestimmte die Kommunikation während des gesamten Krieges. Durch die Erfindung des Radars und die Entschlüsselung des deutschen Geheimcodes konnte England sich die Luft- und Seehoheit sichern. Um das Radar von einem Laboratoriumsexperiment in ein militärisch brauchbares Gerät zu überführen, wurde die Operationsforschung (Operations Research) geboren, die verschiedene mathematische Verfahren zur effizienten Nutzung von Ressourcen und die Unterstützung von Entscheidungsprozessen umfasst. Damit verbunden war die Entwicklung der Informationsverarbeitung und der ersten Computer.

Rüstungseskalation im Kalten Krieg

Mit der gelenkten Atomrakete wurde eine Waffe geboren, gegen die es bis heute keinen wirksamen Schutz gibt. Die Vernichtung der Erde auf Knopfdruck wurde möglich. Die Tendenz zum Äußersten, die den Wechselwirkungen des Krieges eigen ist, hatte einen Gipfel erreicht. Das unermessliche Bedrohungspotenzial in der Hand eines Angreifers steigerte zugleich dessen Verwundbarkeit, sofern der Gegner über die gleichen Waffen verfügte. Traditionelle Gesetzmäßigkeiten der Kriegführung verloren angesichts des nuklearen Overkills an Bedeutung. Der Begriff der Verteidigung im militärischen Sinn wurde bedeutungslos. Angesichts der gegenseitig gesicherten Vernichtung entstand die paradoxe Situation, dass die beiden Supermächte zwar allmächtige Waffen zu Tausenden in ihren Händen hielten, aber sie nicht als Gewaltmittel einsetzen konnten. Allmacht und Ohnmacht fielen hier unmittelbar zusammen.

Um die vollständige Zerstörung zu vermeiden, musste der nächste große Krieg verhindert werden. Die zum Kriege drängenden Kräfte waren jedoch nicht geschwächt, sondern im Militärisch-Industriellen Komplex stärker denn je. Der Anspruch, Sicherheit durch neue Bedrohungsmittel herstellen zu wollen, trieb die Spirale von Bedrohung und Gegenbedrohung. Der Kalte Krieg transformierte zum »totalen Wettrüsten«, er glich einer jahrzehntelangen Belagerung, die bis zum Äußersten ging und die Menschheit an den Rand einer atomaren Vernichtung brachte.

Rüstungszyklen und Krieg der Netze

Auch nach dem Ende der Blockkonfrontation wird an der Aufrechterhaltung und technischen Perfektionierung von Waffensystemen und Gewaltstrukturen gearbeitet, um jederzeit und an jedem Ort Krieg führen zu können. Die fortgesetzte Modernisierung betrifft längst nicht mehr nur die mit einem Waffensystem verbundenen Komponenten (Gewaltmittel, Trägermittel, Führungsmittel), sondern auch die sozio-ökonomische Infrastruktur, in die ein Waffensystem eingebettet ist, in der es erdacht, konstruiert, entwickelt, getestet, hergestellt, stationiert, eingesetzt und wieder beseitigt wird.

Das Wettrüsten der Gehirne perpetuiert die Rüstungsdynamik ad infinitum. Wissenschaftler erdenken neue waffentechnische Möglichkeiten und suchen politische Zwecke zu ihrer Rechtfertigung. Die Mittel des Krieges verselbständigen sich, sie brauchen den Feind, ob er nun real existiert oder nur in der Phantasie. Das Schlachtfeld wird zum Beobachtungsfeld zur Erprobung neuer Waffen, der Krieg insgesamt zum wissenschaftlichen Experiment.

Die Ambivalenz, die schon bei Leonardo erkennbar war, wird zum Strukturmerkmal moderner Hochtechnologie-Rüstung. Diese ist Ausfluss ziviler Entwicklungen und prägt diese zugleich. Längst zu groß und zu teuer für eine Förderung allein durchs Militär, wird die wissenschaftlich-technische Entwicklung insgesamt für die Rüstung verplant. Die Revolution in Military Affairs umfasst nahezu den gesamten High-Tech Sektor (Nanotechnik, Bio- und Gentechnologien, Computer- und Kommunikationssysteme, künstliche Intelligenz, Sensorik, Nuklearsysteme, Trägersysteme, Weltraumtechnik, Laser, Materialwissenschaften), sie findet ihren Ausdruck in neuen Waffensystemen und Formen der Kriegführung (Cyberwar, Biowar, asymmetrische Kriegführung). Im Mikro- und Nanobereich verschmelzen Physik, Chemie und Biologie. Die Entwicklung ist zum einen gekennzeichnet durch globale räumliche Ausweitung von Waffeneinsatz, Transport und Kommunikation, Verkürzung der Entscheidungszeiten, Verbesserung der Zielgenauigkeit, Schadensbegrenzung beim Waffeneinsatz, Anwachsen der Informationsflut und Komplexität, Computerisierung und Automatisierung der Kriegführung, wachsende »Intelligenz« der Waffensysteme.

Über den Kalten Krieg hinaus reicht das Bestreben, die durch die Atomwaffe entstandene Selbstverwundbarkeit militärisch zu überwinden und strategische Kriege wieder führbar zu machen. Während die Luftabwehr gegen Flugzeuge Fortschritte machte, stagnierte die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen aufgrund physikalischer Grenzen und überirdischer technischer Anforderungen. Die von Reagan in seiner Star-Wars-Rede 1983 entwickelte Vision von der Unverwundbarkeit bleibt jedoch weiter lebendig. Durch ballistische Raketen, Raketenabwehr und Weltraumrüstung wird der Weltraum zum potenziellen Kriegsschauplatz und seine Beherrschung zum strategischen Ziel. Der Traum von der Eroberung und Kontrolle des Weltraums, der vom US Space Command geträumt wird, ist ein Traum von globaler Herrschaft, der in eine neue Form des totalen Krieges einmündet.

Wissenschaft und Technik spielen auch eine Schlüsselrolle im Netzwerk globalisierter Gewalt, das im weltumspannenden Netz aus Sensoren, Kabeln, Antennen, und Computern seinen militärischen Ausdruck findet. Das C3I-System (command, control, communication and intelligence) dient als Kräftevervielfacher (Force Multiplier) und erlaubt die Steuerung aller Elemente ebenso wie die umfassende Überwachung potenzieller Gegenspieler. Da Netze überall hinreichen, verknüpfen sie die Globalisierung der Gewalt mit der Miniaturisierung von Gewalt, was in den Informationskriegen auf unseren Computern ebenso zum Ausdruck kommt wie in Nanosystemen, Mini-Kampfmaschinen und Killer-Mikroben. Durch sie findet der Krieg Einzug in unseren Nahbereich, unsere Wohnung, ja den eigenen Körper. Der Anspruch zur Beherrschung des äußeren Raumes (outer space) findet sein Gegenstück in der Beherrschung des inneren Raum (inner space) innerhalb der Gesellschaften.

Der totale Kontrollanspruch findet seinen Widerpart im Terrorismus, der sich dieser Kontrolle widersetzt und sie doch durch die Wahl seiner Mittel weiter provoziert. Terrornetzwerke, die durch dezentrale Organisation und diffuse Kommunikationsstrukturen gekennzeichnet sind, lassen staatliche Angriffe, mit welchem Gewaltapparat auch immer versehen, ins Leere laufen. Sie nutzen das Prinzip der Selbstorganisation für destruktive Zwecke. Schon immer konnten nichtstaatliche Akteure beträchtliche Schäden anrichten und den Gang der Geschichte beeinflussen, doch im Zeitalter von Flugzeugen, Schiffstankern, Atombomben und Kernkraftwerken gibt es dafür ganz andere Mittel, wie der 11. September zeigt. Aufgrund des Destruktionspotenzials der Mittel wird ihr Einsatz zum Zweck, und ihre Wirkung wird multipliziert durch die voraussehbaren staatlichen Reaktionen. Das Wechselspiel von individuellem und staatlichem Terror perpetuiert den archaischen Zyklus der Gewalt auch im 21. Jahrhundert. Dem Terror den Krieg zu erklären, redet einer neuen Totalität des Krieges das Wort, der innerhalb der globalisierten Gesellschaft ausgetragen wird. Das Ziel der Sicherheit geht so auf allen Ebenen verloren.

Ein Ausweg lässt sich nur finden, wenn der Zyklus der Gewalt verlassen wird, durch Verzicht und Kontrolle der Gewaltmittel und friedliche Konfliktlösung, die die gegenseitigen Interessen respektiert. Grotius hat den Weg des Völkerrechts vorgezeichnet. Im Wechselspiel aus Aufrüstung, Abschreckung, Angriff, Abwehr, Abrüstung liegt die Präferenz bei Abrüstung. Wissenschaft und Technik müssen die Allianz mit dem Militär schrittweise auflösen, die Rüstungstechnik muss einer präventiven Rüstungskontrolle unterworfen werden.

Anmerkungen

1) Leonardo da Vinci: Erfinder – Maler – Forscher, Winterthur: Belser, 1981.

2) Ebenda.

3) J.D. Bernal: Sozialgeschichte der Wissenschaften, Rowohlt, 1970.

4) Siehe die entsprechenden Dokumente in W. Quitzow, Naturwissenschaftler zwischen Krieg und Frieden, Düsseldorf: Schwann, 1986, S. 33-35.

Dr. Jürgen Scheffran ist Mitglied des Redaktionsteams von W&F. Er arbeitet als Senior Research Scientist im Program in Arms Control, Disarmament and International Security (ACDIS)an der University of Illinois in Urbana-Champaign.

Pazifismus im Ersten Weltkrieg

Pazifismus im Ersten Weltkrieg

Der Bund Neues Vaterland

von Karlheinz Lipp

Vor 90 Jahren, im Juli 1914, begann der Erste Weltkrieg. Die Begeisterung mit der deutsche Soldaten in den Krieg zogen und der auch große Teile des deutschen Volkes erlagen ist viel beschrieben worden. Auf die Friedensbewegten in Deutschland muss diese Kriegsbegeisterung am Anfang lähmend gewirkt haben. Doch bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn nahmen die Antikriegsaktionen wieder zu. Karlheinz Lipp über die Arbeit des im November 1914 gegründeten pazifistischen »Bund Neues Vaterland«. Ein Bündnis, das sich nicht nur auf eine konsequente Antikriegspolitik festlegte, sondern sich auch für einen europäischen »überstaatlichen Zusammenschluss« einsetzte, indem der friedliche Wettbewerb dominieren sollte.

Die Entfesselung des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 wirkte auf die Friedensbewegung wie ein lähmender Schock. Der Stuttgarter Pfarrer und langjährige Friedensaktivist Otto Umfrid formulierte dies sehr prägnant. Die Friedensbewegung habe versucht, so Umfrid, einen „in den Abgrund rollenden Lastwagen mit einem Seidenfaden aufzuhalten.“

Bis zum Beginn des Krieges versuchte die Deutsche Friedensgesellschaft, 1892 in Berlin von Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried gegründet, als größte Friedensorganisation mit ca. 10.000 Mitgliedern in ca. 100 Ortsgruppen (Stand: 1914) die imperialistische Politik des Kaiserreichs zu korrigieren – allerdings vergeblich. Als zu dominant erwiesen sich die nationalistisch-militaristischen Vereinigungen, die der Friedensgesellschaft an Mitgliederzahlen, Finanzen, Presseorganen und politischem Einfluss sehr deutlich überlegen waren.

Eine neue Friedensorganisation

Im Oktober 1914 erschien im von Lilli Jannasch neu gegründeten Verlag Neues Vaterland eine Schrift von Otto Lehmann-Rußbüldt mit dem Titel »Die Schöpfung der Vereinigten Staaten von Europa«. Der Autor und der Sportreiter Kurt von Tepper-Laski erreichten über ein Rundschreiben pazifistisch eingestellte Personen. Das Ziel und einigende Band sollte ein Zusammenschluss zwecks konsequenter Friedensarbeit sein. Am 16. November 1914 wurde dann in Berlin der »Bund Neues Vaterland« gegründet. Dieser Bund umfasste Konservative, Liberale und alle Flügel der Sozialdemokratie. „Der Bund ist eine Arbeitsgemeinschaft deutscher Männer und Frauen, die sich unbeschadet ihrer sonstigen politischen und religiösen Stellungnahme zusammenschließen, um an den Aufgaben, die dem deutschen Volk aus dem europäischen Krieg erwachsen, mitzuarbeiten.“

Den Vorsitz führte Tepper-Laski. Im Vorstand arbeiteten ferner mit: Der Elektroingenieur und Telefunken-Direktor Georg Graf von Arco, der Landrat a.D. Karl von Puttkamer, Lehmann-Rußbüldt, Jannasch und Ernst Reuter (Nach dem Zweiten Weltkrieg Regierender Bürgermeister von Berlin).

Begünstigt wurde die Entstehung dieser neuen Friedensorganisation einerseits durch die Erstarrung des Krieges an der Westfront nach der Marneschlacht und andererseits durch die erwachende Kritik an der offiziellen Behauptung vom angeblichen Verteidigungskrieg, den Deutschland führe. Schließlich sollte der Vorkriegspazifismus neu konturiert und schärfer akzentuiert werden.

Als Ziele des Bundes wurden im § 1 der Satzung festgelegt:

„1. Die direkte und indirekte Förderung aller Bestrebungen, die geeignet sind, die Politik und Diplomatie der europäischen Staaten mit dem Gedanken des friedlichen Wettbewerbs und des überstaatlichen Zusammenschlusses zu erfüllen, um eine politische und wirtschaftliche Verständigung zwischen den Kulturvölkern herbeizuführen. Dieses ist nur möglich, wenn mit dem seitherigen System gebrochen wird, wonach einige Wenige über Wohl und Wehe von hundert Millionen Menschen zu entscheiden haben.

