Geist gegen Gewalt

Geist gegen Gewalt

Der Antimilitarist Heinrich Mann

von Karlheinz Lipp

Vielen ist der Autor Heinrich Mann durch seinen berühmten Roman »Der Untertan« bekannt. Doch sein antimilitaristisches, sein kriegskritisches und sein versöhnendes Wirken reichte weiter als nur in die Literatur. Mann war aufrechter Kritiker der Kriegstüchtigkeit und politisch lauter Beobachter seiner Zeit, er war Konferenzorganisator und stellte seinen ganzen Geist gegen die Gewalt. Dieser Beitrag zeichnet sein Wirken nach.

Heinrich Mann zeigte sich bereits im Kaiserreich als Antimilitarist, so etwa in seinem treffsicheren Roman »Der Untertan«, der nur noch teilweise vor 1914 erscheinen konnte. Die Zensur der kaiserlichen Kriegspropaganda verhinderte eine weitere Veröffentlichung, so dass der Roman vollständig erst nach Kriegsende erscheinen konnte. Diederich Heßling, die männliche Hauptfigur, ist Mitglied des Kriegervereins (vgl. Rohkrämer 1990, Dülffer und Holl 1986) und unterstützt damit die soziale Militarisierung der wilhelminischen Gesellschaft – ein kriegstüchtiger Untertan einer kriegstüchtigen Nation auf dem katastrophalen Weg in den Krieg. Heinrich Mann vertrat dagegen eine kriegskritische und friedensfähige Position. Er zählte zu den wenigen Personen des literarischen Spektrums, die von Beginn an den Ersten Weltkrieg strikt ablehnten.

Erster Weltkrieg

Im November 1915 veröffentlichte Mann seinen langen und positiven Essay »Zola«: Mitten im Ersten Weltkrieg würdigt ein deutscher Autor einen engagierten, demokratischen Schriftsteller aus dem Land des angeblichen »Erzfeindes« Frankreich. Der Artikel erschien in der Zeitschrift »Die Weißen Blätter« des elsässischen Pazifisten René Schickele (vgl. Noe 1986, Lipp 2021). In »Zola« zeigt sich Manns leicht versteckte Kritik an der nationalistisch-militaristischen Regierung und den Befürwortern dieses Systems – einschließlich seines jüngeren Bruders Thomas, der diese Position mit seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« (1918) vertrat.1

Manns Notizbücher der Jahre 1916 bis 1918, oft basierend auf Berichten aus deutschen und französischen Presseorganen, zeigen die ablehnende Haltung des Autors zum Krieg sowie die Kritik an der kaiserlichen Regierung und den Lügen der Kriegspropaganda. Bernhard Veitenheimer, der diese Quelle auswertete, bemerkt: „Die Eintragungen in den vier Notizbüchern unterscheiden sich in Form und Gehalt voneinander. Viele im ersten, zweiten und vierten Notizbuch erscheinen wie ideen- und mentalitätsgeschichtliche Bausteine zu einer resümierenden Anklageschrift, einer historischen Psychologie des deutschen Irrtums. Sie sind eine Abrechnung mit der Kriegspolitik und den herrschenden Ideologien im Deutschen Reich und mit der Klasse, die sie zu verantworten hat, dem Bürgertum. Sie sind eine Abrechnung mit dem Kaiserreich insgesamt, in immer gewisser werdender Erwartung seines Endes, und sie sind auch ein Appell für eine europäische Demokratie, die allein nur Frieden ermöglicht. […] Der Vorwurf der Lügenhaftigkeit zieht sich wie ein Leitmotiv durch die ersten beiden Notizbücher und betrifft nicht nur die offiziellen deutschen Kundgebungen im Krieg, sondern auch seine Vorgeschichte und schließlich die ganze Epoche: ‚Die Grundlüge‘ – ‚Die Lüge der Macht‘ – ‚Die Lüge des Burgfriedens‘ – ‚Die Lügenpriester‘ – ‚Das grosse Lügenmaul‘ – ‚Deutsche Lügen‘: so sind einige Notierungen überschrieben.“ (Veitenheimer 2014, S. 11, 15; Hervorh. im Original)2

Und weiter: „Im zweiten Notizbuch hat Heinrich Mann – etwa Ende Juni 1916 – die fatale deutsche Grundmentalität in den Begriff des ‚Widergeistes‘ gefasst. Der Begriff des ‚Widergeistes‘ umfasst die ‚Zustände‘ des negierten Geistes: ‚Ungerechtigkeit, Lüge, Verwilderung‘. Die ‚innere moralische Verwilderung‘ ist ein Folgezustand; kennzeichnend für sie ist die gesellschaftlich ausagierte Verbindung von Habsucht und Sadismus, wie sie im Wucher, im grassierenden Denunziantentum und im Antisemitismus zu Tage tritt. Geist wird ganz offiziell durch Verbote und Zensur bekämpft, und fast alle Geistigen fügen sich nicht nur, sie danken öffentlich ab (hier nennt Heinrich Mann den als ‚Manifest der 93‘ bekannten, im Oktober 1914 von 93 deutschen Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern publizierten Aufruf an die Kulturwelt).“ (ebd., 20f., Hervorh. im Original)

Nach »Der Untertan« und »Die Armen« beendete Mann seine Kaiserreich-Trilogie mit »Der Kopf« (1925) erst Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser Roman, an dem der Autor sieben Jahre gearbeitet hatte, passt hervorragend in seine antimilitaristischen Überlegungen (vgl. Kraske und Lellau 1984; Schneider und Stark 2012). Mann kennzeichnet und kritisiert darin die Gruppen, die aus seiner Sicht für den Krieg verantwortlich waren: Machtpolitiker, Militärs, Großindustrielle, Rüstungsfabrikanten und Intellektuelle. Die Großindustrie profitierte besonders und paktierte direkt mit den Militärs und indirekt mit der Regierung. Selbst noch während des Krieges blühte das Geschäft dadurch, dass kriegswichtige Güter (z.B. Stahl) an das gegnerische Ausland verkauft wurden. Durch den Krieg konnten auch innenpolitische Probleme mit Gewerkschaften und dem Proletariat überwunden werden. Selbst bei einer Kriegsniederlage bedeutete der Wiederaufbau die große Chance eines sozialen Friedens, die Arbeitenden würden mit ihren Forderungen schon still halten. Und natürlich heißt Krieg im Zeitalter des Imperialismus die militärische Eroberung neuer Märkte und neuer Rohstoffe in einem globalen Rahmen. Die Geld- und Machtgier ist ein signifikantes Kennzeichen des kaiserlichen Bürgertums. Der Glaube an eine gewisse Auserwähltheit der eigenen Nation ebnete den Weg für Feindbilder, außenpolitisch (Frankreich, Großbritannien) wie auch im eigenen Land (Judentum, Proletariat), so Heinrich Mann.

Kritisch beurteilt Mann in diesem Roman den gesellschaftlichen Beitrag von Intellektuellen an der Vorbereitung des Krieges, dargestellt an den Herren Mangolf und Terra. Mangolf möchte unbedingt Erfolg haben und unterstützt den Weg zum Krieg. Er glaubt äußerst naiv, dass ein Krieg der Durchsetzung von Ideen, z.B. der Einigung Europas dienen könne. Hier benutzt Heinrich Mann direkt Passagen aus dem Aufsatz »Friedrich und die große Koalition« (1915) seines Bruders Thomas und kritisiert ihn dadurch. Die Figur des Terra hinterfragt zwar das System der Gewalt, bleibt aber ein Außenseiter, kämpft vergeblich und endet durch Suizid. Eine wichtige Rolle lässt Heinrich Mann dem Aristokraten und Reichskanzler Lannas (eine Anspielung auf Bernhard Graf von Bülow, der von 1900 bis 1909 als Reichskanzler wirkte) zukommen. Dieser Politiker möchte die Macht der Großindustriellen brechen und sie wieder der Aristokratie übertragen, scheitert aber. Damit zeigt Mann ebenso seine Kritik an der monarchistischen Überzeugung, dass nur alles wieder in Ordnung käme, wenn nur der Adel wieder an der Macht sei.

Brückenbauer zwischen Deutschland und Frankreich

Die deutsch-französische Verständigung lag Heinrich Mann, der fließend Französisch sprach und schrieb, ganz besonders am Herzen.3 Über fast 60 Jahre seines Lebens kann von einer intensiven Beziehung Manns zu Frankreich gesprochen werden.

Seine Kontakte mit der antimilitaristischen Szene Frankreichs verstärkten sich nach dem Kriegsende, so etwa mit Henri Barbusse und Romain Rolland, die sich bereits von 1914 bis 1918 sehr kritisch zum Krieg äußerten (vgl. Lindner-Wirsching 2004). Barbusses Roman »Le Feu« (Das Feuer) von 1916 erlangte als Abrechnung mit dem Krieg große Bedeutung und wurde sogar mit dem Prix Goncourt, dem höchsten französischen Literaturpreis ausgezeichnet – noch 1916! Rolland und Barbusse gründeten 1919 die Clarté-Bewegung – eine Friedensbewegung demokratischer Intellektueller. Mann sprach schon am 12. Dezember 1919 in einem Vortrag positiv über diese Organisation – er verfolgte diese Entwicklungen also offenbar sehr genau.

Das Jahr 1927 gibt einen Eindruck von der vielfältigen Verständigungsarbeit, die Mann leistete: So hielt er in der zweiten Maihälfte des Jahres in Zürich, Bern und Fribourg den Vortrag »Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung«. Am 7. Oktober sprach der Schriftsteller in Magdeburg über »Die geistige Verständigung mit Frankreich«. In Anspielung auf den Locarno-Pakt (1925), der für eine Entspannungspolitik steht, sind Manns Reden »Ein geistiges Locarno« in Berlin am 19. Oktober sowie »Un Locarno intellectuel« in Paris am 2. Dezember an der Sorbonne sowie am 12. Dezember (auf Einladung der französischen Frauenvereinigung für den Völkerbund) und am 14. Dezember (auf Einladung der französischen Liga für Menschenrechte) zu verstehen. Am 16. Dezember folgte vor ca. 5.000 Personen Manns Beitrag zum 150. Geburtstag von Victor Hugo, dem engagierten Vorkämpfer für Frieden und Völkerverständigung.

Am 4. Oktober 1931 hielt Mann eine Rede im Berliner Admiralspalast auf der dortigen Kundgebung zur deutsch-französischen Verständigung. Unter dem Titel »Zwei Völker – ein Gedanke« beschwor der Autor die Gemeinsamkeiten der beiden Länder.

Auch vor dem Kontakt mit der Politik schreckte Mann nicht zurück, wenn es um Fragen der Verständigung ging. Der französische Außenminister Aristide Briand (Friedensnobelpreisträger mit Gustav Stresemann im Jahr 1926) empfing Mann beispielsweise am 3. Juni 1931 in seinem Pariser Arbeitszimmer. Nach dem Tode Briands am 7. März 1932 würdigte Mann diesen Politiker als wichtigen Motor der deutsch-französischen Verständigung. Auf Briand kam Mann auch in seinen Ausführungen »Der zweite Schritt zur Verständigung« bei einem Abend im PEN-Club am 12. Mai 1932 zu sprechen. Da dieser Text sowohl Manns Verständnis von Briand und Stresemann, als auch sein geteiltes Friedensverständnis und seine Hoffnung auf (nicht nur wirtschaftliche) Integration spiegelt, wird dieser hier etwas länger zitiert:

„Die deutsch-französische Verständigung war zuerst eine Forderung des Gewissens, noch bevor in die Augen fiel, daß sie eine tatsächliche Notwendigkeit ist. Ungefähr fünf Jahre nach dem Kriege leiteten Intellektuelle auf beiden Seiten sie ein. […] Der erste Schritt zur Verständigung war die Werbung der Intellektuellen in den ihn zugänglichen Teilen beider Völker und der allmählich anwachsende Schrei: Nie wieder Krieg! Die Kriegsteilnehmer selbst waren es, die ihn ausstießen. Ihre blutige Erfahrung unterstützte unsere Erkenntnis, die auch nur stark ist, wenn sie im Herzblut entsteht. Die mächtigste und ergreifendste Stimme, die den Schrei ‚Nie wieder Krieg!‘ weitergetragen hatte, hieß Briand. […] Er vereinigte in seiner Person alles, das Volksempfinden, die Staatsmacht und die Ansprüche des Geistes. Das ist das seltenste Zusammentreffen, und es bleibt der Ruhm seines Landes, daß es sich so viele Jahre durch ihn vertreten ließ. Auch Deutschland behält die Ehre, daß während schwieriger Zeiten sein großer Friedensminister, Stresemann, in seinem Namen handeln durfte.
Wenn Stresemann und Briand
vor ganz Europa mit einander verhandelten, ging es keineswegs immer glatt. Der eine sagte: ‚Meine Generäle verlangen dies‘, der andere: ‚Meine Parteien.‘ Die Verhandlungen standen mehr als einmal vor dem Abbruch. Sie kamen dennoch jedesmal zum Abschluß, weil beide Männer sich darauf besannen, daß sie Freunde waren, es bleiben mußten, und daß es zuletzt nur eines gab: Nie wieder Krieg! So haben sie den Krieg zu liquidieren und seine Wiederholung unmöglich zu machen versucht.
Das konnten sie indes noch nicht.
Es ist den nächsten Schritten zur Verständigung vorbehalten, und diese waren ihnen nicht mehr vergönnt. Ihre Tat war, allen das Ziel einzuprägen. Briand sah auch schon den Weg; er sprach das Wort aus: Zollunion. Zweifellos sah er auch voraus, welche Kämpfe das kosten mußte, denn er sprach das Wort aus: den Friedenorganisieren. Damit sagte er, daß bis jetzt nur der Krieg organisiert sei, die ganze Welt, besonders aber Frankreich und Deutschland, seien eigentlich für den Krieg eingerichtet. Der Friede hat zu lange nur als Raum zwischen den Kriegen gegolten. Während jeder Friedenszeit wurde hauptsächlich an den nächsten Krieg gedacht.“ (Mann 2009, S. 296f. Hervorh. im Original.)4

In einer Hinsicht wollte Mann jedoch gar keine deutsch-französische Verständigung, nämlich was die Zusammenarbeit von chauvinistischen und faschistischen Kräften beiderseits des Rheins angeht.

Internationale Tagungen gegen den Krieg

Im Mai 1932 konstituierte sich ein Initiativkomitee, dem u.a. Rolland, Barbusse, Maxim Gorki, Upton Sinclair, Sun Zhonghsan (Witwe von Sun Yat-sen), Theodore Dreiser, Albert Einstein, Paul Langevin, John Dos Passos, Frans Masereel und Heinrich Mann angehörten. Diese Personen des internationalen antimilitaristischen Spektrums riefen mit einer »Kriegserklärung gegen den Neuen Weltkrieg!« zu einer internationalen Tagung in Genf am 1. August auf. Darin heißt es u.a.: „Während in Genf seit Monaten die Abrüstungskonferenz des Völkerbundes tagt, tobt im Osten ein blutiger Krieg. Der japanische Raubtierkrieg gegen China dauert fort, Fliegerbomben und Granaten haben tausende chinesische Arbeiter und Bauern, wehrlose Greise, Frauen und Kinder zerfetzt. […] Die Rüstungsbudgets steigen zu fantastischen Höhen, die Kriegsrüstungen aller Staaten gehen ins Ungemessene, es wächst die Produktion in den Betrieben der Rüstungs- und chemischen Industrie in Frankreich (Schneider-Creusot, Renault, Kuhlmann), im Ruhrgebiet, in der Tschechoslowakei (Skoda), in Rumänien und Polen. Die Vernichtung ganzer Kontinente mit den furchtbarsten Mitteln des chemischen Luftkrieges wird vorbereitet. Ein neuer Weltkrieg droht! […] Die unterzeichneten Frauen und Männer sind fest entschlossen, alles zu tun, um dieses Kriegsverbrechen zu verhindern und sind tief überzeugt, daß kein frei denkender Mensch bei dieser drohenden Weltkatastrophe abseits stehen kann, sondern sich einreihen muß in die Front derjenigen, die bereits begonnen haben, den Kampf gegen den Krieg zu organisieren.“ (Mann 2009, S. 454f. Hervorh. im Original bleiben unberücksichtigt)

In Amsterdam fand vom 27. bis zum 29. August 1932 ein Kongress gegen den imperialistischen Krieg statt (siehe Schumann 1985). Heinrich Mann arbeitete seit April im Weltkomitee dieser Tagung mit. Seine Erklärung wurde verlesen, denn Mann kam nicht in die niederländische Metropole – vielleicht wollte er sich vom sowjetischen Kurs dieses Kongresses distanzieren? Gedruckt erschien die Stellungnahme des Autors am 11. September unter dem Titel »Der Schriftsteller und der Krieg«. Mann schrieb u. a.:

Der Krieg bedroht abermals die Welt – und dies nach allem, was wir versucht haben, um ihn zu verhindern! Diesmal ist den Schriftstellern, denen, die mit Recht dafür angesehen werden, kein Vorwurf zu machen; sie haben seit der vorigen Katastrophe wirklich das Ihre getan. Es gibt kein erfolgreiches und erst recht kein wertvolles Kriegsbuch in Europa, das den Krieg beschönigt. […] Schriftsteller und Kriegsteilnehmer, oft ein und diesselbe Person, was früher selten vorkam, sie haben im Namen aller, aus der Erinnerung aller und ganz und gar aus der Masse heraus gesprochen. So war das sonst nicht.

Die Masse indes verändert sich schnell, weil sie sich verjüngt. Das neue Geschlecht kommt und bringt mit sich: erstens Unwissenheit; dann Widerspenstigkeit; dann Mut und Lust auf Abenteuer; und dann die gewohnten schlechten Instinkte, auf die von den Anstiftern des Krieges auch 1914 mit Erfolg gerechnet werden konnte. […]

Für den Frieden arbeiten, heißt alle Kriegsursachen erkennen und sie bekämpfen, die alten wie die neuen, die Zölle, die Krise, die Not, die irrsinnige Herrschsucht der politischen Betrüger, die nicht weniger krankhafte Nachgiebigkeit der Betrogenen und Geopferten. Wer für den Frieden arbeitet, hält sich heute nicht mehr bei Ermahnungen auf, sondern fängt selbst an, ihn zu organisieren. Wir werden helfen, die Zollunion durchzusetzen in Europa, zuerst die deutsch-französische. Wir werden mit unseren Kräften einstehen für einen internationalen Wirtschaftsplan, denn einen anderen kann es nicht geben. Kein Land ist für sich allein lebensfähig, Europa wird fortdauern nur als Einheit, oder es hört auf, zu zählen in der Welt. Die europäische Einheit ist geistig schon da; alle Europäer empfinden dieselbe Lebensgefahr für ihren Kontinent; sie fühlen sich zueinander gedrängt; sie bereuen ihre Zerwürfnisse und sind nicht weit entfernt, sie als Verrat an Europa anzusehen. […] Das ist dann das Ende des Krieges, wenn auch vorläufig nur für Europa; – aber Europa, wohlverstanden gibt es nur einschließlich Rußlands! Der Ausschluß Rußlands, an den Nationalisten denken, wäre dagegen so gut wie die sofort eintretende Kriegserklärung! […]

Friedensliebe verpflichtet zur Härte gegen uns selbst, und die Erreichung des wahren Friedens wird nicht nur der einzig gerechte, es wird auch der schwerste und ein niemals endgültig entschiedener Krieg sein. Denn es ist ein Krieg des Geistes gegen die Gewalt.“ (Mann 2009, S. 337f.)

Zur internationalen Dimension von Manns Antimilitarismus gehörte auch seine Unterschrift unter das »Manifest gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend« vom Oktober 1930. Ferner unterschrieben u.a.: Albert Einstein, Sigmund Freud, Selma Lagerlöf, Thomas Mann, Ludwig Quidde, Henriette Roland-Holst, Bertrand Russell, Freiherr Paul von Schoenaich, Upton Sinclair, Rabindranath Tagore, Herbert George Wells und Stefan Zweig (vgl. Mann 2009, S. 448ff.).

Frieden und Menschenrechte

Heinrich Mann gehörte der Deutschen Liga für Menschenrechte an, die 1922 aus dem pazifistischen Bund Neues Vaterland von 1914 hervorgegangen war (vgl. Schütrumpf 2023).5 Der Schriftsteller verknüpfte die Aspekte Frieden und Menschenrecht, wie mehrere Beispiele zeigen.

Am 2. Februar 1931 sprach Mann auf einer Veranstaltung dieser Liga gegen das Aufführungsverbot des antimilitaristischen Films »Im Westen Nichts Neues« (Regie: Lewis Milestone) nach dem berühmten Roman von Erich Maria Remarque in deutschen Kinos. Die Uraufführung des Films fand in den USA im Mai 1930 statt, die deutsche Premiere sollte im Dezember stattfinden. Joseph Goebbels, der nationalsozialistische Gauleiter Berlins attackierte den Film massiv, unterstützt von konservativen, nationalistischen und militaristischen Verbänden. Diese Kampagne führte schließlich in Deutschland und Österreich zum Verbot des Films – ein Erfolg für die NSDAP.

Mann kommentierte zunächst das Verbot des Films durch die Filmoberprüfstelle am 11. Dezember 1930 und führte gegen Ende seiner Rede eine interessante Anekdote aus einem Pariser Kino im Zusammenhang mit einer Filmszene an: „Das unschuldige Treiben des Deutschen [Soldaten], der die Hand nach einem Falter ausstreckt, wird ihn [den französischen Soldaten] nicht abhalten, er muß losdrücken. In diesem Augenblick hat bei der Pariser Vorführung eine Kinobesucherin laut gerufen: ‚Schieß nicht!‘ Ne tirez pas! Schieß nicht! Das ist der Schrei des Herzens. Ihrem eigenen Landsmann rief die Frau zu, und er war doch im Begriff einen der ihren zu rächen. Sie will nicht, daß getötet, will nicht, daß gehaßt wird, und die Wirklichkeit und die Wahrheit des Films ‚Im Westen nichts Neues‘, wodurch wird sie bewiesen? Wir alle ausnahmslos – sobald wir auf unsere besten Regungen hören, stimmen wir ein in den Schrei.“ (Mann 2009, S. 121)

Mann protestierte ferner gegen das skandalöse Urteil einer rechtslastigen Justiz im Prozess gegen den Pazifisten und Leiter der Zeitschrift »Die Weltbühne«, Carl von Ossietzky, der am 23. November 1931 wegen angeblichen Landesverrats zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt wurde (vgl. ebd., S. 454). Der Schriftsteller kritisierte aber auch schon im Oktober 1930 in einem »Protest gegen den Blutterror« die Methoden Stalins. Den Hintergrund bildete die Erschießung von 48 Sowjetmenschen der Volkskommissariate für Handel und Finanzen im September (vgl ebd., S. 451).

Nationalismus und National­sozialismus führen zum Krieg

Mann hatte auch schon früh ein intensives Verständnis von der Konsequenz der Politik der NSDAP entwickelt. Die NSDAP vertrat eine rabiate Innenpolitik gegen ihre Gegner und eine aggressive Außenpolitik, besonders um »Lebensraum im Osten« zu gewinnen. Am 13. September 1930, also nur einen Tag vor dem Wahlerfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen, veröffentlichte Mann seinen Aufruf »Wir wählen Arbeit und Frieden: und retten uns selbst«. Darin heißt es über die NSDAP: „Keine auswärtige Macht, die über Vernichtungsmittel verfügt, hätte von dem Dritten Reich etwas anderes zu erwarten, als die demütigste Unterwerfung. […] Wir wollen keinen Krieg und wollen nicht, daß an dem verächtlichen Rauschgift des Nationalismus noch einmal die Millionen sterben oder Bettler werden.“ (ebd., S. 50f., Hervorh. im Original bleiben unberücksichtigt)

In seinem Essay »Die lebensnotwendige Demokratie« vom 16. April 1932 schreibt der Autor: „Der Faschismus kann nur den Krieg organisieren, denn durch ihn ist er in die Welt gekommen und soll an ihm auch zugrunde gehen. Die Demokratie ändert, wenn sie überhaupt bestehen will, den Sinn und die Richtung des Geschehens um. Sie bricht mit den Einrichtungen, die nur für den nächsten Krieg da sind: Zölle und Massenhunger, militärische Geheimnisse und die öffentliche Unsicherheit, die sie bewirken. Besonders räumt sie auf mit nationalistischen Bewegungen. Wer Nationalismus sagt, ob er es will oder nicht: er sagt Krieg!“ (ebd., S. 273)

Im Dezember 1932 erschien Manns letzter Essay, den er in Deutschland verfasste. In diesem »Bekenntnis zum Übernationalen« betont der Autor die wichtige Bedeutung der Völkerverständigung und richtet sich erneut gegen den Nationalismus. „Ich habe den alten Macht- und Nationalstaat verlassen, weil sein sittlicher Inhalt ihm ausgetrieben ist. Er erhält sich nur noch in Haß und Verwilderung, und der unsittliche Zwang, den er anwenden muß, ist die Ursache aller Verbrechen, von denen es in ihm wimmelt, auch der scheinbar privaten. Der nationalistischen Lüge wird das Menschentum geopfert. Ich bin es gründlich satt, die freche Lüge zu hören, daß nicht der Kampf um das Menschentum der höhere Beruf ist, sondern der Kampf dagegen. Die Verehrer des kriegerischen Daseins würden ihr Lebensziel noch am anständigsten erreichen, wenn sie Selbstmord begingen, anstatt daß Millionen unfreiwillig mit ihnen sterben.“ (ebd., S. 383)

Im Februar 1933 verließ Mann Deutschland für immer und flüchtete zunächst nach Frankreich. Von Nizza aus beteiligte sich der Autor an der Bildung einer Volksfront gegen die NS-Diktatur und warnte französische Stellen eindringlich vor der Gefahr eines deutschen Überfalls, jedoch vergeblich (vgl. Mann 1977; zur Volksfront siehe Langkau-Alex 2004-2005). Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Paris 1940 flüchtete Mann weiter in die USA, wo er 1950 starb.

