Haager Friedenskongress 1999

Haager Friedenskongress 1999

von Jost Dülffer / Jürgen Scheffran / Götz Neuneck / Gert Sommer / Christine Schweitzer / Joseph Rotblat

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit, den Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA), der IPPNW
und den Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden.

Haager Friedenskonferenz 1999

Willkommen zur Konferenz

Wir laden Sie hiermit ein, sich Hunderten von Organisationen und Tausenden Menschen aus der ganzen Welt in Den Haag, Niederlande, vom 11. bis zum 15. Mai 1999 anzuschließen, um die »Agenda für Frieden und Gerechtigkeit von Den Haag« für das 21. Jahrhundert zu schaffen. Zivilgesellschaft, Regierungen und internationale Organisationen werden Friedens- und Gerechtigkeitsinitiativen dieses Jahrhunderts neu bewerten, die Erfolge und Misserfolge beurteilen und festlegen, welche nächsten Schritte wir als Partner für ein friedensreicheres 21. Jahrhundert unternehmen können.

Graça Machel, First Lady, Südafrika
Professor Joseph Rotblat, Nobelpreisträger 1995
Mr. José Ramos-Horta, Nobelpreisträger 1996<
Übersetzung aus dem Englischen Heike Webb, Diplom-Übersetzerin, Bonn

An den Veranstaltungen in Den Haag – 11. bis 15. Mai – nehmen neben friedenspolitisch tätigen Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt auch VertreterInnen von Regierungen teil. Die Veranstaltungen laufen auf verschiedenen Ebenen ab: Neben Vollversammlungen, Workshops, Anhörungen, Lesungen, Podiumsdiskussionen und Gesprächen am Runden Tisch gibt es kulturelle Angebote wie Filme, Fotoausstellungen, Musik-, Tanz- und Theaterdarbietungen. Darüber hinaus bietet das Niederländische Kongresszentrum den Friedensorganisationen die Chance für interne Treffen und organisationsspezifische Aktionen, die Möglichkeit zur Selbstdarstellung, für Infostände , den Verkauf von Materialien etc.

zum Anfang | Der Weg zur Haager Friedenskonferenz

von Jost Dülffer

„Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren infolge irgendeiner neuen Entdeckung… Die wirtschaftlichen Krisen sind zum großen Teil hervorgerufen durch das System der Rüstungen bis aufs Äußerste…“

Das sind Worte aus dem Manifest eines russischen Zaren, mit dem vor Hundert Jahren zur ersten Haager Friedenskonferenz eingeladen wurde. Sie formulieren eine Einsicht, die sicher seitdem deutlich an Gewicht gewonnen hat. Dass Rüstungen allein nationale und internationale Sicherheit nicht schaffen können ist weitgehend Allgemeingut der internationalen Politik. Wir blicken heute auf ein breites Geflecht von internationalen Vereinbarungen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, doch das Wettrüsten geht auch zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges weiter. Die Hoffnungen Anfang der neunziger Jahre auf eine Friedensdividende, auf eine umfassende Abrüstung, auf eine friedliche Welt wurden gedämpft. Die Rüstungsexporte nehmen seit drei Jahren wieder stark zu. Zwar scheint die Gefahr eines Krieges zwischen Großmächten – dauernd präsent in den ersten 90 Jahren dieses Jahrhunderts – heute gebannt, aber die Welt ist nicht friedlicher geworden und der Militäreinsatz als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist auch für die Politik unseres Landes wieder zur realen Möglichkeit geworden. Aus der Haager Friedenskonferenz, ihrem Entstehen, ihrem Verlauf und den Ergebnissen, können immer noch Lehren gezogen werden.

„Der 18. Mai 1899! Dass es ein weltgeschichtliches Datum ist, welches ich mir da niederschreibe – von dieser Überzeugung bin ich tief durchdrungen“, notierte Bertha von Suttner, die große Pazifistin, in ihr Tagebuch. „Es ist das erste Mal, dass die Vertreter der Regierungen zusammenkommen, um die »Mittel zu suchen«, der Welt einen dauerhaften, wahrhaften Frieden zu sichern.“ Sie war drei Tage vorher aus Wien nach Den Haag aufgebrochen, „zur Stätte, wo der Frieden geboren werden soll. Das ist wohl das schönste Reiseziel, welches das Schicksal meinem jahrelangen Ersehnen und Hoffen bieten konnte.“

In der Tat eröffnete an jenem 18. Mai 1899 der niederländische Außenminister de Beaufort eine internationale Konferenz wie es sie in dieser Art noch nicht gegeben hatte. Offizielle Vertreter aus 26 Staaten, zumeist führende Diplomaten, aber auch Völkerrechtler, Militärs und sogenannte Friedensfreunde fanden sich zusammen. Akkreditiert waren alle Großmächte Europas und die anderen damals selbständigen Staaten dieses Erdteils, dazu die Vereinigten Staaten, Japan, Siam, China und Persien.

Zum Präsidenten gewählt wurde ein alter Karrierediplomat, der russische Botschafter in London Baron de Staal, denn Zar Nikolaus II. hatte zu dem Treffen eingeladen. In seiner Eröffnungsrede meinte der Präsident, der Name Friedenskonferenz, „welchen der Instinkt der Völker, die Entscheidungen der Regierungen vorwegnehmend, unserer Zusammenkunft gegeben hat, bezeichnet zu Recht den Hauptgegenstand unserer Bestrebungen; die »Friedenskonferenz« darf der ihr anvertrauten Mission nicht untreu werden, sie muss ein greifbares Resultat hervorbringen, welches die ganze Welt vertrauensvoll von ihr erwartet.“

Hoffnung für Pazifisten

Zunächst einmal traf diese Hoffnung auf die Pazifisten zu. Neben der Baronin Suttner zum Beispiel auf den russichen Staatsrat und Warschauer Bankier Jan de Bloch, einen wohlhabenden Mann, der im Eisenbahnbau sein Geld gemacht und kurz zuvor ein monumentales sechsbändiges Werk unter dem Titel »Der Krieg« vorgelegt hatte, das auch heute noch lesenswert ist. In ihm suchte er mit statistischem und volkswirtschaftlichem Material zu beweisen, dass ein künftiger Krieg wegen der fortschreitenden technischen Waffenentwicklung ein immer kostspieliger werdendes Unterfangen sein würde. In einem solchen Krieg – und der Verlauf des Ersten Weltkrieges gab ihm schließlich recht – sei mit einem schnellen Sieg nicht zu rechnen, sondern die Fronten würden schnell erstarren; die defensiven Fähigkeiten würden die offensiven übersteigen; der Krieg werde somit die nationalen Volkswirtschaften zerrütten. Der würdige und wohlhabende Sechziger verteilte in der niederländischen Hauptstadt Broschüren mit seinen Thesen, hielt Vorträge über die »Utopie des Krieges« und ließ sich gern als Experten feiern.

Voll Hoffnung war zum Beispiel auch William T. Stead, ein britischer Journalist. Dieser »Apostelkopf mit grauem Vollbart« war zuvor unermüdlich durch die Hauptstädte Europas gezogen und hatte für die Friedensidee geworben; jetzt organisierte er in Den Haag eine effektive Berichterstattung, die nicht nur in seinem Heimatland wirkte.

Zum Beispiel auch der greise Henri Dunant, Begründer des Roten Kreuzes,. Er suchte in Korrespondenz mit Suttner die Haager Szene zu beeinflussen; führende französische wie amerikanische Pazifisten gesellten sich dazu.

Und schließlich Leonore Selenka, eine Münchner Professorengattin. Sie kam in die niederländische Hauptstadt um dem Präsidenten eine weltweite Sympathiekundgebung von Frauenvereinigungen zu überbringen, die wenige Tage vor Beginn der Konferenz gleichzeitig in den meisten Teilnehmerstaaten getagt hatten. Drei Millionen Frauen sollen durch diese Kundgebung repräsentiert worden sein – eine dänische Frauenadresse hatte allein 230.000 Unterschriften gebracht, eine amerikanische über eine Million. Auch so etwas hatte es noch nicht gegeben.

Was sich in Den Haag versammelte und für drei Monate tagte, war jedoch keine Versammlung der internationalen bürgerlichen Friedensbewegung, sondern eine Staatenkonferenz, zu der die Pazifisten nur eine Begleitmusik spielen konnten. Aber sie stand eben nicht wie andere Friedenskonferenzen am Ende eines blutigen Krieges und sollte die Bedingungen zwischen Siegern und Besiegten aushandeln, sondern sie wurde mitten im Frieden einberufen (der natürlich auch damals durch internationale Krisen bedroht wurde).

Der russische Zar als Initiator

Die Idee ging auf den russischen Zaren Nikolaus II. zurück, einen jungen und unsicheren Mann, der dennoch oder gerade deswegen im August 1899 ein Manifest veranlasst hatte, das mit praktischer Politik wenig zu tun zu haben schien (siehe Kasten). Die Meinung eines Otto von Bismarck, der von der friedenserhaltenden Kraft der Waffen überzeugt war, spiegelte sich darin gewiss nicht wieder. „Fürst Bismarck ist seit 28 Tagen todt!“ soll daher – das berichteten die Hamburger Nachrichten – jemand, der dem Hause des Reichskanzlers sehr nahestand, das Zarenmanifest kommentiert haben.

Weltfremd oder realistisch? Das war bei dieser zaristischen Diagnose der internationalen Staatengesellschaft die Frage. Sicherlich hatte der autokratische Herrscher aller Reußen gute Gründe für eine Abrüstungsinitiative. Allem Anschein nach gab Kriegsminister Kuropatkin im Frühjahr 1898 den entscheidenden Anstoß – ein Mann, der später im Russisch-Japanischen Krieg 1904/5 entschlossen die militärische Expansion seines Landes verteidigte.

Hintergründe

Auch 1898 waren die Spannungen in Ostasien gestiegen (nicht zuletzt nach dem deutschen Erwerb des Kolonialstützpunktes Kiautschou); die russische Ostasienflotte sollte gegen den weltpolitischen Erzrivalen Großbritannien verstärkt, die Truppenzahl in Ostsibirien drastisch erhöht werden. Und es drohte ein qualitativer Rüstungsschub: Deutsche und Franzosen hatten ein neues Schnellfeuergeschütz in ihren Armeen eingeführt, die Österreicher wollten ein Gleiches tun. Lohnte es sich da nicht – so Kuropatkin –, mit diesen westlichen Nachbarn über ein Nichtrüstungsabkommen zu verhandeln, das dem finanzschwachen Russland wenigstens neue Ausgaben ersparte? Man hätte doch zehn Jahre lang auf die Einführung des neuen Schnellfeuergewehres verzichten können. Schließlich kam der Gedanke auf, allgemein die Beendigung des Wettrüstens anzuregen.

Kaiser Wilhelm II. kommentierte dann auch nach der Veröffentlichung des Zarenmanifestes zutreffend: „Die ganze Elukubration scheint mir möglicherweise der grimmen Noth entsprungen, dass Russland die »Puste« finanziell auszugehen anfängt.“ – auch wenn er selber und die deutsche Reichspolitik, die Wettrüsten als eine Probe für die gesamtgesellschaftliche Leistungsfähigkeit betrachteten, ebenfalls in solche Not gerieten. Denn beim Flottenbau würden die Briten im kommenden Jahrzehnt diesen Test gewinnen, zugleich aber würden die internationalen Spannungen insgesamt durch das Wettrüsten zu Wasser und dann auch zu Lande zunehmen.

Die Finanzschwäche Russlands war jedoch im Allgemeinen in der wirtschaftlichen Entwicklung begründet. Das Riesenreich mit all seinen menschlichen und materiellen Ressourcen hatte sich im Vergleich zu Westeuropa und Amerika noch kaum industriell entwickelt. Vor allem mit französischen Anleihen konnte der „geborgte Imperialismus“ (Dietrich Geyer) an einen Landesausbau gehen, der eine Art kolonialer Entwicklung auf eigenem Territorium zu leisten hatte. Finanzminister Sergej Witte war die treibende Kraft: Den Eisenbahnbau in Mittel- und Ostasien und die Industrialisierung hielt er für die wichtigsten Methoden, um die Existenz Russlands als Großmacht im kommenden Jahrhundert zu sichern. Auch wenn sich Witte später von der Zareninitiative distanzierte (sie sei dilettantisch), so hatte sie doch ihren tieferen Grund gerade in der Prioritätenentscheidung: Landesentwicklung statt Wettrüsten.

Ein dritter Strang kam hinzu: Am Tag der Veröffentlichung des Zarenmanifests begab sich Nikolaus II. von St. Petersburg nach Moskau, um dort ein Denkmal Alexanders III. zu enthüllen, der nunmehr als »friedensbringender Zar« gefeiert wurde, da er die Lehren aus dem blutigen Russisch-Türkischen Krieg gezogen habe. Das war ein wenig an den Haaren herbeigezogen, ebenso wie die Initiative Alexanders II. von 1868 für eine Humanisierung überpointiert wurde (sie hatte 1874 zu einer Konferenz in Brüssel geführt).

Aber mit Recht konnte man bis zu Zar Alexander I. zurückgehen: Er hatte nach den napoleonischen Kriegen das von ihm begründete System einer »Heiligen Allianz« der Herrscher, Völker und Heere für einen stabilen Frieden in Europa auch mit dem Mittel der Abrüstung zu erreichen gesucht. Es müsse ein neues Mittel gefunden werden, schrieb der Zar 1816 an den britischen Außenminister Lord Castlereagh, die Dauerhaftigkeit der neuen Ordnung und die Befriedung der Völker ohne Furcht in völliger Sicherheit herzustellen. Darum solle man gleichzeitig die bewaffneten Kräfte aller Art reduzieren: Solange man diese „im Kriegszustand“ aufrechterhielte, werde „die Glaubwürdigkeit der bestehenden Verträge vermindert und eine schwere Last auf die Wohlfahrt und Unabhängigkeit der Völker“ gelegt.

Damals kam nichts dabei heraus, weil Castlereagh hinhaltend reagierte und der österreichische Staatskanzler Metternich befand, die Russen müssten wohl aus eigenem Interesse ihre überwältigende Armee aus dem letzten Krieg verringern. Es gab also tatsächlich 1898 eine russische Herrschertradition der Friedensstiftung durch Abrüstung. Zwar gab die wirtschaftliche Lage des Riesenreichs den Ausschlag, aber dahinter steckte ein genuiner, zum Teil religiös verbrämter Friedenswunsch.

Für Nikolaus II. war noch ein viertes Moment bestimmend. Seit 1889 erstarkte die Friedensbewegung, die auf Weltfriedenskongressen, bei Treffen der Interparlamentarischen Union und der Sozialistischen Internationalen von sich reden machte. Der Zar hatte Jan de Blochs Werk über den Krieg gelesen und war von den dort ausgemalten Schrecken beeindruckt; man brachte ihm auch die Verhandlungsergebnisse der letzten internationalen Friedenskongresse nahe. Die Pazifisten und Internationalisten vertrauten auf die zunehmende Bedeutung einer Weltöffentlichkeit. Also bot sich dies auch für den Zaren an. Im autokratischen Russland glaubte man sich um die Jahrhundertwende noch von derartigen Einflüssen frei; stärkte man im Westen jene friedensgeneigten Strömungen, brauchte dies im eigenen Land keine Folgen zu haben. Gerade die undiplomatische Art, das Manifest kurz nach der Übergabe an die ausländischen Diplomaten in der Presse zu veröffentlichen, spricht für dieses Motiv. Es war ein Appell über die Regierungen hinweg an die Völker.

Ob Außenminister Murawjew es wirklich, wie der deutsche Botschafter berichtete, ernsthaft gemeint hat, „dass (der Vorschlag) eine mächtige Waffe und ein gewaltiges Agitationsmitttel aus der Hand der Sozialdemokratie nimmt, die behauptet, die Regierungen opferten ihren eigennützigen Rüstungsplänen den Wohlstand ihrer Völker“, sei dahingestellt. Wilhelm II. jedenfalls befürchtete: „Er hat unseren Demokraten und Opposition eine brillante Waffe in die Hand gegeben zum agitiren!“

Reaktionen

Allerdings war es für die Sozialdemokratie nicht ganz leicht, darauf zu reagieren, dass der falsche Mann (fast) das Richtige gesagt hätte. Die sozialdemokratische Bremer Bürger-Zeitung legte dann auch den zaristischen Abrüstungsvorschlag wortwörtlich dem SPD-Abgeordneten Wilhelm Liebknecht für eine Haushaltsdebatte im Reichstag in den Mund und stellte sich die Reaktionen von den Konservativen bis hin zu den Liberalen vor:

„Satz für Satz versuchte man, ihn niederzubrüllen und niederzulachen. In patriotischer Entrüstung rang Herr v. Stumm die Hände, und Liebermann v. Sonnenberg warf von Zeit zu Zeit ein überzeugtes Pfui dazwischen. Höhnisch lächelnd hörte am Bundesrathstische der Kriegsminister zu und erklärte dann in kurzen, schneidenden Worten, er brauche nichts zu erwidern, da solches Zeug doch niemand ernst nehme. Herr von Manteuffel schnarrte etwas von vaterlandsloser Sozialdemokratie, Herr von Bennigsen hielt darauf eine staatsmännische Rede über den segensreichen Einfluss der Militärausgaben auf die Volkswohlfahrt, und zum Schluss erhob sich Eugen (Richter) und rühmte von den Freisinnigen, dass auch sie für ein starkes Heer eintreten und jeden Mann und jeden Groschen bewilligt hätten, es sei ihnen nur um das Septennat, um die Form zu thun gewesen.“

Die Sozialdemokraten blieben skeptisch. Abrüstung sei nur möglich auf der Grundlage der allgemeinen Volksbewaffnung in Form einer Miliz, hieß es kommentierend und wenig später: „Die kapitalistische Produktionsweise wird nach wie vor zu Kriegsexplosionen münden und nach wie vor in wahnsinnigen Rüstungen das Mark der Völker verzehren.“ Aber: „Nun kommt ein Zar zu dem Eingeständnis, dass wir recht haben!“

Wie es die Sozialdemokraten befürchtet hatten, geschah es wirklich: Die anderen Regierungen waren mehr oder weniger entsetzt; sie erklärten das Ganze – ohne öffentlich das Prestige des Zaren anzutasten – für utopisch, unpraktisch, undurchführbar. Am Deutlichsten sagte es die deutsche Reichsleitung, welche die Grundlagen des Staates durch den Zarenvorschlag gefährdet sah. Was Nikolaus eigentlich vorgeschlagen hatte, bedurfte also nach und nach der abschwächenden Deutung: Völlige Abrüstung meinte er sicherlich nicht, sondern man solle nur die Möglichkeit der langsamen Reduzierung prüfen, vielleicht noch den Verzicht auf bestimmte Rüstungsproduktionen, ein »Einfrieren« wie es heutzutage heißt.

Ergebnisse

Die diplomatischen Vorgespräche ergaben jedenfalls schon vor dem 18. Mai 1899: An Abrüstung dachte keine Großmacht. So wurde am Ende der ersten Haager Konferenz, die dann offiziell nicht mehr Abrüstungskonferenz, sondern Friedenskonferenz hieß, nur ein unverbindlicher Wunsch verabschiedet, die Fragen weiter zu studieren. Immerhin konnten sich die Delegierten bei bestimmten Kriegsformen, über deren Erfolgsaussichten in der Zukunft noch kein sicheres Urteil möglich war, zu Vereinbarungen durchringen:

Für fünf Jahre wurde ein Verbot ausgesprochen, „Projektile und Explosivstoffe aus Ballons oder auf andere entsprechende neue Arten“ abzuwerfen – ein Luftkriegsverbot, das stillschweigend am Ende der Periode auslief und 1907 erneuert wurde. Permanent verboten wurden für alle Vertragsparteien einerseits „die Verwendung von Projektilen, die als einziges Ziel haben, erstickende oder gesundheitsschädigende Gase zu verbreiten“, der Gaskrieg also, andererseits die Verwendung von abgeplatteten Gewehrgeschossen (Dum-Dum-Geschosse, die besonders große Wunden rissen).

Man kodifizierte auch das Land- und Seekriegsrecht, eine Vorstufe für die 1907 beschlossene und bis heute gültige Haager Landkriegsordnung. Sie sollte freilich erst dann angewendet werden, wenn der Frieden gescheitert, der Krieg im Gange war. Aber man suchte mehr und mehr nach einem Programm, das mit Frieden etwas zu tun hatte. Die Wünsche richteten sich auf die friedliche Beilegung internationaler Konflikte, auf Schiedsgerichte, Vermittlung und internationale Untersuchungsausschüsse.

Die Frage, ob man Schiedsgerichte für bestimmte Konfliktfälle obligatorisch machen sollte, ließ sich 1899 noch nicht beantworten. Aber man schuf im Haager Schiedsgerichtshof eine erste internationale Institution zur Streitbeilegung. Gegen den erbitterten Widerstand vor allem von deutscher Seite konnte nicht mehr vereinbart werden als eine Liste von Schiedsrichtern, der sich Streitparteien bedienen konnten. Tatsächlich geschah dies vor dem Ersten Weltkrieg in einer ganzen Reihe von Fällen, die aber mit den konkreten Kriegsgefahren der Zeit wenig zu tun hatten.

Sechs Jahre später – die Revolution in Russland, eine folge des Russisch-Japanischen Krieges 1904/5, war noch nicht vollständig niedergeschlagen – schlug die zaristische Regierung eine neue Haager Konferenz vor. Trotz oder gerade wegen des nun in vollem Gange befindlichen maritimen Wettrüstens wurde die Abrüstungsfrage schon vor dem Zusammentritt einer neuen Konferenz vertagt – in Formeln eines ‚Begräbnisses erster Klasse‘.

Dennoch tagte vom 15. Juni bis zum 18. Oktober 1907 eine neue Konferenz aller damals als unabhängig angesehenen Staaten (inklusive Lateinamerikas). Ihre Bedeutung lag vor allem in der weiteren Kodifikation des Kriegsrechts. Die Friedensfreunde wollten ein Schiedsgerichtsobligatorium zunächst auf unbedeutende Themen beschränken; sollte es sich im Verlauf der Zeit bewähren, könne man es hoffentlich auf größere Themen ausweiten.

Wieder war es die deutsche Reichsleitung, prinzipiell von der absoluten Souveränität der Großmächte überzeugt, die gegen alle solche Vorschläge Front machte und den Fortschritt verhinderte. Zwar wurden fünfzehn internationale Konventionen beschlossen, aber keine einzige griff nachhaltig in die Konflikte und Gegensätze der Staatengesellschaft ein. Der Weg in den Ersten Weltkrieg wurde nicht aufgehalten.

Die Teilnehmer wollten sich etwa 1915 zu einer dritten Haager Konferenz zusammensetzen, doch da tobte der Krieg schon, den man zu Recht den »großen Krieg« nennt oder die Urkatastrophe unseres Jahrhunderts.

Dr. Jost Dülffer ist Professor für neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Köln.

Das Zarenmanifest

„… Im Namen des Friedens haben große Staaten mächtige Bündnisse miteinander geschlossen. Um den Frieden besser zu wahren, haben sie in bisher unbekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt und fahren fort, sie zu verstärken, ohne vor irgendeinem Opfer zurückzuschrecken.

Alle ihre Bemühungen haben dennoch nicht das segensreiche Ergebnis der ersehnten Friedensstiftung zeitigen können. Da die finanziellen Lasten eine steigende Richtung verfolgen und die Volkswohlfahrt an ihrer Wurzel treffen, so werden die geistigen und physischen Kräfte der Völker, die Arbeit und das Kapital zum großen Teile von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt und in unproduktiver Weise aufgezehrt. Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren, infolge irgendeiner neuen Entdeckung auf diesem Gebiet… Die wirtschaftlichen Krisen sind zum großen Teil hervorgerufen durch das System der Rüstungen bis aufs Äußerste, und die ständige Gefahr, welche in dieser Kriegsstoffansammlung ruht, machen die Heere unserer Tage zu einer erdrückenden Last, welche die Völker mehr und mehr nur mit Mühe tragen können. Es ist deshalb klar, dass, wenn diese Lage sich noch weiter so hinzieht, sie in verhängnisvoller Weise zu eben der Katastrophe führen werde, welche man zu vermeiden wünscht und deren Schrecken jeden Menschen schon beim bloßen Gedanken schaudern macht…

Durchdrungen von diesem Gefühl, hat seine Majestät geruht, mir zu befehlen, dass ich allen Regierungen, deren Vertreter am kaiserlichen Hof beglaubigt sind, den Zusammentritt einer Konferenz vorschlage, welche sich mit dieser ernsten Frage zu beschäftigen hätte. Diese Konferenz würde mit Gottes Hilfe ein günstiges Vorzeichen des kommenden Jahrhunderts sein…“

(Ausschnitte aus dem Zarenmanifest vom 24. August 1898, verkündet von Außenminister Graf Murajew)

zum Anfang | Neue Konfliktlinien an der Schwelle zum 21. Jahrhundert
100 Jahre Krieg – und kein Ende?

von Jürgen Scheffran

Den Schrecken des Krieges zu beenden oder zumindest zu mildern – dies war eine Motivation für der Haager Friedenskonferenz von 1899. Die Realität des 20. Jahrhunderts sah jedoch anders aus. Mit hunderten von Kriegen fällt die Bilanz der letzten hundert Jahre grausig aus. Die zweite Haager Konferenz (1907) sowie eine vorgesehene dritte (1915) konnten dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem folgenden Abschlachten nichts entgegensetzen. Zwar wurden mit der Festlegung der Haager Landkriegsordnung, der Einrichtung eines Gerichtshofs für die Beilegung internationaler Streitfälle und dem Einsatzverbot für bestimmte Waffen (Giftgas) Ansätze zur »Zivilisierung« der Kriegführung unternommen. Im Kellogg-Briand-Pakt verzichteten gar 63 Staaten auf Krieg als Instrument der Politik und der auf der Weltabrüstungskonferenz von 1932 vorgestellte Hoover-Plan sah die schrittweise Abschaffung offensiver Waffen vor.

Doch gegen nationalen Taumel, totalen Krieg und technische Massenvernichtung konnte das zarte Friedenspflänzchen nichts ausrichten. Die fortwährende Steigerung der Vernichtungsmittel erreichte mit der Zerstörung mitteleuropäischer Städte durch Brandbomben und Raketen sowie im Einsatz der Atombombe gegen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki ihren schrecklichen Höhepunkt. Der größte Land-, Luft- und Seekrieg der Geschichte richtete auch die größten Verheerungen an und forderte die größten Opfer an Menschenleben (27 Mio. Soldaten und 25 Mio. ZivilistInnen). Der Anteil der getöteten ZivilistInnen hatte sich gegenüber dem Ersten Weltkrieg von 5 auf 50 Prozent erhöht. Der Krieg entwickelte sich zum globalen totalen Krieg, der alle gesellschaftlichen Bereiche umfasste. Die Kriegskosten stiegen ins Uferlose und ließen einen militärisch-industriellen Komplex zurück, der sich nicht abschaffen lassen wollte.

Erst nach der Besinnungslosigkeit des Zweiten Weltkriegs und dem dadurch ausgelösten Schock kehrte eine gewisse Besinnung dahingehend ein, dass es nicht im Interesse der Völker sein kann, sich gegenseitig zu vernichten. Die erstarkte Friedensbewegung und Bestrebungen zur Friedensförderung wie die Gründung der Vereinten Nationen gerieten jedoch in den Strudel des Ost-West-Konflikts, in dem die beiden Supermächte die Welt in Einflusssphären teilten und alle gesellschaftlichen Ressourcen dem Wettrüsten unterordneten. Wissenschaft und Technik ermöglichten immer ausgeklügeltere Waffensysteme, deren Zerstörungswirkung die des gesamten Zweiten Weltkriegs um mehr als das Tausendfache übertraf und die mehrfache Zerstörung des Planeten in den Bereich des Möglichen rückte.

Mit der Beendigung des Kalten Krieges und der Vereinbarung von Abrüstungsverträgen zwischen den ehemaligen Kontrahenten ging eine kurze Tauwetterperiode in den internationalen Beziehungen einher, die mit dem zweiten Golfkrieg 1991 und weiteren Konflikten (Jugoslawien, Somalia, Zentralafrika, Tschetschenien, Nahost, Südasien) jedoch rasch wieder in einer Überhitzung endete. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist die Abrüstungspolitik in der Krise und immer noch sind dutzende von Kriegen und hunderte größerer Konflikte zu verzeichnen, die auf komplexe Weise mit dem Ursachen- und Wirkungsgeflecht der globalen Probleme verbunden sind (Bevölkerungswachstum, Armut und Unterentwicklung, Umweltzerstörung und Ressourcenverknappung, Migration und Flucht, Gewalt und Krieg). Neue Risiken und Instabilitäten für die internationale Sicherheit sind auf allen Ebenen erkennbar. Die Kriege der Gegenwart werden eher mit Messern, Äxten und Pistolen ausgetragen während die noch verbleibende Supermacht USA die gesamte Hochtechnologieentwicklung einplant um die vermeintlichen Schlachten der Zukunft auf der Erde und im Weltraum zu schlagen.

Häufigkeit und Verteilung
von Konflikten

Die Bilanz des 20. Jahrhunderts ist auch hinsichtlich der Kriegshäufigkeit ernüchternd. Seit 1889 hat es kein Jahr mehr gegeben, in dem nicht ein neuer nationaler oder internationaler Konflikt begonnen wurde. Nach den beiden Weltkriegen nahm die Zahl laufender Konflikte pro Jahr sogar noch zu, was auch damit zusammenhängen mag, dass die Zahl staatlicher Akteure sich vervierfacht hat. Die Zahl neubegonnener Konflikte erreichte 1964 einen Höhepunkt von 25.1 In den fünf Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehr Konflikte verzeichnet als in jeder früheren vergleichbaren Periode, insgesamt 398 internationale und 263 nationale Streitigkeiten bis 1995. In 387 Konflikten wurde Gewalt eingesetzt (darunter 104 Kriege), 274 verliefen ohne Gewalt. Ab 1969 wurden mehr gewaltsame interne als zwischenstaatliche Konflikte registriert, die ein höheres Gewaltpotential aufwiesen.2 Nach einer anderen Zählweise waren seit 1945 weltweit 194 Kriege zu verzeichnen, im Mittel kam ein Krieg pro Jahr hinzu. Im Jahr 1996 waren es weltweit 28 Kriege und 21 bewaffnete Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle, die insgesamt 6,7 Millionen Tote und ein Vielfaches an Verwundeten forderten.3 Im Gefolge der Ereignisse von 1989 stieg die Zahl der bewaffneten Auseinandersetzungen noch einmal deutlich an, um nach einem Maximum im Jahr 1993 wieder abzufallen. In den letzten Jahren wurden mehr Kriege beigelegt als neue begonnen wurden.

Die allermeisten Konflikte fanden in den Regionen des Südens statt, zumeist zwischen Entwicklungsländern. Besonders betroffen war die Konfliktregion Naher Osten/Nordafrika, die seit dem Zweiten Weltkrieg Schauplatz von 53 Kriegen war. In Süd- und Südostasien sowie Subsahara-Afrika fanden zwischen 1945 und 1996 47 bzw. 43 Kriege statt. Es folgt Mittel- und Südamerika, mit 31 Kriegen (Globale Trends 1998). Dagegen ging in Ostasien nach den Kriegen der sechziger Jahre die Anwendung organisierter militärischer Gewalt zurück. Auch in anderen Weltregionen war seit 1960 ein Trend zu abnehmender Kriegshäufigkeit zu beobachten. In Europa gab es bis 1989 47 unfriedliche Auseinandersetzungen, darunter 20 latente Konflikte oder Krisen und acht Kriege (Pfetsch 1989). In Südosteuropa und den angrenzenden Regionen des Nahen Ostens und Zentralasiens brachen mit dem Zerfall der Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien etwa ein Dutzend neuer Kriege aus. In einigen Konflikten waren bzw. sind die Großmächte (Großbritannien, Frankreich, USA, UdSSR/Russland) stark beteiligt, die bestimmte Regionen als ihre Machtsphären betrachteten. Immerhin waren 43 Staaten nie in Konflikte verstrickt und weitere 25 Nationen nur in nicht-gewaltsame (Pfetsch 1998).

Neue Konfliktmuster und knappe Ressourcen

Die Welt ist nach 1945 zwar nicht friedlicher geworden, doch hat sich gegenüber der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg das Konfliktverhalten zwischen Staaten geändert. Während zuvor Rivalitäten zwischen Staaten dominierten, die nationale Machtinteressen ohne Hemmungen mit Waffengewalt durchsetzten, begann sich nach dem Krieg in den Industrieländern die Erkenntnis durchzusetzen, dass Interessen auch friedlich und gemeinsam mit anderen erreicht werden können. Auch weiterhin ging bei den allermeisten Konflikten der Streit um Territorien und Grenzen sowie interne Macht. Viele bewaffnete Konflikte waren eine Folge der Unabhängigkeit früherer Kolonien und der Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Zahlreiche Konflikte der neunziger Jahre weisen ein hohes Maß an innerstaatlicher Gewalt auf, die die Entstehung von Bürgerkriegsgesellschaften und einen Verfall der Staatlichkeit zur Folge hat. Autoritäre Herrschaftscliquen und schwache Regierungen sind den Problemen von Unterentwicklung, Armut und Umweltzerstörung wie auch dem Modernisierungsdruck nicht gewachsen und unfähig, den Bevölkerungen ihrer Länder ein Minimum an Mitsprache und Lebensqualität zu garantieren. Als Abwehrreaktion werden alte Traditionen, Fundamentalismen und Feinbilder beschworen, die ethnischen Konflikten und einem »Kampf der Kulturen« Vorschub leisten. Der Konfliktaustrag ist mit einer Eigendynamik und Chaotisierung der Kriegführung, der weiteren Zerstörung sozialer Zusammenhänge und der Zerrüttung von Wirtschaft und Gesellschaft verbunden, die eine Lösung der zugrundeliegenden Probleme nahezu unmöglich machen (Globale Trends 1998).

Auch in den Industrieländern ist im Gefolge der Modernisierung und Globalisierung ein Einflussverlust des Nationalstaats zu verzeichnen, der zum einen auf die Schaffung internationaler Institutionen, Regime und Entscheidungsstrukturen zurückzuführen ist, zum anderen auf die Konzentration von Macht in den Händen international agierender privater Akteure (Konzerne, Interessengruppen, Mafia), die teilweise wenig auf demokratische Entscheidungen Rücksicht nehmen und ihre Interessen notfalls auch mit dem Mittel der Gewalt durchsetzen. Die empirisch begründete These, dass Demokratien untereinander keine Kriege führen, bedarf unter diesem Blickwinkel einer neuen Beurteilung, zumal auch für Demokratien wie die USA Gewalt gegenüber den politisch weniger entwickelten Staaten des Südens weiterhin als legitimes Machtmittel gilt.

Um das Besondere an der heutigen Konfliktlage zu verstehen ist es hilfreich, sie in den Kontext der bisherigen Menschheitsentwicklung einzuordnen, die durch Machtkämpfe um natürliche und gesellschaftliche Ressourcen geprägt wurde. Am Beispiel der Ressource »Territorium« wird deutlich, dass der Charakter der Konflikte sich mit dem fortschreitenden Grad der Nutzung oder Übernutzung dieser Ressource gewandelt hat. Zu unterscheiden sind die für jeden Entwicklungsgang eines Systems typischen Phasen Wachstum, Stagnation, Zerfall.

  1. Wachstum, Expansion, Machtgewinnung: Solange Menschen in immer neue Regionen expandieren konnten, waren Konflikte vorherrschend, die die Verteilung des neu »eroberten« Gebietes und die damit verbundene Macht betrafen. Im 19. Jahrhundert gerieten der imperialistische Expansionsdrang und die territoriale Aufteilung der Welt an die Nationalstaaten an ihre Grenzen. Zu spät gekommene Staaten wie Deutschland oder Japan versuchten bis ins 20. Jahrhundert hinein vergeblich, die Aufteilung mit Gewalt zu ihren Gunsten zu verschieben.
  2. Stagnation, Umverteilung, Identitätssicherung: Der Zweite Weltkrieg markiert das Ende der territorialen Expansionsphase und die Fixierung der Aufteilung, wobei die alten Kolonialmächte durch die Entkolonialisierung an Einfluss verloren. In der Stagnationsphase des Ost-West-Konflikts versuchten die Supermächte, die Machtverteilung in den Weltregionen auf militärischem und politisch-ideologischem Wege zu ihren Gunsten zu verschieben. Für Deutschland und Japan dagegen wurden Machtzugewinne nicht territorial, sondern in der technisch-ökonomischen Entwicklung und über politische Einigungsprozesse erreicht. Bei der Bildung neuer oder dem Zerfall alter Staaten stand die Frage der Orientierung und Identititätssicherung entlang der bestehenden globalen Machtstrukturen im Vordergrund, zunächst entlang der Ost-West-Achse, nach 1989 entlang der Nord-Süd-Achse (Zentrum-Peripherie).
  3. Zerfall, Risiko, Existenzgefährdung: Bei weiter anhaltender Wachstumsdynamik steigt der Druck auf die enger werdenden territorialen Grenzen, wodurch der Zerfall sozialer, ökonomischer und politischer Strukturen befördert wird. Es geht bei Konflikten in der Risikogesellschaft immer weniger um die Eroberung neuer Räume und immer mehr um die Verteilung von Mangel und Risiko. Am Stärksten werden die ohnehin schon marginalisierten Schichten in Nord und Süd betroffen, für die es um das Überleben geht, während privilegierte Schichten versuchen, ihre Macht und ihren Reichtum abzusichern.

Entsprechende Phasen können im Prinzip auch für andere Ressourcen identifiziert werden, insbesondere für die natürlichen Ressourcen Wasser, Nahrung, Energie, Biodiversität, Rohstoffe, wobei für jede Ressource eine Differenzierung hinsichtlich ihrer Relevanz vorzunehmen ist.

Die hier skizzierte Einteilung ist nicht streng chronologisch zu verstehen, denn bis heute findet eine Durchmischung aller drei Konfliktphasen statt. Allerdings gewinnen mit wachsender Verknappung Risiko- und Existenzkonflikte an Bedeutung, die sich vorwiegend an den Rändern der Weltgesellschaft abspielen und von der Öffentlichkeit oft verdrängt werden. Schließlich ist die Phaseneinteilung nicht als Naturgesetz zu verstehen. Zerfallsbedingte Konflikte müssen nicht über die Gewaltschwelle eskalieren, wenn sich weltweit eine Kultur des Friedens durchsetzt, die das Instrumentarium einer »nachhaltigen Friedensstiftung« weiterentwickelt, von präventiver Diplomatie und Konfliktvermittlung bis zu Maßnahmen der gesellschaftlichen und ökonomischen Friedenskonsolidierung. Voraussetzung ist, dass die Grundbedürfnisse für alle Menschen gewährleistet sind und die materielle Basis des Friedens gesichert ist, d.h. es muss mit den natürlichen Ressourcen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung »vernünftig« gehaushaltet werden, wodurch die zerfallsbedingten Konflikte an Bedeutung verlieren.4 Bislang ist die Dynamik zur Erzeugung neuer Konflikte jedoch weiterhin ungebrochen, wie am Beispiel der Umweltkonflikte zu zeigen ist.

Naturzerstörung
und Umweltkonflikte

Bereits heute sind eine Reihe von Konfliktfällen zu beobachten, bei denen Umweltzerstörung ein wesentlicher Konfliktfaktor ist. Das Schweizer Environment and Conflicts Project (ENCOP) fand heraus, dass von den 51 Kriegen des Jahres 1992/1993 immerhin 22 (43 Prozent) eine Umweltdimension hatten bzw. teilweise durch Umweltveränderungen induziert waren. Betroffen sind vor allem Subsahara-Afrika sowie Süd- und Südostasien, wo der Anteil bei mehr als 50 Prozent lag.5 In dem Abschlussbericht des Projekts wurden 42 Fallstudien von Umweltkonflikten ausgewertet und drei Mustern von konfliktträchtigen Umweltveränderungen (Naturkatastrophen, nationale und internationale Opferzonen, Allmend-Effekt) zugeordnet.6 In der Synthese des ENCOP-Projekts heißt es (S.329):

„Die biologischen Grundlagen des menschlichen Daseins sind seit kurzem der Erschöpfung nahe. Eine weitere Steigerung der Weltgetreideernte war zum Beispiel seit 1990 nicht mehr möglich. Selbst Trinkwasser, eine einst in scheinbar unerschöpflicher Fülle vorkommende Ressource, wird an immer mehr Orten knapp. Raum, Nahrung, Wasser und weitere knappe Güter werden damit vermehrt zu Konfliktgegenständen unter Gruppen, die um ihr Überleben, um die Erhaltung ihrer traditionellen Lebensformen oder die Anhebung ihres Lebensstandards kämpfen. Es ist für die Gegenwart von grundlegender Bedeutung und für die Zukunft überlebenswichtig, diese Konflikte in ihren … Ursachen besser zu verstehen, um sie entschärfen, soweit wie möglich lösen oder wenigstens unter Vermeidung von Gewaltexzessen überstehen zu können.“

Einige Beispiele für umweltbedingte Konflikte, die nicht den Charakter von Kriegen haben, aber teilweise dennoch durch ein hohes Gewaltpotential geprägt sind, sollen im Folgenden die allgemeinen Zusammenhänge verdeutlichen.

  • Wasserkonflikte in Nahost: Israel bezieht mehr als 60 Prozent seines Wassers aus Gebieten außerhalb seiner international anerkannten Grenzen, zu einem erheblichen Teil auch aus der besetzten Westbank, wo der Pro-Kopf-Verbrauch der jüdischen Siedler etwa viermal so hoch ist wie bei den Arabern. Wiederholt waren Wasserreservoirs und Wasserleitungen Ziele militärischer Operationen. Der Erfolg von Verhandlungen wird vom weiteren Friedensprozess mitbestimmt. Die Wasserversorgung Ägyptens hängt zu 97 Prozent vom Nil und damit von den Oberanliegern Sudan und Äthiopien ab; Zuteilungsquoten sind seit langem umstritten. Das türkische Staudammprojekt an Euphrat und Tigris ist von Zwangsumsiedlungen und ethnischen Säuberungen begleitet und macht Syrien und Irak von der türkischen Wasserzuteilung abhängig.
  • Umweltflucht in Afrika: Der afrikanische Kontinent ist bereits in starkem Maße von ökologischen Problemen (Wassermangel, Desertifikation, Abholzen von Regenwäldern) betroffen, die durch eine globale Klimaerwärmung weiter verschärft werden. Millionen von Umweltflüchtlingen wandern in die Städte und benachbarte Länder aus, wo sie die sozialen Probleme verschärfen und Konflikte verursachen. Ein Beispiel ist die Vertreibung von 60.000 Menschen aus Mauretanien und dem Senegal zwischen April und August 1989, die teilweise auf die Übernutzung und Verödung der Böden im ehemals fruchtbaren Tal des Senegal-Flusses zurückzuführen ist. Am Horn von Afrika (insbesondere in Somalia) bewirkte eine Kombination verschiedener Fluchtursachen (Krieg, Unterdrückung, Hunger, Dürre) eine Destabilisierung der politischen Lage, die zum Eingreifen der Vereinten Nationen beitrug.
  • Massaker in Ruanda: Zwischen 1950 und 1994 stieg die Bevölkerung Ruandas von 2,5 auf 8,8 Millionen, die Pro-Kopf-Produktion sank zwischen 1960 und den frühen neunziger Jahren um fast die Hälfte. Das knapper werdende Land wurde immer weiter aufgeteilt. Die hohe Bevölkerungsdichte und die schlechte Ernährungslage verschärften den bereits bestehenden Konflikt zwischen Hutu und Tutsi und trugen zum Ausbruch der Gewalt bei, der auf das Nachbarland Zaire ausstrahlte und dort zur Destabilisierung beitrug.
  • Landflucht in Pakistan: Die Umwelt Pakistans leidet unter dem hohen Bevölkerungswachstum, der Bodenerosion, dem Wassermangel, der starken Entwaldung und dem Verlust landwirtschaftlicher Nutzfläche. Eine kleine Schicht der Gesellschaft versucht, die Kontrolle über die lebenswichtigen Naturressourcen (Wälder, Ackerland, Wasser) zu sichern. Aufgrund der verringerten landwirtschaftlichen Produktion wandern Menschen in die Städte oder in durch Naturkatastrophen (Überflutung) gefährdete Gebiete ab. Aufgrund der fehlenden städtischen Versorgung (u.a. mit Wasser und Elektrizität) ist es in Städten wie Karachi und Islamabad zu Protesten und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen ethnischen Gruppen oder mit der Polizei gekommen.
  • Überschwemmungen in Bangladesh: Aufgrund seiner hohen Bevölkerungsdichte und seiner Lage in einem Überschwemmungsgebiet ist Bangladesh extrem anfällig gegenüber den Risiken der regionalen und globalen Umweltzerstörung. Verarmte Menschen ziehen in überflutungsgefährdete Regionen. In den letzten vier Dekaden wanderten Millionen von Menschen aus Bangladesch auch in die angrenzenden Gebiete Indiens aus, wodurch dort gewalttätige Unruhen gefördert wurden. Bei einem Anstieg des Meeresspiegels und einer Zunahme von Wirbelstürmen und Überschwemmungen als Folge der globalen Erwärmung würden große Teile Bangladeschs überschwemmt, was Millionen Menschen das Leben kosten kann und den Druck zur Auswanderung verstärkt.
  • Austrocknung des Aralsees: Die Versalzung und Austrocknung des Aralsees, der mehr als 75 Prozent seines Volumens eingebüßt hat, ist eine ökologische Katastrophe mit schwerwiegenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Die Gesundheit von 50 Millionen Menschen verschlechterte sich, Folgeschäden wurden auf 37 Mrd. Rubel geschätzt. Afghanistan, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan sind zusätzlich betroffen durch die Schädigung der Zuflüsse Amu-Darja und Syr-Darja. Wassermangel hat in der Region zu Auseinandersetzungen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken geführt, aber auch zum regionalen Wassermanagement beigetragen.
  • Öl im Kaukasus: Die neuen Staaten im Kaukasus und in Zentralasien haben nach dem Zerfall der Sowjetunion große Erdöl- und Gasvorkommen übernommen, die mit Hilfe westlicher und östlicher Geldgeber rasch erschlossen werden sollen. In dieser Schlüsselregion zwischen Europa, Asien und Nahost kämpfen Staaten wie Russland, USA, Türkei, China, Indien, Pakistan, Iran und Irak um politischen und wirtschaftlichen Einfluss, der sich in einem Wettlauf um die besten Zugriffsmöglichkeiten auf Öl und Gas manifestiert. Konkrete Konflikte gibt es um die besten Transportwege (insbesondere Pipelinerouten), den rechtlichen Status des Kaspischen Meeres oder die Embargopolitik der USA gegenüber Iran.
  • Unruhen in Haiti: Einstmals reich bewaldet, hat Haiti heute fast seine gesamte Waldfläche (bis auf 2 Prozent) und einen großen Teil seines Mutterbodens eingebüßt. Die Getreideproduktion lag Anfang der neunziger Jahre um ein Drittel unter dem Wert von Mitte der siebziger Jahre, sodass die pro-Kopf zur Verfügung stehende Menge deutlich gesunken ist. Der Verlust von Wäldern und Boden in ländlichen Gebieten schaffte eine ökonomische Krise, die soziale Unruhen und internationale Migration (Exodus der »boat people«) hervorbrachte. Durch die Last einer irreversibel geschädigten Umwelt wird der gesellschaftliche Aufbauprozess stark behindert.
  • Der Landlosen-Konflikt in Chiapas/Mexiko: Der Aufstand der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) in der Provinz Chiapas im Januar 1994 war ein Ergebnis der wachsenden Unzufriedenheit unter Landarbeitern, die neben anderen Gründen (etwa den voraussehbaren Folgen des mexikanischen NAFTA-Beitritts) auch durch die wachsende Knappheit von landwirtschaftlichen Nutzflächen bedingt war. Konfliktgegenstand war eine gerechtere Verteilung von Landrechten gegenüber den Eliten, die sich die Kontrolle über die besten Landflächen im Staat verschafft hatten.
  • Fischereikriege: Der Streit um Fangquoten im Atlantik hat gezeigt, dass durch die Verknappung biologischer Ressourcen auch zwischen Industrieländern gewaltsame Auseinandersetzungen möglich sind. So brachte im Frühjahr 1995 die kanadische Marine im Nordatlantik vor der Küste Neufundlands einen spanischen Fischtrawler auf, weil er wegen des Rückgangs von Fischbeständen gegen die Fangbestimmungen für den Grönland-Heilbutt verstieß. Eine weitere vehemente Auseinandersetzung wird zwischen den USA und Kanada um die Fangrechte an Lachs im Pazifik ausgetragen.

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Referent der interdisziplinären Arbeitsgruppe IANUS an der TU Darmstadt.

zum Anfang | Virtuelle Rüstungen
Die Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder die USA rüsten mit sich selbst

von Götz Neuneck

Das 21. Jahrhundert ist nicht mehr fern. Auch deshalb lohnt sich ein Blick in Stanislaw Lems Klassiker »Waffensysteme des 21. Jahrhunderts« aus dem Jahr 1983.7 Der Science-Fiction Autor wirft darin einen Blick auf die Entwicklungen eines rasant fortschreitenden Wettrüstens: Die Rede ist da von Anti-Antiraketen, Laserbomben, Mikroarmeen und folgender Technologiefalle: „Dass alle Kräfte in neue Umrüstungen investiert wurden, darüber entschieden nicht mehr Regierungen, Staatsmänner, der Wille der Generalstäbe, die Interessen der Monopole oder auch andere Interessengruppen, sondern (…) die Angst, dass auf die Erfindungen und Techniken, die die endgültige Überlegenheit verteilen, als erster jemand anderer stoßen wird.“8 Ein Blick in die sicherheitspolitischen Debatten dieser Tage, in strategische Dokumente und Rüstungspläne insbesondere der Führungsmacht bestätigt eben jenes Bild. Virtuelle Gegner und übersteigerte Bedrohungen bilden die Legitimation für enorme Rüstungsanstrengungen, bei denen die nächste Drehung der Rüstungsspirale schon vorweggenommen scheint: Da die angenommenen Gegner bald über dieselben Technologien wie die USA verfügen werden, muss jetzt der nächste Schub vorbereitet werden.

Nach Jahren des Übergangs nehmen die US-Strategiepläne für den Beginn des 21. Jahrhunderts Gestalt an. Im Mai 1997 hatte Verteidigungsminister Cohen den »Quadrennial Defense Review« QDR dem U.S.-Kongress überstellt, die Grundlage für die amerikanische Militärstrategie bis zum Jahre 2015 und die Rechtfertigung für die künftigen Militärausgaben. Der QDR ist der Rahmen für die nationale Militärstrategie und bildet die Planungsgrundlage für die regionale Militärpolitik und die globalen Strategieziele. Schlüsselbegriffe sind »robuste regionale Präsenz« der US-Streitkräfte, militärische Überlegenheit und eine Nutzung der technologischen Vorsprünge, die jeden potentiellen Rivalen oder regionalen Hegemon entmutigen sollen. Als Handlungsgrundlage werden drei Elemente hervorgehoben: »Shape-Prepare-Respond«.

Bei seiner letzten Budgetvorstellung führte Cohen aus: Die neue Militärstrategie der USA solle „das internationale, sicherheitspolitische Umfeld in günstiger Weise für die amerikanischen Interessen gestalten, willens und fähig sein, auf das volle Spektrum von Krisen zu antworten und jetzt für eine ungewisse Zukunft vorbereitet sein“.9 Der QDR warnt vor neuen gleichrangigen Rivalen auf der Weltbühne und der Verbreitung von neuen revolutionären Waffen und Militärstrategien, an denen die USA allerdings selbst arbeiten oder deren Einführung bereits von den USA angekündigt wird.

Nach den Aussagen vieler Militärexperten werden die Entwicklungen in zentralen Hochtechnologiebereichen – insbesondere bei den Informations- und Kommunikationstechnologien, den Sensortechnologien, der Datenverarbeitung und bei neuen Waffenprinzipien – zu einer »Revolution im Militärbereich« (RMA, Revolution in Military Affairs) führen. Zur Zeit werden vom Pentagon organisatorische, technologische und operative Maßnahmen geprüft und umgesetzt.

Das US-Militär soll auch in Zukunft in der Lage sein, zwei regionale Kriege gleichzeitig und unabhängig voneinander führen zu können. Nicht Abschreckung eines gleichwertigen Gegners, sondern globale militärische Überlegenheit ist offenbar das Ziel. Umgesetzt werden sollen technologisch insbesondere die Vorgaben der Studie »Joint Vision 2010«. Die Joint Chiefs of Staff veröffentlichten 1996 ein Konzept, das angibt, wie die US-Streitkräfte unter den technologischen und politischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu kämpfen haben.10 Die Kriegführung des Jahres 2010 stützt sich auf die verbesserten Kommando- und Führungsmöglichkeiten des Informationszeitalters. Die Gegner der Zukunft sollen auf allen Ebenen des militärischen Spektrums „dominiert werden“: „Die Dominanz des Spektrums wird das Schlüsselelement sein, das wir für unsere Streitkräfte im 21. Jahrhundert suchen.“11 Weiter wird als Ziel formuliert: „Wir müssen Informationsüberlegenheit haben: die Fähigkeit einen ununterbrochenen Strom von Daten zu sammeln, zu verarbeiten und zu verteilen, während wir die Fähigkeit des Gegners, dies zu tun, ausnutzen oder unterbinden.“ Die Basis dafür bilden:

  • Ein verbessertes C2-Netz, das die Informationsdominanz gewährleistet.
  • Dominante »Manöverfähigkeit« für weit verteilte Verbundkräfte zu Lande, zu Wasser, in der Luft und im Weltraum.
  • Präzisionseinsätze mittels eines »Systems der Systeme«, das eine dynamische Zielerfassung, den Einsatz zielgenauer Waffen und die Schadensbewertung ermöglicht.
  • Die volle Kontrolle und der Schutz des Gefechtsfeldes inkl. einer wirksamen Luft- und Raketenabwehr.
  • Das Zusammenführen der Informations-, Logistik- und Transporttechnologien, um eine schnelle Krisenreaktion zu gewährleisten.