2. Insoweit sich bei der Arbeit für dieses Ziel ein Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Politik der Staaten ergibt, darauf hinzuwirken, beide in volle Übereinstimmung zu bringen – zum Besten des deutschen Volkes und der gesamten Kulturwelt.“ (Lehmann-Rußbüldt, 139)

Außenpolitisch wird die gesamteuropäische Dimension deutlich. Das Plädoyer für einen »überstaatlichen Zusammenschluss« deutet schon auf einen kommenden Völkerbund hin. Dem Kaiser und der Regierung wird das Entscheidungsmonopol in der Politik abgesprochen. Damit zeigt sich ein neuer Ansatz der pazifistischen Bewegung, nämlich das Drängen auf innenpolitische Reformen im Sinne einer Demokratisierung. Die wirtschaftliche Konkurrenz der Großmächte wurde als ein Hemmnis auf dem Weg zum Frieden erkannt und sollte durch eine Verständigung der »Kulturvölker« überwunden werden.

Internationale Kontakte

Neue Friedensorganisationen entwickelten sich mit Kriegsbeginn auch in anderen Ländern. So der »Nederlandsche Anti-Oorlog-Raad« (Antikriegsrat), die britische »Union of Democratic-Control«, das »Komitee zum Studium der Grundlagen eines dauernden Friedens« in der Schweiz sowie die »League to Enforce Paece« in den USA (ab 1915). In Frankreich existierte mit der »Ligue des Droits de l´Komme« bereits vor 1914 eine Vereinigung, die eine stärkere Transparenz der Politik forderte.

Im »Bund Neues Vaterland« arbeiteten einige ehemalige Diplomaten mit, die die Außenpolitik des Kaiserreichs kritisch beurteilten, so etwa Fürst Lichnowsky (ehemaliger Botschafter in London). Die außenpolitische Kompetenz dieser Personen führte schließlich zu einer von Reuter verfassten Denkschrift, die sich kritisch mit der deutschen Außenpolitik beschäftigte. Im März 1915 wurde diese in Schreibmaschinenschrift, also nicht im Druck, vervielfältigt und an Interessenten verteilt – mit einer positiven Resonanz. Hier zeigte sich ein typisches Merkmal dieser pazifistischen Vereinigung: Ziel war nicht die Entwicklung zu einer Massenbewegung, sondern die Einflussnahme auf die Außenpolitik durch einen hohen Sachverstand.

Schon einen Monat später, im April 1915, nahm der »Bund Neues Vaterland« an einer pazifistischen Konferenz in Den Haag teil und konnte dadurch die internationalen Kontakte erweitern. Die Minimalforderungen dieser Tagung für einen dauernden Frieden bestanden aus fünf Punkten:

  • Keine Annexionen oder Gebietsübertragungen ohne die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung,
  • Liberalisierung des Handels mit den Kolonien,
  • Fortsetzung der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907,
  • Vereinbarungen über den Rüstungsabbau,
  • Kontrolle der Außenpolitik durch die Parlamente.

Die Deutsche Friedensgesellschaft, die durch die Doppelmitgliedschaften der bekannten Pazifisten Ludwig Quidde und Walther Schücking mit dem Bund Neues Vaterland verbunden waren, stimmte am 15. Juni den Minimalforderungen zu. Schückings Denkschrift über die Haager Verhandlungen wurde vom Auswärtigen Amt sehr zurückhaltend aufgenommen. Daraus ergab sich für die pazifistische Organisation der Schluss, zukünftig stärker an die Öffentlichkeit heranzutreten. Innerhalb der SPD erreichten die fünf Punkte der Friedensorganisationen eine gewisse Resonanz. So veröffentlichten Hugo Haase, Eduard Bernstein und Karl Kautsky in der Leipziger Volkszeitung am 19. Juli den Aufruf »Das Gebot der Stunde«, in dem Annexionen abgelehnt und ein Verständigungsfriede befürwortet wurde. Allerdings fand dieser Aufruf in der Partei keine Mehrheit, sondern verstärkte das Auseinanderdriften der Flügel in der Sozialdemokratie.

Deutliche Kritik an Annexionen

In der Innenpolitik erfolgte seit Mitte 1915 eine verstärkte Diskussion über die Frage der Kriegsziele. Hieran beteiligte sich auch die deutsche Friedensbewegung mit öffentlichen Stellungnahmen. Den Ausgangspunkt dieser Kontroversen bildete eine Eingabe von sechs großen Wirtschaftsverbänden (u.a.: Bund der Landwirte, Bund der Industriellen) an die Reichsregierung am 10. März und nochmals am 20. Mai, in dem große Gebietszugewinne (Belgien, Longwy-Briey, Landwirtschaftsgebiete im Osten) gefordert wurden.

Dies bedeutete eine klare Gegenposition zu den Minimalforderungen für einen dauernden Frieden. Entsprechend reagierte der Bund Neues Vaterland im Juni mit einer Flugschrift »Sollen wir annektieren?«, überwiegend von Quidde verfasst: „Die Gedanken, die diese Eingabe entwickelt, enthalten eine furchtbare Gefahr für die Gewinnung eines rechtzeitigen ehrenhaften Friedens und für die Sicherheit des Deutschen Reiches nach erfolgtem Friedensschluß […]. Die Gewinnenden wären lediglich jene mächtigen Interessentenkreise, die durch die Annexionen im Osten das Werk der inneren Kolonisation glücklich von Altdeutschland auf die annektierten Gebiete gelenkt hätten oder die durch die Annexionen im Westen dem Ziele einer unbedingten Beherrschung des Marktes durch die kartellierte Schwerindustrie näher gekommen wären.“ (Grumbach, 376 und 405)

Diese Schrift wurde in 700 Exemplaren gedruckt und an Minister, Reichstagsabgeordnete und Persönlichkeiten verschickt. Bereits kurz nach der Versendung verbot das militärische Oberkommando in den Marken die weitere Verbreitung und beschlagnahmte den Restbestand.

Überwachung und Verfolgung

Im Sommer 1915 plante der »Bund Neues Vaterland« ein umfangreiches Großprojekt mit zahlreichen Autoren über die Grundzüge eines dauerhaften Friedens unter der Federführung Quiddes. Es blieb jedoch beim Plan, denn im Herbst setzten die Militärbehörden dem Projekt ein Ende. Die Überwachungsmaßnahmen verschärften sich nun deutlich. Über deutsche Annexionen sollte nicht länger öffentlich diskutiert werden. Den Hintergrund bildete ein Artikel »Schüsse in den Rücken« in der rechtsstehenden Rheinisch-Westfälischen Zeitung am 26. September 1915. Schwerindustrielle, großagrarische, militärische sowie alldeutsche Interessen arbeiteten Hand in Hand gegen die Friedensbewegung – und die Dolchstoßlegende ließ auch schon grüßen!

Die Verbreitung anti-annexionistischer Positionen konnte zwar eingeschränkt, aber nicht vollständig verhindert werden. Quiddes Schrift »Reale Garantien für einen dauernden Frieden« (Ein Zitat des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg) wurde versandt und erreichte dankbare Abnehmer. Vor allem gegenüber dem Ausland konnte die Friedensbewegung ihre kritische Haltung verdeutlichen und einige Schriften erfuhren Übersetzungen. Solche kleinen Erfolge beschleunigten erst recht die umfangreichen Repressionen: Verschärfung der Presse- und Briefzensur, deutliche Beschränkung der Versammlungstätigkeit pazifistischer Organisationen, Bespitzelung und Observierung, Reisebeschränkungen, Publikationsverbote, Beschlagnahmung von Schriften, Hausdurchsuchungen und Festnahmen.

Die alldeutsche Presse setzte ihre Diffamierungskampagnen von vor 1914 gegen die Friedensbewegung ungehindert fort, vor allem der Vorwurf des angeblichen Landesverrats wurde öfters bemüht, obwohl es während der gesamten Kriegszeit nie zu einer solchen Anklage kam.

Am 2. Oktober verhinderte ein Verbot die Versendung von Mitteilungen des »Bundes Neues Vaterland« an die eigenen Mitglieder, kurz darauf fand eine Hausdurchsuchung in der Geschäftsstelle statt. Bis Ende 1915 konnte die Arbeit stark eingeschränkt fortgeführt werden. Dies änderte sich schlagartig am 7. Februar 1916. Da wurde dem Bund mitgeteilt, dass „für die Dauer des Krieges jede weitere Betätigung im Sinne der Bestrebungen des Bundes nebst Herstellung und Versendung von Mitteilungen, Sonderdrucken, Flugschriften“ verboten sei. Mehrere Proteste der Friedensorganisation an den Reichstag folgten, blieben jedoch ergebnislos. Am 31. März 1916 erfolgte die Verhaftung von Lilli Jannasch, der Geschäftsführerin des Bundes. Sie blieb 14 Wochen in so genannter Schutzhaft ohne irgendeine Vernehmung. Auch Elsbeth Bruck, Jannaschs Nachfolgerin, wurde inhaftiert. Eine Anklage wegen angeblichen Hochverrats verlief aus Mangel an Beweisen im Sande. Die Lahmlegung des »Bundes Neues Vaterland« bedeutete den Anfang eines gezielten Schlages gegen die Friedensbewegung, nur wenig später traf es die Deutsche Friedensgesellschaft mit ihren Organen.

Trotz dieser herben Rückschläge zeigte sich die pazifistische Bewegung kreativ und gründete neue Organisationen, so die kleine, intellektuelle »Vereinigung Gleichgesinnter« und die wichtigere »Zentralstelle Völkerrecht«.

Vier Friedensorganisationen bündelten ihre Beschwerden in zwei Eingaben an den Reichstag am 1. Juli 1917 und neu überarbeitet am 2. Oktober, unterstützt durch eine umfangreiche Denkschrift »Pazifismus und Belagerungszustand«. Anhand vieler Beispiele wurden die illegalen Übergriffe der Behörden dokumentiert und angeprangert.

„Die unterzeichneten Organisationen Deutsche Friedensgesellschaft, Bund Neues Vaterland, Nationaler Frauenausschuß für dauernden Frieden und Zentralstelle Völkerrecht gestatten sich, an den Deutschen Reichstag die Bitte zu richten, dieser wolle noch in der bevorstehenden Tagung bewirken, daß entweder durch völlige Aufhebung des Belagerungszustandes oder durch ein Notgesetz zur Abänderung des Belagerungszustands-Gesetzes die gesetzlich gewährleistete Versammlungs-, Vereins- und Preßfreiheit wiederhergestellt und die Zensur auf rein militärische Angelegenheiten beschränkt werde.“ (Quidde, 281)

1918 und Weimarer Republik

Die gleichen pazifistischen Organisationen richteten im Februar 1918 Eingaben an den Reichstag, in denen Forderungen für einen möglichen Friedensschluss im Osten und Westen formuliert wurden. Offene oder versteckte Annexionen wurden weiterhin abgelehnt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker befürwortet. Nationalen Minderheiten sollte kulturelle Autonomie sowie ein internationaler Minderheitenschutz gewährleistet werden.

Bei Kriegsende hatten sich die pazifistischen Positionen erweitert und radikalisiert, insbesondere soziale und innenpolitische Faktoren des Friedens spielten nun eine weitaus wichtigere Rolle, ebenso die internationale Versöhnungsarbeit. Dies spiegelte sich auch im neuen Programm des »Bundes Neues Vaterland« von 1918/19 wider.

„Die Arbeit des Bundes umfaßt folgende Gebiete:

1. Mitarbeit an der Völkerversöhnung insbesondere durch Zusammenarbeit mit ähnlich gerichteten Organisationen des Auslandes; Abschaffung der bewaffneten Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung der Völker und Parteien.

2. Kampf für die Abschaffung jeder Gewalt- und Klassenherrschaft, Kampf für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit durch Einflußnahme auf Presse, Parteien und Regierungen.

3. Mitarbeit an der Verwirklichung des Sozialismus durch wissenschaftliche und propagandistische Arbeit im Sinne der Londoner Gesellschaft der Fabier (Fabian Society) und vorbereitende Mitwirkung an der Durchführung organisatorischer Maßnahmen der öffentlichen Gewalten unter Heranziehung von Fachleuten.

4. Kultur der Persönlichkeit durch Pflege aller geistigen und sittlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen unter gleichzeitiger Betonung des Gemeinschaftsinteresses.“ (Benz, 135f.)

Dieses Programm hatte auch nach der Umbenennung des Bundes im Jahre 1922 in »Deutsche Liga für Menschenrechte« Bestand.

Trotz einer verhältnismäßig geringen Zahl von ca. 2.000 Mitgliedern zeigte diese Friedensorganisation unter ihren Sekretären Otto Lehmann-Rußbüldt und Kurt R. Grossmann (ab 1926) eine beachtliche Dynamik. Außenpolitisch stand die Versöhnung mit Frankreich und Polen im Blickpunkt der Aktivitäten: Kundgebungen, Konferenzen, Broschüren, Briefkontakte. Bei Vortragsreisen in Deutschland kam es mitunter zu heftigen Auseinandersetzungen mit nationalistischen Gruppen. Innenpolitisch richtete sich die Liga gegen die republikfeindliche Haltung der Reichswehr, die illegale Aufrüstung sowie die »Schwarze Reichswehr«. Ferner setzte sich diese pazifistische Vereinigung für politische Gefangene ein und forderte die Abschaffung der Todesstrafe sowie ein demokratisches Justizwesen.

In der Endphase der Weimarer Republik stand der Kampf gegen den Nationalsozialismus im Mittelpunkt der Arbeit. Nach dem 30. Januar 1933 wurde die Liga ein Opfer des NS-Terrors.