Anmerkungen

1) Zu Thomas Mann und dessen Friedensaktivismus in späteren Lebensjahren, siehe Lipp 2022.

2) Zur Friedensbewegung im Ersten Weltkrieg, vgl. Lipp (2004).

3) vgl. zu Manns Beziehung zu Frankreich u.a. Kantorowicz (1972) und Flügge (2013).

4) Zu den Friedensnobelpreisen der Jahre 1926 und 1927 für die deutsch-französische Verständigung an Briand und Stresemann sowie an Buisson und Quidde, vgl. Lipp (2011).

5) Zur Friedensbewegung in der Weimarer Republik vgl. Holl und Wette (1981) sowie Lütgemeier-­Davin (1982).

Literatur

Dülffer, J.; Holl, K (Hrsg.) (1986): Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Flügge, M. (2013): Traumland und Zuflucht. Heinrich Mann und Frankreich. Berlin: Insel.

Holl, K.; Wette, W. (Hrsg.) (1981): Pazifismus in der Weimarer Republik. Paderborn: Schöningh.

Kantorowicz, A. (1972): Unser natürlicher Freund. Heinrich Mann als Wegbereiter der deutsch-französischen Verständigung. Lübeck: Amt f. Kultur der Hansestadt Lübeck.

Klein, W. (2016): „Eine Schande, unter der ein Kulturmensch erbebt.“ Heinrich Mann über den Krieg. In: Heinrich Mann-Jahrbuch, 34 (2016), S. 29-54.

Kraske, B.M.; Lellau, G. (1984): „Der Kopf“ – ein Antikriegsroman: In: Wolff, R. (Hrsg.): Heinrich Mann. Werk und Wirkung. Bonn: Bouvier Verlag, S. 24-52;

Langkau-Alex, U. (2004-2005): Deutsche Volksfront 1932-1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau. 3 Bände. Berlin: Akademie-Verlag.

Lindner-Wirsching, A. (2004): Französische Schriftsteller und ihre Nation im Ersten Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer Verlag.

Lipp, K. (2004): Pazifismus im Ersten Weltkrieg. Ein Lesebuch. Herbolzheim: Centaurus Verlag.

Lipp, K. (2011): Die Friedensnobelpreise von 1926 und 1927. W&F 4/2011, S. 41-43.

Lipp, K. (2021): Alexander Moritz Frey – ein Regimentskamerad Adolf Hitlers im Ersten Weltkrieg und Autor pazifistischer Belletristik. In: Kreutz, W.; Raasch, M.; Ruppert, K. (Hrsg.): Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft. Band 28 (2021), S. 53-80.

Lipp, K. (2022): Der Himmel gewähre uns Zeit! Thomas Mann als Friedensdenker im Kalten Krieg. W&F 1/2022, S. 44-46.

Lütgemeier-Davin, R. (1982): Pazifismus zwischen Kooperation und Konfrontation. Das Deutsche Friedenskartell in der Weimarer Republik. Köln: Pahl-Rugenstein Verlag.

Mann, H. (1977): Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays. Hg. von Werner Herden. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag.

Mann, H. (2009): Essays und Publizistik, Band 5, 1930 bis Februar 1933. Hrsg. von Volker Riedel. Bielefeld: Aisthesis Verlag.

Martin, A. (2022): Zeittafel. In: Bartl, A.; Martin, A.; Whitehead, P. (Hrsg.): Heinrich Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin und Heidelberg: J.B. Metzler, S. 561-584.

Noe, H. (1986): Die literarische Kritik am Ersten Weltkrieg in der Zeitschrift „Die Weißen Blätter“: René Schickele, Annette Kolb, Max Brod, Andreas Latzko, Leonhard Frank. Zürich: Univ. Dissertation.

Rohkrämer, Th. (1990): Der Militarismus der „kleinen Leute“. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914. München: Oldenbourg Verlag.

Schneider, P.-P.; Stark, M. (2012): Psychopathen an der Macht. Zur Studienausgabe von Heinrich Manns Roman Der Kopf. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 30 (2012), S. 207-232.

Schumann, R. (1985): Amsterdam 1932. Der Weltkongreß gegen den imperialistischen Krieg. Berlin: Dietz.

Schütrumpf, J. (2023): Deutsche mit Anstand. Der „Bund Neues Vaterland“ wird „Deutsche Liga für Menschenrechte“. Hamburg: VSA.

Veitenheimer, B (2014): „Der Bürger und sein Krieg“ – zu Heinrich Manns Notizen 1916-1918. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 32 (2014), S. 9-31.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung.

Die verfahrenen Jahre

Die verfahrenen Jahre

Ein pazifistisches Gedankenspiel zu den 1920er-Jahren in Österreich

von Wolfgang Weilharter

Wie vermeidet man den Eintritt in eine destruktive Eskalationsspirale? In den Jahren 1923/24, also vor 100 Jahren, gründete die Sozialdemokratische Partei Österreichs eine bewaffnete Wehrformation, den Republikanischen Schutzbund. Auch wenn der Entschluss zur Gründung des Schutzbundes verständlich ist, so war er auch ein Beitrag, das Desaster eines zunehmenden Rechtsdralls Österreichs zu beschleunigen. Ob ein Blick über die österreichischen Grenzen bis nach Indien, zu Gandhi und den gewaltfreien Kampagnen sowie deren Schutzgarantie an die Gegner*innen geholfen hätte? Der Beitrag erkundet diese Möglichkeit.

Die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts: Die verfahrenen Jahre, in denen es einfach nicht gelang, die Weichen richtig zu stellen, aber auch die magischen und faszinierenden Jahre. Magie, Faszination und Verfahrenheit, alles Eigenschaften, die auch und besonders auf das Österreich und das Wien der Ersten Republik von 1918 bis 1934 zutreffen.1 Mit einer gewissen journalistischen Lässigkeit wird in diesem Essay nun gefragt, warum es – angesichts der sonstigen modernen Kreativität und Innovation – nicht möglich war, den Weg in eine sich aufbauende Eskalationsspirale zu vermeiden.

Mit dem Ausdruck »Eskalationsspirale« wird auf ein spezielles Ereignis in den Anfangsjahren der Ersten Republik Österreichs angespielt. In den Jahren 1923/24 beschloss die Sozialdemokratische Partei Österreichs den »Republikanischen Schutzbund« zu gründen. Dabei handelte es sich um eine bewaffnete Formation, eine Privatarmee von beachtlicher Größe, als verständliche Reaktion auf die Bedrohung durch bewaffnete konservative, monarchistische und faschistische Wehrformationen. Mehr darüber weiter unten. In diesem Essay, der sich einem qualifizierten Pazifismus verpflichtet weiß, wird gefragt: Hätte es einen Weg gegeben, auf die Gründung des Schutzbundes zu verzichten, ohne politischen Selbstmord zu begehen?

Und das ist der Hintergrund dieser Frage: Die Sozialdemokratie wird hier als unser Vorfahr betrachtet. Auch dann, wenn man heute liberal, konservativ, grün, oder weiter links steht, wobei die Sache beim Rechtspopulismus kompliziert ist. Wenn oben von einer Welle der Kreativität und der Innovation die Rede war, dann war diese Welle, oberflächlich formuliert, modern – und der politische Ausdruck dieser Modernität war die Sozialdemokratie. (Parlamentarische) Demokratie, Autoritäts- und Traditionskritik, Säkularismus, Wissenschaftsorientierung, Vorbehalte gegen heteronome Religiosität, Neutralität gegenüber ethnischer Herkunft, vor allem gegenüber dem Judentum, Aufwertung des öffentlichen Status der Frau usw. waren überwiegend bei ihr beheimatet. Wobei einzuschränken ist: Ihre Auffassungen von Sozialismus und Klassenkampf, die sich in ihrer verbalen Radikalität auch deutlich von der deutschen SPD unterschieden, zählen nicht zu jenem Erbe, das heute allgemeiner Konsens ist. Aber hier interessiert gleichsam der moderne Anteil am »austromarxistischen« Sozialismus.2 Mit Rückgriff auf eine Strategie in Gandhis Satyagraha-Bewegung wird im Folgenden eine mögliche pazifistische Lösung der Konfliktsituation, die zur Gründung des Schutzbundes hinführte, reflektiert.

Zum Kontext der Gründung des Republikanischen Schutzbundes

Die Geschichte der politischen Auseinandersetzungen in der Ersten Österreichischen Republik reduziert sich über weite Strecken auf die Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien, der Sozialdemokratischen Partei auf der linken Seite und der Christlichsozialen Partei auf der rechten Seite. Es handelte sich im Wesentlichen also nur um zwei und nicht um mehrere maßgebliche »Player«, denn eine kommunistische Partei konnte sich in Österreich neben der Sozialdemokratie nicht etablieren. Auf der konservativen Seite gab es keinen organisierten Liberalismus mehr, und die ansonsten noch vorhandene Großdeutsche Volkspartei war immer wieder Mehrheitsbeschafferin für die Christlichsozialen, hatte aber wenig eigenes Profil.

Das Österreich von 1918 entstand als einer der Nachfolgestaaten der – aufgrund der Niederlage im Ersten Weltkrieg zerfallenden – österreichisch-ungarischen Monarchie. In diesem Jahr wurde in Österreich sodann die Republik ausgerufen und ein sozialdemokratischer Kanzler, Karl Renner, regierte in Koalition mit der Christlichsozialen Partei bis 1920. In dieser ersten Zeit des Umbruchs herrschte einerseits das Elend und die Orientierungslosigkeit, andererseits war die linke Seite tendenziell in der Offensive und die Frage, welcher Sozialismus auf welche Weise zu erreichen sei, dominierte das politische Geschehen. Da sich die Sozialdemokratische Partei für die parlamentarische Demokratie aussprach, hatten bewaffnete Versuche für eine sozialistische Revolution wenig Chance. Parallel dazu bildete sich aber eine komplizierte Vielzahl an paramilitärischen Verbänden auf der konservativen Seite, die entweder christlichsozial, großdeutsch, monarchistisch oder nationalsozialistisch waren. Ihnen allen gemein war die antisozialistische Agenda mit besonderer Sorge vor einer sozialistischen Revolution, die offene oder subtile Gegnerschaft gegen alle Formen der Demokratie, der aggressive Antisemitismus, sowie die Finanzierung durch Teile der Industrie und verwandter Gruppen aus Deutschland. Später kamen als Geldgeber noch das faschistische Italien und Ungarn hinzu.

Gegenläufig zur Konsolidierung der parlamentarischen Demokratie Anfang der 20er-Jahre wuchsen diese konservativen Paramilitärs aber weiter heran, bis sich die Sozialdemokratie im Jahr 1923 nun in der Tat einer bedrohlichen Situation gegenübersah. Denn zusätzlich zu den paramilitärischen Verbänden verlor die Sozialdemokratie im Jahr 1920 erst einmal aufgrund einer Wahlniederlage ihre Regierungsbeteiligung und somit auch ihren Zugriff auf das Verteidigungsministerium samt Armee, die dann unter dem rechten Scharfmacher Karl Vaugoin zu einer christlichsozial geprägten Streitmacht wurde. Im Oktober 1922 fand sodann Mussolinis Marsch auf Rom und damit die faschistische Machtübernahme in Italien statt, was den antidemokratischen und faschistischen Kräften in Österreich Aufwind verschaffte.

Das war nun also die Situation, die die Sozialdemokratische Partei ab 1923 veranlasste, den Republikanischen Schutzbund zu gründen. Wie gesagt: Man kann sie verstehen. Noch dazu war der Schutzbund weitgehend defensiv ausgerichtet, und ihm gebührt der Ehrentitel, überhaupt als erste Kraft in Europa, im Jahr 1934, militärischen Widerstand gegen den Faschismus des christlichsozialen Kanzlers Dollfuss geleistet zu haben, als dieser das Parlament in Österreich ausschaltete.

Doch gab es innerhalb der Partei auch kritische Stimmen. Am interessantesten für den Zusammenhang dieses Essays, ist eine „gemäßigte Gruppe“, von der in einem unveröffentlichten Manuskript eines unbekannten Autors3, wahrscheinlich verfasst in den letzten Monate des Jahres 1922 (vgl. Vlcek 1972, S. 60f.) die Rede ist. Dort lesen wir, dass die Gruppe Vorbehalte anmeldete, nämlich dass ein zukünftiger Schutzbund das Ergebnis einer „streng militärischen Auffassung“ wäre, der „Ausfluss des k.u.k. Militarismus“ 4 und ein Abklatsch der Frontkämpfer und Hakenkreuzler“. Der militärische Charakter des Schutzbundes würde eine „unnötige Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze“ und ein „immer größeres Wettrüsten“ nach sich ziehen. Die Lösung, die angeboten wurde, lautete: Den Aufbau einer militärischen Formation hinauszuschieben und nur den Rohbau einer militärischen Organisation zu errichten, die erst im Ernstfall zu aktivieren wäre.

Doch dieser Einwand, auf den wir noch zu sprechen kommen werden, blieb wirkungslos. Der Schutzbund wurde gegründet und einige Jahre später, gegen die eigene Intention, zu einem Faktor der Eskalation. Denn im Lauf der Jahre wuchsen die Wehrverbände an, sodass die konservativen Heimwehren Ende der 20er Jahre zwischen 20.000 und 50.000 bewaffnetes Personal umfassten, der Schutzbund könnte sich auf 40.000 Mann belaufen haben. All das bei einer Einwohnerzahl der Republik von nur etwa 6,5 Millionen Menschen (Edmondson 1995, S. 265ff.).

Die genannte Eskalation führte sodann 1934 zur Ausschaltung des Parlaments und zum österreichischen Sonderweg des austrofaschistischen, aber anti-nationalsozialistischen Ständestaates und schließlich, 1938 zum widerstandslos akzeptierten Einmarsch Hitlers.5

Dem Gegner ernsthaft umfas­sende Sicherheit garantieren

Zur weiteren Überlegung, ob die Gründung des Schutzbundes hätte vermieden werden können, soll nun ein Sprung, einige tausend Kilometer entfernt, nach Indien in das Jahr 1919 gemacht werden. Dort baute sich ebenfalls, aufgrund der legitimen, indischen Emanzipationsbestrebungen, eine Eskalationsspirale auf. Und so wie im Österreich der frühen 20er Jahre soll hier eine Episode mit beispielhaftem Charakter beleuchtet werden. Im April 1919 kam es unter anderem im Raum der indischen Stadt Ahmedabad zu Ausschreitungen. Diese fanden anlässlich der von Gandhi maßgeblich mitinitiierten Satyagraha-Kampagne gegen die von der englischen Kolonialregierung erlassenen Gesetze, einem Bündel präventiver Notstandsgesetze, der »Rowlatt-Gesetze« statt. Diese Gesetze riefen auf indischer Seite Empörung hervor. Die indienweite Satyagraha-Kampagne wurde durch die britische Kolonialregierung mit der Erschießung indischer Zivilist*innen durch die Polizei beantwortet, was wiederum Protest auf indischer Seite zur Folge hatte. Im Großraum Ahmedabad wurden im Zuge dieser indischen Gegenproteste sodann mindestens zwei Engländer getötet, sowie Gebäude, Eisenbahn- und Telegrafenanlagen verwüstet. Darüber hinaus wurden britische Zivilist*innen Opfer von Vertreibungen (Brown 1972, S. 175; Rothermund 1997, S. 124). Entsprechend Gandhis Bestreben, Kampagnen wesentlich, nicht nur beiläufig, von Gewalt freizuhalten, und dafür auch Verantwortung zu übernehmen, hielt er am 14. April 1919 eine Rede. In dieser drückte er nur seine Empörung aus, dass Engländer bedroht und vertrieben wurden – er äußerte kein Verständnis für die Gewalt, forderte unbedingte Gewaltlosigkeit ein, und zeigte sich nachgerade entsetzt von den Taten. Die Rede hatte ihren Höhepunkt in folgenden, denkwürdigen Worten:

„Sie [die Engländer] sind unsere Brüder und es ist unsere Pflicht, in Ihnen den Glauben zu wecken, dass ihre Personen uns so heilig sind wie unsere eigenen (…)“ 6 (Gandhi 1999, S. 222).

Was Gandhi in religiös gefärbter Sprache ausdrückte, war die öffentliche Garantie der Unversehrtheit des Gegners. Dabei handelte es sich gerade nicht um schöne Worte, um die die Politik ja nie verlegen ist, sondern die ernstgemeinte Zusicherung der Sicherheit der Gegenseite – innerhalb einer Krisensituation. Gandhi und die Satyagraha-Bewegung waren sowohl an diesem 14. April 1919 aber auch in den nachfolgenden Jahren imstande, diese Garantie aufrechtzuerhalten, als sich die Situation drastisch verschärfte. Die Bedeutung dieser Worte lag nicht unmittelbar darin, dass Gandhi einen bewaffneten Gegenschlag ausschloss. Das tat er zwar implizit auch, aber ein solcher Gegenschlag stand in den damaligen Tagen nicht zur Debatte. Ihre Bedeutung lag darin, dass er als politischer Führer, inmitten eines Kampfes, und gerade nicht als außenstehender Mediator, Vermittler oder Peace-Builder, dem bedrohlichen Gegner die umfassende Sicherheit garantierte. Es ist für den Einfluss der Satyagraha-Bewegung zu beachten, dass die Mobilisierungsfähigkeit – und damit der Aufbau politischer Macht – durch diese Zusicherung und Garantie keinen Schaden erlitt. Die indische Emanzipationsbewegung wurde dadurch nicht als harmloser Gegner „beiseite geschoben.“ 7

Das Gedankenspiel: Gandhis Haltung in der Ersten Republik?

„Das Proletariat, in seinem innersten Wesen friedlich gesinnt, möchte am liebsten nur jene Kampfmittel anwenden, die dem friedlichen Charakter der Demokratie entsprechen. Aber die Wahl der Kampfmittel ist ihm nicht gegeben. Es muss, ob es will oder nicht, mit jenen Waffen kämpfen, die seine Klassengegner ihm auferlegen“ (Deutsch 1926, S. 118)

Dieses Zitat des führenden sozialdemokratischen Politikers und Obmannes des Schutzbundes Julius Deutsch spricht in sozialistischer Tonart die Sprache der von der Diktatur bedrohten Demokratie. Aus dieser Haltung heraus erscheint die Schutzbundgründung also wirklich alternativlos. Doch lässt sich dies zwangsläufig schlussfolgern?

Wir erinnern uns an die Einwände der »gemäßigten Gruppe«, dass der Schutzbund unter anderem eine „unnötige Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze“ und ein „immer größeres Wettrüsten“ nach sich ziehen würde. Es gab also Stimmen, die die Problematik erkannten und sogar Schlüsse daraus zogen: Die Gründung einer militärischen Formation sollte hinausgeschoben werden. Bis hierher hören wir die klassischen pazifistischen Argumente, wie sie angesichts von drohenden Eskalationen auch richtig sind. Aber mir als Autor, mit dem unverdienten Verdienst, 100 Jahre später auf die Situation blicken zu können und das noch dazu mit dem Gandhi’schen Beispiel ausgerüstet, drängt sich die Ansicht auf, dass hier ein unvollständiger Pazifismus am Werk war. Mut und Ratlosigkeit treten hier Hand in Hand auf. Mut, weil angesichts des gefährlichen Gegners nicht Zuflucht in der Hysterie gesucht wurde, Ratlosigkeit aber, weil das simple Aufschieben der Schutzbundgründung sicher keine Lösung war, und den Verdacht bestätigt, dass der Pazifismus in seiner Not einfach zum Zurückweichen neigt.

Man vermisst zwei Dinge: Warum wurde nicht der (General-)Streik erwogen, das sozialistische Pendant zu den Satyagraha-Aktionen des Gandhi’schen, zivilen Ungehorsams? Dieser, also der Streik, war der Sozialdemokratie und ihren Gewerkschaften vertraut, es hätte sich also keineswegs um eine Innovation aus dem Nichts gehandelt und eine funktionierende, disziplinierte Organisation, die den Streik getragen hätte, war vorhanden. Was den Streik betrifft, hätte es also eine weitgehende Übereinstimmung mit Gandhi gegeben.

Aber wie wäre der Streik begründet worden? Es ist das Anliegen dieses Essays, besonders diesen Punkt herauszustellen. Es ist nicht vorstellbar, dass die sozialdemokratischen Führer, denen von mir ein moderner Humanismus zugebilligt wird, einen Streik als Alternativoption zu einem militärischen Vorgehen damit begründet hätten, dass das Leben der gegnerischen Personen eben »heilig« wäre. Oder denselben Inhalt zumindest in säkularer Sprache (»schützenswert«) wiedergegeben hätten. Geschweige denn, dass eine solche Begründung von der sozialdemokratischen Gefolgschaft verstanden worden wäre. Vielleicht hätte man noch gesagt, dass man friedliche Mitteln bevorzuge, dass man Blutvergießen verhindern möchte, dass man gegen Gewalt sei. Doch in einer solchen Formulierung liegt ein feiner, aber wichtiger Unterschied zu einer Formulierung, in der man sich als politischer Akteur selber unmissverständlich zur Garantie der Sicherheit der Gegenseite verpflichtet.

Diese Garantie könnte, wie es Gandhi im XIII. Kapitel seines Buches »Satyagraha in Südafrika« erläutert, eine schlechte und eine gute Form haben (Gandhi 1972, S. 103ff.). Die schlechte Form hat das Merkmal von nachlaufender, ängstlicher Besänftigung des Gegners, sie wäre Ausdruck von Schwäche, Angst und Kleinbeigeben und hätte wohl wirklich die befürchtete Niederlage zur Folge.

Die gute Form wäre, dass man diese Garantie aus eigenem Antrieb und mit der Motivation ausspricht, einem selbstgesetzten Maßstab gerecht zu werden. In diesem Fall würde der Garantie der Unversehrtheit des Gegners nicht der zu Recht befürchtete Makel der Schwäche, des bettelnden Nachlaufens, der Nachgiebigkeit und des Relativismus anhaften.

Weiter: Die Garantie hätte ernst gemeint sein und in ihrer Begründung über den kalkulierten Eigennutz hinausgehen müssen. Sie hätte deshalb den Charakter eines nicht mehr weiter begründbaren Bekenntnisses gehabt.8 Wie wird sie für den Gegner glaubwürdig? Diejenigen, die die Garantie aussprechen, brauchen eine Vorgeschichte, die sie glaubwürdig macht. Und, je weiter fortgeschritten der Konflikt ist, umso schwieriger wird es sein, die Sicherheit der Gegenseite mit zu bedenken.

Es wird also einen Kairos, eine günstige Gelegenheit brauchen und nun spricht einiges dafür, dass dieser Kairos 1923/1924 bestand, der allerdings nah und fern zugleich war. Nah: Es bestand aufseiten der Sozialdemokratie eine starke, disziplinierte Organisation, die nur schwer zu übergehen gewesen wäre, hätte sie die Energie statt in den Aufbau des Schutzbundes in die Vorbereitung des Generalstreiks samt akkurater Begründung und Zusicherung der Sicherheit gesteckt. Auch gab es das umfassende, sozialistische Friedensdenken, mit seinen Stärken und seinen Schwächen, das immerhin so gelagert war, dass die Argumente der »gemäßigten Gruppe« nicht als exotisch erschienen. Fern: Dass das Leben der (bewaffneten) Gegner gleich viel wert sei wie das der eigenen Leute, diese Begründung öffentlich abzugeben, lag außerhalb der Vorstellungskraft sowohl der damaligen Führung als auch ihrer Gefolgschaft. Und auch im Kontext zeitgenössischer Geschichtsbetrachtung hat dieses Gedankenspiel für uns Heutige gewiss einen fremdartigen und irrealen Charakter.

So bleibt als Ergebnis eine Frage: Unser sozialdemokratisch-moderner Vorfahr wäre wahrscheinlich eher imstande gewesen, die Garantie der Unversehrtheit auszusprechen als sein vormoderner Gegner christlichsozialer Prägung. Warum aber war er dazu trotzdem nicht imstande?

Anmerkungen

1) Der englische Autor R. Cockett (2023) weist in seinem neuen Buch »Vienna. How the city of ideas created the modern world« wieder einmal, wie schon C.E. Schorske (1993) und W.M. Johnston (2011) auf den erstaunlichen Innovationsgeist in Wien, aber auch in Österreich vor dem Zweiten Weltkrieg hin. Hingewiesen sei u.a. auf Namen wie Freud, Jahoda, Kelsen, Mach, Meitner, Popper, Schönberg, Wittgenstein.

2) Als »Austromarxismus« wird sowohl die theoretische als auch die praktische Seite der österreichischen Sozialdemokratie, vor allem zwischen 1918 und 1934 bezeichnet.

3) Das Manuskript hat folgenden archivarischen Fundort: Österreichisches Staatsarchiv Wien, Aktenbestand „Verschiedene Schriften zur Geschichte des österreichischen Bundesheeres“ AB 584-4-34, Faszikel 23, Akten und Pläne über Waffen im Arsenal und deren Beschlagnahme 1923-1929.

4) K.u.k meint „kaiserlich und königlich“, gemeint ist die Armee der gerade untergegangenen Monarchie.