Anfang des Jahres erklärte Präsident Clinton, dass ab dem Haushaltsjahr 2000 die Militärausgaben wieder steigen werden: „Wir wollen, dass unsere Streitkräfte bis ins nächste Jahrhundert die bestausgerüsteten der Welt bleiben.“ Ab dem nächsten Jahr sollen zusätzlich 100 Mrd. $ für die Modernisierung der US-Streitkräfte aufgewendet werden. Erstmals seit der Hochrüstungsphase in den 80er Jahren steigen die Ausgaben damit wieder drastisch an.12 Gründe für diese Trendwende sind der innenpolitische Druck, der Wille zum Erhalt der Einsatzbereitschaft global agierender Interventionsstreitkräfte, die Integration von Hochtechnologien in den Militärapparat (»Revolution in Military Affairs«) und die ehrgeizigen Strategieziele der USA für das 21. Jahrhundert.

Als Beispiel des künftigen amerikanischen Verhaltens könnten die Militärschläge der USA im Mittleren Osten dienen: Nach 1991, 1993 und 1996 flogen die USA Luftangriffe gegen Ziele im Irak. Mitte Dezember 1998 wurden bei der Operation »Wüstenfuchs« in vier Nächten über 400 Tomahawks auf ca. 100 Ziele abfeuert. Zweck war laut Clinton „die nuklearen, chemischen und biologischen Waffenprogramme des Irak und seine militärische Fähigkeit zur Bedrohung seiner Nachbarn anzugreifen.“ Die Angriffe, die mit dem Counterproliferationskonzept der Clinton-Administration durchgeführt wurden, erfolgten ohne UN-Mandat und in einer Situation, in der die UNSCOM-Inspektion nicht mehr entscheidend weiterkam. Ca. 1 Mrd. $ wurden aufgewendet, 600 bis 1.600 Menschen getötet, ohne dass ein nennenswerter politischer Effekt zu verzeichnen wäre. Im Gegenteil: Diese einseitige Aktion nährt die weltweite Befürchtung, dass die USA in Zukunft unilateral auf der Grundlage ihrer militärischen und technologischen Überlegenheit agieren könnten.

Die Strategie globaler militärischer Überlegenheit führt nach Auffassung einiger Beobachter dazu, dass Gegner, die militärisch nicht mehr mit den USA konkurrieren können, sich auf andere Kampfformen verlegen. So rechnet man damit, dass Terroristen B- und C-Waffen einsetzen werden. In den nächsten Jahren sollen ca. 10 Mrd. $ zur Bekämpfung des Terrorismus ausgegeben werden. Das Programm umfasst organisatorische und technologische Maßnahmen sowie den Schutz von Computer- und Informationsnetzwerken.7

Eine wesentliche Triebkraft der US-Projekte ist die Befürchtung, dass Länder, die sich ebenfalls auf Dual-use-Technologien stützen, die USA gefährden könnten. Ziel bleibt die technologische Führerschaft der USA auf wichtigen Gebieten. Neben der Forcierung der Dual-use-Technologien werden fünf Schlüsselfelder der künftigen Kriegführung identifiziert, die Ziel und Motor militärischer und technologischer Anstrengungen sind:

  1. Eine nahezu perfekte Echtzeitkenntnis über den Gegner und deren Weitergabe an alle Teilstreitkräfte.
  2. Der unverzügliche, global abgestimmte Einsatz regionaler Streitkräfte in entscheidenden Kampfhandlungen.
  3. Der Erwerb einer Vielfalt militärischer Fähigkeiten, die für Aktionen am unteren Ende des Spektrums militärischer Operationen taugen und es erlauben, militärische Ziele mit einem Minimum von Verlusten und beiderseitigen Schäden zu erreichen.
  4. Die Kontrolle über die Weltraumnutzung.

5. Maßnahmen gegen die Bedrohung außerhalb der USA stationierter Truppen durch Massenvernichtungswaffen, ballistische Raketen und Marschflugkörper.

Counterproliferation

Vom Pentagon wird zur Begründung der Counterproliferations-Initiative CPI auf das gestiegene Risiko hingewiesen und darauf, dass es US-Truppen in künftigen Konflikten mit Gegnern zu tun haben könnten, die über Massenvernichtungswaffen (MVW) und Trägersysteme verfügen. Die CP-Initiative stellt eine militärische Ergänzung der bisherigen Nichtverbreitungspolitik dar. Die CPI ergänzt Maßnahmen der Prävention durch offensive und defensive »Schutzmaßnahmen«, die in der Verantwortung des Pentagon liegen.

Seit 1993 wurde eine Reihe von Maßnahmen zur institutionellen Absicherung der CPI eingeleitet. Diverse Studien (u.a. von den JCS) wurden angefertigt. Die Verdreifachung des Personals des Non-Proliferation Center (NPC) der US-Geheimdienste wurde beschlossen, um mit Mitteln der militärischen Aufklärung nicht nur Daten über die Proliferation von MVW bereitzustellen, sondern auch die Vorbereitungen militärischer Gegenmaßnahmen zu unterstützen. Ein Komitee identifizierte acht funktionelle Gebiete für die Counter-Proliferation: Nachrichtendienstliche Ermittlungen, Gefechtsfeldaufklärung, passive Verteidigung, aktive Verteidigung, Counterforce-Fähigkeiten, Unterstützung von Inspektionen, Unterstützung der Exportkontrolle und Counter-Terrorismus. Das Komitee schlug Technologieprogramme vor, die für die amerikanischen Nichtverbreitungsbemühungen genutzt werden sollen. Fast 90% der F&E-Gelder fließen dabei in den Bereich der Raketenabwehr.

Die Abwehr
von ballistischen Raketen

Präsident Clinton kündigte Anfang Januar nicht nur eine drastische Erhöhung des US-Rüstungsetats an. Die USA wollen auch etwa 7 Mrd. Dollar (über 11,6 Mrd. DM) zusätzlich zu der mobilen Raketenabwehr (Theater Missile Defense, TMD) in die Entwicklung eines landesweiten Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) im Rahmen des »3Programms« verteilt auf die nächsten 6 Jahre investieren. Bis 2005 sollen damit insgesamt 10,5 Mrd. Dollar für den SDI-Nachfolger NMD ausgegeben werden. Zweck dieses Systems ist die Abwehr von begrenzten oder unautorisierten Angriffen von Raketen aus den Kernwaffenstaaten sowie die Kompensation der angeblich steigenden Bedrohung aus den »Schurkenstaaten«. Eine Stationierungsentscheidung soll im Juni 2000 getroffen werden.

Seit Ronald Reagans SDI-Initiative haben die USA ca. 55 Mrd. Dollar für diverse Raketenabwehrprojekte ausgegeben, bisher ohne sichtbaren Erfolg. 3-4 Mrd. Dollar werden pro Jahr für diese Projekte veranschlagt, ein Drittel für NMD und zwei Drittel für TMD. Bis zum Jahr 2005 sollen die Jahresausgaben für NMD verdreifacht werden. Wenn die in der Entwicklung befindlichen Systeme gebaut werden sollten, dürften die Kosten weiter ansteigen. Für NMD und TMD dürften die USA in den nächsten fünf Jahren an die 30 Mrd. Dollar ausgeben.

Die Clinton-Administration hatte seit 1996 zunächst die Entwicklung der Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen, TMD, vehement gefördert als ihre Vorgänger unter Reagan und Bush, die die Verteidigung des Kontinents ins Zentrum ihrer Politik stellten. Die heutigen Entwicklungsprogramme für diese mobile »Theater Missile Defense« umfassen sowohl die Verbesserung von vorhandenen Systemen als auch die Neuentwicklung von Flächenverteidigungssystemen der Armee und der Navy. Fünf Systeme befinden sich bereits in der Entwicklung. Neben der Verbesserung von radargelenkten Abwehrsystemen, die in niederer Höhe agieren und aus der Luftverteidigung (PATRIOT, MEADS) stammen, befindet sich auch eine Flächenverteidigung in der Entwicklung. Die Systeme THAAD der Army und »Upper Tier« der Navy sollen Raketen in der Mittelphase ihres Fluges durch direkte Treffer abfangen, was ein höchst kompliziertes Unterfangen ist. Mit finanzieller und technischer Unterstützung der USA arbeitet Israel seit 1988 an der ARROW.

Die Clinton-Administration hat bezüglich NMD erklärt, dass die Abfangraketen auf US-Territorium auf 100 Exemplare beschränkt werden, so wie dies der ABM-Vertrag u.a. vorschreibt. Diese Systeme werden eingebunden in ein »Space and Missile Tracking System« SMTS, das aus vorhandenen und noch zu stationierenden Frühwarnsatelliten besteht. Seit 1970 melden die DSP-Satelliten Raketenstarts aus einer geostationären Umlaufbahn. Im Rahmen des neuen »Space-Based Infrared System« SBIRS sollen bis zu 30 Satelliten diese Aufgaben übernehmen. Vier SBIRS-High-Satelliten sollen DSP ersetzen. Ca. 16-24 SBIRS-Low-Satelliten sollen die Verfolgung aus niedrigeren Umlaufbahnen übernehmen. Bodenradars vervollständigen das Warn- und Verfolgungssystem. Die diversen geplanten Systeme sind kombinierbar, sodass durch ihr Zusammenschalten eine umfangreiche globale Abwehrkapazität aufgebaut werden kann. Mit der Errichtung eines funktionierenden NMD-Systems sind die Tage des ABM-Vertrages gezählt. Möglicherweise erfolgt noch eine Nachbesserung, die die Sicherheitsbelange Russlands mit einbezieht; die Weichen für das Ende der klassischen Abschreckung sind jedoch gestellt, wenn massive Abwehrkapazitäten eingeführt werden

Kriegführung
aus dem Weltraum

Regionale und insbesondere globale militärische Operationen können nur im Zusammenhang mit weltraumgestützten Aufklärungs- und Frühwarnsystemen durchgeführt werden. In der »National Security Strategy« von 1997 wird US-Präsident Clinton zitiert: „Wir sind verpflichtet, unsere Führerschaft im Weltraum zu erhalten. Ungestörter Zugang zum und Nutzung des Weltraums ist wesentlich, um Frieden zu erhalten und die nationale Sicherheit der USA ebenso zu schützen wie die zivilen und kommerziellen Interessen.“14 Die Möglichkeiten, moderne Satelliten zur Unterstützung militärischer Operationen einzusetzen, sind von den USA vor allem während des 2. Golfkriegs 1991 demonstriert worden. Er gilt als der erste »Weltraumkrieg«. Die Weiterentwicklung der US-Weltraumsysteme wird seitdem weiter energisch vorangetrieben. Fortschritte bei dem Navigationssystem GPS, der Satellitenkommunikation, den Aufklärungssatelliten und den Anti-Satellitenwaffen sind nötig, wenn die Super- und Weltraummacht das Ziel ihrer »Full-Spectrum«-Dominanz im nächsten Jahrhundert erreichen möchte.15

Kriegführung in Städten
(Urban Warfare)

Nach Militärmeinung werden militärische Bodenoperationen in urbanen Siedlungen und Städten in Zukunft wahrscheinlicher werden: „Das neue Terrain der Megastädte, das ungewohnt für moderne Streitkräfte ist, ist nicht das offene Gelände, auf dem die konventionelle Überlegenheit begründet ist.“16 Das Pentagon hat die Industrie aufgefordert, für »Urban Warfare« geeignete High Tech-Ausrüstung zu entwickeln, u.a. Anti-Scharfschützensysteme, Freund/Feind-Erkennung, Sensoren um Gegner in geschlossenen Räumen und hinter Mauern zu erkennen, Roboter, die in unübersichtliches Gelände und in Häuser vordringen können, nichttödliche Granaten etc.

Kriegführung in küstennahen Bereichen (Littoral Warfare)

Unter »Littoral Warfare« wird die Seekriegsführung in Küstenregionen verstanden: „Die globale Bedrohung hat sich mit dem Ende des Kalten Krieges auf regionale Konflikte und Krisenherde verschoben, die sich überwiegend an den Küsten der Weltmeere abspielen und auf die von See aus eingewirkt werden kann.“17 In Küstennähe finden sich wichtige Wirtschaftszonen, Erdöl- und Erdgasinfrastruktur und Verkehrsadern. Die US-Marine richtet sich darauf technologisch und militärisch eigenständig ein, indem sie dort Präzisionswaffen, Aufklärung, Luftabwehr und den koordinierten Streitkräfteeinsatz vorantreibt. Sie setzt das Konzept der »information superiority« um, in dem alle Sensoren, Führungssysteme und Waffensysteme aller Teilstreitkräfte in einem steuerbaren Einsatzverbund (Network-Centric-Warfare) zusammengefasst werden. Der Verband verfügt über drei Netz-Systeme:18 Das »Informationsnetz« sammelt, verarbeitet und verteilt die Daten, die die Sensoren des »Sensor-Netzes« (land-, luft-, see- und weltraumgestützte Plattformen) aufnehmen. Das »Engagement-Netz« soll zum synchronisierten und präzisen Waffeneinsatz befähigen.

Information Warfare

In vielen militärischen Bereichen werden in den Industrienationen große Fortschritte erwartet; die eigentliche Revolution dürfte aber durch die Integration der einzelnen Systemkomponenten (»systems of systems«) den USA vorbehalten bleiben. Dort wird das angestrebte globale Führungssystem bereits mit C4ISR (Command, Control, Communication, Computers, Intelligence, Surveillance and Reconnaissance) bezeichnet. Nach Aussagen vieler Studien wird die Nutzung dieser Kapazitäten zu einer neuen Art der Kriegführung (»Information Warfare«) und einer Veränderung des Kriegsbildes führen. Computer, Datenverarbeitung und Expertensysteme sind auf dem »Schlachtfeld der Zukunft« überall vorhanden, um die horrenden Mengen von Nachrichten in Form von Daten, Bildern etc. von verschiedensten Sensoren (Satelliten, Flugzeuge, unbemannte Flugkörper) auszuwerten und weiterzuleiten. Von einem Luftwaffenlabor wird beispielsweise ein »Virtual Reality Command and Control (C2) System« entwickelt, das in Minuten eine konkrete Bedrohung analysiert und die Truppen und Flugzeuge für einen Gegenschlag zusammenstellt. Das Zusammenführen und Koppeln solcher Teilsysteme schafft ein globales Aufklärungs- und Reaktionssystem (»System of Systems«), bei dem jedes beliebige Ziel global umgehend aufgeklärt und bekämpft werden soll. Eigene Verluste sollen dabei ebenso minimiert werden wie der Personal- und Materialeinsatz. Dieses Konzept führt weg von teuren, ständig bereitgehaltenen Massenheeren und hin zu einer schlagkräftigen und überlegenen High-Tech-Armee, die sich moderner Informationstechnologien ebenso bedient wie des Weltraums. Die Konsequenzen der Einführung vieler dieser Hochtechnologien für Führung, Streitkräftestrukturen, zivile Infrastrukturen und nicht zuletzt für die internationale Rüstungskontrolle sind jedoch unklar.

Beim »Digital Battlefield Concept« der US-Armee geht es darum, computergestützt eine unmittelbare Verbindung von Aufklärung und kämpfenden Einheiten herzustellen, um so den Einsatzbereich und die Wirkung konventioneller Waffen zu erhöhen. Ein Kommandeur auf dem »Schlachtfeld der Zukunft« soll vollständige Kenntnisse über sämtliche Abläufe in einem Umkreis von 100 km erhalten. Soldaten sollen in das digitalisierte Netzwerk einbezogen werden (»Soldier Systems«). Ein US-Großverband (Force XXI) ist bereits mit Technologien dieser Art ausgerüstet und hält Übungen in der Mojave-Wüste ab.

»Information Warfare« umfasst mindestens sieben Varianten. Elemente des »Command and Control (C2)-Warfare« wurden während des Golfkrieges 1991 angewandt, als es den USA gelang, das C2-Netz der irakischen Armee auszuschalten. Unter »Information-Based Warfare« wird der Bereich der Spionage und Aufklärung ebenso verstanden wie die digitale Vermessung des Terrains eines Gegners durch Satelliten. Der elektronische Kampf (»Electronic Warfare«) ist den direkten Kriegshandlungen zuzurechnen: Sender werden gestört, Sendeanlagen bombardiert. Die »psychologische Kriegführung« versucht die Moral der Bevölkerung zu schwächen. In den Zeiten des Fernsehens und des Internets liegt es nahe, dass diese publikumswirksamen Medien in Zukunft stärker zu Zwecken der psychologischen Einwirkung benutzt werden.19 Über das Eindringen in Computernetze durch Hacker und das Einschleusen von Viren oder »trojanischen Pferden« wird immer wieder berichtet. Geheimdienste machen sich diese Fähigkeiten in gleicher Weise zu nutze –sei es, dass sie sich des Wissens der Hacker bedienen, sei es, dass sie eigene Hacking-Aktionen starten. Die futuristische Variante wird als »Netwar« bzw. »Cyberwar« bezeichnet. Während der Netwar gegen die IT-Strukturen der Zivilgesellschaft (z.B. auch NGOs) gerichtet ist, bezieht sich der Cyberwar auf die IT-Aktivitäten des Gegners. Es wird nicht ausgeschlossen, dass ein Netwar die Wirkung eines Nuklearkrieges erzielen könnte. In diesem Zusammenhang hat die Diskussion um die Frage, wie die Informations-Kriegführung der Zukunft aussehen könnte, weitreichende Bedeutung für Gesellschaften, deren Funktionieren auf der Basis von Informationsinfrastrukturen fußt.

Die Befürchtung, dass neben Hackern, Kriminellen und Geheimdiensten auch Terroristen aktiv werden könnten, zeigt sich in der zunehmenden Aufmerksamkeit, die in den USA dem Thema »cyberterrorism« gewidmet wird. Die USA verfügen allerdings selbst über die Mittel und das Wissen, um in fremde Netze einzudringen: So gelang es amerikanischen Agenten in das interne Computernetz der EU einzudringen und ökonomische und politische Geheimdaten zu kopieren. Im August 1994 wurde der französische Premierminister Balladur Opfer eines Lauschangriffes des US-Lauschsystems Echelon.20 Dem deutschen Windenergieanlagenproduzent Enecon wurden durch eine Abhöraktion der USA die Daten eines Alternativstromverfahrens entwendet.21 Zweck des Abhörsystems der National Security Agency sind nicht nur Informationen im Bereich Terrorismus, Rauschgift und Proliferation, sondern auch zunehmend Wirtschaftsdaten.

Technologien
des 21. Jahrhunderts

Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist wenige hundert Tage entfernt, sodass es fast müßig ist, über die Waffensysteme des nächsten Millenniums zu spekulieren: Sie sind in der Planung. Hält der technologische Fortschritt weiter an, so werden aber auch in den nächsten 20 bis 50 Jahren weitere rüstungsrelevante Technologien entstehen und für militärische Zwecke verwendet.

Nukleare, biologische
und chemische Waffen

Die Potentiale in klassischen Bereichen wie Nuklear- und Hochenergiephysik sind nicht ausgeschöpft. Der Kernteststoppvertrag verbietet zwar die Durchführung von Nukleartestexplosionen, eine Reihe von Experimenten in denen Mikroexplosionen und subkritische Reaktionen eine Rolle spielen sind jedoch erlaubt. Thermonukleare Tests im Laborformat im Rahmen der Trägheitseinschussfusion (ICF) sind in zwölf Ländern geplant. Die leistungsstärksten Anlagen entstehen in den USA (NIF) und in Frankreich (LMJ). Nach Angaben von Kritikern, die diese Anlagen als Substitute für unterirdische Nukleartests ansehen, könnten diese Entwicklungen zu verbesserten, wenn nicht sogar völlig neuen Nuklearwaffen führen.22 Nuklearwaffen der 4. Generation wie miniaturisierte Kernsprengsätze zwischen einer und tausend Tonnen Sprengkraft sind prinzipiell möglich. Sie könnten in Zukunft den Nimbus einer Massenvernichtungswaffe verlieren. Die Einführung von Miniaturbomben auf dem Gefechtsfeld könnte die Kriegführung revolutionieren weil die Feuerkraft konventioneller Waffen verhundertfacht werden würde.

Gerade im Bereich biologischer Forschung werden in den nächsten Jahren sicherheitsrelevante Durchbrüche erwartet. Das Gebiet der Gentechnologie wird nach Expertenmeinung Entwicklungen hervorbringen, die die horizontale und vertikale Weiterverbreitung von neuen B-Waffen vorantreiben. Pathogene und Toxine könnten durch gentechnische Verfahren leichter zu entwickeln oder einzusetzen sein als die bekannten Agenzien.23 Biotechnologische Forschung kann Wirkungsweisen und Funktionen des menschlichen Körpers auf dem Molekularmaßstab soweit identifizieren, dass Angriffsstellen durch spezifische Agenzien offenbart werden. Die Sunday Times vom 15. November 1998 meldete, dass israelische Wissenschaftler eine »ethnische Waffe« entwickelt hätten. Den Wissenschaftlern soll es gelungen sein, Differenzen zwischen den Genen beider Gruppen zu identifizieren und ein genetisch entsprechend modifiziertes Bakterium oder Virus anzusetzen. Eine ethnisch-selektiv wirkende Waffe würde nicht nur eine neue Herausforderung für das B-Waffenübereinkommen bilden, sondern ganz neue Szenarien von der Zerstörung bestimmter Pflanzensorten oder Tiere bis hin zur Vernichtung einzelner Volksgruppen zulassen.

Chemische Agenzien, die Menschen beruhigen oder ruhigstellen sollen, fallen in den Bereich des C-Waffenübereinkommens. Viele der Chemikalien, die sich in Entwicklung befinden, haben einen schwer einzuschätzenden Einfluss auf das menschliche Gehirn und das Nervensystem. Bei den »Weniger tödlichen Waffen« werden Sprays oder Flüssigkeiten untersucht, die Menschen festkleben lassen oder Materialien korrodieren. Auch wenn diese Substanzen zu allererst gegen Materialien eingesetzt werden sollen, sind doch direkte und indirekte Effekte auf den Menschen nicht auszuschließen. In einer Studie über »non-lethal airpower« vertritt ein Psychopharmaka-Experte die Ansicht, dass sich die Drogenforschung auf die Schwelle zu einem neuen Durchbruch zubewegt.

Konventionelle Waffenprinzipien: Laser-Mikrowellen Elektromagnetische Kanonen

Die Nutzung des elektromagnetischen Spektrums für militärische Zwecke zu Nachrichten- und Überwachungszwecken ist nicht neu.24 Die Verwendung gerichteter Energie für Zerstörungszwecke hat jedoch durch das SDI-Programm einen Aufschwung erfahren. In erster Linie werden Laser zur Unterstützung und Erhöhung der Wirkung von konventionellen Waffen auf dem Gefechtsfeld verwandt. Im Rahmen amerikanischer Strategiepläne ist – neben der Anwendung auf dem sog. konventionellen Gefechtsfeld – der Einsatz von Lasern in folgenden Bereichen geplant: nichttödliche Waffen, Counterproliferation, Raketenabwehr, Anti-Satellitenkriegführung. Experimente und Prototypen für Hochenergielaser (HEL) gibt es seit den 70er Jahren. MIRACL ist ein DF-Laser mit einer Leistung von 2,2 MW. Insbesondere die Navy hatte großes Interesse an der Nutzung von Lasern zur Verteidigung von Schiffen gegen anfliegende Anti-Schiffsraketen. Im Rahmen des »Boost Phase Intercept«-Programms betreibt die U.S. Air Force Studien und Experimente zur Abwehr von taktischen Raketen, die von einem luftgestützten Laser (Airborne Laser, ABL) in der Startphase bekämpft werden sollen. In Frankreich und Deutschland werden Experimente und Konzeptionsstudien durchgeführt. Hochenergielaser werden zwar nicht direkt zum Blenden von Menschen gebaut und fallen damit nicht unter das Laserwaffenprotokoll, sie besitzen jedoch die Fähigkeit dazu in besonderer Weise. In einer akuten Kampfsituation kann nicht ausgeschlossen werden, dass Antisensorlaser auch gegen Menschen eingesetzt werden.

Mikrowellen sind elektromagnetische Strahlen zwischen 0,3-300 GHz. Sie können die Atmosphäre durchdringen und sind damit auch bei schlechter Sicht wirksam. Mikrowellenwaffen werden u.a. entwickelt um elektronische Bauelemente außer Gefecht zu setzen. Mikrowellen können auch durch Blitzentladungen oder Nuklearexplosionen in großen Höhen (NEMP) entstehen. NEMP-Effekte werden heute auch mit konventionellen Mitteln (High Power Microwave, HPM) erzeugt. Eine HPM-Waffe besteht aus einer Energiequelle, einem HPM-Generator und einer Antenne, die die Strahlung gerichtet abgibt. Eine nicht-nukleare EMP-Granate wurde entwickelt. Bei dem »Flux Compression Generator« (FCG)-Design wird durch eine Explosion ein EMP erzeugt, der einem Gewitter-Blitz ähnelt und elektronische Ausrüstung außer Gefecht setzen soll. Es werden verschiedene militärische Anwendungen von Mikrowellen in Betracht gezogen: gegen Menschen (als »nicht-tödliche«-Waffe), gegen Artillerie, zum Selbstschutz von Flugzeugen und Schiffen gegen Flugkörper, gegen C2-Zentralen und anfliegende Raketen.

Elektromagnetische Kanonen (EMK) sind Vorrichtungen, in denen Projektile elektromagnetisch beschleunigt werden. Ihr Vorteil besteht nach Meinung der Militärs in der höheren Mündungsgeschwindigkeit, die bei herkömmlichen Rohrwaffen aufgrund der begrenzten Ausbreitungsgeschwindigkeit der Treibgase beschränkt ist. Die USA unternehmen die größten Anstrengungen bei F&E von EMKs, aber auch in Russland, Europa, Japan und Israel werden EMKs entwickelt und erprobt.

An weiteren, inhumanen neuen Waffen wird geforscht, so z.B. Waffen mit kleinem Kaliber, nichtexplodierte Submunition, Seeminen und diverse nichttödliche Waffen (z.B. Infrasound). Ein großes Problem wird in der Verwendung von Submunition gesehen, die von mehreren Ländern hergestellt und exportiert wird. Submunition in Form von Bomblets wird durch Flugzeuge, Helikopter oder Raketen ausgebracht. In den Bomblets kann ein breites Spektrum von Munition (Explosivstoffe, Brandstoffe, Schrapnellmunition oder Hohlladungen) untergebracht werden. Clustermunition wird heute in Massenproduktion hergestellt. Diese Munition hat die Wirkung von Flächenzerstörungswaffen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass ein Teil der Munition nicht wie gewünscht funktioniert, sondern zunächst liegenbleibt bis sie z.B. bei Berührung detoniert. Die Munition kann wie eine scharfe Mine tage- oder wochenlang aktiv bleiben. Sie stellt eine ständige Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Es gilt als sicher, dass die russische Armee Clustermunition im Kampf um Tschetschenien eingesetzt hat. »Fuel Air Explosives« sind Flächenwaffen, bei denen ein Brennstoff-Luftgemisch zur Explosion gebracht wird. Diese Druckwellenwaffen wurden im Vietnam-Krieg, in Afghanistan und im 2. Golfkrieg eingesetzt. Sie sind besonders grausam und wirken auf Flächen, die auch von Nuklearwaffen mit geringer Sprengkraft abgedeckt werden.

Mikroelektromechanische Systeme und Miniflügler

Die fortschreitende Miniaturisierung von Waffen könnte durch Forschungen auf dem Gebiet der Mikrotechnik und der Nanotechnologie erneuten Auftrieb erhalten. Während die Mikroelektronik immer leistungsfähigere elektronische Bausteine herstellt, beschäftigt sich die Mikrotechnik mit Miniaturisierung und Integration von mechanischen, optischen und elektronischen Elementen. Die Technologie der mikroelektromechanischen Systeme (MEMS) soll am Anfang des neuen Jahrhunderts einen Markt mit einem Volumen von 15 Mrd. US-Dollar erschließen.25 Dabei entstehen Kleinstelemente wie Mikromotoren oder Mikrosensoren bzw. -aktoren, die z.B. dazu verwandt werden, kleinste Flugmodelle oder Mini-U-Boote zu entwickeln. Die kalifornische Firma Aerovironment hat das erste »Micro Air Vehicle« (MAV) gebaut.26 Die Forschungen werden von der DARPA finanziert. Die MAVs sollen als nicht wiederverwendbare Aufklärungs- und Sensordrohnen auf dem Gefechtsfeld der Zukunft zum Einsatz kommen. Es ist vorstellbar, dass diese Flugkörper auch mit Sprengstoff beladen werden können. Als Einsatzgebiete werden Aufklärung in unübersichtlichem Gelände, in Städten, bei Reaktorunfällen und Terrorismusbekämpfung genannt. Der »Entomopter« ist eine Art Robotermücke mit künstlichen Flügeln. In Japan sind Wissenschaftler damit beschäftigt, elektronisch kontrollierte Insekten zu entwickeln. Mit einer Kamera ausgestattet sollen sie angeblich bei der Suche nach Erdbebenopfern helfen.

Während die Mikrotechnologie sich noch in voller Entfaltung befindet, kündigt sich im Bereich der Grundlagenforschung bereits das neue Gebiet der Nanotechnologie an.

Darunter versteht man das Studium und die Kontrolle von Objekten im Nanobereich, also auf der Ebene von Atomen und Molekülen. Erste Ideen dazu stammen von dem Physiker Richard Feyman aus dem Jahre 1959. Ein Aspekt der neuen Nanowelt wäre es, Molekülcluster zu bauen, die selbständig Moleküle aus ihrer Umgebung aufnehmen und sich selbst fortpflanzen. Die Nano-Systeme könnten sich wie Lebewesen organisieren und z.B. zur Zerstörung von Krankheitserregern oder zur Beseitigung von Schadstoffen in der Umwelt, aber auch für neue tödliche Substanzen benutzt werden.

Nanotechnologie hat längst das Interesse des Pentagon geweckt. So wird der ehemalige Vice-Chairman der JCS, David E. Jeremiah, mit den Worten zitiert: „Die militärischen Anwendungen der molekularen Produktion haben noch stärker als die Kernwaffen das Potential, das Kräftegleichgewicht grundlegend zu verändern.“27 Das notorische Streben nach der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Kriegführung wird auch im nächsten Jahrhundert anhalten.

Lems Buch schließt mit dem Satz: „Nebenbei bemerkt wurde die Unmöglichkeit, zu Abrüstungsabkommen zu gelangen, damals mathematisch nachgewiesen. Ich sah eine mathematische Formel der sogenannten Konflikttheorie, die zeigte, warum die Verhandlungen keine guten Resultate erbringen konnten. Auf Abrüstungskonferenzen fallen bestimmte Entscheidungen. Wenn die Zeit für eine dem Frieden dienende Entscheidung länger ist als die Entscheidungszeit für solche militärischen Innovationen, die den diesen Entscheidungen unterliegenden Stand radikal verändern, wird jede Entscheidung im Augenblick, da sie getroffen wird – zum Anachronismus.“
Hoffen wir, dass Lems düstere Vision im 21. Jahrhundert Science Fiction bleibt.

Dr. Götz Neuneck ist Physiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

zum Anfang | Menschenrechte und Friedensprozesse

von Gert Sommer

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 12.12.1948, ist ein bedeutsames Dokument der Menschheitsgeschichte: Darin hat sich eine große Anzahl der damals in den Vereinten Nationen vertretenen Länder auf einen erstaunlich umfassenden Katalog von unveräußerlichen Menschenrechten geeinigt.

Was sind Menschenrechte?

Zu den Menschenrechten gehört nicht nur das grundlegende Recht auf Leben, sondern auch weitere bürgerliche und politische Rechte wie z.B. Verbot von grausamer Behandlung und Folter, Asylrecht, Meinungs- und Informationsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Dazu gehören zudem die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte wie z.B. Recht auf Arbeit, Schutz gegen Arbeitslosigkeit, Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung (u.a. Nahrung, Wohnung), Recht auf Bildung.

Die Vereinten Nationen haben 1989 zusätzlich eine Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet. Darin werden – als Ergänzung und Präzisierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – anspruchsvolle Ziele für Lebensbedingungen von Minderjährigen gesetzt, u.a. Recht auf Leben, auf gesunde körperliche und geistige Entwicklung, auf Bildung, ausreichende Ernährung, menschenwürdige Wohnverhältnisse und medizinische Versorgung sowie Recht auf Schutz vor Diskriminierung, Misshandlung, Vernachlässigung und Ausbeutung (Grant, 1991). In der Konvention wird auch die große Bedeutung der Massenmedien angesprochen. Danach soll sichergestellt werden, dass das Kind insbesondere Zugang zu solchen Informationen und Materialien hat, die die Förderung seines sozialen, seelischen und sittlichen Wohlergehens sowie seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel haben. Ergänzend sollen geeignete Richtlinien erarbeitet werden zum Schutz des Kindes vor Informationen und Materialien, die sein Wohlergehen beeinträchtigen.

Mit der Konvention des Kindes werden international zum ersten Mal – für die Ratifizierungsstaaten verbindlich – politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechtsansprüche für Kinder ausformuliert. Dies ist von großer Bedeutung, weil Kinder besonders schutzbedürftig sind, ihre eigenen Interessen bisher im politischen und gesellschaftlichen Alltag aber kaum durchsetzen konnten.

Die Menschenrechte müssen – da sie eine soziale Konstruktion und somit zeitabhängig sind – gemäß dem Bewusstsein und der Bedürfnisse der Menschheit weiterentwickelt werden. Dementsprechend wird seit einigen Jahren in den Vereinten Nationen über eine sogenannte dritte Generation der Menschenrechte diskutiert. Darin geht es insbesondere um das Recht auf Frieden, das Recht auf Entwicklung und das Recht auf eine gesunde Umwelt. Zum Recht auf Entwicklung etwa hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen 1986 eine Resolution angenommen, die folgende zentralen Aussagen enthält (vgl. Tetzlaff, 1993):

  1. Das Recht auf Entwicklung ist ein unveräußerliches Menschenrecht kraft dessen alle Menschen und Völker Anspruch darauf haben, an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung teilzuhaben, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können.
  2. Der Mensch ist zentrales Subjekt der Entwicklung und sollte aktiver Träger und Nutznießer des Rechts auf Entwicklung sein.
  3. Die Staaten haben die Pflicht, einzeln und gemeinschaftlich Maßnahmen zu internationalen Entwicklungspolitiken zu ergreifen, die darauf gerichtet sind, die volle Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung zu erleichtern.

Die verschiedenen Menschenrechtsarten haben hinsichtlich ihrer politischen Forderungen unterschiedliche Richtungen: Die bürgerlichen und politischen Rechte sind in erster Linie Schutzrechte des Individuums gegenüber der Staatsmacht sowie Teilhaberechte der Bürger an der politischen Willensbildung; die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sind primär Forderungen an den Staat zur Sicherung einer menschenwürdigen materiellen Existenz sowie des Rechts auf Bildung und Kultur; die Menschenrechte der dritten Generation schließlich sind Forderungen einzelner Staaten an andere Staaten bzw. die Staatengemeinschaft.

Die zunächst unverbindliche Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekam eine größere völkerrechtliche Verbindlichkeit durch die zwei Menschenrechtspakte des Jahres 1966, die inhaltlich weitgehend mit der Allgemeinen Erklärung übereinstimmen (Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte).

Insbesondere im Zusammenhang mit diesen Zwillingspakten von 1966, die bisher von etwa 110 Staaten unterschrieben und ratifiziert wurden, hat sich das Verständnis des Völkerrechts entscheidend verändert: Wenn ein Staat Menschenrechte verletzt oder in seinen Grenzen die Verletzung von Menschenrechten zulässt, dann können andere Staaten es als legitim ansehen, sich in dessen innere Angelegenheiten einzumischen. Menschenrechte und ihre Verletzungen werden also nicht mehr ausschließlich als innerstaatliche Angelegenheiten angesehen. Somit ist das Ziel der Vereinten Nationen nicht nur die Wahrung des internationalen Friedens, sondern auch die Verwirklichung friedlicher innerstaatlicher Lebensbedingungen.

Politische und ideologische Bedeutung von Menschenrechten

Die von den Vereinten Nationen verabschiedeten Menschenrechte sind inhaltlich so umfangreich, dass ihre Verwirklichung wohl nie erreicht werden wird, sondern immer nur angestrebt werden kann. Entsprechend formuliert die Präambel der Allgemeinen Erklärung die Menschenrechte als „… das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal.“ Alle Staaten verletzen Menschenrechte. Dies gilt auch für westliche Staaten, z.B. Deutschland, Frankreich und die USA, die in ihrem Selbstverständnis – von den Regierenden bis zur Bevölkerung – meist von der Realisierung der Menschenrechte in ihren Ländern ausgehen. Menschenrechtsverletzungen westlicher Staaten betreffen insbesondere die folgenden Rechte: Verbot der Diskriminierung (z.B. gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, aber auch gegenüber Frauen), Asylrecht, Schutz vor Arbeitslosigkeit (z.B. gibt es derzeit allein in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, ca. 6 Millionen Arbeitslose), Recht auf soziale Sicherheit (in den USA z.B. leiden ca. 20 Millionen Menschen unter Hunger); Selbstbestimmungsrecht aller Völker, deren freie Verfügung über ihre natürlichen Reichtümer (verletzt wurde dieses Recht durch direkte militärische Interventionen und »verdeckte« Operationen im Sinne der »Kriegsführung niedriger Intensität«, z.B. durch die USA u.a. in Chile, Grenada und Nicaragua, vgl. Hippler, 1987, Kempf, 1991). Hinzu kommt eine Vielzahl indirekter Verletzungen von Menschenrechten durch westliche Staaten, z.B. durch die politische und organisatorische Unterstützung von Regierungen und Gruppierungen, die bürgerliche und/oder wirtschaftliche Menschenrechte systematisch verletzen; durch Export von Rüstungsgütern oder anderen relevanten Materialien, die in Kriegen oder zur Unterdrückung der innerstaatlichen Opposition eingesetzt werden; durch die immensen Militärausgaben mit ihren weltweit negativen Folgen für die Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte; durch strukturelle Verletzungen von (wirtschaftlichen) Menschenrechten aufgrund des derzeitigen Weltwirtschaftssystems: Die Auflagen des stark von den Interessen der führenden Industrienationen beeinflussten Internationalen Währungsfonds z.B. führen in aller Regel zu einer erheblichen Verschlechterung der sozialen Lage der Bevölkerung in den Ländern der sog. Dritten Welt; durch Bedrohung der menschlichen Lebensgrundlagen aufgrund der Gefährdung des ökologischen Systems der Erde, u.a. aufgrund des Lebensstils in westlichen Staaten: So verbrauchen z.B. die Industriestaaten – etwa 25% der Weltbevölkerung – über 80% der Energie.

Da – aufgrund des hohen Standards der Menschenrechte insgesamt – alle Staaten der Erde permanent Menschenrechte verletzen bzw. nicht erfüllen, ist somit die Kritik einzelner Staaten an anderen Staaten bezüglich Menschenrechtsverletzungen immer auch ein bewusster politischer Akt, häufig auch ein politisches Kampfmittel. Das Thema Menschenrechte erhält dadurch eine starke ideologische Färbung, es wird politisch instrumentalisiert. Eine zentrale Frage ist: Wer (welche Politiker und Regierungen) kritisiert wen bezüglich welcher Menschenrechtsverletzungen und welche expliziten und impliziten Ziele verfolgt er hiermit? Und dazu ergänzend: Wer kritisiert wen nicht bei Menschenrechtsverletzungen und warum unterlässt er dies?

Die ideologische Funktion des Umgangs mit Menschenrechten war besonders ausgeprägt im Ost-West-Konflikt, bei dem ein wesentlicher Inhalt der Feindbildproduktion darin bestand, dass der Westen dem Osten immer wieder und pauschal Menschenrechtsverletzungen bzw. Verletzung der bürgerlich-politischen Menschenrechte vorwarf (vgl. Sommer, 1992); der Osten seinerseits hielt entsprechend dem Westen Verletzungen der wirtschaftlichen Menschenrechte vor, beide Seiten haben somit auf ihre jeweilige Art die Menschenrechte »halbiert« und damit entwürdigt. Ein Beispiel des Westens möge dies illustrieren. Die Drangsalierungen von BürgerrechtlerInnen durch die sowjetische Staatsmacht wurden als Menschenrechtsverletzungen im Westen breit und intensiv thematisiert. Nicht annähernd so intensiv werden andere Menschenrechtsverletzungen behandelt, z.B. der tägliche Hungertod tausender Kinder in Afrika oder die systematische Ermordung von Straßenkindern in Brasilien oder Folterungen bei Polizeiverhören und die Unterdrückung der kurdischen Kultur in der Türkei oder die hohe Arbeitslosigkeit in den führenden westlichen Industriestaaten.

Menschenrechtsverletzungen werden bevorzugt anderen Staaten vorgehalten, insbesondere solchen, die einem anderen politischen, wirtschaftlichen, militärischen oder religiösen System angehören. Die Kritik an bestimmten Staaten und die damit begründeten Konsequenzen scheinen somit häufig eher von politischer Opportunität als von berechtigter Sorge um das Wohl der Bevölkerung geleitet. Durch das Betonen genehmer und das Leugnen oder Herabsetzen nicht genehmer Menschenrechte wird impliziert und suggeriert, der eigene Staat bzw. die eigene Staatenorganisation sei der wahre Hüter »der« Menschenrechte, es wird damit zur persönlichen und staatlichen Selbstwerterhöhung und zur Stabilisierung des eigenen gesellschaftlichen Systems beigetragen.

Menschenrechte und Frieden

Die Menschenrechte können als inhaltliche Ausgestaltung eines positiven Friedensbegriffs dienen.

Ein positives Friedenskonzept inhaltlich zu entfalten ist von großer Bedeutung, da der negative Friedensbegriff Frieden lediglich als Abwesenheit von Krieg definiert. So notwendig es auch ist Kriege zu vermeiden, so ist ihre Abwesenheit allein sicherlich keine hinreichende Bedingung für ein friedliches Leben. Die Menschenrechte dagegen bieten eine hervorragende Basis, Frieden positiv zu konzipieren, da sie zentrale politische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Inhalte benennen. Zudem genießen sie – zumindest auf dem Papier, in Verträgen und in politischen Verlautbarungen – mehrheitlichen Konsens der in den Vereinten Nationen vertretenen Länder (vgl. Kühnhardt, 1991). Eine wichtige Aufgabe der Vereinten Nationen besteht darin, die Menschenrechte entsprechend den Erkenntnissen und dem Bewusstsein der Menschheit weiter zu entwickeln und die bisher bereits benannten Menschenrechte in ihrer Dialektik und in ihrem wechselseitigen Bedingungsgefüge zu erkennen. Eine wichtige Voraussetzung für die Wirksamkeit der Menschenrechte besteht darin, dass die Menschen sie kennen und dass die Bevölkerung in jedem Land ihre möglichst weitgehende Realisierung anstrebt.

Die Verwirklichung der Menschenrechte sollte als zentrales Ziel jeglicher Politik angesehen werden.

Da die Vereinten Nationen als Gesamtorganisation den Menschenrechten eine große Bedeutung beimessen, haben sie eine Reihe von Sonderorganisationen eingesetzt, die sich mit der Verwirklichung einzelner Menschenrechte befassen: Internationale Arbeitsorganisation (ILO), Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) und Weltgesundheitsorganisation (WHO). Als wichtiger Gegenstand der Friedenswissenschaften muss die Analyse der Verwirklichung von Menschenrechten und der Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Ländern und Staatengruppen angesehen werden. Zusätzlich sind die politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen zu analysieren, die eine Realisierung von Menschenrechten fördern oder behindern. Ergänzend dazu sind die Bedingungen zu analysieren, die Menschenrechtsverletzungen verhindern oder wahrscheinlich machen.

Aufgrund vieler Untersuchungen der Friedenswissenschaften können einige Bildungsziele benannt werden, die auf der individuellen Ebene ein friedliches Zusammenleben und eine Realisierung von Menschenrechten wahrscheinlicher machen. Dazu gehören insbesondere: Empathie, d.h. das Sich-Hineinversetzen in den Mitmenschen; gewaltfreie Austragung von Konflikten; Übernahme von Verantwortung; Zivilcourage; Abbau von Vorurteilen und Feindbildern.

Die politische Instrumentalisierung von Menschenrechten sollte beendet werden.

Verletzungen bestimmter Menschenrechte durch einzelne Länder werden von anderen Staaten nicht nur immer häufiger zum Anlass für Kritik an den Verletzerstaaten genommen, sondern auch für Zwangsmaßnahmen bis hin zum Krieg (auch beim zweiten Golfkrieg spielte das Thema Menschenrechtsverletzungen in der politischen Argumentation eine große Rolle). Menschenrechtsverletzungen werden somit auch zur Rechtfertigung für militärische Interventionen genutzt, nicht selten auch missbraucht. Auch die Kritik an Staaten, die bestimmte Menschenrechte verletzen, ist häufig primär von politischer Opportunität geleitet und weniger von berechtigter Sorge um das Wohl von Menschen. Somit bleiben Analysen der politischen Instrumentalisierung von Menschenrechten (vgl. Ostermann & Nicklas, 1979) ein wichtiges Thema.

Literatur:

Beck-Texte (1992): Menschenrechte, München, Beck.

Grant, James, P. (Hrsg.)(1991): Zur Situation der Kinder in der Welt, Köln, Deutsches Komitee für UNICEF.

Hippler, Jochen (1987): Low-Intensity Warfare – Konzeption und Probleme einer US-Strategie für die Dritte Welt, Essen, Arbeitspapier des Instituts für Internationale Politik.

Kempf, Wilhelm (1991): Verdeckte Gewalt – Psychosoziale Folgen der Kriegsführung niedriger Intensität in Zentralamerika, Hamburg, Argument-Verlag.

Kühnhardt, Ludger (1991): Die Universität der Menschenrechte, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.

Sommer, Gert & Zinn, Jörg (1993): Halbierte Menschenrechte – Wissen, Einstellungen und Darstellungen des Themas »Menschenrechte« in Deutschland, Wissenschaft und Frieden 3/93, 32-54.

Sommer, Gert, Becker, Johannes, Rehbein, Klaus & Zimmermann, Rüdiger (Hrsg.) (1992): Feindbilder im Dienste der Aufrüstung, Marburg, Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung, 3. Auflage.

Tetzlaff, Rainer (Hrsg.) (1993): Menschenrechte und Entwicklung, Bonn, Stiftung Entwicklung und Frieden.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie an der Philipps-Universität Marburg, Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender der Friedensinitiative Psychologie – Psychosoziale Berufe

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
(Kurze Zusammenfassung)

Bürgerliche und politische Rechte

  1. Menschen sind frei und gleich geboren;
  2. universeller Anspruch auf Menschenrechte, Verbot der Diskriminierung nach Rasse, Geschlecht, Religion, politischer Überzeugung usw.;
  3. Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit;
  4. Verbot von Sklaverei;
  5. Verbot von Folter und grausamer Behandlung;
  6. Anerkennung des Einzelnen als Rechtsperson;
  7. Gleichheit vor dem Gesetz;
  8. Anspruch auf Rechtsschutz;
  9. Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Ausweisung;
  10. Anspruch auf unparteiisches Gerichtsverfahren;
  11. Unschuldsvermutung bis zu rechtskräftiger Verurteilung, Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen;
  12. Schutz der Freiheitssphäre (Privatleben, Post) des Einzelnen;
  13. Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit;
  14. Asylrecht;
  15. Recht auf Staatsangehörigkeit;
  16. Freiheit der Eheschließung, Schutz der Familie;
  17. Recht auf individuelles oder gemeinschaftliches Eigentum;
  18. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit;
  19. Meinungs- und Informationsfreiheit;
  20. Versammlungs- und Vereinsfreiheit;
  21. Allgemeines gleiches Wahlrecht.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

  1. Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte;
  2. Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, befriedigende Arbeitsbedingungen; Schutz vor Arbeitslosigkeit; Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, angemessene Entlohnung, Berufsvereinigungen;
  3. Anspruch auf Erholung, Freizeit und Urlaub;
  4. Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung, Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und sozialer Fürsorge;
  5. Recht auf Bildung, Elternrecht; Entfaltung der Persönlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Freundschaft zwischen den Nationen als Bildungsziele;
  6. Recht auf Teilnahme am Kulturleben;
  7. Recht auf eine soziale und internationale Ordnung, die die Rechte verwirklicht;
  8. Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, Beschränkungen mit Rücksicht auf Rechte anderer;
  9. Absoluter Schutz der in diesen Menschenrechten angeführten Rechte.

zum Anfang | Zivile Konfliktbearbeitung

von Christine Schweitzer

Innergesellschaftlich wie international bedroht Gewalt nicht nur Menschenleben, sondern stellt letztlich die Zukunft der betroffenen Gesellschaften – und angesichts moderner Massenvernichtungswaffen ganzer Weltregionen – in Frage. In den letzten zehn Jahren ist das Bewusstsein dafÜr gewachsen, dass Gewalt keine LÖsung eines Konfliktes schafft und keinen Raum fÜr einen Interessenausgleich lÄsst. Die kurzzeitige Befriedung eines Konfliktes mit Waffengewalt fÜhrt in aller Regel zu seinem spÄteren Wiederausbruch – oftmals unter weit destruktiveren Vorzeichen. Außerdem stellt sie ein Paradoxum dar: MilitÄrische Interventionen, die (vorgeblich) zum Schutz von Menschenrechten durchgefÜhrt werden, verletzen massiv eines der grundlegendsten Menschenrechte, das Recht auf Leben und Sicherheit.

Deshalb ist mit der Zivilen Konfliktbearbeitung zu den klassischen friedenspolitischen Themen der AbrÜstung und der internationalen Sicherheit ein neues Themenspektrum dazugekommen. Zugegeben: Mit wenigen Ausnahmen geht es nicht um wirklich neue Instrumente von Friedenssicherung und GewaltprÄvention. Mediation, diplomatische BemÜhungen um PrÄvention, »gute Dienste«, second-track-Diplomacy, ziviles Peacekeeping, aktiver Menschenrechtsschutz und der ganze Bereich des Peacebuilding, um nur einige Stichworte zu nennen, wurden nicht erst in den neunziger Jahren erfunden.28 Was neu ist, ist die Zusammenfassung dieser Instrumente unter den Sammelbegriff der Zivilen Konfliktbearbeitung29 und vor allem die Entwicklung und Ausformulierung von Ziviler Konfliktbearbeitung als politischer Alternative zu den etablierten Vorgehensweisen der Politik.

Zivile Konfliktbearbeitung hat hierbei eine zweifache Funktion: Zum einen ist sie wesentlicher Inhalt dessen, was mit »Zivilisierung von Außenpolitik« gemeint ist. Dabei stellt sie nicht nur eine an die Staatenwelt gerichtete Forderung dar, sondern ist auch ein Arbeitsfeld wachsender Bedeutung der zivilen Gesellschaft in vielen europÄischen LÄndern, deren Organisationen (NGOs) an der qualitativen wie quantitativen Entwicklung von Projekten ziviler Intervention in gewaltfÖrmige Konflikte arbeiten. Zum anderen spielen Verfahren der Zivilen Konfliktbearbeitung eine wachsende Rolle bei dem Versuch, der zunehmenden Gewalt und Entmenschlichung der modernen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen und Menschen zu befÄhigen, ihre Konflikte ohne Anwendung von Gewalt zu lÖsen.

Überblick Über einige
Aufgaben und Verfahren
Ziviler Konfliktbearbeitung

Konflikte sind nicht nur unvermeidlich, sondern sie sind auch notwendig, so sehr oftmals danach gestrebt wird, sie zu vermeiden oder ihr Vorhandensein zu leugnen. Problematisch ist nicht der Konflikt, sondern die Form seiner Austragung, sprich das ZurÜckgreifen auf Gewalt zur Durchsetzung von Interessen.

Zivile Konfliktbearbeitung zielt primÄr darauf

  • zu verhindern, dass Konflikte zu gewaltfÖrmigen Konflikten (z.B. Krieg) eskalieren (GewaltprÄvention) und
  • bereits zur Gewalt eskalierte Konflikte so zu deeskalieren, dass der Konfliktinhalt bearbeitet und eine fÜr alle Seiten befriedigende Regelung gefunden werden kann.

Zivile Konfliktbearbeitung stellt ein AktivitÄtsfeld dar, das in praktisch allen gesellschaftlichen Bereichen zu finden ist. Dabei sind Abgrenzungen zwischen eigentlicher Konfliktbearbeitung und der GewaltprÄvention (einschließlich Erziehung zu Toleranz und Demokratie) nur schwer vorzunehmen, da diese Bereiche ineinander Übergehen.

Mediation

Eines der wichtigsten Verfahren der Konfliktbearbeitung ist die Konfliktmediation. Mediation ist eine Verhandlungsmethode, bei der eine externe Partei den Konfliktparteien dabei hilft, eine LÖsung ihres Konfliktes auszuarbeiten. Im Unterschied zu herkÖmmlichen Verhandlungstechniken verzichtet der Mediator/die Mediatorin darauf, eigene LÖsungsvorschlÄge einzubringen oder gar durch die Anwendung von Machtmitteln zu erzwingen.30 Anwendungsbereiche der Mediation gehen von Familien- und Scheidungsmediation Über Konfliktlotsenprojekte an Schulen, Nachbarschaftsmediation (Konflikte im Stadtteil) und TÄter-Opfer-Ausgleich (Wiedergutmachung statt Strafe bei strafrechtlichen Delikten) bis hin zur politischen Mediation in Umweltkonflikten (innergesellschaftlich) und im internationalen Feld (z.B. waren die Osloer VertrÄge zwischen Israel und PalÄstina Ergebnisse solcher Mediation).

Allerdings sollten hier zwei einschrÄnkende Warnungen nicht fehlen: Innergesellschaftlich darf die FÖrderung von Mediationsverfahren nicht dazu fÜhren, dass Individuen in ihrer FÄhigkeit, Konflikte selbst zu lÖsen, eingeschrÄnkt werden und sich zum Hausarzt, Handwerker und Anwalt ein Dienstleister hinzugesellt, der bei Problemen in Anspruch genommen wird. Im Gegenteil muss es Ziel sein, Kompetenzen der Konfliktbearbeitung so weiterzuentwickeln, dass nur im Äußersten Notfalle auf eine externe Partei zurÜckgegriffen werden muss.