Führende Mitglieder gründeten nach einer erfolgreichen Flucht im Exil neue Friedensgruppen.

Literatur

Benz, Wolfgang (Hg.): Pazifismus in Deutschland. Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939. Frankfurt/Main 1985.

Eisenbeiß, Wilfried: Die bürgerliche Friedensbewegung in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. Organisation, Selbstverständnis und politische Praxis 1913/14-1919. Frankfurt/Main 1980.

Grumbach, Salomon: Das annexionistische Deutschland. Lausanne 1917.

Holl, Karl: Pazifismus in Deutschland. Frankfurt/Main 1988.

Lehmann-Rußbüldt, Otto: Der Kampf der deutschen Liga für Menschenrechte vormals Bund Neues Vaterland für den Weltfrieden 1914-1927. Berlin 1927.

Lipp, Karlheinz: Pazifismus im Ersten Weltkrieg. Ein Lesebuch. Herbolzheim 2004.

Quidde, Ludwig: Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914-1918. Aus dem Nachlaß Ludwig Quiddes hg. von Karl Holl unter Mitwirkung von Helmut Donat.

Boppard a. Rh. 1979.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.

Terror grenzenlos?

Terror grenzenlos?

Höchste Zeit zur Deeskalation

von Corinna Hauswedell

Es gibt genügend Gründe, warum uns die schrecklichen Ereignisse von Beslan nicht loslassen dürfen, obwohl jener Ort in Nordossetien, der Anfang September Schauplatz des blutigsten Geiseldramas wurde, bereits wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist.

Mehrere hundert Kinder in einer Schule wurden Opfer eines brutalen Terroranschlages. Der Tabubruch – das Eindringen militärischer Gewalt in diesen von allen Kulturen als besonders geschützt erachteten, zivilen Lebensbereich – war immens. Wir haben diese Zerstörung jungen Lebens – nach zahllosen Selbstmordattentaten, nach den Enthauptungen in Bagdad, nach den Folterbildern von Abu Ghraib – als schockierendes Anwachsen von Inhumanität erlebt. Die Führung der russischen Großmacht hat den Anschlag – ähnlich wie die US-Regierung nach dem 11. September – als totale Kriegserklärung gewertet. Die Maßnahmen zur Einschränkung der ohnehin schwachen russischen Demokratie, die Präsident Putin als innenpolitische Konsequenz eingeleitet hat, sind besorgniserregend; seine Drohungen, präventive Schläge gegen Terroristen auch außerhalb russischen Territoriums durchzuführen, bergen das Potenzial neuer internationaler Eskalation.

Wie kann einer weiteren Entgrenzung von Recht und Moral, der ungeheuren politischen Machtanmaßung sowohl der vermeintlich Schwächeren wie der Starken auf der internationalen Bühne, entgegen gewirkt werden? Kofi Annan hat in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung deutliche Worte zur Illegalität der Kriegführung im Irak gefunden, hat politische Doppelstandards westlicher Staaten kritisiert und eine stärkere Rolle der UNO und ihrer multilateralen Strukturen bei der internationalen Friedenssicherung gefordert. Doch wie sollen Deeskalationsstrategien aussehen, wenn immer häufiger regionale Konflikte wie im Kaukasus, im Nahen Osten oder auf dem afrikanischen Kontinent, die ihre eigene Geschichte und Muster haben, zu Schlachtfeldern im globalen Krieg gegen den Terror erklärt und gemacht werden; wenn der Krieg gegen den Terror eine Dynamik auslöst, die – wie im Irak – den Terroristen Tausende neuer Kämpfer in die Arme treibt und ein Land zum Hauptkampfplatz unterschiedlichster Kräfte, auch innerhalb des islamistischen Fundamentalismus, macht?

Ist es nicht höchste Zeit, alle verfügbaren Erfahrungen im Umgang mit internationalen Konflikten und mit regionalen bzw. nationalen Krisenszenarien zusammen zu tragen und auf ihre Tauglichkeit für diese scheinbar neue, globale Konfliktkonstellation hin zu prüfen? Die Behauptung, dass nach historischen Einschnitten wie dem Ende des Kalten Krieges 1989 oder den Anschlägen des 11. Septembers nichts mehr so sei wie zuvor, hat sich mittlerweile als wenig hilfreich und obendrein als sachlich falsch herausgestellt.

Dass sich der 45. Deutsche Historikertag, sonst eher ein behäbiges Verbandstreffen des Elfenbeinturmes, diesmal in gut besuchten Sektionen dieser aktuellen Brandthemen annahm, mag ermutigen. Man hörte begründete Warnungen, Terrorismus nicht mit Krieg gleich zu setzen, schon gar nicht mit »Totalem Krieg«. Sodann der Hinweis darauf, dass Terrorakte mehr als einmal in der Geschichte zum Ausgangspunkt für große Kriege wurden. Plädoyers für Differenzierungen zwischen den Netzwerken von Al Qaida und lokalen Gruppen, dazu Analysen der politischen Dimension des Terrors sowie Fallstudien über die Vergeblichkeit, Terror mit militärischen Mitteln besiegen zu wollen. Aufschlussreich auch das Nachdenken – wie Gudrun Krämer anregte – warum in der islamischen Welt die Wendepunkte 1989 und 11.9. anders wahrgenommen werden als vielerorts im Westen.

Man muss nicht in die von Josef Joffe in der ZEIT so beschriebene »Verständnis-Falle« tappen, wenn man nach Antworten auf die Fragen sucht, wo mögliche Wurzeln für die Eskalation terroristischer Handlungen zu finden sind, oder – vielleicht wichtiger – welche Mechanismen von Aktion und Reaktion den Terrorismus in Gang halten. Diese Analysen werden wir brauchen, um aus der Spirale der Gewalt, die sich zwischen nichtstaatlichen und staatlichem Terror immer schneller dreht, heraus zu kommen.

Der neue Terror ist vor allem grenzenloser als viele alte Formen des Terrors. Das begründet ein neues Bedrohungsgefühl, mit dem wir leicht in eine irrationale »Alarmismus-Falle« geraten können. Bei allem, was ein islamistisches Netzwerk wie Al Qaida von beispielweise der IRA Nordirlands unterscheidet, verweisen seriöse Forschungen wie die von Peter Waldmann aber eben auch auf (gemeinsame) Tatbestände wie, dass der Terrorismus vor allem eine Methode der Provokation der Macht sei, und insofern eine, wenn auch moralisch verwerfliche, Kommunikationsstrategie verfolgt werde. Hierauf die geeignete »Antwort« durch eine kommunikative Gegenstrategie zu finden, wird absehbar eine der großen Herausforderungen der internationalen Politik sein. Dürfen sich Staaten oder nichtstaatliche Organisationen erpressen lassen durch das zunehmend eingesetzte Mittel der Geiselnahme? Ist mit Terroristen zu verhandeln? Wenn ja, welches sind die Maßstäbe? Ist Vertrauensbildung hier eine geeignete Kategorie? Im Falle Nordirlands war es u.a. der Bereitschaft einzelner demokratischer Politikerinnen und Politiker, wie der Britin Mo Mowlam oder dem US-Senator George Mitchell, zu danken, dass – in einer oft umstrittenen Gratwanderung – die Einbeziehung auch radikaler Parteien in den langwierigen, oft von Rückschlägen begleiteten politischen Dialog- und Friedensprozess gelang, der schließlich auch zum Gewaltverzicht führte.

Der Ost-West-Konflikt hält ganz andere, aber zweifelsohne ähnlich ambivalente Erfahrungen in Sachen Deeskalation bereit. Das Paradox, dass der militärisch und ideologisch am höchsten gerüstete Konflikt unserer Zeitrechnung, der die Welt mehrfach an den atomaren Abgrund geschickt hat, letztlich unblutig zu Ende gegangen ist, wird die Forschungen weiter zu beschäftigen haben. Auch hier war Kommunikation im Spiel: Détente á la Kennedy sollte sich als weniger tragfähig erweisen als deutsche Ostpolitik. Unterschiedliche (Bedrohungs)Wahrnehmungen voneinander prägten das Konflikthandeln von Freund und Feind. Wo geredet wurde, wurde (fast) nicht geschossen. Am Ende (und Anfang einer neuen Ordnung) stand die KSZE: Welche Garantien bot dagegen die von den Gnaden bipolarer Ordnung abhängige Abschreckungslogik, deren Verschwinden heute von manchen bedauert wird? Wie viel Status-quo-Erhalt war der Preis der Deeskalation? Wie viel friedliche Veränderung machte sie andererseits möglich? Wie überzeugend war das in den 80er Jahren entstandene Konzept »Gemeinsamer Sicherheit«? Wie tragfähig ist das aus der Globalisierung erwachsene Konzept von »Human Security«? Ist das wachsende Zusammenspiel militärischer und ziviler Komponenten bei der Friedenssicherung einer Deeskalation von Konflikten eher förderlich oder hinderlich? Wie kann heute internationale Abrüstung als Teil einer erfolgversprechenden Deeskalationsstrategie (re)konstruiert werden?

Viele Fragen, auf die auch die multidisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung helfen kann, Antworten zu finden. Zweifelsohne lassen sich strukturbildende Merkmale für eine »Einhegung« von internationalisierten Konflikten aus der bipolaren, aber durchaus auch asymmetrischen Blockkonfrontation für die unipolare und von wachsenden Machtungleichheiten geprägte internationale Konstellation heute bereit stellen. Der Wegfall der bipolaren Konfrontation hatte den Blick für die Eigengesetzlichkeiten und Deeskalationschancen lokaler oder regionaler Konflikte geöffnet und in den 90er Jahren mehrere erfolgreiche Friedensprozesse in Gang gesetzt. Die Welt läuft Gefahr, dass diese Erfahrungen im »war against terror« verloren gehen.

Die Zeit drängt. Und es ist nicht einmal in erster Linie der Mangel an Analyse und wissenschaftlichen Konzepten, der wirksamen Deeskalationsstrategien entgegen steht. André Glucksmann hat in einem bemerkenswerten Essay anhand des Beslan-Desasters grundsätzliche Fragen von Menschenrechtspolitik, Kriegführung und Anti-Terror-Kampf aufgeworfen und die »Kopf in den Sand«-Haltung der Mächtigen der Welt angeprangert: „Als Putin 1999 in Tschetschenien einmarschiert, behauptet er, gegen 2000 Terroristen anzutreten. Er schickt seine Bomber, seine Panzer und 100.000 Soldaten zur Eroberung eines Landes, das so groß ist wie Groß-Paris … Er schleift Grosny … Wenn ein solches Schlachthaus als Terrorbekämpfung gilt, muss man sich fragen, warum die Engländer nicht Belfast dem Erdboden gleich machten, die Spanier Bilbao, die Franzosen Algier … Wir sind ein aktiver Teil in diesem Desaster …“

Höchste Zeit also für Deeskalationsstrategien, die die Augen nicht verschließen vor den Konfliktinhalten, ihren Ursachen, Interessenlagen und Wahrnehmungen. Deeskalation, das heißt nicht Frieden; aber es ist die Suche nach anderen Formen des Konfliktaustrages als mittels der inhumanen, tödlichen Gewaltspirale.

Dr. Corinna Hauswedell ist Vorsitzende des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, Mitherausgeberin des Friedensgutachtens und im geschäftsführenden Vorstand von Wissenschaft und Frieden

Der Krieg und die Kultur

Der Krieg und die Kultur

Eine evolutionspsychologische Perspektive

von Marianne Müller-Brettel

Im vorliegenden Beitrag fragt die Autorin nach der funktionalen Verankerung der Institution Krieg in der Geschichte der Menschheit. Unter dieser Perspektive schreibt sie dieser Institution eine gewisse positive Bedeutung zu. Durch die eigene Entwicklungsdynamik aber hat das Militär- und Kriegswesen zwischenzeitlich seine positive Funktion verloren bzw. wurde diese in das Gegenteil verkehrt, so dass Überleben und weitere Entwicklung der Menschheit die Abschaffung der Institution Krieg erfordern. Wir stellen diese »dialektische« Betrachtung zur Diskussion.

In den Jahren der Epochenwende schien der Krieg als Mittel der Politik in Europa überwunden:

  • Die Mittelsteckenraketen wurden abgebaut.
  • Die Berliner Mauer fiel ohne einen einzigen Schuss.
  • Aus den Reihen der Nationalen Volksarmee wurde ein Konversionsplan vorgelegt, wie alle Einrichtungen der DDR-Armee innerhalb von zehn Jahren in zivile Bereiche hätten überführt werden können.
  • Der Warschauer Pakt löste sich auf und die Rote Armee wurde aus Deutschland abgezogen.
  • Rüstungsfirmen erarbeiteten gemeinsam mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern Pläne, um anstelle von Panzern und Minen zivile Güter zu produzieren.
  • Die Partei der Grünen diskutierte einen Austritt der Bundesrepublik aus der NATO.
  • Die OSZE bot eine praktikable Grundlage zur Lösung von Konflikten zwischen europäischen Staaten.

Warum trotz alledem Krieg?