5) Man kann gegen diese Darstellung nachvollziehbarerweise einwenden, dass hier das Opfer zum Schuldigen gemacht wird. Das soll keineswegs geschehen. Aber es ist dennoch das Anliegen des Essays zu prüfen, ob die Sozialdemokratie, als schwächere, aber aufsteigende Repräsentantin einer modernen Zukunft einen Beitrag zur Deeskalation hätte leisten können.

6) Einen Tag vorher, am 13. April fand etwa 1.000 km entfernt das Massaker von Amritsar mit 379 Toten statt, ebenfalls im Zusammenhang mit der »Rowlatt-Satyagraha-Kampagne« verursacht von englischen Truppen. In seiner Rede geht Gandhi darauf nicht ein, wahrscheinlich, weil er über keine oder nur unzureichende Informationen verfügte.

7) Ich zitiere hier Viktor Klemperer, der über Gustav Landauers Engagement in der Münchener Räteregierung in seinem Tagebuch schreibt: „Landauer (…) scheint wieder lebendig, (…) allen politischen Notwendigkeiten und Selbstverständlichkeiten meilenfern (…) mit Fingern, die von Blut und Gier rein sind (…) und sicherlich bald (…) zu Gewalttaten gedrängt oder von Gewalttaten beiseite geschoben.“ (Klemperer 2015, S. 113)

8) Damit geht die Garantie der Unversehrtheit des Gegners über eine pragmatische Begründung hinaus. Wäre die Garantie nur pragmatisch begründet, bleibt im vorliegenden Fall der Verdacht, dass sie in einem günstigen Moment wieder fallengelassen wird. Damit wird in der Diskussion pragmatische vs. prinzipielle Gewaltfreiheit für letztere Stellung bezogen. Allerdings im Hinblick auf eine konkrete historische Situation, in der ein relatives Machtgleichgewicht herrschte. Die Sozialdemokratie war die schwächere Seite, hatte aber reale Chancen, die Macht zu erobern. Zur genannten Diskussion siehe z.B. Müller und Schweitzer (2011).

Literatur

Brown, J. (1972): Gandhi’s Rise to Power. Indian Politics 1915-1922. Cambridge: University Press.

Deutsch, J. (1926): Antifaschismus. Proletarische Wehrhaftigkeit im Kampf gegen den Faschismus. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlungen.

Edmondson, C. E. (1995): Heimwehren und andere Wehrverbände. In: Talos, E. u.a. (1995): Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933. Wien: Manz, S. 261 – 277.

Gandhi, M. (1972 [1928]): Satyagraha in South Africa. Ahmedabad: Navajivan Publishing House.

Gandhi, M. (1999): The collected works of Mahatma Gandhi. Band 15. New Delhi: Publications Divisions Government of India.

Gandhi, M. (2011): Die Stimme der Wahrheit. Ausgewählte Werke in 5 Bänden. Hrsg. von Narayan S. Göttingen: Wallstein Verlag.

Johnson, W.M. (2011 [1972]): The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848-1938. Oakland: University of California Press.

Klemperer, V. (2015): Revolutionstagebuch 1919. Berlin: Aufbau.

Müller, B.; Schweitzer, C., (2011): Gewaltfreiheit als dritter Weg zwischen Konfliktvermeidung und gewaltsamer Konfliktaustragung. In: Meyer, B. (Hrsg.): Konfliktregelung und Friedensstrategien. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Springer, S. 101-124.

Rothermund, D. (1997): Mahatma Gandhi. Eine politische Biographie. München: C.H.Beck.

Schorske, C. E., (1993 [1980]): Fin-de-siecle Vienna. Politics and culture. New York: Random House.

Vlcek, C. (1972): Der Republikanische Schutzbund in Österreich. Geschichte, Aufbau und Organisation. Wien: Univ. Dissertation.

Wolfgang Weilharter ist Projektmanager und Mediator am »Austrian Institute for Peace/Österreichisches Friedenszentrum« in Stadtschlaining und Wien mit dem Schwerpunkt »Kommunale Friedens- und Konfliktarbeit«.

Vor 60 Jahren: Der »Thirring-Plan«

Vor 60 Jahren: Der »Thirring-Plan«

Abrüstung als Test für Entspannung und friedliche Koexistenz

von Werner Wintersteiner

Im Jahre 1963 kam aus dem neutralen Österreich ein konkreter Vorschlag, wie in die ins Stocken geratenen Abrüstungsbemühungen der Supermächte eine neue Dynamik kommen könnte. Vielleicht hätte diese Idee, wäre sie realisiert worden, zu einem früheren Ende des Kalten Krieges beigetragen und das Antlitz Europas positiv verändert. Die Rede ist vom sogenannten »Thirring-Plan« zur einseitigen Abrüstung Österreichs. Ein historisches Studienobjekt, das Lehren für die heutige kriegerische Zeit bereithält.

Blicken wir 60 Jahre zurück: 1963 kam aus dem neutralen Österreich ein konkreter Vorschlag, der sogenannte »Thirring-Plan«, zur einseitigen Abrüstung Österreichs. Dieser sah die Auflösung des Bundesheeres unter UNO-Kontrolle vor. Damit sollte – in einer Zeit, die für Entspannung und Abrüstung ein günstiges politisches Klima bereithielt – das neutrale Österreich einen Anstoß für weltweite Abrüstung und Ächtung der Kriege geben. Eine historische Episode? Eine versäumte Gelegenheit? Ein Vorbild für die Gegenwart? Auf jeden Fall ein historisches Studienobjekt, das Lehren für die heutige kriegerische Zeit bereithält.

Hans Thirring – Wissenschaftler, Friedensdenker und Aktivist

Professor Hans Thirring (1888-1976), der Verfasser des Memorandums »Mehr Sicherheit ohne Waffen«, war eine anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Theoretischen Physik, der u.a. einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Relativitätstheorie geleistet hatte. In der NS-Zeit in den Zwangsruhestand versetzt, verfasste er sein philosophisches Hauptwerk, »Homo Sapiens«, in dem er den Weg „vom Nationalismus zum Weltbürgertum“ vorzeichnete. Als er 1946 seine Tätigkeit an der Universität Wien wieder aufnehmen durfte, verfasste er als erster Wissenschaftler weltweit ein Werk über »Die Geschichte der Atombombe«, das bald als Standardwerk angesehen wurde und in dem er bereits den Bau der Wasserstoffbombe voraussah. Seither engagierte er sich mit all seinen Kräften für Abrüstung und Frieden. Militarismus und Krieg betrachtete Thirring seit seiner Jugend als „Schandfleck der Zivilisation“ (vgl. z.B. Thirring 1960, S. 4). So begann er, der Physiker, sich mit Psychologie und Politik zu beschäftigen. Mit seinem Buch »Atomkrieg und Weltpolitik« (1948) profilierte er sich als Friedensaktivist. Als einziger deutschsprachiger Wissenschaftler wurde er zur ersten »Pugwash-Konferenz« 1957 nach Kanada eingeladen. Er wurde zum Mitbegründer der gleichnamigen Vereinigung von Naturwissenschaftler*innen, die vor den Gefahren der atomaren Aufrüstung warnt. Zweimal brachte er die Pugwash-Konferenzen nach Österreich und sorgte damit für die Verbreitung der Friedensidee – jenseits der beiden ideologischen Lager im Kalten Krieg.

Der »Thirring-Plan«

Als Mitglied des Bundesrats, der zweiten Kammer des österreichischen Parlaments, entwickelte Hans Thirring 1963 das Memorandum »Mehr Sicherheit ohne Waffen«, den sogenannten »Thirring-Plan« zur einseitigen Abrüstung Österreichs. Dieser sah parallel zur Auflösung des Bundesheeres Verträge mit den sechs Nachbarstaaten vor, die erklären würden, keinerlei territoriale Ansprüche gegenüber der Republik zu haben. Als Gesten ihres guten Willens würden diese Staaten ihre Streitkräfte von den Grenzen zurückziehen. Österreich würde von der UNO als Modell eines abgerüsteten Staates und als Testobjekt der Möglichkeit friedlicher Koexistenz anerkannt. Unbewaffnete UNO-Soldaten würden Österreichs Grenzen überwachen. Die nationale Abrüstung Österreichs sollte also einen internationalen Effekt auslösen.

Thirrings Plan kam nicht aus heiterem Himmel, sondern beruhte auf mehrjährigen Vorarbeiten. Nach den Entspannungssignalen beim Treffen zwischen Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy in Wien im Juni 1961, richtete der Physiker einen offenen Brief an die beiden Regierungschefs, der eine Reihe von Fragen bezüglich Kriegsgefahr, Rüstung und Abrüstung enthielt. Er erhielt tatsächlich ausführliche offizielle Antworten. Dadurch ermutigt ging Thirring daran, seinen Plan auszuarbeiten. Die Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Welt nahe an einem Atomkrieg war, bestärkte ihn erst recht in der Suche nach neuen Wegen der Entspannung.

Das strategische Ziel der einseitigen Abrüstung

Thirring ging davon aus, dass – angesichts der Atomkriegsgefahr – die allgemeine Abrüstung nicht nur dringend notwendig war, sondern dass auch eine politische Konstellation herrschte, in der diese Notwendigkeit allgemein begriffen wurde. Das hauptsächliche Hindernis dafür, dass der Einsicht auch Taten folgten, war seiner Auffassung nach das gegenseitige Misstrauen. Daher würden vertrauensbildende Maßnahmen gesetzt und ein positiver Präzedenzfall geschaffen werden müssen, um das Eis zu brechen. Österreich wäre seinem Plan nach dabei die Vorreiterrolle zugekommen.

Für seine Annahmen gab es durchaus gute Gründe. Zu Beginn der 1960er Jahre wurden, trotz Kubakrise, immer wieder Versuche der Deeskalation im Kalten Krieg unternommen. 1962 verständigten sich die Großmächte auf die multilaterale Genfer Abrüstungskonferenz, die unter Schirmherrschaft der UNO stattfand und zunächst 17 Staaten umfasste. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung wurde von einer zunehmenden Anzahl führender Staatsmänner anerkannt. Das internationale Klima war günstig für Abrüstungsvorschläge.

Thirring führte für die Notwendigkeit und Möglichkeit der Abrüstung politische und ökonomische Argumente an. Entscheidend war für ihn der „radikale Umbruch der Weltsituation […], der durch die Drohung des Atomtods und durch den Übergang von der Ära Stalins zu der Chruschtschows verursacht“ (Thirring 1963, S. 13) wurde. Er erwähnte auch den „ungeheuren materiellen Nutzen, der aus der Einsparung der gegenwärtig bei dem Rüstungswettlauf vergeudeten mehr als 100 Dollarmilliarden jährlich resultieren würde“ (ebd., S. 7). Zugleich brachte er aber auch ein grundsätzliches ethisches Argument ein, indem er dafür plädierte, dass „doch in erster Linie die moralische Seite der Angelegenheit mehr Beachtung finden müßte als bisher. Es ist eine Schande und Schmach für die sogenannte zivilisierte Menschheit, daß man heute, fast zwei Jahrtausende nach dem Kreuzestod des Erlösers und zu einer Zeit, da man tief in die Geheimnisse der Atomkerne eindringt und den Mond zu erobern gedenkt, noch immer an der primitiv barbarischen Methode der Austragung zwischenstaatlicher Konflikte durch organisierten Massenmord festhält und für das Weiterbestehen dieses tierischen Atavismus keinen triftigeren Grund angeben kann als das Schauermärchen, daß man ohne kriegerische Vorbereitungen von der Gegenseite umgebracht würde.“ (ebd.)

Als Hindernis identifizierte er allerdings den Widerspruch zwischen dem allgemeinen Wunsch nach Abrüstung und der großen Skepsis „gegenüber der Frage ihrer Realisierbarkeit. Eine jahrtausendealte militaristische Tradition einerseits und dazu das durch unkluge Handlungen beider Seiten immer wieder genährte gegenseitige Mißtrauen andererseits sind schwere psychologische Hemmnisse. Und dazu kommt natürlich noch der nicht zu unterschätzende Widerstand jener Kreise, die an der Aufrechterhaltung des Rüstungswettlaufs finanziell interessiert sind und daher darauf bedacht sein müssen, das gegenseitige Mißtrauen weiter zu schüren.“ (ebd.) Und dieses Misstrauen war in der Tat ein starker Faktor.

Obwohl, wie Thirring ausführte, die „überwiegende Bevölkerungsmehrheit“ aller Länder gegen den Militarismus sei, werde dieses Streben „dadurch unterdrückt, daß die Abrüstungsgegner ständig mit dem Finger auf die Rüstung der Gegenseite hinweisen und diese als eine Angriffsvorbereitung deuten, die eine Aufrüstung der eigenen Nation als eine selbständige Abwehrmaßnahme notwendig erscheinen läßt. Aus diesem Zirkel von gegenseitiger Drohung und Furcht werden wir nur dann herauskommen, wenn endlich einmal ein günstig gelegener Staat nach Prüfung der Lage den entscheidenden mutigen Schritt tut, von selbst mit der Abrüstung anzufangen und dadurch mit gutem Beispiel der Welt voranzugehen.“ (ebd., S. 23)

Daraus ergab sich, wie Thirring argumentierte, eine Situation für neutrale Länder, welche „die in der Geschichte vielleicht noch nie dagewesene Gelegenheit bietet, aus einem Dienst, den sie der ganzen Welt erweisen, gleichzeitig selbst auch erheblichen Gewinn zu erzielen.“ (ebd., S. 5) Konkret: „Wenn nun ein in geeigneter Lage befindlicher neutraler Staat seine bedingte Bereitschaft zu einer einseitigen vollständigen Abrüstung zum Ausdruck bringt, so macht er sich dadurch automatisch zum Testobjekt für die Vertrauenswürdigkeit von Nichtangriffsgarantien. Würde irgendein Nachbar einen Angriff auf das wehrlose Land unternehmen, so würde die Möglichkeit zu einer allgemeinen Abrüstung auf Jahrzehnte hinaus hoffnungslos begraben sein.“ (ebd.) Daher sei der Schutz des unbewaffneten Staates im Interesse aller anderen Staaten.

In seiner Denkschrift untersuchte und verglich Thirring die Position verschiedener neutraler Staaten und kam zu dem Schluss, dass in Österreich am ehesten die Bedingungen für einen Testlauf zur Abrüstung gegeben seien. Das Land sei ausschließlich von Staaten umgeben, die keinerlei Gebietsansprüche gegenüber Österreich stellten, und es habe ohnehin ein nur schwaches Heer und nicht die ökonomische Kapazität, dieses substantiell zu vergrößern. Er präzisierte, wohl etwas zu optimistisch, dass der früher vorherrschende „kollektive Aggressionswillen“ im Atomzeitalter der „Abscheu vor einem neuen Krieg“ und der Furcht vor der totalen Vernichtung gewichen sei. Diese Wahrnehmung bezog sich auf den Ost-West-Konflikt, während Thirring den Nord-Süd-Konflikten (gerade angesichts der Zeit der Entkolonialisierung) offenbar keine Beachtung schenkte.

Zugleich sah er doch die Möglichkeit, durch die Abrüstung mit den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang engere Kontakte zu knüpfen: „Das Entscheidende an der Wirkung einer österreichischen Abrüstung wird darin bestehen, daß die Verbundenheitsgefühle aus der Zeit der alten Monarchie durch den gemeinsamen Horror vor einem Atomkrieg und das vitale Interesse an einer Entspannung wieder neues Leben gewinnen können.“ (ebd., S. 18)

„Darum wird meiner Überzeugung nach Österreich im abgerüsteten Zustand inmitten von wohlgesinnten und auf friedliche Koexistenz bedachten Nachbarn – und dazu als scharf beobachtetes Testobjekt des vordringlichsten Belanges der ganzen Welt – bedeutend sicherer leben als im bisherigen Zustand.“ (ebd.)

Über die Tragweite seines Plans war sich Thirring völlig klar: „Österreich könnte als erster neutraler Staat den fatalen Teufelskreis von gegenseitigem Mißtrauen, Drohung und Furcht brechen und damit als Keimzelle für die allgemeine Abrüstung den Kern einer Gruppe von Staaten bilden, die ihre Verpflichtung gegenüber den Vereinten Nationen, auf Waffengewalt zu verzichten, nicht mehr mit der Ausrede verletzen können, man sei von der Gegenseite bedroht“ (zitiert nach Der Antimilitarist Nr. 35/1964, S. 2).

Widerstand gegen den Thirring-Plan

Thirring schlug vor, den Plan von einer Kommission aus Fachleuten ernsthaft prüfen zu lassen. Dazu kam es allerdings nicht. Denn sein Plan wurde von der österreichischen Regierung eindeutig abgelehnt. Seine eigene Partei, die Sozialisten, damals in großer Koalition mit der konservativen Volkspartei regierend, betonten stattdessen ihr Bekenntnis zur bewaffneten Neutralität. Aus dem Ausland gab es allerdings teilweise begeisterte Zustimmung, etwa durch Philip Noel-Baker, den ehemaligen Leichtathleten und Mitglied des britischen Parlaments, Friedensnobelpreisträger von 1959. In seinem Schreiben ging er noch weiter als Thirring selbst: „Ich stimme vollkommen deinem Argument bezüglich der nationalen Verteidigung von Österreich, der Schweiz, Schweden, Irland, Finnland zu. Ich bin sicher, dass sie deinen Plan ruhig umsetzen könnten, mit einem großen Gewinn für sie selbst.“ (Brief vom 25. August 1963 an Hans Thirring1) Etwa zeitgleich legte auch Ernst Schönholzer einen Aufruf zur totalen Abrüstung der Schweiz vor, der allerdings eher ein allgemeiner Appell als ein konkreter Plan war. Trotz der Ablehnung des Thirring-Plans hatte er innenpolitisch positive Auswirkungen und gab den Kräften Aufschwung, die die Wehrdienstzeit in Österreich verkürzen wollten. Zur internationalen Wirkung meinen Thirrings Biographinnen: „Der Thirring-Plan mit dem Testfall Österreich war zweifellos zu seiner Zeit noch zu weitgehend. Aber mit den Gedanken und Vorschlägen Thirrings für atomwaffenfreie Zonen ist eine Politik der Abrüstung ins Rollen gekommen […].“ (Zimmel und Kerber 1992, S. 122)

Und heute?

Mit seinem kühnen Plan hat sich Hans Thirring dem generellen politischen Klima der 1960er Jahre in Österreich entgegengestellt, und daran ist er wohl in erster Linie gescheitert. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig sich diesbezüglich bis heute geändert hat. Thirring sprach nämlich von „einer durch die Pressehetze ohnehin schon zu Haßgefühlen aufgestachelten Bevölkerung“ und stellte fest, „daß in der Volksmeinung bis in hochgebildete Kreise hinauf im Osten wie im Westen gewisse stereotype Ansichten über die Weltlage entstehen, die man als das ,weiße Märchen‘ bzw. ,rote Märchen‘ bezeichnen könnte.“ (Thirring 1962, S. 438) Damit meinte er die Feindbilder kommunistische Sowjetunion bzw. amerikanischer Imperialismus. Und er setzte fort: „Beiden Märchen ist das magische Denken mit der Vorstellung von Engeln und Teufeln gemeinsam: Während die eigene Seite über allen Zweifel erhaben engelsrein sei, könne man dem Gegner jede Tücke zutrauen, gegen die man mit entsprechend überlegener Stärke gerüstet sein muß.“ (ebd.) So müssen wir leider feststellen, dass hier eine große Gelegenheit aus Kleinmut, Konservatismus und dem Vorherrschen militaristischer Denktraditionen versäumt wurde.

Da drängen sich Analogien angesichts der allgemeinen Kriegshysterie seit Beginn des russisch-ukrainischen Krieges auf. Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Konflikts nach 2014 sind aus ähnlichen Gründen gescheitert. Und seit der Krieg im Frühjahr 2022 mit dem russischen Angriff offen ausgebrochen ist, wurde auch schon manche Möglichkeit, ihn zu stoppen, außer Acht gelassen.

Es ist es doch bezeichnend, dass etwa der Aufruf des Friedensnobelpreisträgers Oscar Arias aus Costa Rica und des Präsidenten des Global Security Institute, Jonathan Granoff, vom Sommer 2022 keine Chance auf eine ernsthafte Diskussion bekam. Arias, Ex-Präsident Costa Ricas, eines Staats, der tatsächlich ohne Armee ist, also sozusagen den Thirring-Plan verwirklicht hat, schlug vor, dass die NATO Russland mit einer einseitigen Vorleistung zu Friedensverhandlungen motivieren sollte: „Um beide Seiten wieder in den Dialog miteinander zu bringen, bedarf es einer dramatischen Geste. Deshalb schlagen wir vor, dass die Nato den Abzug aller US-Atomsprengköpfe aus Europa und der Türkei plant und vorbereitet, ehe es zu Verhandlungen kommt. Der Abzug würde erfolgen, sobald Friedensbedingungen zwischen der Ukraine und Russland vereinbart worden sind. Dies würde Putins Aufmerksamkeit erregen und könnte ihn an den Verhandlungstisch bringen.“ (Arias und Granoff 2022, o.S.)

Was wir heute umso dringender brauchen, ist ein visionäres Denken im Geiste Thirrings, um aus den gegenwärtigen verheerenden und weltpolitisch äußerst bedrohlichen Kriegen herauszufinden. Dabei sollte man die ermutigenden Worte bedenken, die damals ein vorsichtiger Befürworter Thirrings geäußert hat:

„Man darf auch nicht übersehen, daß Utopien von heute schon morgen oder vielleicht auch erst übermorgen zur Realität werden können. Zweifellos waren die Forderungen, welche die Arbeiterbewegung vor einem Jahrhundert in Deutschland und in Österreich erhob, Utopien, die deshalb belächelt wurden. Viele dieser visionären Wünsche sind längst erfüllt. Realisiert wurden auch Maßnahmen, die vor hundert Jahren nicht einmal die größten Utopisten dachten oder sagten. Man sollte also den Wert von Ideen, die uns heute utopisch vorkommen, nicht unterschätzen.“ (Schranz 1964, S. 175f.)

Anmerkung

1) Österreichische Zentralbibliothek für Physik, Wien: Nachlass Hans Thirring. B 35-1259/2. URL: phaidra.univie.ac.at/o:129250.

Literatur

Arias, O; Granoff, J. (2022): Nuclear strategy and ending the war in Ukraine. The Hill, 19.7.2022.

Schranz, E. (1964): Abrüstung in Österreich? Internationale Rundschau 3, S. 175-176.

Thirring, H. (1960): Der Mensch im 20. Jahrhundert. Friede. Zeitschrift des deutschen Versöhnungsbundes, Nr. 11/12, S. 2-7.

Thirring, H. (1962): Ein Physiker interviewt Staatsmänner. Physikalische Blätter 18 (9), S. 431-439.

Thirring, H. (1963): Mehr Sicherheit ohne Waffen. Denkschrift an das österreichische Volk und seine gewählten Vertreter. Wien: Jugend und Volk.

Zimmel, B.; Kerber, G. (Hrsg.) (1992): Hans Thirring. Ein Leben für Physik und Frieden. Wien: Böhlau.

Werner Wintersteiner, Univ.-Prof. i.R. der Alpen-Adria Universität Klagenfurt (AAU), Österreich, ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der AAU.

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Die Erschließung der »terra australis incognita«

von Cornelia Lüdecke

Um den heutigen politischen Sonderstatus der Antarktis zu verstehen, muss man die bewegte Entdeckungsgeschichte des Kontinents kennen. Immer wieder prallten in den knapp 200 Jahren der Erkundungsphase geographische und geophysikalische Interessen auf nationales Wetteifern, ökonomische Ausbeutung und einander widersprechende territoriale Ansprüche. Doch wie entstand nach und nach das Bild und das Wissen von einem geschlossenen, von Eis überzogenen neuen Kontinent im Süden, auf dem sich der geographische Südpol befand? Unsere Autorin zeichnet es nach.

Bereits im Altertum wurde aus Symmetriegründen auf der Südhalbkugel analog zum Norden eine unbewohnbare kalte Zone postuliert, deren Wesen noch mehrere Jahrhunderte lang unbekannt war. Erst auf der 2. Weltreise (1772-1775) des Engländers James Cook sollte diese »terra australis incognita« erforscht werden. An drei Stellen wurde der Südpolarkreis bis 71°10’S überquert, aber außer festem Eis oder hohen Eisinseln sahen sie nirgends Land. Cook vermutete deshalb, dass sich dort eher ein eisiger Ozean befinden würde. Danach erlosch das Interesse am sagenhaften Südkontinent für fast 50 Jahre.

Erste Entdeckungen im Süden

Als Mitte Februar 1819 ein englisches Handelsschiff von seiner Route um Kap Hoorn ungewollt nach Süden abkam, sichtete Kapitän William Smith zufällig eine der Süd-Shetland-Inseln (Headland 2009). Auf seiner nächsten Reise entdeckte er King George Island, wo er sehr viele Robben und Wale sah. Diese Nachricht löste nicht nur unter den Robbenschlägern einen Boom aus. Der Deutschbalte Fabian Gottlieb Bellingshausen sollte die Antarktis für das Zarenreich näher erkunden (1819-1821). Bei 69°21’S begegnete er am 27. Januar 1820 „kontinentalem Eis von außerordentlicher Höhe“ (Gurney 1983, S. 236). Dann sah er bei 67°7’S einen „Kontinent aus Eis, dessen Ränder senkrecht abbrechen“ (heute: Prinzessin Martha Küste) und entdeckte die Peter-I.-Insel und Alexander-Insel (ebd., S. 247). Fast zeitgleich, am 30. Januar 1820, sichtete auch der britische Seefahrer Edward Bransfield das Trinity „Land, teilweise mit Eis bedeckt“ (Antarktische Halbinsel) (ebd., S. 235f.).