Im internationalen Feld spricht die bisherige Erfahrung dafÜr, dass Mediation nicht in jedem Konfliktfall erfolgreich angewendet werden kann (s. die Studien von Bercovitch). Je mehr Opfer ein Konflikt bereits zu beklagen hatte und je schwerwiegender und langanhaltender die Differenzen sind, umso schwieriger scheint es, eine VerhandlungslÖsung zu finden. Aufgabe der internationalen Politik ist es in einem solchen Fall, die Rahmenbedingungen so zu verÄndern, dass eine Bereitschaft der Konfliktparteien, eine LÖsung zu erarbeiten, hergestellt wird. Sanktionen negativer wie positiver Art mÖgen ein Weg hierzu sein, wenngleich man bei ihnen aus friedenspolitischer Sicht sehr darauf achten sollte, ob sie angemessen sind und gezielt »die Richtigen« treffen. Sehr oft wurden gerade in den vergangenen Jahren massive Sanktionen bis hin zu totalen Embargos verhÄngt, die die BevÖlkerung trafen und die FÜhrung, die eigentlich gemeint war, stÄrkten.

GewaltprÄvention

Sehr unterschiedliche Projekte und Maßnahmen kÖnnen unter dem Stichwort der GewaltprÄvention zusammengefasst werden. In Schule und Jugendarbeit, in der Stadtteil-Sozialarbeit, bei Fanprojekten, in der Antifaschismus- und der Antirassismusarbeit und bei Frauenprojekten finden sich Anwendungsbereiche. Im internationalen Bereich geht es in erster Linie um die Verhinderung von Eskalation durch rechtzeitiges diplomatisches Intervenieren und um vertrauensbildende Maßnahmen auf allen gesellschaftlichen Ebenen, um insbesondere ethnische und religiÖse Konflikte zu entschÄrfen.

Zur PrÄvention im internationalen Bereich hat in den letzten Jahren eine intensive Diskussion stattgefunden, die sich u.a. im KSZE-Prozess niedergeschlagen hat. Doch trotz dieser im Kontext von KSZE/OSZE geschaffenen Institutionen und trotz der ungeheuren Menge an grundsÄtzlich verfÜgbarer Information Über praktisch alle Regionen der Erde (ob sie wirklich genutzt werden ist eine andere Frage), hat die Zahl bewaffneter Konflikte nicht abgenommen. Daraus kann gefolgert werden, dass nicht FrÜhwarnung, sondern frÜhes Handeln (»Early Action«) das Problem ist. Und in der Tat liegen hier die Schwierigkeiten: Ressourcenknappheit (personell wie finanziell), vorgebliche SachzwÄnge und die kurzen und auf Gewalt fixierten Aufmerksamkeitsspannen der Öffentlichkeit wie der Politik verhindern oft rechtzeitiges Handeln. Dies gilt insbesondere wenn der sich androhende Konflikt außerhalb der primÄren InteressensphÄren der WeltmÄchte liegt. (Damit soll nicht gesagt werden, dass NGOs hier besser abschneiden als die Politik: Das Diktat der Öffentlichkeit und der Ressourcenallokation trifft sie in aller Regel noch mehr als die Staaten.)

Zivile und gewaltfreie Interventionen in Krisen und Krieg

Ist ein internationaler oder ethno-nationaler Konflikt bereits eskaliert, erfordert seine umfassende Bearbeitung, dass mehrere Aufgaben gleichzeitig angegangen werden. Es gilt, die Gewalt zu deeskalieren, die Konfliktinhalte zu bearbeiten und die zugrundeliegenden Strukturen, Denk- und Verhaltensweisen so zu verÄndern, dass Frieden wieder mÖglich wird. Das heißt, dass die Strategien der Friedensbewahrung (Peacekeeping), Friedensschaffung (Peacemaking) und der Friedenskonsolidierung (Peacebuilding) kombiniert angewendet werden.31

Es wird sehr viel Über zivile Interventionen diskutiert, aber es gibt wenig wirklich fundierte Studien zu diesem Bereich. Die Verwirrung beginnt schon mit der Frage des Begriffes. Wenn »zivil« als Gegensatz zu »militÄrisch« verstanden wird, dann sind natÜrlich alle Interventionen zivil, bei denen kein MilitÄr eingesetzt wird (siehe z.B. Muller 1995). Dies ist als Definition brauchbar, aber wird dann problematisch, wenn – zumindest implizit – unterstellt oder assoziiert wird, dies bedeute auch, die entsprechende Intervention sei deshalb »gewaltlos«.

Zum Beispiel figurieren Sanktionen gewÖhnlich in der Liste von Instrumentarien »ziviler Intervention« an hervorgehobener Stelle und gelten oft als der »am wenigsten gewalttÄtige« Weg.32 Ich mÖchte demgegenÜber die Position vertreten, dass Sanktionen sehr gewaltsam sein kÖnnen und ihre Auswirkungen Ähnlich schlimm oder schlimmer als die individueller militÄrischer Aktionen. Man denke an das Beispiel des Irak, wo nach offiziellen Zahlen der UNO fast 600.000 Kinder in Folge der Ökonomischen Sanktionen gestorben sind.33

Aufgrund der hier genannten Probleme scheint mir, dass der Begriff der zivilen Intervention viel zu vage ist, um fÜr eine aussagefÄhige Diskussion von Konfliktintervention zu taugen. Ich halte es fÜr sinnvoller, auf die Frage der gewÄhlten Strategie abzuzielen und von gewaltfreien Interventionen zu sprechen, wenn

  • das Ziel der Intervention die Bearbeitung des Konfliktes unter BerÜcksichtigung der Interessen aller Konfliktseiten oder die UnterstÜtzung einer Partei ist, die fÜr eine solche Konfliktbearbeitung und/oder Verteidigung der Menschenrechte und Herstellung von Gerechtigkeit eintritt und wenn
  • dabei auf den Einsatz von tÖdlicher Gewalt, sei sie direkter physischer oder struktureller Art, verzichtet wird.

Friedensbewahrung

Peacekeeping konzentriert sich auf die Verhinderung, Einhegung und Beendigung von Feindseligkeiten; d.h. es ist dissoziativ angelegt, das Auseinanderhalten der Verfeindeten ist sein Hauptzweck. Das klassische Instrument des Peacekeepings ist der Einsatz von UN-Blauhelmtruppen; ein Instrument, das allerdings zunehmend aggressiver eingesetzt wird (»Robustes Peacekeeping«). Nicht nur deshalb gibt es sowohl in der Friedensforschung wie von Friedensorganisationen VorschlÄge, Friedensbewahrung mit gewaltlosen Mitteln zu konzipieren.

Ziviles Peacekeeping stellt sich grÖßere, gut in Techniken der Konfliktbearbeitung ausgebildete Einheiten vor, die unbewaffnet eingreifen. Ihr grÖßter Vorteil dÜrfte darin liegen, dass sie, da unbewaffnet, keine Provokation der anderen Seite darstellen. Die Frage, die unbeantwortet ist, lautet, in welchem Maße gerade diese IdentitÄt die militÄrischen Konfliktparteien dazu bringt, die Peacekeeper zu respektieren – in einem militarisierten Umfeld zÄhlen Zivilisten gewÖhnlich nicht viel – und welche Bedeutung die tatsÄchliche Anwendung von Waffengewalt hat.

In verschiedenen europÄischen LÄndern ist in den vergangenen Jahren der Vorschlag entwickelt worden, einen Zivilen Friedensdienst einzurichten, der als freiwilliger, staatlich finanzierter und rechtlich abgesicherter Dienst ein Instrument solch zivilen Peacekeepings werden kÖnnte.

Friedensschaffung

Peacemaking ist definiert als die Suche nach einer VerhandlungslÖsung der Interessenkonflikte zwischen den Konfliktparteien. Es befasst sich mit der wahrgenommenen Unvereinbarkeit von Interessen (den Konfliktinhalten) und ist in erster Linie eine Aufgabe der EntscheidungstrÄger (Politiker). Der Einsatz von Ziviler Konfliktbearbeitung bedeutet hier, wie oben bereits unter Mediation angesprochen, die Suche nach einer allseits befriedigenden LÖsung durch Verhandlungen.

Neben Regierungen und internationalen Organisationen (UN, OSZE usw) gibt es auch einige Nichtregierungsorganisationen, die durch das Anbieten guter Dienste, Begegnungen von FÜhrungspersÖnlichkeiten der sich in Konflikt befindlichen Gruppen oder Mediation fernab der Öffentlichkeit in diesem Bereich erfolgreich tÄtig sind.34

Friedenskonsolidierung

Peacebuilding, nur unzureichend als VersÖhnungsarbeit zu bezeichnen, befasst sich mit den feindseligen Einstellungen der Konfliktparteien einerseits und sozio-Ökonomischen Strukturen andererseits, also den persÖnlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen eines Konfliktes. Sie werden mit dem Ziel einer langfristigen Wirkung bearbeitet.

Im Unterschied zu den beiden ersten Aufgabenbereichen ist Peacebuilding vor allem eine Aufgabe, die von lokalen und internationalen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen wahrgenommen wird. Als Hauptmethoden kÖnnen hier benannt werden:35

  • VersÖhnungsarbeit
  • Herstellen von Kontakt durch die Verfolgung gemeinsamer Übergeordneter Ziele
  • wirtschaftliche Entwicklung, die so verlÄuft, dass beide Konfliktseiten subjektiv ihre Gerechtigkeit konstatieren
  • Vertrauensbildung z.B. durch Justizreformen, Verzicht auf bestimmte Symbole
  • Bildung und Erziehung (z.B. binationale Schulen)
  • Vorurteilsreduzierung (z.B. Begegnungsprogramme, Gemeindefeste, Trainings, positives Handeln durch Massenmedien, Appelle fÜhrender PersÖnlichkeiten, individuelle Therapie)
  • Erforschung der gegenseitigen Kulturen

Verrechtlichung internationaler Beziehungen als Bedingung fÜr Zivile Konfliktbearbeitung?

Ein auch in der Friedensbewegung strittiges Feld ist das der Verrechtlichung internationaler Beziehungen, d.h. der Weiterentwicklung des VÖlkerrechts dahin, dass Staaten als Rechtssubjekte internationalen Gesetzen unterworfen werden, deren Einhaltung durch eine Judikative und eine Exekutive erzwungen wird. Die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs – dem allerdings u.a. die USA sich nicht unterwerfen wollen mit dem Argument, er kÖnnte ja eines Tages gegen ihre Soldaten ermitteln – ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Es soll hier auch nicht so sehr auf die faktischen Hindernisse dieses Konzeptes, die sich aus dem Machtungleichgewicht der internationalen Staatenwelt ergeben, hingewiesen werden, denn sie dÜrfen als bekannt vorausgesetzt werden. Aber ich mÖchte argumentieren, dass sich die Frage der Gewalt unabhÄngig vom Grad der Verrechtlichung stellt. Eine internationale Polizei, die zur Friedenserzwingung eingesetzt wÜrde, wÜrde die gleichen Waffen verwenden mÜssen, die gleiche Zahl an Menschen tÖten und das gleiche Ausmaß an Vernichtung verursachen wie eine NATO-Truppe, die zum gleichen Zweck eingesetzt wird.

Zur Bedeutung von Ausbildung in Ziviler Konfliktbearbeitung

Zivile Konfliktbearbeitung erfordert die Anwendung von Kenntnissen und FÄhigkeiten, die erlernt werden kÖnnen. Dazu gehÖren Wissen Über Konflikttheorien und Konfliktanalyse ebenso wie die Kenntnis der vielfÄltigen Methoden der Konfliktvermittlung (Kommunikation, Konsensfindung usw.).

Viele Berufsgruppen kommen in ihrer Aus- und Fortbildung heute mit solchen Themen in BerÜhrung. Dennoch besteht hier ein deutlicher Bedarf an »mehr«, an einer Einbeziehung von Ziviler Konfliktbearbeitung als Regellehrstoff z.B. in der Ausbildung von LehrerInnen und SozialarbeiterInnen.

Bei der Konfliktintervention im internationalen Kontext wÄchst ebenfalls das Bewusstsein, dass die Nachhaltigkeit von Nothilfe- und Entwicklungsprogrammen in Krisenregionen wesentlich mit davon abhÄngt ob es gelingt, die Konflikte auf gesellschaftlicher Ebene zu reduzieren. Deshalb werden in den letzten Jahren zunehmend Projekte im Rahmen der Entwicklungsdienste wie von anderen NGOs (vor allem aus dem Friedensbereich) entwickelt, die sich auf Zivile Konfliktbearbeitung konzentrieren.

In Deutschland wurde vor zwei Jahren damit begonnen, in einem (vom Land NRW gefÖrderten) Pilotprojekt FriedensfachkrÄfte auszubilden, d.h. Personen, die mit einer speziellen zusÄtzlichen Qualifikation in Ziviler Konfliktbearbeitung ausgestattet werden, die ihnen in ihrer Arbeit in einschlÄgigen Projekten der Konfliktintervention »von unten«, von Seiten gesellschaftlicher Gruppen, zugute kommen soll. Ähnliche Projekte, die in aller Regel verbunden sind mit dem Ziel, einen Zivilen Friedensdienst aufzubauen, finden sich in den Niederlanden, Frankreich, Österreich und Italien. Sie verbinden die Hoffnung, dass durch einen staatlich gefÖrderten Zivilen Friedensdienst die Zahl (und QualitÄt) besonders von friedenskonsolidierenden NGO-Projekten entscheidend gesteigert werden kÖnnte, mit dem Grundgedanken einer mÖglichst viele Menschen erreichenden Qualifizierung in Methoden und Verfahren Ziviler Konfliktbearbeitung.

Zum politischen Stellenwert von Ziviler Konfliktbearbeitung

Zivile Konfliktbearbeitung stellt sowohl ein Ziel als auch einen Weg dar. Sie dient der Zivilisierung von (Außen)Politik und des gesellschaftlichen Umganges miteinander und sie wird getragen von Werten, die schon immer Grundlage jeder wahren Friedenspolitik waren, nÄmlich Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit.

Als Weg zu Frieden und Gerechtigkeit hat sie aber auch ihre Grenzen und sie sollte nicht als neues Allzweckmittel missverstanden werden:

  • Abbau struktureller Gewalt fordert, dass latente Konflikte auf die Tagesordnung gesetzt, d.h. eskaliert werden. Zwischen einem diktatorischen Regime und der von ihm unterdrÜckten BevÖlkerung kann es keine Zivile Konfliktbearbeitung geben. Worum es hier aus friedenspolitischer Sicht geht, ist die Entwicklung und der Einsatz von – gewaltfreien – Widerstandsmethoden bis hin zum gewaltfreien Aufstand.
  • Wenn die westliche Allianz unter FÜhrung der USA beschließt, die NATO kÜnftig zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und strategischen Interessen in aller Welt einzusetzen, dann heißt die Antwort darauf nicht Zivile Konfliktbearbeitung, sondern Protest und Widerstand gegen diese Politik. AbrÜstung, nachhaltiges Wirtschaften und Dialog der Zivilisationen, um nur ein paar Stichworte zu nennen, stehen als gleichberechtigte Elemente neben Ziviler Konfliktbearbeitung in einer umfassenden Friedensstrategie.
  • Die BeschÄftigung mit gewaltfreier Intervention sollte unbedingt wieder ergÄnzt werden durch die Weiterentwicklung Sozialer Verteidigung. Sie kÖnnte eine interessante Alternative fÜr all jene LÄnder und Volksgruppen darstellen, die sich der Gefahr eines bewaffneten Angriffes ausgesetzt sehen.

Unter BerÜcksichtigung dieser EinschrÄnkungen gilt es, Zivile Konfliktbearbeitung weiter auszubauen. Das bedeutet die konzeptionelle Weiterentwicklung von Methoden (Beispiel: ziviles Peacekeeping), die Institutionalisierung von Ziviler Konfliktbearbeitung in mÖglichst vielen Bereichen von Schulen bis zur internationalen Politik und (als erster Schritt zur vollstÄndigen AbrÜstung) die Umkehrung des Gewichtes zwischen den staatlichen Verteidigungshaushalten und den Haushaltslinien, die Zivile Konfliktbearbeitung abdecken.

Ziel dabei darf aber nicht sein, der herrschenden Machtpolitik ein weiteres Instrument an die Hand zu geben. Auch MilitÄrs und Politiker betrachten Zivile Konfliktbearbeitung heute oftmals als sinnvolle ErgÄnzung zu gewaltgestÜtzten Maßnahmen. So werden z.B. Projekte von deutschen NGOs gefÖrdert, die sich um die Bearbeitung von Konflikten bei der RÜcksiedlung von bosnischen FlÜchtlingen bemÜhen. Ohne die Sinnhaftigkeit dieser Projekte fÜr die Betroffenen in Frage zu stellen, muss darauf hingewiesen werden, dass sie die ZwangsrÜckfÜhrung dieser FlÜchtlinge erleichtern.

In meinen Augen sollte dem entgegen der Charakter von Ziviler Konfliktbearbeitung als Alternative zu Gewalt und MilitÄr wieder mehr in den Vordergrund gestellt werden, auch wenn dieses kurzfristig das Einwerben von Öffentlichen Mitteln oder die Institutionalisierung eines Zivilen Friedensdienstes – um nur zwei aktuelle deutsche Anliegen zu nennen – behindert. Mittel- oder langfristig kÖnnen Krieg, Gewalt, RÜstung und MilitÄr nur Überwunden werden, wenn sie in einer Art Doppelstrategie bekÄmpft und Alternativen dort, wo es notwendig erscheint, entwickelt werden.

Literatur

Bercovitch, Jacob/ Anagnoson, J.Theodore/ Willie, Donnette L.: Some Conceptual Issues and Empirical Trends in the Study of Successful Mediation in International Relations, in: Journal of Peace Reserch 28, 1(1991), S. 7-18.

Besemer, Christoph: Mediation: Vermittlung in Konflikten, Hrsg. Stiftung gewaltfreies Leben/Werkstatt fÜr gewaltfreie Aktion Baden, Heidelberg/Freiburg/KÖnigstein 1993.

Boutros Boutros-Ghali: An Agenda For Peace. Preventive Dipomacy, Peacemaking and Peace-keeping. Report of the Secretary-General pursuant to the statement adopted by the Summit Meeting of the Security Council on 31 January 1992, New York: United Nations, 1992.

Cremer, Uli: Deutschland als internationaler Zivildienstleistender. Entwurf fÜr ein Positionspapier von BÜndnis 90/Die GrÜnen, 5.8.1995.

Ebert, Theodor: Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum BÜrgerkrieg, Waldkirchen: Waldkircher Verlagsgesellschaft, 1981 (4. Auflage).

Galtung, Johan: Peace by peaceful means. Peace and Conflict, Development and Civilization, London: Sage Publications, 1996.

MÜller, Barbara/BÜttner, Christian: Optimierungschancen von Peacekeeping, Peacemaking und Peacebuilding durch gewaltfreie Interventionen?, Arbeitspapier Nr. 4 des Instituts fÜr Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung, Wahlenau 1996.

Muller, Jean-Marie: Principes et Methodes de l'intervention civile, Manuskript von 1994.

Paffenholz, Thania: »Die Waffen nieder!« Konzepte und Wege der Kriegsbeendigung, in: Matthies 1993: 57 ff.

Ropers, Norbert: Friedliche Einmischung. Strukturen, Prozesse und Strategien zur konstruktiven Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte, Berghof Report 1, Berlin 1995.

Ryan, Stephen: Ethnic Conflict and International Relations, 2nd ed., Aldershot: Dartmouth Publishing Company Ltd, 1995.

Weiss, Thomas G.: HumanitÄre Intervention. Lehren aus der Vergangenheit, Konsequenzen fÜr die Zukunft, in: Debiel, Tobias/ Nuscheler, Franz (Hrsg.): Der neue Interventionismus. HumanitÄre Einmischung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Bonn: Dietz, Stiftung Entwicklung und Frieden, 1996, S. 53 ff

Christine Schweitzer, Ethnologin, ist GeschÄftsfÜhrerin des Bundes fÜr Soziale Verteidigung (BSV)

zum Anfang | Eine atomwaffenfreie Welt – Phantasie oder Möglichkeit?

von Joseph Rotblat

Seit nunmehr einem halben Jahrhundert befinden wir uns im Atomzeitalter – dem neuen Zeitalter, dessen Geburtsstunde der Welt durch die Bombe, die Hiroshima zerstört hat, angekündigt wurde. Es ist das Zeitalter, dessen Hauptcharakteristikum darin besteht, dass der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Zivilisation die Möglichkeit hat, diese Zivilisation mit einem großen Knall zu zerstören.

Während der vergangenen fünfzig Jahre waren wir der Katastrophe einige Male sehr nahe; wir haben den Rand des Abgrundes erreicht und konnten hinab schauen; eher Glück als kluge Taktik hielten uns im letzten Moment zurück. Mit Beendigung des Kalten Krieges hat sich die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Holocaust zwar außerordentlich vermindert, sie ist jedoch noch immer existent. Solange noch Atomwaffen in den Arsenalen sind, besteht die Gefahr, dass sie in einer militärischen Auseinandersetzung eingesetzt werden. Diese Gefahr kann nur durch die Vernichtung aller Kernwaffen gebannt werden.

Die Schaffung einer atomwaffenfreien Welt ist kein utopischer Traum mehr. Es ist ein Ziel, das noch innerhalb der Lebenserwartung der Generation des Atomzeitalters erreicht werden kann – es bedarf jedoch einer enormen Anstrengung. Um Sicherheit in einer entnuklearisierten Welt garantieren zu können, sind nicht nur weitere technische Maßnahmen erforderlich, sondern auch neue Normen gesellschaftlichen Verhaltens. Zuallererst ist eine Wende in der Politik der Kernwaffenstaaten vonnöten – einer Politik, die seit dem Beginn des Atomzeitalters durch bewusste Ambiguitäten geprägt ist.

Man hätte annehmen können, dass mit der Beendigung des Ost-West-Konflikts kein Bedarf mehr an dem Kampfinstrument bestehen und die Erfüllung der ersten Resolution der Vereinten Nationen fortgesetzt würde. Dies war jedoch nicht der Fall.

Die überwiegende Mehrheit der heute lebenden Menschen wurde während des Atomzeitalters geboren. Atomwaffen stellen für sie ein natürliches Phänomen dar; für sie ist es schwierig, sich eine Welt ohne Atomwaffen vorzustellen. Wichtiger jedoch als dieser »angeborene Konservatismus« ist das begründete Interesse einiger Gruppen an einer Aufrechterhaltung des während es Kalten Krieges vorherrschenden Klimas. Eine große militärische Industrie ist von der Fortsetzung der Waffenproduktion abhängig; ebenso die Lebensphilosophie und die Karriere vieler Menschen. Deshalb wurden, als der alte Feind nicht mehr existierte, neue Feinde geschaffen, um die Fortführung der alten Politik zu rechtfertigen.

Die Erkenntnis, dass jeder von uns für die Sicherung unserer Zivilisation verantwortlich ist – durch die Abschaffung der Bedrohung durch den Atomkrieg – wird das Gefühl stärken, dass wir WeltbürgerInnen sind. Mit dem Wachsen dieses Gefühls geht einher die Ablehnung des Chauvinismus und der Fremdenfeindlichkeit, die beide zum Schüren lokaler und regionaler Kriegegenutzt werden. Die Sorge um die Zukunft muss die Menschen einander näher bringen, eine kernwaffenfreie Welt wird uns einer Welt ohne Krieg näher bringen.

WissenschaftlerInnen werden in diesem erzieherischen Prozess eine wichtige Rolle spielen. Die Universalität der Wissenschaft hat in ihnen das Gefühl reifen lassen, zu einer Weltgemeinschaft zu gehören und dass macht sie zu geborenen LehrerInnen, die in anderen Gruppen der Gesellschaft das Konzept des Weltbürgertums voranbringen werden.

In einer Welt, die von kriegerischen Auseinandersetzungen gezeichnet ist, über Weltbürgertum zu reden, scheint utopisch; die Aufgabe, eine Welt ohne Krieg zu schaffen, scheint unmöglich. Wir sollten uns jedoch den Ausspruch des deutschen Soziologen Max Weber ins Gedächtnis rufen: „Alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, dass die Menschheit das Mögliche nicht erreichte, wenn sie nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen hätte.“

Prof. Dr. Joseph Rotblat, Friedensnobelpreisträger

Anmerkungen

1) F. R. Pfetsch: Konfliktforschung, Krieg und Frieden in neuerer Zeit, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1989, S. 12-16. Siehe auch F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikte seit 1945, Freiburg, Ploetz-Verlag, 1991.

2) Die Zahlen basieren auf der KOSIMO-Datenbank; siehe F. R. Pfetsch: Der Wandel politischer Konflikte, Spektrum der Wissenschaft, März 1998, S. 76. Eine ausführliche Darstellung zu 100 Konflikten im Zeitraum 1990 bis 1995 findet sich in: F. R. Pfetsch (Hrsg.): Globales Konfliktpanorama 1990-1995, Münster, LIT-Verlag, 1996. Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung gibt ein jährliches Konfliktbarometer heraus, zu bestellen unter e-mail frank.pfetsch@urz.uni-heidelberg.de. Siehe auch das im LIT-Verlag jährlich erscheinende Friedensgutachten deutscher Friedensforschungsinstitute, das ausgewählte Konflikte analysiert.

3) Stiftung Entwicklung und Frieden: Globale Trends 1998, Frankfurt, Fischer, 1997, S. 344. Hier wird auf die Problematik hingewiesen, den Kriegsbegriff exakt zu definieren. Nach gängiger Vorstellung ist Krieg definiert als ein gewaltsamer Massenkonflikt mit drei Merkmalen: a) es sind zwei oder mehr Streitkräfte beteiligt, darunter mindestens auf einer Seite reguläre Regierungsstreitkräfte; b) auf beiden Seiten gibt es ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation; c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuität.

4) Zur Verknüpfung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung siehe J. Scheffran, W. Vogt: Kampf um die Natur – Umweltzerstörung und die Lösung ökologischer Konflikte, Darmstadt, Primus, 1998.

5) G. Bächler: Desertification and Conflict, ENCOP Occasional Paper No.10, Zürich/Bern, März 1994.

6) G. Bächler, V. Böge, S. Libiszewski, K. R. Spillmann (Hrsg.): Kriegsursache Umweltzerstörung, Rüegger-Verlag, 1996. Eine Synthese findet sich in Wissenschaft und Frieden 3/96, S. 55-71. Auch das Projekt über Umwelt, Bevölkerung und Sicherheit an der Universität von Toronto hat 1996 eine Synopse verschiedener Fallstudien vorgelegt. Siehe T. Homer-Dixon: V. Percival, Environmental Scarcity and Violent Conflict, Briefing Book, Toronto, 1996.

7) Stanislaw Lem: Die Waffensysteme des 21. Jahrhunderts, Suhrkamp-Verlag, Franfkurt am Main, 1983. Er schreibt: „Es gibt also keine bessere Methode, höchst geheime Information zu verbergen, als sie in einer Massenauflage zu publizieren“, S.11.

8) Ebd., S.83.

9) Department of Defense Budget for FY 1999, Department of Defense, 2. Februar 1998

10) Siehe dazu auch: I. Ruhmann: High Tech für den Krieg, in: Wissenschaft und Frieden 4/1997.

11) Joint Chiefs of Staff: Joint Vision 2010, Washington D.C. 1996, S. 2.

12) Das Rüstungsbudget für das Haushaltsjahr 2000 beträgt 267 Mrd. $. Im Zeitraum 2000-2005 sollen 112 Mrd $ zusätzlich ausgegeben werden. (DOD, News Release 1.2.1999).

13) SZ, 25. Januar 1999, S. 7.

14) National Security Strategy, Washington D.C. 1997.

15) Siehe dazu: J. Pike: American Control of Outer Space in the Third Millenium, in: INESAP Information Bulletin, Issue No. 16, November 1998, S. 29-33.

16) Transforming Defense, Kapitel: The World in 2020-Key Trends, Washington D.C. 1998.

17) D. Stockfisch: Littoral Warfare. Herausforderungen als Informationstechnik und Elektronik, in: Elektronik Report 1998, S. 23.

18) Ebd., S. 29.

19) Die Bedeutung einer begleitenden Medienkampagne darf heute als hoch eingeschätzt werden. Ohne CNN wäre der Golfkrieg 1991 nicht so verlaufen wie er verlaufen ist.

20) Echelon ermöglicht den USA Zugang zu Telefongesprächen, Faxdaten und e-mails in Europa. SZ vom 26. August 1998.

21) Die Zeit vom 17. September 1998.

22) A. Gsponer: Inertial Confinement Fusion and Fourth Generation Nuclear Weapons in: G. Neuneck, J. Altmann, J. Scheffran (Hrsg.): Nuklearwaffen – Neue Rüstungstechnologien – Verifikation von Abrüstung, Bad Honnef, Hamburg, 1998, S. 133-152.

23) Siehe O. Thränert: Enhancing the Biological Weapons Convention, Bonn 1996, S. 13.

24) G. Neuneck, S. Richardsen: Die Überwachungsmöglichkeiten von Beschränkungen bei neuen Waffenprinzipien in: J. Altmann, G. Neuneck (Hrsg.): Naturwissenschaftliche Beiträge zu Abrüstung und Verifikation, Hamburg 1996, S. 235-259.

25) Siehe M. Kaku: Zukunftsvisionen, München 1998, S. 32.

26) Der ferngelenkte Miniflieger (15 cm) soll 3 km weit und ca. 20 Minuten lang fliegen können. Siehe: Die Zeit vom 29. Oktober 1998, S. 17.

27) Zitiert nach Kaku 1998, S. 320.

28) Besonders deutlich ist diese Tendenz im innergesellschaftlichen Bereich. Hier wird heute gewÖhnlich von Ziviler Konfliktbearbeitung gesprochen, wo vor wenigen Jahren von Projekten der GewaltprÄvention, der Antirassismus-Arbeit oder der FriedenspÄdagogik die Rede war.

29) Unter Ziviler Konfliktbearbeitung soll hier verstanden werden die Bearbeitung von Konflikten ohne die Anwendung direkter Gewalt und mit dem Ziel, eine LÖsung zu finden, die die als berechtigt angesehenen Interessen aller Konfliktparteien berÜcksichtigt.

30) Es muss darauf hingewiesen werden, dass es zwei sich widersprechende Definitionen von Mediation gibt. Der hier gebrauchten Definition von Mediation als einer nicht-direktiven Methode, die vor allem von denjenigen verwandt wird, die Mediation im innergesellschaftlichen Bereich anwenden (s. Besemer 1993), steht der z.B. von Paffenholz (1993), Ropers (1995) und anderen verwendete Begriff von Mediation als einer Methode direktiver VerhandlungsfÜhrung gegenÜber, bei der der Vermittler eigene VorschlÄge einbringt und u.U. mittels politischen Druck die Konfliktparteien dazu bringt, sie anzunehmen.

31) Diese drei Strategien wurden ursprÜnglich von Johan Galtung entwickelt. Boutros Boutros-Ghali verstand sie als zeitlich aufeinander folgende Schritte. Hier soll demgegenÜber Steven Ryan gefolgt werden, der wie Galtung die VerschrÄnktheit der drei AnsÄtze betont.

32) Siehe z.B. Cremer 1995 und Weiss 1996

33) In vielen DiskussionsbeitrÄgen Über zivile Interventionen spielt zusÄtzlich die Frage des Akteurs eine große Rolle (Ropers 1995). Manche AutorInnen stellen zivile Interventionen in das Begriffsfeld der »zivilen Gesellschaft« und setzen sie praktisch mit der TÄtigkeit von NROs und Kirchen gleich (MÜller/BÜttner 1996).

34) Besonders die QuÄker und der italienische Orden San Egidio kÖnnen hier als Beispiele genannt werden.

35) Siehe Ryan 1995

40 Jahre Göttinger Erklärung Jetzt endlich Atomwaffen abschaffen

40 Jahre Göttinger Erklärung Jetzt endlich Atomwaffen abschaffen

von Wolfgang Liebert, Corinna Hauswedell, Otfried Nassauer, Xanthe Hall, Jürgen Scheffran, Martin B. Kalinowski

in Zusammenarbeit mit der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« e. V.,
der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) und
dem Arbeitskreis für Friedenspolitik – atomwaffenfreies Europa (AKF)

zum Anfang | Atomwaffen abschaffen!

von Wolfgang Liebert

Hoffnung auf nukleare Abrüstung hat gute Gründe. Der alte Ost-West-Konflikt mit seiner nuklearen Aufrüstungsspirale ist beendet. Die Tür zu einer anderen Zukunft ist im Prinzip bereits geöffnet: die Überwindung der nuklearen Bedrohung, die die Welt in Atem gehalten hat, und das Zurückdrehen der Rüstungsspirale ist eine reale Utopie geworden. Die Idee der atomwaffenfreien Welt muß heute von allen ernst genommen werden, denn die grundlegenden Bedingungen für die angebliche Rationalität des Kernwaffenbesitzes haben sich radikal verändert.1

Die Atempause, die sich der reichere Teil der Welt für fünf Jahrzehnte nach dem letzten Weltkrieg unter Existenz der Atomwaffe verschafft hat, könnte bald ausgeschöpft sein. Das Vertrauen auf die nukleare Abschreckung war schon immer Laufen über dünnes Eis.2 Die alte Wurzel der Abschreckungsdoktrin war die Drohung mit dem Gebrauch von Atomwaffen, um die »andere Seite« vor dem möglichen Atomwaffeneinsatz abzuschrecken. Es ging dabei bald nicht nur um Abschreckung zwischen Atomwaffenbesitzern, sondern ebenso um den »Schutz« von Verbündeten und Sicherheitsgarantien, ausgesprochen gegenüber Dritten. Nach Ende der Konkurrenz der Systeme ist es höchste Zeit, diese Drohung mit der »wechselseitigen Vernichtung« endgültig in Frage zu stellen. Keiner weiß, ob die nukleare Abschreckung wirklich geeignet ist, den Ausbruch eines mit Kernwaffen ausgetragenen Konfliktes zu vermeiden. Zu oft stand die Welt knapp vor dem nuklearen Holocaust. Auch die Behauptung, nur die Existenz von Kernwaffen würden den Ausbruch eines größeren konventionellen Krieges zwischen industriell hochentwickelten – und damit gegen Störungen der Infrastruktur besonders anfälligen – Staaten glaubhaft ausschließen können, ist durch nichts zu beweisen. Die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Desasters quasi aus Versehen, ausgelöst durch die inhärenten Instabilitäten und Unsicherheiten eines im Prinzip anfälligen C3I-Systems sind in der Zeit der nuklearen Hochrüstung ausreichend thematisiert worden. Diese Gefahr besteht fort.

Die NATO-Doktrin der »flexiblen Antwort« (Flexible Response), die von der Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen gegen einen konventionell überlegenen Gegner lebte, ist immer noch gültig. Auch die teilweise bekannt gewordene neue russische Nukleardoktrin ist nun auf diese erweiterte Abschreckungsdoktrin eingeschwenkt. Die fehlende Logik solcher Sicherheitskonzeptionen ist offensichtlich: Kann man wirklich das eigene Land verteidigen durch Einsatz von Nuklearwaffen (möglicherweise sogar innerhalb des eigenen Territoriums), wobei ein massiver nuklearer Vergeltungsschlag zu gewärtigen ist? Wer sich so verteidigen will, nimmt die Vernichtung des eigenen Landes und weiter Landstriche der Erde (oder sogar den Weltenbrand) in Kauf.

In Bezug auf den Atomwaffenbesitz stellt sich die Situation heute so dar: Wer glaubt vorbringen zu können, der Besitz von Nuklearwaffen oder die Einbettung in eine Strategie, die den Atomwaffenbesitz auf dem eigenen Territorien erlaubt oder erfordert, diene dem Erhalt der eigenen Souveränität, muß zugestehen, daß diese Argumentation auch von anderen Staaten, die nicht den Status einer offiziellen Atommacht haben, mit demselben Recht übernommen werden kann. Eine Globalisierung dieser fatalen Argumentationsweise wäre auf die Dauer kaum aufzuhalten. Dies wäre das Ende jeder Bemühung um die Nichtweiterverbreitung der Atomwaffen. Ein Ausweg aus dem Dilemma besteht im Grunde nur in einer Reduktion der Atomwaffenarsenale auf Null, auch wenn man für die Übergangsphase dorthin möglicherweise zugestehen mag, daß eine einseitige Existenz von Kernwaffen eine noch instabilere Situation herbeiführen mag.

Die atomare Bedrohung besteht fort

Aber noch immer sind rund 40.000 intakte atomare Sprengköpfe mit einer Sprengkraft von mehr als einer Million Hiroshimabomben in der Welt. Mehr als 20.000 davon befinden sich zur Zeit offiziell in den Arsenalen der Atomwaffenmächte – der Löwenanteil davon in Rußland und den USA. Die weiteren offiziellen Atommächte Frankreich, China und Großbritannien besitzen jeweils weniger als 500 Atomsprengköpfe. Israel könnte bereits 100-200 Atomwaffen produziert haben. Aus einer Abschätzung des produzierten Waffenstoffes ergeben sich für Indien und Pakistan mögliche Arsenale von je 40-80 bzw. 10-30 Kernwaffen. Auch in Deutschland sind immer noch Atomwaffen stationiert.

Der nukleare Abrüstungsprozeß zwischen den USA und Rußland ist in der Endphase des Kalten Krieges in Gang gekommen und wird trotz immer neuer Gefährdungen bislang durchgehalten. Die akute Gefahr des nuklearen Weltbrandes ist reduziert worden, u.a. durch die Verbannung der landgestützten Mittelstreckenwaffen, den Rückzug von Atomwaffen von Oberwasserschiffen oder verschiedenste Maßnahmen zur teilweisen Beendigung der Alarmbereitschaft.

Allerdings wurden bis vor kurzem im Bereich der strategischen Arsenale die Zielzahlen des START-II-Vertrages, der immer noch nicht von beiden »Supermächten« ratifiziert ist, als vorläufiger Endpunkt angesehen. Falls der START-II-Vertrag umgesetzt wird, ist mit insgesamt etwa 10.000 nuklearen Sprengköpfen in den offiziellen strategischen und nicht-strategischen Arsenalen Rußlands und der USA im Jahre 2003 zu rechnen. Die strategischen Nuklearstreitmächte von je 3.000 bis 3.500 Sprengköpfen werden dann jeweils zur Hälfte auf Unterseebooten stationiert sein. Die andere Hälfte soll zum größeren Teil in Cruise Missiles für die Bomberflotten und zum kleineren Teil auf landgestützten Interkontinentalraketen bereitgehalten werden. So wird vielleicht im Jahr 2003 wieder in etwa das zahlenmäßige Niveau erreicht sein wie im Jahr 1970, als der Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen, der sogenannte Atomwaffensperrvertrag, in Kraft trat. Atomwaffenarsenale mit einem mehrfachen Overkill werden weiter die Welt bedrohen.

Ein Abrüstungsprozeß in Richtung Null ist dies keineswegs. Im Gegenteil: Nach dem Willen der Atommächte und ihrer Verbündeten sollen uns die Atomwaffen und die atomare Bedrohung auf Dauer erhalten bleiben. Dementsprechend gehen auch die Bemühungen kleinerer oder weniger einflußreicher Staaten weiter, in den Besitz der Bombe zu kommen, oder ihre schon vorhandenen, noch sehr bescheidenen Arsenale zu vermehren.

Gefahren der Weiterverbreitung

Wer Atomwaffen produzieren will, braucht geeignete Waffenstoffe. Für einen »Neuling« ist dies die entscheidende Hürde; der volle Waffentest spielt zunächst eher eine untergeordnete Rolle. Wer nuklearen Spaltstoff oder zusätzlich fusionsfähigen superschweren Wasserstoff (Tritium) besitzt, kann im Prinzip Atomwaffen bauen. Wer Waffenstoff produzieren will, der braucht Atomtechnologie: Urananreicherungstechnologie oder Reaktoren in Verbindung mit Wiederaufarbeitungstechnologie zur Abtrennung von Plutonium.

Eine ganze Reihe von Ländern haben bereits Zugriff auf mindestens eine dieser beiden Technologiebereiche. In der Liste dieser Länder finden sich alle offiziellen und inoffiziellen Atomwaffenstaaten wieder, daneben Staaten, die früher Waffenprogramme betrieben, wie Brasilien oder der Irak und Südafrika, das tatsächlich über lange Jahre eigene Atomwaffen besaß. Weiterhin haben eine Reihe von industrialisierten Ländern wie Japan, Deutschland, Belgien, die Niederlande und in einem gewissen Maße auch Kanada, Italien und Spanien durch die Beherrschung von sensitiven Nukleartechnologien, die zur Produktion von Waffenstoffen geeignet sind, eine prinzipielle Atomwaffenfähigkeit erlangt. Argentinien und Nordkorea (in der Vergangenheit auch Taiwan und Schweden) bemühten sich ebenfalls – teilweise erfolgreich –, diesen technologischen Stand zu erreichen.

Die weltweit angehäuften Mengen an Waffenstoff sind enorm: über 2.000 Tonnen hochangereicherten Urans (HEU) und etwa 270 Tonnen Plutonium im militärischen Bereich. Diese Zahlen sind im Vergleich zu sehen mit der für eine einfache Atomwaffe benötigten Menge: 10-20 Kilogramm HEU oder einige Kilogramm Plutonium.

Die einzigen zivilen Nutzer von waffenfähigem HEU sind heute nur noch eine Reihe von Forschungsreaktoren. Durch Umstellung (fast) aller Reaktoren auf schwach angereicherten Brennstoff besteht Hoffnung auf eine weitere Reduktion des Bedarfs bis auf Null und damit einer Eliminierung der Umnutzungsgefahr für Waffenzwecke. Eine gefährliche Ausnahme von diesen international koordinierten Bemühungen stellt der in Bau befindliche Garchinger Forschungsreaktor dar.3

Mindestens 1.000 Tonnen Plutonium liegen bereits im zivilen Bereich auf Halde, zum überwiegenden Teil noch eingebettet in den abgebrannten Reaktorbrennstoff, der so eine radiologische Barriere darstellt, die nur durch Formen der technischen Wiederaufarbeitung überwunden werden kann. 130 Tonnen werden aber bereits in abgetrennter Form im zivilen Bereich gelagert. Der größte Teil davon könnte ohne große technische Schwierigkeiten jederzeit auch für Waffen Verwendung finden. Die Wiederverwertung des Plutoniums als Reaktorbrennstoff wird – auch schlicht aus ökonomischen Gründen – nur sehr zögernd betrieben, so daß die Produktion und Verwertung von Uran-Plutonium-Mischoxidbrennelementen (MOX) mit der wachsenden Wiederaufarbeitungsrate nicht Schritt halten kann. Im Jahr 2010 könnten die im zivilen Bereich gelagerten abgetrennten Putoniummengen die für militärische Zwecke produzierten Mengen bereits deutlich übersteigen.

Es gibt keine absolute Sicherheit, daß die vorhandenen gigantischen Mengen an Waffenstoff nicht militärisch genutzt oder immer vollständig in der Hand der jetzigen Besitzerstaaten bleiben werden. Schon ein Hundertausendstel dieser Mengen in den Händen von terroristischen Gruppen oder machtgierigen Staatenlenkern in anderen Ländern würden erhebliche Gefahren heraufbeschwören. Ebenso ist die Abzweigung von Waffenstoff aus zivilen Programmen für Atomwaffenprogramme eine durchaus ernst zu nehmende Gefahr. Im Irak ist in den achtziger Jahren genau ein solch zivil-militärisch angelegter Doppelpfad Richtung Atomwaffe verfolgt worden. In Brasilien wurde über viele Jahre ein ziviles Atomprogramm mit deutscher technologischer Unterstützung bei gleichzeitiger Verfolgung eines militärischen, sogenannten »Parallelprogrammes« durchgeführt. Es scheint so zu sein, daß in der Frühzeit der meisten Atomprogramme mit zivilen Deckmänteln und der Parallelverfolgung von offen betriebenen zivilen und geheimgehaltenen militärischen Programmen operiert wurde. In einer Reihe von Fällen läßt sich heute nachweisen, daß die unausgesprochenen militärischen Zielsetzungen die zivile Entwicklung maßgeblich beeinflußt haben.4

Wenn wir die nukleare Proliferationsgefahr ernst nehmen, stehen wir mithin nicht nur vor dem medienwirksam inszenierten Problem, wie mit nuklearen Ambitionen finsterer Diktatoren umzugehen ist, sondern wir sind damit konfrontiert, daß augenscheinlich die angeblich rein zivile Entfaltung von Wissenschaft, Technik und Industrie im Nuklearbereich selbst im Kern des Problems steht.5 Politisch definierte nukleare Optionen können entstehen und vergehen und sind dem raschen historischen Wandel unterworfen. Für einmal geschaffene technische Optionen mit Relevanz für die Atomwaffe gilt dies in der Regel nicht.

Das nukleare Nichtverbreitungsregime, in dessen Kern der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) steht, der im Mai 1995 nach 25-jähriger Laufzeit auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde, bietet nicht die Lösung für dieses Problem. Das Vertragswerk ist mit einigen entscheidenden Mängeln behaftet. Dazu gehört, daß der zivil-militärischen Ambivalenz wesentlicher Nukleartechnologien zu wenig Beachtung geschenkt wird. Man hofft lediglich darauf, daß durch die Sicherungsmaßnahmen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) die Abzweigung von Spaltstoffen für Waffenzwecke frühzeitig entdeckt werden kann. Kann man einem solchen System von Maßnahmen – unterhalb der Schwelle einer echten Kontrolle – Vertrauen schenken? Das ohnehin schwach ausgebildete System von Verfahren technischer Überwachung muß prinzipiell lückenhaft bleiben und kann daher keine wirkliche Gewähr dafür bieten, daß eine sichere Abgrenzung ziviler Programme von möglicher militärischer Nutzung erfolgt.6

Weg in die atomwaffenfreie Welt

Was sind die Ingredienzien einer atomwaffenfreien Welt?

  • Erstens werden alle Atomwaffen demontiert und die darin enthaltenen Waffenstoffe zunächst sicher verwahrt. In längerfristigerer Perspektive müßten sie dann nicht rückholbar beseitigt werden.
  • Zweitens darf es keine schnelle Möglichkeit zum Wiederaufbau von Arsenalen durch vorhandene Technologien und Infrastruktur geben. Verifikationsmaßmahmen werden eingeführt, um den Weg zum erneuten oder erstmaligen Atomwaffenbesitz – insbesondere durch Verlängerung und Verteuerung des Weges dorthin – empfindlich zu erschweren und entdeckbar zu machen.
  • Drittens muß eine stabile Weltfriedensordnung etabliert werden, die das Sicherheitsinteresse aller Staaten sowie aller Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen befriedigt.
  • Viertens muß die Wissenschafts- und Technikentwicklung auf deutliche und ständig reflektierte Distanz zu atomwaffenrelevanten Bemühungen gehen, um zu vermeiden, daß alte Schleichwege oder neue Schlupflöcher zum Atomwaffenbesitz eröffnet werden.
  • Fünftens muß der zivile technologische und industrielle Bereich so gestaltet werden, daß jegliche Optionen auf Atomwaffenbesitz (latente Proliferation) nachhaltig und eindeutig vermieden werden können.

Es ist kaum vorstellbar das Ende der Weiterverbreitung von Atomwaffen und eine unumkehrbare nukleare Abrüstung auf Null innerhalb des existierenden Systems der Nicht(weiter)verbreitung von Kernwaffen zu erreichen. Die Weiterverbreitung von Kernwaffen kann auf die Dauer nur gestoppt und zurückgenommen werden, wenn ein globaler Verzicht auf Atomwaffen verwirklicht wird. Denn solange der Besitz von Kernwaffen oder nuklearen Waffenmaterialien in der Hand einiger weniger als legitim angesehen wird, schafft dies Begehrlichkeiten bei anderen. Für den Stopp der Weiterverbreitung wie den unumkehrbaren Weg in die atomwaffenfreie Welt ist auf längere Sicht entscheidend, daß auch im zivilen Bereich die Aufrechterhaltung von wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für Atomwaffenprogramme vermieden wird. Dies betrifft insbesondere die Rolle von waffengrädigen Nuklearmaterialien und entsprechenden Produktionstechnologien in zivilen Nuklearprogrammen. Regelungen, die für alle Staaten gleichermaßen verbindlich sind, müssen gefunden werden.

Die Transformation des Nichtweiterverbreitungregimes zur atomwaffenfreien Welt steht an. Im Zentrum dieses neuen Regimes muß eine Nuklearwaffenkonvention stehen, die wie im Bereich biologischer und chemischer Kampfstoffe bereits geschehen, ein vollständiges Verbot international verbindlich kodifiziert.7

Die Mächtigen der Welt wollen sich bislang nicht auf einen solchen Weg zur Beendigung der atomaren Bedrohung einlassen. Die Bemühungen zur nuklearen Abrüstung in den Gremien der Vereinten Nationen sind momentan blockiert durch die Weigerung der Atomwaffenbesitzer und ihrer Verbündeten, ernsthaft über den Verzicht auf diese ultimative Waffe zu verhandlen.

Dennoch wächst der weltweite Druck, die alten Versprechungen zur nuklearen Abrüstung endlich in die Tat umzusetzen. Von wissenschaftlicher Seite ist die Möglichkeit und der Weg zur Atomwaffenfreiheit durchdacht und es sind entsprechende Vorschläge für die Politik erarbeitet worden.8 Weltweit vernetzte Nichtregierungsorganisationen (NGO) von Medizinern, Wissenschaftlern, Juristen, Bürgerinnen und Bürgern versuchen die öffentliche Debatte und die zähen Bemühungen auf dem internationalen diplomatischen Parkett durch gezielte Aktivitäten voranzubringen.

Nur wenn die Menschen weltweit deutlich machen, daß sie die atomare Bedrohung endlich abschütteln wollen, besteht eine Chance, daß auch die Regierungen aktiv den Weg in die atomwaffenfreie Welt gestalten.

Literatur

Hussein, Bernadette 1997a. Mururoa – the untold story, in: Pacific Islands Monthly, January, 17-18.

Hussein, Bernadette 1997b. Checking the damage, in: Pacific Islands Monthly, January, 14-16.

Grimmel, Eckhard 1985. Die Folgen der französischen Atomtests im Südpazifik (Auszüge), in: Frieden und Abrüstung; Informationen und Dokumente aus der internationalen Friedensdiskussion, hrsg. v. d. Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS) (Bonn), S.10-14

IPPNW 1995. Radioaktive Verseuchung von Himmel und Erde; Atomtests unter, auf und über der Erde: Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt; Ein Bericht der „Internatonalen IPPNW-Kommission zur Untersuchung der Auswirkungen der Atomwaffenproduktion auf Gesundheit und Umwelt“ sowie des „Instituts für Energie- und Umweltforschung (IEER)“ (Berlin: IPPNW), 2. Auflage.

Worm, Thomas 1995. Muroroas strahlendes Geheimnis, in: die tageszeitung, 12.7.

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

zum Anfang | Die »Göttinger 18« und das friedenspolitische Engagement von Wissenschaftlern heute

von Corinna Hauswedell

Mit ihrem öffentlichen Protest gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr im Jahre 1957 konstituierten die als »Göttinger 18« bekannt gewordenen westdeutschen Physiker einige typische Merkmale für das künftige friedenspolitische Engagement von (Natur)Wissenschaftlern: Ihr inhaltlicher Fokus der »taktischen Atomwaffen« ermöglichte ein Eingreifen in eine aktuelle sicherheitspolitische Auseinandersetzung, ihr verantwortungsethisches Anliegen richtet sich bereits damals auf die allgemeinen Gefahren der Technikentwicklung im Atomzeitalter (obschon die »Göttinger« in ihrer Erklärung die Bedeutung der „friedlichen Verwendung der Atomenergie“ besonders unterstrichen). Vor allem aber signalisierte ihr Wirkungsinteresse, als »Nichtpolitiker« Fachwissen an die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsinstanzen heranzutragen, das Auftreten einer neuen Art von (Gegen)Experten in der sicherheitspolitischen Arena des Kalten Krieges.

Im ideologischen Streit jener Zeit, der auch die »Göttinger Erklärung« begleitete, sah sich einer ihrer Unterzeichner, Carl Friedrich von Weizsäcker genötigt, gegen den Vorwurf des Vaterlandsverrats und der Inkompetenz, der den Wissenschaftlern seitens der damaligen Bundesregierung entgegengebracht wurde, die Ziele der Gruppe zu erläutern:

Erstens: Der Westen schützt seine Freiheit und den Weltfrieden durch die atomare Drohung auf die Dauer nicht; diese Rüstung zu vermeiden, ist in seinem Interesse ebenso wie in dem des Ostens.

Zweitens: Die Mittel der Diplomatie und des politischen Kalküls reichen offenbar nicht aus, dieser Wahrheit Geltung zu verschaffen, deshalb müssen auch wir Wissenschaftler reden und sollen die Völker selbst ihren Willen bekunden.

Drittens: Wer glaubwürdig zur atomaren Abrüstung raten soll, muß überzeugt dartun, daß er die Atombombe nicht will.

Nur dieser dritte Satz bedarf noch eines weiteren Kommentars. In der Schrecksekunde nach der Veröffentlichung unserer Erklärung wurde uns von prominenter Seite vorgeworfen, wir hätten uns an die falsche Adresse gewandt, wir hätten unseren Appell an unsere Kollegen in der ganzen Welt richten sollen. Diesen Vorwurf halte ich für ein Mißverständnis. Daß die große Welt nicht auf Appelle abrüstet, haben wir erlebt. Wir hatten uns dorthin zu wenden, wo wir eine direkte bürgerliche Verantwortung haben, nämlich an unser eigenes Land…“9

So markierte die »Göttinger Erklärung« auch den Weg vom individuellen Protest zum Gruppenprotest, von der Verweigerung der Mitarbeit einzelner an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu einer politischen Einflußnahme zugunsten von Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte fanden sich diese Merkmale friedenspolitischer Expertise in einem zunehmend internationalen Engagement verschiedener Gruppen von »political« scientists wieder.