Trotz dieser Erfolge alternativer Konfliktlösungen gilt heute, ein gutes Jahrzehnt später, die Bereitschaft, Soldaten rund um den Globus einzusetzen, als Voraussetzung für eine verantwortungsvolle deutsche Außenpolitik. Waren die Hoffnungen der Friedensbewegung naiv? Bedeutet die biologische Ausstattung des Menschen, seine Fähigkeit zur Aggression, dass er von Natur aus zum Krieg disponiert ist und höchstens durch entsprechende Bildung oder eine internationale, bewaffnete Organisation davon abgehalten werden kann, wie Freud 1933 in seiner Antwort an Einstein darlegte? Ist es die kapitalistische Dynamik der Konkurrenz und des tendenziellen Falls der Profitrate, die immer wieder zu Kriegen um neue Märkte, billige Rohstoffe und die Ausschaltung von Konkurrenten führt, wie Marx analysierte? Ist der von Huntington prophezeite »clash of civilizations« die Ursache von immer neuen Kriegen oder ist der Krieg der Vater aller Dinge, wie Heraklit zitiert wird?1

Jede dieser Theorien erklärt einen Aspekt von Krieg. Für den Menschen wie für jedes höhere Lebewesen ist die Aggressivität eine wichtige Eigenschaft fürs Überleben. Dass kapitalistische Gesellschaften um Rohstoffe und Absatzmärkte Kriege führen, haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt und dass bei gewaltsamen Auseinandersetzungen kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen, wird niemand bestreiten wollen. Inwiefern aber ist der Krieg der Vater aller Dinge?

Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege stehen in Europa bei der Diskussion der Bedeutung von Kriegen ihre negativen Auswirkungen wie Gewaltanwendung und Zerstörung im Vordergrund, und wir können die Kriegsbegeisterung deutscher Intellektueller von 1914 kaum noch nachvollziehen. Trotz der Grausamkeit heutiger Kriege reicht jedoch ihre Verurteilung nicht aus, um sie zu verhindern. Mit moralischen Argumenten sind viele Kriege geführt, aber keine verhütet oder beendet worden. Im Laufe der Geschichte haben sich vielfältige Formen von Kriegen herausgebildet wie zum Beispiel Eroberungsfeldzüge, Zweikämpfe, Kabinettskriege, Völkerschlachten und Bürgerkriege, entsprechend vielfältig sind auch ihre Ursachen und die Antworten auf die Frage, warum die meisten Gesellschaften seit der Jungsteinzeit (Neolithikum) regelmäßig Kriege führen. Über die politischen, ökonomischen, ethnischen und psychologischen Ursachen ist viel geforscht und geschrieben worden. Was aber ist mit der Bedeutung von Kriegen nicht für die Zerstörung von Kulturen, sondern, wie Heraklit meint, für deren Aufbau und Erhalt?

Evolutionspsychologische Perspektive

Diesem Aspekt soll im Folgenden nachgegangen werden. Hierfür ist es notwendig zwischen der von Menschen geschaffenen Welt, der Welt der Artefakte, und der unabhängig von ihm und seiner Tätigkeit existierenden Welt, der natürlichen Welt, zu unterscheiden. Artefakte sind vom Menschen geschaffene Dinge wie Werkzeuge, Gebäude oder Kunstgegenstände, die von ihm entwickelten gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, sowie die in der jeweiligen menschlichen Gemeinschaft kommunizierten Ideen, Theorien und Glaubensbekenntnisse. Man könnte sagen, die Summe aller Artefakte einer Sippe, Ethnie oder Nation ist ihre Kultur. Im Unterschied zu Dingen, die unabhängig von der menschlichen Tätigkeit entstehen und vergehen, wachsen und absterben, gedeihen und verderben, müssen Artefakte vom Menschen nicht nur erschaffen, sondern auch rekonstruiert und unterhalten werden. Gebäude zerfallen, Werkzeuge werden unbrauchbar und eine Stradivari verliert ihren wunderbaren Klang, wenn sie nicht regelmäßig gespielt wird. Theorien, soziale Institutionen und Ideen verschwinden, werden sie nicht in der Kommunikation rekonstruiert und in Büchern und Denkmälern dokumentiert. Religionen verlieren ihre Macht, wenn niemand mehr an sie glaubt und keiner mehr ihre Rituale pflegt.

Artefakte haben für den Menschen eine existentielle Bedeutung. Die Millionen Menschen, die im nördlichen Europa leben, würden ohne die Zivilisation verhungern und erfrieren. Die Entstehung der – nach derzeitigem Wissensstand – ersten Agrargesellschaften und Hochkulturen in der Jungsteinzeit ermöglichte der menschlichen Gattung ein Überleben auch unter ungünstigen Bedingungen. Damit setzte eine qualitativ neue Entwicklung ein: Einige Gruppen der menschlichen Gattung begannen den Verlust ihrer Nahrungsquellen nicht durch das Suchen neuer Lebensräume (Wanderung), sondern durch die Veränderung der vorhandenen (Ackerbau) zu kompensieren. Dank seiner spezifischen emotional-kognitiven Fähigkeiten kann der homo sapiens nicht nur seine Ideen in Artefakten materialisieren und seine Vorstellungen, Bedürfnisse, Absichten und Tätigkeiten reflektieren, sondern er kann auch einmal erworbenes Wissen in einer spezifischen Art tradieren, so dass nicht jede Generation das Rad neu erfinden muss. Er besitzt nicht nur die Fähigkeit Verhaltensweisen nachzuahmen und den Gebrauch von Werkzeugen zu erlernen, sondern erkennt auch die in den Artefakten angelegten Intentionen, also die Zwecke, zu denen sie von seinen Vorfahren erschaffen worden sind: „Werkzeuge weisen auf die Probleme hin, die sie lösen sollen, und sprachliche Symbole verweisen auf die kommunikativen Situationen, die sie repräsentieren sollen.“2 Dadurch ist der Mensch in der Lage, einmal erworbenes Wissen nicht nur in direktem Kontakt zwischen Eltern und Kindern an die nächste Generation weiterzugeben, sondern er kann das Wissen in Form der in Artefakten vergegenständlichten Intentionen, also unabhängig von der direkten Kommunikation, tradieren, was die Akkumulation von Wissen über viele Generationen hinweg, die Weiterentwicklung von Werkzeugen, Ideen oder Organisationen entsprechend ihren Bedeutungen für die jeweilige Gemeinschaft und letztlich den Aufbau von Zivilisationen ermöglicht. Nach Tomasello ist es diese besondere Art der kulturellen Weitergabe (Wagenhebereffekt), die den Menschen vom Tier unterscheidet und die Kumulation von Gütern, Fertigkeiten und Wissen ermöglicht.3 Dank dieser Fähigkeit können Menschen Kulturen aufbauen, die sie bis zu einem gewissen Grad von der Unbill der Natur unabhängig machen. Diese Kulturen ersetzen dem Menschen die wenigen für ihn auf der Erde vorhandenen ökologischen Nischen, die natürlichen Lebensräume also, in denen er Nahrung und Schutz vor Witterung findet, vor Feinden sicher ist und sich fortpflanzen kann. Diese Unabhängigkeit befähigte die menschliche Gattung, sich über die ganze Erde auszubreiten und in allen Klimazonen anzusiedeln.

Die Kulturentwicklung sicherte auf der einen Seite Überleben und Wachstum der Gattung Mensch, zwang aber auf der anderen Seite dazu, die je eigene Kultur zu unterhalten und zu erneuern. Während die Natur sich auch ohne das Eingreifen des Menschen verändert und reproduziert, werden zur Aufrechterhaltung von Kulturen ständig neue materielle, physische und psychische Ressourcen benötigt, da Artefakte die Eigenschaft haben, ohne das Eingreifen des Menschen, zu zerfallen. Es ist diese Eigenschaft der vom Menschen geschaffenen Dinge, die von ihm viel Arbeit erfordert.4 Im Unterschied zu anderen Gattungen, die in natürlichen ökologischen Nischen leben, muss der homo sapiens stets große Anstrengungen unternehmen, um die Kultur, also seine ökologische Nische, zu erhalten.

Interpretieren wir die Aussage „Krieg ist der Vater aller Dinge“ dahingehend, dass mit den Dingen die Artefakte gemeint sind, können wir weiter folgern, dass die Bedeutung von Kriegen darin liegt, die für die Instandhaltung und Erneuerung der Artefakte notwendigen materiellen und menschlichen Ressourcen zu beschaffen. Kriege dienen demnach nicht nur, wie die Aggression von Tieren, der Verteidigung des Reviers und der Jungen, sondern sind auch ein Mittel, die Rekonstruktion der jeweiligen Kultur zu sichern und neue Kulturen aufzubauen. Es gibt kaum eine Hochkultur, bei deren Aufbau Kriege nicht eine große Rolle gespielt hätten. Auch bei der Bildung moderner Nationalstaaten hatten Kriege eine wichtige Funktion. Bis heute sind Armeen in den meisten Ländern ein wichtiger Bestandteil der nationalen Identität.

Funktionswidrigkeit der Institution Krieg

Aber Kriege dienen nicht nur der Rekonstruktion, sondern auch der Zerstörung von Kulturen. Kaum eine Hochkultur existierte länger als tausend Jahre. Und es scheint einen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit, mit der Reiche entstehen, und der Geschwindigkeit, mit der sie zerfallen, zu geben. Man könnte auch sagen, je weniger Kriege für die Bildung von Reichen notwendig waren, je langsamer sie entstanden sind, je größer der Anteil der gegenseitigen Assimilation im Vergleich zur militärischen Eroberung und gewaltsamen Unterdrückung war, desto stabiler sind sie gewesen. Das Dilemma, dass auf der einen Seite eine Kultur während einiger Generationen mit Hilfe von Kriegen wachsen kann, langfristig aber jede auf Krieg angewiesene Kultur sich selbst gefährdet, spiegelt sich in der Ambivalenz der Bevölkerung gegenüber Militär und Krieg wider. In den eigenen Armeen kristallisiert sich die Hoffnung einer Bevölkerung auf Sicherheit ebenso wie ihre Furcht vor einem Krieg.

Die Zwiespältigkeit von Kriegen erleben wir zur Zeit auch in unseren hochindustrialisierten Gesellschaften. Auf der einen Seite beschleunigte die kapitalistische Entwicklungsdynamik die Akkumulation von Gütern und Wissen. Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik, quasi unsere ökologische Nische, kann ihrem Anspruch, den Unternehmen Profite und den Beschäftigten Wohlstand und soziale Sicherheit zu garantieren, nur durch ein ständiges Wirtschaftswachstum gerecht werden. Wirtschaftswachstum aber erfordert einen hohen Bedarf an billigen Rohstoffen, weltweite Sicherung von Absatzmärkten, Ausschaltung von Konkurrenz sowie Rüstungsproduktion und Waffenexport. Alles Faktoren, die das Kriegsrisiko erhöhen, denn die Geschichte lehrt uns, dass keine expansive Kultur langfristig auf das Mittel Krieg verzichten konnte.

Müssen wir mit diesem Dilemma leben, weil Krieg der Vater von allem ist? Ist ohne Krieg unsere Zivilisation nicht aufrecht zu erhalten? Ist Krieg gar eine biologische Notwendigkeit? Betrachtet man das Kriegführen unter diesem Blickwinkel, ist es müßig darüber zu streiten, ob Kriege auf die Biologie des Menschen zurückzuführen sind oder gesellschaftliche Ursachen haben. Denn die Kultur ist zwar ein Produkt gesellschaftlicher Tätigkeit, hat aber als ökologische Nische gleichzeitig eine zentrale biologische Funktion, nämlich das Überleben der menschlichen Gattung zu sichern. Dies bedeutet aber nicht, dass Kriege eine zwingende biologische Notwendigkeit sind. Denn zum einen ist Krieg nicht und war nie das einzige Mittel, die für die Rekonstruktion einer Kultur notwendigen Ressourcen zu beschaffen. Zum anderen zeigt uns der Vergleich mit der Tierwelt, dass Kriege spezifisch menschlich sind.

Nicht der Krieg, sondern die Kultur ist für das Überleben der Gattung Mensch eine biologische Notwendigkeit. Ohne Artefakte könnten wir uns weder ernähren noch fortpflanzen. Die Etablierung des Krieges dagegen, durch welche historischen Zufälle und Einflüsse auch immer, als ein Mittel der Kulturrekonstruktion und Kulturentwicklung ist eine historische Tatsache, aber kein Naturgesetz. Heraklit beschreibt einen wichtigen Aspekt von Kriegen, der sich konkret auf die Geschichte unserer Zivilisation bezieht. Dies bedeutet aber nicht, dass die Aussage „Krieg ist der Vater von allem“ ein allgemeines Entwicklungsgesetz ist. Neben den expansiven Kulturen hat es immer Kulturen gegeben, die sich ohne Kriege rekonstruieren konnten und viele Kriege, wenn nicht die meisten, sind nicht um das Überleben einer Ethnie oder Nation geführt worden, sondern um das Überleben einer bestimmten Elite und die Rettung ihrer Privilegien.

Krieg ist also nicht nur keine biologische, sondern auch keine kulturelle Notwendigkeit. Biologisch notwendig ist nur der Erhalt der Zivilisation als ökologische Nische für Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Zunehmend wächst aber die Gefahr, dass Kriege nicht der Rekonstruktion, sondern der Vernichtung unserer zivilisatorischen Errungenschaften dienen. Krieg erfordert die Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte. Für demokratische Abstimmungen, kritische Debatten, Menschenrechte und allgemeinen Wohlstand ist in Kriegszeiten kein Platz. Auch für die kapitalistische Wirtschaft bringt ein Krieg nicht nur Gewinn. Zwar kann die Rüstungsindustrie ihre Profite erhöhen, die übrigen Wirtschaftsbereiche aber müssen, jedenfalls kurzfristig, Einbußen in Kauf nehmen, denn Handel braucht Frieden. Nicht zuletzt besteht bei einem Krieg im 21. Jahrhundert immer die Gefahr, dass die militärisch stärkere zwar die militärisch schwächere Gesellschaft unterwerfen kann, Sieger und Besiegte aber gleichermaßen zu Schaden kommen.