Die Beurteilung, wer nun die Antarktis als erster entdeckt hat, ist müßig, denn was hatten die Männer anderes gesehen als Eis und vielleicht ein paar Felsen? Wie hätten sie beurteilen können, dass sich dahinter ein Kontinent verbarg?

Ausbeutung durch Robbenschläger und Walfänger

Schnell verbreiteten sich die Nachrichten über die lukrativen Gebiete im Süden, so dass bereits in der Saison 1821/22 rund 34 britische und amerikanische Schiffe mit etwa 1.000 Männern die dortigen Robbenbestände fast völlig vernichteten. Um neue Fanggründe zu suchen, startete der britische Robbenschläger James Weddell eine Expedition, die ihn westlich der Antarktischen Halbinsel weit nach Süden führte, wo er am 20. Februar 1823 die Rekordbreite von 74°15’S und 34°16’W erreichte, ohne jegliches Zeichen von Land zu sehen. Heute wird diese tiefe Einbuchtung in den atlantischen Abschnitt des Antarktischen Kontinents Weddellmeer genannt. In seinem Reisebericht schlug Weddell angesichts der Vernichtung der Robbenbestände schon damals vor, statt wie bisher jährlich 320.000 Pelzrobben zu töten, die Zahl auf 100.000 zu beschränken.

Dessen ungeachtet segelten Jahr für Jahr Robbenschläger nach Süden und erkundeten neue Gebiete. Darunter befand sich die Expedition der Gebrüder Enderby (1830-1833) unter Kapitän John Biscoe. Er entdeckte Graham Land (Teil der Antarktischen Halbinsel) und das Enderby Land in der Ostantarktis. Biscoe bezeichnete seine Entdeckungen als „vorgelagerte Landzungen eines Südkontinents“ (ebd., S. 361). Weitere Landsichtungen entlang des Südpolarkreises wurden von den Briten Peter Kemp (Kemp Land) und John Balleny (Balleny Inseln und Sabrina Küste in der Ostantarktis) gemacht.

Die Zeit des Robbenschlags zur Erbeutung der Felle ging in den 1830er Jahren zu Ende und die Expeditionen in antarktische Gewässer wurden nunmehr für die Trangewinnung vom Seeelefanten und Walen durchgeführt, der für die Industrialisierung als Schmiermittel und später als Brennstoff für die Straßenbeleuchtung benötigt wurde.

Suche nach dem südlichen Magnetpol

Die kommerzielle Ära wurde um 1840 durch eine weitere Initiative erweitert, die von Alexander von Humboldt ausging. Nachdem 1831 der Brite James Clark Ross im Nordosten Kanadas buchstäblich auf dem Magnetpol der Nordhemisphäre stand, regte Humboldt die Suche nach dem südlichen Magnetpol an, den Carl Friedrich Gauß 1838 aufgrund der weltweit gesammelten magnetischen Daten in erster Näherung bei 66°S und 146°O bestimmte (Lüdecke 1994). Daraus entwickelte sich ein Wettlauf darum, in der englischsprachigen Literatur auch »magnetic crusade« (magnetischer Kreuzzug) genannt, wer diesen Pol als erster finden würde. Dabei spielten das wissenschaftliche aber auch nationales Prestige eine wesentliche Rolle. Der Franzose Jules Dumont d’Urville entdeckte auf seiner Südseeexpedition (1837-1840) das Adélie Land, während die amerikanische Expedition (1838-1842) unter Charles Wilkes rund 2.700 km der ostantarktischen Küste kartierte. Ross hingegen entdeckte auf der britischen Expedition (1839-1843) das Victoria Land und drang im später nach ihm genannten Rossmeer bis auf 78°10’S vor, wo eine hohe Eismauer, das heutige Rossschelfeis, ein weiteres Vordringen verhinderte. Schließlich konnte er im Februar 1841 den Magnetpol vom Schiff aus bei 75°05’S und 154°08’O bestimmen. Die Kenntnis der antarktischen Region wurde durch diese Expeditionen erheblich erweitert, aber ob die Landsichtungen tatsächlich zu einem Kontinent gehörten, war immer noch offen.

Bisher ging man allgemein von der Vorstellung aus, dass die Arktis ein gefrorener Ozean war, der wie ein See nur vom Ufer aus zufror. Zusätzlich gelangten im Frühling von den Flüssen im Norden Sibiriens und Nordamerikas große Eisschollen ins Meer. Einige Schollen überlebten und wuchsen im folgenden Winter mit anderen zu größeren Gebilden zusammen. Diese Eisschollen schmeckten süß und konnten deshalb nur von den Flüssen stammen. Dass salziges Meerwasser gefrieren kann, war damals unbekannt. Im Gegensatz zur Arktis war die Antarktis von einem Ozean umgeben, dessen Wasser wärmer war als das in der Arktis und auf dem viel Nebel herrschte, der eine weite Sicht verhinderte. War die Antarktis nun ein Ozean mit wechselnder Eisbedeckung (Tammiksaar und Lüdecke 2023)?

In den folgenden fünfzig Jahren (1840-1890) erfuhr die Öffentlichkeit wenig über die Südpolarregion. Es war die Ära der Walfänger und Robbenschläger, die weiter nach Süden vorstießen (Headland 2009). Die Berichte über ihre Entdeckungen wurden vor der Konkurrenz jedoch geheim gehalten und in den Archiven der Auftraggeber aufgehoben.

Internationale Kooperation zur Erforschung der Antarktis

Der Norweger Fridjof Nansen hatte 1888 erstmals Grönland überquert und gezeigt, dass sich dort eine Eiskappe von fast 3.000m Höhe befand, von der Gletscher ins Meer abbrachen (Nansen 2016). Nansens Reisebericht gab den Anlass, sich erneut wissenschaftlich mit der Region um den Südpol zu beschäftigen, die auf den Karten als Antarktischer Ozean, »Unerforschtes Gebiet« oder »Vermeintlicher Umriss des antarktischen Kontinents« bezeichnet wurde (Clancy et al. 2014). Sowohl Clements Markham in Großbritannien als auch Georg Neumayer in Deutschland wollten eine Südpolarexpedition aussenden, „um das bedeutendste der noch zu lösenden geographischen Probleme […] vor Schluss des 19. Jahrhunderts gelöst zu sehen“, wie es die Teilnehmer des VI. Internationalen Geographenkongresses in London beschlossen (Lüdecke 2015, S. 15). Damit regte die geographische Community sozusagen eine Milleniumsaufgabe an.

Der Belgier Adrien de Gerlache de Gomery folgte dem Aufruf als erster und erforschte den westlichen Teil von Graham Land. Weil sein Schiff vom Eis festgesetzt wurde und sie 1898 überwintern mussten, konnten sie die ersten Wetterdaten über alle Jahreszeiten aufzeichnen und 1899 darüber auf dem nächsten Geographenkongress in Berlin berichten. Hier teilte Markham die Südpolarregion in vier Kuchenstücke ein und ordnete gemäß den bisherigen britischen Entdeckungen den Victoria- und Rossquadraten dem britischen und die übrigen Enderby- und Weddellquadranten dem deutschen Arbeitsgebiet zu. Trotz der politischen Rivalität beider Länder verabredete man eine internationale Kooperation für gleichzeitige meteorologische und magnetische Messungen, wie sie bereits mit Erfolg zur Erforschung der Arktis während des Internationalen Polarjahres von 1882-1883 durchgeführt worden waren (Barr und Lüdecke 2010).

Zusätzlich zur britischen Expedition unter Robert Falcon Scott, der deutschen unter Erich von Drygalski beteiligten sich später noch die schwedische Expedition unter Otto Nordenskjöld und die schottische unter William Speirs Bruce an dieser Kooperation (siehe Abbildung 1). Die französische Expedition unter Jean-Baptiste Charcot folgte und erkundete die Antarktische Halbinsel (Headland 2009).

Karte Schauplatz der Südpolarexpeditionen 1902/03

Abbildung 1: Schauplatz der Südpolarexpeditionen 1902/03, Geographen-Kalender 1903-4, Karte 11

Vor Abreise der Expeditionen kehrte die britische Expedition unter der Leitung des Norwegers Carsten Borchgrevink zurück, die 1899 bei Kap Adare im Norden des Victoria Landes erstmals auf dem Festland überwintert hatte und interessante Informationen mitbrachte.

Anhand der bis 1904 gesammelten meteorologischen Daten wie Luftdruck, Temperatur und Windrichtung sowie Geschwindigkeit konnte der Göttinger Klimatologe Wilhelm Meinardus die mittlere Höhe des antarktischen Kontinents mit 2.000 ± 200m berechnen, was recht gut mit dem heutigen Wert übereinstimmt (Meinardus 1909). Ernest Shackletons Vordringen auf dem Eisplateau der Antarktis bis auf 88°23’S am 9. Januar 1909 bestätigte zudem die Theorie vom eisbedeckten Kontinent (siehe Abbildung 2).

Karte Ausmaß des Antarktischen Festlandes

Abbildung 2: Das von Meinardus 1909 bestimmte Ausmaß des Antarktischen Festlandes, ­Ausschnitt aus Meinardus 1909, Tf. 39

Besitzansprüche und temporäre Besiedelung

Nun traten die ersten Begehrlichkeiten auf. Der Norweger Roald Amundsen erreichte im Wettlauf mit Scott im Dezember 1911 den Südpol als erster (Headland 2009). Andere Nationen legten durch wissenschaftliche Expeditionen die Basis für Besitzansprüche auf Teile der Antarktis. So kartierte die Deutsche Antarktisexpedition 1938/39 das Neuschwabenland, um durch die Besitznahme den deutschen Walfang zu sichern. Seit den 1930er Jahren führte der Amerikaner Richard Evelyn Byrd mehrere Antarktisexpeditionen durch, darunter die Operation »High Jump« (1946/47) zum Training von 4.700 Soldaten als Vorbereitung für Einsätze in der Arktis. Aber es gab auch eine internationale Expedition (1949-1952) unter norwegischer Leitung mit britischen und schwedischen Teilnehmern. Diese sehr erfolgreiche Expedition wurde zum Modell für die künftige internationale Zusammenarbeit.

Einen anderen Weg beschritten die südamerikanischen Länder. 1937 meldete Argentinien gemäß dem Vertrag von Tordesillas seinen Besitzanspruch auf die Antarktische Halbinsel an (Lüdecke 2011, Clancy et al. 2014). 1940 folgte Chile mit der Bekanntgabe des »Territorio Chileno Antártico« als Fortsetzung der Anden in den Antarktanden. Dabei verwalteten die Briten bereits schon viel länger die »Falkland Islands Dependencies«, die bis zur Ostküste des Weddellmeeres ausgedehnt wurden. Zur Verteidigung der eigenen Interessen richteten die Briten im Rahmen der Operation »Tabarin« (1943-1945) auf der Halbinsel drei ganzjährig besetzte Stationen ein. Diese drei überlappenden Besitzansprüche werden auch das ABC-Problem genannt. Um solche Konflikte zu beenden, wollte man von amerikanischer Seite aus für die Antarktis einen internationalen Status mit einer internationalen Verwaltung erwirken, denn diese Region hätte mehr wissenschaftlichen Wert als ökonomischen oder strategischen Nutzen.

Eine vorübergehende Besiedelung der Antarktis geschah während des Kalten Krieges, als im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahres (1957-1958) Argentinien, Australien, Belgien, Chile, Frankreich, Japan, Neuseeland, Norwegen, Südafrika, Großbritannien, die USA und die UdSSR insgesamt 37 wissenschaftliche Stationen in der Antarktis einrichteten (Barr und Lüdecke 2010). Ziel war die umfassende Erforschung des Kontinents unter Nutzung modernster Messmethoden. Ein Highlight war die »Commonwealth Trans-Antarctic Expedition« (1955-1958) unter Vivian Fuchs und Edmund Hilary, die als erste den Kontinent vom Weddellmeer bis zum Rossmeer durchquerte und unterwegs den Untergrund der Eiskappe sondierte. Nach dieser Phase sprachen sich die beteiligten Länder für die Fortsetzung der Messungen im Jahr der Internationalen Geophysikalischen Kooperation (1959) aus, damit die unter hohem finanziellem Einsatz errichteten Stationen weiter genutzt würden. Die Wissenschaftler von zwölf Nationen bewiesen in der Folge, dass eine Zusammenarbeit jenseits politischer Rivalitäten möglich war.

Folgen der permanenten menschlichen Präsenz

Die fortgesetzte menschliche Präsenz in der Antarktis zur Forschungszwecken führte 1959 zum Antarktisvertrag, der 1961 von den zwölf genannten Staaten ratifiziert wurde (siehe Flamm, S. 29 in dieser Ausgabe). Die wichtigsten Punkte sind: Friedliche Nutzung der Antarktis, Förderung der internationalen Forschungskooperationen, uneingeschränkter Austausch von Informationen, aber auch Verbot von militärischen Aktionen, der Stationierung von Atomraketen und der Anlage von radioaktiven Deponien. Außerdem wurden alle Besitzansprüche auf Eis gelegt. Zusätzlich richtete man ein Wissenschaftliches Komitee für Antarktisforschung (SCAR) ein, das bis heute die Forschung im Rahmen des Antarktisvertrages koordiniert. Weitere Länder traten dem Vertrag bei. 1974 wurde die Deutsche Demokratische Republik aufgenommen und 1979 die Bundesrepublik Deutschland, die nach der Wende ihre Aktivitäten im Alfred-Wegener-Institut bündelten.

Seit 1983 setzte sich die Umweltschutz­organisation Greenpeace für die Einrichtung eines antarktischen Weltparks ein (Greenpeace 2004). Schließlich wurde 1997 das Umweltschutzprotokoll (Madrid-Protokoll) als Zusatz zum Antarktisvertrag ratifiziert, das die Ausbeutung der Bodenschätze verbietet, sowie Fauna und Flora schützt. Nun ist die Antarktis ein Naturreservat, dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet.

Literatur

Barr, S.; Lüdecke, C. (Hrsg.) (2010): The history of the International Polar Years (IPYs). Berlin, Heidelberg: Springer.

Clancy, R.; Manning J.; Brolsma, H. (2014): Mapping Antarctica. A five hundred year record of discovery. Dordrecht: Springer Science Medi.

Greenpeace (2004): Weltpark Antarktis – eine Chronik. Webdokumentation, online unter: greenpeace.de/biodiversitaet/meere/meeresschutz/weltpark-antarktis-chronik.

Gurney, A. (1997): Der weiße Kontinent. Die Geschichte der Antarktis und ihrer Entdecker. München, Zürich: Diana.

Headland, R. K. (2009): A chronology of Antarctic exploration. London: Quaritch.

Lüdecke, C. (1994): Die Bedeutung Alexander von Humboldts für die wissenschaftliche Erforschung der Antarktis. In: Leitner, U.; Mikosch, R.; Schwarz, I.; Suckow, Ch. (Hrsg.): Studia Fribergensia. Vorträge des Alexander-von-Humboldt-Kolloquiums in Freiberg vom 8. bis 10. November 1991 aus Anlass des 200. Jahrestages von A. v. Humboldts Studienbeginn an der Bergakademie Freiberg. Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 18. Berlin: Akademie-Verlag, S. 177-187.

Lüdecke, C. (2011): Parallel precedents for the Antarctic Treaty. In: Berkman, P.A.; Lang, M.A.; Walton, D.W.H.; Young O.R. (Hrsg.): Science diplomacy. Antarctica, science, and the governance of international spaces. Washington DC: Smithsonian Institution Scholary Press, S. 253-263.

Lüdecke, C. (2015): Deutsche in der Antarktis. Expeditionen und Forschungen vom Kaiserreich bis heute. Berlin: Ch. Links.

Meinardus, W. (1909): Die mutmaßliche mittlere Höhe des antarktischen Kontinents. Petermanns Geographische Mitteilungen Teil I: 55(9), S. 304-309; Teil II: 55(12), S. 355-360.

Nansen, F. (2016[1891]): Auf Schneeschuhen durch Grönland. 2 Bände. Norderstedt: Hanse.

Tammiksaar, E.; Lüdecke, C. (2023): The discovery of Antarctica. Tracing the untraceable? In: Howkins, A.; Roberts, P. (Hrsg.): The Cambridge history of the polar regions. Cambridge: Cambridge University Press, S. 181-206.

Prof. Dr. rer. nat. Cornelia Lüdecke ist Diplommeteorologin und pensionierte Wissenschaftshistorikerin der Universität Hamburg mit den Themenschwerpunkt Geschichte der Meteorologie und der Polarforschung. 1989 hat sie den Arbeitskreis »Geschichte der Polarforschung« und 2004 die internationale Expert*innengruppe »History of Antarctic Research« gegründet. Sie hat 19 Bücher und Tagungsbände zur Polargeschichte herausgegeben.

»Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal«

»Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal«

Rückblicke auf 25 Jahre Israel-Palästina-Beiträge

von Christiane Lammers

Die jüngsten Anschläge der Hamas auf Israel und die darauf folgenden Vergeltungsschläge Israels im Gazastreifen sind die neueste Wiederholung einer schrecklichen Gewaltdynamik. Es ist nicht so, dass diese Dynamik unvorhergesehen oder undenkbar war – wie ein Blick auf Beiträge in W&F zum israelisch-palästinensischen Konflikt aus 25 Jahren zeigt. Der Beitrag schlägt einen Bogen von diesen analytischen Erkenntnissen zu friedenspolitischen Erfordernissen.

Während ich einen Artikel zur »Zivilen Konfliktbearbeitung« in der W&F-Historie schreibe, explodiert der israelisch-palästinensische Dauerkonflikt. Ich gebe mein ursprüngliches Thema auf; mir erscheint es wichtiger, dazu schon Gedachtes aus unserem Archiv ins Gedächtnis zu rufen, um einen rationalen Zugang zu dieser schrecklichen Situation zu finden.

Israel bombardiert Gaza. Der von Norden nach Süden nur 40 km lange und max. 14 km breite Landstreifen, Wohngebiet von fast 2 Mio. Menschen und abgetrennt von allem Lebensnotwendigen, war nun auch noch zum Geiselgefängnis geworden. Israel reagiert mit seinen Angriffen auf die brutalen Überfälle von Hamas-Kämpfern am 7.10.2023 auf israelische Dörfer, auf ein Musikfestival, auf den Raketenbeschuss von Tel Aviv und anderen Städten, auf die Verschleppung von mehr 150 Israelis nach Gaza. Eine Aufrechnung dieser Ungeheuerlichkeiten ist moralisch wie rechtlich unmöglich. Umso mehr ist es notwendig Gründe zu erkennen und diese nicht im Affekt beiseite zu schieben. Nur rational, gleichwohl emphatisch mit allen Betroffenen, lassen sich Handlungsmöglichkeiten zur Deeskalation finden.

Erschreckend in diesem Zusammenhang waren die Äußerungen des EU-Partnerschafts-Kommissars Varhelyi zwei Tage nach den Hamas-Überfällen, dass alle Hilfszahlungen der EU an palästinensische Institutionen, Organisationen und Partnerprojekte sofort ausgesetzt würden. Zuerst Belgien, dann Irland, Spanien und Luxemburg kritisierten diesen Vorstoß, der kurze Zeit später zurückgenommen wurde. Einen ähnlichen Verlauf nahm die Debatte um die bilateralen Hilfsgelder aus Deutschland. Vergleichbar kann erschrecken, dass deutsche Medien einhellig die letzten Absätze der Presseunterrichtung des UN-Generalsekretärs Guterres am 09.10.2023 ignorierten: Selbst in den schlimmsten Zeiten sei es besonders wichtig, auf den langfristigen Horizont zu blicken. „Diese jüngste Gewalt kommt nicht aus einem Vakuum. Die Realität ist, dass sie aus einem langjährigen Konflikt mit einer 56-jährigen Besatzung und ohne einem politischen Ende in Sicht erwächst.(…) Israel muss seine legitimen Sicherheitsbedürfnisse verwirklicht sehen – und die Palästinenser müssen eine klare Perspektive für die Realisierung der Errichtung ihres eigenen Staates sehen.“ (UNSG 2023)1

Einblicke in den Konflikt durch das W&F Archiv

Seit der Umstrukturierung von W&F um die Jahrtausendwende sind mehr als 40 Artikel über Israel/Palästina im Heft erschienen. Keinem Land haben wir uns häufiger zugewendet. Mit dem folgenden kurzen Überblick sollen Sie als Leser*innen angeregt werden, sich diesen über das W&F-Archiv frei zugänglichen Beiträgen (nochmals) zu widmen, denn die Analyse von kaum einem davon hat sich bei diesem Konflikt erübrigt, vieles ist leider nur schlimmer geworden.

»Israel – kein Friede in Sicht« haben wir den Themenschwerpunkt in W&F 4/2002 genannt. Darin enthalten sind Beiträge zur Siedlungspolitik, zur eingeschränkten Rechtsstaatlichkeit, zur sozialen Spaltung aber auch zur Geschichte der sozialen Bewegung und zu Positionen und Aktionen von Friedensbewegten in Israel. Bei manchem Artikel kann man den Eindruck gewinnen, er wäre erst vorgestern geschrieben worden – so bspw. »Kommt der Rechtsstaat unter die Räder?« von Margret Johannsen. Bei anderen Artikeln wünscht man sich, dass die israelische Zivilgesellschaft weiterhin auch die Kraft haben möge, sich nicht in Hass dem Konflikt zu ergeben, sondern dagegen Widerstand zu leisten und nicht die Vision eines Israels als demokratisches und (menschen-)rechtlich gebundenes Land aufzugeben (siehe z.B. Angelika Timm, »Die Zivilgesellschaft in der Bewährung«).

Drei Jahre zuvor vorher war das Dossier 33 »Verraten, vergessen, verlassen. Palästinensische Flüchtlinge im Libanon« als Beilage zu W&F 3/1999 erschienen, in dem eindringlich die Situation der im Kontext der Staatsgründung und der vielen darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen in den Norden vertriebenen Palästinenser*innen dargelegt wird. Die heutigen Übergriffe der Hisbollah sind nicht nur auf die vielbeschworene Erzfeindschaft des Irans zurückzuführen, sondern werden auch genährt durch das Elend und die Perspektivlosigkeit der nach wie vor staatenlosen und in Flüchtlingscamps lebenden Palästinenser*innen im Libanon.

20 Jahre später erschien als Beilage zu W&F 1/2021 das Dossier 91 »Palästina unter der Besatzung. Alltag, Hintergründe, Auswirkungen«. Anlass für dieses Dossier war die sich immer mehr zuspitzende Situation im Westjordanland und die Hoffnung durch Fakten, Zahlen, Rechtserläuterungen über die völkerrechtswidrige Politik Israels und ihre Konsequenzen aufzurütteln und damit ebenso auch dem Vorwurf zu begegnen, die Fürsprache für die Palästinenser*innen sei antisemitisch und nicht humanitär begründet.

Neben diesen drei kompakteren Informationsmöglichkeiten erschienen viele einzelne Beiträge in W&F, auf einige wenige möchte ich ausführlicher eingehen:

  • Im Heft 2000/1 erschien im Schwerpunkt »Der schwierige Weg zum Frieden« als überhaupt erster Artikel in W&F zu Israel. Es ist ein Interview mit der Preisträgerin des Alternativen Nobelpreises, der deutsch-israelischen Rechtsanwältin Felicia Langer. 2009 wurde Felicia Langer das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Dagegen gab es massive Proteste, Ralph Giordano und andere drohten damit, ihre Verdienstkreuze zurückzugeben. Begründet wurde die Kritik mit dem Vorwurf des »Self hatings«, einer Form des Antisemitismus durch Jüdinnen oder Juden, der sich darin ausdrücke, dass sie u.a. der israelischen Staatsführung Apartheidspolitik gegenüber den Palästinenser*innen unterstellt. Die Einordnung Israels als »Apartheidsstaat« war vor 20 Jahren in Deutschland kaum diskutabel, obwohl, zumindest so Ausführungen in einem SWP-Aktuell, schon David Ben Gurion (1967), Jitzhak Rabin (1976), Ehud Barak (1999) und Ehud Olmert (2007) vor einer solchen Entwicklung gewarnt hatten (Asseburg 2022). 2018 legte die palästinensische Autonomiebehörde gemäß Artikel 11 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung eine entsprechende Staatenbeschwerde ein, die 2021 nach Prüfung der Zuständigkeit und Zulässigkeit die Einrichtung einer Ad-hoc-Vergleichskommission nach sich zog. Im Jahr darauf veröffentlichte Amnesty International unter dem Titel »Israel’s Apartheid against Palestinians« (Amnesty International 2022) einen umfassenden Bericht, der den Apartheidsvorwurf eingehend belegt. Käme die Adhoc-Vergleichskommission zum gleichen Schluss bzw. würde der Internationale Strafgerichtshof angerufen werden und käme zum ähnlichen Urteil, dann könnten Deutschland, andere Staaten oder auch die EU sich gezwungen sehen, gegen die israelische Regierung tätig werden zu müssen (vgl. Wissenschaftliche Dienste 2023).

Im Mittelpunkt des Interviews steht jedoch die Frage, inwiefern die verschiedenen Verhandlungsergebnisse zwischen Palästina und Israel tragfähige Lösungen des Konflikts ermöglichen. Frau Langer zeigte sich sehr skeptisch, wies auf die andauernde Siedlungsausweitung im Westjordanland hin, thematisierte auch die Menschenrechtsverletzungen der palästinensischen Autonomiebehörde. Allein für die Sicherheitszone im Südlibanon hielt sie einen Truppenabzug Israels für möglich. Als Grundbedingung für eine friedliche Lösung sah sie eine stärkere internationale Solidarität mit den Palästinenser*innen in Verbindung mit Teilen der israelischen Bevölkerung, die kriegsmüde geworden waren und einen Frieden mit Gerechtigkeit wollten.