Die 1957 im gleichnamigen kanadischen Ort initiierten »Pugwash-Konferenzen« einer zunächst kleinen Gruppe US-amerikanischer und sowjetischer Atomwissenschaftler übernahmen eine vetrauensbildende Beratungsfunktion zwischen den Supermächten, im Hintergrund der ersten Rüstungskontrollabkommen (Atomteststop-Vertrag 1963, Nichtweiterverbreitungsvertrag 1968, ABM-Vertrag 1972), sodann bei den biologischen und chemischen Waffen sowie bei der konventionellen Rüstung. Die jeweilige Fokussierung der Pugwash-Arbeit auf einzelne Rüstungsvorhaben (später kamen auch nichtmilitärische globale Konfliktursachen hinzu) half, Bedrohungsvorstellungen der anderen Seite im Ost-West-Konflikt zu relativieren. Es waren vor allem die der »international scientific community« entlehnten Arbeits- und Kommunikationsstrukturen der Pugwash-Gruppe, die dazu beitrugen, in den Köpfen auch der politischen Eliten neben der Abschreckungslogik Platz zu machen für die Rationalität der Rüstungsbegrenzung. Neuere Untersuchungen vollziehen die Wege nach, auf denen die Pugwash-Gruppe und andere friedenspolitisch engagierte Wissenschaftler Einfluß auf die sowjetische Außenpolitik der sechziger und der frühen siebziger Jahre gewannen (mit Rückwirkungen auf die US-Politik) und dann in neuem Umfang in den achtziger Jahren auf das »Neue Denken« in der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow.10

Die stärker sozialwissenschaftlich geprägte »Kritische Friedensforschung« in der Bundesrepublik, die spät (1969/70) und auch in Auseinandersetzung mit den US-amerikanischen »arms-control«-Schulen entstanden war, hatte sich ebenfalls im schwierigen Spannungsfeld zwischen radikaler Abschreckungskritik (»Pathologie des Rüstungswettlaufs«), umfassender Konfliktursachenforschung und Policy-Orientierung für die beginnende Ost-West-Entspannung zu bewegen. Anfänglich beteiligte Naturwissenschaftler traten bald in den Hintergrund. Eine von vielen gewollte transdisziplinäre Zusammenarbeit rieb sich in der Praxis an den traditionellen Fächergrenzen und den Herausforderungen normativer Wissenschaftsansprüche. Dabei spielten auch die unterschiedlichen akademischen Traditionen und Selbstverständnisse der »zwei Kulturen« in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften eine gewisse Rolle. Es war nicht leicht, einen gemeinsamen Themen- und Methodenkanon für die »harten« und die »weichen« Felder der jungen Friedenswissenschaft zu entwickeln.

Mit der moralischen Ausstrahlungskraft der (naturwissenschaftlichen) Anti-Atomethik wurde nicht nur die Friedensforschung in den frühen achtziger Jahren erneut konfrontiert, als die Ost-West-Entspannung unter die Räder der Nuklearkriegsdebatte, der Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa und des US-Weltraumprogramms SDI zu geraten drohte.

Die im Kontext der Friedensbewegung der achtziger Jahre etablierten neuen Wissenschaftlerinitiativen vor allem aus den Reihen der Natur-, Ingenieur- und Informationswissenschaften sowie der Medizin (die internationale Ärzteorganisation IPPNW erhielt 1985 den Friedensnobelpreis) eröffneten mit ihrer militärkritischen Analyse und Expertise und durch die Art ihres bürgernahen Engagements einen großen öffentlichen Wirkungsradius – im nationalen wie im internationalen Rahmen.11 Sie knüpften in ihrem aufklärerischen Anspruch auch an die atompazifistischen Traditionen der fünfziger Jahre an; die Bildung eigener (Vereins)Strukturen – die Naturwissenschaftler Initiative »Verantwortung für den Frieden« gewann über 1.000 Mitglieder unter Hochschullehrern und Studenten –, ihre kontinuierliche Kongreß- und Publikationstätigkeit sowie die Initiierung von naturwissenschaftlichen Projekten der Abrüstungsforschung an bundesdeutschen Hochschulen wiesen jedoch über den appellativen Ansatz der »Göttinger 18« hinaus.

Während Friedensforscher durch ihre Arbeit an Konzepten einer »Gemeinsamen Sicherheit« neue sicherheitspolitische Rahmenbedingungen für Europa entwarfen, die auch im Osten auf Resonanz stießen, verstärkten friedensengagierte Naturwissenschaftler und Mediziner ihrerseits durch internationale Kommunikation den neuen Spielraum in der Sowjetunion in den achtziger Jahren: Durch Arbeiten an defensiven Verteidigungskonzepten, durch ihre Argumente gegen SDI und die Betonung globaler Überlebensinteressen jenseits der Blockkonstellation förderten sie die Bereitschaft für einseitige Schritte aus dem Rüstungswettlauf.

Mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich Veränderungen vollzogen, auf die sich ein zeitgemäßes friedenswissenschaftliches Engagement einstellen muß:

  • Die neue Themenvielfalt von Abrüstungsmanagment bis Konfliktpräventation, von Friedensursachenforschung bis Friedenskonsolidierung erschwert zunächst eine politisch wirksame Konsensbildung und Fokussierung kritischer Expertise.
  • An die Stelle einer ideologisierten Nukleardiskussion ist die pragmatische Arroganz der Atomwaffen besitzenden Staaten getreten, die es den Schwellenländern nicht erleichtern, auf dieses (alte und neue) Symbol nationalstaatlicher Macht zu verzichten. Friedenswissenschaftler müssen ein neues strategisches Design entwerfen, in dem gemeinsame Interessen an nuklearer Abrüstung im nationalen und internationalen Rahmen identifiziert werden.
  • Neue diffuse Feindbildkonstellationen behindern die Entwicklung wirksamer Kontrollregime im Bereich der nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen.
  • Als negative Begleiterscheinung des begonnenen Abrüstungsprozesses ist in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme des weltweiten Handels mit »überschüssigen« Waffen zu verzeichnen – besonders mit Kleinwaffen für die Krisenherde der Dritten Welt. Die UN werden auf diesem prekären Gebiet ohne kompetente unabhängige Politikberatung nicht handlungsfähig werden.
  • Immer schwieriger wird es, militärische und zivile Forschung und Entwicklung von einander abzugrenzen, »Dual-use« erscheint als Allheilmittel bei der Restrukturierung der übergroßen Rüstungs-High-Tech-Komplexe, vor allem in den USA. Das Hereinreichen militärischer Dimensionen in zivile Fragen der Technikfolgenbewältigung könnte eine neue sinnvolle Kooperation von Natur- und Gesellschaftswissenschaften begründen.

Politisches Engagement von (Natur)Wissenschaftlern ist seit den »Göttinger 18« – mit einem deutlichen Schub in den achtziger Jahren – selbstverständlicher geworden. Der politisch-moralische und fachliche Impuls der »Göttinger 18« und anderer engagierter Naturwissenschafter haben dazu beigetragen, daß das nüchterne, auf behauptete Wertfreiheit basierende Image dieser Disziplinen zu erodieren begann. Pugwash und ihrem Präsidenten Joseph Rotblat ist mit der Verleihung des Friedensnobelpreises 1995 eine späte Würdigung ihrer friedenspolitischen Beiträge zu Teil geworden.

Epistemische Gemeinschaften mit einem erklärten Normen- und Methodenkonsens haben sich anhand zentraler Problemfelder, z.B. in der Ökologie oder der Gentechnik, gebildet. Als wichtige Faktoren für eine erfolgreiche Thematisierung globaler militärischer und nichtmilitärischer Gefahren können heute die Frühwarnfunktion kritischer Expertise, der Aufbau internationaler Netzwerke und die Arbeit an strategischen Konzepten, die Ad-hoc-Forderungen und längerfristige Perspektive verbinden, gelten.

Dr. Corinna Hauswedell, Historikerin, arbeitet am Bonn International Center for Conversion (BICC) und ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF)

zum Anfang | Die „Göttinger Erklärung“ der achtzehn Atomwissenschaftler (12.4.1957)

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als „taktisch“ bezeichnet man sie, um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als „klein“ bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten „strategischen“ Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebiets zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, beläd uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.

Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.

Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.

Fritz Bopp • Max Born • Rudolf Fleischmann • Walther Gerlach • Otto Hahn • Otto Haxel • Werner Heisenberg • Hans Kopfermann • Max v. Laue • Heinz Maier-Leibnitz • Josef Mattauch • Friedrich-Adolf Paneth • Wolfgang Paul • Wolfgang Riezler • Fritz Strassmann • Wilhelm Walcher • Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker • Karl Wirtz

zum Anfang | Zur Rolle nuklearer Waffen in der russischen Politik

von Otfried Nassauer

Braucht Rußland heute und morgen Nuklearwaffen? In dieser Frage gibt es nationalen Konsens. Alle – militärische Experten, zivile Forscher und Politiker – fordern einstimmig: Rußland braucht nukleare Waffen – heute so sehr wie in der Zukunft.“ Starke Worte in einer Studie der Russisch-Amerikanischen Universität (RAU), angefertigt im vergangenen Jahr für die russische Duma. Die atomwaffenfreie Welt im Jahre 2000 – für Michail Gorbatschow mag sie ganz oben auf der Tagesordnung gestanden haben, unter Boris Jelzin hat sie kaum Priorität. Die Duma zeigt sich wenig geneigt, den START-II-Vertrag zu ratifizieren; mit der Abrüstung taktischer Atomwaffen geht es langsamer voran als vorgesehen. Der so hoffnungsvoll Geschwindigkeit gewinnende atomare Abrüstungszug droht zum Stillstand zu kommen.

Der Gründe gibt es viele. Die geplante Ausdehnung der NATO nach Osten droht zu einer grundsätzlichen Neubewertung atomarer Waffen für die Sicherheit Rußlands zu führen. Dies gilt für strategische wie für taktische Atomwaffen. Nuklearwaffen, so glauben viele in Rußland, sind die letzte Garantie für den Status der Nation als Großmacht. Sie zwingen den Westen, sich gegenüber Rußland kooperativ zu verhalten. Andere betonen, daß atomare Waffen angesichts der wirtschaftlichen Lage die billigste Form der Abschreckung darstellen – auch gegen einen konventionellen Angriff der NATO mit überlegenen Kräften. So gewinnen Nuklearwaffen angesichts der gegenwärtigen »Schwäche« Rußlands eine neue Legitimation, die weltweit die weitere atomare Abrüstung blockieren kann.

Die russische Opposition gegen START-II

In der russischen Diskussion über die strategischen Atomwaffen dominieren folgende Positionen:

  • Der START-II-Vertrag ist auf Dauer nicht im Interesse Rußlands, da Rußland, wollte es die ihm in diesem Vertrag zugestandenen Höchstgrenzen an Nuklearwaffen auf den jeweils zulässigen Trägersysteme dauerhaft ausschöpfen, bis zu 690 landgestützte Interkontinentalraketen mit je einem Sprengkopf neu bauen, beschaffen und bezahlen müßte. Für die USA bestehe keine vergleichbare Notwendigkeit zur Umstrukturierung ihrer Triade aus land-, see- und luftgestützten Atomstreitkräften. Die Alternative, mittelfristig eine deutliche nukleare Unterlegenheit gegenüber den USA in Kauf zu nehmen oder aber erhebliche finanzielle Ressourcen, die anderweitig viel dringender benötigt werden, in die Aufrechterhaltung nuklearer Parität zu investieren, sei für Rußland unvorteilhaft. Die unter START-II gemachten Zeitvorgaben für die weitere Abrüstung seien für Rußland aus wirtschaftlichen Gründen kaum einhaltbar.
  • Der Vertrag gestatte es sowohl den USA als auch Rußland im Falle eines Ausscherens aus den Vereinbarungen, die Zahl ihrer strategischen Atomwaffen wieder zu vergrößern. Für Rußland sei nachteilig, daß START-II den USA eine viel raschere und umfangreichere Vergrößerung ihres Potentials ermögliche.
  • Das Rußland durch den Vertrag erlaubte Atomwaffenpotential sei erheblich verwundbarer als das amerikanische. Rußlands U-Boote und die kleine Bomberflotte seien technologisch unterlegen und die landgestützten strategischen Interkontinentalraketen seien künftig bei einem Angriff erheblich leichter zu dezimieren.
  • Die Erweiterung der NATO verschlimmere die Lage im Verein mit neuen technischen Entwicklungen erheblich. Zum einen könnten die USA taktische luftgestützte Nuklearwaffen künftig in einer Krise geographisch näher an den russischen Grenzen und den russischen strategischen Atomwaffen stationieren. Den taktischen Atomwaffen der USA komme damit für Rußland künftig strategische Bedeutung zu.12 Zum anderen führe die zunehmende Ausstattung der NATO-Streitkräfte mit konventionellen, luftgestützten präzisionsgelenkten Abstandswaffen dazu, daß auch diese zu einer erheblichen Gefährdung des strategisch-nuklearen Potentials Rußlands werden.
  • Schließlich sei der Versuch konservativer Kräfte in den USA, den ABM-Vertrag auszuhebeln und ab 2003 ein nationales Raketenabwehrsystem zu stationieren, auf eine Reduzierung und späte Ausschaltung der russischen Zweitschlagsmöglichkeit gerichtet.

NATO-Erweiterung, KSE-Vertrag und die Rolle nuklearer Waffen

Große Sorgen macht der russischen Politik darüberhinaus der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Der Vertrag kann als letztes rüstungskontrollpolitisches Kind des Kalten Krieges gelten. In ihm werden für eine der NATO entsprechende westliche Staatengruppe und eine dem ehemaligen Warschauer Pakt entsprechende östliche Staatengruppe Obergrenzen für konventionelle Großwaffensysteme wie Panzer, Geschütze, Kampfhubschrauber und Flugzeuge festgelegt. Die Auflösung des Warschauer Paktes und später der Sowjetunion haben aber die sicherheitspolitische Landkarte Europas weitgehend verändert, so daß die Regelungen des KSE-Vertrages angepaßt werden müssen.

Russische Politiker und Militärs betonen immer wieder, daß durch die NATO-Erweiterung eine konventionelle Überlegenheit der NATO in der Größenordnung von drei oder gar vier zu eins entstehe.13 Überlegenheit in dieser Größenordnung schafft – so die Theorie militärischen Denkens – die Gelegenheit, erfolgversprechend Angriffe durchzuführen. Da die NATO zudem – der Golfkrieg gilt in Rußland vielen als Beleg – über qualitativ bessere Waffen verfüge, verschärfe sich aus russicher Sicht das Problem. Rußland könne ohne Ausscheren aus dem KSE-Vertrag und ohne enorme finanzielle Aufwendungen seine konventionelle Unterlegenheit nicht ausgleichen. Taktische Atomwaffen seien deshalb eine relativ preiswerte Alternative zu konventioneller Aufrüstung und Vertragsbruch. Der russische Atomminister Michailov wurde im September letzten Jahres deutlich: Rußland könne, so spekulierte er, auf die Erweiterung der NATO mit dem Bau einer neuen Generation taktischer Atomwaffen kleinster Sprengkraft reagieren und diese bei der Rohr- und Raketenartillerie sowie bei der Luftwaffe stationieren. 10.000 solcher neuen Sprengköpfe, gebaut aus dem recycelten Bombenstoff der zur Abrüstung anstehenden alten Atomwaffen, seien realisierbar. Der Teststopp-Vertrag müsse dafür nicht verletzt werden – lediglich über eine Kündigung des INF-Vertrages müsse vielleicht nachgedacht werden.

Auch wenn Michailov im Kreml für diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Zustimmung finden dürfte: Viele der russischen Argumente sind gute alte Bekannte. Es sind die Argumente der NATO aus den siebziger und achtziger Jahren. Sie prägten die NATO-Strategie der flexiblen Antwort und das Denken in militärischen Kräftebalancen. Es sind – unter umgekehrten Vorzeichen – die Argumente aus einem gespaltenen Europa. Die Erweiterung der NATO – so wird es von dem größten Teil der russischen Eliten gesehen – wird eine neue Spaltung Europas, neue Trennlinien durch den alten Kontinent hervorrufen.

Nuklearwaffen in der russischen Militärdoktrin

Eine mögliche Neubewertung der atomaren Waffen hatte sich in Rußland bereits 1993 angedeutet. Damals wurde ein Dokument über »Die Grundzüge der Militärdoktrin« durch den Sicherheitsrat der Russischen Föderation gebilligt und veröffentlicht.

Das Dokument weist den Nuklearwaffen im Kern fünf Aufgaben zu: Die Abschreckung gegenüber dem US-Nuklearpotential, die Abschreckung gegenüber den Atomwaffen der anderen erklärten Atommächte, die Abschreckung eines konventionellen Angriffs auf das atomare Potential Rußlands und dessen wesentliche Infrastruktur, die Abschreckung eines großen konventionellen Angriffs sowie die Rückversicherung gegenüber Risiken aus der Proliferation. Detailliertere Forderungen hinsichtlich des erforderlichen Atomwaffenpotentials oder Beschreibungen der Einsatzstrategie sind nicht enthalten. Ebensowenig fordert das Dokument die Fähigkeit, mit Nuklearwaffen einen Krieg führen und gewinnen zu können. Abschreckung mit dem Ziel, einem „Agressor den intendierten Schaden garantiert zufügen“ zu können, steht im Zentrum.

Allerdings wiederholt das Dokument den seit 1982 gültigen deklaratorischen Verzicht der Sowjetunion auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen nicht länger, sondern formuliert vier Ausnahmen, in denen Rußland auch auf einen Ersteinsatz zurückgreifen könnte: gegenüber einer nuklearen Macht, Verbündeten einer Atommacht, die sich an einem Angriff auf Rußland beteiligen, gegenüber anderen Staaten, die sich einem solchen Angriff anschließen und gegenüber Staaten, die dem NPT nicht beigetreten sind.

Implizit werden bereits zu diesem Zeitpunkt die mittel- und osteuropäischen Staaten gewarnt: Die Mitgliedschaft in der NATO oder die Beteiligung an militärischen Aktivitäten gegen Rußland werde sie der russischen Drohung mit dem Ersteinsatz atomarer Waffen aussetzen.

Die Interpretierbarkeit der »Grundzüge der Militärdoktrin« dürfte gewollt sein. Die russische Politik will sich ihre endgültige Entscheidung über Umfang und Funktion ihres Nuklearpotentials offenhalten, bis die grundlegenden Entscheidungen über die künftigen Strukturen europäischer Sicherheit gefallen sind.

Diese Entscheidungen stehen in den kommenden zweieinhalb Jahren an. Ihre Grundlinien sollen – unter dem Druck des NATO-Zeitplans für die Aufnahme neuer Mitglieder – noch bis zum NATO-Gipfel im Juli 1997 festgelegt sein.

Neue Kompromißlinien – neue Abrüstungschancen?

Seit Ende letzten Jahres reagieren die NATO-Staaten erstmals mit signifikanten Veränderungen ihrer Positionen auf die veränderte Diskussion in Rußland. Die hohe Priorität, die Washington und Brüssel der politischen Durchsetzung der Osterweiterung der Allianz zumessen, fordert rüstungskontrollpolitische Kompromisse.

Der damalige US-Verteidigungsminister William Perry signalisierte, über ein START-III Rahmenabkommen könne verhandelt werden, ohne daß Rußland zuvor den START-II-Vertrag ratifiziere. Die Möglichkeit eines solchen Vorgehens wird mittlerweile in bilateralen Gesprächen auf hoher Ebene ausgelotet. Dabei zeigte sich, daß letztlich auch im Bereich der atomaren Gefechtsfeldwaffen in Europa neue Bewegung enstehen könnte.

Um russischen Befürchtungen entgegenzutreten, die NATO werde taktische Nuklearwaffen auf dem Boden der neuen Mitgliedsstaaten und damit erheblich näher an Rußland und dessen strategischen Atomwaffen stationieren, erklärte der NATO-Rat im Dezember 1996: „die NATO-Länder (haben) nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlaß, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren (… – und wir sehen dazu auch in Zukunft keine Notwendigkeit.“

Aus russischer Sicht ist dies ein erster Schritt in die richtige Richtung, allerdings kein hinreichender. Zum einen will Rußland, daß die NATO auch in Krise oder Krieg keine Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten stationiert. Indirekt wird damit auch ein Verzicht auf den Aufbau einer Infrastruktur zur Lagerung von Atomwaffen für den Krisenfall gefordert. Zum anderen möchte Rußland den Verzicht der NATO rechtlich bindend verankert wissen. Als Präzedenzfall gilt Rußland dabei der 2+4-Vertrag.

Die letzte Forderung bringt die NATO in eine Zwickmühle. Kann das Bündnis rechtlich verbindlich auf die Stationierung nuklearer Waffen auf dem Territorium von Staaten verzichten, die sich das Recht auf eine solche Stationierung und die Mitwirkung an der nuklearen Teilhabe der NATO für die Zukunft vorbehalten wollen? Würde die NATO nicht zwei Klassen von Bündnismitgliedern unterschiedlicher Rechte und Pflichten schaffen?

Auch hier deutet sich ein möglicher Ausweg an: Alle nuklearen Gefechtsfeldwaffen, die in den neuen Mitgliedsstaaten der Allianz stationiert werden könnten, gehören den USA. Als Nationalstaat können die USA eine bindende Zusage abgeben, auf die Stationierung atomarer Gefechtsfeldwaffen in den neu aufzunehmenden NATO-Staaten zu verzichten. In bilateralen amerikanisch-russischen Gesprächen wird deshalb ventiliert, ob eine für Rußland hinlängliche Zusage in den Kontext einer Rahmenvereinbarung über START-III aufgenommen werden kann.

Manche Überlegungen gehen noch einen Schritt weiter. Wird im Rahmen von START-III erst einmal über taktische Atomwaffen geredet, so könnten dort (oder in entsprechenden Zusatzprotokollen) auch weitere Abrüstungsvereinbarungen über atomare Gefechtsfeldwaffen in Europa und anderswo aufgenommen werden. Damit könnte ein einheitlicher Rahmen für alle nuklearen Abrüstungsbemühungen und einheitliche Obergrenzen für taktische und strategische, aktive und inaktive Atomsprengköpfe entstehen. Auch Zahlen wurden in diesem Zusammenhang bereits genannt: Zwischen 1.000 und 2.500 Atomsprengköpfe würde jede der beiden Seiten behalten.14

Ein solches Vorgehen weist auch aus NATO-Sicht erhebliche Vorteile auf. In Brüssel hegt man seit geraumer Zeit Befürchtungen, daß Rußland die 1991 einseitig versprochenen Reduzierungen und Außerdienststellungen taktisch-nuklearer Gefechtsfeldwaffen bis heute nicht vollständig umgesetzt hat. In Rußland seien – so die NATO – wahrscheinlich weiterhin Tausende, wenn nicht mehr als zehntausend taktische atomare Gefechtsfeldwaffen vorhanden. Gleichgültig, ob Rußland seine zugesagten Reduzierungen aus finanziellen Gründen oder aus Mangel an geeigneten Delaborierungskapazitäten nicht umsetzen konnte oder ob die russische Administration diese Selbstverpflichtungen aus außen- oder innenpolitischen Gründen nicht vollständig umsetzen wollte: Auf diese Waffen wollen jene russischen Militärs zurückgreifen, die mit einer russischen Kopie der NATO-Strategie der flexiblen Antwort auf die konventionelle Überlegenheit der NATO antworten wollen. Sie verweisen damit auch auf ein weiteres Problem: Rußland wird weitreichenden nuklearen Abrüstungsschritten nur dann zustimmen können, wenn die NATO ihm auch bei KSE-2, der konventionellen Abrüstung, deutlich weiter als bisher entgegenkommt.15

Die äußerst enge Verzahnung der Problembereiche NATO-Erweiterung, Aktualisierung des KSE-Vertrages, START-III und NATO-Rußland Verhältnis wird deutlich: Solange die NATO ihr Versprechen einer strategischen Partnerschaft mit Rußland nicht auch aus russischer Sicht erfüllt und solange in Rußland Befürchtungen existieren, die NATO könne sich erneut als Gegner erweisen, solange blockiert die NATO-Erweiterung sowohl die konventionelle als auch die nukleare Rüstungskontrolle. Sicherheit in Europa kann nur mit Rußland, nicht aber gegen Rußland gestaltet werden.

Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)

zum Anfang | IPPNW-Bericht über primitive Kernwaffen

Erneut haben die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) vor dem Risiko nuklearer Erpressung durch terroristische Gruppen gewarnt, da seit dem Ende des Kalten Kriegs Atommaterial immer leichter zu beschaffen sei und aufgrund des ohnehin problemlosen Zugangs zu den für den Bau eines einfachen Kernsprengsatzes erforderlichen Informationen.

Der von der IPPNW vorgestellte Bericht »Crude Nuclear Weapons: Proliferation and Terrorist Threat« analysiert eingehend die Bestandteile und das technische Know-how, die für den Bau der drei Typen von »Mini-Nukes« erforderlich sind, die am leichtesten in die Hand von Terroristen fallen können. Diese Typen wären:

  • Sprengsätze vom Hiroshima-Typ (gun type), die die geringsten Konstruktionsprobleme bereiten, aber große Mengen an hochangereichertem Uran erfordern würden – ein Material, das sich nach wie vor unter strenger militärischer Kontrolle befindet.
  • Implosionsgezündete Sprengsätze nach Art der 1945 über Nagasaki abgeworfenen Bombe wären schwieriger zu konstruieren, und ihre Herstellung wäre mit größeren Risiken verbunden. Man würde für sie jedoch nur umgewandeltes Reaktorplutonium benötigen. Eine Waffe dieser Art herzustellen, so die Einschätzung der Autoren, läge durchaus im Rahmen der Möglichkeiten einer kleinen Gruppe, die über größere finanzielle Mittel verfügt.
  • Der dritte Typ ist ebenfalls ein implosionsgezündeter Sprengsatz, für den jedoch leichter zu beschaffendes Plutoniumoxid verwendet wird. Er wäre am leichtesten zu konstruieren. Doch seine Sprengkraft sei nur schlecht kalkulierbar. Andererseits könnte er gerade durch seine Fähigkeit, weite Flächen mit Plutonium und anderem radioaktivem Material zu kontaminieren, für terroristische Organisationen besonders attraktiv werden.

Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, daß eine terroristische Gruppe, die entschlossen genug ist, sich 55-60 Kilogramm hoch angereichertes Uran oder kleinere Mengen Plutonium oder Plutoniumoxid zu verschaffen, eine primitive Kernwaffe bauen könnte. Die Maßnahmen der Staaten zur Sicherung spaltbaren Materials (u.a. des bei der Verschrottung von Atomwaffen angefallenen) seien „chaotisch und ineffizient“. In Rußland würden Maßnahmen, die das kriminelle Abzweigen von Atommaterial ausschlössen, durch die dortigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zusätzlich erschwert. Und es sei nicht unwahrscheinlich, daß einige terroristische Gruppen einen Kernsprengsatz bauen würden, falls sich ihnen die Gelegenheit dazu bietet.

In der Zusammenfassung ihres Berichts fordert die IPPNW:

  • Die internationale Kontrolle spaltbaren Materials zu verschärfen und Schritte zu seiner Endlagerung in die Wege zu leiten;
  • das Problem der weltweiten Nachfrage nach spaltbarem Material, sei es ziviler oder militärischer Herkunft, bei seinen Wurzeln anzugehen;
  • internationale Lösungen für die Probleme der Atomproliferation und eines möglichen Atomterrorismus zu entwickeln, die über die eng definierten »nationalen Sicherheitsinteressen« der USA, Rußlands und anderer Atomwaffenstaaten hinausgehen;
  • anzuerkennen, daß die endgültige Abschaffung der Atomwaffen die einzige sinnvolle Möglichkeit ist, langfristig den Gefahren zu begegnen, die von einem möglichen Atomterrorismus ausgehen.

Kein Erpressungsversuch wäre durchschlagender, als wenn es einem Terroristen gelänge, eine ganze Stadt zur Geisel zu nehmen“, meint Bernard Lown, der Mitbegründer und langjährige Co-Präsident der IPPNW in seinem Vorwort. „Kein anderes Zerstörungsinstrument kann einem Gemeinwesen größere Verheerungen zufügen oder einer größeren Zahl von Menschen das Leben kosten. Nur zu bald könnten Terroristen auf den Gedanken kommen, nicht nur ein einzelnes Gebäude in Schutt und Asche zu legen, sondern eine ganze Großstadt zusammen mit ihrem Einzugsgebiet mittels einer Kernwaffe in ein atomares Inferno zu verwandeln.“

(Geschrieben wurde »Crude Nuclear Weapons« von dem Geschäftsführer von IPPNW International, Gururaj Mutalik, dem Kernphysiker und Abrüstungsexperten Frank Barnaby und den wissenschaftlichen Beratern Peter Taylor und David Summer. Der Bericht ist der erste einer neuen Serie von IPPNW-Publikationen mit dem Titel »Global Health Watch Reports«.)

John Loretz, Redaktion Medicine And Global Survival
Übersetzung: Sebastian Scholz
Dieser Artikel wurde erst in „Arzt und Umwelt/Medizin und Globales Überleben“, 1/97 veröffentlicht.
Die volle Studie in englischer Sprache (70 Seiten) oder eine Zusammenfassung auf deutsch (20 Seiten) sind von der IPPNW-Geschäftstelle, Körtestr. 10, 10967 Berlin, zu beziehen.

zum Anfang | Folgen der französischen Atomtests im Südpazifik

von Steffen Rogalski

Bei der Untersuchung geologischer Folgen und Risiken der französischen Atomtests in Polynesien geht es zum einem um die Folgen von atomaren Explosionen in vulkanischen Atollen generell und zum anderen um die speziellen Folgen für Mururoa und Fangataufa. Dabei ist interessant zu wissen, daß die USA ihre Tests auf pazifischen Inseln unter anderem wegen deren ungünstiger geologischer Strukur einstellten.16 Auch die Untersuchungen des Instituts für Ozeanographische Wissenschaften in South Hampton auf ähnlichen vulkanischen Inseln (Hawaii und Kanaren) bestätigten die besonderen Risiken.17

Bereits 1979 waren die Schäden an der 24 Kilometer langen Riffkrone Mururoas erheblich. In französischen Militärkarten aus dem Jahre 1980 ist eine 3,50 Meter breite und mehrere Kilometer lange Spalte verzeichnet, ebenso wie mehrere Spalten längs und seitwärts. Deswegen warnten bereits 1981 auf dem Atoll arbeitende Ingenieure vor einem weiteren Absinken der Insel. 1987 besuchte der französische Meeresforscher Jacques Cousteau Mururoa. Seine Aufnahmen von meterbreiten Rissen in den Inselflanken unter Wasser, die von einem Forschungs-U-Boot in 200 Meter Tiefe aufgenommen wurden, wanderten um die ganze Welt. Außerdem stellte Cousteau hohe Konzentrationen von radioaktivem Jod 131 im Sediment der Lagune und im Plankton fest. Wegen der geringen Halbwertzeit dieses Stoffes (acht Tage) konnte dies kein Überbleibsel vergangener Atomtests in der Atmosphäre sein, sondern mußte von unterirdischen Explosionen stammen. Cousteau machte sich aber damals die nie offiziel belegte Erklärung zu eigen, daß das Jod 131 durch die defekte Ventilklappe eines Testbohrlochs an die Oberfläche gelangt sei und nicht durch Gesteinsrisse. Das Cousteau-Team wollte diese These allerdings nicht bestätigen. (IPPNW 1995, S. 116)

Die Brüchigkeit des Mururoa-Atolls veranlaßte aber offensichtlich die französischen Militärs dazu, einerseits die Tests aus dem Atollring in den Lagunenboden zu verlagern und andererseits Tests mit größerer Sprengkraft auf Fangataufa durchzuführen.

Am 12. Juli 1995 berichtete die »tageszeitung« über Spalten und Risse in den Atollen und erläuterte die Ergebnisse mehrerer Untersuchungen. Untersuchungen, die unvollständig blieben, da die unabhängigen Experten nicht länger als ein paar Tage auf den Inseln bleiben durften und ihre Experimente teilweise reglementiert wurden. Der populäre Vulkanologe Haroun Tazieff z.B. weilte ganze drei Tage auf Mururoa. Er kam trotz der Kürze der Zeit zu der Einschätzung, daß bei einer Explosion im Sommer 1979, bei dem ein Sprengsatz in nur 400 Meter Tiefe gezündet wurde, ein eine Million Kubikmeter großer Brocken vom Atollring abgesprengt wurde.

Die Pariser Zeitung Le Monde veröffentlichte am 3. Oktober 1995 eine Skizze des Mururoa-Atolls, die offensichtlich nur für den internen Dienstgebrauch der militärischen Befehlshaber des Versuchszentrums bestimmt war. Danach gab es schon Anfang der achtziger Jahre auf dem Atoll Risse, die sich in Quer- und Längsrichtung bis zu 8,5 Kilometer weit erstreckten. Die Risse, die später mit Zement geschlossen wurden, wurden zu einer Zeit festgestellt, als auf der Insel »nur« etwa 30 unterirdische Atomtests stattgefunden hatten; danach folgten noch etwa 100. Die Direktion des Versuchszentrums bestätigte, daß sich um die Explosionsherde herum immer wieder Risse bildeten, diese würden aber die Haltbarkeit des Atolls nicht tangieren. Die radioaktiven Rückstände blieben bis zu 99 Prozent in dem (in 500 bis 1.000 Meter Tiefe) durch die Hitzeentwicklung der Explosion zugeschmolzenen Hohlraum eingeschlossen.18

Demgegenüber steht unter anderem die Erfahrung von Grenpeace. Die Umweltschutzorganisation stellte im Jahre 1990 außerhalb der Zwölf-Meilen-Sperrzone rund ums Mururoa-Atoll bei Planktonproben eine erhöhte Konzentration des Cäsiumisotops 134 fest. Da dieses Isotop nicht im Fallout von atmosphärischen Atomtests vorkommt, kann es nur aus den unterirdischen Versuchen stammen. Mururoa gibt also heute schon radioaktive Substanzen aus unterirdischen Tests ab.

Über eine zusätzliche Verseuchung der Landfläche von Mururoa durch radioaktiven Müll berichtet eine internationale IPPNW Kommision. Dort heißt es: „Dank dieser Praktiken im Umgang mit Atommüll (auf Mururoa) befinden sich auf dem Grund der Lagune schätzungsweise 20 Kilogramm Plutonium 239. Das Team aus Australien, Neuseeland und Papua-Neuguinea schätzte, daß jährlich 20 Gigabequerel Plutonium 239 aus der Lagune ins Meer gelangen. Diese Aussage stimmt überein mit der Entdeckung des Cousteau-Teams, daß die Konzentration von Plutonium 239 an der Einfahrt der Lagune zehnmal höher ist als in der Lagune selbst. Sie wiesen auch darauf hin, daß die festgestellten Konzentrationen in der Grundschicht der Lagune und im Wasser viel zu hoch sind, um dem globalen atmosphärischen Fallout zugeschrieben werden zu können, und daher lokalen Ursprungs und auf die Remobilisierung sedimentärer Ablagerungen zurückzuführen sind.“ (IPPNW 1995, S.118f)

Beängstigend sind auch zahlreiche Prognosen. Nach einem geothermischen Computermodell (Simulationsprogramm) der Professoren Hochstein und O'Sullivan19 von der neuseeländischen Universität Auckland von 1985 setzt das von Seewasser getränkte Gestein, in dem die Atombombe explodierte, ein künstliches geothermisches System in Gang. Die extrem aufgeheizte Explosionskammer steigt demnach wie in einem Kamin nach oben, und zwar mit einer Geschwindigkeit von zehn Metern pro Jahr. Bei einer Sprengtiefe von 500 Metern würden die Radionuklide nach dieser Studie innerhalb von 50 Jahren die Erdoberfläche erreichen und nicht erst nach einem Jahrtausend, wie französische Behörden verlauten ließen.20

Jahrelang wurden Untersuchungen unabhängiger Wissenschaftler zu den Folgen der Atomtests auf den Pazifikinseln be- oder auch verhindert. Selbst ein Untersuchungsteam der EU durfte nach den letzten Explosionen Teile des Mururoa-Atolls und Fangataufa nicht inspizieren.21

Jetzt soll unter der Federführung des Beratungsausschusses der Internationalen Atomenergieorganisation eine Studie über die radiologische Situation der ehemaligen Atomtestgebiete Mururoa und Fangataufa erstellt werden. Eingeladen sind über 75 Wissenschaftler aus 20 Ländern. Die Studie soll allgemein die mögliche Betroffenenheit von Menschen durch das Freiwerden radioaktiver Stoffe und die geologische Situation der Atolle untersuchen, weiter sollen die Wissenschaftler Empfehlungen erarbeiten über die Form, das Ausmaß und die Dauer einer weiteren Beobachtung. Eine Untersuchung der Atomtestfolgen auf den Menschen ist im Rahmen dieser Studie nicht vorgesehen.

Dabei liegt auch die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung auf der Hand. Nach Gabriel Tetiarahi, Koordinator der tahitianischen Nichtregierungsorganisation Hiti Tau leiden ungefähr 90 Prozent von 1.000 interviewten Arbeitern, die auf den Testgeländen beschäftigt waren, an verschiedenen Arten von Krebs (Hussein 1997a, 14). Die UNO schätzte die Anzahl der Strahlentoten infolge der ober- und unterirdischen Atomtests im Pazifik allein bis 1980 auf 15.000 Menschen. (Worm 1995).Doch die Vergangenheit scheint nicht zu interessieren in Französisch-Polynesien, wo in den Statistiken ohnehin nur 60 Prozent der Todesursachen erfaßt wurden.

Steffen Rogalski, Diplompolitologe, Vorsitzender des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa

zum Anfang | Atomwaffenfreie Zonen – Beispiel für Europa

von Xanthe Hall

Vertraglich abgesicherte, atomwaffenfreie Zonen überziehen fast die gesamte südliche Welthemisphäre. Afrika, Lateinamerika, Antarktis, Südostasien und der Südpazifik zeigen uns damit den juristisch und ethisch einwandfreien Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. Die dort abgeschlossenen Abkommen sind über viele Jahre verhandelt worden. Zur Zeit werden weitere derartige Zonen in Südasien, im Nahen Osten und in Ostasien offiziell ins Auge gefaßt. Warum, so bleibt angesichts dieser Entwicklungen zu fragen, sollten nicht auch in Europa atomwaffenfreie Zonen gebildet werden? Es wäre nicht zuletzt auch eine vertrauensbildende Maßnahme zwischen der NATO und Russland.

Seit 1959, als der Antarktis-Vertrag zur Unterschrift freigegeben wurde, sind insgesamt fünf Verträge über atomwaffenfreie Zonen abgeschlossen worden. Letztes Jahr unterschrieben 43 Staaten Afrikas den Pelindaba-Vertrag; ein Jahr davor wurde Südostasien (SEANWFZ) atomwaffenfrei. 1986, mitten im Kalten Krieg, erklärten sich alle Inseln des Südpazifiks, samt Australien und Neuseeland und einschließlich ihrer Meere, für atomwaffenfrei (Raratonga-Vertrag). Die Länder Lateinamerikas mit ihren Gewässern waren die ersten, nach der Antarktis, die 1967 einen Vertrag über Atomwaffenfreiheit abgeschlossen haben, der allerdings erst jetzt in Kraft tritt (Tlateloco-Vertrag).

Das Enstehen und die Verpflichtungen der Zonen

Atomwaffenfreie Zone, das bedeutet nicht nur, daß keine Atomwaffen in der definierten Zone stationiert werden dürfen. Meistens wird vertraglich eine Verpflichtung mit den atomwaffenbesitzenden Staaten vereinbart, Atomwaffen nicht gegen die Staaten in dieser Region einzusetzen oder gar damit zu drohen, sowie keine Atomtests in der Region durchzuführen. (Frankreich hat deshalb auch den Raratonga-Vertrag erst 1996, nach seiner letzten Atomtestreihe, unterzeichnet).

Die fünf Verträge sind vor einem unterschiedlichen Hintergrund entstanden und unterscheiden sich dementsprechend in vielen Punkten voneinander. Der Pelindaba-Vertrag z.B. schließt Afrikas Gewässer nicht ein. Mit dem Vertrag wollten die afrikanischen Staaten den Atomwaffenverzicht der Republik Südafrika absichern. Deshalb beinhaltet er ein Verbot auf Atomwaffenforschung und eine Verpflichtung, alle aus der Zeit vor dem Vertrag existierenden Atomwaffen zu zerstören. Der Raratonga-Vertrag ist aus dem Protest gegen französische Atomtests entstanden. Im Mittelpunkt steht deshalb das Verbot des Testens von Atomwaffen und der Deponierung von Atommüll im Meer. Tlateloco war eine Reaktion auf die Kuba-Krise 1962, nach Hiroshima und Nagasaki sicher der Zeitpunkt, zu dem die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen am größten war. Kuba unterzeichnete den Vertrag übrigens erst 1995.

Atomwaffenfreie Zonen sind vor allem vertrauensbildende Maßnahmen. Sie können helfen, die Spannung in einer Konfliktsituation zu reduzieren und die Unbeteiligten zwischen den Konfliktparteien zu schützen. In Südostasien wollen die Vertragsparteien insbesondere Sicherheitsgarantien von China. Es geht ihnen um die völkerrechtlich verbindliche Zusicherung, daß China nie Atomwaffen gegen sie einsetzen wird. Die SEANWF-Zone gibt gleichzeitig ein Signal an Indien und Pakistan, die beide immer stärker unter Druck geraten, ihre Atomwaffenstrategie zu erklären und aufzugeben.

Die Konferenz der Vertragsparteien des Atomwaffensperrvertrags diskutiert atomwaffenfreie Zonen seit langem als Teil eines Nichtweiterverbreitungs-Regimes. In den letzten Jahren sind u.a. der Nahe Osten, Mittelasien, Südasien, die koreanische Halbinsel und Zentral- und Osteuropa als mögliche neue atomwaffenfreie Zonen ins Gespräch gekommen.23 Ich möchte auf das letztere fokussieren: Warum eine atomwaffenfreie Zone in Zentral- und Osteuropa bilden?

NATO-Osterweiterung

Die geplante Osterweiterung der NATO hat sowohl in der russischen Bevölkerung als auch bei Regierungs- und Parlamentsvertretern in Moskau für Verstimmung, teilweise sogar für neue Vorbehalte gegenüber dem Westen gesorgt. Dies berichteten Kollegen unserer russischen Sektion der »Ärzte gegen Atomkrieg« (IPPNW) schon 1995 während eines internationalen Workshops in Berlin.

Die Befürchtung der Russen wird genährt durch die Tatsache, daß NATO-Mitgliedsstaaten in aller Regel verpflichtet sind, die Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Territorium zu akzeptieren. Aus diesem Grund könnten neue Mitgliedsstaaten der westlichen Verteidigungsallianz dazu benutzt werden, nukleare Sprengköpfe aus westlichen Arsenalen dichter an die Grenzen Rußlands heranzuführen.

Vor dem Hintergrund dieses bedrohlichen Szenarios entschieden die Teilnehmer des Berliner Workshops, sich in der Öffentlichkeit massiv für eine atomwaffenfreie Zone in Zentral- und Osteuropa einzusetzen und damit präventiv gegen die Stationierung westlicher Atomprojektile an Rußlands Grenzen anzugehen. Seitdem haben viele Friedensorganisationen, Forschungsinstitute sowie Vertreter der russischen, weißrussischen und ukrainischen Regierung dazu aufgerufen, diese Initiative zu unterstützen.

Vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee

Der Vorschlag, eine atomwaffenfreie Zone in der Region zwischen Ostsee und Schwarzem Meer einzurichten, ist nicht neu.24 Er reicht zurück in die fünfziger Jahre und wurde 1990 von Weißrußland wiederaufgegriffen. Die Initiative wurde seitdem wiederholt bei internationalen Treffen thematisiert.25 Aber ausgerechnet die Staaten, die zum Kernland einer solchen atomwaffenfreien Zone gehören müßten, die geplanten neuen NATO-Mitgliedsländer Polen, Tschechien26 und Ungarn, erklärten sich öffentlich bereit, die Stationierung von Atomwaffen auf ihrem Territorium zu akzeptieren.

Die NATO hingegen hat in dieser Frage bisher keine eindeutige Position erkennen lassen. Es gebe, wie es heißt „keine a-priori-Pläne für eine Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern“. Für die Zukunft läßt das westliche Verteidigungsbündnis diese Option allerdings offen und besteht darauf, daß die mittel- und osteuropäischen Staaten mit NATO-Affinität ausdrücklich Bereitschaft zur Stationierung von Atomwaffen signalisieren.27

Als Folge dieser neuen Sicherheitslage drohte Rußland mit allen möglichen Sanktionen, einschließlich einer Neubewertung bereits abgeschlossener Abrüstungsabkommen, wie des START-II- und des ABM-Vertrages, falls die NATO die Osterweiterung in die Tat umsetzt.28 Sogar Weißrußland zog noch einen Pfeil aus dem Köcher, indem es wegen der atomaren Stationierungspläne der NATO die bereits angelaufene Verschrottung weißrussischer Arsenale wieder stoppen wollte.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre besuchte im Mai 1996 eine internationale IPPNW-Delegation das NATO-Hauptquartier in Brüssel. Gegenüber den IPPNW-Emissären bestätigte Botschafter von Moltke, daß die NATO weder eine atomwaffenfreie Zone unterstütze, noch Atomwaffenfreiheit für die neuen Mitgliedsstaaten garantieren würde. Und dies, obwohl im Bündnis bereits Präzedenzfälle existieren: Die NATO-Mitglieder Norwegen29, Island und Dänemark haben sich vorbehalten zumindest in Friedenszeiten atomwaffenfrei zu bleiben, auch wurde vertraglich festgelegt, daß die ehemalige DDR nach der Wiedervereinigung atomwaffenfrei bleiben muß.30

Auf Anregung von NGO- und IPPNW-Vertretern befürwortete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Juli 1996 bei einem Treffen in Stockholm die Einrichtung atomwaffenfreier Zonen in Europa. Erst durch Initiativen dieser Art war es möglich, daß die NATO während des OSZE-Gipfels vom Dezember vergangenen Jahres in Lissabon ihren Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten erklärte. Diese Erklärung kann einen völkerrechtlich bindenden Vertrag allerdings nicht ersetzen.

Schlußfolgerungen

Ein Großteil Europas muß, ähnlich wie der Nahe Osten oder Südasien, in denen Regierungen mittlerweile Abkommen über atomwaffenfreie Zonen einfordern, zu einer dauerhaft nuklearwaffenfreien Zone werden. Verträge, die die Zahl der Kernsprengköpfe in bestimmten Gebieten auf Null herunterschrauben, können insgesamt auch zur dauerhaften Reduktion der weltweiten Atomarsenale führen und den »Druck« zur Modernisierung der veralteten Systeme auf diese Weise reduzieren. Atomwaffenfreie Zonen sind insofern ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Welt ohne nukleare Schreckensszenarien.

Rußland kann in diesem technologischen Waffenwettbewerb ohnehin kaum mehr Schritt halten. Es könnte sich allerdings bei einer Stationierung von NATO-Atomwaffen auf den Territorien seiner Nachbarländer veranlaßt sehen, das eigene Kernwaffenarsenal unter größten finanziellen Kraftanstrengungen beizubehalten und zu modernisieren. Vor diesem Hintergrund wäre eine atomwaffenfreie Zone in Mittel-und Osteuropa genau das richtige politische Signal, um die gespannte Atmosphäre im Verhältnis zwischen Rußland und dem westlichen Verteidigungsbündnis zu entkrampfen. Mit einem entsprechenden Abkommen wären sowohl die Länder West- als auch Osteuropas in der Lage, eine wirklich neue Sicherheitspartnerschaft – ohne Bauchschmerzen wegen atomarer Altlasten – einzuleiten.

Xanthe Hall arbeitet in der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) in der Geschäftsführung mit Schwerpunkt Kampagnen.

zum Anfang | Mit Recht für eine atomwaffenfreie Welt. Vom Weltgerichtshof zur Nuklearwaffenkonvention

von Jürgen Scheffran

Am 8. Juli 1996 erklärte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, daß „die Drohung und der Einsatz von Atomwaffen generell in Widerspruch steht zu den Regeln des Kriegsvölkerrechts und insbesondere zu den Prinzipien und Regeln der Menschenrechte“. Am 10. Dezember stimmten mehr als zwei Drittel der Staaten in der UNO-Generalversammlung für eine Resolution, in der die im IGH-Rechtsgutachten festgestellte Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung zum Anlaß genommen wird, unverzüglich Verhandlungen über eine Konvention zur Ächtung und Abschaffung der Kernwaffen (Nuklearwaffenkonvention) zu fordern. Damit erhöht sich der Druck auf die Kernwaffenstaaten, die in Artikel VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) eingegangenen Abrüstungsverpflichtungen einzulösen.

Nukleare Abrüstung stand bei den Vereinten Nationen schon seit ihrer Gründung ganz oben auf der Tagesordnung. In der ersten Resolution der UNO-Generalversammlung von 1946 trat die Staatengemeinschaft einmütig ein für „die Beseitigung von Atomwaffen aus den nationalen Waffenarsenalen“. In den folgenden fünf Jahrzehnten des Kalten Krieges konnte, abgesehen vom NVV und bilateralen Verträgen zwischen den beiden Supermächten, dieses Ziel nicht weiter konkretisiert werden. Ein erster Durchbruch wurde mit der UNO-Resolution 50/70 P vom 12. Dezember 1995 erzielt, in der Verhandlungen über die Abschaffung von Kernwaffen innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens gefordert werden.

Noch weiter gehen die drei 1996 verabschiedeten UN-Resolutionen. Die schon 1995 vorgelegte Resolution wurde mit 110 Ja-Stimmen erneut angenommen, diesmal jedoch mit dem Vorschlag eines „zeitlich gebundenen Rahmens durch eine Nuklearwaffenkonvention“. Auch eine von Indien vorgelegte Resolution für das Verbot des Einsatzes von Kernwaffen wurde erneut angenommen, ebenfalls mit der zusätzlichen Forderung nach einer Nuklearwaffenkonvention.

Die Zusätze in beiden Resolution sind zurückzuführen auf die von Malaysia vorgelegte Resolution 51/45M »International Court of Justice Advisory Opinion on the Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons«, die schon am 14. November bei der Vorabstimmung im First Committee der UNO-Generalversammlung eine deutliche Mehrheit erzielt hatte und bei der Endabstimmung am 10.12. von allen Resolutionen die größte Unterstützung fand (115 Staaten dafür, 22 dagegen, 32 Enthaltungen). Der Erfolg ist zum Teil zurückzuführen auf die Verbindung zwischen IGH-Rechtsgutachten und Nuklearwaffenkonvention (NWK), die in zwei Paragraphen zum Ausdruck kommt:

Paragraph 3: Die Schlußfolgerung des Internationalen Gerichtshofs wird unterstützt: „Es gibt eine Verpflichtung, in gutem Vertrauen Verhandlungen durchzuführen und zu einem Abschluß zu bringen, die zur nuklearen Abrüstung in all ihren Aspekten unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“

Paragraph 4: Es werden alle Staaten aufgerufen, „ihre Verpflichtungen sofort wahrzunehmen durch die Aufnahme von multilateralen Verhandlungen im Jahr 1997, die zu einem frühen Abschluß einer Nuklearwaffenkonvention führen, die Entwicklung, Produktion, Erprobung, Stationierung, Lagerung, Transfer, Einsatzandrohung oder den Einsatz von Kernwaffen verbietet und ihre Abschaffung durchführt“.

Aufgrund der Autorität des IGH konnte die Resolution und damit auch die weitreichende Forderung nach einer NWK nicht nur bei fast allen Entwicklungsländern Unterstützung finden, darunter auch der Kernwaffenstaat China und inoffizielle Kernwaffenstaaten wie Indien und Pakistan (Israel enthielt sich der Stimme). Auch einige westliche Staaten votierten für die Resolution (Schweden, Irland, San Marino), und die NATO-Staaten Island, Dänemark und Norwegen enthielten sich immerhin der Stimme. Damit wurden Widersprüche im zuvor homogenen westlichen Block erkennbar, die bis in die NATO hineinreichen.

Bemerkenswert war auch die Rolle von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) beim Zustandekommen der Resolution. Dies betrifft zum einen das IGH-Urteil, das seit mehreren Jahren vom World Court Project initiiert und vorbereitet worden war. Zum zweiten war die Konzeption einer NWK seit Ende 1993 durch das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) in die öffentliche Diskussion getragen worden. Im April 1995 wurde die Forderung nach einer NWK während der New Yorker NVV-Konferenz in das Gründungsdokument des globalen Netzwerks für die Abschaffung der Atomwaffen »Abolition 2000« übernommen, das nunmehr von fast 700 Organisationen weltweit unterstützt wird. Schließlich basiert die Resolution Malaysias auf einem Vorschlag des New Yorker Lawyers Committee on Nuclear Policy (LCNP), der in der NWK-Arbeitsgruppe von Abolition 2000 angeregt worden war.

In Deutschland konnten die im Trägerkreis »Atomwaffen Abschaffen« zusammengefaßten Friedensorganisationen die NWK auf die politische Tagesordnung bringen. In einer Erklärung vom 15. November 1996 wurde die Vorabstimmung im First Committee der UNO begrüßt und die Bundesregierung zur Unterstützung der Malaysia-Resolution aufgefordert. Am 22.11.1996 schrieb der abrüstungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Friedbert Pflüger, in »Die Zeit«, daß die Idee einer Konvention zur Abschaffung der Atomwaffen ernsthaft in Erwägung gezogen müsse. Von derartigen Erwägungen war jedoch in der von der PDS-Fraktion initiierten Bundestagsdebatte vom 5. Dezember 1996 nichts mehr zu hören. Pflüger nannte dort eine Welt ohne Atomwaffen unter heutigen Bedingungen utopisch, während der FDP-Sprecher Günther Friedrich Nolting die derzeitige NATO-Strategie als vereinbar mit internationalem Recht ansah, trotz des IGH-Rechtsgutachtens. Angelika Beer (Bündnis 90 / Die Grünen) und Manfred Müller (PDS) sprachen sich dagegen für die Abschaffung der Atomwaffen durch eine Nuklearwaffenkonvention aus, während Gernot Erler (SPD) einem schrittweisen Vorgehen zum letztlichen Ziel der atomwaffenfreien Welt den Vorzug gab. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, unterschied zwischen der Zustimmung der Bundesregierung zum Paragraphen 3 der UN-Resolution, womit das IGH-Rechtsgutachten weitgehend akzeptiert wurde, und der Zurückweisung der Forderung nach NWK-Verhandlungen in Paragraph 4.

Umfassend oder schrittweise zur nuklearen Abrüstung?

Ob das Konzept einer NWK weitere Unterstützung findet, hängt maßgeblich davon ab, ob die nach der NVV-Konferenz eingesetzte politische Kettenreaktion für die Abschaffung der Kernwaffen anhält. Ausdruck der gewachsenen politischen Basis ist, neben dem IGH-Urteil, dem Netzwerk »Abolition 2000« und den UNO-Resolutionen, der Bericht der Canberra-Komission sowie eine Erklärung von fast 60 Generälen und Admirälen vom 4. Dezember 1996, die sich für eine Welt ohne Kernwaffen einsetzen (siehe Seite 19).