Wir stehen heute vor der Aufgabe, eine Kultur des Friedens zu schaffen, eine Kultur, die auf das Mittel Krieg verzichten kann. Das bedeutet, eine Kultur, die für ihre Rekonstruktion nur so viele Ressourcen benötigt, wie sie aus eigener Kraft und ohne Ausbeutung oder Ausplünderung anderer Kulturen hervorbringen kann. Dies ist, nach mehreren tausend Jahren expansiver Entwicklung, in der das Mittel Krieg ein konstitutiver Faktor war, keine leichte Aufgabe. Inwieweit sie gelingen wird, hängt von jedem einzelnen ab.

Anmerkungen

1) Die Stelle bei Heraklit heißt: „Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ (29 fr. 53, zit. nach W. Capelle (1953): Die Vorsokratiker. Fragmente und Quellenbericht (S. 135). Stuttgart: Kröner). Meine Ausführungen beziehen sich nicht auf das Ursprungszitat, sondern auf die verkürzte Form, in der dieses Zitat in der Friedensdiskussion meist verwendet wird.

2) Tomasello, M. (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (S. 16). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

3) ebd.

4) vgl. 1 Mose, 3.17-19: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweisse deines Ansgesichts sollst du dein Brot essen …“

Dr. Marianne Müller-Brettel ist Psychologin und hat sich als wiss. Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin vor allem mit der Geschichte der Friedenspsychologie auseinandergesetzt

Die Arroganz der Demokratien

Die Arroganz der Demokratien

Der »Demokratische Frieden« und sein bleibendes Rätsel

von Harald Müller

Kant hat die Friedlichkeit der Demokratien aus den Nutzenerwägungen der Bürgerinnen und Bürger begründet. Spätere Überlegungen haben im Menschenbild der Aufklärung, im Respekt vor Menschenwürde und menschlichem Leben sowie in der Präferenz für rationale, gewaltfreie Konfliktlösung eine zweite Hemmschwelle gegen den Krieg identifiziert. Die demokratischen Entscheidungsstrukturen seien schlecht geeignet, die für den Krieg erforderliche Überraschung hervorzubringen.1 Die Neigung der Demokratien, intedependente Wirtschaftsbeziehungen einzugehen und in internationalen Organisationen zu arbeiten, schaffe gemeinsame Interessen mit möglichen Feinden und Kooperationsstrukturen, die bei der friedlichen Beilegung von Konflikten helfen.2
Der empirische Befund ist umstritten;3 Demokratien führen selten oder nie Krieg gegeneinander. Ob sie auch gegenüber Dritten friedlicher sind, ist weniger eindeutig, Die meisten Autoren schließen, dass sich kein Unterschied im Gewaltverhalten erga omnes zeigt. Andere glauben, ein relativ friedlicheres Verhalten demokratischer Staaten entdeckt zu haben.4 Die Frage bleibt offen, wie Demokratien wechselseitig die Friedfertigkeit aneinander schätzen können, wenn sie gegenüber Dritten gar nicht gegeben ist, in anderen Worten: welches die Kausalmechanismen des »Demokratischen Friedens« zwischen Demokratien sein sollen, wenn sie gegenüber Nichtdemokratien nicht funktionieren.5 Hierin besteht das ungelöste Rätsel der so attraktiven Theorie vom Demokratischen Frieden.6

Selbstbild und Feindbild

Dieser wissenschaftliche Diskurs hat in den politischen hineingewirkt. Die Theorie des demokratischen Friedens prägt Selbstbild und Feindbild in den Demokratien. Sie liefert – im Sinne Carl Schmitts – das Kriterium der Unterscheidung von Freund und Feind7 mehr noch als im Kalten Krieg, in dem der Begriff des »Antikommunismus« den Anschluss von Diktaturen wie Spanien, Portugal, den Philippinen, des Schah-Iran, der griechischen Obristen und türkischen Generale an »den Westen« zuließ.8 Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wirken derartige Mesalliancen schmerzhafter. Zwar werden auch im »Krieg gegen den Terror«, Bündnisse mit nichtdemokratischen Ländern aus Opportunitätsgründen akzeptiert: Pakistan und China, Usbekistan und Sudan sind Beispiele; die wenig humane Art des syrischen Geheimdienstes im Umgang mit Gefangenen, wird von der CIA zielgerecht genutzt, um aus mutmaßlichen Terroristen nutzbringende Informationen herausquälen zu lassen. Dennoch liegt die Schmerzgrenze des öffentlichen Diskurses für diese Mesalliancen anscheinend niedriger als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts; die Debatte über den Charakter der amerikanisch-saudischen Beziehungen, die Frage, ob eine so enge Allianz mit einem autoritären Staat, der weltweit eine der doktrinärsten Formen islamistischer Theologie fördert, akzeptabel sei, liegt der Neigung einflussreicher Debattenbeteiligter zugrunde, sich in Zukunft lieber auf einen demokratisierten Irak zu stützen.9 Die Opfer und Mühen dieser Demokratisierung scheinen gegenüber dem moralischen Nutzen weniger bedeutsam.

Die Frontlinie verläuft zwischen dem aufgeklärten, die Menschenrechte achtenden, einem liberalen, marktwirtschaftlicher Wohlfahrt zugewandten und moralisch extrem positiv besetzten »Wir« und einem atavistischen, menschenverachtenden, staatsdirigistischen und moralisch abgewertetem »Sie«. Dieses »Sie« wird in seiner extremen Form zur Quelle aller Gefahren; der Schwenk vom Hauptfeind Al Qaeda zum Hauptfeind Irak deutet darauf hin. Al Qaeda als Nicht-Staat eignet sich weniger für die auf das Demokratiekriterium abgestellten dichotomische Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Die Vorstellung von der islamistischen Terrororganisation als eigentlichem Feind provoziert Frontlinien wie »westliche Zivilisation gegen Islam« (unerwünscht aus gesellschaftspolitischen Gründen), »Staat versus Nichtstaat« (was zwar der realen Anti-Terror-Koalition entspricht, nicht aber dem Bedürfnis nach moralischer Aufladung), oder »säkular gegen fundamentalistisch« (was unerwünschte Friktionen im eigenen Lager provozieren könnte, etwa unter den fundamentalistischen Unterstützern Präsident Bushs, den durchweg republikanisch gesinnten »wiedergeborenen Christen« auf der amerikanischen Rechten). Auch die moralischen Konsequenzen einer Grenzziehung Fundamentalismus/Säkularismus sind aus westlicher Sicht unbefriedigend, weil Länder wie China oder Syrien dem »Wir« zuzurechnen wären, was den Moralwert des eigenen Lagers senkt. Diese Eindeutigkeit ist unerwünscht, gilt doch in den USA, die diesen Diskurs prägen, China trotz gewisser Interessengemeinsamkeiten gegen die Al Qaeda als künftiger Rivale, Syrien trotz der geheimdienstlichen Zusammenarbeit als Feind des Verbündeten Israel. Kurzum: Die Frontlinie Demokratie/Nichtdemokratie enthält die höchste moralische Selbstbefriedigungs- und Mobilisierungschancen.

Jede moderne Gesellschaft enthält ein Gewaltpotential.10 Dieses wird sublimiert, unterdrückt oder umgelenkt; in Extremfällen – im »wilden« Krieg, im Staatszerfall – wird es bestimmend für das gesellschaftliche Erscheinungsbild.11 Aktualisiert sich dieses Potential, so wird die wir/sie-Unterscheidung zum Mechanismus, der die negative Energie auf den Feind fokussiert, indem das Bündel der dem »anderen« zugeschriebenen Eigenschaften als hoch negativ, moralisch verwerflich (»Achse des Bösen«) und physisch gefährlich charakterisiert wird. Dies war beiderseits bei der alten Dichotomie Kommunismus/Antikommunismus der Fall und findet sich im Gegensatz Demokratie/Nichtdemokratie gleichfalls, wobei sich die unterstellte Drohung wahlweise gegen das eigene Lager oder gegen schutzlose Dritte richten kann. Die Personifizierung des Bösen in einem Schurken (Noriega, Khomeiny, Ghaddafi, Aideed, Saddam, Milosevic) verstärkt den Fokussierungseffekt. 12 Zugespitzt ist die Konzentration von Negativa und Gefährlichkeit im Diskurs über die »Schurkenstaaten«, bei denen die Verachtung von Menschenrechten, das Streben nach Massenvernichtungswaffen, die Unterstützung des Terrorismus und allgemeine Feindseligkeit zusammenfallen.13

Der dichotomische Diskurs über Schurkenstaaten trägt die Rechtfertigung von Gegengewalt in sich. Er stellt zugleich die geltenden Verfahrensregeln für Entscheidungen über Krieg und Frieden in Frage. Wenn es um den Gegensatz zwischen Demokratien und Nichtdemokratien geht, ist es fraglich, ob letzteren die Teilhabe an der Entscheidung gewährt werden soll. Nicht zufällig hat der Bundeskanzler im Kosovo-Konflikt stets davon gesprochen, dass die »Staatengemeinschaft« den militärischen Einsatz gerechtfertigt habe, obgleich lediglich das westliche Bündnis den Krieg beschlossen hatte. Und explizit hat Richard Perle, Vorsitzender des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, seine „tiefe Besorgnis“ darüber erklärt, dass den VN das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, falle doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zu.14 Die neue »Nationalen Sicherheitsstrategie« Bushs erklärt für die USA als Führungsmacht des demokratischen Lagers in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus und den Schurkenstaaten das Recht, auch ohne unmittelbare Bedrohung einen Militärschlag zu beschließen, um Risiken im Keime zu ersticken.15 Solche Angriffe können – wie im Falle des Irak – auf die Veränderung des politischen Systems im angegriffenen Staat abzielen. Denn nur die Demokratisierung des Feindstaates garantiert die Beseitigung der Gefahr.

Dabei behält sich die amerikanische Regierung den Ersteinsatz von Kernwaffen vor; im Zuge der Irak-Diskussion hat sie ihn angedroht. Die Einsatzszenarien umfassen die nukleare Vergeltung gegen Schläge mit biologischen und chemischen Waffen, die Zerstörung dieser Waffen und ihrer Produktionsanlagen sowie den Angriff auf tiefverbunkerte Führungsstellungen des Gegners – die beiden letzten Einsatzformen entsprechen rein militärischen Zielsetzungen außerhalb von Abschreckungs/Vergeltungsszenarios.16 Das moralische Übel eines Kernwaffeneinsatzes mit seinen unvermeidlichen »Kollateralschäden« in der Zivilbevölkerung wird in Kauf genommen, um den Feind zu besiegen; dieser Umstand zeigt, wie groß die Distanz zwischen dem demokratischen »Wir« und dem nichtdemokratischen »Sie« sein muss, um dieses Übel zu rechtfertigen.

Es sind also keine »externen« Umstände, welche die Gewaltbereitschaft der demokratischen Gemeinwesen begründen, sondern die spezifische Motivation, die sich in Intervention und Krieg umsetzt, entspringt dem genuin demokratischen Selbstbewusstsein. Es sind die hohe Wertigkeit von Menschenrechten, die gewaltfreien Verfahren der Konfliktbearbeitung im Innern, die offene Debatte, die den Stolz der Demokratie auf sich selbst und die Abwertung der Nichtdemokratie und das Misstrauen in deren Verlässlichkeit, Friedfertigkeit, moralische Wertigkeit und – im Extremfall – Existenzberechtigung begründet. Das demokratische Selbstbewusstsein, dessen Gehalte den Argumenten zugunsten einer Friedfertigkeit der Demokratien zugrundeliegt, wird selbst zum Konfliktgrund und zur Ursache oder wenigstens zum Katalysator von Gewalt – in der Beziehung zu Dritten. Dieses Paradox ist der Kern der »Antinomien des demokratischen Friedens«.