  • Auch im Gastkommentar »Friedensperspektiven für den Nahen Osten« in W&F 4/2006 wird von Heidemarie Wieczorek-Zeul die Lösung des Kernkonflikts angesprochen und damit verbunden gerechte Entwicklungschancen für Palästina wie auch den Libanon gesehen. Dass sich hier nichts verbessert hat, zeigt ein Blick in den Human Development Index. Heute steht der Libanon auf Platz 112 und Palästina auf Platz 106 von 189 erfassten Staaten. 2006 standen die beiden Länder im HDI auf Platz 78 (Libanon) und auf Platz 100 (Occupied Palestinian Territories) von 177 Staaten.
  • »Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal« so der Titel des Gastkommentars von Udo Steinbach, der in Heft 4/2014 unmittelbar nach der damaligen Gaza-Geberkonferenz erschien. Diese hatte mit der Ankündigung von mehr als 4 Mrd. € Hilfsmittel für Gaza überraschend positiv geendet. Gleichwohl fiel das Urteil des Nahostexperten einhellig aus: „Wo keine Chance ist, gibt es nur zwei »Lösungen«: die Suche nach einem besseren Platz auf der Welt und die Fortführung des Kampfes mit immer radikaleren Mitteln. Demgemäß ist der Anteil der Flüchtlinge aus Gaza, die in Europa Asyl suchen, sprunghaft gewachsen. Und der Gaza-Krieg 2014 war länger, grausamer und verlustreicher als der Gaza-Krieg 2008/9“. Der jetzige wird vermutlich noch mehr Tod und Zerstörung bringen. Wieder ist zu wenig geschehen, man hätte es ahnen, wenn nicht gar wissen können.
  • Auch auf den folgenden Bericht möchte ich noch aufmerksam machen, da er auf die Vielfalt der Internationalen Organisationen verweist, denen das Schicksal der Palästinenser*innen nicht egal ist: Eva Senghaas-Knobloch, »Offene ›Briefe an die Welt‹. Die ILO-Berichte zu den besetzten palästinensischen Gebieten« in W&F 1/2017.
  • Dass durchaus auch auf Teile der israelischen Zivilgesellschaft zu hoffen ist, haben wir in mehreren Beiträgen über die Jahre versucht zu vermitteln, so z.B. im Beitrag von Uri Weltmann (W&F 4/2011) »Zwischen al-Tahrir und Puerta de Sol. Entwicklung und Herausforderungen der sozialen Protestbewegung in Israel«. Auch über zivilen Widerstand beispielsweise gegen den Mauerbau haben wir berichtet (siehe W&F 3/2004 Aviv Lavie, »Separation Fence Intifada. Gewaltfrei gegen die Besatzung«), haben Israelis zu Wort kommen lassen, die sich kritisch – ethisch wie auch politisch begründet – gegen die Palästina-Politik ihres Landes äußerten (siehe z.B. in W&F 1/2007 »Der zweite Libanon-Krieg, das Friedenslager und Israel. Nachgedanken eines Friedensfreundes« von Daniel Bar-Tal).

Kein Frieden ohne Rechte

Aus friedenswissenschaftlicher Perspektive findet sich in keinem der Texte ein Hinweis darauf, dass es einen anderen Weg zum Frieden gibt, als dass Israel endlich die Rechte der Palästinenser*innen anerkennt, die Isolation des Gaza-Streifens beendet, die Siedlungserweiterung (und damit einhergehende Ausdehnung der Besatzung2) im Westjordanland unterbindet. Selbst in der eher konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung kam noch zu Jahresbeginn 2023 der Leiter des Auslandsbüros in Ramallah, Steven Höfner, in einem sehr lesenswerten Länderbericht zu diesem Urteil (Höfner und Naujoks 2023). Er sah die Eskalation, wenn auch mit einem anderen Szenario, voraus.

Die bisherige Strategie der Schwächung der palästinensischen Position durch ein gegenseitiges Ausspielen von Hamas und Fatah hat zu nichts geführt. Ebenso werden die mühsam erarbeiteten Annäherungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn nichts mehr wert sein, wenn gleichzeitig der Konflikt mit den Palästinenser*innen auf hohem Eskalationsniveau verbleibt – vermutlich ein kalkuliertes Anliegen der Hamas mit ihren Angriffen. Israel wird darüber hinaus aber auch alle Legitimation verlieren, wenn es weite Teile des Gazastreifens bombardiert und die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen vernichtet. Diese kritischen Einwände in der jetzigen Situation zu akzeptieren, ist sowieso für die jetzige israelische Regierung, aber vermutlich derzeit auch für die israelische Zivilbevölkerung unmöglich. Hier steht die übrige Staatenwelt in der Verantwortung, die sich in den letzten Jahren zwar immer wieder verbal auch auf die Seite der Palästinenser*innen gestellt hat, aber immer noch keine Strategie hat, zu einer Umsetzung ihrer eigenen Einsichten zu gelangen. Die sich überschlagenden Nachrichten, beispielsweise über die Bereitschaft Deutschlands, Israel mit Waffenlieferungen zu unterstützen und Hilfslieferungen in Millionenhöhe für den Gazastreifen zur Verfügung zu stellen (17.10.23), zeigen, wie weit auch die Bundesregierung noch von einem Beitrag zu einer nachhaltig friedlichen Lösung des Konflikts entfernt ist.

Was heißt das alles für uns? Hier möchte ich noch aus einem Beitrag zitieren, der meinen ursprünglich geplanten Beitrag begleiten sollte und an dieser Stelle nun einen anderen Sinn ergibt: „Jedenfalls tut der Pazifismus gut daran, sich nicht eine Selbstrechtfertigung durch eine Affekt-Ethik aufnötigen zu lassen, die mit selektiven militärischen Läuterungs-Ritualen davon ablenkt, daß nicht er, sondern die Nichtbefolgung seiner Hauptforderungen immer noch kriegerische Massaker in verschiedenen Teilen der Welt begünstigt. (…) Bei Veranstaltungen verspüre ich große Hoffnungen, aber vorwiegend solche passiver Art, also Erwartungen, die an andere delegiert werden, oder auch Enttäuschung darüber, daß so wenig erreicht wird. Ich selbst halte mich jedenfalls (…) an eine Empfehlung(…) des verstorbenen Soziologen Max Horkheimer(…): Jeder hat die Chance, seinem etwaigen theoretischen Pessimismus mit einer persönlichen optimistischen Praxis zu widersprechen. Das ist, wie ich gefunden habe, nicht nur ein psychohygienisches Rezept. Man kann damit auch etwas bewirken“ (Horst-Eberhard Richter »Ist der Pazifismus am Ende?«, W&F 1/1996).

Anmerkungen

1) Nur bei Al Jazeera fand ich diesen Teil der Rede dokumentiert.

2) Auch hierzu gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen der israelischen Regierung und der UN. Während die UN davon ausgeht, dass Israel u.a. die Siedlungsgebiete im Westjordanland, Ostjerusalem und den Golan besetzt hält und gegen diverse UN-Resolutionen (1979 ff.) verstößt, spricht Israel entweder von Israel zugehörigen oder umstrittenen Gebieten. Am 30.12.2022 hat die UN-Vollversammlung nun den Internationalen Gerichtshof angerufen, um von diesem klären zu lassen, ob es sich nicht längst schon um eine Annexion der Gebiete handelt, die eindeutig völkerrechtswidrig wäre. Deutschland stimmte wie u.a. Großbritannien, die USA und Österreich gegen diese Resolution. Die Entscheidungen des IGH sind bindend, es gibt jedoch keine Mechanismen, um die Urteile durchzusetzen. 2004 hatte der IGH schon einmal gegen Israel geurteilt und den Mauerbau im Westjordanland als völkerrechtswidrig eingestuft. Das Urteil blieb folgenlos.

Literatur

Amnesty International (2022): Israel’s Apartheid against Palestinians. Cruel system of domination and crime against humanity. MDE 15/5141/2022, 1.2.2022.

Asseburg, M. (2022): Amnesty International und der Apartheid-Vorwurf gegen Israel. SWP Aktuell 2022/A 13, 22.02.2022.

Höfner, S.; Naujoks, P. (2023): Die neue israelische Regierung und ihre Agenda im Westjordanland. KAS Länderbericht, 31.1.2023.

UNSG (2023): Secretary-General‘s remarks to the press on the situation in the Middle East. Statements, UN, 9.10.2023

Wissenschaftliche Dienste des Bundestages (2023): Dokumentation „Zum Vorwurf der Apartheid-Politik Israels in den palästinensischen Gebieten“. WD 2-3000-031/23, 17.4.2023.

Christiane Lammers ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der FernUniversiät in Hagen, Mitglied der W&F-Redaktion und u.a. in der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung aktiv.

Von 1983 bis heute

Von 1983 bis heute

Impulse aus einem wissenschaftshistorischen Dialog

mit Eva Senghaas-Knobloch und Jürgen Altmann

Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jubiläum von W&F wurde kein Festvortrag gehalten. Stattdessen unterhielten sich mit Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch (Bremen) und PD Dr. Jürgen Altmann (Dortmund) zwei profilierte Kenner*innen der Entwicklung der akademischen Friedens- und Konfliktforschung wie auch der Friedensbewegung auf dem Podium über ihre ganz persönlichen Geschichten von 1983 bis heute. Um die Szene zu setzen, wurde vor dem Gespräch ein kurzer Zusammenschnitt eines Tagesschau-Berichts vom 22. Oktober 1983 gezeigt: Menschenkette über die Schwäbische Alb gegen die Pershing-II-Stationierung, Demonstration im Bonner Hofgarten zum Nachrüstungsbeschluss u.a. Dies ist ein nachbearbeitetes Transkript des Gespräches, das von W&F Vorstandsmitglied Dr. Michaela Zöhrer moderiert wurde.

Michaela Zöhrer (Moderation): Ich würde gerne im Jahr 1983 starten, in dem Jahr also, aus dem wir gerade beeindruckende Bilder von Massenprotesten gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Boden gesehen haben. Wie habt ihr diese Zeit erlebt? Was hat euch damals bewegt, was ihr auch den Jüngeren unter uns mit auf den Weg geben wollt?

Jürgen Altmann: Ja, 1983. Bei mir hat Gesellschaftskritik deutlich früher angefangen. Als ich 1970 zum 3. Semester des Physikstudiums nach Hamburg kam, war die Ur-Achtundsechziger-Geschichte schon in vollem Gang, zunächst in den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen, dann auch in der Physik. Mich hat es in die linke Ecke verschlagen. Mit vielen anderen habe ich bei Studienreformen mitgemacht, z.B. Orientierungseinheiten für Erstsemester mitgegründet, in Fachschaft und Fachbereichsrat mitgearbeitet. Dabei hat die Friedensfrage eher am Rande eine Rolle gespielt. Das hat sich dann später geändert, als nämlich die neue Friedensbewegung bundesweit anfing. Da waren wir in der Naturwissenschaft zunächst Nachzügler*innen. Wir haben das Problem erst eine Weile nicht so richtig verstanden, aber dann ging es los, speziell bei uns in der Physik in Marburg (wo ich seit 1980 war): uns zu fragen, wenn jetzt hier über die sogenannte Nachrüstung diskutiert wird, in Westeuropa nukleare Marschflugkörper und Pershing-II-Raketen zu stationieren, um ein Gegengewicht zu haben gegen die SS-20 in der Sowjetunion, hat das etwas mit Physik zu tun? Natürlich sind die Atombomben von Leuten aus der Physik erforscht und zum Funktionieren gebracht worden. Aber hatte das auch heute noch eine Bewandtnis? Dazu haben wir 1981 ein Seminar veranstaltet, »Physik und Rüstung«, und daraus auch ein Buch gestaltet im Selbstverlag, das gut 12.000 mal in Deutschland verbreitet wurde. Dabei haben wir gemerkt, dass auch die aktuelle Aufrüstung noch viel mit Physik zu tun hatte. Wir haben uns einerseits mit den Techniken der verschiedenen Waffensysteme beschäftigt und uns andererseits an die allgemeine Friedensbewegung angeschlossen, an Demonstrationen in Bonn teilgenommen usw. Es gab eine große Bewegung in der Naturwissenschaft in Deutschland, mit Dutzenden von Naturwissenschaftler*innen-Friedensgruppen, Ringvorlesungen, überörtlichen Vereinigungen und großen Kongressen. Daran hatten wir – auch durch dieses Buch – einen erheblichen Anteil.

Eva Senghaas-Knobloch: 1983 war auch das Jahr, das das Ende der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) bedeutete, aufgrund einer zunehmenden Gegnerschaft in den Kreisen der CDU/CSU – innenpolitisch gegen die Orientierung auf Konfliktanalyse, außenpolitisch gegen die Entspannungspolitik – ausgehend von Baden-Württemberg und Bayern. Die DGFK war ein innovatives Bund-Länder-Vorhaben der damaligen sozialliberalen Koalition, das meines Erachtens nur noch mit dem »Humanisierung des Arbeitslebens«-Programm vergleichbar war. Es verfolgte die Idee, auch gesellschaftliche Kräfte bei neuen gesellschaftspolitisch relevanten Forschungsfragen einzubeziehen, also Gewerkschaften, Arbeitgeber, Konfessionen, neben den Wissenschaften und Parteien. Während so in einem Kuratorium übergreifende Fragen behandelt wurden, entschied eine kleine Kommission über konkrete Forschungsförderung. Daneben gab es ein Konzil der Friedensforscher und Friedensforscherinnen; wir hatten noch eine Initiative zur Beachtung besonders drängender Fragen initiiert. Das hat aber am Ende nichts genutzt, weil der Austritt wichtiger Länder aus der Bund-Länder-Konstruktion das Aus bedeutete.

Was mich selbst anbetrifft, habe ich mich erinnert an eine APUZ-Beilage der Bundeszentrale für politische Bildung von 1970. Da waren Carl Friedrich von Weizsäcker und ich mit Beiträgen vertreten; er schrieb über die nukleare Abschreckung, vor allem mit Blick auf physikalische Zusammenhänge. Es ging ihm um »Damage Assessment«, also die Abschätzung der Zerstörungen bei einem Einsatz von Nuklearwaffen. Und ich hatte über internationale Organisationen geschrieben. Das waren ziemlich gegensätzliche Blickweisen auf Konflikte in den internationalen Beziehungen. Obwohl er vieles über Schäden und Nichtverteidigungsfähigkeit im Detail ausgeführt hatte; Weizsäcker hat nukleare Abschreckung weiterhin befürwortet: Es ginge nicht anders, wir müssten jetzt noch diese Abschreckung im Sinne der Abhaltung von Angriffen leider weiterhin haben. Ich habe demgegenüber versucht zu betonen: Welche Möglichkeiten bestehen zur Verbindung zwischen den Staaten? Wie kann man Brücken bilden? Und welche Probleme und Konflikte tauchen dabei auf? Das war 1970.

In den 1980er Jahren, beginnend in den 1970er Jahren, war aber das Kapitel Ost-West-Konflikt schon komplementiert durch die Nord-Süd-Konfliktlage. Es gab den Anspruch des Globalen Südens, wie wir heute sagen würden, auf eine »Neue Weltwirtschaftsordnung«. Zugleich gab es real eine neue internationale Arbeitsteilung, die im Grunde genommen eine neokoloniale Arbeitsteilung war: Austausch von Rohstoffen gegen Fertigprodukte und Nutzung billiger Arbeitskräfte für Vorprodukte. Man weiß inzwischen, dass das kein Entwicklungsprojekt ist.

Michaela Zöhrer: Ich hake mal kurz bei dir, Jürgen, nach: Ich habe dich so verstanden, dass bei dir diese Phase Anfang der 1980er Jahre – also das Entstehen oder das Aufkommen der neuen Friedensbewegung – auch entscheidend war für deine Auseinandersetzung mit friedenswissenschaftlichen Fragestellungen als Physiker. Habe ich dich richtig verstanden?

Jürgen Altmann: Ja, friedenswissenschaftlich in dem Sinne, dass man selbst forscht und sich nicht nur zu eigen macht, was im Wesentlichen einige wenige aktive Kollegen – Kolleginnen gab es nicht viele – in den USA herausgefunden und dann auch aufklärend an die Öffentlichkeit gebracht haben. Da ist zu nennen die Bewegung gegen die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen in den USA. Dabei haben Leute wie Richard Garwin und Hans Bethe, die beide am Manhattan-Projekt beteiligt gewesen waren, in den späten 1960 Jahren versucht, die US-Öffentlichkeit aufzuklären, dass Abwehrsysteme zwar defensiv klingen, aber eine Menge Probleme mit sich bringen: Zündung nuklearer Explosionen im eigenen Land, leichte Umgehung durch Aufbau von mehr Raketen. Auch in den 1980er Jahren gab es von einigen US-Kollegen Veröffentlichungen, zum Beispiel dazu, wie ein Marschflugkörper gelenkt wird. Solche Analysen haben wir uns erarbeitet oder nachgearbeitet und in dem Buch veröffentlicht.

1984 ging meine Höchstbefristungsdauer in Marburg zu Ende. Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll sein kann, sich in der Physik mit neuer Rüstungstechnik und ihren Problemen zu beschäftigen und auch mit den Möglichkeiten, sie zu begrenzen. Ich habe mich gefragt: Es kann doch kein Naturgesetz sein, dass solche Rüstungstechnik-kritischen Artikel nur in den USA geschrieben werden. Können wir das nicht auch? Dann kam ein Ein-Jahres-Stipendienprogramm der Volkswagenstiftung zu Fragen der Rüstungskontrolle. Ermuntert wurden auch Personen aus Disziplinen, die traditionell nichts mit Rüstungskontrolle zu tun haben. Dort haben sich zwei Physiker aus Marburg beworben, Jürgen Scheffran und ich, und wurden sofort genommen. Wir haben ein Jahr lang unsere Projekte bearbeitet (meins ging um Laserwaffen im Weltraum) und wurden mehr oder weniger ermuntert, das in anderer Form und systematischer weiterzuführen. Das war der Beginn meiner professionellen Forschung zu Militärtechnikfolgenabschätzung und präventiver Rüstungskontrolle.

Michaela Zöhrer: Eva, du hast erwähnt, dass 1983 nicht nur ein Jahr mit einem Hoch für die Friedensbewegung war, sondern in vielerlei Hinsicht gleichzeitig einen Rückschlag für die damals ja ohnehin nur prekär institutionalisierte Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland darstellte. Wie hast du alle diese Jahre auch für dich persönlich erlebt? Vielleicht magst du dich nochmal ein bisschen zurückerinnern, als eine in dem Moment ja schon zum Frieden forschende Sozialwissenschaftlerin. Waren diese Jahre für dich besonders einschneidend, bewegend auf eine Art und Weise?

Eva Senghaas-Knobloch: Die große Demonstration 1983 war natürlich bewegend. Die Einschätzung, die hinter der Bewegung stand, war aber umstritten in der Friedensforschung – anders als in der Friedensbewegung, die ja zum Teil unmittelbar einen Erstschlag befürchtete. Ich erinnere mich noch an die Stirnbinden: „Angst!“ Das erschien mir persönlich schwierig nachzuvollziehen. Wir hatten selbstverständlich in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung alle Einschätzungen und Fragen aufgegriffen und streitbar diskutiert. Ich war sehr beeindruckt davon, dass so viele Menschen sich organisieren. Und gleichzeitig war ich nicht überzeugt davon, was die erklärte Angst angetrieben hat. Ich meine, dass sich dahinter eine ganze Reihe verschieden motivierter Ängste gebündelt hat. Es war ja eine hoch krisenreiche Zeit, die sicherlich dieses starke Gefühl unmittelbarer Bedrohung durch die sogenannte Nachrüstung mit angefeuert hat: außenpolitisch amerikanische Geiselkrise im Iran, militärische Intervention der UdSSR in Afghanistan. Beruflich hatte ich mit anderen Themen zu tun, war aber viel unterwegs, um Klärungen zu versuchen und nukleare Abrüstung zu thematisieren, denn nukleare Waffensysteme sind nicht Waffen, mit denen man im herkömmlichen Sinn umgehen kann. Und doch gab es schon seit Ende der 1950er/1960er Jahre bei den Nuklearmächten nukleare Kriegsführungsoptionen. Die darauf resultierende Bedrohungslage war immer aktuell.

Jürgen Altmann: Die grundsätzliche Bedrohung war uns klar, zumindest nachdem wir aufmerksamer geworden waren auf das Atomwaffenproblem. Aber es gab auch spezielle Fragen: Kann die Pershing-II Moskau erreichen oder nicht? So dass also mögliche Erstschlagsbefürchtungen auf östlicher Seite vielleicht doch berechtigt wären? Und wie ist das mit der SS-20? Wir haben schon gesehen, dass die Vorwarnzeiten, wenn man über 2.000 Kilometer schießt, vielleicht fünf Minuten sind. Das ist anders als bei den langreichweitigen Raketen, die von den USA über die Arktis in die Sowjetunion fliegen oder umgekehrt. Die brauchen um die 35 Minuten, von U-Booten in vorderen Stationen vielleicht zehn Minuten. Da besteht ein Grundsatzproblem: Wie entscheidet man, wenn ein Angriff gemeldet wird? Ist der echt? Und muss ich meine Raketen schon starten, bevor sie am Boden zerstört werden durch die gerade ankommenden gegnerischen? Das bringt die Gefahr des »Atomkriegs aus Versehen«, wenn ein Fehlalarm nicht als solcher erkannt wird und man den Atomkrieg auslöst, den man eigentlich vermeiden möchte.

Diese generellen Fragen waren uns im Kopf. Ja, aber es gab schon die allgemeine Befürchtung, dass der neue Aufrüstungszyklus das Ganze schlimmer macht. In der professionellen Friedensforschung wird man ein bisschen nüchterner, obwohl es um den Untergang der Zivilisation geht und um das potenzielle Umbringen großer Teile der Weltbevölkerung.

Michaela Zöhrer: Ich mag das Wort zwar nicht, aber es wurde 1983 durchaus postuliert, dass die Friedensbewegung seinerzeit gescheitert ist, an dem Punkt, dass die Stationierung auf westdeutschem Boden nicht verhindert werden konnte.

Wenn wir ein wenig in der Zeit voranschreiten und auf das Ende der 1980er Jahre bis hin zum großen Umbruch 89/90 blicken: Beim heutigen Symposium hat schon jemand drauf hingewiesen, dass 1990 im Raum stand, ob die Frage von Krieg und Frieden überhaupt noch relevant sei. Wie habt ihr diese Jahre des Umbruchs und der Wende erlebt? Was hat das mit der Friedenswissenschaft und mit euch als Wissenschaftler*innen gemacht?

Eva Senghaas-Knobloch: Wenn ich noch einmal kurz zurück darf, ich möchte gern unterstreichen: Am Anfang der nuklearen Militärdoktrinen war es schon sehr wichtig, dass sich die Naturwissenschaftler sehr stark geäußert haben. Wenn man bis in die 1950er Jahre zurückdenkt, als Adenauer sogenannte taktische Nuklearwaffen für eine bessere Artillerie hielt, spielte Carl Friedrich von Weizsäcker eine große Rolle bei den 18 Nuklearphysikern, die sich in der »Göttinger Erklärung« scharf dagegen verwahrt hatten. Später, mit Wurzeln in den 1970er Jahren, bzw. noch weiter zurück, haben sich im Westen vielfältige emanzipative, oft antikapitalistische Bewegungen gebildet, so auch die vielstimmige Frauen- und Frauenfriedensbewegung. Und in den osteuropäischen und zentraleuropäischen Ländern entstanden – unter sehr repressiven Bedingungen – dissidentische Bewegungen, Bürgerrechtsbewegungen, um sich zu befreien von der Umarmung durch eine Sowjetunion, die die Luft zu mehr Eigenständigkeit, Freiheit, Demokratie geraubt hatte. Dazu gehörten z.B. in Polen die breite Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, in der UdSSR unter anderem der Nuklearphysiker (1955 befasst mit der Wasserstoffbombe) Andrej Sacharow und Jelena Bonner. Nicht nur in der DDR waren unter den kritischen Schriftsteller*innen und Dissident*innen die Themen Frieden und Umwelt von großer Bedeutung. Und in der Tschechoslowakei nannte sich die Prager Dissidentenbewegung »Charta 77«; der Name bezog sich auf die Schlussakte des blockübergreifenden Konferenzprozesses in Helsinki zum Thema »Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« im Jahr 1975. In der Schlussakte war die Verstetigung zu den folgenden Themen vorgesehen: 1. Vertrauensbildende Maßnahmen, Aspekte der Sicherheit und Abrüstung, 2. Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Umwelt, 3. Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen. In Kapitel VII der Schlussakte ging es um „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“, genau das war für die Dissidenten und Dissidentinnen im politischen Osten zentral. In den westlichen Friedensbewegungen bemühten sich aber nur wenige, besonders der überkonfessionelle Rat der Kirchen in den Niederlanden, darum, gleichermaßen für nukleare Abrüstung und die Beachtung der Bürgerrechtsbewegungen in zentral- und osteuropäischen Ländern öffentlich einzustehen.

Ich habe Anfang der 1980er Jahre in Berlin miterlebt, wie wichtig für Prager Dissidenten das Thema Vertreibung der Deutschen war, für dessen Aufarbeitung sie plädierten. Das war für mich zu diesem Zeitpunkt politisch irritierend und berührend; 1965 war in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Denkschrift erschienen, die damals die Entspannungspolitik mitinitiiert oder befördert hatte. Diese »Ost-Denkschrift« hatte den Titel: »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Es wurde dafür plädiert, politisch nicht weiter auf einer Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 zu beharren. Das war ein politisch sehr umstrittener Schritt, der jedoch zur Entspannung beigetragen hatte. (Der scharfe innenpolitische Streit darüber war übrigens der Hintergrund, wie ich zur Friedens- und Konfliktforschung kam; die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD suchte jemanden, die ihr die Fragestellungen und Argumente dieses neuen Forschungszweigs zugänglich machte).