Die von Australiens Regierung eingerichtete Canberra-Kommission schlägt in ihrem Bericht vom 14. August 1996 eine Reihe konkreter Schritte zur nuklearen Abrüstung vor, läßt aber offen, ob die atomwaffenfreie Welt besser zu erreichen sei durch einen „inkrementellen Ansatz einer Reihe separater Rechtsmittel oder durch einen umfassenden Ansatz, der alle relevanten Rechtsmittel in einem einzigen völkerrechtlichen Instrument zusammenfaßt, einer Nuklearwaffenkonvention“.

Der schrittweise Ansatz baut auf existierenden Verträgen auf und ergänzt diese um weitere Einzelmaßnahmen nuklearer Abrüstung, Rüstungkontrolle und Nichtverbreitung. Der umfassende Ansatz fordert Verhandlungen über eine Konvention zum vollständigen Verbot und zur Beseitigung der Kernwaffen.

Jedes der Konzepte in seiner »reinen« Form hat Vor- und Nachteile. Für Anhänger des inkrementellen Ansatzes ist der umfassende Ansatz politisch unrealistisch oder sogar schädlich. Kritisiert wird, daß der umfassende Ansatz realistische Schritte verhindern oder hinauszögern könnte, die schon vor einer Konvention politisch möglich wären. Für Befürworter des umfassenden Ansatzes bieten Verhandlungen über Einzelschritte keinerlei Garantien, daß das Ziel der atomwaffenfreien Welt jemals erreicht wird und daß sich die einzelnen Puzzlesteine zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Die Defizite des schrittweisen Ansatzes sind ein wesentlicher Grund für Indien, den Teststopp-Vertrag nicht zu unterzeichnen, da er keine Abrüstungsverpflichtungen der Kernwaffenmächte enthalte und diesen sogar weitere Kernwaffenentwicklungen erlaube. Ähnliche Probleme und Asymmetrien sind derzeit für den Stillstand bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen über ein Produktionsverbot für Spaltmaterialien mitverantwortlich.

Schrittweise und umfassende Ansätze sind jedoch keine unversönlichen Gegensätze, sondern können sich sinnvoll ergänzen. Ein schrittweise-umfassender Ansatz behält die Abschaffung der Kernwaffen im Blick und formuliert ein Konzept aus abgestimmten Einzelschritten zu diesem Ziel, die in verschiedenen Foren ausgehandelt werden können. Solche Schritte wären etwa ein Verbot der Herstellung und Nutzung von Kernwaffenmaterialien (Cut-Off), ein Abkommen über den Nicht-(Erst-)Einsatz von Kernwaffen, die Trennung der Trägersysteme von den Sprengköpfen oder die Schaffung weiterer kernwaffenfreier Zonen. Eine integrierte Strategie würde einseitige Maßnahmen und Erklärungen, bilaterale Verhandlungen zwischen USA und Rußland und multilaterale Verhandlungen zwischen den fünf Atommächten, in der Genfer CD oder im NVV-Überprüfungsprozeß kombinieren, alles jedoch unter dem Dach der NWK-Rahmenverhandlungen. Mit der Realisierung jedes Einzelschritts werden die noch zu lösenden Aufgaben und Probleme immer weiter eingegrenzt, der gesamte Verhandlungsprozeß gestärkt und die Schwelle für die Vollendung der umfassenden Konvention gesenkt.

Auch wenn die Staaten sich vor Beginn der Verhandlungen nicht auf einen zeitlichen Rahmen für die Beseitigung der Kernwaffen einigen können, darf dies kein Grund sein, den Beginn von Verhandlungen über eine NWK zu verzögern. Die meisten Abrüstungsabkommen enthielten zeitliche Vorgaben, und die Frage des Zeitplans für die nukleare Abrüstung wird unweigerlich auf die Tagesordnung der NWK-Verhandlungen kommen. Ein Beispiel für einen Dreistufenplan zur atomwaffenfreien Welt wurde von den blockfreien Staaten (G-21) im August 1996 bei der CD in Genf vorgelegt.

Ein so beschriebenes inkrementell-umfassendes Konzept für die NWK-Verhandlungen könnte einen Beitrag dazu leisten, die derzeitige Krise der CD zu überwinden und die notwendige Transformation des unbefriedigenden nuklearen Nichtverbreitungsregimes in ein Abrüstungsregime zu erreichen.

Der Modellentwurf einer Nuklearwaffenkonvention

Seit März 1996 wird von einem durch LCNP organisierten Komitee aus JuristInnen, NaturwissenschaftlerInnen, AbrüstungsexpertInnen und FriedensaktivistInnen ein Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention ausgearbeitet, nach dem Vorbild der Chemiewaffenkonvention (Arbeitstreffen fanden in New York und Darmstadt statt). Ein erster Diskussionsentwurf lag bis September 1996 vor, ein öffentlicher Modellentwurf wird anläßlich der Überprüfungskonferenz zum NVV am 7. April in New York präsentiert.

Der derzeitige Modellentwurf (März 1997) umfaßt 26 Artikel und zwölf Anhänge, die zusammen über 100 Seiten ausmachen. Artikel I enthält allgemeine Verpflichtungen, keine Kernwaffen zu entwickeln, erproben, produzieren, erwerben, stationieren oder zu behalten sowie Atomwaffen nicht einzusetzen und dies auch nicht anzudrohen. Forschung mit dem Ziel der Kernwaffenentwicklung ist untersagt, nicht jedoch für Abrüstung erforderliche Forschung oder die Nutzung von Wissen für die Aufklärung über die Gefahren von Kernwaffen. Die Beschränkungen gelten auch für Komponenten und Infrastruktur von Kernwaffen, insbesondere für kernwaffenfähige Materialien (hochangereichertes Uran, Uran-233, Plutonium, Tritium), für Trägersysteme sowie Befehls- und Kommunikationsanlagen (C3I) für Kernwaffen. Damit verbundene Kapazitäten sind irreversibel zu beseitigen oder zu konvertieren.

Andere Artikel betreffen die Ausführung dieser Verpflichtungen, insbesondere Definitionen, Deklarationen, den Zeitplan für Abrüstung, die Verifikation, die nationale Implementierung, die internationale Agentur, nukleare Materialien und Anlagen, Trägersysteme und C3I, Ratifizierung, Kooperation und Streitschlichtung. Die Anhänge vertiefen u.a. Verifikationsmaßnahmen und Verfahren zur Kernwaffenzerstörung.

Von kritischer Bedeutung für die Wirksamkeit der Konvention ist die Ausarbeitung spezifischer Verifikationsvorschläge, insbesondere für spezielle kernwaffenfähige Nuklearmaterialien, wobei über die Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) hinausgegangen werden muß und auch zivile Materialien in die Überprüfung einzubeziehen sind. Ein internationales Registrierungs- und Überwachungssystem umfaßt Inspektionen sowie zerstörungsfreie Meßverfahren, vor Ort installierte Sensoren, Fernsensoren und die Entdeckung von charakteristischen Radionukliden in der Umwelt. Inspektionen vor Ort würden systematische und Verdachtsinspektionen umfassen, die jederzeit und an jedem Ort durchführbar sein müssen. Durch Markierungstechniken ist eine eindeutige Identifizierung (»Fingerabdruck«) von Objekten möglich.

Eine Internationale Kontrollagentur, analog zur Chemiewaffenkonvention, hätte für die Implementierung der Konvention zu sorgen, einschließlich Verifikation und Einhaltung des Vertrages, Konsultation, Kooperation und Streitbeilegung zwischen den Vertragsstaaten. Die Konferenz der Vertragsstaaten würde auf regelmäßigen oder außerordentlichen Sitzungen die wesentlichen Entscheidungen treffen, während das »Executive Council« für die Implementierung und Durchführung der Konvention zuständig wäre. Das »Technical Secretariat« schließlich würde das Executive Council bei speziellen Aufgaben der Implementierung und Verifikation unterstützen.

Aufgrund der Komplexität des Übergangs zur kernwaffenfreien Welt ist eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Industrien und NGOs über Ländergrenzen hinweg erforderlich. Der NWK-Entwurf selbst schlägt entsprechende Mechanismen und Institutionen vor und knüpft an bestehende Regime an. Diese betreffen die nationale Implementation ebenso wie die soziale Verifikation, kollektive Maßnahmen der Vertragseinhaltung, Anreize zur Teilnahme am Regime, Forschung und Entwicklung für die Abschaffung von Kernwaffen und Nuklearmaterialien oder Vorschriften zur Minimierung heimlicher Aktivitäten.

Zur Ausgestaltung dieser und anderer Aufgaben sind noch viel Detailarbeit und wissenschaftliche Untersuchungen zu leisten. Auf alle Fragen hat der Modellentwurf keine Antwort; er möchte im Gegenteil eher die wesentlichen Fragen bewußt machen. Daher ist der aktuelle Entwurf nur als ein Zwischenergebnis in einem längerfristigen Prozeß anzusehen, der nach Bedarf und aktuellem Kenntnisstand modifiziert werden soll.

Literaturauswahl zur NWK

Liebert, W./Scheffran, J./Kalinowski, M. (1997): Vom Urteil des Weltgerichtshofs zur Nuklearwaffenkonvention: Verhandlungen zur Abschaffung der Kernwaffen beginnen, erscheint in einem von D. Deiseroth und P. Becker herausgegebenen Buch zum IGH-Urteil im agenda-Verlag, Münster.

Datan, M./Ware, A./Scheffran, J. (1996): Nuclear Weapons Convention on Track, INESAP Bulletin No.11, December 1996, S. 4-8.

Scheffran, J./Datan, M./Ware, A. (1997): Working Toward a Nuclear Weapons Convention, Vital Signs, 1/97.

Liebert, W. (1996): Nuklearwaffenkonvention aushandeln, in: Schindler-Saefkow, B./Strutynski, P. (Hg.): Kriege beenden, Gewalt verhüten, Frieden gestalten, Kassel, S. 104-110.

INESAP-Studie (1995): Beyond the NPT, A Nuclear-Weapon-Free World, INESAP-Study-Group-Report, April 25, New York, Darmstadt.

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt

zum Anfang | Es gibt keine Alternative zu einer kernwaffenfreien Welt

Auszüge aus einer öffentlichen Erklärung von 57 Generälen und Admirälen aus 17 Ländern:

(…) Aufgrund unserer Berufserfahrung mit Waffen und Kriegen in den Streitkräften vieler Nationen haben wir uns eine eingehende, vielleicht sogar einzigartige Kenntnis der gegenwärtigen Sicherheits- bzw. Unsicherheitslage unserer Länder und Völker erworben. (…)

Das Ende des Kalten Krieges hat Bedingungen geschaffen, die eine Abrüstung der Kernwaffen begünstigen. (…) Die unbeschränkte Verlängerung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen im Jahre 1995 sowie die Annahme des Vertrages über ein umfassendes Verbot von Kernwaffenversuchen durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1996 bilden (…) wichtige Fortschritte auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt. (…)

Unglücklicherweise ist jedoch eine echte Kernwaffenabrüstung trotz der erwähnten positiven Schritte nicht erreicht worden. Die Verträge schreiben lediglich die Vernichtung der Trägersysteme, nicht jedoch der Kernsprengköpfe vor. (…)

Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die folgenden Maßnahmen dringend notwendig sind und jetzt eingeleitet werden müssen:

Erstens, die bereits vorhandenen und die in der Planung vorgesehenen Kernwaffenvorräte sind bei weitem zu groß und sollten einschneidend reduziert werden.

Zweitens, die dann noch verbleibenden Kernwaffen sollten stufenweise und in voller Transparenz aus der Alarmbereitschaft herausgenommen sowie ihre Einsatzbereitschaft wesentlich verringert werden, sowohl in den offiziellen als auch in den De-facto-Kernwaffenstaaten.

Drittens, die langfristige Nuklearpolitik muß auf dem erklärten Grundsatz beruhen, Kernwaffen kontinuierlich, vollständig und unwiderruflich abzuschaffen.

Die Vereinigten Staaten und Rußland sollten – ohne jegliche Herabsetzung ihrer militärischen Sicherheit – den von START bereits begonnenen Reduktionsprozeß vorantreiben. (…) Die Verteidigung der territorialen Integrität einzelner Länder ist mit dem Fortschritt auf dem Weg zur Abschaffung der Kernwaffen durchaus vereinbar.

Man kann heute die genauen Umstände und Bedingungen für die endgültige Abschaffung dieser Waffen nicht vorhersehen oder vorschreiben. Eine Voraussetzung wäre zweifellos ein weltweites Programm der Überwachung und Inspektion, das Maßnahmen zur Buchführung und Kontrolle des Inventars an Kernwaffenmaterial einschließt. (…) Wesentlich ist auch ein abgesprochenes Vorgehen, um – wenn nötig – zwangsweise international intervenieren und geheime Aktivitäten zuverlässig und rechtzeitig unterbinden zu können.

Desweiteren ist es wichtig, kernwaffenfreie Zonen in verschiedenen Teilen der Welt zu schaffen, sowie Maßnahmen der Vertrauensbildung und der Transparenz auf dem Gebiet der Verteidigung im allgemeinen zu ergreifen. Schließlich ist es äußerst wichtig, alle Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge strikt zu erfüllen und sich beim Abrüstungsprozeß gegenseitig zu unterstützen, um auf diese Weise eine kernwaffenfreie Welt zustande zu bringen. Der Aufbau regionaler Systeme kollektiver Sicherheit unter Einschluß praktischer Maßnahmen zur Zusammenarbeit, Partnerschaft, Interaktion und Kommunikation sind wesentlich für die örtliche Stabilität und Sicherheit.

(…) Klar ist (…), daß Nationen, die im Besitz von Kernwaffen sind, nicht bereit sein werden, diese preiszugeben, solange sie nicht davon überzeugt sein können, daß es zuverlässigere und weniger gefährliche Mittel zur Gewährleistung ihrer Sicherheit gibt. Als Konsequenz davon ist ebenfalls klar, daß die Kernwaffenmächte im Augenblick nicht bereit sein werden, einem festgelegten Zeitplan für die Abschaffung zuzustimmen.

Ähnlich klar ist auch, daß es unter den Nationen, die gegenwärtig keine Kernwaffen besitzen, einige geben wird, die nicht für immer auf deren Beschaffung und Bereitstellung verzichten wollen, es sei denn, ihre Sicherheit wird auf andere Weise gewährleistet. Und sie werden auch nicht darauf verzichten, sie zu beschaffen, sollten die derzeitigen Nuklearmächte ihr nukleares Monopol für immer und ewig aufrecht erhalten wollen.

Schritte in Richtung auf die Abschaffung müssen in erster Linie von den offiziellen Kernwaffenstaaten (…) in gemeinsamer Verantwortung unternommen werden. Sie sollten aber auch von den De-facto-Kernwaffenstaaten (…) mitgetragen werden sowie von den größeren Nichtkernwaffenmächten wie Deutschland und Japan. (…)

Uns hat sich eine Herausforderung von höchster historischer Bedeutung geboten: Die Schaffung einer kernwaffenfreien Welt. Das Ende des Kalten Krieges macht es möglich.

Die Gefahren, die der Welt durch die Verbreitung von Kernwaffen, durch den Nuklearterrorismus und durch ein erneutes Kernwaffenwettrüsten drohen, machen es notwendig. Wir dürfen nicht versäumen, unsere Chance zu nutzen. Es gibt keine Alternative.

Unterzeichnet wurde diese Erklärung unter anderem von:

Brigade-General a.D. Henry van der Graaf; Direktor des Zentrums für Rüstungskontrolle und Verifikation, Mitglied des UN-Konsultationsrates für Abrüstungsangelegenheiten.

General a.D. Boris Gromov; Vizepräsident des parlamentarischen Ausschusses für internationale Angelegenheiten, ehemaliger Kommandeur der 40. Sowjetarmee in Afghanistan, ehemaliger stellv. Minister im russ. Auswärtigen Amt.

General a.D. Charles A. Horner; Kommandeur der alliierten Luftstreitkräfte während der Militäraktion »Wüstensturm« gegen den Irak 1991.

Generalmajor a.D. Alexander Lebed; russischer Präsidentschaftskandidat in 1996.

General a.D. Andrew O'Meara, ehemaliger Befehlshaber der US-Armee in Europa.

Übersetzung: Wolfgang Sternstein

zum Anfang | Handlungsbedarf – Hier und jetzt! Deutschlands Beitrag zur kernwaffenfreien Welt

von Martin B. Kalinowski

Die Mehrzahl der Staaten hat auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im Dezember 1996 beschlossen, daß in diesem Jahr Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention aufgenommen werden sollen. Damit würde der Forderung aus dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom 8. Juli 1996 entsprochen, einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zur Abschaffung der Kernwaffen auszuhandeln. Anfang des Jahres 1997 zeigte sich aber bei der Genfer Konferenz für Abrüstung, wie tief der Graben zwischen den blockfreien Ländern auf der einen Seite und den anerkannten Kernwaffenstaaten und deren Verbündeten auf der anderen Seite ist. Die 61 in Genf vertretenen Staaten konnten sich nicht einmal auf ein Verhandlungsprogramm einigen und es wird bezweifelt, ob sie dies bis Mitte des Jahres schaffen.

Indien und einige andere blockfreie Staaten bestanden auf einem festen Zeitplan für nukleare Abrüstung bis auf Null. Nur unter dieser Bedingung wäre Indien bereit, in den Abrüstungsprozeß selber einzusteigen. Vier der fünf anerkannten Kernwaffenstaaten (außer China) sowie ihre Verbündeten – darunter auch Deutschland – wollten aber nicht einmal einen Ausschuß zur Verhandlung über nukleare Abrüstung einrichten. Sie wollten lediglich über einen Produktionsstopp für spaltbare Kernwaffenmaterialien (Cut-off) verhandeln.

Um die gegenwärtige Konfrontation in Genf zu überwinden, sind neue Vorschläge notwendig. Ein solch neuer Vorschlag beinhaltet die Erweiterung des Verhandlungsmandats für den Cut-off-Vertrag auch auf das fusionierbare Kernwaffenmaterial Tritium. Damit würde dieser Vertrag eine deutliche Abrüstungskomponente bekommen, da Tritium mit einer Halbwertszeit von zwölf Jahren zerfällt. Der Tritiumzerfall könnte ein Schrittmacher sein für einen weichen Zeitplan zur Abrüstung von Kernwaffen. Vorräte aus vergangener Produktion müßten nicht unbedingt in die Verhandlungen einbezogen werden. Tritiumlose Kernwaffen gelten als dysfunktional und wären somit symbolisch abgerüstet. Da sie andererseits durch Neuproduktion von Tritium leicht wieder komplettierbar sind, wäre ein Tritiumproduktionsstopp (Cut-off) das entscheidende Signal für die Bereitschaft zur weitgehenden nuklearen Abrüstung.

Letztlich müssen aber Verhandlungen zu einer Kernwaffenkonvention aufgenommen und der Cut-off als ein dazugehöriges Element betrachtet werden. Mit einer Kernwaffenkonvention muß, ähnlich den Bio- und Chemiewaffenkonventionen, die letzte Kategorie von Massenvernichtungswaffen vollständig verboten werden.31

Abzug der Kernwaffen aus Deutschland

Deutschland besitzt zwar keine eigenen Kernwaffen, befindet sich aber unter dem »Nuklearschirm« der NATO, hat damit eine nukleare Teilhabe, unterhält geeignete Trägersysteme und bildet die Bundeswehr für den Einsatz von Kernwaffen aus.

Nach dem Urteil des Internationalen Gerichstshofes in Den Haag ist weder ein Kernwaffeneinsatz zur Unterstützung Verbündeter noch die Drohung mit demselben mit dem geltenden Völkerrecht zu vereinbaren, auch nicht im Notfall. Demzufolge sind auch alle Aktivitäten völkerrechtswidrig, die eine derartige »Nothilfe« vorbereiten oder ermöglichen. Daraus die Schlußfolgerungen zu ziehen heißt:

  • Deutschland muß seine nukleare Teilhabe an Kernwaffen der USA oder anderer Verbündeter vollständig aufgeben. Die noch in Deutschland stationierten Kernwaffen der USA in Büchel, Memmingen, Nörvenich und Ramstein müssen ebenso abgezogen werden, wie es für die letzten britischen Kernwaffen in Brüggen für 1998 fest geplant ist.
  • Die deutsche Politik muß sich klar abgrenzen von einer Beteiligung an einer irgendwie geteilten Verantwortung für einen europäischen »Nuklearschirm« (z.B. »concerted deterrence«). Insbesondere muß Deutschland auf die bilateralen Gespräche über Kernwaffen mit Frankreich verzichten, zu denen sich beide Länder im gemeinsamen Sicherheitsabkommen vom 9. Dezember 1996 in Nürnberg bereit erklärt haben.
  • Deutschland sollte sich für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Europa einsetzen. Als erster eigener Schritt zu diesem Ziel sollte die bereits in den neuen Bundesländern bestehende kernwaffenfreie Zone auf das ganze Bundesgebiet ausgedehnt werden.
  • Im Zuge der geplanten NATO-Osterweiterung sollte Deutschland darauf drängen, daß in neuen NATO-Mitgliedsstaaten nie Kernwaffen stationiert werden dürfen.
  • Schließlich darf Deutschland keine eigenen technischen Fähigkeiten zum Bau einer Kernwaffe schaffen oder aufrechterhalten. Für ein Land wie Deutschland, das eine komplexe Nuklearindustrie, aber keine Produktion von Kernwaffen hat, ist die entscheidende Frage, welche Regelungen im zivilen Bereich zu treffen sind. Insbesondere sollte Deutschland keinen direkten Zugriff auf kernwaffenfähiges Material haben (mehr dazu siehe unten).

Innovationen bei der Kontrolle ziviler kernwaffenfähiger Materialien

Das in Genf vorliegende Verhandlungsmandat für einen Cut-off-Vertrag ist auf den Minimalkonsens reduziert. Gemäß der vorangegangenen Diskussionen ist davon auszugehen, daß zunächst nur die Produktion von spaltbaren Materialien für Kernwaffenzwecke sowie außerhalb von nuklearen Sicherungsmaßnahmen (Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO) einbezogen werden. Das Mandat weist aber ausdrücklich daraufhin, daß weitere Punkte in den Verhandlungen vorgeschlagen und diskutiert werden dürfen. Das betrifft vor allem die Vorräte aus vergangener Produktion, deren Einbeziehung für einige Staaten wie Pakistan Bedingung ist. Verschiedene Staaten haben vorgeschlagen, auch die zivilen spaltbaren Materialien in die Verhandlungen miteinzubeziehen.

In diesem Punkt ist Deutschland besonders gefordert, da es als eines der wenigen Nichtkernwaffenländer in der Produktion und Nutzung von kernwaffenfähigen Materialien engagiert ist. Zwar ist seit Jahren die Entscheidung gegen eine Wiederaufarbeitungsanlage und gegen den Schnellen Brüter in Deutschland gefallen und auch die Produktion von Mischoxidbrennelementen (MOX) ist aufgegeben worden, dennoch bleiben deutsche Unternehmen im Plutoniumgeschäft, indem die EVUs ihre abgebrannten Brennelemente in Sellafield und La Hague aufarbeiten lassen (erst ein einziger Vertrag zur Wiederaufarbeitung mit Sellafield ist gekündigt worden) und indem Siemens Unteraufträge zur MOX-Fertigung für deutsche Reaktoren in Belgien und Frankreich erteilt. Das ist unökonomisch und radioökologisch schädlich. Zudem steht spätestens seit der Änderung des Atomgesetzes im Frühjahr 1994 die Option der direkten Endlagerung als Alternative zur Wiederaufarbeitung offen.

Im Rahmen des internationalen Nichtverbreitungsregimes hat sich seit des Inkrafttretens des Nichtverbreitungsvertrages ein Konsens entwickelt, nach dem die Erfüllung des Artikels IV über den Zugang zur friedlichen Nutzung der Kernenergie nicht in einer Weise geschehen darf, die das Ziel der Nichtverbreitung selber beeinträchtigt. Die notwendigen Einschränkungen für nukleare Technologien werden unter dem Stichwort »Proliferationsresistenz« diskutiert. So kam etwa die INFCE (International Fuel Cycle Evaluation) Konferenz 1979 zu dem Schluß, daß keine Forschungsreaktoren mehr gebaut werden sollten, die mit hochangereichertem Uran betrieben werden. Derartige existierende Reaktoren sollen umgerüstet werden. Zu dem Zweck wurde sowohl ein umfangreiches internationales Konversionsprogramm aufgelegt als auch ein spezielles für Deutschland vom Forschungsministerium finanziert.

Solange die kernwaffenfähigen Materialien nicht vermieden oder beseitigt werden können, sollten sie dem nationalen Zugriff entzogen werden. Die proliferations-resistentesten derzeit denkbaren Optionen sind sofortiger Verkauf und In-Treuhand-Legung auf internationalisiertem Territorium bei einer internationalen Organisation, die das Material nur lagert und nicht verwenden kann, oder die baldige Konditionierung als radioaktiver Abfall verbunden mit einer Überstellung des Materials unter internationale physische Kontrolle, die über die heutigen Safeguards hinausgeht.

In Drucksache 12/7472 antwortet die Bundesregierung auf den letzten Vorschlag: „Die Bundesregierung hat in ihrer 10-Punkte-Initiative vom 15. Dezember 1994 ein internationales Plutonium-Kontrollsystem gefordert, in dem vor allem auch das aus der Abrüstung von Kernwaffen freiwerdende Plutonium in allen Staaten internationalen Kontrollen unterworfen wird, so wie es für deutsches Plutonium bereits seit vielen Jahren der Fall ist.

Die Diskussionen um ein »International Plutonium Storage« gehen jedoch über den derzeitigen Kontrollstandard hinaus. Wesentlich ist das Ziel, den unkontrollierten nationalen Zugriff auf das Kernwaffenmaterial zu unterbinden.

Die Bundesregierung gab weiterhin die Auskunft:“Nach Artikel 80 des EURATOM-Vertrages kann die Kommission die Hinterlegung von überschüssigem Spaltmaterial verlangen, das nicht tatsächlich verwendet oder bereitgestellt wird. Die Kommission hat von dieser Möglichkeit bisher keinen Gebrauch gemacht“.

Demnach wäre es vielleicht ein denkbarer Weg, das noch im Ausland lagernde Plutonium aus der Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente bei der EURATOM zu hinterlegen, um so deutlich zu machen, daß es nicht in Kernwaffenprogramme anderer Länder gelangen soll. Denkbar wäre auch, das noch in Hanau verbleibende Plutonium der EURATOM zur Hinterlegung zu übergeben. Damit könnte ein Pilotprojekt einer internationalisierten Plutoniumlagerung von Deutschland initiiert werden, das in anderen Ländern – auch mit Plutonium aus der Abrüstung – übernommen werden könnte. Konkret vorstellbar wäre, daß das verbleibende deutsche Plutonium auf internationalisiertem Territorium gelagert wird, die physische Kontrolle an Personal der EURATOM oder IAEO abgegeben und der alleinige nationale Zugriff Deutschlands durch ein Zweischlüsselsystem aufgegeben wird.

Eine Verstärkung der Proliferationsresistenz muß nicht unbedingt im Rahmen der Cut-off-Verhandlungen in Genf geschehen. Deutschland könnte durch unilaterale Maßnahmen mit gutem Beispiel vorangehen. Weitreichender wäre sicherlich ein koordiniertes Vorgehen gemeinsam mit den anderen Ländern, die mit zivilem Plutonium umgehen oder dies von abgebrannten Brennelementen abtrennen. Eine gute Basis dafür bieten neben der Abrüstungskonferenz in Genf die in Wien seit drei Jahren geführten Verhandlungen unter dem Titel »Internationales Plutoniumregime«. Daran sind neben den fünf Kernwaffenstaaten die wichtigsten im zivilen Geschäft mit Plutonium engagierten Länder vertreten: Belgien, Deutschland, Japan und die Schweiz. Ziel dieser Verhandlungen ist es, gleiche Standards für die sichere Behandlung von Plutonium in denjenigen Staaten zu erreichen, die diesen Stoff nutzen oder produzieren. Insbesondere ist beabsichtigt, eine größere Transparenz über Plutoniummengen in der Öffentlichkeit zu schaffen und jährliche Plutoniumbilanzen herauszugeben. Bereits Anfang 1995 hatte sich die Bundesregierung gemeinsam mit sechs anderen Ländern darauf geeinigt.32 Mit der Verabschiedung eines Schlußdokuments zum Internationalen Plutoniumregime wird aber erst für Mitte 1997 gerechnet. Großbritannien veröffentlicht eine derartige Bilanz seit neun Jahren, Japan hat seine erstmals in einem »Weißbuch zur Atomenergie« am 25. November 1994 dargestellt und die USA haben im Februar 1996 eine Bilanz für die vergangenen 50 Jahre vorgelegt. Von deutscher Seite ist zu hören, daß eine eigene Plutoniumbilanz erst vorgelegt werden könne, wenn man sich auf einen Standard geeinigt habe. Dabei scheint eine wichtige Frage zu sein, auf welchem Niveau man die Zahlen rundet.

Im Rahmen der Wiener Gespräche werden auch Vorschläge zur Begrenzung der Produktion und Nutzung von Plutonium diskutiert. Von deutscher Seite wird dies zurückgewiesen. Mehr Zwänge könnten der kerntechnischen Industrie nicht auferlegt werden. Eine ähnlich bremsende Wirkung ging von Deutschland bei den Bemühungen der IAEO aus, im Rahmen des sogenannten 93+2 Programms die Safeguards-Maßnahmen zu effektivieren. Ein wichtiges Argument der Bundesregierung und anderer Länder mit starker Nuklearindustrie ist, daß sich die Kernwaffenländer mehr Kontrollen unterziehen müßten, bevor wieder die ohnehin bereits am meisten kontrollierten Länder noch stärker belastet werden. Dagegen ist zu halten, daß die zusätzlichen Belastungen nicht groß sind. Und natürlich ist dem beizupflichten, daß die Kernwaffenländer selber stärker kontrolliert werden müssen. Eine Möglichkeit dafür stellt das Abkommen zum Produktionsstopp von Waffenmaterialien dar, das bei der Abrüstungskonferenz in Genf verhandelt werden soll. Um mit dem genannten Argument gegen Verschärfung der Safeguards glaubhaft zu bleiben, sollte sich Deutschland in dieser Richtung stärker einbringen, was nicht nur aus Gründen der Bündnistreue schwerfällt, sondern insbesondere, solange der »Nuklearschirm« nicht aufgegeben ist.

Kriterien für die Erhöhung der Proliferationsresistenz

Als Kriterien für nationale Verzichtserklärungen und für einen internationalen Bann bezüglich Materialien und Technologien im zivilen Bereich werden vorgeschlagen:33

  • Beschränkungen für sensitive Nukleartechnologie und -materialien sollen nicht diskriminierend sein.
  • kein Umgang mit waffenfähigen Materialien, es sei denn innerhalb abgebrannter Brennelemente. Urananreicherung und – sofern als notwendig erachtet – Plutoniumseparation nur innerhalb internationaler Zentren und ohne die Möglichkeit des nationalen Zugriffs.
  • Bemühung um Nichtentstehung von waffenfähigem Material, auch nicht innerhalb internationaler Zentren.
  • sichere Lagerung abgebrannter Brennelemente, die waffenfähige Stoffe enthalten, nur innerhalb internationaler Zentren ohne nationale Zugriffsmöglichkeit.
  • Abbau der vorhandenen Vorräte an waffenfähigem Material, sofern dies technisch möglich und sinnvoll ist. Anderenfalls die Errichtung technischer Barrieren, die den Zugriff auf das Material erschweren.
  • Auslegung nationaler Nuklearprogramme so, daß waffenfähige Materialien weder genutzt werden können noch entstehen.

Konkrete Aufgaben für verschiedene Materialien

Plutonium:

  • Die Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente in ausländischen Anlagen sollte unverzüglich eingestellt werden. Plutonium sollte nicht mehr als Kernbrennstoff betrachtet werden, der nach dem Atomgesetz als Wertstoff zu verwerten ist, sondern es sollte als radioaktiver Abfall gelten.
  • Die Produktion von MOX-Brennelementen für deutsche Reaktoren im Ausland sollte eingestellt werden.
  • Es muß erforscht werden, ob und wie die direkte Entlagerung ggf. nach Verglasung des Plutoniums mit hochradioaktiven Abfällen möglich ist.34
  • Eine genaue Plutoniumbilanz von Deutschland muß veröffentlicht werden, um Spekulationen über heimliche Vorräte vorzubeugen.
  • Technologie für die Verwendung von Plutonium, insbesondere zur Fertigung von Mischoxid-Brennelementen soll nicht exportiert werden.
  • Das bei der Firma Siemens und im Bundesbunker in Hanau lagernde Plutonium sollte dem nationalen Zugriff entzogen werden. Ähnliches gilt für Plutonium, das sich noch in Abfällen in der stillgelegten Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe befindet. Radioaktive Abfälle mit signifikanten Mengen Plutonium, d.h. insbesondere abgebrannte Brennelemente, sollten ebenfalls dem nationalen Zugriff entzogen und einer internationalen physischen Kontrolle unterstellt werden.
  • Das im Ausland lagernde separierte Plutonium sollte einer internationalen Organisation zur Hinterlegung übergeben werden.

Hochangereichertes Uran:

  • Die wesentliche zivile Anwendung von hochangereichertem Uran stellt Brennstoff für Forschungsreaktoren dar. Seit Anfang der achtziger Jahre laufen internationale Bemühungen zur Reduzierung dieses Bedarfs. Der Bau des in Planung befindlichen neuen deutschen Forschungsreaktors FRM II in Garching wäre weltweit der erste Forschungsreaktor dieser Größenordnung, der seit Anfang der achtziger Jahre mit HEU als Brennstoff gebaut würde. Dies wäre das falsche Signal und ein Rückschlag für die internationalen Konversionsprogramme von HEU auf LEU.35
  • Mehrere deutsche Forschungsreaktoren arbeiten noch immer mit HEU, obwohl für die meisten bereits ein Konversionsprogramm entwickelt worden ist. Diese geplanten Umstellungen müssen zügig durchgeführt werden.36

Tritium:

  • Die größte Menge separierten Tritiums in Deutschland befindet sich im Tritiumlabor Karlsruhe (etwa 4 Gramm). Es unterliegt einer Überwachung durch die EURATOM. Die Überwachung sollte für die Öffentlichkeit transparenter durchgeführt und auf andere Tritiumbestände ausgeweitet werden.

Fazit

Einer der nächsten wichtigen Schritte auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt ist ein Bann auf kernwaffenfähige Materialien, um die nukleare Abrüstung unumkehrbar zu machen und um die Nichtverbreitung solider abzusichern. Die Aufgaben von Deutschland für diesen Schritt liegen im Bereich der zivilen Materialien. Da die weiteren Nutzungen von Plutonium und hochangereichertem Uran verzichtbar sind, könnte Deutschland international Zeichen setzen, mit unilateralen Maßnahmen voranschreiten und internationale Bemühungen maßgeblich unterstützen.

Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Anmerkungen

1) Rotblat, J. (1996): Eine atomwaffenfreie Welt: Phantasievorstellung oder Wirklichkeit?, in: Albrecht, U./Beisiegel, U./Braun, R./Buckel, W. (Hg.): Der Griff nach dem atomaren Feuer, Frankfurt, S.127-146. Zurück

2) Vgl. Liebert, W. (1995): Wege zur atomwaffenfreien Welt nach Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages, in: Sicherheit und Frieden 13.Jg., Nr.3, S.176-183. Zurück

3) Vergl. Liebert, W. (1995): Viel Wind um HEU <196> Die Kritik am neuen Garchinger Forschungsreaktor verstummt nicht, in: Wissenschaft und Frieden, 13.Jg., Nr.4, S.42-46. Zurück

4) Kollert, R. (1997): `Atoms for Peace', der politische Betrug <196> oder: Wie Regierungen in Westeuropa ihre militärisch orientierten Atomenergieprogramme tarnten, in: Liebert, W./Schmithals, F. (Hg.), Tschernobyl und kein Ende?, Münster. Zurück

5) Vgl. Kalinowski, M./Liebert, W (1994): Ambivalenz im Bereich nuklearer Forschung und Technologie, in: Liebert, W/Rilling, R./Scheffran, J. (Hg.), Die Janusköpfigkeit von Forschung und Technik. Zum Problem der zivil-militärischen Ambivalenz, Marburg, S. 163-179. Zurück

6) Vgl. Kalinowski, M./Liebert, W. (1997) Läßt sich die Kernenergienutzung gegen militärischen Gebrauch sichern?, in: Liebert, W./Schmithals, F. (Hg.), Tschernobyl und kein Ende?, Münster. Zurück

7) Vgl. Liebert, W. (1996): Nuklearwaffenkonvention aushandeln!, in: Schindler-Seafkow, B./Strutynski, P. (Hg.), Kriege beenden, Gewalt verhüten, Frieden gestalten, Kassel, S. 104-110. Zurück

8) Rotblat, J./Steinberger, J./Udgaonkar B. (Hg.), (1993): A Nuclear-Weapon-Free World <196> Desirable? Feasible?, Oxford: Westview Press. Liebert, W./.Scheffran, J. (Hg.), (1995): Against Proliferation <196> Towards General Disarmament, Münster. International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP),(1995): Document »Beyond the NPT: A Nuclear-Weapon-Free World«, New York/Darmstadt, 25. April 1995 (Deutsche Zusammenfassung in Wissenschaft und Frieden 13. Jg., Nr. 2/1995, S.102-106). Zurück

9) Carl Friedrich von Weizsäcker (1957): Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen. Zurück

10) Vgl. Metta Spencer (1995): »Political« Scientists. In: The Bulletin of the Atomic Scientists, July-August 1995, S. 62-68. Bernd W. Kubbig (1996): Kommunikatoren im Kalten Krieg: Die Pugwash-Konferenzen, die US-Sowjetische Studiengruppe und der ABM-Vertrag, HSFK-Report 6, Frankfurt/M. Zurück

11) Vgl. Corinna Hauswedell (1996): Friedenswissenschaften im Kalten Krieg, Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Dissertation, Hamburg. Zurück

12) Die NATO stationiert im Frieden in sieben Ländern Europas derzeit noch maximal 200 US-Atombomben des Typs B-61. In Krise oder Krieg kann diese Zahl vergrößert werden; zudem können seegestützte Marschflugkörper der NATO zugeordnet werden. Vgl. BASIC-BITS-Research Note 97.1, U.S.-NATO Nuclear Arsenals 1996-97, Berlin, 1997. Zurück

13) Zudem verlor Rußland bei der Auflösung der UdSSR viele seiner besten Waffen an die neuen unabhängigen Nachbarn. Laut NATO verblieben bei Rußland beispielsweise nur 37% der MIG-29 und 23% der SU-27-Kampflugzeuge (Spiegel 11/97.S.161). Zurück

14) Vgl. Carter, Ashton/Deutch, John (1997): No Nukes, Not Yet. In: Wall Street Journal 4.3.97 und Meier, Oliver/Nassauer, Otfried (1997): Next START by CART, BITS-Policy Paper 97.1, Berlin. Zurück

15) Der NATO-Vorschlag vom 20.2.1997 ist noch unzureichend, da er z.B. keine oder unzulängliche Angebote in den Bereichen Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber, Verstärkungskräfte und qualitative Rüstungskontrolle enthält. Zurück

16) Süddeutsche Zeitung, 5.10.1995: Das schreckliche Geheimnis der Risse. Zurück

17) Trust and Verify. The Bulletin of the Verification Technology Information Centre, No.60, September 1995, S.2. Zurück

18) Frankfurter Rundschau, 4.10.1995: Paris testet trotz Rissen im Atoll. Zurück

19) Hochstein, M.P./O'Sullivan, M.J. (1985): Geothermal systems created by underground nuclear testing, in: Proceedings of the 7th New Zealand Geothermal Workshop. Nach den Ergebnissen des Cousteau-Teams ist der Prozeß des Durchsickerns radioaktiver Substanzen sogar noch schneller, nämlich ab sechs Jahren! (IPPNW, 1995, S. 117) Zurück

20) Die Ergebnisse von Hochstein/O'Sullivan (1985) sind genauer zusammengefasst in: IPPNW, 1995, S. 116f. Zurück

21) Die Tageszeitung, 5.10.1995: Ende der atomaren Ignoranz. Zurück

22) Das »Information Bulletin« des internationalen Netzwerks der Ingenieure und Wissenschaftler gegen Proliferation gibt einen sehr guten Überblick über die gegenwärtigen und zukünftigen atomwaffenfreien Zonen der Welt, »Steps towards a nuclear-weapon-free world«, INESAP Information Bulletin, No. 10, August 1996. Zurück

23) Bericht des NGO Committee on Disarmament, UN General Assembly Disarmament Debates, November 1996, »Nuclear Weapon Free Zones«. Zurück

24) Die Palme-Kommission schlug 1982 eine 300 Kilometer breite entmilitarisierte Zone vor. Andere Vorschläge reichen bis 1957 zurück, als der polnische Außenminister Adam Rapacki eine atomwaffenfreie Zone bestehend aus der Tschechoslowakei, Polen, DDR und BRD vorschlug. Vorher schlugen Sir Anthony Eden (1955) und Hugh Gaitskell (1956) andere Zonen vor. Zurück

25) Auf der Konferenz zur Verlängerung und Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages, New York 1995, Document NPT/Conf.1995/SR.3, p.3; auf der Abrüstungskonferenz, Genf, UN-Presseerklärung DC/96/40, Conference on Disarmament, 29.8.96. Zurück

26) »Czechs lift nuclear arms ban«, The Times, 22.8.96. Zurück

27) »Study on NATO Enlargement«, NATO, September 1995; »Intensified dialogue with interested partners on the enlargement study: Questions for partners«, NATO document, DPA(96) 346 (3rd revise), 4.4.96; »Czech Republic: Solana to E. Europe – NATO means shared nuclear role« Reuters News Service, 29.4.96. Zurück

28) Zum ersten Mal erwähnt bei einem Gespräch zwischen dem russischen Minister für Atomenergie Victor Michailow und Friedensnobelpreisträger Prof. Joseph Rotblat, März 1996; die Drohung wurde dem US-Außenminster William Perry bei seinem Besuch in Moskau Oktober 1996 wiederholt, »Moskau will START-II Vertrag nachverhandeln«, Berliner Zeitung, 16.10.96; »Falsche Signale aus Ost und West«, Tagespiegel, 18.10.96. Zurück

29) Aus einer Erklärung der norwegischen Regierung, Dezember 1960, Stortingsmeldung nr. 28, 1960-61, die später vom Parlament verabschiedet wurde. 1982 erklärte Außenminister Frydenlund im Parlament, daß Atomwaffen weder von den norwegischen Streitkräften eingesetzt werden könnten, noch könnten sie dafür trainiert werden. Das Konzept einer nordischen atomwaffenfreien Zone wurde erst vom finnischen Präsidenten Kekkonen 1963 vorgeschlagen. Zwanzig Jahre später verabschiedete das »Nordic Council« die Empfehlung, für die Einrichtung einer nordischen atomwaffenfreien Zone (Nordiska rådet, 43:e sessionen 1993, Mariehamn, p.778.). Zurück

30) Der Russiche Außenminister Primakov erklärte der OSZE, daß eine Nato-Osterweiterung gegen den 2+4-Vertrag verstoßen würde, weil die Auflösung des Warschauer Paktes abhängig von der Verpflichtung war, daß die NATO sich nicht erweitern würde. Zurück

31) Scheffran, J./Kalinowski, M. B./Liebert, W. (1997): Vom Urteil des Weltgerichtshofs zur Nuklearwaffenkonvention: Verhandlungen zur Abschaffung der Kernwaffen beginnen. In: Peter Becker (Hrsg.): Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Legalität von Kernwaffen. Zurück

32) Nucleonics Week, 26. Januar 1995, Seite 5. Zurück

33) Kalinowski, M. B./Liebert, W. (1996): Proliferationsgefahren durch Nukleartechnologienutzung und Proliferationsresistenz als Auswahlkriterium für Energiesysteme. In: Bender, W. (Hrsg.): Verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft. THD-Schriftenreihe Wissenschaft und Technik, Darmstadt. Zurück

34) Liebert, W. (1996): Plutoniumdebatte – vergraben, verMOXen, verglasen? In: Wissenschaft und Frieden, 14. Jg., Nr.2, S.60-66. Zurück

35) Liebert, W. (1995): Viel Wind um HEU – Die Kritik am neuen Garchinger Forschungsreaktor verstummt nicht. In: Wissenschaft und Frieden, 13.Jg., Nr.4, S.42-46. Zurück

36) Colschen, L./Kalinowski, M. B. (1991): Tritium. Ein Bombenstoff rückt ins Blickfeld von Nichtweiterverbreitung und nuklearer Abrüstung. In: Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, 9. Jg., Heft 4, Seiten 10-14. Zurück

Dr. Wolfgang Liebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.
Dr. Corinna Hauswedell, Historikerin, arbeitet am Bonn International Center for Conversion (BICC) und ist Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF)
Otfried Nassauer leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)
Steffen Rogalski, Diplompolitologe, Vorsitzender des Arbeitskreises für Friedenspolitik – Atomwaffenfreies Europa
Xanthe Hall arbeitet in der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) in der Geschäftsführung mit Schwerpunkt Kampagnen.
Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt
Dr. Martin B. Kalinowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IANUS an der TH Darmstadt.

Wissenschaftler für den Frieden

50 Jahre Göttinger Erklärung – 50 Jahre Pugwash-Konferenzen

Wissenschaftler für den Frieden

von Klaus Gottstein, Andreas Henneka, Martin Kalinowski, Götz Neuneck und Ulrike Wunderle

Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW)

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50 Jahre Pugwash – 50 Jahre Göttinger Erklärung

von Götz Neuneck

Das Jahr 2007 markiert den 50. Jahrestag der Göttinger Erklärung und 50 Jahre Arbeit der »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«, zwei Ereignisse an denen Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen in besonderer Weise beteiligt waren und die einen starken Einfluss auf nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Beendigung des Wettrüstens der Supermächte hatten. Bereits im Juli 1955 hatten Bertrand Russell und Albert Einstein in ihrer später berühmt gewordenen Erklärung die Gemeinschaft der Wissenschaftler aufgefordert, sich angesichts des Wettrüstens und der globalen Kriegsgefahr mit Fragen der nuklearen Abrüstung zu beschäftigen. Die Wissenschaftler sollten sich „zur Aussprache zusammenfinden, um die Gefahren, die aufgrund der Entwicklung der Massenvernichtungsmittel entstanden sind, abzuschätzen“ und sie sollten Wege zur Konfliktbeilegung, Abschaffung der Nuklearwaffen und letztlich zur Beseitigung des Krieges an sich diskutieren und beschreiten.1 Dies war der Beginn weltweiter Initiativen, denen sich Naturwissenschaftler, aber später auch andere Berufszweige wie Mediziner oder Ingenieure, anschlossen. Naturwissenschaftler waren in besonderer Weise gefordert, da einige von ihnen selbst am Zustandekommen der Nuklearwaffen beteiligt waren und über das technische und institutionelle Wissen verfügten, um die Verbreitung und den Einsatz dieser monströsen Waffen zu verhindern bzw. die anwachsenden Arsenale abzurüsten. Wissenschaftler erfreuen sich zudem einer gewissen Reisefreiheit, sehen sich öfters bei Tagungen, sprechen oft eine gemeinsame Sprache und sind zu Objektivität, Humanität und Internationalität verpflichtet.

Das Russell-Einstein-Manifest warnte Regierungen und Öffentlichkeit vor den Gefahren des Einsatzes von Nuklearwaffen und stellte die Frage: „Sollen wir der Menschheit ein Ende setzen oder soll die Menschheit dem Krieg entsagen?“ Das Dokument verweist auf die Chancen und Gefahren, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt für Krieg und Frieden mit sich bringt: „Vor uns liegt, wenn wir es wählen, stetiger Fortschritt in Glück, Wissen und Weisheit. Sollen wir statt dessen den Tod wählen, weil wir unseren Streit nicht vergessen können?“ Albert Einstein hatte noch wenige Tage vor seinem Tod am 18. April 1955 die Erklärung unterzeichnet, ebenso wie zehn bedeutende Wissenschaftler, darunter Max Born, Joseph Rotblat und Frédéric Joliot-Curie.2 Trotz aller Warnungen beschleunigte sich der Kalte Krieg: Wasserstoffbomben mit der tausendfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe wurden entwickelt und ein Ressourcen verschleißendes Wettrüsten setzte ein, das in seinen immer gewaltigeren Dimensionen erst durch das Ende des Ost-West-Konfliktes 1989 gestoppt wurde. Seit dem Manifest aber wird der Aufruf »Scientists should assemble in conferences« durch Tagungen, Workshops und Treffen konkret in die Tat umgesetzt und wach gehalten.

Das Russell-Einstein-Manifest ist das Gründungsdokument der »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«, bei denen schließlich im Juli 1957 zum ersten Mal Wissenschaftler in dem kleinen Fischerdörfchen in Neuschottland/Kanada zusammen kamen, um zu beraten, wie die durch das Russell-Einstein-Manifest vorgegebene Agenda umzusetzen sei. Das Treffen wurde durch einen kanadischen Großindustriellen ermöglicht. Joseph Rotblat spielte bei den Vorbereitungen eine wesentliche und treibende Rolle, wie auch in den darauf folgenden Jahrzehnten.3 Einige Tage diskutierten 22 hochrangige Wissenschaftler aus zehn Nationen in drei Arbeitsgruppen, darunter Leo Szilard, Victor Weisskopf, Alexander V. Topchiev und Hideki Yukawa.4 Die Themen des ersten Treffens waren die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler, die Gefahren der Nuklearenergie und die Kontrolle der Nuklearwaffen.

Seit dem ersten Treffen kamen in über 320 international besetzten Konferenzen und Workshops renommierte und einflussreiche Wissenschaftler und Politikberater zusammen, um Beiträge zu Fragen der atomaren Bedrohung, zu bewaffneten Konflikten und Problemen der globalen Sicherheit zu leisten. »Pugwash International« veranstaltet neben Jahrestagungen verschiedene Workshops zu Themen wie der nuklearen Abrüstung, den B- und C-Waffen, regionalen Konflikten der Weiterverbreitung von Waffentechnologien und der sozialen Verantwortung der Naturwissenschaftler. Durch die vertiefte Behandlung des jeweiligen Themas, die Möglichkeit, vertraulich mit regierungsnahen Beratern und Politikern zusammenzutreffen gelang es oft, Dialoge in Gang zu setzen oder zumindest Verständnis für die unterschiedlichen Positionen zu wecken. Während des Kalten Krieges gelang es insbesondere, die Beratereliten der USA und der Sowjetunion zu vertraulichen Gesprächen zusammenzubringen. Jerome Wiesner, später Wissenschaftsberater unter John F. Kennedy und maßgeblich beteiligt am Zustandekommen des begrenzten Teststoppabkommen (1963), war ebenso Teilnehmer wie Hans Bethe, Isidor Rabi oder Freeman Dyson. Auch russischen Physikern wie Andrej Sacharow oder Jevgenij Velichov kommt ein großer Anteil an den rüstungskontrollpolitischen Fortschritten der letzten Jahrzehnte zu. Auf den Konferenzen wurden wichtige Beiträge zu Rüstungskontrollverträgen wie dem Raketenabwehrvertrag (ABM-Vertrag, 1972), den Kernteststoppverträgen (1963 und 1996) oder den Übereinkommen zur Begrenzung von B- und C-Waffen (1972 und 1993) sowie dem Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE, 1990) geleistet. Verfahrensvorschläge zur Verifikation von Rüstungskontrollabkommen wurden ebenso erarbeitet wie alternative Vorschläge zur strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Streitkräften. Herauszuheben sind auch die Bereiche Kriegsfolgen und internationale Sicherheit, strategische Analysen, Technologiefolgenabschätzung, Weiterverbreitung und Konversion. In diversen Monographien und Berichten wurden Wirkungen und Leistungen von Pugwash aufgearbeitet.5

Während sich die amerikanischen Kernphysiker auf internationaler Ebene zusammenschlossen, wandten sich 1956/57 die deutschen Atomphysiker zunächst an die eigene Regierung, später an die Öffentlichkeit.

Pugwash und die Göttinger Erklärung

Carl Friedrich von Weizsäcker beschrieb das Zustandekommen der Göttinger Erklärung6 so: „Im Herbst 1956 wurde uns deutschen Atomforschern klar, dass erste Vorbereitungen getroffen wurden, die Bundeswehr atomar auszurüsten.“ 7 Die deutschen Atomwissenschaftler schrieben im November 1956 einen Brief an Minister Franz-Josef Strauß, und am 29. Januar 1957 kam es zum Gespräch mit ihm. Der Minister hatte zuvor eine Atombewaffnung der europäischen NATO-Mitglieder befürwortetet, auch bestand die Gefahr, dass die Atomphysiker in militärische Forschungen hineingezogen würden. Für von Weizsäcker war außerdem die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen in kleinere Staaten ein wichtiger Aspekt. Vor allem wurde den deutschen Wissenschaftlern klar, dass ein Abrüstungsappell alleine nicht ausreichen würde: „Deshalb mussten wir auch insbesondere öffentlich sagen, dass keiner von uns persönlich bereit wäre, Bomben zu machen, zu erproben oder anzuwenden.“ 8 Am 12. April 1957 forderten die »Göttinger 18« auf Initiative von Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg in der »Göttinger Erklärung« den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Atomwaffenbesitz. (Siehe Beitrag von Martin Kalinowski). Die Unterzeichner erklärten auch ihre Entschlossenheit, sich nicht „an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Ihre Motivation bezogen die Physiker aus der Tragweite ihrer eigenen Forschung und der Wirkung einer Atomwaffenexplosion. Als sicher darf gelten, dass die Erfahrungen im »Dritten Reich« einen wichtigen Hintergrund für die öffentlich ausgesprochene Verweigerung darstellten. Eine eigene nukleare Bewaffnung der Bundeswehr war, nachdem sich die führenden Kernphysiker für solche Zwecke öffentlich verweigert hatten, extrem schwierig geworden. Die Erklärung hatte eine weit reichende innenpolitische Wirkung aber auch internationale Reaktionen zur Folge.9 Die Debatte über die Nuklearbewaffnung und ihre Konsequenzen für Deutschland und Europa sollte bis in die 1980er Jahre andauern.