Varianz im Diskurs und im Verhalten von Demokratien

Der dichotomische Diskurs und die Bereitschaft zu seiner Umsetzung in gewaltsames Außenverhalten weist unter demokratischen Staaten Varianz auf. In der Irak-Debatte zeigen sich diese Unterschiede. Da ist ein Diskursführer, der auf die gewaltsame Auseinandersetzung zusteuert: die Vereinigten Staaten (ebenso Israel); wir notieren proaktive Gefolgschaft in Großbritannien und Spanien, mit Abstrichen auch in Italien und Polen; zögerliche Mitläuferschaft in Dänemark, Ungarn, der Tschechischen Republik und den demokratischen Transformationsländern Osteuropas; Widerstreben und partielle Kritik in den Niederlanden, Kanada, den skandinavischen Ländern, Österreich sowie Indien; kritische Meinungsführerschaft in Frankreich; und Totalopposition in Deutschland. Der Blick auf die Wirkungsweise demokratischer Antinomien reicht nicht aus, um diese Ausdifferenzierung zu erklären. Es empfiehlt sich, einen Blick auf die Rahmenbedingungen zu werfen, um die interdemokratische Varianz aufzuhellen:

  • Allianzbeziehungen beeinflussen den Diskurs.17 Sie schaffen Verpflichtungen und Erwartungen von Solidarität oder Konformität sowie sicherheitspolitische Abhängigkeiten. Sie stellen Einflusskanäle bereit, die von den stärkeren zu den schwächeren Mitgliedern laufen. In einer asymmetrischen Allianz wie der NATO tragen sie zur Dominanz der Führungsmacht bei. Demokratische Allianzbeziehungen helfen also, den Unterschied in der Position zwischen alliierten und ungebundenen Staaten zu erklären. Sie beantworten die Frage, warum kleinere Allianzmitglieder mit starken Sicherheitsbedürfnissen dazu neigen, Positionen der Führungsmacht zu übernehmen.
  • Militärtechnische Entwicklungen können dazu führen, dass die nutzenorientierten Bedenken gegen Kriege nachlassen. Wenn Kriege kurz dauern, auf der eigenen und auf der gegnerischen Seite wenig Opfer fordern und wahrscheinlich im Sieg enden werden, fällt der Entschluss leichter. Eben dies ist der – versprochene – Trend der »Revolution in militärischen Angelegenheiten«, die in den USA weit fortgeschritten ist.18
  • Die Demokratie gibt auch Ideologien und Interessen, die von den friedliebenden Durchschnittspräferenzen abweichen, Durchsetzungschancen, wenn sie über Ressourcen und Zugangschancen zu den Entscheidungsprozessen verfügen. Die Weltbilder der sicherheitspolitischen Eliten sind stärker von Feindbildern und vom militärischen Denken geprägt als die der Durchschnittsmenschen, und es gibt mächtige rüstungswirtschaftliche Interessen. Wo ihr Einfluss überproportional wächst – unter legaler Nutzung der Verfahren in der Demokratie 19 – verschiebt sich das Diskurs- und Entscheidungsspektrum weg vom Kant‘schen Ideal.
  • Schließlich fließen in die Identitäten und die weltpolitischen Rollen der Demokratien20 andere Elemente ein als das Bewusstsein »ich bin demokratisch«. Mit dem Demokratie-Selbstbewusstsein verbinden sich Konzepte wie
  • »Weltführungsmacht« (besondere Verantwortung und Entscheidungsbefugnis),
  • »Special Relationship« (starke Loyalität zum Bündnispartner),
  • »Mission Civilisatrice« (demonstrative Unabhängigkeit),
  • »Zivilmacht« (militärische Zurückhaltung),
  • »Good Citizen« (unbedingte Verfahrenstreue),

verbinden sich Gedächtnissyndrome wie

  • die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit (militärische Zurückhaltung),
  • die frühere Zugehörigkeit zum Warschauer Vertrag (Beweis besonderer NATO-Treue),
  • der einstige Status als Kolonialmacht (weltpolitische Verantwortung).

All diese Elemente verbinden sich mit dem »demokratischen Selbstbewusstsein«. Präferenzen und Handlungsoptionen in Bezug auf äußeres Gewaltverhalten werden durch diese Varianten aufgefächert.

Unterschied im Diskurs der Regierungen und der Öffentlichkeit

Regierungen und Völker stimmen nicht zwangsläufig überein. Durchweg in allen Demokratien tragen Mehrheiten den dichotomischen Diskurs mit: Saddam Hussein gilt als gefährlicher, moralisch minderwertiger Feind; seine Ablösung wird gewünscht. Ein Alleingang ohne Mandat der Vereinten Nationen wird abgelehnt. Der Anspruch des Völkerrechts auf Universalismus dominiert über den Versuch, aus dem dichotomischen Diskurs eine partikularistische Entscheidungs-Prärogative für die Demokratien abzuleiten. 21

In vielen Demokratien sitzt die Ablehnung des Krieges noch tiefer. Sie bezieht sich nicht lediglich auf das Verfahren, sondern auf die Rechtfertigung der Gewalt unter den gegebenen Umständen. Da eine unmittelbare Gefahr nicht zu erkennen ist, da auch keine akuten, massenhaft tödlichen Verletzungen von Menschenrechten vorliegen wird eine Kriegsbeteiligung abgelehnt.

Die Kantsche Prognose über die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger trifft auf die öffentliche Meinung in den Demokratien zu; die öffentlichen Meinungen sind weniger manipulationsanfällig, als dies gelegentlich angenommen wird. Es zeigt andererseits, dass die in der Theorie des Demokratischen Friedens angenommene Umsetzung des Volkswillens in Regierungspolitik nicht vorausgesetzt werden kann: Die Kriegsbefürworter bilden eine von ihren Völkern abgehobene Diskursgemeinschaft. Daraus lässt sich schließen, dass die oben diskutierten Rahmenbedingungen auf Regierungen und Bevölkerung unterschiedliche Wirkungen ausüben.

  • Allianzzwänge teilen sich den Mitgliedern der Exekutive, die in die Kommunikationen und die institutionelle Kooperation mit ihren Ritualen eingebunden sind, ungleich stärker mit als den Bevölkerungen,22 für die das Bündnis eine abstrakte Verpflichtung jenseits des Alltagslebens darstellt.
  • Vermutlich gilt dies auch für die Wirkung der Militärtechnik und dem dadurch geänderten Nutzenkalkül. Den Entscheidungsträgern sind militärische Szenarien vertraut; sie haben ein klareres (wenn auch nicht zwingend korrektes) Bild über Risiken und Chancen eines Krieges. Für die Bevölkerung ist Krieg wohl stets ein bedrohliches Syndrom, das spontane Abwehr provoziert.
  • Identitätsbewusstsein dürfte Exekutive und Volk nicht scheiden; Rollenvorstellungen hingegen unter Umständen schon. Rollen bestehen aus Eigen- und Fremdzuschreibungen und werden in ständiger Praxis implementiert. Für internationale Rollen fällt sowohl die Wahrnehmung der Fremdzuschreibung wie die implementierende Praxis der Exekutive zu, während die auswärtige Rolle für die Bevölkerung diskursives Abstraktum ist, welches im Alltagsverhalten selten praktiziert werden muss (etwa wenn man als Tourist im Ausland in einer Diskussion zum Vertreter der eigenen Außenpolitik mutiert).
  • Sicherheitspolitische Diskursgemeinschaften und materielle Rüstungsinteressen schließlich wirken mit höherer Konzentration und Wirkung auf die Exekutive – auf deren Beeinflussung sie abzielen – als auf die Bevölkerung. Auch dieser Faktor trägt zu einer Differenzierung zwischen Regierung und Volk bei.23

Selbstbewusstsein, Arroganz und Demut

Die »Antinomien« kommen im Selbstbild der Demokratien nicht vor. Sie bleiben ein blinder Fleck, der zur ihrer Arroganz im internationalen System beiträgt. Die Weltführungsmacht USA ragt auch in dem Anspruch, ohne völkerrechtliche Verfahren Richtungsentscheidungen zu treffen, aus der Gesamtheit der Demokratien heraus. Die NATO hat diese Option im »Neuen Strategischen Konzept« in Anspruch genommen und im Kosovo-Krieg auch praktiziert. Mit zunehmender Überlegenheit fällt es schwer, die Heterogenität, die die politischen Systeme auf dem Globus immer noch auszeichnet, zu ertragen.

Bedenklich und im »Demokratischen Frieden« nicht vorgesehen ist der Einfluss religiöser Elemente. Wo sich demokratisches Selbstbewusstsein mit religiösem Sendungsbewusstsein vermischt, spitzt sich die wir/sie-Dichotomie zu, die Bereitschaft zur Gewaltanwendung steigt; im westlichen Lager nicht anders als bei Fundamentalisten anderer Prägung.24 Wenn Präsident Bush vom „Kreuzzug“ oder im Zusammenhang mit einem Irak-Krieg vom „göttlichen Auftrag der USA“ sprach „sich zu verteidigen und die Welt zum Frieden zu führen“, so ist dies mehr als rhetorische Floskel, es entspricht tiefer Überzeugung.25Das religiöse Erbe der »westlichen Zivilisation« ist ambivalent.26 Es hält auch die Rezeptur der Demut bereit, die Karl W. Deutsch vor vier Jahrzehnten gegen die Arroganz der Macht empfohlen hat.27 Das Wissen um die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten gehört ebenso dazu wie das Bewusstsein eigener Fehlbarkeit. Die Einsicht in die Antinomien eben der Strukturen und Prozesse, von denen wir die eigene Friedlichkeit erhoffen, unterläuft die Arroganz und gibt Anlass zur Demut.

Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des seit Juli 2000 laufenden Forschungsprogramms der HSFK »Antinomien des demokratischen Friedens«, in dessen Rahmen die Widerspüchlichkeiten und Anomalien der Theorie in zahlreichen Projekten untersucht wird.

Anmerkungen

1) vgl. u.a. Russett, Bruce: Grasping the Democratic Peace, Principles for a Post-Cold War World, Princeton, NJ: Princeton University Press 1993; Owen, John M.: How Liberalism Produces Democratic Peace, in: International Security, Bd. 19, Nr. 2, 1994, S. 87-125; Ray, James Lee: Democracy and International Conflict, An Evalutation of the Democratic Peace Proposition, Columbia, SC: University of South Carolina Press 1995; Doyle, Michael W.: Ways of War and Peace. Realism, Liberalism, and Socialism, New York/London 1997.

2) Russett, Bruce/Oneal, John R.: Triangulating Peace, Democracy, Interdependence, and International Organizations, New York: W. W. Norton 2001.

3) Geis, Anna: Diagnose: Doppelbefund – Ursache: ungeklärt? Die Kontroverse um den »demokratischen Frieden«, in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. 42, Nr. 2, 2001, S. 283-298; Errol A. Henderson: Democracy and War. The End of an Illusion?, Boulder, Col. 2002.

4) Czempiel, Ernst-Otto: Kants Theorem. Oder: Warum sind die Demokratien (noch immer) nicht friedlich?, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Bd. 3, Nr. 1, 1996, S. 79-102.; Benoit, Kenneth: Democracies really are more pacific (in general), in: Journal of Conflict Resolution, Bd. 40, Nr. 4, 1996, S. 636-657; Rummel, Rudolph J.: Libertarianism and International Violence, in: Journal of Conflict Resolution, Bd. 29, Nr. 3, 1983, S. 419-455.; Russett, Bruce/Oneal, John R.: Triangulating Peace: Democracy, Interdependence, and International Organizations, New York: W. W. Norton 2001.

5) Risse-Kappen, Thomas: Democratic Peace – Warlike Democracies? A Social Constructivist Interpretation of the Liberal Argument, in: European Journal of International Relations, Bd. 1, Nr. 4, 1995b, S. 491-517.

6) Müller, Harald: Antinomien des demokratischen Friedens, in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. 43, Nr. 1, 2002, S. 46-81.

7) Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, München 1963.

8) Lebow, Richard Ned / Gross Stein, Janice: We all lost the Cold War, Princeton 1994, Kap. 1.

9) vgl. die Argumentation bei Pollack, der recht gut die Überlegungen in der Administration Bush reflektert, Pollack, Kenneth M.: The Threatening Storm: The Case for Invading Iraq, New York, Random House 2002.

10) Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, München 1992.

11) Sofsky, Wolfgang: Der wilde Krieg, in: ders., Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg, Frankfurt 2002, S. 147-183.

12) Müller, Harald: Zwischen Information, Inszenierung und Zensur. Zum Verhältnis von Demokratie, Krieg und Medien. HSFK-Standpunkte 4/2002.

13) Litwak, Robert S.: Rogue States and U.S. Foreign Policy. Containment after the Cold War, Washington, D.C. 2000; Klare, Michael: Rogue States and Nuclear Outlaws. America’s Search for a New Foreign Policy, New York 1995.

14) International Herald Tribune, 28. 11. 2002, S. 4.

15) The White House: The National Security Strategy of the United States of America, Washington, D.C., September 2002.

16) U.S. Department of Defense: Nuclear Posture Review Report (excerpts), Washington, D.C. 2002, http://www.globalsecurity.org, 14. Mar. 2002.

17) Risse-Kappen, Thomas: Cooperation among Democracies: The European Influence on U.S. Foreign Policy, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1995a.

18) Müller, Harald / Schörnig, Niklas: Revolution in Military Affairs. Abgesang kooperativer Sicherheitspolitik der Demokratien?, HSFK-Report Nr. 8/2001, Frankfurt/M; Müller, Harald / Schörnig, Niklas: Mit Kant in den Krieg? Das problematische Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und der Revolution in Military Affairs, in: Friedenswarte 4/2002.

19) Downs, Anthony: An Economic Theory of Democracy, New York 1957; für ein empirisches Beispiel vgl. Sengaas‘ Studie zum amerikanischen Rüstungskomplex in Dieter Senghaas: Rüstungs und Militarismus, Frankfurt/M 1972.

20) Wisotzki, Simone: Die Nuklearwaffenpolitik Großbritanniens und Frankreichs. Eine konstruktivistische Analysie, Frankfurt/M 2002; Kirste, Knut / Maull, Hanns W.: Zivilmacht und Rollentheorie, in Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Jg. 3, Haft 2/1996, S. 283-312.

21) Chicago Council on Foreign Relations / German Marshall Fund Of The United States: Worldviews 2002, www.worldviews.org, 2002.

22) vgl. die Überlegungen bei Wolf, Klaus Dieter: Die Neue Staatsräson – Zwischenstaatliche Kooperation als Demokratieproblem in der Weltgesellschaft, Baden-Baden: Nomos 2000.

23) Knopf, Jeffrey W.: Domestic Society and International Cooperation, Cambridge: Cambridge University Press 1998.

24) Almond, Gabriel A. / Sivan, Emmanuel / Appleby, R. Scott: Fundamentalism, Genus and Species, in: Marty, Martin E. / Appleby, R. Scott (Hg.): The Fundamentalism Project, Bd.5, Chicago/London 1995, 399-425; Almond, Gabriel A. / Sivan, Emmanuel / Appleby, R. Scott: Explaining Fundamentalisms, in: ebd., 425-444.

25) lt. Christian Wernicke/Nico Fried, Nato will ihren Zerfall abwenden, in Süddeutsche Zeitung, 12. 2. 2003, S. 1.

26) Appleby, R. Scott: The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence and Reconciliation, Lanham u.a., 2000.

27) Deutsch, Karl W.: Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg/B 1970, S. 309-311.