Jürgen Altmann: Die Entspannungspolitik und die Verträge von Warschau und Moskau (1970) sowie der 2+4-Vertrag von 1990 waren wichtige Voraussetzungen, hier in Mitteleuropa die drängenden Bedrohungen zu reduzieren. Die Freiheitsbewegungen in Mitteleuropa haben in der deutschen Friedensbewegung keine Rolle gespielt und wurden fast eher als Störfaktoren empfunden, weil man meinte, dass zur Entspannung gehört, dass man die Zustände ‚da drüben‘ akzeptiert.

Ich möchte den Blick auf die Mitte der 1980er lenken. 1985 wurde ein neuer Generalsekretär der KPdSU gewählt, Michail Gorbatschow. Nach zwei Jahren gab es plötzlich einen echten Durchbruch. Vorhin hattest du gesagt, Michaela: Die Friedensbewegung ist gescheitert oder hatte verloren. In der Tat, hier wurde stationiert. Aber dann plötzlich wurde abgerüstet mit Reagan und Gorbatschow, und zwar alle diese Mittelstreckenwaffen. Das war der Mittelstrecken- oder INF-Vertrag, durch den zum ersten Mal eine gesamte Nuklearwaffenkategorie auf Null heruntergefahren wurde. Es war ein gewisses »Wunder«, dass Gorbatschow kam und die Abrüstung so auf den Weg brachte. Wir bräuchten mehr Wunder von der Sorte. In unserer Friedensforschung untersuchen wir Verifikationsmethoden für einen zukünftigen, vielleicht einmal kommenden Nuklearwaffen-Abschaffungsvertrag. Das ist Vorratsforschung und liegt jetzt in Aktenschränken, auf Festplatten und wartet auf das nächste Wunder. Es könnte ja auch einmal eines im Westen sein. Das ist natürlich in den jetzigen Zuständen sehr schwierig.

Eva Senghaas-Knobloch: Das Interessante war 1987, dass tatsächlich ein Vertrag zustande kam zwischen zwei gegensätzlicher kaum vorstellbaren Partnern, nämlich zwischen Gorbatschow auf einen Seite und auf der anderen Seite Reagan, der die UdSSR als »Reich des Bösen« bezeichnet hatte. Und trotzdem kamen Gespräche und ein Abrüstungsvertrag über Mittelstreckenraketen zustande. Und das hängt – glaube ich – auch mit der westdeutschen Friedensbewegung zusammen, die sich als Friedensbewegung titulierte und sicher auch so verstand, aber in erster Linie eine Anti-Pershing-Bewegung war.

Es war in der UdSSR jemand an die politische Spitze gekommen, der überzeugt war, dass es eigentlich um ganz andere Fragen geht, mit denen wir uns global beschäftigen müssen. Und diese waren für Gorbatschow das, was er allgemeine »Menschheitsfragen« genannt hat, vor allem auch ökologische Fragen. Diese gemeinsam zu lösenden Aufgaben stellte er in den Mittelpunkt. Zudem hatte er wohl durch die großen Demonstrationen gegen die Pershing-II den Eindruck, dass offenbar von den Gesellschaften des Westens keine Gefahr für die Sowjetunion ausgeht. Insofern konnte er Abrüstung befördern, abgesehen davon, dass er auch sah, wie es sozio-ökonomisch und sozial um die Sowjetunion stand. Ich war 1988 in Moskau und bei Gesprächen stellte sich heraus, dass es im Land einen Rückgang der Lebenserwartung gab. Und in vielen Bereichen, von denen nicht wenige Menschen hier gedacht hatten, auch ich, da müsste die Sowjetunion eigentlich ganz gut dastehen, gab es offenbar große Probleme, über die aber noch nicht offen gesprochen wurde. Gorbatschow wollte das verändern.

Jürgen Altmann: Ja, die Friedensbewegung hatte bei Gorbatschow ein Echo. Es gab zwar eine gewisse Tradition mit den vorherigen Begrenzungsabkommen; aber dieses Echo hat die weitergehende Lösung mit auf den Weg gebracht. Von daher kann man vielleicht doch sagen, dass in gewisser Weise die Friedensbewegung hinten herum, mithilfe von Reagan und Gorbatschow, doch gesiegt hat!

Michaela Zöhrer: Ich würde gerne jetzt den Fokus hin zur Friedenswissenschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lenken. Wie habt ihr das erlebt in den 90er Jahren? Erinnert ihr euch an Ereignisse, bei denen ihr sagt, das war eine Zäsur, da kann man viel für heute mitnehmen, oder genau im Gegenteil?

Jürgen Altmann: Mit 1990 oder schon ab 1987 nach dem INF-Vertrag gab es bei den naturwissenschaftlichen Friedensforscher*innen einen großen Optimismus: „Jetzt wird wirklich abgerüstet, und wir forschen an den Details, wie man das am besten umsetzt, wie man überprüfen kann, dass die Verträge auch eingehalten werden usw.“ Die Geophysik zum Beispiel hat jahrzehntelang daran gearbeitet festzustellen, ob Erdbebenwellen, die irgendwo ankommen, von einer unterirdischen Explosion, sprich einem Kernwaffentest, herkommen oder von einem Erdbeben. Das Problem war eigentlich Mitte der 1980er Jahre gelöst. Aber dann hat es noch bis 1996 gedauert, als der vollständige Teststoppvertrag (CTBT) abgeschlossen werden konnte. Der baut ein sehr ausführliches Verifikationssystem auf mit einem weltweiten Sensornetz. Wir dachten, dass viele unserer Vorschläge umgesetzt werden. Wichtig ist hier auch die internationale Pugwash-Bewegung, wo Kernphysiker – auch wiederum meistens Männer – aus den USA und der Sowjetunion zusammenarbeiteten und die ersten Begrenzungsverträge konzipierten.

Wir haben damals und bis heute weiter geforscht und weitergemacht. Wenn ich »wir« sage, dann ist das ein kleines Grüppchen. Von den etwa 55.000 Mitgliedern der Deutschen Physikalischen Gesellschaft sind 20 oder 30 in der Arbeitsgruppe »Physik und Abrüstung«, von denen nur ganz wenige professionell in der Forschung arbeiten.

Eva Senghaas-Knobloch: Ja, ich möchte die Bedeutung der Pugwash-Bewegung unterstreichen. Eine unglaublich wichtige Bewegung, weil sie über die politisch-ideologischen Grenzen hinweg versucht hat, sich über rein naturwissenschaftliche Zusammenhänge auszutauschen. Sie hat bis heute mit ihrem »Bulletin of the Atomic Scientists«, finde ich, eine bedeutende Rolle. Und das Bulletin ist ja auch ein Beispiel für eine damals blockübergreifende Kommunikation, dank einer in Wissenschaft verankerten Basis. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive von Friedensforschung ist das sehr wichtig, die Kommunikation aufrecht zu erhalten.

Aber was ich noch gern sagen wollte, Jürgen, ist: Das Sprechen von einem Sieg der Friedensbewegung, das kann man so sehen, aber ich denke, wir sollten diesen Gegensatz Sieg/Niederlage besser weglassen. Diese Sprache hat uns geschadet in den 1990er Jahren, sie wurde auch hierzulande verwendet, kam besonders aus den USA: „Jetzt haben wir, der Westen, gesiegt“, „das Ende der Geschichte“. Das waren alles Beiträge zu dem Antagonismus, den wir heute erleben. Es gab und gibt – wie wir sozialpsychologisch wissen können – tief gehende emotionale Erfahrungen, die sich innerhalb und zwischen Ländern aufbauen, über Generationen hinweg wirksam werden und eine hoch brenzlige Konfliktsituation schaffen können.

Jürgen Altmann: Ja, akzeptiert.

Eva Senghaas-Knobloch: Ich empfand 1990 als unglaubliche Befreiung der Kommunikation hin zur neuen Möglichkeit aufrichtigen Sprechens. Zuvor war die Situation so, dass – wie in allen zugespitzten Konflikten, jedoch in der Ost-West-Konfliktkonstellation meist asymmetrisch – wenn man sich kritisch auf die Hintergrundsituation im eigenen Land oder Zusammenhang bezog, dies als »Unterstützung der Gegenseite« angesehen wurde. Das schien mir 1990 vorbei zu sein. Dass sich das Fenster für freien Streit und aufrichtige Kommunikation dann wieder schloss, ist ein Unglück. Dieses Reden von Sieg und Niederlage trug dazu bei. Ich glaube, das sind Kategorien, die man besser nicht verwendet, weil es stattdessen um gemeinsame Aufgaben gehen muss. Damit kommen wir zu den Fragen einer gemeinsamen Sicherheitspolitik – alles im Helsinki- und im UN-Kontext vorgedacht in den 1970er und 1980er Jahren: Wir hatten Olaf Palme, wir hatten zuvor Willy Brandt in der Nord-Süd-Kommission, wir hatten Mitte der 1980er Jahre Gro Brundtland zum Konzept nachhaltiger Entwicklung, in der die soziale, ökonomische und ökologische Dimension als zusammenhängend begriffen werden sollten; 2015 kamen die UN-Nachhaltigkeitsziele dazu, mit Ziel 16 für eine friedensförderliche Entwicklung.

Michaela Zöhrer: Ich versuche jetzt eine Überleitung in die Gegenwart. Als ich dir gerade zugehört habe, Eva, da fand ich es bemerkenswert als du sagtest: Das war auch eine Befreiung des Denkens oder Sprechens. Wir haben in der Friedens- und Konfliktforschung in den letzten zwei Jahren immer wieder eine weitere Verengung der Diskursräume erlebt, also dass genau diese Freiheit zu sprechen, zu denken, ohne dass man gleich in irgendwelche ideologischen Schubladen gesteckt wird, eingeschränkt war. Es gibt daneben verschiedene weitere Anknüpfungspunkte zu den Themen von eben, die uns auch in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft immer noch bewegen. Was treibt euch gerade um? Wenn wir das sowohl friedenspolitisch als auch friedenswissenschaftlich betrachten: Was möchtet ihr uns an Impulsen noch mitgeben?

Jürgen Altmann: Das sind zwei verschiedene Dinge. Zu unserer Wissenschaft: Der Wissenschaftsrat hat in seiner Beurteilung der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland von 2019 gesagt, dass sie gut aufgestellt ist. Aber bei der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung ist die Lage prekär. Daraufhin hat das BMBF, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, ein spezielles Förderprogramm aufgelegt, wo sich auch naturwissenschaftliche Personen beteiligen konnten und auch zum Teil Projekte bekommen haben. Das läuft ganz gut. Das »Peace Research Institute Frankfurt« hat ein neues Programm zur natur- und technikwissenschaftlichen Rüstungskontrollforschung gegründet; eine Physikprofessur wurde gerade an der TU Darmstadt ausgeschrieben. Also da tut sich etwas. Das sind dann vielleicht nicht mehr 20 Leute, sondern vielleicht 30 oder 40, wenn man die Doktorand*innen mitzählt. Das ist ein großer Fortschritt.

Was die fachlichen Fragen angeht, die viel größer sind: Die Rüstungsforschung und die Technikentwicklung im Militärbereich haben auch 1990 nicht aufgehört. Es gab in den US-Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung ein kleines Plateau – aber dann ging es schnell wieder hoch. Da wird sehr viel Geld ausgegeben: Zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung werden von den USA geleistet. Die wollen militärtechnisch so überlegen sein, dass – jetzt ein wörtliches Zitat des US-Verteidigungsministeriums – sie „jeden möglichen Gegner auf jedem möglichen Schlachtfeld besiegen“ können. Das ist zwar eine Illusion, insbesondere wenn man an nukleare Schlachtfelder denkt. Aber es wird sehr viel Geld ausgegeben und kontinuierlich an neuen Waffen- und anderen Militärtechniken gearbeitet. Ich habe mich fachlich unter anderem um besatzungslose Waffensysteme gekümmert, auch etwas geschrieben über die Gefahren von autonomem Schießen. Ich habe große Angst davor, dass damit nicht nur das Kriegsvölkerrecht nicht eingehalten wird, weil da kein Mensch mehr entscheiden würde, ob mögliche Ziele jetzt Kombattant*innen sind oder nicht, sondern dass es dahin gehen kann, dass sich zwischen zwei mit autonomen Waffensystemen ausgerüsteten Armeen instabile Situationen ergeben können, wenn sich bei kurzem Abstand die Reaktionszeiten von zehn bis 30 Minuten zwischen Nuklearmächten auf Sekunden verkürzen. Da besteht dann eine viel höhere Gefahr für Fehlwahrnehmungen und Eskalation – vielleicht nicht gleich nuklear, aber in der Folge dann vielleicht doch.

Es gibt noch viele andere Bereiche. Neue biologisch-chemische Agenzien könnten spezifischer wirken. Das ist gut, wenn es gegen Krebs ist oder gegen seltene Krankheiten. Aber wenn man das dann bewusst für neue Kampfstoffe einsetzen würde, wäre das hoch gefährlich. Es gibt einen Verbotsvertrag für Chemiewaffen, der auch überprüft wird; für biologische Waffen haben wir die Verifikation aber leider nicht, es gibt keine Überprüfungsregeln und keine internationale Organisation. Weiterhin gibt es die »traditionellen« Gefahren, mit denen ich wissenschaftlich groß geworden bin, nämlich mit Weltraumwaffen, Raketenabwehr und jetzt Hyperschallraketen. Da tut sich Einiges. Wenn man weiter in die Zukunft denkt, sprechen wir über Modifikationen am menschlichen Körper, um Soldaten und Soldatinnen effektiver kämpfen zu lassen. Da sind eine Menge Dinge in der Pipeline, die die Situation in der Welt erheblich schlimmer machen können, als sie heute schon ist. In der Situation des jetzigen russischen Kriegs gegen die Ukraine ist es natürlich ganz schwierig, zu irgendwelchen Begrenzungen zu kommen. Aber die gemeinsame Beurteilung, dass da Gefahren drohen und dass man sie gemeinsam auch international in den Griff kriegen muss, muss gefördert werden.

Eva Senghaas-Knobloch: Das kann ich nur bestätigen und auf weitere Gefährdungen ausdehnen: Damals hat Gro Brundtland deutlich gemacht, wie bedeutsam die Beachtung des mehrdimensionalen Zusammenhangs nachhaltiger Entwicklung ist. Aber ich möchte auch an Präsident Eisenhower erinnern, der sich sehr früh schon kritisch auf den militärisch-industriellen Komplex bezogen hat. Heute würden wir vielleicht vom militärisch-industriell-wissenschaftlichen usw. Komplex sprechen. Die Interessen spalten sich immer weiter auf und wirken dann zusammen umso mächtiger. Das macht notwendige Veränderungen so schwierig. Die Aufrüstungsdynamik war nur zu Teilen im Ost-West-Konflikt begründet, sie hatte jeweils auch innenpolitische ­Ursachen. Im Westen und Osten wurde jeweils überlegt: Wenn wir dieses neue Waffensystem jetzt haben, dann müssen wir uns auch mit dem vermutlich dagegen gerichteten System der Gegenseite befassen usw. So kommt man in eine stark »selbstbezügliche« Dynamik, die Dieter Senghaas für die Abschreckungslogik beschrieben hat und in der wir weiterhin gefangen sind.

Das Thema »Gemeinsame Sicherheit« ist schon angesprochen worden. Ich sehe eigentlich keinen anderen Weg, als dass wir uns über Wege zu gemeinsamer Sicherheit aus diesem Teufelskreis von Gewaltkonflikten und Waffenverbreitung heraus bewegen. Wenn das Thema gemeinsame Sicherheit vor desaströsen Klimakatastrophen, die so gut wie alle Menschen betreffen, zentrale Priorität gewinnen würde, könnte es gelingen, von festgezurrten Feindseligkeiten und den das Klima aufheizenden Aufrüstungsschüben wegzukommen. Dazu brauchen wir das Spektrum aller Disziplinen der Friedensforschung.

Michaela Zöhrer: Wir haben ganz viele Themen nicht ansprechen können, aber konnten gleichzeitig viele anschneiden und einige auch vertiefen. Ich finde, die Themenvielfalt, mit der sich die Forschung heute auseinandersetzen muss und kann, illustrieren auch unsere W&F-Themenschwerpunkte im Heft ganz gut. Ich möchte mich ganz herzlich bei euch beiden bedanken für eure Eindrücke und sehr bedenkenswerten Impulse.

Eva Senghaas-Knobloch ist Sozialwissenschaftlerin, Prof. i.R. am FZ Nachhaltigkeit der Uni Bremen, vielfältiges Engagement in der Friedens- und Konfliktforschung; erstes Buch 1969: Frieden durch Integration und Assoziation. Stuttgart: Klett.
Jürgen Altmann ist Physiker und Friedensforscher (im Ruhestand); er lehrt weiter an der TU Dortmund. Er ist Vorsitzender des Forschungsverbunds Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).

Krieg und Frieden jenseits »Großer Männer«

Krieg und Frieden jenseits »Großer Männer«

Eine feministische Kritik populärwissenschaftlicher Geschichtszeitschriften

von Dorothée Goetze

Populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften orientieren sich in Themenwahl und Präsentation an einem männlichen Publikum. Dies erklärt einerseits die inhaltliche Fokussierung auf Krieg und Konflikt sowie andererseits die auf »Große Männer« und deren Taten ausgerichtete Darstellung. Feministische Perspektiven können durch differenziertere Darstellungen nicht nur zu einer Neuausrichtung der Themenwahl durch die stärkere Berücksichtigung von Frieden beitragen, sondern dadurch gleichzeitig die Entwicklung von für ein diverseres Publikum attraktiven Präsentationsformen fördern.

History sells – Geschichte lässt sich gut vermarkten. Das ist bekannt und die Vielzahl medialer Formate, die einem breiten Publikum historische Inhalte vermitteln wollen, belegt das eindrücklich. Neben Radiosendungen, Podcasts, Filmen, Fernsehformaten und den sogenannten sozialen Medien sind hier auch populärwissenschaftliche Zeitschriften zu nennen. Diese haben eine lange Tradition. Das führende englischsprachige Magazin »History Today« erscheint seit 1951. Die älteste deutsche populärwissenschaftliche Geschichtszeitschrift »Damals« ist nur acht Jahre jünger. Einen wahren Boom erlebt das Genre seit Anfang der 2000er Jahre. Seitdem ist die Anzahl der verschiedenen Zeitschriften sehr stark angestiegen, eben weil Medienmacher*innen erkannt haben, dass man mit Geschichte Geld verdienen kann.

Ihrem Anspruch nach präsentieren diese Geschichtsmagazine einem breiten Publikum aktuelle Ergebnisse der historischen Forschung zu relevanten Themen. Untersuchungen zu den Konsument*innen von populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften zeigen jedoch, dass deren Leserschaft nicht so vielfältig ist, wie der Begriff »breites Publikum« zunächst annehmen lässt. Diese Geschichtsmagazine werden vor allem von älteren und gut gebildeten Männern gelesen. Dies gilt nicht nur für den deutschsprachigen Raum, sondern wird durch Studienergebnisse etwa aus Großbritannien bestätigt (De Groot 2016, S. 59). Geschichtsdidaktische Forschungsergebnisse lassen noch weiterreichendere Aussagen zu: Populärwissenschaftliche Geschichtsjournale vermitteln kein gleichgestelltes Geschichtsbild; Frauen werden weder als Individuum noch als Gruppe sichtbar, während Männer überrepräsentiert sind und in ihrer Darstellung stereotyp auf gewaltvolle Eigenschaften reduziert werden (Lundqvist 2016, S. 1). Meist wird auf »Große Männer« fokussiert, deren Leben eine Verbindung zu einem wichtigen zeitgenössischen Ereignis aufweist. Über alle Länder hinweg dominieren Krieg und Konflikt die dargestellten Inhalte, deren Auswahl ist allerdings von nationalen Geschichtsschreibungen geprägt (Schumann, Popp und Hannig 2015, S. 16). Diese Befunde spiegeln sich deutlich auf den Titel­blättern von Geschichtszeitschriften wider.

Wenn also Krieg und Konflikt den thematischen Schwerpunkt populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine bilden und sich deren Darstellung an einer gut ausgebildeten männlichen Leserschaft orientiert, stellt sich die Frage, wie sich diese Darstellung mit einer weiblichen oder feministischen Perspektive verändert.

Frauen im Krieg: Die Zeitschrift »Historiskan«

Frauen werden in populärwissenschaftlichen Geschichtsmagazinen selten thematisiert – und falls doch, dann in der Regel nicht im Kontext von Krieg und Frieden; von nicht binär gelesenen Personen ganz zu schweigen. Es ist durchaus bemerkenswert, dass sich bei der Vorbereitung dieses Textes kein einziges deutschsprachiges Geschichtsmagazin ermitteln ließ, das sich dezidiert an Frauen und/oder nicht-männliche Personen richtet, obwohl es gleichzeitig einen fast unüberschaubaren Markt an Frauenzeitschriften und zahlreiche explizit feministische (politische) Magazine gibt. Ist Geschichte also etwa ein rein männliches Thema?

In Schweden gibt es seit 2015 mit der Zeitschrift »Historiskan« (Übersetzung: Die Historikerin) ein Geschichtsmagazin, das Frauen und ihre Rolle in der Geschichte in den Fokus stellt und sich als ein Beitrag zu mehr Gleichstellung in der Geschichtsschreibung versteht.1 Diese Zeitschrift steht somit nicht in der Tradition eines feministischen, sondern eines geschlechtergeschichtlichen Zugangs zu Geschichte. Doch folgen gerade in den ersten Jahren der Zeitschrift die Titelblätter stark den oben beschriebenen Mustern bei Titelseiten anderer populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine, indem sie – wie ihre an Männer gerichteten Pendants – bekannte Frauenpersönlichkeiten in den Fokus rücken; obgleich der erste Titel zur Geschichte der weiblichen Brust mit einem Gemäldeausschnitt, der einen Busen zeigt, wohl zu Recht als programmatisch in Bild und Inhalt bezeichnet werden kann. Auf insgesamt sechs der inzwischen 31 erschienen Ausgaben (Stand: Dezember 2022) sind analog zu »Großen Männern« bedeutende Frauen abgebildet. Gezeigt wurden Königin Christina von Schweden (3/2016), Frida Kahlo (4/2016), Königin Marie-Antoinette (1/2017), Hilma af Klint (3/2017), Bernadette Devlin (4/2017) und Königin Margarethe I. von Dänemark (1/2020). Das legt den Schluss nahe, dass sich die Zeitschrift in der Frühphase stärker an der Bildsprache konventioneller Geschichtsmagazine orientierte, ehe sie eine eigene Ausdrucksform entwickelte. Unterscheidet sich die Auswahl der Persönlichkeiten zumindest insofern, als dass sie sich nicht auf Militärs und Politiker*innen beschränkt, sondern Herrscher*innen, Künstler*innen und politische Aktivist*innen repräsentiert, so handelt es sich jedoch auch hier um Einzelpersonen, denen eine herausgehobene Position zugeschrieben wird. Es wird also auch hier mit Personalisierung und Heroisierung gearbeitet.

Auf den ersten Blick scheinen Krieg und Frieden lediglich eine nachrangige Position auf der Themenliste in »Historiskan« einzunehmen. So zeigen nur zwei Titelseiten Bilder mit Kriegsbezug: Heft 2/2018 wählte als Aufmacher »Auf Leben und Tod. Suffragettenkrankenhäuser in London retteten Soldaten während des Ersten Weltkrieges«.2 Bildlich repräsentiert wird das Thema durch die Abbildung eines Gemäldes, das fünf Ärztinnen in OP-Kleidung zeigt, die einen Mann medizinisch versorgen. Die vierte Ausgabe des Jahres 2019 titelte »Im Schatten des Todes. 1939 errichteten die Nazis das einzige Frauenkonzentrationslager. Das Leben in Ravensbrück war geprägt von harter Arbeit und Grausamkeit«.3 Auf der Titelseite ist das Foto von befreiten Häftlingen des Konzentrationslagers Ravensbrück abgedruckt.

Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass bereits auf den Titelseiten der Zeitschrift Hinweise auf weitere Beiträge aus dem Bereich Krieg und Konflikt als Marginalien gesetzt werden. Darüber hinaus finden sich in den einzelnen Zeitschriftenausgaben immer wieder auch Texte, die Krieg thematisieren, ohne dass sie auf dem Titel beworben werden. In den Artikeln wird Krieg epochal breit gefächert, aber dennoch innerhalb eines durch andere Geschichtsmagazine bereits etablierten Kanons behandelt, von der Wikingerzeit (z.B. Historiskan 4/2017) bis zum 20. Jahrhundert (z.B. Historiskan 2/2017). Dabei werden unterschiedliche Facetten von Kriegserleben aufgegriffen. So gibt es etwa in Heft 1/2017 einen Artikel zum ersten russischen Frauenbataillon, das 1917 aufgestellt wurde (S. 58-63). Ausgabe 2/2017 enthält einen zehnseitigen Beitrag zum englischen Rosenkrieg, in dem Frauen als politische Akteurinnen dem blutigen Schlachtgeschehen und mächtigen Männern gegenübergestellt werden. Das nachfolgende Heft enthält eine Serie mit Aufnahmen der Fotografin Mia Green (1870-1949), die die Zeit des Ersten Weltkrieges in Haparanda bildlich dokumentiert hat, das als Grenzstadt zwischen dem neutralen Schweden und dem zum russischen Reich gehörenden Großfürstentum Finnland direkt vom Krieg betroffen war (Historiskan 3/2017, S. 44-49). Zudem ist im gleichen Heft ein Artikel zur Teilnahme von Frauen an den mittelalterlichen Kreuzzügen publiziert (Historiskan 3/2017, S. 57-61).