Die deutschen Pugwash-Aktivitäten

Zwischen der sich formierenden Pugwash-Bewegung und der Gruppe der »Göttinger 18« kam es zu intensiven Kontakten.10 Von Weizsäcker reiste im März/April 1958 in die USA, nach Kanada und England, um u.a. an der zweiten Pugwash-Konferenz in Lac Beauport bei Quebec teilzunehmen. Hier wurde er im Kreise international tätiger Wissenschaftler mit neuen Ideen zu Abrüstung und Rüstungskontrolle (Arms Control) konfrontiert. Ergebnis dieser Reise ist der mehrteilige Aufsatz »Mit der Bombe leben«, der im Mai 1958 in der Wochenzeitschrift »Die Zeit« veröffentlicht wurde. Wichtige Ideen zur Abrüstung wie die Abschaffung der Atomwaffen oder Vorschläge zur Rüstungskontrolle wie das Nukleartestverbot, die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen oder die Verifikation wurden in einen längerfristigen, politischen Kontext gesetzt und in die deutsche Debatte eingeführt. Am 1. Oktober 1959 wurde zudem nach dem Vorbild der »Federation of American Scientists« die »Vereinigung Deutscher Wissenschaftler« (VDW) gegründet. An der deutlich größeren und mehr an die Öffentlichkeit gerichteten dritten Pugwash-Konferenz in Kitzbühl und Wien nahm neben westdeutschen Wissenschaftlern wie Max Born, Helmut Burkhardt und Werner Kliefoth auch zum ersten mal ein ostdeutscher Vertreter, der Sekretär der Akademie der Wissenschaften der DDR Günter Rienäcker, teil. Offiziell wurde die Pugwash-Gruppe der DDR 1963 gegründet und bei der Akademie der Wissenschaften angesiedelt, entsprechend kam es in den Folgejahren am Rande von Pugwash-Konferenzen immer wieder zu Kontakten zwischen west- und ostdeutschen Wissenschaftlern. Schon in dieser Anfangsphase lassen sich unterschiedliche Orientierungen in der Arbeit der Pugwash-Gruppen ausmachen: Die eher »regierungsnahe« Linie wurde vor allem von v. Weizsäcker, Heisenberg und der Mehrheit der »Göttinger 18« vertreten. Sie wollten ihre politische Unabhängigkeit als Wissenschaftler wahren und eher als beratende Experten für eine Verbesserung der internationalen Beziehungen wirken. Die stärker »öffentliche« Linie, wie sie von Born, Burkhardt und Kliefoth vertreten wurde, setzte stärker darauf, die öffentliche Meinung durch entschiedenes Auftreten zu beeinflussen und so politischen Druck für abrüstungs- und friedenspolitische Initiativen zu entwickeln. Ohne die Kombination von öffentlichem Druck und tiefgehender technischer Analyse wären sicher viele Abrüstungsentwicklungen, die sich nach einiger Zeit durchgesetzt haben, nicht möglich gewesen.

In den 1960 und 1970er Jahren wurden in der neu gegründeten Hamburger VDW-Forschungsstelle wichtige Studien veröffentlicht, so das Memorandum »Ziviler Bevölkerungsschutz« (1962) oder die Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« (1971), die erstmalig mit systemanalytischen Methoden arbeitete. Das Ergebnis war eindeutig: Im Falle eines Atomkrieges auf deutschem Boden würde das zerstört, was eigentlich geschützt werden soll: das Territorium Deutschlands. Aus diesen Arbeiten entsprangen später weitere sicherheitspolitische Arbeiten des 1970 gegründeten »Starnberger Institutes zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, deren Direktor von Weizsäcker zwischen 1970 und 1980 war.

In Deutschland bildeten die Göttinger Erklärung und die Starnberger Arbeiten immer wieder den Bezugspunkt für Wissenschaftler, auf dem Gebiet der atomaren Abrüstung und der Rüstungskontrolle aktiv zu werden. Im Jahr 1983 wurde von 23 Naturwissenschaftlern und Ärzten der Mainzer Appell »Verantwortung für den Frieden« beschlossen, der auf die Folgen eines Atomkrieges in Europa, die Beschleunigung des Wettrüstens durch neue Waffentechnologien und die daraus entstehenden ökonomischen Folgen hinwies. Die »Naturwissenschaftler-Initiative« hat in den Zeiten des so genannten Nachrüstungsbeschlusses durch Kongresse wichtige Beiträge zu gesellschaftlicher Aufklärung geleistet und eine wesentliche Rolle in der Friedensbewegung gespielt.

In den Jahren nach Gründung der VDW wurden die Pugwash-Aktivitäten in der Bundesrepublik vor allem durch VDW-Mitglieder wie Horst Afheldt, Helmut Glubrecht, Siegfried Penselin, Klaus Gottstein (siehe seinen Beitrag in diesem Dossier) oder Hans-Peter Dürr weiter betrieben. In Westdeutschland wurden acht Workshops und zwei Jahrestagungen (München 1977; Berlin 1992) veranstaltet. In der DDR fand der erste Workshop 1971 in Leipzig statt, drei weitere folgten, insbesondere zur C-Waffenproblematik. Vor allem Hans-Peter Dürr, seinen Mitarbeitern und der Workshop-Serie »Conventional Forces in Europe« gelang es Mitte der 1980er Jahre, wesentliche Beiträge zur Beendigung der konventionellen Überrüstung in Europa zu leisten, indem das von der Starnberger Gruppe entwickelte Konzept der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von Präsident Michail Gorbatschow aufgegriffen und neue Stabilitätskriterien zur Grundlage für konventionelle Abrüstungsinitiativen wurden. Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) ist im Wesentlichen durch die Bereitschaft konventioneller Abrüstung durch den Warschauer Pakt und einen neuen Abrüstungsrahmen zustande gekommen. Er half einen Rahmen für die Umbrüche in Osteuropa zu kreieren. Pugwash erhielt 1995 gemeinsam mit Joseph Rotblat den Friedensnobelpreis »für ihre Bemühungen, den Anteil, den Atomwaffen in der internationalen Politik spielen, zu verringern und längerfristig diese Waffen zu eliminieren.“ Es ist sofort einsichtig, dass diese Mission nur zum Teil umgesetzt wurde. Hervorgehoben wurde in Oslo aber auch die »Pugwash-Methode«: „Sie brachten Wissenschaftler und Entscheidungsträger zusammen, um jenseits politischer Trennungen durch konstruktive Vorschläge die nukleare Gefahr zu reduzieren.“11 Angesichts tief liegender Konflikte u.a. im Mittleren Osten oder Asien, die zu einem Nuklearwaffeneinsatz führen können, ist die Pugwash-Methode weiterhin gefragt.

Die Pugwash-Bewegung heute

Liest man also die erwähnten Dokumente genau, stellt man fest, dass viele Forderungen bis heute nicht vollständig umgesetzt sind. Michail Gorbatschow stellte in seinem Statement zum 50. Pugwash Jubiläum fest: »Wir benötigen eine intellektuelle Grundlage für Abkommen, die drastisch die Nuklearwaffenarsenale auf dem Weg zu ihrer vollständigen Eliminierung reduzieren und einen Rüstungswettlauf im All verhindern.»12 50 Jahre nach dem ersten historischen Treffen wurde bei einer Zusammenkunft von 25 internationalen Wissenschaftlern in Pugwash eine Erklärung verabschiedet, die deutlich aufzeigt, dass die Gefahren nuklearer Zerstörung keinesfalls gebannt sind: »Wenn Nuklearwaffen existieren, werden sie eines Tages auch eingesetzt werden“, so der Tenor des Workshops, an dem auch Hiroshimas Bürgermeister Tadatoshi Akiba teilnahm. Vor dem Hintergrund der Krise des Nichtverbreitungsvertrages, eines möglichen Einsatzes von Nuklearwaffen durch Terroristen und übervoller Nukleararsenale (ca. 27.000 Nuklearwaffen) fordern die Teilnehmer eine „Wiederbelebung der Kampagne, die sich dafür einsetzt, Nuklearwaffen als »illegal und unmoralisch« einzustufen und sie zu reduzieren bzw. endgültig abzuschaffen«. Sie schlagen den Politikern u.a. folgende konkrete Schritte vor:13

  • sofortiges »De-alerting«, d.h. Rückstufung der Alarmbereitschaft tausender Nuklearwaffen und Aufbau wirksamer Frühwarnsysteme,
  • offizielle Erklärung, Nuklearwaffen nicht als erste einzusetzen (»No First Use«), und verbindliche Abgabe von »negativen Sicherheitsgarantien« durch die Nuklearwaffenstaaten,
  • unverzügliche Wiederaufnahme von Verhandlungen zwischen den USA und Russland zur Abrüstung auf 1.000 oder weniger Nuklearwaffen,
  • verstärkte Bemühung zur Vernichtung überflüssigen Nuklearmaterials und Beginn von Verhandlungen zu einem globalen Verbot der Produktion von Spaltmaterialien,
  • vollständiges Verbot von Weltraumwaffen,
  • politisches Übereinkommen der NATO, die US-Atomwaffen aus Europa abzuziehen,
  • volle Finanzierung und Implementierung des umfassenden Teststoppvertrages schon vor seinem offiziellen Inkrafttreten und
  • die Zustimmung aller Staaten für die vollständige Abschaffung aller Atomwaffen durch ein multilateral verifizierbares Instrument wie eine »Nuklearwaffenkonvention«.

Nach Meinung der Teilnehmer kann nur aufeinander abgestimmter politischer Wille und öffentlicher Druck „die unvermeidbare Katastrophe“ eines Nuklearwaffeneinsatzes verhindern.

Schwerpunkt der Pugwash-Aktivitäten war in den vergangenen fünf Jahren insbesondere der Mittlere Osten und Südasien. Neue Anstrengungen durch Workshops, Dialogprojekte und öffentliche Aufklärung sind nötig, um die Agenda, die das Russell-Einstein-Manifest und die Göttinger Erklärung gesetzt haben, in die Tat umzusetzen.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien (IFAR²) am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg, Mitglied des Pugwash Councils und Deutscher Pugwash-Beauftragter der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).

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Nukleare Nichtverbreitung in Deutschland

von Martin Kalinowski

Die Göttinger Erklärung von 1957 war ein Meilenstein in der öffentlichen Wahrnehmung von Verantwortung durch Naturwissenschaftler, und sie wird als ein Startpunkt für die Bürgerbewegung gegen Kernwaffen wahrgenommen, denn ein Jahr nach ihrer Publikation bildete sich die Bewegung »Kampf dem Atomtod«. Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), die 1959 gegründet wurde, sieht in der Göttinger Erklärung ihren Ausgangspunkt und hat sich deren Thematik zu eigen gemacht.

Die NATO begann Mitte der 50er Jahre unter dem Stichwort »Umrüstung« die Ausrüstung ihrer in Europa stationierten Soldaten mit so genannten taktischen Kernwaffen. Deutsche Politiker sahen die Notwendigkeit, dass sich Deutschland der geplanten Stationierung von taktischen Kernwaffen in europäischen Mitgliedstaaten der NATO anschließen müsse.

Der zweite und dritte Absatz der Göttinger Erklärung stellen einige Fakten richtig, die von interessierter Seite oft falsch dargestellt wurden. Der Verharmlosung taktischer Kernwaffen wird mit einer Beschreibung ihrer zerstörenden Wirkung entgegen gewirkt. Dann wird verdeutlicht, dass ein Schutz großer Bevölkerungszahlen vor der von Kernwaffen verbreiteten Radioaktivität nicht möglich wäre. Die Fragen um die Folgen eines Kernwaffeneinsatzes und die begrenzten Möglichkeiten für Zivilschutz, aber auch die Kernenergienutzung und die Verantwortung der Wissenschaftler im Allgemeinen wurden später in detaillierten wissenschaftlichen Studien untersucht, die Carl Friedrich von Weizsäcker1 und die VDW2 durchgeführt und publiziert haben.

Die politischen Aussagen sind der »unerhörte« Teil des Textes. Hier wagen es Wissenschaftler, Aussagen außerhalb ihres fachlichen Kompetenzgebietes zu machen. Für diese mutige Grenzüberschreitung wurden sie heftig angefeindet. Gerade damit haben sie aber ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst genommen und eine Forderung aus den vorher genannten Fakten abgeleitet. Sie beschränken sich auf eine explizite Forderung, die sie bewusst auf das eigene Land beschränken: Deutschland soll „ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichten.“

Die Erklärung enthält aber noch eine zweite bemerkenswerte politische Aussage: „Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Erhaltung der Freiheit in einem Teil der Welt leistet.“ Damit werden die Abschreckungsdoktrin und die dafür bereit gestellten Kernwaffen grundsätzlich positiv bewertet. Die Erklärung hat also einen Doppelcharakter, da zum einen Kernwaffen in deutschem Besitz abgelehnt werden, andererseits die strategischen Kernwaffen befürwortet werden. Der Zuspruch wurde jedoch im unmittelbar folgenden Satz relativiert: „Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.»

Die Erklärung enthält am Ende eine weitere Forderung, nämlich „die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.“ Mit diesem Satz gewinnt der Text eine zweite Ambivalenz, die mit der zivil-militärischen Doppelverwendbarkeit von nuklearen Materialien und den zu ihrer Produktion geeigneten Technologien zusammen hängt.

Der dritte Bestandteil der Göttinger Erklärung ist die darin enthaltene Selbstverpflichtung: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Dieser freiwillige Verzicht verlieh der Erklärung eine besondere Glaubwürdigkeit. Mit ihrer persönlichen Gewissensentscheidung stellen sich die Kernphysiker als Vorbilder für eine politische Entscheidung gegen Kernwaffen dar.

Die Selbstverpflichtung wurde eingehalten. Die zivile Nutzung der Kernenergie wurde umfangreich realisiert, jedoch später wieder zurück gefahren. Deutschland unterzeichnete den Nichtverbreitungsvertrag und gelangte nicht in den Besitz eigener Kernwaffen. Aber taktische Kernwaffen der NATO-Partner USA und Großbritannien wurden in Westdeutschland stationiert, und unser Land wurde im Rahmen der nuklearen Teilhabe in deren Einsatz mit einbezogen. Man musste davon ausgehen, dass Deutschland in einem nuklear geführten Krieg weitgehend zerstört und radioaktiv verseucht würde.

Nach dem Ende des Kalten Krieges zogen Großbritannien und Russland alle Kernwaffen aus Deutschland wieder ab, die USA hält noch heute geschätzte 20 Kernwaffen in unserem Land am Standort Büchel stationiert. Ramstein und Nörvenich sind nach wie vor bereit, Kernwaffen jederzeit wieder aufzunehmen. Im Falle eines Einsatzes würden diese Kernwaffen auch mit Trägersystemen der Bundeswehr, den Tornados, und von deutschen Piloten ins Ziel gebracht. Die Piloten werden auch in Friedenszeiten dafür ausgebildet. Deutschland wird im Rahmen der nuklearen Planungsgruppe in die Entscheidungsprozesse einbezogen. Nur die Kernwaffen selbst sowie die Kontrolle über deren Zündung verbleibt bei den US-Streitkräften.

Dass es keinen dritten Weltkrieg gab und dass nach Hiroshima und Nagasaki keine Kernwaffen im Krieg mehr eingesetzt wurden, ist kein Beweis für die These, dass die nukleare Abschreckung funktioniert und den Frieden garantiert hat.

Dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag von 1996 zufolge ist der Einsatz von und sogar die Drohung mit Kernwaffen völkerrechtswidrig.3 Mit jeder Stationierung ist die Drohung eines Einsatzes verbunden. Damit ist auch die nukleare Teilhabe Deutschlands nicht mit dem Völkerrecht vereinbar.

Schon Adenauer hat darauf hingewiesen, dass Deutschland keinen Alleingang durchführen könne. Auch heute können die in Deutschland lagernden Kernwaffen nicht isoliert betrachtet werden. Die Standardantwort der Bundesregierung auf die Aufforderung, die US-Kernwaffen abziehen zu lassen, bezieht sich auf die NATO-Verpflichtungen: „Am 20. April 1999 wurde das Strategische Konzept der NATO von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten verabschiedet. Es enthält eine umfassende Darstellung der Bündnisstrategie, die alle Bündnispartner bindet und die auch von der Bundesregierung ohne Einschränkung mitgetragen wird.“4

Heute dürfte sich eine Göttinger Erklärung diesen internationalen Verknüpfungen gegenüber nicht entziehen und müsste die Forderung nach Abrüstung der Kernwaffen auf alle Länder beziehen, die Kernwaffen besitzen. Sie dürfte allerdings auch nicht zulassen, dass sich die Bundesregierung hinter den Bündnisverpflichtungen versteckt. Es macht durchaus Sinn, im Alleingang mit gutem Beispiel voran zu gehen, so wie Griechenland das vor einigen Jahren bereits erfolgreich getan hat.

Die Selbstverpflichtung in der Göttinger Erklärung ist sehr kräftig formuliert: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Gleichzeitig wird in der Erklärung betont, „dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.“

Diese beiden Forderungen sind nicht miteinander vereinbar. Aufgrund der Doppelverwendbarkeit (dual use) von Kernmaterialien und -technik für zivile und militärische Zwecke kann es nicht gelingen, eine nukleare Proliferation zu verhindern, wenn man die zivilen Anwendungen uneingeschränkt mit allen Mitteln betreibt. Die zivile und militärische Verwendbarkeit der Kerntechnik sind nicht trennbar. Dieser Umstand wird gegenwärtig am eskalierenden Streit um das vorgeblich rein zivile Nuklearprogramm des Iran deutlich.

Aufgrund der vorstehenden Betrachtungen zur zweifachen Ambivalenz der Göttinger Erklärung soll nun skizziert werden, welcher Aufklärungsbedarf und welche politischen Forderungen heute von einer Erklärung thematisiert werden müssten, die sich in der Tradition der Göttinger 18 sieht und einen Doppelcharakter vermeiden will.

Ganz im Sinne von Carl Friedrich von Weizsäcker wird heutzutage von engagierten Naturwissenschaftlern nicht nur Aufklärung geleistet, sondern auch naturwissenschaftlich orientierte Friedensforschung betrieben.5 Als konkrete und aktuelle Themen können genannt werden:

  • Fehlende Transparenz über die Menge deutscher Plutoniumbestände und die offene Frage, ob diese angesichts der vorgesehenen Restlaufzeiten der Kernkraftwerke noch vollständig in Form von MOX-Brennelementen bestrahlt und damit einem direkten Zugriff für Waffenzwecke entzogen werden können.
  • Umrüstbarkeit des Münchener Forschungsreaktors FRM II von hoch angereichertem Uran (HEU) auf nicht waffenfähigen niedrig angereicherten Brennstoff (LEU). Die Konzepte dafür liegen vor und die politischen Vorgaben erfordern die Umstellung. Nur die Realisierung ist nach wie vor fraglich..
  • Die Modernisierungen der Arsenale der fünf anerkannten Kernwaffenstaaten; insbesondere sei auf die immer wieder in den USA ins Gespräch gebrachten so genannten »mini nukes« hingewiesen.
  • Die aktuellen Gefahren von Kernwaffen, beispielsweise die Risiken eines Nuklearkrieges »aus Versehen« aufgrund der nach wie vor aufrecht erhaltenen Alarmbereitschaft; auch das Szenario eines »nuklearen Winters« ist aufgrund des Umfangs der nuklearen Arsenale sogar bei einem begrenzten regionalen Nuklearkrieg immer noch möglich.
  • Wenn es bei der Abrüstungskonferenz in Genf endlich zu Verhandlungen über einen Produktionsstopp für Kernwaffenmaterialien (Fissile Materials Cut-off Treaty, FMCT) kommen sollte, entsteht Bedarf an Informationen über die Verifizierbarkeit und den notwendigen Umfang des Verbotes.
  • Neue technische Mittel zur Entdeckung von heimlichen Nuklearaktivitäten.
  • Proliferationsgefahren neuer Nukleartechnologien wie Spallationsneutronenquellen und Fusionsreaktoren.
  • Die technischen Probleme von neuen Raketenabwehrsystemen: Einerseits funktionieren sie nicht effektiv und andererseits bringen sie neue Risiken mit sich.
  • Die Gefahren eines Wettrüstens im Weltraum.

Die konkreten politischen Forderungen, die heute zu stellen wären, sind vor allem,

  • den Abzug der US-Kernwaffen aus Deutschland zu veranlassen und
  • den Forschungsreaktor FRM II umzurüsten auf niedrig angereichertes Uran.

Mit der Erfüllung der ersten Forderung würde Deutschland zur Abrüstung von Kernwaffen einen Beitrag leisten, mit der zweiten Forderung würde sich Deutschland wieder einreihen in die internationale Norm zur Nichtverbreitung durch eine Minimierung der zivilen Bestände von kernwaffenfähigen Materialien.

Von grundsätzlicherer Art wären zwei Zielsetzungen. Die erste bezieht sich auf die nukleare Abrüstung, die zweite reagiert auf die zivil-militärische Doppelverwendbarkeit von Nukleartechnik und nuklearen Materialien.

Die völkerrechtliche Verpflichtung, Kernwaffen abzurüsten, muss baldmöglichst umgesetzt werden. Die deutsche Außenpolitik sollte sich dafür einsetzen, dass Verhandlungen zu einer Nuklearwaffenkonvention begonnen werden.6 Konkrete Schritte in diese Richtung sind

  • das Inkrafttreten des Umfassenden Kernwaffenteststoppvertrages,
  • Verhandlungen über ein Verbot zur Produktion von nuklearen Kernwaffenmaterialien,
  • tiefe Einschnitte in nukleare Arsenale,
  • Abschalten der Alarmbereitschaft von Kernwaffen,
  • verbindliche Erklärungen zum Nicht-Ersteinsatz,
  • Verzicht auf Raketenabwehrsysteme
  • und die Schaffung weiterer kernwaffenfreier Zonen.

Mit der somit zunehmenden Marginalisierung von Kernwaffen kann der Boden bereitet werden für die Abschaffung dieser Massenvernichtungswaffen.

Die Proliferationsrisiken sollten bei der Diskussion über die zukünftige Nutzung von Kernenergie zur Sicherung des zukünftigen Energiebedarfs und zur Reduktion der CO2-Emissionen ernsthaft bedacht werden. Zur Minimierung dieser Risiken gibt es das Konzept der Proliferationsresistenz. Die sicherste Methode ist die Vermeidung von kernwaffenfähigen Materialien. Insbesondere bedeutet dies den Verzicht auf die Nutzung von Plutonium. Bei einer längerfristigen Nutzung von Kernenergie und einer Ausweitung der derzeitigen Kapazitäten würde man jedoch nicht ohne die Produktion von Plutonium in Schnellen Brütern auskommen. Durch die dann deutlich umfangreicher werdende Plutoniumwirtschaft würden die Risiken erheblich steigen. Die damit verbundenen größeren Vorräte an Kernwaffenmaterial, die vielen involvierten Anlagen und die zahlreichen Transporte würden die Risiken von Proliferation, Nuklearschmuggel und möglichen Zugriff durch Terroristen drastisch erhöhen.

Dr. Martin B. Kalinowski ist Kernphysiker und Friedensforscher. Er ist seit März 2006 Carl-Friedrich von Weizsäcker-Professor für Naturwissenschaft und Friedensforschung und Leiter des gleichnamigen Zentrums an der Universität Hamburg. Zuvor war er sieben Jahre bei der Teststoppvertragsorganisation in Wien und zehn Jahre bei IANUS an der TU Darmstadt tätig.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor auf der Festveranstaltung von VDW und IALANA zum 50. Jahrestag der Göttinger Erklärung am 14. April 2007 in Berlin gehalten hat.

Weitere Informationen zur Pugwash Bewegung

  • Reiner Braun, Robert Hinde, David Krieger, Harold Kroto, Sally Milne (Editors): Joseph Rotblat – Visionary for Peace, John Wiley, Mai 2007. In dem englischsprachigen Buch »Joseph Rotblat – Visionary for Peace« beschäftigen sich prominente Autoren wie Martin Rees, Michail Gorbachow, Jack Steinberger, Mohamed ElBaradei, Paul J. Crutzen, und Mairead Corrigan mit Wirken, Leben und Thesen des britischen Physikers und Friedensnobelpreisträgers Sir Joseph Rotblat (1908-2005), der als einziger Wissenschaftler aus moralischen Gründen das Manhattan-Projekt zur Fertigung der ersten Nuklearwaffen verlassen hatte und zu einem der profiliertesten Kritiker des nuklearen Wettrüstens wurde. Rotblat war ein entscheidender Gründer der Pugwash Konferenzen.
  • Götz Neuneck/Michael Schaaf (Hrsg.): Zur Geschichte der Pugwash-Bewegung in Deutschland, Preprint 332, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 2007, 93 Seiten. Die Geschichte der deutschen Pugwash-Gruppe wurde im Rahmen eines Symposiums der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) am 24. Februar 2006 im Harnack-Haus durch Vorträge beleuchtet. Die Vorträge von D. Hoffmann, K. Gottstein, U. Wunderle, Götz Neuneck u.a. wurden in dem Tagungsband zusammengefasst, der im Rahmen der Preprint Reihe des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Nr. 332 erschienen ist. Er kann unter folgender Internet-Adresse als PDF-Version geladen werden: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P332.PDF
  • Waging Peace. The Story of Joseph Rotblat and 50 Years of the Pugwash Conferences on Science and World Affairs, DVD von Hero´s Stone Productions in association with The Pugwash Conferences on Science and World Affairs, 2007. 21 Minuten, PAL-Version. Der Film erzählt in Rückblenden, Interviews und Dokumentaraufnahmen die Geschichte von Pugwash und Joseph Rotblat, dem Mitgründer von Pugwash und späteren Friedensnobelpreisträger. Die DVD kann gegen eine Spende bei G. Neuneck, c/o IFSH, Beim Schlump 83, 20144 Hamburg, bestellt werden. Das Video ist auch als Podcast auf dem Internet zugänglich: http://www.pugwash.org/media/wage.htm.
  • Wichtige Internet-Adressen zu Pugwash Internationale Homepage mit vielen Materialien und aktuellen Nachrichten: http://www.pugwash.org. Homepage der Deutschen Gruppe: http://www.pugwash.de

Kontakt: Prof. Dr. Götz Neuneck · c/o IFSH Beim Schlump 83, D-20144 Hamburg · neuneck@ifsh.de

Atomwissenschaftler gegen deutsche A-Bombe

Die Göttinger Erklärung von 1957

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.

1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als »taktisch« bezeichnet man sie, um auszudrücken, dass sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als »klein« bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten »strategischen« Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.

2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.

Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, dass die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich. Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen. Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.

12. April 1957

Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Pauli, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker, Karl Wirtz

zum Anfang | Erinnerungen

Wenn es die Pugwash-Konferenzen nicht gäbe, müssten sie erfunden werden

von Klaus Gottstein

Wenn ich darstellen soll, welche Erinnerungen ich an die Frühzeit der Pugwash-Konferenzen habe, dann muss ich zunächst gestehen, dass die 42 Pugwash-Konferenzen, -Workshops und -Symposien, an denen ich teilgenommen habe, alle in den Jahren 1976 bis 2002 stattfanden, während die Serie der Pugwash-Konferenzen schon 1957 in dem inzwischen berühmten kanadischen Fischerdorf Pugwash begann und seitdem ununterbrochen fortgesetzt wurde. Ich wurde allerdings bereits 1962 in die mir bis dahin unbekannte Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), also in die deutsche Pugwash-Gruppe aufgenommen, nachdem ich Carl Friedrich von Weizsäcker eine im Sommerurlaub verfasste Denkschrift überreicht hatte, der ich den Titel »Über die Wissenschaft von der Politik« gab und in der ich zu dem Schluss kam, dass es die Pflicht der Wissenschaft sei, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden, frei von machtpolitischen Einflüssen und sachfremden Ideologien, an der Lösung der bedrohlichen Probleme unserer Zeit zu arbeiten. Ich hatte nämlich in meinem Fach, der Elementarteilchenphysik, die Möglichkeiten ideologiefreier internationaler Zusammenarbeit kennen gelernt, die es Wissenschaftlern aus Ost und West und aus so genannten Entwicklungsländern gestattete, auch während des Kalten Krieges friedlich und erfolgreich an gemeinsamen Projekten zur Erforschung der kosmischen Strahlung und der Eigenschaften der Elementarteilchen zu arbeiten. Woran also lag es, dass die Politiker diese erfolgreichen Methoden noch nicht entdeckt hatten, wenn ihnen wirklich, wie sie ja behaupteten, an Frieden und am Wohlergehen der Menschheit gelegen war? Ich schlug vor, eine selbständige und unabhängige internationale »Gelehrtenrepublik« zu gründen, um wirklich unbeeinflusste Untersuchungen und Stellungnahmen zu den zu lösenden Problemen zu ermöglichen. In der Physik gab es eine solche »Gelehrtenrepublik« ja bereits, warum also nicht in der regierungsberatenden Politikwissenschaft?

C. F. von Weizsäcker befürchtete nach der Lektüre, dass eine solche »Gelehrtenrepublik« auch nicht in der Lage sein würde, Lösungen für die schweren politischen Konflikte der Zeit zu finden, befürwortete aber meinen Eintritt in die VDW, in der ich Gesprächspartner für die mich beschäftigenden Probleme finden würde. So nahm ich in der VDW, bald in deren Arbeitsausschuss, später im Vorstand, an den Diskussionen teil, die u.a. die Beteiligung an den Pugwash-Konferenzen und an den dort auf der Tagesordnung stehenden Fragen der Rüstungskontrolle, Abrüstung und Friedenserhaltung betrafen. Dabei waren natürlich auch die nicht immer übereinstimmenden Meinungen zu den auf den Pugwash-Konferenzen abzugebenden Stellungnahmen zu diskutieren, wenn es auch Prinzip der Pugwash-Konferenzen war und ist, dass jeder Teilnehmer nur seine eigene Meinung vertritt und nicht Delegierter einer Organisation oder gar seiner Regierung ist. Während Wissenschaftler aus westlichen Ländern nicht selten die Politik ihrer eigenen Regierung scharf kritisierten, befanden sich die »Privatmeinungen« der Wissenschaftler aus der Sowjetunion und aus den Ländern des Warschauer Paktes allerdings stets in völliger Übereinstimmung mit den letzten Stellungnahmen ihrer Regierungen, und es war ein offenes Geheimnis, dass einige der sowjetischen »Wissenschaftler« den Apparaten des Geheimdienstes und des Zentralkomitees angehörten und die echten Wissenschaftler überwachten. Dies wurde hingenommen, wobei man sogar den positiven Aspekt sah, dass auf diese Weise jede Verlautbarung und Empfehlung der Pugwash-Konferenzen in erwünschter Weise wortgetreu zur Kenntnis der maßgeblichen Stellen in Moskau gelangen würde. Auch war mit den »echten« Kollegen bei Spaziergängen, Kaffeepausen, Busfahrten usw. manchmal ein unkontrolliertes Wort möglich. Natürlich berichteten auch die westlichen Teilnehmer ihren Regierungen. Das war ja der Zweck der Übung.

Für mich hatte die Teilnahme an den Pugwash-Konferenzen selbst zunächst keine hohe Priorität. Mein Beruf als Abteilungsleiter im Max-Planck-Institut für Physik ließ mir nicht genug Zeit für andere Aktivitäten größeren Umfangs. Ich erinnere mich, dass ich 1964 zur 13. Pugwash-Konferenz nach Karlsbad hätte reisen können, aber absagte. Erst als ich 1974 nach meiner Rückkehr aus Washington, wo ich drei Jahre lang als Wissenschaftsattaché an der Deutschen Botschaft gearbeitet hatte, von Prof. Penselin, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der VDW, gefragt wurde, ob ich nicht als Pugwash-Beauftragter der VDW die Vorbereitung der für 1977 geplanten großen Pugwash-Konferenz in München übernehmen wolle, sagte ich zu. Von da an war ich ein regelmäßiger Teilnehmer an fast allen Veranstaltungen, die von Pugwash in aller Welt ausgerichtet wurden.

Die Konferenz in München, bei deren Vorbereitung und Durchführung ich viele fleißige Helfer hatte, war mit 223 Teilnehmern die bis dahin größte. Sie wurde erst 1992 durch die von Frau Falter im Namen der VDW organisierte Konferenz, ebenfalls eine Quinquennial Conference, mit 274 Teilnehmern übertroffen. Die Konferenz wurde durch Bundesforschungsminister Matthöfer eröffnet, dessen Haus für die VDW die Finanzierung der Konferenz übernommen hatte. Der Bundespräsident (Walter Scheel), der Bundeskanzler (Helmut Schmidt) und der Generalsekretär der Vereinten Nationen (Kurt Waldheim) sandten Grußbotschaften. Acht parallel tagende Arbeitsgruppen befassten sich sodann mit sämtlichen Themen, die sich zu der Zeit auf der Bearbeitungsliste von Pugwash befanden. 1977 waren das die folgenden Themen, die bis heute aktuell geblieben sind:

  • nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung
  • Rüstungskontrolle und Abrüstung im nicht-nuklearen Bereich
  • Koexistenz, Entspannung und Kooperation zwischen Nationen und Systemen
  • Sicherheit von Entwicklungsländern
  • Entwicklungsprobleme ökonomisch schwacher Länder
  • Energie, Weltressourcen und Trends beim Bevölkerungswachstum
  • Umweltgefahren mit globalen Auswirkungen
  • Wissenschaft, Wissenschaftler und Gesellschaft

Was die Pugwash-Konferenzen für mich besonders erfreulich und attraktiv machte, war zum einen die streng wissenschaftliche Atmosphäre, an welche die teilnehmenden, oft sehr prominenten Wissenschaftler von Hause aus gewöhnt waren und die es erlaubte, ohne diplomatische Rücksichten »laut zu denken« und nach praktikablen Lösungen für die heiklen politischen Probleme zu suchen, um die sich die Politiker vergeblich bemühten. Zum anderen waren es die nahezu freundschaftlichen Beziehungen, die sich im Laufe der Jahre und nach vielen heißen Diskussionen auch zwischen Vertretern ganz unterschiedlicher politischer Systeme und Weltanschauungen entwickelt hatten und die es gestatteten, offen zu sprechen und zu fragen. So konnten Wege aufgezeigt werden, die die Politiker später in ihren Abrüstungsverhandlungen beschritten haben, natürlich ohne sich auf Pugwash zu beziehen. In Deutschland haben das Auswärtige Amt (AA), das Verteidigungsministerium (BMVg) und die einschlägigen Ausschüsse des Bundestags die Berichte über die Ergebnisse der Pugwash-Veranstaltungen immer gern entgegengenommen. Ich selbst habe mich bemüht – darin dem Vorbild von C.F. von Weizsäcker folgend – vor Pugwash-Workshops deren Tagesordnung mit leitenden Vertretern des AA und des BMVg zu besprechen, um bei den nachfolgenden Pugwash-Diskussionen die Positionen der Regierung und die sich daraus ergebenden Hindernisse, für deren Überwindung eine Lösung gesucht werden müsse, erläutern zu können. Schon Bundesaußenminister Willy Brandt hatte einige VDW-Vorstandsmitglieder zum Meinungsaustausch empfangen, bevor diese zu einer Pugwash-Konferenz abreisten. Ich konnte mit General Altenburg, damals Generalinspekteur der Bundeswehr, im Bundesministerium der Verteidigung auf der Hardthöhe die deutsche Haltung zu Abrüstungsfragen besprechen, um auf einer damals bevorstehenden Pugwash-Konferenz in Polen von der konkreten Lage ausgehen zu können. Mehrfach hatte ich Gespräche mit Referatsleitern des Auswärtigen Amtes, und in einem Fall nahm einer von diesen als Gast an einem Pugwash-Workshop in Genf teil, um seine Gedanken dort in die Diskussion einbringen und die Ansichten insbesondere der Ostblock-Teilnehmer direkt zur Kenntnis nehmen zu können. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Meyer-Landrut, vorher – und später noch einmal – Botschafter in Moskau und Staatssekretär des Bundespräsidialamtes zur Zeit von Bundespräsident Richard v. Weizsäcker, gab für den gesamten Vorstand der VDW ein Arbeitsessen in den Räumen des Auswärtigen Amtes und brachte auch dadurch das gute Arbeitsverhältnis zwischen der Beratung suchenden Regierung und den deutschen Pugwash-Vertretern zum Ausdruck. Im Ausland besuchte ich, wenn immer möglich, die deutschen Botschaften in den Gastländern der Pugwash-Konferenzen – so in Ottawa, Mexico City, Moskau, Warschau, Sofia – , deren Mitarbeiter im allgemeinen sehr an den Mitteilungen über die Konferenzergebnisse interessiert waren.

Abschließend darf ich als kurze Schlussfolgerung aus meinen Erinnerungen an eine jahrzehntelange Mitarbeit bei »Pugwash« festhalten: Wenn es die Pugwash-Konferenzen noch nicht gäbe, müssten sie erfunden werden, natürlich in der optimalen Form, in der kompetente Wissenschaftler Brücken schlagen, die sich dann als begehbar für die politischen Entscheidungsträger erweisen. Die zu überbrückenden Probleme werden leider niemals ausgehen, denn der wissenschaftliche Fortschritt ist unaufhaltsam und wird nicht nur Segen bringen sondern stets unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben und – wie alle menschliche Tätigkeit – die Möglichkeit zu falscher Anwendung und Missbrauch schlimmsten Ausmaßes in sich tragen. Die soziale Verantwortung der Wissenschaft, für die Pugwash eintritt, wird immer gefordert bleiben.

Prof. Dr. Klaus Gottstein war Mitglied der Direktion des Max-Planck-Institut für Physik, Werner Heisenberg Institut, München und Sprecher der Pugwash-Gruppe der BRD von 1975 bis 1987

zum Anfang | Junge WissenschaftlerInnen in der Pugwash Bewegung

von Ulrike Wunderle und Andreas Henneka

Die »Pugwash Conferences on Science and World Affairs« ermöglichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den internationalen und zunehmend interdisziplinären Austausch über Probleme internationaler Sicherheit und friedlicher Konfliktregulierung. In ihrem Ansatz ist die Pugwash-Bewegung dem Russell-Einstein-Manifest von 1955 verpflichtet: Angesichts der Gefahr einer thermonuklearen Konfrontation zwischen den Blockführungsmächten des Kalten Krieges appellierten elf führende Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete nicht nur an die politisch Verantwortlichen, die bestehenden Konflikte auf friedlichem Wege zu lösen und auf die Abschaffung von Atomwaffen hinzuwirken, sondern auch an die Wissenschaftler selbst, sich untereinander – und über Konfliktgrenzen hinweg – mit der neuen Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen auseinanderzusetzen. Damit wurde das Russell-Einstein-Manifest zum geistigen Fundament und Bezugspunkt der seit 1957 stattfindenden »Pugwash Conferences on Science and World Affairs«.

Schon bald interessierten sich auch junge WissenschaftlerInnen, die im Zuge ihrer akademischen Ausbildung mit Fragen gesellschaftlicher Verantwortung von Wissenschaft konfrontiert wurden, für die Arbeit der Pugwash-Bewegung. In den späten 1970er Jahren formierten sich in den USA und Kanada die ersten Student-Pugwash-Gruppen. Joseph Rotblat, der langjährige Vorsitzende der Pugwash-Bewegung, und die nationalen Pugwash-Gruppen unterstützten dieses Engagement, so dass sich bis heute mehr als 30 nationale Student-Pugwash-Gruppen herausbildeten, die sich – gewissermaßen parallel zur Pugwash-Bewegung – unter dem Dach der »International Student/Young Pugwash« (ISYP) zusammenschlossen. Im Umfeld der Pugwash-Jahrestagung findet auch die »Student/Young Pugwash Conference« statt, für die sich StudentInnen und DoktorandInnen aus allen Ländern der Welt bewerben können.

Auf der Pugwash-Jahrestagung 2005 in Hiroshima – 60 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki – erarbeitete ISYP ein eigenes »Mission Statement«, in der sie sich deutlich auf das Russell-Einstein-Manifest bezieht, zugleich aber darüber hinaus geht: „Geleitet vom Einstein-Russell-Manifest führt ISYP internationale Studenten und junge Wissenschaftler zusammen, die sich mit globalen Problemen und der gesellschaftlich verantwortungsvollen Anwendung von Wissenschaft und Technologie beschäftigen. Durch die Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen Disziplinen, Kulturen und Weltsichten entwickeln die ISYP-Mitglieder schon früh in ihrer akademischen Ausbildung gemeinsame Ansichten und Arbeitsweisen und motivieren sich gegenseitig in ihrem Engagement für die Ideale der ISYP.“ Gemeinsam mit der »Senior«-Pugwash-Bewegung wendet sich ISYP folglich den grundlegenden Problemen und Symptomen globaler Sicherheitsrisiken zu.

In Deutschland geht die formale Gründung einer Studenten-Pugwash-Gruppe auf das Jahr 1984 zurück, die zuerst unter dem Engagement von Martin Kalinowski und später von Ulrike Jordan große Aktivität entwickelte. Im Jahr 2003 fanden sich schließlich wieder StudentInnen und DoktorandInnen zusammen, die die »Bundesdeutsche Studenten Pugwash« (BdSP) neu belebten. Regelmäßige Treffen in Berlin und Hamburg führten zu einer kontinuierlichen Diskussion unter den beteiligten StudentInnen über Wissenschaft und Frieden. In den Jahren 2005 und 2006 fanden erste organisierte Gesprächskreise in Berlin statt. Zum Überprüfungszyklus des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages und dem iranisch-amerikanischen Verhältnis wurden Referenten aus dem Umfeld der Pugwash-Bewegung und ein weiterer Kreis interessierter StudentInnen und DoktorandInnen eingeladen. In Hamburg arbeiten Studenten der BdSP an einem deutschen Beitrag zur »Nuclear Awareness Campaign«. Seit Beginn 2007 bemüht sich der BdSP-Vorstand verstärkt, durch Veranstaltungen und Stellungnahmen zu aktuellen Themen die Basis für ein nachhaltiges Engagement junger Wissenschaftler in Deutschland für Abrüstung und Frieden zu schaffen. Der BdSP-Gegenstandpunkt »Zur Diskussion um das Für und Wider der amerikanischen Raketenabwehrpläne« zeugt hiervon ebenso wie die Akademie »Ansätze zu einer gerechten Energieverteilung im Kontext sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Interessenskonflikte: Probleme und Lösungsoptionen«, welche die BdSP in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und mit Unterstützung des VDW-Vorstands vom 31. August bis 1. September 2007 in Berlin organisierte. Ziel war es, StudentInnen und DoktorandInnen unterschiedlicher Fachrichtungen, Forschungsinstitutionen, Organisationen und Firmen zusammenzubringen, um die Chancen des interdisziplinären Dialogs über Sicherheit und Frieden aufzuzeigen. Die Anregungen der geladenen Referenten und die problemorientierte Gruppenarbeit unterstützte die intensive Diskussion zu Fragen der gerechten Energieverteilung, an welche die BdSP nun anknüpfen kann.

Die Aktivitäten der Bundesdeutschen Studenten Pugwash Gruppe sind in der Entstehung begriffen. Daher bieten sich vielfältige Möglichkeiten für StudentInnen, DoktorandInnen und weitere Interessierte, Ideen einzubringen und deren Realisierung aktiv mitzugestalten. Beiträge sind herzlich willkommen!

Ulrike Wunderle, VDW-Beauftragte BdSP (Kontakt: ulrike.wunderle@uni-tuebingen.de); Andreas Henneka, 1. Vorsitzender BdSP (Kontakt: gistar@zedat.fu-berlin.de). Weitere Informationen zu International Student/Young Pugwash finden sich im Internet unter www.student-pugwash.org

Anmerkungen

Neuneck, Götz: Remember your Humanity: 50 Jahre Pugwash – 50 Jahre Göttinger Erklärung

1) Siehe Text unter http://www.pugwash.org/about/manifesto.htm.

2) Zur Geschichte der Manifestes siehe: The Origins of the Russell-Einstein Manifesto, by Sandra Ionno Butcher, Pugwash History Series, Number One May 2005

3) Reiner Braun, Robert Hinde, David Krieger, Harold Kroto, Sally Milne (Editors): Joseph Rotblat – Visionary for Peace, John Wiley, Mai 2007.

4) Mehr Informationen zur ersten Pugwash-Konferenz unter http://www.pugwash.org/about/conference.htm

5) Siehe z.B. M. Evangelista: Unarmed Forces oder Joseph Rotblat: The Early Days of Pugwash, in: Physics Today 54/6 2001.

6) Siehe dazu das an Materialien reiche Buch von Elisabeth Kraus: Von der Uranspaltung zur Göttinger Erklärung, Würzburg 2001 und die Kurzfassung »Atomwaffen für die Bundeswehr?« In: Physik Journal Vol. 6, 2007 Nr.4 S.37-41.

7) Die Atomwaffen, Vortrag »Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter«, Bonn 29. April 1957, abgedruckt in: Der bedrohte Friede, S.31-42, hier S.34.

8) Ebenda, S.39.

9) Siehe dazu ausführlich Friedensinitiative Garchinger Naturwissenschaftler: 30 Jahre Göttinger Erklärung. Nachdenken über die Rolle des Wissenschaftlers in der Gesellschaft, Schriftenreihe Wissenschaft und Frieden Nr.11, Oktober 1997

10) Kraus 2001: S.66 und S.311.

11) Nobelpreis Homepage: http://nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1995/press.html

12) Zitiert nach International Herald Tribune, 8.Juli 2007.

13) Revitalizing Nuclear Disarmament: Policy Recommendations of the Pugwash 50th Anniversary Workshop Pugwash, Nova Scotia, 5-7 July 2007http://www.pugwash.org/reports/nw/pugwash-mpi/Pugwash-MPI-Communique.htm

Kalinowski, Martin: 50 Jahre nach der Göttinger Erklärung – Nukleare Nichtverbreitung in Deutschland

1) Als Autor: Atomenergie und Atomzeitalter, Fischer Bücherei 1957; Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Vandenhoeck & Ruprecht 1957; als Herausgeber: Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München 1971.

2) Ziviler Bevölkerungsschutz heute. Frankfurt 1972.

3) Literaturangaben zu Veröffentlichung über das Gutachten finden sich unter » http://www.ialana.de/veroeffentlichungen.html«.

4) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Drucksache 16/424). Deutscher Bundestag Drucksache 16/568 vom 8. Februar 2006.

5) Siehe Forschungsverband Naturwissenschaft, Technik und Internationale Sicherheit (FONAS), www.fonas.org

6) Einen Vertragsentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention legten bereits 1997 etliche Nichtregierungsorganisationen vor. Bei der Konferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai 2007 wurde den Delegierten eine überarbeitete Fassung des Textes vorgestellt. IALANA, INESAP, IPPNW (Hrsg.), Securing our Survival (SOS). The Case for a Nuclear Weapons Convention, 2007, 206 Seiten; ISBN 978-0-646-47379-0.

Von der »neuen Wehrmacht« zur Bundeswehr

Von der »neuen Wehrmacht« zur Bundeswehr

Der verwickelte Weg der Demokra- tisierung des Militärs in der BRD

von Detlef Bald

Der 12. November 1955 gilt als die Geburtsstunde der Bundeswehr – damals noch als »neue Wehrmacht « bezeichnet. Der erste Verteidigungsminister, Theodor Blank, vereidigte an diesem Tag in Bonn unter »Preußens Eisernen Kreuz« die höchsten Generäle, die Generalleutnante Adolf Heusinger und Hans Speidel, sowie eine Reihe Offiziere und Unteroffiziere. Anwesend die westlichen Militärattachés, ausgeschlossen die Öffentlichkeit inklusive der Vertreter der höchsten Bundesorgane und des Parlaments. Das stand in der Kontinuität des Weg hin zu dieser neuen deutschen Armee. Während 1949 Franz Josef Strauß noch seinen Wahlkampf, mit dem Slogan führte, jedem Deutschen möge der Arm verdorren, der jemals wieder ein Gewehr in die Hand nehme, sah Adenauer damals bereits in der Westintegration den Hebel für eine neue Wehrmacht. 1949 wurden insgeheim die Weichen gestellt, für das was 1956 Form annahm. Die Auseinandersetzungen über die Ausrichtung dieser Armee waren damit aber nicht beendet.

Will man die Geschichte der Bundeswehr in kursorischer Kürze erfassen, hilft zunächst ein Blick auf ihre Vorgänger. Dabei fällt auf, das deutsche Militär bestimmte sich im 19. und 20. Jahrhundert ganz im Zeichen nationaler Souveränität. Dreimal in hundert Jahren hatte es Europa mit expansiven Kriegen überzogen, nach 1868, nach 1914 und 1939. Es hatte als Machtmittel staatlicher Politik seinen einzigartigen Stellenwert mit einem hohen Grad an sozialer und politischer Exklusivität. Schon dem Kaiserreich war es nicht gut bekommen, den Primat des Militärischen konstitutionell abzusichern und die Unabhängigkeit des Regierungssystems des Reiches zu beschränken sowie die (noch zarten) demokratischen Impulse niederzuhalten. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg belastete zwar die Fortexistenz der Reichsidee, aber die Umstände des Systemwandels wurden genutzt, nach altem Ideal die Armee als »Staat im Staate« zu rekonstruieren. Nicht zuletzt in der Weimarer Republik erwies sich, wie fatal das antidemokratische und antiliberale Potenzial des Militärs die Wirkungen der Verfassung in der politischen Wirklichkeit verwässerte. Am Ende hebelte auch die Reichswehr die Republik aus und ebnete dem Nationalsozialismus den Weg. Solche, – und weitere Aspekte der deutschen Geschichte wie der Militärpolitik und Kriegführung im Zweiten Weltkrieg – waren verantwortlich dafür, nach der Kapitulation 1945 die Wehrmacht institutionell aufzulösen, um, wie in Potsdam deklamiert wurde, den Militarismus auszulöschen.

Das Gründungsparadigma der Bundeswehr wies ihr grundsätzlich einen neu orientierenden Weg, da die Besatzungsmächte die Macht der Bonner Republik über 1949 hinaus bestimmten und somit der Bonner Armee nicht den Status einer national unabhängigen Armee gewährten. Die historisch geladenen Umstände führten zu der doppelten internationalen Signatur der deutschen Streitkräfte, sie sowohl durch westalliierte Suprematie als auch durch Bündniskontrolle einzubinden und keine souveräne Verfügungsgewalt der Bundesregierung zuzulassen. Daneben und gleichrangig bedeutsam wurde dieses Militär gemäß der normativen Kraft des Grundgesetzes in das demokratische Regierungssystem – mit vielfachen Konsequenzen für Aufbau und Entwicklung der militärischen Institution selbst – integriert und der parlamentarischen Zuständigkeit unterworfen. Die Existenz der Bundeswehr war also grundlegend auf diese beiden Pole hin ausgerichtet, gewissermaßen ihre Räson. Die Gestalt der Bundeswehr ist daher im Vergleich zur älteren Militärgeschichte anders: Unterscheidbar und bestimmbar.

Die Geschichte der Bundeswehr, das zeigt ihre offizielle Gründung im Jahr 1955 nur allzu klar, begann nicht mit einer Gründungsfeier, von der aus sich alles strahlenförmig nach vorne – in die Zukunft – entwickelt hätte. 1955 ist vielmehr ein Datum mit historischem Bezug, der im Wesentlichen drei Perspektiven entfaltete und damit in dreierlei Hinsicht die Gestalt der Bundeswehr auf Dauer erfasste. Wie der anfänglich noch unbestimmte Name der Streitkräfte, »neue Wehrmacht«, schon zeigt, war sie (1.) mit der deutschen Geschichte aufs Engste identifiziert: Mit der Geschichte der militärischen Vorgänger wie der Wehrmacht ganz offensichtlich. Ihre Kapitulation im Jahr 1945 aber gewährte dem (2.) Zugang, nämlich der internationalen Koalition der Siegermächte, die Chance sich durchzusetzen. Sie begleiteten und kanalisierten auf Dauer Ausrichtung und Entwicklung der Bundeswehr. Die (3.) Perspektive schließlich begründete die Demokratisierung des Militärs, das sich den rechtsstaatlichen und politisch-freiheitlichen Normen des Grundgesetzes unterwerfen musste, was u.a. zur Folge hatte, sein inneres Gefüge im Prinzip nach den Regularien des öffentlichen Dienstes zu ordnen. Gleichwohl gab es keine »Stunde Null«. Die zeitweilig entmachteten militärischen Funktionseliten wurden im Einvernehmen mit den Westalliierten und nach dem Willen der Bundesregierung wieder eingesetzt, allerdings unter der Voraussetzung, die gesetzten Bedingungen anzunehmen.

In diesem Sinne ist der Gründungstag der Bundeswehr, dieser auf das Jahr 1945 bezogene 12. November 1955, symbolträchtig ein Tag der Zukunft. Aus ihm entspringt die Hoffnung, die »neue Wehrmacht« als Instrument staatlicher Macht zu einer besseren, zu einer demokratisch geprägten Gestalt des Militärs der Bundesrepublik, zur Bundeswehr, zu entwickeln. Die Bundeswehr stand nicht nur lose in der Kontinuität der deutschen Geschichte, sondern sie ist in einem politisch-normativen Verständnis spannungsvoll mit den Lehren aus der europäischen Geschichte konfrontiert. Das fordert die Bundeswehr heraus. Sie wurde im Zusammenhang der Teilsouveränität der Bonner Republik offiziell im Mai 1955 begründet. Im geheimen Bündnis von Politik und Militär aber gab es die verdeckte Planung seit dem Herbst 1950 schon. Natürlich war manches, was die spätere konkrete Entwicklung tatsächlich bestimmen sollte, noch ungewiss. Denn dieser Dreiklang – Geschichtsbezug, Internationalisierung, Demokratie – durchzieht spannungsgeladen die gesamte Geschichte der Bonner Republik, daher auch der Bundeswehr, sicherlich zu einzelnen Zeitpunkten unterschiedlich wirksam, mal mit jenem Ton bestimmend und harmonisch oder mehr dissonant klingend. Alle diese drei miteinander verwobenen Perspektiven und Positionen, Bezüge oder Bedingungen prägen konstitutiv die Existenz des deutschen Militärs der Bonner und Berliner Republik, also nicht nur im Kalten Krieg, sondern grundsätzlich bis in die Gegenwart.