Prof. Dr. Harald Müller ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Professor für Internationale Beziehungen an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/Main

Das Völkerrecht in der Entwicklung als Friedensordnung

Das Völkerrecht in der Entwicklung als Friedensordnung

von Bernhard Gräfrath

Die Entwicklung des Völkerrechts vollzieht sich in Abhängigkeit von der Entwicklung der internationalen Gesellschaft – und zwar nicht linear oder unmittelbar, sondern über die Vereinbarungen von Staaten. Sie ist daher sehr stark mit der Entwicklung der internationalen Beziehungen verbunden. Unser Autor geht ein auf die Ereignisse im letzten Jahrhundert, die sich auf die Entwicklung des Völkerrechts entscheidend ausgewirkt haben, und untersucht anschließend die aktuellen Tendenzen.
In dem vergangenen „kurzen Jahrhundert“1 hat es zwei einschneidende Ereignisse gegeben, die sich auf das Völkerrecht als Rechtsordnung bestimmend ausgewirkt haben: Das war zum einen die sozialistische Oktoberrevolution mit dem Dekret über den Frieden und der Veröffentlichung der Geheimabmachungen über die Aufteilung der imperialistischen Beute nach dem ersten Weltkrieg. Sie ebnete den Weg zur Ächtung des Krieges als Mittel der internationalen Politik, orientierte auf die Gleichberechtigung und friedliche Zusammenarbeit aller Staaten und die Entfaltung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Mit ihr endete eine Periode, die mit dem Westfälischen Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg begonnen hatte. Sie war wesentlich durch die Vorherrschaft Europas in den internationalen Beziehungen gekennzeichnet, setzte zwar den »Religionskriegen« ein Ende, beschränkte das Völkerrecht aber auf die so genannten »zivilisierten Völker«, d. h. die christlich dominierten Staaten. Das »Europäische Völkerrecht« sanktionierte den Kolonialismus der imperialistischen Mächte, die Intervention und den Krieg als Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen. Es ist fast in Vergessenheit geraten, dass bis 1917 das Recht zum Kriege als Kriterium staatlicher Souveränität galt und die nichteuropäischen Völker und ihr Territorium als Objekt kolonialer Ausbeutung und Eroberung angesehen wurden.

Das zweite Ereignis war der Sieg der Antihitlerkoalition im Zweiten Weltkrieg, aus dem die Organisation der Vereinten Nationen hervorging. In ihrer Charta wurde zum ersten Mal in der Geschichte die souveräne Gleichheit aller Staaten als grundlegendes Prinzip des Völkerrechts anerkannt. Es wurden grundlegende Rechtsprinzipien zwischen allen Staaten vereinbart, darunter die souveräne Gleichheit der Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Verbot der Drohung mit und der Anwendung von Gewalt sowie die Pflicht zur friedlichen internationalen Zusammenarbeit und Streitbeilegung. Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der brutalen menschenvernichtenden Gewalt, mit der die deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg versucht hatten ihre Vorstellungen von der Neuordnung Europas und die Weltherrschaft durchzusetzen, war man entschlossen sicherzustellen, dass zukünftig nicht mehr die Gewalt der Mächtigen, sondern das Recht die Beziehungen zwischen den Staaten bestimmen und den Frieden gewährleisten sollte.

Versuche der USA, gestützt auf ihr damaliges Atombombenmonopol, diese Ordnung noch in ihrem Entstehen ihren Interessen unterzuordnen, scheiterten. Es dauerte jedoch fast 20 Jahre, bis es in der Praxis gelang, eine allgemeine Orientierung der internationalen Beziehungen auf die Prinzipien der Charta durchzusetzen. Der Dekolonisierungsprozess, der 1960 seinen Höhepunkt erreichte, markiert den Triumph der Völker über die imperialistische Kolonialherrschaft und gab den Menschenrechten einen neuen Stellenwert in der friedlichen internationalen Zusammenarbeit der Staaten. Er führte schließlich auch dazu, dass am 18. Dezember 1962 selbst die USA, Großbritannien und Frankreich der Resolution 1825 (XVII) der UNO-Generalversammlung zustimmen mussten, die darauf drängte, die bereits 1945 in der Charta verankerten grundlegenden Prinzipien erneut zu bekräftigen und klarer zu formulieren, um ihr Gewicht als Maßstab der internationalen Beziehungen zu verstärken. Ausdrücklich wurde in der Resolution unterstrichen, dass diese Prinzipien „für die Weiterentwicklung des Völkerrechts und für die Förderung der Herrschaft des Rechts zwischen den Völkern“ von überragender Bedeutung sind. Es war offensichtlich und wurde in der Debatte auch gesagt, dass es darum ging, auch in den internationalen Beziehungen die Herrschaft des Rechts an die Stelle der imperialistischen Willkürherrschaft zu setzen. Ein entsprechender Text wurde schließlich nach langen Verhandlungen mit der so genannten Prinzipiendeklaration als Resolution 2625 (XXV) anlässlich des 25. Jahrestages der UNO am 24. Oktober 1970 von der Generalversammlung einmütig verabschiedet.

In der öffentlichen Diskussion stehen, wenn über die Entwicklung des Völkerrechts gesprochen wird, normalerweise die Sicherheitsfragen im Vordergrund. Es wäre aber falsch dabei zu übersehen, dass Wissenschaft, Technik, Ökonomie, Kommunikation und natürlich auch die Militärtechnik mit ihrer gewaltigen Entwicklung in den letzten 50 Jahren einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts ausgeübt haben. Nicht nur traditionelle Bereiche des Völkerrechts wie das Seerecht, Kriegsrecht, das Diplomaten- und Vertragsrecht haben wesentliche Veränderungen erfahren. Es sind auch völlig neue Gebiete in die Reichweite des Völkerrechts gelangt, wie z.B. das Weltraumrecht, das Luftrecht, das Umweltrecht, die Förderung und der Schutz von Menschenrechten, die Telekommunikation und wichtige Aspekte des Wirtschaftsrechts. Andere Bereiche haben eine völlig neue Bedeutung erlangt, wie z.B. die internationale Zusammenarbeit im medizinischen Bereich oder bei der Kriminalitätsbekämpfung. Ohne Zweifel ist das Netz der internationalen Zusammenarbeit der Staaten heute wesentlich umfänglicher, vielfältiger und engmaschiger, und es funktioniert weit gehend unauffällig im Hintergrund, effektiv und ohne große Schlagzeilen zu verursachen. Gerade die Vielgestaltigkeit und das schnelle Wachstum des völkerrechtlichen Regelwerks erfordert und verstärkt die Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit der grundlegenden Prinzipien und zwingenden Normen, die nicht durch einfachen Vertrag und schon gar nicht durch »andersartige« Praxis verändert, aufgehoben oder »weiterentwickelt« werden können. Sie halten das ganze System zusammen und gewährleisten mit der Erhaltung des Friedens seine Funktionsfähigkeit.

Allerdings ist es in all diesen Jahren nicht gelungen, die ökonomischen Beziehungen in das System einzugliedern. Alle Versuche, Regeln für eine neue internationale Wirtschaftsordnung aufzustellen und durchzusetzen, sind am Widerstand der industriell hochentwickelten Länder gescheitert, und die UN Konzeption der Entwicklungshilfe ist praktisch zur Not- und Katastrophenhilfe degeneriert. Es sind diese Defizite in der Völkerrechtsentwicklung, die heute seiner Wirksamkeit Grenzen setzen, seine Effektivität ernsthaft beeinträchtigen, sich als Hindernis für notwendige neue Regeln erweisen und nicht nur in den so genannten Entwicklungsländern die Entstehung von Konflikten begünstigen. Die Politik des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank tragen nicht zur Entwicklung der wenig entwickelten Länder und zum Abbau ihrer »Schulden« bei sondern zum Abbau öffentlicher Einrichtungen und Betriebe, zu neuer Schuldknechtschaft, zur Polarisierung von Reichtum und Armut. Wenn es im Gefolge des ökonomischen und politischen Druckes zum Zerfall von Staaten oder zu schwer wiegenden sozialen Konflikten innerhalb eines Staates kommt, wird dies zum Vorwand genommen, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit Millionen Toten erkämpfte Gewaltverbot ausgerechnet im Interesse des angeblichen Schutzes der Menschenrechte außer Kraft zu setzen, den Kern des gegenwärtigen Völkerrechts zu unterlaufen.

Das klassische Beispiel für diese Entwicklung war der Krieg der NATO gegen Jugoslawien und die im Zusammenhang damit entwickelte NATO-Strategie, die inzwischen auch eine EU-Strategie ist und die das Völkerrecht praktisch ignoriert. Offensichtlich befinden wir uns nach dem Untergang der sozialistischen Staaten in Europa in einer Restaurationsperiode, in der die durch NATO und EU verkörperte »Heilige Allianz« versucht, so wie im Innern der Staaten, die sozialen Sicherheitssysteme in den internationalen Beziehungen die völkerrechtlichen Fortschritte nach dem II. Weltkrieg wieder abzubauen. Das ist besonders deutlich an zwei Eckpunkten der völkerrechtlichen Entwicklung zu beobachten: am Gewaltverbot und an dem Grundsatz der Förderung der Menschenrechte.

Zur Durchsetzung des Gewaltverbots wurde in der Charta versucht, die UNO als kollektives Sicherheitssystem zu konstruieren. Im Kapitel VII enthält die Charta spezielle Regeln, deren Besonderheit darin besteht, dass sie den Sicherheitsrat ermächtigen, im Namen der Mitgliedstaaten der UNO verbindliche Beschlüsse zu fassen, wenn eine Friedensbedrohung oder -verletzung vorliegt und – wenn notwendig – ökonomische, selbst militärische Sanktionen zur Wahrung bzw. Wiederherstellung des Friedens anzuordnen. Dazu bedarf es allerdings einer Mehrheit von 9 der 15 Sicherheitsratsmitglieder, darunter der 5 ständigen Mitglieder (USA, Großbritannien, Frankreich, China, Russland). Das Vetorecht war 1945 als Sicherung gegen den Missbrauch der weit reichenden Kompetenzen des Sicherheitsrates gedacht. Über viele Jahre war jedoch damit die Beschlussfähigkeit des Sicherheitsrates durch den Kalten Krieg behindert. Nach dem Untergang der sozialistischen Staaten in Europa und der Etablierung der »Freien Marktwirtschaft« als globales ökonomisches System ist aber das ökonomische und militärische Übergewicht der USA so groß, dass das »Einstimmigkeitsprinzip« im Sicherheitsrat keine genügende Sicherheit gegen einen missbräuchlichen Einsatz der Kompetenz des Sicherheitsrates bietet. Praktisch agiert die US-Außenpolitik heute nach der Formel: Wenn möglich mit der UNO, wenn nötig ohne oder auch gegen die UNO.

In der Praxis des Sicherheitsrates sind die Bestimmungen der Charta, die Sanktionen gegen Friedensbedrohungen oder Verletzungen vorsehen, lange Zeit nicht angewandt und dann wesentlich entstellt worden. Der Sicherheitsrat hat mit schwammigen Klauseln die Anwendung militärischer Gewalt an einzelne Staaten oder Bündnissysteme delegiert (wie im Irak, in Somalia, Ost-Timor, Haiti und auch bei der Besetzung des Kosovo) und damit die Entscheidung und Kontrolle über den Einsatz militärischer Mittel aus der Hand gegeben – dazu gibt es in der Charta keine Berechtigung. Die bisherige Praxis des Sicherheitsrates ist um so bedenklicher, als er seit 1990 mit einer sehr breiten Definition der Friedensgefährdung arbeitet, die im Einzelfall als Vorwand oder Tor für völkerrechtswidrige Interventionen missbraucht werden kann.

Darüber hinaus hat sich der Sicherheitsrat Kompetenzen als Gesetzgeber und Richter angemaßt, für die es in der UNO-Charta keinerlei Rechtsgrundlage gibt. Aus der Fülle der Beispiele sei hier nur auf die Sanktionsbeschlüsse gegen Libyen hingewiesen, die Einrichtung des Strafgerichtshofes für Jugoslawien und Ruanda, die Grenzregelung zwischen Kuweit und Irak, das Reparationssystem gegen Irak, das ähnlich wie seinerzeit der Versailler Vertrag für Deutschland eine dauernde ökonomische Kontrolle und Ausbeutung des Irak vorsieht. Leider hat gerade auch die letzte Resolution des Sicherheitsrates zur Fortsetzung der Blockade des Irak (1284 (1999)) erneut bestätigt, dass Frankreich, China und Russland derzeit kein ausreichendes Gegengewicht gegen die Interessen der USA darstellen. Sie bringen ihren Unwillen über die Methoden der USA zwar durch Stimmenthaltung zum Ausdruck, haben aber zur Zeit nicht die Kraft, den völkerrechtswidrigen Aktionen der USA mit einem Veto zu begegnen. Auch im Kosovo dulden sie, dass die UN mit der Kfor als Aushängeschild für die Interessen der NATO missbraucht wird. Unter dem Druck der USA schweigt der Sicherheitsrat seit Jahren zu den Verbrechen und der fortgesetzten illegalen Besetzung Palästinas durch Israel. Dagegen hat sich der Sicherheitsrat, wann immer es im Interesse der USA lag und sie in der Lage waren, dafür im Sicherheitsrat eine Mehrheit zusammenzubringen, über seine engen »polizeilichen« Kompetenzen zur Gewährleistung des Friedens hinweggesetzt und wie eine Weltregierung agiert. Der Sicherheitsrat hat gegebenenfalls sogar die dazu notwendigen »Notverordnungen«, die im State Department entworfen wurden, wie ein »Weltgesetzgeber« erlassen. Das hat nicht nur zu schwer wiegenden Deformationen des UN-Systems geführt, sondern auch dazu beigetragen, die geltende Völkerrechtsordnung auszuhöhlen.