»Historiskan« folgt somit letztlich dem etablierten Narrativ der Heroisierung, das aus anderen populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften bekannt ist, die stark mit den aufeinander bezogenen Mitteln der Heroisierung und Dämonisierung arbeiten; nur dass der Fokus verschoben wird und statt männlichen eben weibliche Heldinnen gewählt werden. Es erfolgt jedoch keine Anpassung der Erzählstrategien. Vielmehr wird ein etabliertes (männliches) Erzähl-Muster auf ein weibliches Publikum übertragen. Die Anpassung an die veränderte Zielgruppe erfolgt somit nicht durch die Art der Darstellung, sondern in erster Linie durch die Wahl der Protagonistinnen. Dabei folgt »Historiskan« fast ausnahmslos der Perspektive der weißen heterosexuellen Mittelschichtsfrau (Lundqvist 2016, S. 38).

Mit der Betonung von Krieg und Konflikt folgen populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften nicht der Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Forschung, die sich seit etwa 2010 verstärkt Fragen von Friedensdenken, -findung und -wahrung zuwendet, obwohl sie den Anspruch formulieren, am Puls der Forschung zu sein und aktuelle Ergebnisse zu präsentieren. Als Erklärung dafür, warum aktuelle Forschung und populäre Darstellungen in diesem Punkt unterschiedliche Pfade beschreiten, kann Joachim Krügers Befund zur Ausstellbarkeit von Frieden in Museen auf populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften übertragen werden: „Krieg ist verglichen mit Frieden […] konkreter und leichter fassbar“ (Krüger 2019, S. 381). Dabei böten gerade populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften (anders als Museen, die auf Ausstellungsobjekte angewiesen sind) die Möglichkeit, Frieden erzählbar zu machen.

Feministische Perspektive: ein Weg zum Frieden

Eine Voraussetzung dafür ist ein grundlegender Perspektivwechsel. Feministische Ansätze, wie sie in der (politikwissenschaftlichen) Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen fest etabliert sind (z.B. Smith und Yoshida 2022), können dafür die notwendigen Grundlagen schaffen. Eine feministische Perspektive hinterfragt die bislang dominierende und im Fall populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine auf weiße männliche Helden und Mittelschichtsfrauen ausgerichtete Erzählstrategie und strebt danach, bislang marginalisierte Akteur*innen zu berücksichtigen. Diese Perspektivverschiebung geht einher mit einer Reflexion etablierter Machtstrukturen und ermöglicht zugleich die Berücksichtigung von Alltagserleben und unterschiedlichen Wahrnehmungen. Das nimmt den Fokus weg von »Großen Männern« und Eliten, ohne diese jedoch in ihrer Wirkmächtigkeit (und eben auch Gewalt) zu negieren. Vielmehr werden diese unterschiedlichen Akteur*innen zueinander ins Verhältnis gesetzt. Dadurch können Inklusions- und Exklusionsmechanismen sichtbar gemacht werden. Es geht also nicht darum, eine eindimensionale Perspektive durch eine andere zu ersetzen, wie das im Fall der Zeitschrift »Historiskan« durch den Austausch der Protagonist*innen geschehen ist, sondern Krieg in seiner Komplexität sichtbar zu machen.

Dieser umfassende und integrative Zugriff feministischer Ansätze trägt nicht nur dazu bei, ein differenziertes Bild von Krieg jenseits von Held*innen zu zeichnen, sondern schafft die methodischen und theoretischen Voraussetzungen dafür, Frieden zu erzählen. Dies ist umso wichtiger, da, wie Christoph Kampmann betont, bislang die Schwierigkeit besteht, Friedenshandeln im gleichen Maße wie Krieg und Konflikt zu personalisieren und zu heroisieren (Kampmann 2019, S. 434). Dadurch ist Frieden bislang mit den Präsentationsstrategien populärwissenschaftlicher Geschichtsdarstellungen nicht oder zumindest nur schwer greifbar, wie sich im Kontext von Geschichtsmagazinen gezeigt hat. Eine feministische Perspektive würdigt die Komplexität von Friedenshandeln, -denken, -finden und -bewahren. Sie bedarf der »Großen Männer« nicht. Wichtiger sind Fragen danach, ob und welche anderen Gruppen sich nach Frieden gesehnt haben und sich diesen vorgestellt haben; auf welche Weise sie darin inbegriffen oder davon ausgenommen waren und ihn selbst durch ihr Handeln im Rahmen der bestehenden Machtverhältnisse herbeigeführt oder abgelehnt haben. Dadurch wird das Wechselspiel zwischen politischen Eliten, politischen Friedensbauer*innen sowie anderen Akteur*innen jenseits der sichtbaren politischen Bühne deutlich und der Beitrag der letztgenannten zu Frieden anerkannt. Das Einbeziehen ihrer (­Exklusions- und Diskriminierungs-)Erfahrungen trägt dazu bei, die Komplexität von Frieden zu erfassen, und verdeutlicht, warum Friedenfinden aber auch die Implementierung und das Bewahren von Frieden so schwer sind. Frieden wird damit nicht länger zum bloßen Ende von Kriegen reduziert, sondern als eigenständige und komplexe Leistung anerkannt und gewürdigt.

Bislang fehlt eine feministische Form populärwissenschaftlicher Geschichtserzählungen jedoch. Dieser Beitrag versteht sich daher als Anregung für eine kritische Reflexion populärer Geschichtsvermittlung und deren notwendige Weiterentwicklung. Eine solche (selbst-)emanzipierende Perspektive trägt nicht nur zu einem differenzierteren Bild von Geschichte jenseits etablierter Schubladen bei, sondern kann darüber hinaus einen wichtigen in die Zukunft gerichteten Beitrag zu gesellschaftlich relevanten Fragen und Problemstellungen leisten: Wenn Frieden auch historisch lesbar wird, können wir gegenwärtige Tendenzen der Militarisierung, der Heroisierung, der Maskulinisierung hinterfragen und wirksamer kritisch begleiten.

Anmerkungen

1) Die Zeitschrift ist online zu finden unter: historiskan.se

2) Schwedischer Originaltitel: »På liv och död. Suffragettsjukhus i London räddade soldater under första världskriget« (Historiskan 2/2018).

3) Schwedischer Originaltitel: »I dödens skugga. 1939 öppnades nazisternas enda koncentrationsläger avsett för kvinnor. Livet i Ravensbrück präglades av hårt arbete och grymhet« (Historiskan 4/2019).

Literatur

De Groot, J. (2016): Consuming History – Historians and heritage in contemporary popular culture. 2. Aufl. London/New York: Routledge.

Historiskan 3–4/2016, 1–4/2017, 2/2018, 4/2019, 1/2020

Kampmann, Ch. (2019): Westfälischer Frieden und frühneuzeitliche Friedensgeschichte: Überlegungen zu Forschungsperspektiven und Forschungstransfer. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg.): Warum Friedenschließen so schwer ist – Frühzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. Münster: Aschendorff, S. 433-438.

Krüger, J. (2019): Krieg und Frieden in der Perspektive des Museums. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg.): Warum Friedenschließen so schwer ist – Frühzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. Münster: Aschendorff, S. 377-394.

Lundqvist, C. (2016): Kvinnors historia: Mer än vårt kön – En intersektionell studie av tidskriften Historiskan. Examensarbeit im Studiengang Lehramt Geschichte, Universität Karlstad, online-Publikation: urn:nbn:se:kau:diva-42929.

Smith, S.; Yoshida, K. (2022): Feminist conversations on peace. Bristol: Bristol University Press.

Schumann, J.; Popp, S.; Hannig, M. (2015): EHISTO – European History Crossroads as pathways to intercultural and media education. A report about the EU project (2012–2014). In: Popp, S.; Schumann, J.; Hannig, M. (Hrsg.): Commercialised History – Popular History Magazines in Europe. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 14-39.

Dr. Dorothée Goetze arbeitet als Lektorin für Geschichte an der Mittuniversitetet Sundsvall (Schweden). In ihrer Forschung untersucht sie u. a. Fragen der frühneuzeitlichen Historischen Friedensforschung und der Public History.

Der Himmel gewähre uns Zeit!

Der Himmel gewähre uns Zeit!

Thomas Mann als Friedensdenker im Kalten Krieg

von Karlheinz Lipp

Die Politik des Kaiserreiches, auch im Ersten Weltkrieg, unterstützte Thomas Mann rückhaltlos. Diese Überzeugung änderte er nach 1918 deutlich. So kritisierte der Schriftsteller den Aufstieg der NSDAP bis 1933 mit klaren Worten. Aus dem kalifornischen Exil attackierte Mann den NS-Staat und den Zweiten Weltkrieg in seinen Radiosendungen. Seine ablehnende Haltung zum Militarismus, zur Aufrüstung und zu einem deutschen Hegemoniestreben änderte sich auch im Zeitalter des Kalten Krieges nicht. Mann war kein Kommunist und kein Antikommunist – sehr zum Unwillen konservativer Kreise in der Bundesrepublik.

Thomas Mann erlebte und kommentierte den Zweiten Weltkrieg aus dem Exil in Kalifornien. Wie würde er die neue politische Phase des Kalten Krieges und die damit verbundenen Probleme sehen und beurteilen? Nach dem Ende des Krieges stellte sich für die Menschen, die ab 1933 durch den NS-Staat ins Exil vertrieben wurden, die Frage, ob sie nach Deutschland zurückkommen sollten. Einige machten dies, andere nicht. Wie würde sich der sehr bekannte Autor mit internationalem Renommee und Gegner des Nationalsozialismus entscheiden? Thomas Mann wurde bereits am 8. August 1945 von Walter von Molo aufgefordert, nach Deutschland zurückzukehren. Der Literaturnobelpreisträger von 1929 antwortete in einem Offenen Brief am 12. Oktober »Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe«. Mann betonte besonders folgende Gründe für seine Entscheidung: den mangelnden Widerstand im Jahre 1933, die tiefe Verletzung durch die Politik des NS-Staates sowie die Tatsache, dass er inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden sei. So hatte der Schriftsteller eine lange freundschaftliche Beziehung zum Präsidenten Roosevelt.1

Suspekt erschienen Mann große Teile des deutschen Volkes auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus.2 So notierte er am 7. Januar 1947 in sein Tagebuch: „Käme Hitler wieder, 60-80 % würden ihn mit offenen Armen empfangen.“ 3 Eine geplante Reise nach Deutschland, zwei Monate später, wurde von der Tochter Erika vehement und erfolgreich abgelehnt. So fuhr Mann im Frühjahr in europäische Länder (England, Schweiz, Italien und Holland) – aber nicht in die vier Besatzungszonen.

Jedoch publizierte Thomas Mann eine »Botschaft an das deutsche Volk«, diese erschien am 24. Mai 1947. „Das deutsche Volk kann nicht von außen her umerzogen werden. Jede wirksame Umerziehung muß von innen heraus wachsen. Die beste Umerziehung wird eine allgemeine Aufwärtsentwicklung der Welt mit sich bringen, die dem deutschen Volk klar macht, daß es keine Aussicht auf einen neuen Krieg hat, die es überzeugt, daß die Welt einen Stand erreicht hat, in dem alle nationalistischen, nazistischen und militaristischen Ideen sinnlos geworden sind.“ 4

Mit Roosevelt hoffte Mann auf die Vereinten Nationen – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Die bipolare Welt und der Kalte Krieg ließen auch Mann einen neuen Krieg befürchten. Im Koreakrieg (1950-1953) zeigte sich schon recht bald eine entsprechende, militärische Realität.

Beginnende Distanz zu den USA

Seine positive Einstellung zu seinem Gastland USA änderte Mann sukzessive. Wesentlichen Anteil daran hatte der besonders schroffe Antikommunismus in der US-Außenpolitik (Präsident Truman, der Nachfolger Roosevelts, verschärfte durch seine Doktrin von 1947 den Kalten Krieg) sowie in der US-Innenpolitik durch die Jagd auf reale und vermeintliche Anhänger des Kommunismus, maßgeblich vorangetriebenen durch den republikanischen Senator Joseph McCarthy. Diese geschürte Massenhysterie missfiel Thomas Mann zunehmend. Ferner schmerzte den Schriftsteller die Tatsache, dass es die USA waren, die eine Remilitarisierung der Bundesrepublik gezielt vorantrieben. Skeptisch beäugte Mann die Rolle der Rüstungsindustrie beim Aufbau einer deutschen Armee – hatte er doch in der Weimarer Republik die Bedeutung der Großindustrie beim Aufstieg der NSDAP in unguter Erinnerung.5

Skepsis gegenüber der NATO

Am 4. April 1949 wurde die NATO gegründet. Thomas Mann gehörte zu den Unterzeichner*innen eines Offenen Briefes an den amerikanischen Kongress vom 11. April, der sich gegen eine überstürzte Ratifizierung des Paktes richtete. Die Nachrichtenagentur Reuters meldete: „500 Personen, darunter der deutsche Schriftsteller Thomas Mann und der Pianist Artur Schnabel, haben den amerikanischen Kongreß in einem Offenen Brief zur Ablehnung des Atlantikpaktes aufgefordert. Die Unterzeichner fordern Präsident Truman zu direkten Verhandlungen mit der Sowjet­union zur Beilegung der bestehenden Differenzen auf. In dem Schreiben […] heißt es u.a., der Pakt würde den Wiederaufbau Westeuropas verzögern und unausweichlich zu einer fatalen ‚Zwei-Welten-Politik‘ führen.6

Und die schwedische Zeitung Svenska Dagbladet schrieb am 20. Mai: „Auf die Frage nach der Distanzierung vom Atlantikpakt antwortete Thomas Mann, er sei der Auffassung, daß Bündnisse zu erschreckend an das erinnern, was früher in den schlechten alten Zeiten geschehen war. Es hat sich gezeigt, daß Machtkonzentrationen dieser Art zu Entladungen geführt haben, selbst wenn sie defensiv geplant waren.7

Hin zu einem Weltföderalismus

Mann unterstützte daher das Projekt des Vereinigten Weltföderalismus, dessen Vorsitzender sein Schwiegersohn Antonio Borgese, verheiratet mit der jüngsten Tochter Elisabeth, war. Sie übernahm nach dem Tod ihres Ehemannes die Leitung. Thomas Manns globale, föderale Position, von der er überzeugt war, dass sie den Krieg überwinden könne, zeigt sich deutlich in der Erklärung »Eine Welt oder keine« im schwedischen Rundfunk vom 5. September 1949 anlässlich des Dritten Internationalen Kongresses der Weltföderationsbewegung in Stockholm.

„Noch immer gibt es Militärbündnisse, Rüstungen und sich widersprechende nationale Interessen. Immer noch können wir, die einfachen Bürger dieser Welt, in einen Krieg verwickelt werden, den wir nicht wollen und der das furchtbarste Unglück wäre. Laßt euch etwas sagen, wovon ich zutiefst überzeugt bin: Wer dauernden Frieden will, muß die Weltregierung wollen. Denn solange wir kein Weltgesetz haben und keine Weltpolizei, wohl aber Mißhelligkeiten und Zerwürfnisse zwischen den Menschen, bleibt Krieg am Ende der einzige Ausweg. Glaubt bitte nicht, daß die Weltregierung gleichbedeutend wäre mit dem Verlust eurer nationalen Unabhängigkeit. Nichts soll euch genommen werden als die Verpflichtung, auf Befehl eurer Regierung in den Krieg zu ziehen. Im übrigen wird die Weltregierung sich nicht einmischen in die Angelegenheiten der Länder. Wenn wir die Weltregierung wollen, so müssen wir hinarbeiten auf unser Ziel.“ 8

Verständigung über Blockgrenzen hinweg

Mann weigerte sich stets, Nationalsozialismus und Kommunismus auf eine Ebene zu stellen. Im Juni 1951 entstand ein Brief Manns an Walter Ulbricht. Gekürzt erschien das Schreiben 1963, vollständig erst 1990. Eine Antwort Ulbrichts existiert nicht. In seinem Brief führt Mann zunächst seine Friedensüberzeugung an, um sich dann, in einer humanistisch begründeten Verständigung über Blockgrenzen hinweg, aktiv an einer frühen Form der Entspannungspolitik zu versuchen:

„Wenn auch der Kommunismus den Frieden will – und ich glaube, daß er ihn will –, so sollte er alles tun, um einem Humanismus Vorschub leisten und Rechtfertigung zu gewähren, der, ohne an das kommunistische Credo gebunden zu sein, sich dem militanten Anti-Kommunismus verweigert und für den Frieden einsteht, indem er es der Zeit […] anheimgibt, die Gegensätze auszugleichen und zu höherer Einheit aufzuheben, die heute in scheinbarer Unversöhnlichkeit zwischen den Welthälften klaffen, während doch die sie bewohnenden Völker im Grunde alle den gleichen Problemen und Aufgaben verpflichtet sind. Der Kommunismus, sage ich, sollte alles tun, diesem friedenswilligen Humanismus Hilfe zu leihen und so weit nur immer möglich alles vermeiden, was seinen Einfluß lähmen könnte.“ 9

Es ist dann Thomas Mann selbst, der in den folgenden Abschnitten seines Briefes an Ulbricht ein konkretes Beispiel für den angesprochenen Humanismus aufzeigt. Im sächsischen Waldheim kam es ein Jahr zuvor, von April bis Juni 1950, zu Schauprozessen. Ungefähr 3.000 Personen, die zuvor einige Jahre in Lagern der Sowjetischen Besatzungszone interniert waren, wurden der Zusammenarbeit mit dem NS-Staat angeklagt und verurteilt – ohne Rechtsbeistand, ohne entlastende Zeugen und ohne eine Aussicht auf ein Berufungsverfahren. Mann vergleicht diese Rechts­praxis mit dem »Volksgerichtshof« unter Roland Freisler. Damit wollte der Autor darauf hinweisen, dass es bei politischen Prozessen in der DDR keine unabhängige Justiz gab. Der Schriftsteller nennt einige konkrete Namen von Menschen, die abgeurteilt worden sind, und bittet um Gnade für sie. Am Ende seines Briefes verknüpft Mann die Waldheimer Prozesse mit der Bipolarität des Kalten Krieges und plädiert für eine Entspannung sowie Versöhnung zwischen den Machtblöcken.

Glauben Sie nicht mit mir, daß alles, was auch nur indirekt dazu beitragen könnte, diese verhängnisvolle Spannung herabzusetzen, die vergiftete Atmosphäre zu verbessern, Haß und Furcht zu mindern und das Bild der einen Seite der anderen weniger bedrohlich erscheinen zu lassen, – daß jede Geste der Milde und Menschlichkeit heute eine Tat für den Frieden, Trost und Unterstützung für alle wäre, die den Frieden wollen?“ 10

Manns Haltung zu Massenvernichtungswaffen

Mitte März 1950 beschlossen 150 Delegierte des kommunistischen Weltfriedenskomitees ein absolutes Verbot von Atomwaffen. Dieser Stockholmer Appell wurde weltweit von ca. 500 Millionen Menschen unterschrieben, davon zwei Millionen in der Bundesrepublik. Ob Thomas Mann den Aufruf unterzeichnet hat, ist umstritten.11 Im April 1954 gab der Schriftsteller dem Journalisten Guido Nozzoli ein Interview, der daraus einen Artikel für die Zeitung L‘Unità (Organ der Kommunistischen Partei Italiens) fertigte. Der Beitrag erschien am 3. Mai 1954 und behandelte auch Aspekte des Friedens und der atomaren Bedrohung desselben. In der Bundesrepublik wurde dieses Interview erst viele Jahre nach Manns Tod publiziert. Dies zeigt sehr bezeichnend, dass Thomas Mann zwar als Schriftsteller anerkannt wurde, jedoch nicht als friedenspolitischer Mahner im Kalten Krieg.

„Was denkt Thomas Mann über den Alarmzustand, in den sich alle Nationen durch die unkontrollierbare Wirkung der neuen Bombe [Wasserstoffbombe] versetzt sehen? Wenn man seinen Standpunkt kennt, ist die Frage mehr als überflüssig. […] ‚Der Krieg‘, sagt er [Mann], ‚und besonders ein Atomkrieg wäre nur ein zerstörerisches Unternehmen. Ideen sind um den Preis eines Massakers nicht aufrechtzuerhalten. Auch ein Krieg, den man für richtig hält, kann die Menschheit nur niederdrücken und zurückwerfen. Und bei einem Zusammenprall gäbe es keinen Sieger.‘[…]

‚Sie halten es also für richtig‘, frage ich weiter, ‚daß der friedliche Kampf der Völker gegen die Bedrohung durch die atomare Geißel fortgeführt wird?‘ Auch diese Frage beantwortet Thomas Mann ohne zu zögern. ‚Ja, das ist sicherlich eine gute Sache, und jeder muß zu ihrem Erfolg beitragen. Man darf nicht den Kommunisten allein die Verteidigung des Friedens überlassen. Es mag ihnen befremdlich erscheinen, daß ich das Ihnen, einem Kämpfer der Kommunistischen Partei sage, doch das ist meine Meinung. Ich halte es für eine Pflicht eines jeden Menschen und vor allem eines jeden Intellektuellen, alles Menschenmögliche zu tun, um die Spannung zu entschärfen, um das zu erreichen, was wir mit einem deutschen Wort ‚Entspannung‘ nennen. Um das gegenseitige Verständnis zu fördern, meine ich, daß man die kulturellen Beziehungen und den wirtschaftlichen Austausch erweitern müßte: auf diesen Ebenen ist es leichter, sich zu verstehen.“ 12

Keine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik

Die außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik kritisierte unterdessen weiterhin vehement den Aufrüstungskurs der Regierung Adenauer. Einen Höhepunkt bildete dabei der Zeitraum von Herbst 1954 bis zum Frühjahr 1955.13 Am 23. Oktober 1954 erschien in der französischen Zeitschrift L‘Express unter dem Titel »Thomas Mann lance un message« (Thomas Mann sendet eine Botschaft) ein Beitrag zur Frage der westdeutschen Wiederbewaffnung. Maßgeblichen Anteil an der Entstehung dieses Artikels hatte die Tochter Erika. Das Neue Deutschland druckte am 30. Oktober eine fragmentarische, deutsche Rückübersetzung ab. In der Bundesrepublik erschien Manns Stellungnahme erst 1974.

Der Schriftsteller skizziert zunächst die angespannte weltpolitische Lage des Kalten Krieges und das drohende Potential eines möglichen heißen Krieges. Danach zitiert Mann sehr zustimmend einige Passagen des »Essener Vorschlages«, eines Friedensprogramms von SPD-Mitgliedern.14 Besonders schätzt Mann dabei folgende Aspekte: Frieden als oberstes Ziel angesichts seiner akuten Bedrohung; eine Politik der Freundschaft und Verständigung gegenüber allen Völkern im Westen und Osten – unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsordnung; Verzicht auf eine Machtpolitik angesichts der historischen Erfahrung des Militarismus; Kritik an den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, die ihre Macht missbraucht hätten, um den deutschen Militarismus zu fördern sowie eine Völkerverhetzung zu etablieren; Räumung des gesamten deutschen Territoriums von ausländischen Truppen; Verzicht auf eine deutsche Armee und auf Massenvernichtungsmittel – eine starke Polizei sei ein ausreichender Garant für die Sicherheit.

Besonders betont Mann die deutsch-französische Zusammenarbeit sowie den wichtigen Kulturaustausch (Theater, Musik, Literatur) der beiden Länder. „Mir scheint, die letzten Reste des Mythos vom ‚Erbfeind im Westen‘ sind abgestorben. Schon Hitlers Schwindel-Eroberung Galliens vor vierzehn Jahren hat nicht entfernt den Stolz, das nationale Hochgefühl ausgelöst wie der Sukzeß von 1870/71. Heute ist eher eine gewisse Gêne [Unbehagen] zu beobachten über den Siegesplunder von 1940, ein Achselzucken über den Waffenruhm, mit dem man so äußerst ernüchternde Erfahrungen gemacht hat. Dies Volk, seiner großen Mehrheit nach, will nichts wissen von Krieg und Kriegsgeschrei. Es will leben, arbeiten, aufbauen – und sich ohne ‚Machtpolitik‘ das Maß von Macht wieder zuwachsen lassen, welches das natürliche und legitime Ergebnis der Aktivität, des Fleißes und ehrlicher Tüchtigkeit ist. Es ersehnt sich Zeit und ist nicht ohne berechtigte Hoffnung, daß sie ihm und der Welt gewährt sein möge. Die Hydrogenbombe sollte den Frieden sichern –, was ihn in Wahrheit fristet, ist die Tatsache, daß Rußland sie auch hat, und ich müßte mich ganz und gar irren, wenn nicht verbreitete Befriedigung über diesen Sachverhalt unter den Deutschen herrschte. […] Die Zeit ist ein kostbares Geschenk, uns gegeben, damit wir in ihr klüger, besser, reifer, vollkommener werden. Sie ist der Friede selbst, und Krieg ist nichts als das wilde Verschmähen der Zeit, das Ausbrechen aus ihr in sinnloser Ungeduld. Der Himmel gewähre uns Zeit! In ihr wird sich dem Letzten noch der bloße Gedanke an einen dritten Krieg als der selbstmörderische und kriminelle Wahnsinn erweisen, der er ist.15

In die weiteren Debatten um die Wiederbewaffnung und den Kalten Krieg griff Thomas Mann bis zu seinem Tod am 12. August 1955 im Alter von 80 Jahren allerdings nicht mehr ein. Bereits am 9. Mai traten die BRD der NATO und die DDR am 14./15. Mai dem gerade gegründeten Warschauer Pakt bei. Doch es wäre auch anders gegangen: Die Republik Österreich, ein dritter Nachfolgestaat des NS-Regimes, ist seit dem 26. Oktober 1955 nach dem Abzug aller Besatzungstruppen offiziell ein neutraler Staat – vielleicht ganz im Sinne Thomas Manns?