Um zu zeigen, wie die einzelnen Aspekte mit einander verwoben sind, soll zunächst die Rolle der Politik der Alliierten herausgestellt werden, über die Westintegration die für die übrige Welt bedrohlichen deutschen Machtansprüche und -Potenziale zu zähmen. Allein Umkehr und Erneuerung boten Sinn- und Identitätsstiftung für die zweite deutsche Republik, so auch für ihr Militär. Daran erinnert das Jahr 1945 bis in die Gegenwart, wie es Richard von Weizsäcker zusammenfasste: „Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“ Die westlichen Alliierten des Weltkriegs übertrugen Kriegs- und Besatzungsrechte auf die Besiegten, sie gewährten 1955 im Deutschlandvertrag der Bonner Republik „die volle Macht eines souveränen Staates.“ Die Souveränität unterlag der Suprematie, wie sie sich die Alliierten in Jalta und Potsdam für ganz Deutschland vorbehalten hatten. Als wäre es ein kategorischer Imperativ, hielten sie an ihrer obersten Zuständigkeit, die Macht der Deutschen zu pazifizieren, in zeitgemäß abgestuften Kontrollformen fest. Nach 1990 sind dies die neuen völkerrechtlichen und zeitgemäß umgeformten Regelungen der gesicherten internationalen Mitwirkungssysteme der NATO und EU.

Hinter dieser Politik stand zu allen Daten – 1945, 1949, 1955 oder 1990 – das Prinzip: Wirksame Garantien für ein funktionierendes System der Machtkontrolle durch Westintegration! Westintegration war Werteintegration. International und gemäß dem Grundgesetz stand die Abkehr von der Militärgeschichte an: „Der Militarismus ist tot.“ Dieses Wort des Kanzlers Adenauer lässt den Wert der Geschichte, besonders den Bezug zu 1945, erkennen. Die zentrale Stellung des Militärs, seines politisch ambitionierten Offizierkorps, werde es wie in vergangenen Zeiten nie wieder geben. Die Bonner Antwort darauf war die demokratische Einbindung des Militärs – erstmals seit 1806 gelungen. Im Zeichen der Vergewisserung und Reflexion der Geschichte wurde das Militär der parlamentarischen Verantwortung untergeordnet. Der Reformer unter den Soldaten, Wolf Graf von Baudissin, wählte dafür sinnstiftend in Anlehnung an Gerhard von Scharnhorst (sein Geburtstag jährt sich 2005 am 12. November zum 250. Mal) den Begriff »Staatsbürger in Uniform«, der unter dem Synonym »Innere Führung« von der Militärführung schließlich akzeptiert wurde. Die Kodifizierung des Primats der Politik gelang in der Wehrgesetzgebung. Sie ist der Ausdruck der dezidierten Militärreform. Die politische staatsrechtliche Einordnung der Bundeswehr in das republikanische Regierungssystem von Bonn setzte der Geschichte eines militärischen Sonderwegs ein Ende. Ein solche Kontinuität sollte es nicht mehr geben. Man setzte tatsächlich Zeichen, die Wertordnung des Grundgesetzes in hohem Maße auf das Militär zu übertragen und rechtsstaatlich freiheitliche Grundrechte für Soldaten zu gewährleisten. Die Entmythologisierung des alten Militärs mit seinen besonderen Normen war, wie schon Max Weber beobachtet hatte, vor der Geschichte längst in Gang gekommen – die Bundeswehr unterzog sich einer Art nachholender Reform. Sie ist schließlich »normal« in der Bundesrepublik angelangt.

Natürlich lassen sich einzelne Phasen der über 50jährigen militärischen Geschichte der Bonner und Berliner Republik unterscheiden, die einen jeweils charakteristischen Widerhall jenes Dreiklangs (der Demokratisierung, Internationalisierung und des Geschichtsbezugs) einfangen, der allerdings, wenn er in einer Phase angeschlagen wurde, auch in der folgenden Zeit noch weiterklang. Somit bieten alle Phasen und die Schlüsseljahre nur eine relative und keine absolute Gliederung, die nicht starr zu verstehen ist, sondern nur helfen können, das komplexe historische Geschehen ein wenig zu ordnen. Denn Gegensätze und Widersprüche zur Wertebindung der politischen Kultur der Bundesrepublik verliehen dem Militär immer wieder ein »hässliches Gesicht«, öffentlich aufmerksam verfolgt bezüglich manifester Tendenzen eines genuin militärischen Milieus; also die Übernahme vermeintlich »ewiger Werte des Soldatentums« in den fünfziger Jahren bis hin zum Anspruch oberster Generale (Schnez-Studie 1969), die Gesellschaft nach militärischem Maß zu gestalten; die Geltung von Drill und Schinderei gemäß militaristischem Vorbild in den sechziger Jahren (Nagold); die traditionalistische Orientierung am Mythos einer politisch »sauberen« Wehrmacht, wie sich in der jahrelangen Ablehnung der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 als »Landesverräter« und »Eidbrecher« bis hin zur brisanten Distanz zur Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« in den neunziger Jahren zeigte; also Strukturen unklarer Identität der militäreigenen Tradition; die Ambivalenz zwischen Reformern und Traditionalisten als ein dauerhaftes Dilemma, das im Selbstverständnis der Soldaten und im Gesamtprofil der Bundeswehr Dellen hinterlassen hat; die Ablehnung der demokratischen und gesellschaftlichen Einflüsse durch Abgrenzung des Militärs – Atombewaffnung oder Friedensbewegung bieten viele Beispiele; die Diffamierung gerade des Reformsymbols – »Innere Führung« – durch die Politik z.B. des Ministers F. J. Strauß mit dem Wort vom „Inneren Gewürge“ oder durch traditionalistische Deklassierung der Generale wie – um nur einige prominente Skandalbelastete von 1955 bis 2004 zu nennen: Heinz Karst, Heinz Trettner, Hellmut Grashey und schließlich Gerd Schulze-Rhonhof oder Reinhard Günzel; die Ausrichtung des Berufsprofils an einseitigen und rechtslastigen Vorbildern, zuletzt im Hochhalten eines Kämpferkults in den neunziger Jahren mit geradezu signifikanten Übersteigerungen in über zwanzig Standorten (Coesfeld) im Jahr 2004. Die Geschichte der Bundeswehr erweist sich zu allen Zeiten als vielfältig und spannungsgeladen.

Um den strukturierenden Dreiklang angemessen einordnen zu können, ist noch auf einen dynamisierenden Faktor hinzuweisen: Militärpolitik war deutsche Macht bewusste Politik. Schon Adenauer verband mit Militär die Hoffnung auf eine optimierbare Revision der staatlichen Handlungs-Potenziale. Bündnispolitik und europäische Integration waren das Resultat. Die »Wiederaufrüstung« leitete den Prozess des »nation building« der Bundesrepublik und formte gewissermaßen die außenpolitische Staatsräson: Gleichsetzung der staatlich-nationalen Existenz mit internationaler militärischer Verflechtung. Nach 1990 erfuhr das alte Muster weitere Impulse, die aber nur – könnte man betonen – die internationale Gestalt des deutschen Militärs modifizierten. Die Verhandlungen um einen Militärbeitrag nach 1949 und nach 1990 offenbaren das Grundmuster des wechselseitigen Nutzens der Politik, jenes »do ut des«, das damals wie heute feststellbar ist. Demokratische Kontinuität und die Internationalität der Bundeswehr durch Bündnistreue und Europäisierung boten auch hier Chancen der Machtteilhabe durch Machttransformation. Kanzler Kohl stellte die Weichen. Die internationalen Einsätze der Bundeswehr bis hin zur kriegerischen Teilnahme an der Kosovo-Besetzung sowie der militärgestützten Außenpolitik im Verfassungsrahmen der EU legen davon Zeugnis ab, wie in der Gegenwart Kanzler Schröder deutsche Machtpolitik definierte.

Das Vertragswerk von 1955 und von 1990 enthält in nuce die Staatsräson Deutschlands, nur als Teil einer europäischen Friedensordnung »frei« sein zu können. Es war, das lässt sich festhalten, auch so immer eine Deklamation der Versöhnung. Dieses Paradigma bleibt für Deutschland und somit für die Bundeswehr erhalten. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht mehr zurückdrehen.

Dr. Detlef Bald war Wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, er arbeitet jetzt als freier Autor

Die Erfindung der Erinnerung

Die Erfindung der Erinnerung

Geopolitik des Entsetzens und Ethik der Rekonstruktion

von Juan Jorge Michel Fariña

Die zeitgenössischen Katastrophen zeichnen eine Geopolitik des Entsetzens, deren Koordinaten zunehmend ungewisser werden. Von Erdbeben über Wassergewalt, von den ökonomischen und ökologischen Risiken bis zu vielfältigen Formen menschlicher Vernichtung erlebt die Menschheit täglich den Beweis ihrer Zerbrechlichkeit. Aber schon Sigmund Freud hatte es prophetisch geahnt: Während die Verletzlichkeit gegenüber der Natur Mitleid und Solidarität weckt, erzeugt die Aggression durch den Nächsten noch mehr Hass und Ressentiments. Sich mit dieser Besonderheit der »condition humaine« auseinander zu setzen, ist wohl die größte Herausforderung unserer Zeit.

Am 24. März 2006 wurden in Argentinien die Gedenkfeiern zu 30 Jahre Militärputsch begangen. Warum 30 Jahren, warum nicht fünf, fünfzehn oder schlicht dreizehn? Welche Neigung treibt uns dazu, die Erinnerung an diese oder jene Jubiläen zu knüpfen, wenn sich doch die Wirklichkeit nicht in Dekaden zeigt? Es handelt sich offensichtlich um den Wert einer Zeremonie, um die symbolische Wirksamkeit bestimmter Rituale einer Kultur, mit der wir die einmalige Geographie unserer gemeinsamen Geschichte festlegen.

Die drei Zeiten der Schuldbefreiung

Der Fall Argentiniens ist interessant, weil er ein gigantisches Unternehmen der Erfindung von Erinnerung voraussetzt. Es wurden aufwändige Versuche unternommen, die Vergangenheit zu begraben und dennoch hat das Erinnern überdauert. Das alles hat sich innerhalb gewisser Besonderheiten ereignet, die zum Nachdenken über die Originalität dieser Beharrlichkeit anregen.

Vor weniger als einem Jahr, im Juni 2005, hat der Oberste Gerichtshof in einem historischen Urteil die Verfassungswidrigkeit des Schlußpunktgesetzes (Ley de Punto Final) und des Befehlsnotstandsgesetzes (Ley de Obediencia Debida) festgestellt. Die Medien haben die Information über die ganze Welt verbreitet, es aber versäumt, ihr Publikum über den Sinn dieser Gesetze aufzuklären. Was bedeuten diese beiden Gesetze, die fälschlicherweise »Begnadigungsgesetze« genannt werden?

Es handelt sich um zwei Säulen einer Straflosigkeitsstrategie für die schlimmsten Verbrechen, die je in der Geschichte Argentiniens begangen wurden. Irgendwann habe ich einen Artikel mit der Überschrift »Die drei Zeiten der Schuldbefreiung« veröffentlicht. Diese drei Zeiten heißen Schlußpunktgesetz, Befehlsnotstandsgesetz, Begnadigung. Sie sind chronologische und logische Zeiten der größten juristisch-institutionellen Anordnung des Vergessens, die je entworfen wurde.

Vielen unserer Universitätsstudenten, die nach 1976 geboren sind, behagt es nicht, wenn wir von Dingen aus der Vergangenheit sprechen. Sie betrachten uns ein bisschen herablassend, so als wären wir alte Opas, die von einem fernen Spanischen Bürgerkrieg erzählen. Dennoch lohnt sich die Beschäftigung mit der Geschichte.

Im Dezember 1986, zwei Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, war die Erforschung der finstersten Verbrechen der argentinischen Geschichte beachtlich voran geschritten. Man hatte überzeugende Beweise gegen rund 1.300 Militärs der verschiedenen Streitkräfte gesammelt, Beweise von Verbrechen wie illegalen Entführungen, Folter, Vergewaltigung, dauerhafter Freiheitsberaubung, Diebstahl, Entführung und Identitätstausch von Säuglingen sowie massiven Morden unter dem Vorwand des Verschwindenlassens (Desaparecidos). Diese 1.300 Militärs waren nur die Spitze des Eisbergs. Die Beweise, die zur Verurteilung genügt hätten, waren das Ergebnis jahrelanger Recherchen argentinischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen.

Doch es blieb weitaus mehr zu erforschen, und man schätzte damals, wenn die Ermittlungen konsequent und mit staatlicher Unterstützung weitergeführt worden wären, hätte man die Zahl der Schuldigen mindestens verdreifachen müssen.

Das war der Punkt, an dem die argentinische Regierung die Entscheidung traf, die Untersuchungen abrupt zu beenden. Das Schlusspunktgesetz (Ley de Punto Final) setzte der Suche nach Wahrheit ein zeitliches Limit. Es beschnitt den Corpus des Ermittelten auf den Zeitraum bis 1986 und erklärte damit jede spätere Anklage für nichtig. Das war die erste Phase der Schuldbefreiung.

Einige Monate später, zu Ostern 1987, erhob sich eine Gruppe der in diese humanitären Verbrechen verwickelten Militärs aus Protest gegen die Verurteilung. Es war der berühmte Putsch der »Bemalten Gesichter« (carapintadas). Seine Protagonisten bemalten sich Stirn und Wangen mit schwarzer Schuhcreme zum vermeintlichen Zeichen dafür , dass sie kämpfende Soldaten gewesen seien. Unter diesen Bedingungen gab die Regierung dem Druck nach und verkündigte das Befehlsnotstandsgesetz (Ley de Obediencia Debida), das fast alle jener 1.300 angeklagten Militärs der Verantwortung enthob, auf denen erdrückende Beweise für ungeheure Verbrechen lasteten. Das damals angeführte Argument lautete, sie hätten die Verbrechen auf Befehl ihrer Vorgesetzten ausgeführt, deshalb seien sie „nicht verantwortlich für das, was sie taten.“ (Originalgesetzestext: „No eran responsables de lo que hacían.“) Das war die zweite Phase der Schuldbefreiung.

Wir können uns drei konzentrische Kreise vorstellen. Der äußere Kreis, der weiteste von allen, stellt das Universum der Verantwortlichen für die Verbrechen dar. Mit dem Schlusspunktgesetz wurde dieser Kreis auf einen kleineren reduziert, auf ein Drittel des ersten, und mit dem Befehlsnotstandsgesetz entließ man automatisch fast alle in Freiheit. Als Schuldige blieben ein Dutzend hochrangiger Militärs übrig, ein letzter innerer Kreis, unbedeutend im Vergleich zum ersten Universum. Diese Militärs kamen vor Gericht und wurden in unterschiedlichem Maße für schuldig befunden. Wenige Jahre später, im Jahr 1990, kam die dritte Phase der Schuldbefreiung: die Begnadigung (Indulto). Alle wurden begnadigt, das heißt, es wurde ihnen verziehen.

Das bedeutet, dass innerhalb kurzer Zeit die Verantwortlichen für die größten Verbrechen unserer Geschichte freigelassen wurden, die meisten von ihnen wurden nicht mal vor Gericht gestellt.

Wenn in den Medien von der täglichen Unsicherheit in Argentinien gesprochen wird, von der Gewalt, mit der Kriminelle ihre Wut an Opfern auslassen, vom Mangel an Verfassungsgarantien für die Bürger, dann bringt das niemand mit diesem beschämenden Kapitel unserer Geschichte in Verbindung. Als entstünde die Gewalt von selbst und die Straflosigkeit sei aus einem Ei gekrochen.

Die Erfindung der Erinnerung

Doch das Bemerkenswerte ist, dass die Erinnerung überlebt hat. Wenn wir Argentinier über den Sinn nachdenken, uns unserer Vergangenheit zu erinnern, ist es hilfreich, den Faschismus in Deutschland zu Hilfe zu ziehen. Wir erleben heute eine Welle des Erinnerns an die Verbrechen des Dritten Reiches. Dabei reden wir hier nicht von Ereignissen der letzten 30 Jahre, sondern von jenen, die 60 Jahre her sind. Schauen wir auf die Erfahrungen, die das Kino bietet: »Der Untergang«, der die letzten Tage Hitlers im Bunker rekonstruiert und die erschreckenden Morde von Kindern durch einen Arzt der Nazis. »Der neunte Tag«, der auf tapfere Weise die Dimension einer Entscheidung eines Geistlichen in einem Konzentrationslager thematisiert, »Amen«, der Film des unvergesslichen Costa-Gavras, der die Grenzen von Wissenschaft und Technologie aufzeigt, die sich ergeben, wenn man sie jenseits jeglicher ethischer Horizonte denkt. Oder »Verschwörung«, jener Film, der die geheimen Akten jener Versammlung von 1942 ans Licht zerrt, mit denen die Auslöschung des jüdischen Volkes beschlossen wurde.

Wenn das Kino der Spiegel ist, in dem sich eine Gesellschaft betrachtet, was heißt das für das Gedenken? Heißt das vielleicht, dass in diesen extremen Nuancen des Horrors der Schlüssel zum Verständnis jenes zeitgenössischen Subjekts, des Argentiniers, liegt, der gerade versucht, unsere Demokratie aufzubauen? Denn tatsächlich ist es so: Wenn man ein Ausnahmezustands-Regime mit langen Gefängnisaufenthalten, Verschwundenen, Folter, gewalttätigen Formen des Exils und geheimen Internierungscamps erlebt, tritt etwas von der »condition humaine« ans Licht, das latent in der täglichen Erfahrung enthalten, aber nur in seinen schlimmsten Formen der Erkenntnis zugänglich ist. Es ist diese Gewalt, die auch in normalen Zeiten existiert, die uns in den Demokratien, die wir errungen haben, aber im täglichen Erleben aus den Händen gleitet. Wir müssen daraus folgern, dass die Erinnerung nicht nur eine moralische Verpflichtung gegenüber der eigenen Geschichte ist, sondern vielmehr ist sie der Ausweg, den die menschliche Psyche bietet, um mittels dessen, was sich als extrem darstellt, die blinden Stellen der Gegenwart jedes Einzelnen anzuschauen.

Das Erinnern, das Gedenken ist also keine Ergötzung an der Vergangenheit, sondern die Erfindung der Zukunft.

Die Rückkehr von Antigone

„Wie können Sie einem Häftling Information entlocken, wenn Sie ihn nicht foltern? (…) Glauben sie, wir hätten 7.000 erschießen können? Selbst wenn wir nur drei erschossen hätten…Schauen Sie mal, was der Papst für einen Aufstand gemacht hat, als Franco drei erschossen hatte. Die ganze Welt hätte sich auf uns gestürzt. Sie können keine 7.000 Menschen erschießen (…) Und wenn wir sie ins Gefängnis gesteckt hätten, was dann? Das hatten wir schon mal. Dann kommt eine neue Regierung und setzt sie frei.“

Diese Worte haben eine besondere Bedeutung, denn es sind die ersten, mit denen ein Unterdrücker der Militärdiktatur (1976-1983) explizit zugibt, dass die Verschwundenen im Geheimen umgebracht wurden. Es ist der argentinische General Díaz Bessone, der von der französischen Journalistin Marie-Monique Robin für den Dokumentarfilm »Todesschwadronen. Die französische Schule« interviewt wurde. Er wurde in Frankreich und anderen zwölf europäischen Ländern am 1. September 2005 gezeigt.

Jahrzehntelang haben die argentinischen Militärs die Existenz der Verschwundenen geleugnet, anfangs unter der Vorgabe, die Menschen seien noch am Leben und heimlich ins Exil gegangen, später mit dem Eingeständnis einiger weniger Fälle, die als »Exzesse« bezeichnet wurden. Die Enthüllungen im erwähnten Film zeigen, dass es sich um einen systematischen Plan handelte: Man mordete im Geheimen und entfernte die Körper der Opfer, um jegliche Form von Begräbnisritual von Seiten der Familie zu verhindern.

Diese grimmige Wut auf den politischen Gegner über den Tod hinaus ist nicht neu. Schon vor 2.500 Jahren greift Sophokles in seiner »Antigone« ein ähnliches Thema auf. Kreon, oberster Befehlshaber des thebischen Heeres, verbietet das Begräbnis von Polyneikes. Dieser war beim Versuch, die Stadt anzugreifen, um seine Rechte auf den Thron von Theben zu verteidigen, ums Leben gekommen. Das Edikt von Kreon hatte die Funktion einer Strafe und gleichzeitig einer Drohung an jene, die versuchten, die Staatsgewalt herauszufordern. Deshalb ist Antigones Tat, gegen die Gesetze der Stadt den Körper ihres toten Bruders zu begraben, im Lauf der Geschichte zum Symbol für ethisches Handeln avanciert.

Das Verschwindenlassen der Körper ist – zusammen mit der Entführung und dem Identitätstausch von Kindern – zum »Markenzeichen« der argentinischen Militärdiktatur geworden. Gleichzeitig war es, auch wenn seine Verfechter es nicht wussten, der Anfang vom Ende des eigenen Regimes. Denn eine Mutter, äußerst empfindlich angesichts der Bedrohung ihrer Leibesfrucht, wird nie ihr Kind aufgeben. Dieser Kern von »Antigone« ist es, der in den Demonstrationen der Mütter rund um die Plaza de Mayo wiederkehrt, ebenso wie in allen anderen politischen oder sozialen Formen des endlosen Strebens nach Gerechtigkeit.

Ethik und Ästhetik der Erinnerung

Zweifellos spielt die Kunst in der Strategie der Rekonstruktion die Hauptrolle. Denn es gibt nichts zu rekonstruieren, wenn Gedächtnis und Gerechtigkeit nicht vorhanden sind. Die Literatur, die Musik, die Bildhauerei, das Kino und das Theater zeigen bewegende Offenbarungen dieser Übung einer kollektiven Erinnerung.

Einer der Schriftsteller, die das Thema der Erinnerung am tiefsten und sicherlich am bewegendsten aufgegriffen haben, ist der argentinische Dramatiker Eduardo Pavlovsky. Sein Werk »El señor Laforgue« wurde 1981 während der Militärdiktatur aufgeführt, als die Anerkennung gering und die Umstände noch sehr riskant waren. Die Geschichte musste auf die Insel Haiti unter dem Regime von Papa Doc verlegt werden. Das Stück beschreibt die Geschichte eines Kommandanten der Luftwaffe, der die Aufgabe hatte, das Verschwinden politischer Gegner zu organisieren. Die angewandte Technik war fürchterlich: Die Verdächtigen wurden bewusstlos an Bord eines Militärflugzeuges gebracht und unter Vollnarkose ins Meer geworfen. Ein nachgeworfenes schweres Gewicht sollte die Körper versenken – eine »saubere« Technik des Verschwindenlassens.

Das Stück von Pavlovsky nähert sich dem Thema auf überraschende Weise: Kommandant Laforgue geht zu einer Routinebesprechung in ein Militärzentrum und läuft dort zufällig einem Überlebenden seiner nächtlichen Flüge über den Weg. Der Mann war mit einer zu niedrigen Narkosedosis ins Meer geworfen worden, er wurde auf wundersame Weise von Fischern gerettet. Ein Fehler des Systems: Nicht alle Opfer wurden sorgfältig genug eliminiert. Einige Verschwundene tauchten wieder auf und sind ein gefährliches lebendes Zeugnis.

Die politische Situation auf der Insel beginnt sich zu verändern, unter der Hand reden die Leute, und es kursieren Gerüchte über die nächtlichen Flüge der Militärs. Die Person des verantwortlichen Piloten wird bekannt, die Oberen sind beunruhigt. Drastische Maßnahmen müssen ergriffen werden. Mit der Präzision eines Uhrwerks wird das Verschwinden des Kommandanten geplant. In einer modernen Militärklinik leitet man seine Metamorphose ein: Die Physiognomie wird verändert, er bekommt eine neue Familie, seine Persönlichkeit wird verwandelt, sein Gedächtnis ausgelöscht. Die Behandlung verläuft langsam und schwierig. Die Erinnerungen von Laforgue sind sehr hartnäckig. Die Sitzungen müssen intensiviert, neue Technologien hinzugezogen werden. Gleichzeitig spitzt sich die politische Lage auf der Insel zu: Der Diktator fällt schlagartig in Ungnade, das Volk organisiert seine Wut. Die leisen Gerüchte werden zu lauten Vorwürfen. Ein Detail des Stücks: Aufgrund der Finanzkrise muss die Regierung Blei beim Versenken der Körper sparen, die Ereignisse überstürzen sich. Ein schweres Gewitter peitscht über die Insel. Das aufgewühlte Wasser treibt die Leichen an den Strand, wie in einem Albtraum kehren die Körper der Verschwundenen zurück.

Das Regime ist verzweifelt. Es gibt keinen Ausweg mehr, Laforgue ist gefährlicher denn je geworden. Seine Verwandlung muss abgeschlossen und er aus dem Land gebracht werden. In der Klinik trifft man die Vorbereitungen für die Reise Laforgues und seiner neuen Familie in die Vereinigten Staaten. Im letzten Moment schlägt das Gedächtnis unerbittlich zu: Als Laforgue einsteigen soll, spült der Anblick des Flugzeugs die Erinnerungen des Kommandanten wieder hoch und zeigt ihm wie im Spiegel das finstere Ende seiner ehemaligen Passagiere. Sein Schrei um Erbarmen „Nicht ins Flugzeug! Nicht ins Flugzeug!“ beendet das Stück mit einem Zeugnis gegen das Vergessen.

Erinnerung und Gerechtigkeit

Pavlovsky zeichnet meisterhaft die Strategie des Regimes nach, doch vor allem die Risse darin, die Fehler, die seine Grenzen offenbaren und seine Widersprüche. Es geht, wie anfangs angedeutet, um die Beharrlichkeit der Erinnerung. Je ausgetüftelter, je klüger die Anordnung des Vergessens, umso größer ist der Einfallsreichtum der Erinnerung. Wie in jedem Stück von Pavlovsky nimmt »El señor Laforgue« auf subtile, ästhetische Weise die Vorgänge vorweg, die man später in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wiedererkennt. Im Text sind nur die Feinheiten , die kleinen Details vergrößert, die die geheimen Besonderheiten der »condition humaine« ausmachen.

Man erkennt die zahlreichen Facetten der Vernichtung, den Kampf um die Vermehrung von Macht ohne Rücksicht auf die Opfer, das Bemühen um »Sauberkeit« einer raffinierten Technik, die jede Spur verwischen will (vollständiges Verschwindenlassen), die unpersönliche Bürokratie, die das Verschwindenlassen des Henkers in die unendliche Kette von Befehlen einreiht, und schließlich die bürokratisch-politische Technik, die die Verantwortlichkeit des Flüchtigen der Stunde auf ein Minimum reduzieren will.1

Der argentinische Psychoanalytiker Fernando Ulloa hat einmal behauptet, Gerechtigkeit herzustellen sei wie lieben. Es gebe Höhepunkte und tagtägliches Einerlei.

Nach dreißig Jahren Militärputsch mag es merkwürdig erscheinen, dass wir den Eintritt in diese schreckliche Nacht feiern und nicht den Ausgang der Nacht. Doch wenn man einmal die Ausgangsmöglichkeiten erfasst hat, ist das Herz des Labyrinths das Beunruhigendste. Darauf richtet sich die Beschwörung der Erinnerung.

Anmerkungen

1) Zur Beschreibung dieser Mechanismen siehe Guillermo Maci und Juan Jorge Fariña: Tesis analiticas sobre la desaparicion de personas tal como se presentan en la experiencia clinico-institucional, Buenos Aires, 1983.

Juan Jorge Michel Fariña ist Professor für Psychologie, Ethik und Menschenrechte an der Universität Buenos Aires und leitet an der Technischen Universität das Programm »International Bioethical Information System«. Von 1981 bis 1992 war er Direktor des Programms zur psychologischen Unterstützung der Angehörigen von Verschwundenen und politischen Häftlingen (MSSM-Medicins du Monde). Übersetzung aus dem Spanischen: Dr. Daniela Engelhardt

Söldnergeschichte(n)

Söldnergeschichte(n)

von Michael Sikora

Eine Geschichte der Söldner gibt es eigentlich nicht. Das Söldnerwesen ist keine definierbare Institution, das über die Jahrhunderte eine kontinuierliche Entwicklung durchlaufen hätte. Seit der Antike haben sich Söldner anscheinend jeder Form militärisch organisierter Gewalt angegliedert, mehr oder weniger zahlreich, in höchst unterschiedlicher Gestalt und ebenso unterschiedlichen Motiven folgend. Da sind beispielsweise die eigentlichen Handwerker der Gewalt, Spezialisten, die ihre besonderen Fähigkeiten im Umgang mit Waffen und Kriegführung als Dienstleistung zu Markte tragen. An die englischen Bogenschützen oder die genuesischen Armbrustschützen des späten Mittelalters wäre zu denken, oder an die Technokraten des Krieges, die das Personal der gegenwärtigen Söldnerfirmen bilden.

Viele Söldner wird man eher als Abenteurer begreifen, die sich für einen Lebensentwurf entschieden haben, von dem sie sich in unterschiedlicher Weise Bestätigung und Verwirklichung versprechen. In den Reihen der mittelalterlichen Ritterheere fanden sich bereits viele junge Adlige, die nicht ihrer Vasallenpflicht, sondern der Bezahlung folgten und auf ihre Art die Ideale ihres Standes zu verwirklichen suchten. Vielen modernen Söldnern scheinen die Belastungen eines Kriegerlebens verheißungsvoller zu sein als die Zwänge der Zivilisation.

Manchmal nimmt das Söldnerwesen die eigenartige Gestalt einer ethnischen Besonderheit an. Das prominenteste Beispiel sind die Schweizer Eidgenossen: Zwei Jahrhunderte lang, im 14. und 15., befreiten sie sich von ihren Feudalherren, entwickelten innovative Kampfweisen – und zählten danach für drei Jahrhunderte zu den begehrtesten Söldnern auf den Kriegsschauplätzen ganz Europas. Ein letzter Abglanz lebt bis heute in der päpstlichen Schweizergarde fort. Oder die Gurkhas, Angehörige einer kampfeslustigen nepalesischen Ethnie, die Anfang des 19. Jahrhunderts mit den Engländern in Berührung kamen und sich nach ihrer Unterwerfung in großer Zahl für die britische Armee verpflichten ließen. Bis heute holen sie englische Kastanien aus den Feuern der Welt, und so war das erste Todesopfer der KFOR-Truppen im Kosovo ein Gurkha der britischen Armee.

Die meisten Söldner aber wird man wohl als arme Schlucker betrachten müssen, die in den Krieg ziehen, weil sie vielleicht von Ruhm und Beute träumen, aber zunächst nicht wissen, wovon sie morgen leben sollen. Nicht selten waren und sind dies selbst Opfer des Krieges, der ihre Dörfer und Gehöfte verheert und ihnen die Lebensgrundlage entzogen hat. Nicht selten aber auch wurden und werden junge Männer einfach in den Krieg gezwungen. In den Söldnerheeren des 17. und 18. Jahrhunderts fanden sich viele Arme und Gezwungene, und erst recht stützen sich moderne Warlords in den Elendsregionen der Bürgerkriege auf solche mehr oder weniger freiwillige Krieger und schrecken auch nicht vor der Rekrutierung von Kindern zurück. Andererseits bieten selbst moderne Berufsarmeen westlicher Staaten nicht nur hehre Ideale, sondern gesicherte Laufbahnen an, die offensichtlich in ökonomischen Krisen als Alternative zu Arbeitslosigkeit nachgefragt werden.

Aber sind das auch Söldner? Die Vielgestaltigkeit des Söldnerwesens macht an vielen Stellen Grenzen fließend und Definitionen schwierig. Das wird auch an den jüngsten Versuchen deutlich, dem Söldnertum juristisch entgegen zu treten. Unter dem Eindruck der unkontrollierbaren Gewalt, die im Zuge der Entkolonierungskrisen in Afrika von Söldnern ausging, haben sich auch die Vereinten Nationen die Bekämpfung der Söldner zum Ziel gemacht. Aber in der 1989 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Konvention gegen Söldner konnte man sich nur auf eine gewundene Definition einigen, die wortreich Merkmale von Söldnern aufzählt. Als solche gelten demnach nur Krieger, die extra für einen Konflikt angeworben worden sind, die keine Staatsangehörigen der Konfliktparteien sind, deren Kampf sich gegen Regierung und Integrität eines Staates richten, die nicht von Dritten offiziell entsandt worden sind. Besonders misslich für eine Norm, die ja auch juristisch handhabbar sein soll, ist, dass diese Beschreibung nicht einmal ohne subjektive Dimension auskommt, den demnach ist für den Söldner auch wesentlich, dass ihn vor allem das Streben nach persönlichem Gewinn motiviert.

Aber gerade diese subjektive Dimension ist es, die dem volkssprachigen Verständnis von Söldnern zugrunde liegt. Ein Beispiel, das im Vergleich zu den Kriegen der Welt läppisch erscheinen mag, bringt dies in aller Subtilität zum Ausdruck. Im Dezember 1999 sahen sich die Fußballprofis des FC Bayern München nach einer verlorenen Partie mit Spruchbändern wie „Schämt euch, ihr Söldner“ konfrontiert. Gekränkt steckte Übungsleiter Hitzfeld exakt das beleidigende Begriffsfeld ab: „Die Fans haben kein Recht, uns als Verräter, Söldner und Gauner hinzustellen“. Aber warum wurde dieser Vorwurf gerade an diesem Tag erhoben? Das vorangegangene Spiel war nicht gegen einen beliebige Mannschaft verloren worden, sondern gegen den Lokalrivalen 1860 München. Bei diesem Gegner geht es traditionsgemäß nicht nur um Punkte, sondern um Ehre, und da wird mehr verlangt, als vertraglich vereinbarte Dienstleistung, nämlich Leidenschaft und Identifikation. So ergab die Schmähung erst Sinn. Und das eben markiert den Söldner im landläufigen Sinn: Ein Mangel an legitimen Motiven, die ihre Gewaltausübung rechtfertigen könnten.

Das ist zwar ein auch in der Geschichte verbreiteter Topos der Söldnerkritik, aber er ist keineswegs zeitlos. Die mitunter widersprüchlichen Bilder, die sich eine Gesellschaft von Söldnern macht, sagen nicht nur etwas über Söldner aus, sondern noch viel mehr über das Verhältnis der Gesellschaft zur militärischen Gewalt. Sie sind mithin selbst Produkt historischer Prozesse. Wenn es auch schwierig ist, eine Geschichte der Söldner zu schreiben, so kann doch die Geschichte der Spuren erzählt werden, die sie in die Geschichte von Krieg und Herrschaft und von Werten und Wahrnehmungen eingeschrieben haben. Ein Leitmotiv dessen ist die Polarität zwischen Söldnerheer und Bürgerheer. Die griechische wie die römische Geschichte kennt solche Kapitel. Die Ursprünge der modernen Variante kann man bis ins 15. Jahrhundert zurück verfolgen.

Es ist die Zeit, in der Söldner in den europäischen Heeren allmählich zur Mehrheit und damit für eine längere Phase der Militärgeschichte zum dominierenden Strukturmerkmal wurden. Das war ein voraussetzungsvoller und eckiger Prozess, was hier nicht näher entfaltet werden kann. Zur vollen Selbständigkeit gelangte das Söldnerwesen zuerst in den italienischen Stadtstaaten der Renaissance. Deren Erfahrungen von willkürlicher Gewalt, gewissenlosem Verrat und unkontrolliertem Machtmissbrauch riefen zwar auch entschiedene Kritiker auf den Plan. Aber den Siegeszug der Söldner hielten sie nicht auf, zu verlockend waren die Vorzüge der Söldner für die Fürsten und Obrigkeiten. Die herkömmlichen Wehrformen, der Appell an adlige Vasallen oder städtische wie dörfliche Milizen, war an lästige Bedingungen geknüpft und an den Eigensinn und Widerwillen der Betroffenen. Söldner dagegen waren beliebig verfügbar – wenn man sie denn bezahlen konnte. Rasch erwies sich auch deren militärische Effektivität als schlechterdings unschlagbar.

Der Wunsch nach Söldnern überstieg aber in aller Regel die materiellen Möglichkeiten der Kriegsherren. Fürstliche Behörden waren noch kaum entwickelt, und die fürstlichen Amtsträger waren noch lange nicht in der Lage, die komplexe Organisation von Truppen in eigener Regie zu vollziehen. Das blieb erfahrenen Truppenführern überlassen. Mehr noch, das Kapital, das den Fürsten fehlte, wurde oft auf demselben Weg mobilisiert, indem solche Truppenführer, zwar im Auftrag, aber dann auf eigene Kosten Söldner hinter sich scharten und also in Vorleistung traten, in der Erwartung, dass der Krieg selbst und die Steuersäckel ihrer Auftraggeber diese Investition auf längere Sicht rentabel werden ließ. Die Logik dieser Praxis ist als Kriegsunternehmertum bezeichnet worden, und wenn es auch anachronistisch wäre, diese Praxis als privatwirtschaftlich zu bezeichnen, so blieb doch die Kontrolle der Fürsten über diese Truppen lange Zeit prekär. Erst allmählich, bis ins 18. Jahrhundert, entwickelten die staatlichen Herrschaftsapparate die nötigen Techniken, um die Kontrolle über das Militär zu sichern und die Armeen als ein zentrales Machtinstrument in den Staatsapparat zu integrieren.

Aus einer ganz hohen Warte betrachtet, hat die beliebige Verfügbarkeit der Söldner entwicklungsgeschichtlich eine große Bedeutung erlangt. Indem das Söldnerwesen die adligen Ritterheere des Mittelalters als dominierende Struktur ablöste, wurde das Kriegswesen zugleich von seiner Bindung an geburtsständische Rollen und Normen abgekoppelt. Die Reduktion kriegerischer Praxis auf militärische Effizienz, die sich in Gestalt des Söldnerwesens vollzog, bedeutete nichts anderes als eine Professionalisierung des Kriegswesens, das im Prinzip von jedermann ausgeübt werden konnte. Das ist ziemlich vereinfacht gedacht, insofern auch die Einschätzung der Effizienz wiederum von zeitgenössischen Wahrnehmungen abhing, die aus heutiger Sicht nicht immer sehr rational anmuten (es aber aus damaliger Sicht waren). Aber Drill, Disziplin, Dienstgrade, Befehlshierarchie, alle diese Ingredienzien modernen Heerwesens entfalteten sich als funktionale Optimierung von Söldnerverbänden.

Das Militär wurde auf diese Weise relativ früh zu einem autonomen Subsystem, das die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften antizipierte. Die Autonomie bedeutete unter den Bedingungen des vormodernen Fürstenstaates aber auch, dass die Armeen ein unkontrollierbares Instrument für die Eroberungswünsche der Fürsten darstellten. Die Entfremdung zwischen Söldnerheer und Bevölkerung geriet im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend in die bürgerliche Kritik.

Und dann ging alles ganz schnell. Die französische Revolution führte nicht nur zu einer militärischen Massenmobilisierung, sondern zu einer neuen ideellen Legitimation des Kriegsdienstes, die sich gerade vom Fürstendienst abhob. Aus der Revolutionierung des Staates und des Krieges erwuchs ihre Nationalisierung. Damit wurde das Heerwesen nicht nur in den Herrschaftsapparat, sondern auch in den Wertehaushalt der bürgerlichen Gesellschaft integriert. Die Heere blieben zwar Zankapfel zwischen monarchischer und parlamentarischer Kontrolle, aber ihr unwägbares Gewaltpotential wurde durch die Verpflichtung auf nationale Werte gesamtgesellschaftlich legitimiert.

Der Typus des Söldners wurde damit aber beinahe über Nacht zum gesellschaftlichen Außenseiter. Er wurde einhellig zum moralischen Mängelwesen gestempelt, um gute und böse Krieger unterscheiden zu können. Die Professionalität allein reicht nicht für diese Unterscheidung, denn die gab und gibt es auf beiden Seiten. Die Nationalisierung des Krieges führte überdies dazu, dass bis heute der Söldner meist ganz selbstverständlich als Ausländer betrachtet wird, also als Fremder dort, wo er seinen Militärdienst leistet, und umgekehrt als Verräter gegenüber seinem Heimatland. Für die vorrevolutionäre Ära wäre dieser Maßstab gegenstandslos gewesen, denn unter den Rekruten, die den Trommeln der Werbeoffiziere folgten, befanden sich in europäischen Heeren gleichermaßen Inländer wie Ausländer. Die einen als Söldner zu begreifen, die anderen aber nicht, hieße anachronistisch den nachrevolutionären Maßstab anzulegen. Bei genauerem Hinsehen stößt der Maßstab im übrigen auch bei modernen Söldnerverbänden auf Grauzonen.

Das Söldnerwesen wurde auf diese Weise marginalisiert. Aber es verschwand keineswegs. Die Ambivalenz, in die die Söldner der Moderne hineingestellt worden sind, wird am Beispiel der französischen Fremdenlegion besonders deutlich. 1831 zunächst aus politischen Flüchtlingen aufgestellt, behandelte sie die französische Regierung selbst mit Misstrauen und sorgte ganz konkret für ihre räumliche Marginalisierung, indem die Legion lange Zeit nur in nordafrikanischen Standorten stationiert wurden. Von dort aus ließen sich die Legionäre immer noch für die europäischen Staatenkriege einsetzen. Vor allem aber waren sie ein gefügiges Instrument, um weit jenseits der Grenzen Frankreichs koloniale Interessen zu verfechten, wofür sich nationales Militär nur mit großem legitimatorischen Aufwand hätte motivieren und mobilsieren lassen. Dieser Vorteil, der wiederum auf die beliebige Verfügbarkeit verweist, lässt sich auch auf andere Söldnerstrukturen des 19. und 20. Jahrhunderts übertragen.

Wie dominierend dennoch das nationalstaatliche Paradigma blieb, offenbart das paradoxe Motto der Legion: Legio patria nostra – die Legion ist unser Vaterland. Die Ambivalenz wird noch deutlicher, wenn die oben skizzierten Definitionen herangezogen werden. Denn nach den Maßstäben der UN wären die Fremdenlegionäre keine Söldner, schließlich ist die Legion eine staatliche Institution. Natürlich hatte die Staatengemeinschaft kein Interesse, sich dieses Instrument selbst zu verbieten. Sie zielte auf die Bekämpfung nichtstaatlicher Gewalt. Fragt man aber nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, so gelten die Legionäre allerdings als die Söldner schlechthin, gemessen gerade an dem subjektiven Maßstab, der nach den Motiven des Kriegers fragt.

Gemessen allerdings an den Entwicklungen der letzten 40 Jahre, mit der Ausbreitung von Söldnerpraktiken seit den 60er Jahren und ihrer rasanten Beschleunigung seit den 90er Jahren, stellt die Fremdenlegion in der Tat eine vergleichsweise reguläre und legitimationsfähige Formation dar. Es ist hier nicht der Raum, die diffuse Vielfalt der militärischen Strukturen zu erfassen, die sich seither ausgebildet haben. Zwei Hauptentwicklungen markieren die auseinanderstrebenden Pole einer immer breiter gefächerten Praxis. Das Ende des Kalten Krieges favorisiert offenbar die Zunahme regionaler Krisenherde, in denen die Erodierung staatlicher Strukturen die Entstehung von Gewaltmärkten ermöglicht, das heißt Zustände, unter denen lokale und regionale Kriegsherren unkontrollierte, dauerhafte Gewaltherrschaften aufbauen, gespeist von der Kontrolle über legale, aber vor allem illegale Warenströme und Ressourcengewinnung. Über ihre Ähnlichkeit mit den Kriegsunternehmern des 16. und 17. Jahrhunderts ist schon diskutiert worden, aber der noch viel höhere Grad an Autonomie und Territorialisierung solcher Gewalträume kennzeichnet auch substantielle Unterschiede.

Dem stehen international agierende Militärfirmen gegenüber, die sich aus ehemaligen Spezialisten staatlicher Militär- oder Sicherheitsapparate rekrutieren und eine breite Palette von Dienstleistungen der Sparte Gewalt anbieten. Die zunehmende Indienstnahme solcher Firmen auch durch westliche Regierungen folgt einerseits der Logik des Outsourcing, die komplexe Aufgaben in privater Hand effizienter ausgeführt sieht. Zugleich aber emanzipiert sich diese Praxis von der Legitimation staatlichen Gewaltmonopols und ermöglich damit, im Rahmen globaler Rivalitäten jenseits der Aufmerksamkeit demokratischer Öffentlichkeiten Interessen zu verfolgen und beispielsweise auch in den trüben Schattenwelten der regionalen Krisen zu agieren. Die in einigen Regionen zunehmende Relativierung staatlicher Gewalt durch Subversion und Globalisierung lässt erwarten, dass militärische Gewalt und staatliche Legitimierung allmählich wieder entkoppelt werden. Der Streit um die Begriffe, ob nämlich diese Strukturen als Söldnerwesen bezeichnet werden können, ist in der Fachdebatte längst entbrannt und verweist darauf, dass es sich auch um ein Ringen um Wahrnehmungen und Wertungen handeln wird.

Anmerkungen

Die Literatur über Söldner ist zahlreich, aber in aller Regel räumlich wie zeitlich nur begrenzt konzipiert. Weiterführende Hinweise finden sich in: Michael Sikora: Söldner – historische Annäherung an einen Kriegertypus, in: Geschichte und Gesellschaft, 29. Jahrgang 2003, Heft 2, S. 210-238.

PD Dr. Michael Sikora, Westfälische Wilhelms-Universität Münster., arbeitet zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Militärs, zur Kulturgeschichte des Adels und zur Genese politischer Partizipation in der Frühen Neuzeit

Das hehre Ideal des Erkennens und die harte politische Leidenschaft

Das hehre Ideal des Erkennens und die harte politische Leidenschaft

Zum 50. Todestag von Albert Einstein

von Fritz Stern

Als Historiker über einen Wissenschaftler wie Albert Einstein zu sprechen, ist immer auch eine etwas unheimliche Herausforderung. Gehört er nicht in diesem Gedenkjahr zuvörderst den Dienern im Tempel der Wissenschaft, um ein Wort Einsteins bei Max Plancks 60. Geburtstag aufzugreifen? Und doch darf man Einsteins Wirken im öffentlichen Leben, seine Empfindungen und Äußerungen als entfremdeter Deutscher und ungewisser Weltbürger als ein Lehrstück der Geschichte betrachten. Nur weiß ich leider und aus sicherster Quelle, wie Einstein selber über Wissenschaft und Geschichts-Studium dachte. Als achtzehnjähriger Student hatte ich das Glück, ihn zu treffen. Auf seine Frage, was ich denn studierte, gestand ich Unentschlossenheit, ob ich mit dem medizinischen Studium – das eine Art familiäre Erbschaft war – fortfahren oder meiner Leidenschaft folgen und zu Geschichte und Literatur umsiedeln sollte. Einsteins spontane Antwort: Das ist doch einfach, Medizin ist Wissenschaft, Geschichte ist es nicht – also Medizin.

Mitgestalter und Opfer

Ich bin seinem Rat nicht gefolgt, und so spreche ich heute als Historiker über Albert Einstein. Einstein hat Glanz und Elend deutscher Geschichte erlebt und erlitten. Zur Zeit Einsteins war Deutschland die Verheißung, später die Heimsuchung der Welt – das Land, das entscheidenden Einfluss auf die Weltpolitik hatte, und in dem für einen Augenblick, der ein Leben lang zu währen schien, das moralische Drama unserer Zeit stattfand. Albert Einstein war Mitgestalter und später Opfer dieses Dramas. Er war ein Mann voller Widersprüche in einem Land von Widersprüchen.

Als Fünfzehnjähriger entkam er der Wehrpflicht durch den Weggang aus Deutschland. Es ist ja auch schwer, sich Einstein im Feldgrau vorzustellen. In der Schweiz genoss er die liberale Atmosphäre und konnte die Sprache, die er sein ganzes Leben lang pflegte und wie wenige beherrschte, beibehalten. Er empfand eine Abneigung gegen das kaiserliche Deutschland mit seinem Prunk und seiner verunsicherten Arroganz. Die viel gepriesene Schneidigkeit lag ihm nicht. Zeit seines Lebens hatte er das größte Misstrauen gegen die Macht. Er passte nicht in die Welt von Kaiser Wilhelm, dieser Unglücksfigur deutscher Geschichte mit seinem Anspruch auf Gottesgnadentum. Als junger Mann war Einstein bereits überzeugt, dass „Autoritätsdusel der größte Feind der Wahrheit“ sei.

1913 lockten Max Planck und Walter Nernst Einstein mit einem einmaligen Angebot in das wilhelminische Berlin. In jenen Vorkriegsjahren war Berlin das Mekka der Wissenschaft in dem aufsteigenden Land Europas. Diese Zeit erscheint mir als die zweite deutsche Geniezeit – nach dem Aufblühen deutscher Kultur am Ende des 18. Jahrhunderts. Einstein sollte bezahltes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ohne Berufsverpflichtungen werden.

Und doch kam er im April 1914 mit einigem »Unbehagen« nach Berlin. Vielleicht kann man das damit erklären, dass manches bei Einstein an einen seiner Lieblingsdichter erinnert: Heinrich Heine. Ein deutscher Jude wie er, der sein Leben im Exil verbringen musste, wie Einstein später auch. Vor kurzem stieß ich auf eine Stelle bei Heine, die er 1854 kurz vor seinem Tode verfasste. Ich weiß nicht, ob Einstein sie kannte, glaube aber, er hätte sie als erquickende Bosheit empfunden: „Charakteristisch ist es, dass unsern deutschen Schelmen immer eine gewisse Sentimentalität anklebt. Sie sind keine kalten Verstandesspitzbuben, sondern Schufte von Gefühl. Sie haben Gemüth, sie nehmen den wärmsten Antheil am Schicksal derer, die sie bestohlen … Sogar unsere vornehmen Industrieritter sind nicht bloße Egoisten, die nur für sich stehlen, sondern sie wollen den schnöden Mammon erwerben, um Gutes zu thun. In den Freistunden, wo sie nicht von ihren Berufsgeschäften … in Anspruch genommen werden, beschützen sie Pianisten und Journalisten, und unter der buntgestickten, in allen Farben der Iris schillernden Weste trägt mancher auch ein Herz, und in dem Herzen den nagenden Bandwurm des Weltschmerzes.“

So brillant hart konnte auch Einstein sich ausdrücken. Kein Wunder, dass viele Deutsche beide Männer als großes Ärgernis empfanden. Einstein konnte ähnlich bitter über die Deutschen lästern: „Wenn diese Leute mit Franzosen und Engländern zusammen sind, welcher Unterschied! Wie roh und primitiv sind sie. Eitelkeit ohne echtes Selbstgefühl, Civilisation: schön geputzte Zähne, elegante Kravatte, geschniegelter Schnauz, tadelloser Anzug, aber keine persönliche Kultur.“ Einstein kam nach Berlin als Europäer. Er hatte kurz in Italien gelebt, sich in der Schweiz am wohlsten gefühlt, hatte in Prag gelehrt und Paris besucht, und seinen ersten wissenschaftlichen Auftritt erlebte er in Brüssel 1911. Er stolperte ins Weltbürgertum, ehe er es als politische Notwendigkeit erkannte. Vor dem ersten Weltkrieg spürte er wohl nur eine Bindung – zu den Juden, zu seinen »Stammesgenossen«, wie er sie bezeichnete. In Russland etwa wurden damals Juden verfolgt, und in Deutschland hatten es junge Juden aus Osteuropa niederträchtig schwer; Einstein hatte stets eine besondere Neigung zu sofortiger Sympathie für die ungerecht Zurückgesetzten.

Plötzlich ein globaler Held

Bei aller Kritik blieb Einstein sein Leben lang mit Deutschland tief verbunden – im Guten wie im Bösen. Allein die Sprache, die er mit konziser, eleganter Klarheit beherrschte, markierte tägliche Erinnerung. Das Böse, das er in Deutschland beobachtete und erfuhr, ließ ihn das Gute nie vergessen; noch im Exil, trotz allem Hass auf Hitlers Deutschland, erinnerte er sich an den einzigartigen Gewinn, den ihm die Berliner Zeit brachte, sprach in Amerika von „dem kleinen Kreis von Menschen, der früher harmonisch verbunden war … und in dieser menschlichen Sauberkeit kaum mehr von mir angetroffen worden ist.“

Kaum angekommen in Berlin, tief versunken in Arbeit und Familienjammer, der Politik eher fremd, erlebte Einstein den Ausbruch des Weltkriegs: für ihn eine unbegreifliche Tragödie. Er musste die deutsche Begeisterung vom August 1914 miterleben, zusehen, wie Freunde und Spitzen deutscher Wissenschaft sich zu dem Aufruf »An die Kulturwelt« bekannten, diesem Loblied auf deutsche Unschuld und auf die deutsche Synthese von Kultur und Macht. Dieses Aufbrausen nationaler Gefühle war für Einstein unfassbar: Krieg als Ende eines faulen Friedens, als gesegnete Opferbereitschaft für Gott und Volk, Sterben als Erlösung und Erhöhung.

Bereits 1914 stieß er zu einer kleinen Gruppe von Kriegsgegnern, die den »Bund Neues Vaterland« gründeten, in Hoffnung auf baldigen Frieden. Der Bund wurde zwei Jahre später verboten, 1922 wurde er neu gegründet als deutsche Liga für Menschenrechte. Einige der Begeisterten von 1914 erschraken über die Kriegsführung und wurden zu einer wichtigen Gruppe von Moderaten, die den Mut zur Selbstüberwindung hatten und für einen Vernunftfrieden plädierten. Max Planck gehörte zu diesen Menschen, wie auch Ernst Troeltsch, der noch während des Krieges Kontakt mit Einstein aufgenommen hat.

Einstein war voller Hoffnung, als das Kaiserreich zusammenbrach, und Deutschland, so glaubte er, von Machtreligion und Kadavergehorsam befreit war. Es war eine allzu kurze Zeit der Freude, bis er im eigenen Leben spürte, wie sehr das alte Deutschland sich an der neuen Republik rächen wollte. 1919 bestätigte eine englische Expedition bei Messungen während einer Sonnenfinsternis Einsteins Relativitätstheorie. Er empfand dies als eine »Gnade des Schicksals«. Aber die Folgen waren unvorhersehbar und nicht nur gnadenvoll. Er wurde unmittelbar und weltweit mit Ruhm umgeben, wurde zum globalen Held der Wissenschaft erkoren. Es war wohl kein Zufall, dass Einstein, ein Unbekannter von unbestimmter Nationalität, Zivilist und Kriegsgegner, gerade in diesem Moment zu einer Leitfigur der Menschheit erhoben wurde. Nach dem Weltkrieg waren die alten Helden, die Würdenträger in Staat und Kirche verbraucht und verunsichert. Er kam zur richtigen Zeit.