Wie gefährlich es z.B. ist, den Schutz der Menschenrechte als Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Mittel, den Krieg, auszugeben, wird durch das Strategie-Konzept der NATO vom April 1999 unterstrichen. Darin wurde der NATO-Krieg gegen Jugoslawien zur Richtschnur für zukünftige militärische Aktivitäten der NATO erhoben. Ausdrücklich wird der militärische Einsatz für Fälle vorgesehen, die „nicht unter Artikel 5 (des NATO-Vertrages) fallen,“ d.h. die nicht der kollektiven Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff oder der Erfüllung eines UN-Mandates dienen, also völkerrechtswidrig sind. Solche militärischen Aktionen werden als „Krisenreaktionseinsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ schön geredet. Dabei kann es sich z.B. um ausgedehnte und lang anhaltende Luftbombardements wie im Krieg gegen Jugoslawien handeln. Zu den Risiken, die angeblich zu solchen »Krisenreaktionseinsätzen«, d.h. zum Krieg berechtigen, werden ausdrücklich gezählt: „ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten…“ Dass derart begründete militärische Aktionen nach geltendem Völkerrecht verboten sind, wird in dem Strategiebeschluss der NATO sorgfältig verschwiegen.

Inzwischen ist die EU dabei, nach dem Beispiel der NATO eine »Eingreiftruppe« aufzustellen. Auch hier handelt es sich nicht mehr um ein klassisches Verteidigungsbündnis gegen einen Angriff, sondern um eine völkerrechtswidrige Interventionstruppe, die im Interesse der EU eingesetzt werden soll, wenn diese das für nötig hält. Auch diese Eingreiftruppe soll unabhängig davon eingesetzt werden, ob ein bewaffneter Angriff oder ein Mandat des Sicherheitsrates vorliegt. Obgleich eigentlich durch das Grundgesetz gebunden, betätigt sich die Bundesregierung als treibende Kraft dieser Entwicklung. Nach dem Grundgesetz dient die Bundeswehr ausschließlich der Verteidigung. Deshalb hieß bislang der zuständige Minister Verteidigungsminister und nicht Eingreifminister. Es lässt sich weder mit dem Grundgesetz noch mit dem geltenden Völkerrecht rechtfertigen, dass die Bundeswehr von einer auf die Verteidigung orientierten Armee in eine militärische Einheit verwandelt wird, die als Eingreiftruppe in fremden Ländern eingesetzt werden kann, um Krisen zu bewältigen, die die EU oder NATO u.U. selbst herbeigeführt haben. Diese Umstellung ist Teil einer Politik der Neuordnung Europas und der Welt und sucht die geltende Völkerrechtsordnung, die auf der souveränen Gleichheit der Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruht, auszuhebeln.

Nun gibt es »Völkerrechtler« und natürlich Publizisten, die diese Abweichung vom geltenden Völkerrecht als moderne Entwicklung des Völkerrechts zu rechtfertigen versuchen. Sie behaupten, dass jede neue Regel unter Verletzung oder zumindest Veränderung, eben Weiterentwicklung des Rechts entstanden ist. Als typisches Beispiel der neueren Zeit wird dann auf die Entstehung der ökonomischen Zone im Seerecht verwiesen, durch die wesentliche Teile des freien Meeres der allgemeinen Nutzung entzogen wurden. Zweifellos entwickeln sich zahllose Regeln in und durch die Praxis weiter. Zu Regeln werden solche Praktiken aber erst dadurch, dass sie von den Beteiligten, das sind auch die Betroffenen, als Recht anerkannt werden. Eine Praxis, die die Aufhebung des Gewaltverbots oder der souveränen Gleichheit der Staaten beinhaltet, hat deshalb ebenso wenig wie die Wiedereinführung der Sklaverei schon von ihrem Gegenstand her eine Chance, die geltenden Regeln des Völkerrechts abzulösen. Solche Praktiken bleiben schwer wiegende Verletzungen grundlegender Prinzipien des gegenwärtigen Völkerrechts.

Ein Teil der Verwirrung, die z.Zt. systematisch genährt wird, hängt auch damit zusammen, dass man sich in der Frage der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte unter dem Druck der herrschenden Meinung weit gehend auf die Position des Neokolonialismus, der nur den internationalen Aspekt des Neoliberalismus beschreibt, eingelassen hat. Menschenrechte sind – so scheint es – zum zentralen internationalen Thema, zum eigentlichen Inhalt internationaler Politik geworden. Häufig wird der Schutz der Menschenrechte dem geltenden Völkerrecht gegenübergestellt, um so genannte humanitäre Interventionen zu rechtfertigen. „Der Begriff »Menschenrechte« taucht dabei interessanterweise besonders dann auf, wenn es um die Rechtfertigung von Krieg und Gewalt geht.“2 Außerdem ist fast immer, wenn von Menschenrechten die Rede ist, nur der kleine Sektor von Menschenrechten gemeint, der der Entfaltung des Privateigentums dient. Es wird so getan, als würde die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte von 1948 die Menschen nicht „als Personen betrachten, denen sowohl politische und bürgerliche Freiheiten als auch soziale, kulturelle und wirtschaftliche Rechte zustehen“ und davon ausgehen, dass „der Genuss der bürgerlichen und politischen Freiheiten und der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte miteinander untrennbar verbunden ist und ein seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte beraubter Mensch nicht eine Person ist, die die Deklaration als Ideal eines freien Mannes betrachtet.“3 Die Identifizierung der Menschenrechte mit der Wertegemeinschaft Marktwirtschaft bedeutet für immer größere Teile der Völker Minderung, oft sogar Verlust grundlegender Menschenrechte. Selbst das Recht auf Leben wird dem untergeordnet, was man daran sehen kann, dass – wie im Kosovo unter offener Verletzung des Gewaltverbots – sogar der Einsatz von Raketen, giftigen Urangeschossen und Bomben gegen wehrlose Zivilbevölkerung als Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte ausgegeben werden.Die Losung von der Universalität und dem Schutz der Menschenrechte wird unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft oft als ein Vehikel zur Rechtfertigung einer Interventionsordnung missbraucht, die die Existenz eines Weltrechts mit den Individuen als Subjekt vortäuscht, um die transnationale, sich über die Souveränität der Staaten hinwegsetzende Herrschaft des Privateigentums zu sichern. Obgleich in den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen vom Recht auf Privateigentum oder freie Marktwirtschaft nicht die Rede ist, geht es in der internationalen Menschenrechtsdebatte seit den 80er Jahren nicht mehr um die Rechte des Menschen, sondern um die Sicherung der Entfaltungsmöglichkeiten des Privateigentums und der so genannten freien Marktwirtschaft. Sie ist praktisch zum zentralen Menschenrecht und Kriterium von Demokratie erhoben worden, obgleich sie in keinem der Menschenrechtspakte vorkommt. „Menschenrechte werden schlicht mit kapitalistischer Marktwirtschaft und den sie kennzeichnenden politischen Herrschaftsverhältnissen identifiziert.“ (Joachim Hirsch) Immer offensichtlicher wird jedoch, dass zügellose, d.h. politisch nicht kontrollierte Marktwirtschaft die Demokratie aushöhlt und immer größere Teile des Volkes vom Genuss der Menschenrechte ausschließt. In dieser Ordnung der globalisierten Marktwirtschaft wird das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, frei über seinen politischen Status, seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung sowie seine natürlichen Reichtümer zu bestimmen, durch das Selbstbestimmungsrecht des Kapitals ersetzt. „Der Begriff Demokratie verliert so wichtige emanzipative Bedeutungen und wird zur Legitimation eines internationalen Regimes der ökonomisch-sozialen Apartheid.“ (Joachim Hirsch)

Wenn man Demokratie mit der derzeitigen westlichen Demokratie gleichsetzt und diese als Kriterium der Gewährleistung der Menschenrechte ausgibt, kann man jede politische Herrschaftsform, die den Versuch unternimmt, den Grundsatz »Eigentum verpflichtet« durchzusetzen, als mehr oder weniger schwere Menschenrechtsverletzung ausgeben, als Berechtigung zur Intervention, als Einsatzfall für die Eingreiftruppe missbrauchen. Indem Meinungs- und Pressefreiheit den Gesetzen der freien Marktwirtschaft, der Herrschaft des Privateigentums untergeordnet werden, werden diese Freiheiten nicht nur 80 % der Bevölkerung entzogen, sondern zugleich zum Instrument zur Manipulierung des Volkes degradiert. Die Qualität einer nationalen Regierung wird nicht mehr daran gemessen, was sie für das Wohlergehen des Volkes bewirkt, sondern wie wirksam sie gewährleistet, dass aus dem Volksvermögen die Zinsen des Kapitals gezahlt werden. Regierungen, die Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Volkes sein wollten und sollten, werden in immer mehr Ländern zu bloßen Bütteln von Gläubigern, zu Exekutivorganen des Internationalen Währungsfonds.

Wenn Menschenrechtsverletzungen als Grund, der Schutz der Menschenrechte als Rechtfertigung für einen Krieg ausgegeben werden, so ist das ein zynischer Etikettenschwindel, mit dem das Verhältnis von Gewaltverbot und Menschenrechten in sein Gegenteil verkehrt wird. Im geltenden Völkerrecht gibt es eine solche Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Gewalt nicht. Außerdem ist der Menschenrechtskatalog sehr umfänglich. Es gibt zahllose Menschenrechtsverletzungen der verschiedensten Art, gegen die unterschiedliche Reaktionen vorgesehen und möglich sind. Noch niemand ist auf die Idee gekommen, die Verursachung oder Existenz von Millionen Arbeitslosen, von Obdachlosen, Rassendiskriminierung, die Todesstrafe, die Verschleppung von Gerichtsverfahren usw. als Rechtfertigung für den Einsatz von Raketen und Bomben geltend zu machen. Selbst schwere Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen nicht den Einsatz militärischer Sanktionen, es sei denn sie nehmen die Dimension einer Friedensgefährdung an.

Vor allem aber sind das Gewaltverbot und die Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten selbst Menschenrechte, unveräußerliche Bestandteile des Rechts auf Leben. Förderung und Schutz der Menschenrechte lassen sich nicht von der Einhaltung und Durchsetzung des Gewaltverbots der UN-Charta trennen, zu seiner Aufhebung oder Umgehung nutzen. Schon 1982 hatte der Internationale Menschenrechtsausschuss, ein Organ des Menschenrechtspaktes für politische und Bürgerrechte, in seinem Kommentar zum Recht auf Leben erklärt: „Bereits in der Charta der Vereinten Nationen ist die Androhung oder Anwendung von Gewalt durch einen Staat gegen einen anderen Staat verboten, ausgenommen in Ausübung des unveräußerlichen Rechts auf Selbstverteidigung. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Staaten die oberste Pflicht haben, Kriege, Akte des Völkermords und andere Akte massenhafter Gewalt, die willkürlich Todesopfer fordern, zur verhindern. Jede Bemühung der Staaten zur Abwendung der Gefahr eines Krieges, insbesondere eines Atomkrieges, und zur Festigung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wäre die wichtigste Voraussetzung und Garantie für die Gewährleistung des Rechts auf Leben.“

Für den Fall, dass Menschenrechtsverletzungen zu einer Friedensbedrohung oder -verletzung werden, hat der Sicherheitsrat die Möglichkeit und die Aufgabe, das festzustellen und geeignete Maßnahmen einzuleiten. Auch dann handelt er nicht als Weltregierung sondern als Polizei, zur Sicherung oder Wiederherstellung des Friedens, damit die Betroffenen eine friedliche Lösung finden und vereinbaren können. Wenn jedoch die NATO oder einzelne Staaten für sich das Recht in Anspruch nehmen, ohne und gegebenenfalls gegen den Sicherheitsrat zu entscheiden, wann eine Krise oder ein Konflikt eine Dimension erreicht hat, die den Einsatz militärischer Mittel rechtfertigt, und auch noch zu oktroyieren, wie die Lösung des zugrundeliegenden Konflikts auszusehen hat, dann sind wir am Ende der geltenden Völkerrechtsordnung und an der Schwelle des 21. Jahrhunderts wieder im 19. Jahrhundert angelangt. Dann geht in den internationalen Beziehungen wieder Macht vor Recht. Statt von Neoliberalismus sollte man dann richtiger von Neoimperialismus sprechen.

Offensichtlich befindet sich auch die Entwicklung des Völkerrechts z. Zt. in einer Restaurationsperiode, in der versucht wird, die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzten Positionen wieder aufzuheben, zumindest aber aufzuweichen. In ihrem Kampf um Frieden und Gleichberechtigung haben die Völker – auch die ökonomisch schwachen Staaten – eine starke Position, weil sie sich in ihrem Kampf auf geltende Normen stützen können. Die weitere Entwicklung wird davon abhängen, dass sich das internationale Kräfteverhältnis verändert und es möglich wird, wesentliche Grundpositionen einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung einzuführen und durchzusetzen. Das setzt allerdings voraus, dass es gelingt, den transnationalen Monopolen Zügel anzulegen und ein Element sozialer Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen einzuführen.

Anmerkungen

1) Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, 5. Auflage 1997. München/Wien.

2) Joachim Hirsch, Die Globalisierung der Menschenrechte, Freitag, 19.01.01, S. 11.

3) Resolution 421E(V) der Generalversammlung, vom 4. 12. 1950.

Dr. Bernhard Gräfrath ist emeritierter Professor für Völkerrecht. Er war von 1977 bis 1986 Mitglied im UN-Menschenrechtsausschuss und von 1986 bis 1990 Mitglied der UN-Völkerrechtskommission.