Mit dem Ruhm kamen Versuchung und Verantwortung. Er wurde Zielscheibe von entrüsteten Kollegen, von Physikern, von Angriffen mit klarem antisemitischen Unterton. Und er ließ sich vom Pöbel zur Polemik verführen. Aber Einstein empfand Ruhm als Verpflichtung, als Möglichkeit, Menschen für seine philosophisch-politische Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit, Frieden und Anstand zu gewinnen. Das erschien vielen als Ärgernis – auch viele seiner Freunde wünschten sich mehr Zurückhaltung. Der Krieg machte ihn zum Beschwörer des Friedens, schließlich zum militanten Pazifisten, wie er selbst sagte. Die Wissenschaft blieb Zentrum des Lebens, aber er wollte sich in den Dienst politisch-sittlicher Anliegen stellen. Sein Bekenntnis zum Weltbürgertum war eigene Erfahrung, zum Prinzip erhoben.

Einsteins viele Auslandsreisen dienten der Völkerversöhnung und wurden vom Auswärtigen Amt begrüßt. Er wurde der angesehenste Repräsentant deutscher Wissenschaft. Bemerkenswert ist, wie er in dieser Rolle auf allen Feldern vom Verlangen nach Wahrheit geleitet war; er war immer bereit zum Umdenken und zur Kritik gerade an Richtungen, die ihm am nächsten standen. Sein Einsatz für das Gedeihen einer jüdischen Heimat in Palästina etwa war eindeutig; er bemühte sich ganz besonders um die Errichtung der Hebräischen Universität in Jerusalem 1923, dessen oft unbequemer Schutzengel er blieb. Zugleich war aber seine Kritik in Briefen und gelegentlich in der Öffentlichkeit verblüffend hart.

1919 schrieb er an Paul Ehrenfest: „Am meisten freut mich die Realisierung des jüdischen Staates in Palästina. Es kommt mir vor, dass unsere Stammesgenossen doch sympathischer sind (zum mindestens weniger brutal) als diese scheußlichen Europäer.“ Sein Besuch in Jerusalem hat ihn tief bewegt. Aber schon in den späteren zwanziger Jahren warnte er Chaim Weizmann, seinen Freund, den Chemiker und Hauptvertreter des Zionismus, vor den Gefahren eines jüdischen Nationalismus; ohne Rücksichtnahme auf die Lebensinteressen der Araber, war er überzeugt, würde die zionistische Sache zerbrechen. Er fürchtete den „blödsinnigen Nationalismus und Rassenfimmel“, den man den anderen nachmacht „nach einer beispiellosen Schule des Leidens“. Der deutsche Mord an den Juden war für ihn der unfassbare Schluss dieser Schule des Leidens. Aber trotz aller Bedenken und kontinuierlicher Kritik hat er sich stets für den Staat Israel eingesetzt. Und nach Weizmanns Tod 1952 wurde er gebeten, das Amt des Präsidenten anzunehmen. Er blieb in Princeton, einsam und besorgt.

Die Nationalsozialisten hassten Einstein. Er war der Feind schlechthin: Jude, Pazifist, linker Streiter für Vernunft und Versöhnung. 1933 wurde er ausgebürgert, enteignet, seine Bücher wurden verbrannt. Schon Anfang der Zwanziger erkannte Einstein im Nationalsozialismus Hass und Gewalt, den Willen zu Krieg und Zerstörung. Er blieb sich treu und versuchte bereits im Frühling 1933, die Welt von den Gefahren Hitlers zu überzeugen. Dem opferte er sogar seinen Pazifismus und verlangte die Aufrüstung gegen Hitler. Gleichzeitig sah er mit Schrecken, wie die deutsche Geisteselite sich um Hitler scharte, ihn als Retter verherrlichte und das Ausstoßen jüdischer Kollegen befürwortete oder hinnahm. Wenige versuchten, die Ehre der Universitäten zu retten, zu einer Zeit, wo Protest gegen das Regime vielleicht noch hätte Wirkung haben können. Der Protest kam nicht, und das Schweigen ermutigte die Nazis zu immer größerer Radikalität.

Nicht versöhnt

Verletzend schrieb Einstein seinem Freund Fritz Haber, der als ehemaliger Frontsoldat im Amt hätte bleiben können und freiwillig und verzweifelt aus ihm ausschied, um nicht seine jüdischen Kollegen entlassen zu müssen: „Ich freue mich sehr, … dass Ihre frühere Liebe zur blonden Bestie ein bisschen abgekühlt ist … Hoffentlich gehen Sie nicht nach Deutschland zurück. Es ist doch kein Geschäft, für eine Intelligenzschicht zu arbeiten, die aus Männern besteht, die vor gemeinen Verbrechern auf dem Bauche liegen und sogar bis zu einem gewissen Grade mit diesen Verbrechern sympathisieren. Mich haben sie nicht enttäuschen können, denn ich hatte für sie niemals Achtung und Sympathie …“

Einstein konnte Deutschland nicht vergeben, diesem Land von »Massenmördern«. Er hat nur den Anfang der Bundesrepublik erlebt; er hat sämtliche ihm angebotenen Ehrungen abgelehnt, bis auf die Benennung eines Gymnasiums in Berlin nach seinem Namen. Es wäre vermessen zu spekulieren, ob er später zum Umdenken bereit gewesen wäre. Man darf aber vermuten, glaube ich, dass er den Mut zur Selbst-Befreiung in der DDR im Herbst 1989 begrüßt hätte: Leipzig am 9. Oktober, das hätte ihn beeindruckt.

Er starb am 18. April vor 50 Jahren in Princeton – mehr in Sorge als Hoffnung. Auch die Vereinigten Staaten sah er am Ende mit großem Misstrauen. Nach Hiroshima war er ein eindringlicher Mahner, dass Wissenschaftler ihre eigene große Verantwortung tragen müssten. Machtbesessenheit war ihm verhasst, sein Verlangen nach einer Weltregierung stieß auf taube Ohren, sein Wirken für eine vernünftige Nuklear-Politik hatte kaum Erfolg. McCarthys Amerika sah er mit deutschen Augen und unterschätzte die Gegenwehr im Lande.

Aber trotz aller Enttäuschungen hat Einstein sich menschlicher Größe nie verschlossen. In seinem Beitrag zur Gedenkfeier für Max Planck im Jahr 1947 heißt es: „Wem es vergönnt war, der Menschheit einen großen schöpferischen Gedanken zu schenken, der hat es nicht nötig, von der Nachwelt gepriesen zu werden. Denn ihm ward Höheres zuteil durch eine eigene That. Und doch ist es gut, ja sogar nötig, dass sich hier an diesem Tage Abgesandte der nach Wahrheit und Erkenntnis strebenden Forscher aus allen Teilen der Erde vereinigen. Sie legen Zeugnis dafür ab, dass auch in diesen Zeiten, in denen politische Leidenschaft und rohe Gewalt so große Sorgen und Leiden über die Menschen verhängen, das Ideal des Erkennens unvermindert hoch gehalten wird. Dies Ideal, das von jeher die Forschenden aller Nationen und Zeiten eng verbunden hat, war in Max Planck in seltener Vollkommenheit verkörpert.“ Es ist der Geist dieses Nachrufs, den wir im Gedenken an Albert Einstein zu bewahren haben.

Prof. em. Dr. h.c. mult. Fritz Stern, Historiker, Columbia University New York. Der Text ist eine gekürzte Fassung des Vortrags, den er am 6. März 2005 vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Berlin gehalten hat.

Keine Kenntnis von den Erkenntnissen

Keine Kenntnis von den Erkenntnissen

Zur Göttinger Erklärung gegen deutschen A-Waffenbesitz

von Corinna Hauswedell

Unter dem Titel »Keine Kenntnis von den Erkenntnissen« veröffentlichte Corinna Hauswedell zum 30. Jahrestag der Göttinger Erklärung in W&F eine Würdigung der »Göttinger 18«; jener Amtomwissenschaftler, die sich in einem Apell 1957 gegen die beabsichtigte atomare Bewaffnung der Bundeswehr wandten und versicherten, dass sie nicht bereit seien, sich „an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Der Autorin ging es damals nicht nur darum, die historischen Umstände in Erinnerung zu rufen, es ging ihr auch darum den Blick zu öffnen für Konstanten und Veränderungen im Engagement der WissenschaftlerInnen gegen die Atomkriegsgefahr – einschließlich deren Wirkungen auf die Politik. Wir erlauben uns einen Nachdruck dieses Artikels aus W&F 2-1987, auch deshalb, weil er einen Blick auf die Bewegung in den 80er Jahren wirft und wohl wissend, dass das Engagement der WissenschaftlerInnen sich seitdem weiter verändert hat – aber darauf beziehen sich andere Artikel in dieser W&F Ausgabe.

Wenn „… die Wissenschaftler sagten, ein kleines Land wie die Bundesrepublik schütze sich am besten durch einen ausdrücklichen Verzicht auf den Besitz atomarer Waffen, dann habe das mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nichts zu tun … man müsse aber Kenntnis von den Erkenntnissen haben, die diese Wissenschaftler nicht hätten, weil sie nicht zu ihm gekommen seien…“1 Diese erste heftige Reaktion Adenauers auf die »Göttinger Erklärung« enthüllte nicht nur die feudalistisch geprägte Denkungsart des Kanzlers, sondern auch in erschreckender Weise das Politikverständnis der Regierenden: Alle anderen sind inkompetent und unter Berufung auf Wissenschaftlichkeit wird die Wissenschaft von der Politik ausgeschlossen.

Dabei waren es gerade der bemerkenswert demonstrative Mangel an Sachkenntnis und die damit intendierte Verharmlosung in einer Presseerklärung Adenauers vom 5. April 1957 („Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie. ..“2) die die »Göttinger 18« schließlich zu ihrem öffentlichen Auftreten provoziert hatten. Vorausgegangen waren zwischen 1954 und 1956 Meldungen über die geplante atomare Ausrüstung der Bundeswehr mit US-Raketen und im November 1956 ein Brief der Atomwissenschaftler an Verteidigungsminister Strauß, „öffentlich zu erklären, dass die Bundesregierung Atomwaffen weder herzustellen noch zu lagern gedenke.“3 Die Antwort war unbefriedigend geblieben und Adenauers Presseerklärung musste nun aufs Äußerste beunruhigen. „…sie musste fast zwangsläufig der deutschen Bevölkerung ein völlig falsches Bild von der Wirkung der Atomwaffen vermitteln. Wir fühlten uns also verpflichtet zu handeln… Erstens musste die deutsche Bevölkerung über die Wirkung der Atomwaffen voll aufgeklärt, jeder Beschwichtigungs- oder Beschönigungsversuch musste verhindert werden. Zweitens musste eine veränderte Stellung der Bundesregierung zur Frage der atomaren Bewaffnung angestrebt werden. Daher durfte sich die Erklärung nur auf die Bundesrepublik beziehen.“4 So schilderte W. Heisenberg die Motive der »Göttinger«. „Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit…“, das war der Antrieb für die achtzehn Wissenschaftler, als »Nichtpolitiker« in die Politik einzugreifen. Sie nahmen dafür den Vorwurf der Inkompetenz in kauf, mussten sich, wie schon andere vor ihnen, des Vaterlandsverrats bezichtigen lassen. So argwöhnte Adenauer, sie hätten „es geradezu auf eine Schwächung der Bundesrepublik abgesehen.“5

C.F. von Weizsäcker erläuterte zwei Wochen, nachdem die Veröffentlichung zunächst Empörung und dann Beschwichtigungsversuche regierender Politiker ausgelöst hatte, die hinter der Erklärung stehenden Überlegungen:

  • „Erstens: Der Westen schützt seine eigene Freiheit und den Weltfrieden durch die atomare Rüstung auf die Dauer nicht; diese Rüstung zu vermeiden, ist in seinem eigenen Interesse ebenso wie in dem des Ostens.
  • Zweitens: Die Mittel der Diplomatie und des politischen Kalküls reichen offenbar nicht aus, dieser Wahrheit Geltung zu verschaffen; deshalb müssen auch wir Wissenschaftler reden und sollen die Völker selbst ihren Willen bekunden.
  • Drittens: Wer glaubwürdig zur atomaren Abrüstung raten soll, muss überzeugend dartun, dass er selbst die Atombombe nicht will.

Nur dieser dritte Satz bedarf noch eines weiteren Kommentars. In der Schrecksekunde nach der Veröffentlichung unserer Erklärung wurde uns von prominenter Seite vorgeworfen, wir hätten uns an die falsche Adresse gewandt; wir hätten einen Appell an unsere Kollegen in der ganzen Welt richten sollen. Diesen Vorwurf halte ich für ein Missverständnis. Dass die große Welt nicht auf Appelle abrüstet, haben wir erlebt. Wir hatten uns dorthin zu wenden, wo wir eine direkte bürgerliche Verantwortung haben, nämlich an unser eigenes Land…“6

Dass die »Göttinger« sich gegen das lähmende und diskriminierende geistige Klima des Kalten Krieges überhaupt zu ihrer Manifestation zusammenfanden, macht bereits ein Gutteil ihrer moralischen und politischen Bedeutung aus.

Die drei Punkte Weizsäckers verweisen auf die Substanz und das Anliegen der »Göttinger 18« und damit zugleich über den historisch-konkreten Anlass der »Göttinger Erklärung« hinaus. Sie enthalten bereits wesentliche Elemente dessen, was heute mit dem Begriff des »neuen Denkens« impliziert ist.

Auch Heisenberg entwickelte in der direkten Konfrontation mit Adenauers Vorwürfen (siehe oben) die Notwendigkeit, sich der neuen Herausforderung des Atomzeitalters zu stellen: „Wir seien überzeugt, dass jede atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu einer gefährlichen Schwächung der politischen Stellung der Bundesrepublik führen müsste, dass also gerade die Sicherheit, an der ihm mit Recht soviel gelegen sei, durch eine atomare Bewaffnung aufs Äußerste gefährdet wird. Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der sich die Fragen der Sicherheit ebenso radikal veränderten wie etwa beim Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit und man müsse sich in diese Veränderung erst gründlich hineindenken, bevor man leichtfertig den alten Denkmustern folgen dürfe.“7

Die Infragestellung der atomaren Abschreckung (und der damit verbundenen Rüstungsspirale), die Notwendigkeit des eigenständigen Handelns der Menschen (nicht nur der Politiker), die Bereitschaft »im eigenen Land« mit Abrüstung zu beginnen (einseitig und konkret), diese Schlussfolgerungen, die Weizsäcker bereits 1957 andeutete, sind politischer Natur. Möglich geworden sind sie allerdings aus der (natur-) wissenschaftlichen Kenntnis von dem Ausmaß der atomaren Gefahr.

Nach 30 Jahren fortgesetzter atomarerAufrüstung mehren sich die Anzeichen, dass dieser Zusammenhang – dass das Atomzeitalter eine wirkliche neue Politikkonzeption für die Friedenssicherung verlangt – auch zunehmend in die Politik Eingang findet.

Bei weitem nicht überall allerdings ist dies schon so. Das Antwortschreiben von VerteidigungsministerWörner an die lnitiatoren des Internationalen Naturwissenschaftlerkongresses in Hamburg im November 1986 »Wege aus dem Wettrüsten« ist noch vom alten Denken geprägt: „…Entscheidend ist dabei allerdings, dass den sicherheitspolitischen Zusammenhängen Rechnung getragen wird. Gestatten Sie mir festzustellen, dass in diesem Punkt die Stellungnahmen zu allen Bereichen möglicher und erforderlicher Abrüstung aus wissenschaftlicher Sicht eine Reihe schwerwiegender Mängel aufweisen…“8 Sicherheitspolitik und wissenschaftliche Sicht bleiben anscheinend unvereinbar für die Regierenden unserer Landes.

Die Veränderungen in den Reihen der »Nichtpolitiker«, 30 Jahre nach der»Göttinger Erklärung« gerade auch bei den Naturwissenschaftlern, geben allerdings Anlass zu mehr Zuversicht. Nach den »Göttingern« sind sehr viele hinzugekommen, die ihre Stimme erheben, die Mitarbeit an Rüstungsprojekten verweigern. Man organisiert sich in unterschiedlicher Weise; Kongresse zu einzelnen Waffensystemen sowie zu allgemeinen Rüstungsfragen sind eine übliche Form des fachlichen Meinungsaustausches wie der politischen Stellungnahme geworden. International ist die Zusammenarbeit – gemeinsam die zu lösenden Aufgaben.

Ein Anlass für diese neue Qualität und Qualifizierung im Friedensengagement der Wissenschaftler (wie vieler anderer Berufsgruppen) war die erneute Zuspitzung der atomaren Rüstungsdiskussion anlässlich der Stationierung der Mittelstreckenraketen 1983 in Europa.

Vergleicht man heute die Stellungnahme der Naturwissenschaftler, etwa die »Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums« (1984) mit der alten »Göttinger Erklärung« fällt das neue Selbstbewusstsein ins Auge. An die Stelle von Berufung auf »Nichtpolitiker« – Status und »Wissenschaft« tritt die explizite Zielstellung, „Öffentlichkeit und Politiker über die geplante Militarisierung des Weltraums und ihrer Konsequenzen sachlich zu informieren sowie konstruktive Beiträge zur Friedenssicherung zu leisten.“9

Die Verantwortung der Wissenschaft wird konkret wahrgenommen: Als »Dienstleistung« von Experten für die Friedensbewegung und die Öffentlichkeit und zunehmend als Initiatoren gegenüber der Politik. Während die »Göttinger« noch schrieben, „wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen“, liegen jetzt der Vertragsentwurf zur Weltraumrüstung sowie die »Hamburger Abrüstungsvorschläge« vor.

In dieser Entwicklung kommen tiefgreifende Prozesse zum Ausdruck: Die wachsende Bedeutung der Wissenschaft für alle gesellschaftlichen Bereiche, das sich in Richtung Selbsttätigkeit ändernde Politikbewusstsein vieler Menschen.

Die entsprechenden Rückwirkungen auf die Politik selbst stehen noch aus. Die Chancen allerdings sind größer geworden. An der »Kenntnis von den Erkenntnissen« mangelt es nicht!

Anmerkungen

1) Archiv der Gegenwart vom 12.4.1957.

2) Zit. nach Der Spiegel vom 17.4.57.

3) Otto Hahn: Mein Leben, München 1986, S. 231.

4) Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, München 1979, S. 265.

5) Zit. nach ebd.

6) Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen 1957. Zitiert aus dem Vortrag am 29.4.1957 in Bonn für die Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Studentenschaften, ebd.

7) W. Heisenberg, a.a.0.

8) Brief des Bundesministers der Verteidigung vom 19.12.86 an Prof. Dr. Peter Starlinger.

9) Aus »Göttinger Erklärung gegen die Militarisierung des Weltraums«, verabschiedet auf dem Kongress »Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor der Militarisierung des Weltraums« am 7./8. Juli 1984 in Göttingen.

Dr. Corinna Hauswedell ist (heute) für das Bonn International Center for Conversion (BICC) Mitherausgeberin des Friedensgutachtens. Sie ist Vorsitzende des Arbeitskreises Historische Friedensforschung und W&F Vorstandsmitglied

Der Sieg

Der Sieg

von Günter Giesenfeld

Die Redaktion von W& F bittet mich, einen Gastkommentar zu schreiben zum 30. Jahrestag „der Beendigung des Vietnamkrieges.“ Erst nach einem Moment stutze ich: wir nannten das damals „den Sieg“, und zwar „des vietnamesischen Volkes gegen die Aggression der USA“. Heutzutage mag das nostalgisch klingen, oder überholt – obwohl ich doch das Adjektiv »imperialistisch« schon gleich weggelassen habe. Trotzdem: Von welcher Perspektive es man auch immer betrachtet, und nach allen Kriterien der historischen Wissenschaften ist die Formulierung vom »Sieg« absolut korrekt!

Dazu ein kleines Notfall-Set an Erinnerungs-Essentials zur Geschichte dieses Krieges (besser: dieser Kriege): Es war zunächst ein Kolonialkrieg (nein: ein antikolonialistischer Befreiungskampf), der um 1860 begann, als Frankreich nach und nach ganz Indochina besetzte und zu einer Kolonie machte, das heißt: die absolute Macht übernahm, die Menschen und Ressourcen des Landes ausbeutete und jeglichen Widerstand gnadenlos niedermassakrierte (auch wieder so ein Wort, aber eben auch zutreffend). Der erste Sieg über diese Fremdherrschaft wurde 1945 errungen (Gründung des unabhängigen Staates DRV), aber die Kolonialmacht kehrte zurück und wurde trotz amerikanischer Unterstützung ein zweites Mal geschlagen (Dien Bien Phu 1954). Dann nahmen die USA die Sache selber in die Hand, besetzten unter Missachtung des internationalen Abkommens von Genf den Süden und versuchten, den Norden »in die Steinzeit zurück« zu bombardieren. 1975 mussten auch sie das Land verlassen, in dem sie nie etwas zu suchen gehabt hatten. In dieser Zeit war »Vietnam« längst zu einem Symbol geworden, an dem der kalte Krieg in einen lokalen heißen übergeführt wurde, probehalber sozusagen, um, wie es Eisenhower sah, „ein Exempel, zu statuieren.“ Der letzte Kolonialkrieg war schon längst übergegangen in einen jener »modernen« Kriege, die die USA zur Erringung und Wahrung ihrer Welt-Vormachtstellung bis heute führen.

Wie lange dauert es, bis ein Krieg im Gedächtnis der Nachwelt so eingeebnet wird, dass sich die üblichen Reflexionen erübrigen: wer ihn angefangen, wer ihn gewonnen und wer warum ihn verloren hat? Und nach einem Anstandsabstand verbietet es uns die politische Korrektheit auch, darüber nachzudenken, ob dieser oder jener Krieg »gerechtfertigt«, vielleicht, als aufgezwungener Verteidigungskampf, ein »guter« war, wo doch die Kriege allesamt so grausam sind! Die Artikel und Sendungen zu diesem Jahrestag werden wieder einmal die stereotypen Formulierungen verwenden, die von der historischen Forschung längst widerlegt sind: „Bürgerkrieg“, „Kommunismus“, „Vietnamtrauma“, und immer wieder die zynische Rede von einem Vietnam, das „den Krieg gewann und den Frieden verlor“. Sie stammen aus der damaligen Kriegspropaganda des Westens, die vor allem in den Spielfilmen zum Thema fortlebt, haben aber eine neue Funktion: Sie setzen jenen Prozess in Gang, mit dem Kriege, je mehr sie in der Vergangenheit versinken, zu kaum mehr genau erklärungsbedürftigen »Katastrophen« stilisiert werden, welche die Menschheit überfallen und die folglich »beendet« werden müssen.

Wo das Kriegserinnern, wie auch jetzt anlässlich des 60. Jahrestags des »Endes« des 2. Weltkriegs, immer offener »beider Seiten« zu gedenken versucht (alliierte Soldaten und Waffen-SS, Flüchtlinge in dieser und jener Richtung), wo in der Lokalpresse meiner Stadt vor allem hervorgehoben wird, sie habe sich den Amerikanern „ohne Widerstand“ ergeben und dies als ein Widerstandsakt gegen die Naziherrschaft erscheinen soll, da hat dieser Prozess bereits unser Gedächtnis kolonisiert in bezug auf Ereignisse, die hierzulande stattfanden. Was Wunder, dass dies noch viel besser funktioniert, wenn es sich um ein fernes kleines Land handelt, das zwar irgendwann eine gewisse Rolle auch in der Innenpolitik »Deutschlands« gespielt hat, heute jedoch eher zu den geistigen Kinderkrankheiten einer Generation (der 68er) gezählt wird, die jetzt schon in Rente ist.

Wie aber verhält es sich in Vietnam selbst? Dort betrifft das Erinnern nicht eine Niederlage, sondern einen Sieg, der die »Geburt einer Nation« vollendete. In Vietnam werden also große Feiern stattfinden, Paraden, Feste, Staatsakte, und es wird, trotz des Willens zur Eingliederung in die »neue globalisierte Welt«, vom »Sieg« die Rede sein, und in Veteranentreffen auch vom »Heldentum«, mit dem dieser ungleiche Kampf geführt und gewonnen wurde. Aber Fakt ist auch, dass ca. 80 % der Bevölkerung Vietnams keine persönlichen Erinnerungen mehr an diesen Krieg haben. Außerdem kann die Nachkriegszeit in Vietnam charakterisiert werden als eine Periode voller Enttäuschungen, in der den Menschen in diesem Land der Frieden und das Genießen der Früchte ihres Siegs vorenthalten wurde. Dies begann gleich nach 1975, als es den USA und dem Westen gelang, das Land komplett zu isolieren und in die Abhängigkeit von den sozialistischen Staaten zu treiben. Und das setzte sich fort in den Aggressionen der Roten Khmer und der Vertreibung der Völkermörder und die internationale Bestrafung dafür durch die Invasion chinesischer Truppen im Norden und die Unterstützung Chinas und des Westens für die Pol-Pot Banden. Eine Zeitlang konnte man den Enthusiasmus und die Opferbereitschaft des Volkes aus dem Befreiungskampf noch für den Aufbau einsetzen, aber der Boykott – und eigene Fehler – verhinderten, dass es in Vietnam ein Aufbau-Wunder gab, wie etwa in der BRD nach 1950.

Aus der Heldenrolle mit weltgeschichtlicher Bedeutung fiel Vietnam zurück in die Situation eines rückständigen Entwicklungslandes, das extrem schlimme Kriegsfolgen zu beseitigen hatte und in dieser Kriegszeit an derjenigen geschichtlichen Entwicklung gehindert wurde, die seine Nachbarstaaten nahmen. Dann brach das sozialistische System zusammen und die von dort fließende solidarische Hilfe blieb aus. Errungenschaften der »Revolution«, die auf dieser Hilfe beruhten (z.B. das kostenlose Gesundheits- und Erziehungssystem), mussten aufgegeben werden. Der Anschluss an den Westen und die Integration in ein globales kapitalistisches Wirtschaftssystem waren jetzt ohne Alternative. Die »Öffnungs-Politik«, 1986 initiiert, spülte zugleich westliches Konsum- und Konkurrenzdenken ins Land. Alte Traditionen und kulturelle Werte, die mit zum Sieg beigetragen hatten, wurden verdrängt, und neu entstehende, vor allem materielle Bedürfnisse konnten wegen des ausbleibenden Aufschwungs nicht befriedigt werden.

In den jüngeren Generationen entstand ein Lebensgefühl, in dem sich Anspruchsdenken und Rückzug in die individuelle Sphäre mischten. Bei manchen, vor allem jungen Schriftstellern, äußerte sich das in einer zuweilen zynischen Ablehnung der revolutionären Tradition, in der Weigerung, die heroische Vergangenheit als ihre eigene zu betrachten. Damit provozierten sie nicht nur den erbitterten Widerstand der Älteren, die plötzlich ihre Verdienste, ihre Opfer, die das Leben der meisten von ihnen so geprägt und erfüllt haben, dass es für sie danach keine Perspektive mehr gab, in Frage gestellt sahen. Diese »jungen Wilden« brachten darüber hinaus sogar die existentielle Frage in die öffentliche Diskussion ein, ob diese Krieg überhaupt sinnvoll war, die Opfer »etwas gebracht« haben, womit ein Tabu gebrochen wurde, das für das nationale Selbstverständnis der Vietnamesen von existentieller Bedeutung ist.

Diese Auseinandersetzungen, die wie ein Generationenkonflikt erscheinen, aber eher ein grundsätzlicher Disput über nationale Identität sind, zeigen sich einem fremden Besucher in Vietnam nicht unmittelbar im Alltagsleben. Und sie werden auch in den Reden zum Jubiläum nicht auftauchen. Die Oberfläche, die sich derzeit einem Besucher (in den Städten) bietet, ist geprägt von einem Umbruch, der sich vor allem ökonomisch zeigt: Kosum- und Warenwerbung, Freizeitindustrie, unpolitisches Karrieredenken. Regierung und Partei tun sich schwer, angesichts noch immer verbreiteter Armut, angesichts von Analphabetismus, von Mängeln in der Bildungs- und Gesundheitsversorgung oder im Kampf gegen AIDS an die Solidarität der Menschen zu appellieren. Aber das Schisma ist noch nicht so stark, dass es die soziale Einheit und Ordnung ernsthaft gefährden würde. Und vor allem ist es nicht so strukturiert, wie es eine westliche Presse naiv behauptet bzw. gerne sähe: Hier kann nicht die Rede sein von einer Opposition der Bevölkerung gegen das Regime, sondern die Bruchstellen sind in Partei und Regierungsapparat ebenso evident wie in bestimmten Gruppen, Klassen und Institutionen. Dazu kommt, dass die offizielle Rhetorik, der öffentliche Disput noch immer geprägt sind vom hohen Ideal der nationalen Einheit, das auf der einen Seite eine manchmal zweifelhafte Behandlung bestimmter Konflikte in den Minderheiten-Regionen oder im kulturellen Bereich legitimieren muss. Auf der anderen Seite ist dieses Ideal aber immer noch für die Mehrheit der Bevölkerung die Basis ihres Selbstverständnisses als Volk und als Nation, hat infolgedessen immer noch das Potenzial, den Sinn für soziale Harmonie, der in einer langen kulturellen Tradition wurzelt, zu erhalten.

Denn zu lange haben die Kriege in Vietnam gedauert, zu sehr waren sie durch den Kampf ums Überleben sowohl des Einzelnen als auch des Landes als identifikatorischer Bezugspunkt geprägt, als dass diese Erfahrungen, auch als überlieferte, so schnell ihre Wirkungskraft verlieren könnten. Die Anstrengungen des Staates, das oft beschämende Schicksal der Veteranen zu mildern, für die Opfer des Einsatzes von Giftstoffen (Dioxin) zu sorgen, auch die Privilegien, die aktive Kriegsteilnehmer (Kämpfer für die Befreiung!) genießen, all dies wird nicht in Frage gestellt, auch von denen nicht, die die heroisierende und alle Widersprüche und das elende Verkommen im Dreck vieler Soldaten und Zivilisten verdrängende Behandlung des Krieges in historischen und künstlerischen Darstellungen ablehnen.

Das Gedenken an diesen Krieg kann für uns nur darin bestehen, dass wir dafür sorgen, die nivellierende Verharmlosung zu verhindern, und das ist nur durch genaues Erinnern möglich, und nicht durch das Feiern eines abstrakten, übermenschlichen »Heldentums« (wie es in Vietnam lange Zeit geschah), nicht als Rehabilitation »soldatischer Tugenden«, wie es bei uns geschah und geschieht. Das Gedenken an diesen Krieg, an Kriege überhaupt, muss stets ein entmystifizierendes sein, verbunden mit der Neugier auf die geschichtlichen Fakten, von denen mit dem zeitlichen Abstand immer mehr sich der Erkenntnis und dem Lernen aus der Geschichte darbieten, einem Lernen, das Stellung bezieht und einen Sieg der »richtigen Sache« auch nach 30 Jahren noch als einen solchen anerkennt.

Günter Giesenfeld, Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Vietnam, Autor von Büchern und Artikeln zu Indochina. Professor für Neuere deutsche Literatur und Medien an der Philipps-Universität Marburg, Lehre und Forschungsprojekte zu den Massenmedien, Filmhistoriker und Filmemacher. Seit einem Jahr Pensionär.

Kommunikation als Deeskalationsstrategie

Sozialliberale Ostpolitik:

Kommunikation als Deeskalationsstrategie

von Gottfried Niedhart

Die Themen und Schwerpunkte der friedenswissenschaftlichen Forschung, die unter der normativen Vorgabe von Gewaltreduktion und Friedenswahrung steht, entstammen zumeist den Konflikten der Gegenwart. Bei der Suche nach Konfliktlösungen sehen sich sozialwissenschaftlich orientierte und zugleich empirisch arbeitende Friedensforscher zu Fallstudien gezwungen, die der Vergangenheit entstammen.1 Parallel dazu interessieren sich Historiker mit ihren zeitlich und räumlich begrenzteren Fragestellungen für Hypothesen- und Theoriebildungen der sozialwissenschaftlichen Nachbarwissenschaften.2 Insgesamt gesehen wird man eher von Koexistenz als von Interdisziplinarität sprechen müssen. Im Folgenden handelt es sich um die Beschreibung eines historischen Einzelfalls, der als Beispiel für einen gelungenen Konfliktabbau in den internationalen Beziehungen gilt.

Der Ost-West-Konflikt trat im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren in eine Phase, die mit den Begriffen Entspannung oder Détente bezeichnet wird und die den weiteren Verlauf des die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschenden Weltkonflikts entscheidend veränderte.3 Unterhalb der Ebene der Supermächte – aber von Bedeutung auch für die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen – spielte die Bundesrepublik Deutschland dabei eine zentrale Rolle. Ihre »neue« Ostpolitik führte zu einer Normalisierung ihrer Beziehungen mit der Sowjetunion und den übrigen Staaten des Warschauer Pakts.4 Als „vielfach vernetzte Ausgleichsmacht“5 hatte die Bundesrepublik einen bedeutsamen Anteil an der Deeskalation des Ost-West-Konflikts.

Im Unterschied zu Asien blieb der Ost-West-Konflikt in Europa unterhalb der Schwelle zum Krieg. Zugleich wurde er von den Zeitgenossen zunächst keineswegs als Konflikt verstanden, wie man ihn aus der Geschichte der internationalen Politik als Interessenkonflikt herkömmlicher Art kannte. Schon den Autoren des Schlüsseldokuments NSC-68, das für die Einstellung der USA gegenüber der Sowjetunion im Frühjahr 1950 richtungweisende Bedeutung hatte, stand vor Augen, der amerikanischen Öffentlichkeit verdeutlichen zu müssen, dass der Kalte Krieg ein »wirklicher Krieg« war, in dem das Überleben der freien Welt auf dem Spiel stand.6 In der Bundesrepublik, die ein Produkt des Kalten Kriegs war, überwog in den 1950er Jahren eine ähnliche Sichtweise. Bundeskanzler Adenauer nahm zwar nicht an, die Sowjetunion suche ein kriegerisches Abenteuer. Ihre Politik folge allerdings „Welteroberungsplänen“ und sie wolle Westdeutschland „im Wege des Kalten Krieges“ vereinnahmen. Eine Lösung des Konflikts war für Adenauer nur als Ergebnis westlicher Überlegenheit denkbar: „Erst muss der Westen einschließlich der USA so stark sein, dass die Russen Angst haben. Dann erst kann man mit den Russen verhandeln.“7

Nachdem sich der Kalte Krieg mit den Krisen um Berlin und Kuba zwischen 1958 und 1962 gefährlich zugespitzt hatte, wurden Vorstellungen entwickelt, wie man zu einer Einhegung des Konflikts, vielleicht sogar zu seiner Entschärfung kommen könnte. Ohne den Ost-West-Konflikt beenden zu können, gelang es doch, ihn in eine Phase der Entspannung zu überführen, in der an die Stelle der Konfrontation das Bemühen um antagonistische Kooperation8 trat. Die Bundesrepublik spielte dabei zunächst die Rolle eines Nachzüglers, weil sie aufgrund deutschlandpolitischer Orthodoxien nur schwer aus den Konfliktmustern des Kalten Kriegs herausfinden konnte. Mit der neuen Ostpolitik, die schrittweise mit der Regierung der Großen Koalition 1966/67 einsetzte, um mit der sozialliberalen Regierung 1969/70 den Durchbruch zu erzielen, gelangte die Bundesrepublik in eine Schlüsselposition und nahm eine entspannungspolitische Pionierrolle ein.9 Sie stand dabei im Schatten von zwei Kriegen: dem Zweiten Weltkrieg, der in Europa von Deutschland ausgegangen war und gut zwanzig Jahre nach seinem Ende im kollektiven Gedächtnis der Europäer noch überaus präsent war; und dem Kalten Krieg, der sich auf Deutschland und Europa gelegt hatte und das Land wie den Kontinent teilte. In dieser Lage hatte die Ostpolitik eine doppelte Funktion. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg war sie Versöhnungspolitik, im Hinblick auf den Kalten Krieg verstand sie sich als Deeskalationspolitik. Darüber hinaus aber versuchte die Bundesrepublik die Entspannungspolitik zu nutzen, um aus dem Schatten der Kriege herauszutreten und auf die Überwindung der aus beiden Kriegen resultierenden Teilung Europas hinzuwirken.

Beschreibt man den Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren als Durchbruch zur Deeskalation des Ost-West-Konflikts, so ist gleichzeitig generell daran zu erinnern, dass jede Deeskalation nicht bereits die Lösung des Konflikts bereithält. Tatsächlich blieben 1969/70 die Konfliktfelder (Rüstungspolitik, Politik in der Dritten Welt, Menschenrechtspolitik) allesamt erhalten. Wie sich herausstellen sollte, war die Ost-West-Entspannung alles andere als ein linearer Prozess. In den unvermeidlichen Rückschlägen lag ein reales, vor allem aber psychologisch wirksames Gefahrenpotential, das die Gefahr des Rückgriffs auf älteres Konfliktverhalten heraufbeschwor. Dass es auch in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, die vielfach als zweiter Kalter Krieg bezeichnet werden, nicht zu einem Rückfall in den Kalten Krieg der 1950er Jahre kam, ist auf die Formen der Annäherung und des Kompromisses zurückzuführen, die in der Phase der Détente praktiziert worden sind.10

Auch die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesregierung war nicht frei von Ambivalenzen. Denn die Bundesrepublik hielt als revisionistischer Staat, der sie bis 1990 war, daran fest, dass die Teilung Deutschlands und Europas überwunden werden sollte – und zwar unter westlichen Vorzeichen. Zugleich aber änderten sich die Wahrnehmung der Sowjetunion und die Einstellung zu ihr grundlegend, so dass neue Formen des Umgangs miteinander entwickelt werden konnten. Der Ostpolitik lag ein Stufenkonzept zugrunde. Primär und kurzfristig ging es auf der Grundlage des Status quo und des Gleichgewichts um vertraglich abgesicherte Kooperation, die den Ost-West-Konflikt deeskalieren sollte und an die Stelle des Kalten Kriegs die Konfliktform der Détente treten ließ.11 Der Zustand der Détente blieb ein Konfliktzustand, weil der Status quo zwar respektiert, jedoch nicht legalisiert werden sollte. Längerfristig ging es nicht um die Deeskalation des Ost-West-Konflikts, sondern um seine Auflösung. Präziser als Egon Bahr in seiner Rolle als Vordenker der Ostpolitik es tat, konnte es nicht formuliert werden: „Das Hauptziel der sowjetischen Europapolitik ist die Legalisierung des Status quo. Das Hauptziel unserer Politik ist die Überwindung des Status quo. Es handelt sich hier um einen echten Gegensatz der Interessen.“12

Bevor im Folgenden näher auf den verständigungspolitischen Ansatz der Ostpolitik als Beitrag zur Deeskalation des Ost-West-Konflikts eingegangen wird, ist nachdrücklich zu betonen, dass diese friedenspolitisch fraglos höchst bedeutsame Seite der Ostpolitik nicht isoliert betrachtet werden darf. Sie stellte den deutschen Beitrag zu einem Gesprächsfaden dar, der auch von der Sowjetunion entwickelt wurde, verstand sich aber als Schritt in einem dialektisch angelegten Prozess, den Bahr als Pressesprecher des West-Berliner Senats in der bekannten Tutzinger Rede schon 1963 in die Formel »Wandel durch Annäherung« gegossen hat. Die „Überwindung des Status quo“ war demnach daran gekoppelt, dass „der Status quo zunächst nicht verändert werden soll.“ Auch Willy Brandt als Berliner Regierender Bürgermeister sprach 1963 in Tutzing. Sein Text war zurückhaltender, wenn auch in der Sache nicht weniger deutlich. In Abgrenzung zur bisherigen Deutschlandpolitik, die mit dem Bau der Berliner Mauer definitiv gescheitert war, plädierte er für „Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“. Ungewöhnlich offen fügte er hinzu, worin das strategische Ziel bestehen sollte, nämlich in der „Transformation der anderen Seite.“13 Kontakte zum Osten, die deutscherseits die Hinnahme von durchaus schmerzhaften Nachkriegsrealitäten voraussetzten, waren das zureichende Minimum,14 um die als Bedrohung wahrgenommenen Fronten auflockern zu können. Um sie überwinden zu können, bedurfte es eines Wandels in den Ländern des Warschauer Pakts. Er war nur als gradueller und friedlicher Wandel vorstellbar. Aus östlicher Sicht und nicht zuletzt in den Augen der DDR-Führung handelte es sich gleichwohl um eine »Aggression«, wenn auch eine „auf Filzlatschen.“15

Das Interesse der Länder Osteuropas an Verträgen über die territoriale Ordnung in Europa, an wirtschaftlicher Kooperation und Technologietransfer war stärker als die Befürchtungen, die gegenüber dem »Sozialdemokratismus« gehegt wurden.16 Dem entsprach in Bonn der Wunsch, die deutsch-deutsche Grenze durchlässiger zu machen und die Lage in und um Berlin zu verbessern. Diese Interessenkonstellation bot gute Rahmenbedingungen, damit sich die Politik der Ost-West-Kommunikation entfalten konnte.17 Dass auch die Sowjetunion „ihrer eigenen Interessen wegen nicht nur Konfrontation, sondern auch Kommunikation“ wünschte, gehörte zu den Kernüberzeugungen, von denen die Ostpolitik ausging.18 Kommunikation war ein Schlüsselbegriff, der in den Politikanalysen Brandts immer wieder auftauchte. Der Bau der Berliner Mauer war für Brandt ein untrügliches Zeichen, dass neue Ansätze entwickelt werden mussten, um „die Erstarrung der Fronten zwischen Ost und West“ aufbrechen zu können. An die Stelle der Festungsmentalität auf beiden Seiten wollte er seit 1962/63 den „Austausch“ zwischen Ost und West setzen, nach „gemeinsamen Projekten“ suchen, „so viele sinnvolle Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“ herstellen, „wie jeweils erreichbar sind“: „Wir brauchen soviel reale Berührungspunkte und soviel sinnvolle Kommunikationen wie möglich.“19

Von der Programmatik zur operativen Politik war es – wie stets – ein beschwerlicher Weg. Nur ein langer Atem konnte helfen, die im Kalten Krieg verfestigten Einstellungsmuster zu verändern und an ihre Stelle »kommunikative Methoden« zu setzen.20 Dazu gehörte die Signalisierung von Verständigungs- und Versöhnungsbereitschaft durch Erklärungen und Gesten. Die eigene Bereitschaft zur Kommunikation erfolgte in der Erwartung, sie werde entsprechende Reaktionen des Gegenübers auslösen. Solche Erklärungen setzten auf Seiten der Bundesrepublik schon mit den geheim gebliebenen Fühlungnahmen Adenauers in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft ein, als er auf der Basis des Status quo mit der Sowjetunion ins Gespräch kommen wollte. Die Friedensnote der Regierung Erhard und die Aussetzung der Hallstein-Doktrin für die Staaten des Warschauer Pakts durch die Regierung der Großen Koalition waren weitere einseitige Bekundungen, die Sprachlosigkeit des Kalten Kriegs überwinden zu wollen.

Die Kanzlerschaft Brandts zeichnete sich durch eine konsequente und wirkungsvolle Fortsetzung dieser Schritte aus. Die Anerkennung der DDR als Staat, die gut vorbereitete Aufnahme von Verhandlungen mit der Sowjetunion und Polen waren kommunikative Akte neuer Qualität. Brandts Kniefall schließlich am Mahnmahl des Warschauer Ghettos war ein wortloses, als Ausdruck der Körpersprache aber umso wirksameres Signal, „am Abgrund der deutschen Geschichte“21 neue Formen der Kommunikation entwickeln zu wollen. Solchen öffentlichen Bekundungen von Kommunikationsbereitschaft war seit Anfang 1969, als der durch die sowjetische Okkupation der Tschechoslowakei ausgelöste Schock langsam in den Hintergrund rückte, eine dichte Folge von Kontakten auf der diplomatischen Ebene vorausgegangen, bei denen Möglichkeiten einer deutsch-sowjetischen Annäherung ausgelotet wurden. Die Zeit, „in der das direkte Gespräch mit der sowjetischen Führungsetage nicht existierte,“22 war zu Ende gegangen. Im Dezember 1969 wurde eine neue Etappe erreicht, als die Verhandlungen über einen Gewaltverzicht in Moskau begannen und zudem eine direkte Nachrichtenverbindung zwischen dem Kreml und dem Kanzleramt eingerichtet wurde. Wie der kurz zuvor zwischen Washington und Bonn verabredete »back channel« eröffnete sie „die Chance, neben den förmlichen Gesprächen einen informellen Kontakt zu entwickeln.“23

Was die kommunikative Infrastruktur betraf, so hatte sich die Lage seit den frühen 1960er Jahren deutlich verbessert. Persönliche Begegnungen häuften sich und über den »Kanal« konnten Nachfragen und ergänzende Informationen weitergegeben werden. Blieb die Frage, ob sich dialogische Situationen in ausreichender Zahl und von angemessener Länge institutionalisieren ließen und in der Folge Kommunikation zu einer dauerhaften Erfahrung werden konnte. Würde sich Brandts Hoffnung erfüllen, die er als Außenminister in der Großen Koalition im August 1967 geäußert hatte? Er wollte „den Dialog intensivieren“ und „damit mehr als nur eine Unterbrechung in dem Duell zwischen Ost und West erreichen.“24

Das sichtbarste Zeichen für verbesserte Kommunikation waren vertragliche Vereinbarungen, die die Phase der Entspannung deutlich und – wie sich zeigen sollte – unumkehrbar von der Phase des Kalten Kriegs unterschieden sein ließ. Sie erstreckten sich zunächst auf die Bereiche Wirtschaft und Politik, bald aber auch auf den humanitären und kulturellen Sektor. Die Grunderfahrung bestand darin dass kommunikative Signale erwidert wurden. Auch stieg die Fähigkeit zur vorurteilsfreieren Bewertung von Informationen der jeweils anderen Seite. Schon vor den Bundestagswahlen 1969 war eine SPD-Delegation unter Leitung von Helmut Schmidt aus Moskau mit dem Eindruck zurückgekommen, es werde dort an einem „glaubwürdig“ erscheinenden Gesprächsfaden gesponnen und es gebe Anzeichen für die Bereitschaft zur „Institutionalisierung von Austausch und Zusammenarbeit.“25 Im Oktober 1973 ging Schmidt, der sich durchaus als Skeptiker gegenüber zu hoch gesteckten Erwartungen über die Wirkung der Entspannungspolitik verstand, so weit, von einer Entschärfung der Blockkonfrontation zu sprechen. Die „traditionellen Kategorien Ost und West“ hätten „an Bedeutung verloren.“26

Schmidt hatte natürlich nicht vergessen, dass der Antagonismus des Ost-West-Konflikts andauerte. Was sich aber verändert hatte, waren Art und Umfang der Kontakte. Man konnte „Erfahrungen“ sammeln, so Egon Bahr schon im Herbst 1970, „wie man miteinander reden kann. Was die Intensität, die Offenheit und die Ernsthaftigkeit angeht, war dies erstmalig seit dem Ende des Krieges.“27 Bahr sagte nicht: Seit dem Ende des Kalten Kriegs. Doch handelte es sich auch darum. Die Kontrahenten waren jetzt zunehmend in der Lage, auf Bedrohungsperzeptionen und Feindbilder alter Prägung zu verzichten und sich über wechselseitige Wahrnehmungen – auch und gerade, wenn sie differierten – zu verständigen. Dadurch war es möglich, Fehlwahrnehmungen zu reduzieren. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser gänzlich neuen Dialogerfahrung stellte die Begegnung Brandts mit Breschnew in dessen Sommerresidenz in Oreanda auf der Krim im September 1971 dar. Auf sowjetische Einladung wurde ohne starre Tagesordnung über die internationale Lage insgesamt und den Stand der Ost-West-Beziehungen im besonderen gesprochen – ein präzedenzloser Vorgang, der in der Bundesrepublik und im westlichen Bündnis für enormes Aufsehen sorgte. Brandt nutzte die Gesprächschance selbstbewusst, aber er ließ keine Illusionen aufkommen. „Schwierige Themen“ seien „erst andiskutiert“ worden. Das „eigentlich Neue“ bestand für Brandt in der Art des Umgangs miteinander. Beide Seiten wüssten jetzt genauer, wo es „Übereinstimmungen, Annäherungen, Unterschiede“ gebe.28

Pointiert formuliert, handelte es sich um die Verwestlichung der Kommunikation in den Ost-West-Beziehungen. Sei es auf der Yacht des Präsidenten in Washington, wo die Unterredungen zwischen Kissinger und dem sowjetischen Botschafter Dobrynin gelegentlich stattfanden, sei es ein Motorboot, mit dem Breschnew und Brandt einen Ausflug auf das Schwarze Meer hinaus machten – auch die Orte ließen erkennen, dass sich die Ost-West-Gespräche vom Verhandlungsduell zum offener werdenden Dialog entwickelt hatten.

Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass sich wenn auch nicht mehr Feinde, so doch Gegner gegenübersaßen. Aber genau darin – im Wandel vom Feind zum Gegner – bestand der Fortschritt, den die Détente gegenüber dem Kalten Krieg darstellte. Entspannungspolitik und Gegnerschaft waren miteinander verschränkt. „Auch in der Phase der Entspannung,“ so wurde dem sowjetischen Botschafter in Bonn Ende Oktober 1970 bedeutet, blieben „Kommunisten Kommunisten“ und „Sozialdemokraten Sozialdemokraten.“29

Anmerkungen

1) Ein Beispiel ist die in letzter Zeit zu beobachtende Flut von Arbeiten zur Theorie des Demokratischen Friedens. Siehe z. B. Elman, Miriam F. (ed.): Paths to Peace: Is Democracy the Answer? Cambridge, Mass. 1997; Huth, Paul K./Allee, Todd L.: The Democratic Peace and Territorial Conflict in the 20th Century, Cambridge 2002; Lipson, Charles: Reliable Partners. How Democracies Have Made a Separate Peace, Princeton/Oxford 2003; Rasmussen, Mikkel V.: The West, Civil Society and the Construction of Peace, Houndmills/New York 2003.

2) Siehe etwa Ziemann, Benjamin (Hg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002; Wegner, Bernd (Hg.): Wie Kriege entstehen, Paderborn 2000; ders. (Hg.): Wie Kriege enden, Paderborn 2002.

3) Als Überblick Loth, Wilfried: Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung, München 1998.

4) Allgemein dazu Bender, Peter: Die »Neue Ostpolitik« und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung, München 1995.

5) Hanrieder, Wolfram F.: Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, Paderborn 1995, S. 448.

6) Im Schlussabsatz heißt es: „[…] the Cold War is in fact a real war in which the survival of the free world is at stake.“ Foreign Relations of the United States 1950, Bd. 1, S. 292.

7) Belege bei Niedhart, Gottfried/Altmann, Normen: Zwischen Beurteilung und Verurteilung: Die Sowjetunion im Urteil Konrad Adenauers. In: Foschepoth, Josef (Hg.): Adenauer und die Deutsche Frage, Göttingen 1988, S. 104, 107, 109.

8) Zum Begriff siehe Link, Werner: Der Ost-West-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Stuttgart 1988.

9) Zum neuesten Stand der Diskussion siehe Schönhoven, Klaus: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969, Bonn 2004; Niedhart, Gottfried/Bange, Oliver: Die »Relikte der Nachkriegszeit« beseitigen. Ostpolitik in der zweiten außenpolitischen Formationsphase der Bundesrepublik Deutschland im Übergang von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 415-448.

10) Hanhimäki, Jussi M.: Ironies and Turning Points: Détente in Perspective. In: Westad, Odd Arne (ed.): Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London 2000, S. 326-342.

11) Für die Ebene der Supermächte, deren Vorgaben den Rahmen auch für die Ostpolitik vorgaben, vgl. Garthoff, Raymond: Détente and Confrontation. American-Soviet Relations from Nixon to Reagan, 2. Aufl. Washington 1994.

12) Aufzeichnung Bahrs als Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt vom 18.9.1969. Akten zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1969, S. 1040.

13) Die Reden Brandts und Bahrs in der Evangelischen Akademie Tutzing am 15.7.1963 finden sich in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe, Bd. 9, S. 565ff. und 572ff.

14) In Anlehnung an Czempiel, Ernst-Otto: Das zureichende Minimum: der negative Friede. In: Jens, Walter/Matthiessen, Gunnar (Hg.): Plädoyers für die Humanität. Zum Gedenken an Eugen Kogon, München 1988, S. 173-176.

15) Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 157, 159; Uschner, Manfred: Egon Bahr und seine Wirkung auf uns. In: Lutz, Dieter S. (Hg.): Das Undenkbare denken. Festschrift für Egon Bahr, Baden-Baden 1992, S. 129.

16) Dazu u.a. Bahr, Zeit, S. 547ff.

17) Birnbaum, Karl E.: The Politics of East-West Communication in Europe, Farnborough 1979.

18) Willy Brandt in einem im Februar 1969 veröffentlichten Artikel. Zit. bei Schönhoven, Wendejahre, S. 408.

19) Brandt unter Rückgriff auf eine Rede, die er im Oktober 1962 an der Harvard Universität gehalten hatte, am 15.7.1963 in Tutzing. Wie oben Anm. 13, S. 567.

20) Haftendorn, Helga: Versuch einer Theorie der Entspannung. In: Sicherheitspolitik heute II/1975, S. 232.

21) Brandt, Willy: Erinnerungen, Frankfurt 1989, S. 214

22) Bahr, Zeit, S. 251.

23) Bahr, Zeit, S. 283. Vgl. auch Keworkow, Wjatscheslaw: Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Berlin 1995.

24) Zit. bei Schönhoven, Wendejahre, S. 382.

25) So Helmut Schmidt Ende August 1969 während einer Parteiratssitzung der SPD. Zit. bei Niedhart, Gottfried: Revisionistische Elemente und die Initiierung friedlichen Wandels in der neuen Ostpolitik 1967-1974. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 249.

26) Ebd. S. 263.

27) Ebd. S. 255.

28) Ebd. S. 256.

29) Ebd. S. 257.

Prof. Dr. Gottfried Niedhart lehrt am Historischen Institut der Universität Mannheim