Anmerkungen

1) Zur deutschen Diskussion um die Remigration Manns vgl. Hermand, J.; Lange, W. (1999): „Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?“ Deutschland und die Emigranten. Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt, S. 7-55.

2) Mann versuchte ab 1940 mit seinen BBC-Rundfunkansprachen »Deutsche Hörer« zu erreichen, um sie für den Widerstand gegen den NS-Staat zu aktivieren. Vgl.: Mann, Th (2004): Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940-1945. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag; Valentin, S. (2015): „Steine in Hitlers Fenster“. Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! (1940-1945). Göttingen: Wallstein.

3) Mann, Th. (1989): Tagebücher 28.5.1946-31.12.1948. Hrsg. von Inge Jens. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, S. 85.

4) Mann, Th. (1990): Gesammelte Werke, Band XIII. Nachträge, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, S. 789.

5) Vgl. Sontheimer, K. (2002): Thomas Mann und die Deutschen. München: Langen Müller, S. 167ff.

6) Hansen, V.; Heine, G. (Hrsg.) (1983): Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909-1955. Hamburg: Knaus Verlag, S. 290, Anmerkung 4.

7) Ebd., S. 292.

8) Mann, Th. (1990): Gesammelte Werke, Band XIII, a.a.O., S. 799f.

9) Mann, Th (1992): Essays. Band 6. Meine Zeit 1945-1955. Hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, S. 211ff.

10) Ebd., S. 217.

11) Vgl. Heine, G.; Schommer, P. (2004): Thomas Mann Chronik. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann Verlag, S. 474.

12) Hansen, V.; Heine, G. (1983): Frage und Antwort. a.a.O., S. 379ff.

13) Für einen Überblick vgl. Lipp, K. (2021): Chronologie der Friedensinitiativen in den beiden deutschen Staaten von 1945 bis 1955. Norderstedt: BoD, S. 61-94.

14) Zu den Positionen der SPD von 1945 bis 1955 vgl. Butterwegge, Ch.; Hofschen, H-G (1984): Sozialdemokratie, Krieg und Frieden. Die Stellung der SPD zur Friedensfrage von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine kommentierte Dokumentation. Heilbronn: Distel Literaturverlag, S. 246-291.

15) Mann, Th. (1990): Gesammelte Werke, Band XIII, a.a.O., S. 812f.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker mit dem Schwerpunkt Historische Friedensforschung.

Die Kinderschlacht bei Acosta-ñu

Die Kinderschlacht bei Acosta-ñu

Der Tripelallianz-Krieg und die Rolle von Kindersoldaten

von Jörg Becker

Der Krieg der Tripelallianz gegen Paraguay von 1864-1870 ist gut aufgearbeitet, wenn auch in Europa wenig bekannt. Das Ende fand dieser Krieg mit einem Kampf, der als Kinderschlacht bei Acosta-ñu bekannt wurde. Sie ist eine der ersten dokumentierten Einsätze von Kindersoldaten auf einer größeren Maßstabsebene. Aus diesem historischen Beispiel zeigen sich Herausforderungen der Fassung von Kindern als Täter*innen, die noch heute thematisiert werden: die Freiwilligkeit des Handelns, die Tat an sich und der Umgang mit minderjährigen Kombattant*innen.

Von 1864 bis 1870 gab es in Südamerika einen sehr langen und besonders grausamen Krieg. Die drei Mächte Brasilien, Argentinien und Uruguay kämpften gegen Paraguay. Im historischen und gegenwärtigen Bewusstsein in Europa ist dieser Krieg kaum vorhanden. Das ist in Südamerika völlig anders. Zahlreiche Bücher aus allen vier an diesem Krieg beteiligten Ländern haben die Kriegsursachen, den Kriegsverlauf, das Kriegsende und die Kriegsfolgen für Paraguay, das diesen Krieg verlor, gut aufgearbeitet.1 Von deutschsprachiger Seite liegen zu diesem Krieg erst jüngst Arbeiten von Ralph Rotte (2011) und Barbara Potthast (2005) vor.

Kriegsursachen und Verlauf

Es gab mehrere Kriegsursachen: eine ­Divide-et-Impera-Politik von sowohl Großbritannien als auch den USA, territoriale Konflikte, innere Unruhen, für deren Beruhigung ein Ablenken auf äußere Feinde sinnvoll erschien, und ein starkes Modernisierungsgefälle zwischen einem modernen Paraguay und den rückständigen und halbfeudalen Republiken Argentinien und Uruguay sowie dem Kaiserreich Brasilien.

Im Laufe des Krieges war das kleine Paraguay im Oktober 1866 schon derartig geschwächt, dass die Armee „schließlich die gesamte männliche Bevölkerung in Anspruch“ nahm. „17-jährige Jungen dienten als Ochsenkarrenfahrer und Unter-14-Jährige sollten im öffentlichen Dienst die eingezogenen Männer ersetzen. Im März 1867 wurde die Mobilisierung aller 13- bis 16-Jährigen befohlen und im Mai wurden sogar Leprakranke eingezogen. Nach dem Fall von Humaitá, einer paraguayischen Kleinstadt, die nach dem Krieg an Brasilien fiel, wurden mangels Ersatz 14-Jährige zu Unteroffizieren befördert und 70-Jährige als Offiziere eingestellt. […] [Seit 1868] leisteten paraguayische Frauen nicht nur freiwillige Hilfsdienste im Heer, sondern nahmen bisweilen auch an den Kämpfen teil – insbesondere an der Seite ihrer minderjährigen Söhne. Hunderte Frauen sollen dabei getötet worden sein.“ (Rotte 2011, S. 175f.).

Paraguay war nicht nur bezüglich seiner Einwohner*innen völlig am Boden, sondern außerdem auch infrastrukturell. Epidemien, Hungersnöte und Krankheiten hatten das Land in die Knie gezwungen. Von allen Seiten umzingelt und vom Außenhandel abgeschlossen, musste Paraguay alles selbst produzieren: Kugeln für Geschütze, Gewehre, Kanonen und andere Waffen.

Kinder spielten in diesem Krieg und auf allen Seiten eine Rolle. Bei allen Truppen zogen »vivandières« mit, also Weinverkäuferinnen und Kellnerinnen der Feldküchen. Bei ihnen waren auch Kinder, deren Väter unbekannt waren. Es kam durchaus auch vor, dass Kinder mitten in einer Schlacht geboren wurden. Man nannte diese Kinder »regimental children« oder Truppenkinder. Sie wurden oft in kleine Uniformen gesteckt. Sie halfen ihren Müttern oder den Soldaten bei ihrer Arbeit.

Die Kinderschlacht von Acosta-ñu

Den Höhepunkt und das Ende des Tripel-Allianz-Krieges bildete die sogenannte Kinderschlacht von Acosta-ñu (auch »Campo Grande« oder »Los Niños«) am 16. August 1869 in Paraguay. Dafür hatte der in Europa als liberal und fortschrittlich angesehene brasilianische Kaiser Dom Pedro II. als Kriegsminister und Befehlshaber auf brasilianischer Seite Herzog Caxias, Luís Alves de Lima e Silva (1803-1880) ernannt, einen rücksichtslosen Militär. Dieser hatte verkündet, man müsse im Krieg gegen Paraguay „sogar den Fötus einer Frau im Mutterleib töten“ und danach trachten, „die gesamte paraguayische Bevölkerung in Rauch und Staub umzuwandeln“ (Chiavenatto 1979, S. 154).

Bei der Schlacht von Acosta-ñu stand auf der Seite des Dreierbündnisses eine gestandene und gut ausgebildete Armee aus 20.000 erwachsenen Männern – auf der Seite Paraguays standen 3.500 Kindersoldaten im Alter von neun bis fünfzehn Jahren, angeführt von 500 älteren Veteranen (siehe Abbildung 2). Die Kinder hatten sich zur Tarnung Bärte auf ihre Backen gemalt. Als sie in einem Kreis zusammenstanden, wurden sie von allen Seiten angegriffen.

„Entsetzte Kinder von sechs bis acht Jahren klammerten sich in der Hitze des Kampfes an die Beine der brasilianischen Soldaten, weinten und baten sie, sie nicht zu töten. Und sie wurden sofort geköpft. Die Mütter versteckten sich im nahen Dschungel und beobachteten, wie sich der Kampf abspielte. Einige von ihnen erhoben Speere und führten sogar den Widerstand der Kindertruppen an. (Chiavenatto 1979, S. 158)

Bei dieser Schlacht starben auf paraguayischer Seite 2.000 Soldaten und 1.400 wurden verwundet oder kamen in Gefangenschaft. Auf der Seite der brasilianisch-argentinischen Armee unter Leitung von Prinz Gaston von Orleans (1842-1922), einem Schwiegersohn des brasilianischen Kaisers Dom Pedro II., starben 182 Soldaten und 420 wurden verwundet. Nach dieser grausamen Kinderschlacht war der Tripel-Allianz-Krieg 1870 zu Ende.

Der Tripel-Allianz-Krieg war für das besiegte Paraguay verheerend. Für Paraguay war dieser Krieg ein „totaler Krieg“ gewesen, so die Bewertung von Rotte (2011, S. 170). Neben den Landabtretungen an Brasilien (Teile von Mato Grosso) und Argentinien (Region Misiones und Teile der Chaco-Region) war die zentrale verheerende Konsequenz, dass die gesamte Gesellschaft in Paraguay nach zehn Jahren des Krieges traumatisiert zurückblieb. Paraguay mit seiner kleinen Einwohnerzahl von 0,5 Mio. Menschen hatte etwa die Hälfte seiner Bevölkerung verloren – nicht wenige davon waren Kinder.2

Nicht nur ist dieser Krieg gut erforscht. Er ist außerdem fotografisch gut dokumentiert, war es doch nach dem Krim-Krieg (1853-1856) und dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) der erst dritte Krieg, an dem die neue Technologie aktiv zum Einsatz kam. Berühmt für diesen Tripel-Allianz-Krieg wurde die »Carte de visite«. Das war ein in einem eleganten Foto-Studio hergestelltes Porträtfoto auf Hartpappe. Im Mittelpunkt steht jeweils ein Offizier in Galauniform und mit Orden und Säbel. Eine Reihe dieser Fotos zeigen Offiziere zusammen mit Truppenkindern (vgl. Abbildung 1). Gegenüber diesen Reputationsfotos gibt es auch einige wenige Fotos aus dem realen Kriegsgeschehen (siehe erneut Abbildung 2).

Altes Bild – Kindersoldat und Soldat

Abbildung 1: »Carte de visite«

Altes Bild – Kindersoldaten im Gefecht

Abbildung 2: Kindersoldat im Gefecht (Quelle der Bilder: Nationalbibliothek, Montevideo)

Friedenswissenschaftliche Überlegungen zum Einsatz von Kindersoldat*innen

Vor dem Hintergrund dieses Krieges steht nun natürlich die Frage, wie der Einsatz der Kindersoldat*innen zu bewerten ist. Inwiefern sind diese Kinder Täter*innen? Kann ihrem kriegerischen Handeln, den Taten, die sie begehen, das gleiche Verständnis von Täter*innen zugrunde gelegt werden wie bei Erwachsenen?

Dass der Einsatz von Kindersoldaten in einem Krieg damals wie heute problematisch ist, lässt sich übereinstimmend festhalten. Außerhalb ethischer Bedenken steht zunächst einmal das reine Effizienzdenken: Der Einsatz von Kindersoldat*innen ist oft verlustreich, ohne entsprechende Erfolgsaussichten. Das Beispiel der Kinderschlacht von Acosta-ñu verdeutlicht das wie kaum eine andere Auseinandersetzung. Über 2.000 Kinder starben in dieser Schlacht, der politische Hass der Gegner auf die Paraguayer*innen scheint alle »moralischen« Bedenken überdeckt zu haben, diese Kinder nicht zu töten. Der schiere Umstand, dass so wenige erwachsene Soldaten zur Verfügung standen, dass tatsächlich Kinder rekrutiert wurden, muss über die ideologische Rahmung des »totalen Krieges«, wie oben erwähnt, verstanden werden. Der Effizienzgedanke stand für Paraguay nicht zur Frage, da die Rahmung der »Existenzfrage« alle Mittel zu rechtfertigen schien. Die Schlacht macht deutlich: Stehen sich ungleiche Kriegsgegner*innen gegenüber – hier also Erwachsene versus Kinder – dann verlieren die Kinder. Für die weitere Forschung zum Einsatz von Kindersoldaten muss aber auch gefragt werden können: Wie ungleich sind die Verhältnisse, wenn kleine Menschen schneller laufen können als große Menschen, wenn die Kleinen skrupelloser als die Großen sind? In vielen Kontexten im 20. Jahrhundert stellt sich diese Frage direkt und mit erschreckender Konkretion.

Nicht zu vernachlässigen ist die Ebene der Ökonomie des Einsatzes von Kindersoldat*innen. Kindersoldat*innen erhalten einen kleineren Sold als erwachsene Soldat*innen – wenn sie überhaupt einen erhalten. Besonders beim Einsatz von Söldner*innen – im Dreißigjährigen Krieg genauso wie jetzt beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik (CAR) – kommen den »warlords«, die die Söldner bezahlen müssen, Kindersoldat*innen billiger als erwachsene Soldat*innen. Das ist wichtig bei der Betrachtung der Gründe für die Anwesenheit von Kindersoldat*innen – diese sind keineswegs alle oder auch nur zu einem großen Teil aus eigenen niederen Motiven in diese Kriege eingetreten. Die Verpflichtung von Kindern geschieht auch oft aus schlicht ökonomischen Motiven. Dies scheint im Kontext von Acosta-ñu eine weniger bedeutsame Dimension gewesen zu sein.

Nicht zuletzt steht noch der schwierige Punkt der Moral im Raum. Auch wenn es zeit-, raum- und kulturübergreifend keine Einigkeit darüber gibt, ob Kinder schützenswertere Menschen seien als Erwachsene, so kann man aber normativ sagen, dass heute in einer globalisierten Welt eine solche Moral anzustreben ist. Ausfluss einer solchen globalen Moralvernunft ist die UN-Kinderrechtskonvention von 1989, die mit ihren Fakultativprotokollen den Einsatz von Menschen unter 18 Jahren verbietet. Eine interkulturelle Kommunikation ist nur dann friedensstiftend, wenn vor einer Kritik an Zuständen in anderen Ländern eine Selbstkritik zuhause vorangeht. So äußerte sich 2014 der UN-Kinderrechtsausschuss besorgt darüber, dass in Deutschland Jugendliche ab 17 Jahren eine militärische Ausbildung bei den Streitkräften beginnen können. Aber die Bundesregierung wies sämtliche Bedenken der UN zurück. Wer diese Kritik an Deutschland formuliert, kann sich in einem zweiten Schritt kritisch mit dem Brasilianer Luís Alves de Lima e Silva auseinandersetzen. Dieser Oberbefehlshaber der Kinderschlacht von Acosta-ñu aus Brasilien war ein ausgesprochen brutaler Militärbefehlshaber, der sich außerdem nach der Schlacht auf einem riesengroßen Ölgemälde hoch zu Ross verherrlichen ließ und das noch heute im Museu Nacional de Belas Artes in Rio de Janeiro einen herausragenden Platz einnimmt.

Dass Kinder in ihrem Tun – wie alle Menschen überhaupt – Opfer struktureller Bedingungen (Gewalt, Ausbeutung, staatlicher Zwang usw.) sind, versteht sich von selbst. Doch diese banal richtige analytische Einordnung kann die Verantwortung für individuelles Handeln nicht unberücksichtigt lassen. Selbstverständlich unterscheidet das Strafrecht zwischen der Schuld von Erwachsenen und Kindern nach Altersgrenzen. Gleichzeitig kennt die Pädagogik durchaus das Konzept von verantwortungsbewusstem Handeln auch bei Kindern. Verstöße gegen diese Verantwortung werden durch eine pädagogisch orientierte »Grenzziehung« ausgeglichen und schlimmstenfalls auch bestraft. Besser als Strafe ist Resozialisierung, aber Kindersoldat*innen sind (auch) Täter*innen – ihre Taten dürfen sozial und individuell nicht folgenlos bleiben.

Für Paraguay bedeutete dieser Krieg, dass das Land in vielen Dimensionen weit zurückgeworfen wurde. Das einst so moderne und früh industrialisierte Paraguay schneidet noch heute wegen dieses desaströsen Kriegs vor 150 Jahren auf dem Human Development Index sehr viel schlechter ab als die anderen kriegführenden Länder.

Die gesellschaftliche Dimension dieses Krieges war durchweg traumatisierend – für die Bewohner*innen Paraguays wie auch die hier beschriebenen Kinder. Niemals sollte vergessen werden, welche dramatischen Folgen ein Kriegseinsatz auf die psychische Gesundheit der Kinder hat – doch ebenso sollten die hier aufgeworfenen Fragen nach dem Handeln und den Hintergründen des Einsatzes von Kindersoldaten bei der Täter*innen-Forschung nicht ausgeblendet werden.

Was bleibt? Eine positive friedenswissenschaftliche Konsequenz aus dem Tripelallianz-Krieg und der Kinderschlacht zog der paraguayische Historiker Andrés Aguirre (Aguirre und Samaniego 1979). Ihm ist es zu verdanken, dass der 16. August jeden Jahres in Paraguay feierlich als »Tag des Kindes« begangen wird.

Anmerkungen

1) Ich danke María La Manna aus Montevideo für ihre Hilfe, mir diesen Krieg verständlich zu machen. In der Nationalbibliothek von Uruguay in Montevideo konnte ich Anfang Oktober 2019 viele originale Kindersoldatenfotos aus dem Tripel-Allianz-Krieg einsehen. Dieses mir unvergessliche Erlebnis verdanke ich den Archivarinnen Anilán Nievas, Adriana De León und Carla Fusaro. Gerade ihnen sei an dieser Stelle herzlich für ihre Hilfe gedankt und dafür, dass Fotos aus diesem Krieg kostenfrei veröffentlicht werden dürfen. Geisa Fernandes aus Rio de Janeiro danke ich für die Übersetzung des Kinderkriegskapitels aus dem Buch von Julio José Chiavenatto aus dem Portugiesischen ins Deutsche. Zu diesem Krieg sind vor allem die folgenden Bücher zu studieren: Chiavenatto, J. J. (1979): Genocídio americano: A Guerra do Paraguai. 5. Aufl., São Paulo: Ed. Brasiliense; Cuarterolo, M. A. (2000): Soldades de la Memoria. Imagenes y Hombres de la Guerra del Paraguay. Buenos Aires: Planeta.; Pino Menck, A., et al. (Hrsg.) (2008): La guerra del Paraguay en fotografías. Montevideo: Biblioteca Nacional; Esposito, G. (2017): Armies of the War of the Triple Alliance War 1864-1870. Oxford: Ospreys.

2) Anekdoten berichten, dass der Erzbischof von Asunción nach Kriegsende die Vielehe erlaubt haben soll, da es keine erwachsenen Männer mehr gab und die Obrigkeit soll ferner den Frauen Paraguays erlaubt haben, Männer auf im Hafen von Asunción einlaufenden Schiffen zu vergewaltigen. Anekdoten können – aber sie müssen es nicht – einen Kern von Wahrheit enthalten.

Literatur

Aguirre, A.; Samaniego, M. (1979): Acosta-ñu, epopeya de los siglos, Asunción: Municipalidad de Eusebio Ayala.

Chiavenatto, J. J. (1979): Genocídio americano: A guerra do Paraguai. 5. Aufl., São Paulo: Ed. Brasiliense.

Potthast, B. (2005): Niños soldados y niñas famélicas en la guerra del Paraguay. In: Potthast, B.; Carreras, S. (Hrsg.): Entre familia, sociedad y estado: Niños y jóvenes en América Latina (siglos XIX y XX), Madrid: Iberoamericana, S. 89-114; dem Autor stand das deutsche Originalmanuskript zu Verfügung.

Rotte, R. (2011): Paraguays „Großer Krieg“ gegen die Tripel-Allianz, 1864-1870. Österreichische Militärische Zeitschrift, Nr. 2/2011, S. 170-179.

Jörg Becker, Mitglied im Beirat von W&F, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg und lebt im Ruhestand in Solingen. Früher als Kommunikationswissenschaftler tätig, arbeitet er seit langem als Historiker.

It’s a man’s world?


It’s a man’s world?

Diplomatengattinnen auf dem Westfälischen Friedenskongress

von Lena Oetzel

Auf den ersten Blick erscheint der Westfälische Friedenskongress (1643–1649) als eine reine Männerveranstaltung. Viele der Gesandten wurden aber von ihren Ehefrauen begleitet. Diese eröffneten informelle Kommunikationswege und trugen so zum Funktionieren des Kongresses bei.

Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster

Abbildung 1: Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster am 15. Mai 1648, Gerard ter Borch, 1648, Rijksmuseum Amsterdam. Quelle: Wikimedia Commons.

Diplomatie und insbesondere Friedensverhandlungen in der Frühen Neuzeit erscheinen zunächst als eine reine Männerwelt; diesen Eindruck vermitteln gerade auch die zeitgenössischen bildlichen Darstellungen zum Westfälischen Friedenskongress. Gerard ter Borchs bekanntes Gemälde vom niederländisch-spanischen Friedensschluss etwa zeigt ausschließlich Männer (siehe Abbildung 1).

Auch unter den Gesandtenportraits, die für die Rathäuser von Münster und Osnabrück zur Erinnerung angefertigt wurden, finden sich nur Männer. Lediglich unter den Portraits der Herrschenden sind zwei Frauen vertreten: Königin Christina von Schweden und Landgräfin Anna Amalia von Hessen-Kassel, die als Regentin für ihren minderjährigen Sohn auftrat. Alle offiziellen Gesandten in Münster und Osnabrück waren jedoch Männer.1

Friedensverhandlungen als Männerveranstaltung?

Sie waren nach Westfalen geschickt worden, um die Konflikte, die als Dreißigjähriger Krieg bekannt sind, beizulegen.2 Fast ganz Europa – Frankreich, Spanien, Schweden, die Niederlande, der Kaiser und die Reichsstände, um nur die Hauptverhandlungsparteien zu nennen – war in diesen ursprünglich reichsinternen Konflikt verwickelt. Alle Versuche, nur zwischen einzelnen Konfliktparteien Frieden zu schließen, waren gescheitert. Der Westfälische Friedenskongress war der erste internationale Gesandtenkongress dieser Größenordnung und damit diplomatisches Neuland.

Aber handelte es sich bei dem Kongress wirklich um eine reine Männerveranstaltung? Die Forschung hat in den letzten Jahren gezeigt, dass frühneuzeitliche Diplomaten nicht nur ausführende Organe ihrer jeweiligen Dienstgeber*innen waren, sondern eigenständige Akteure. Sie hatten eigene Interessen, waren u.a. auch Ehemänner und Väter. Als solche wurden viele Gesandte von ihren Ehefrauen und Kindern nach Westfalen zu den Friedensverhandlungen begleitet.

Diese fehlen jedoch auf den diplomatischen »Familienbildern« des 17. Jahrhunderts. Für das Verständnis der Verhandlungssituation und des Kongresses in seiner Funktionsweise sind sie aber wichtig. Nicht zuletzt, weil die meisten anwesenden Gesandten mehrere Jahre von zu Hause fort waren. Dabei war zu Beginn des Kongresses nicht klar, wie lange es dauern würde und ob er nicht, wie frühere Versuche, scheitern würde. Wenn die Gesandten also nicht von ihren Familien begleitet wurden, waren sie von ihren Ehefrauen und Angehörigen getrennt, was sich durchaus auf ihr Wohlbefinden auswirkte.

Der kurbrandenburgische Gesandte Johann Friedrich von Löben etwa beklagte sich bei seinem Patron am Berliner Hof: „Die andern Abgesandten haben meistlich alle ihre Eheschätze bei sich. […] Ich aber weiß kein Rhatt, bin zwar schoen bei Jharen, empfinde doch gleichwhol zu Zeitten ein Verlangen nach der meinigen. Im Sommer gehet es noch hin, aber im Wintter wirdts zu kalt sein, alleine zu schlaffen.3

Frauen als informelle Akteurinnen

Die Rolle der Diplomatengattinnen beschränkte sich allerdings nicht nur auf die der Begleiterin, die für das Wohlbefinden ihres Ehemannes sorgte und an den gesellschaftlichen Aktivitäten teilnahm. Eine solche Betrachtungsweise greift zu kurz und blendet die Bedeutung informeller Akteur*innen aus.

Die Forschungen der letzten Jahre hat für den Hof gezeigt, dass Fürsten und Fürstinnen sowie Diplomaten und ihre Ehefrauen zumeist als Arbeitspaare agierten.4 Den Frauen standen oft andere (weiblich dominierte) Netzwerke zur Verfügung als ihren Ehemännern, z. B. zu den Fürstinnen. Gerade die informelle Natur ihrer Handlungsmöglichkeiten erlaubte es, etwa Angelegenheiten unverbindlich vorzubringen, bevor offizielle Verhandlungen eingeleitet wurden.5

Der Westfälische Friedens­kongress als besonderer Handlungsraum

Nun funktionierte aber ein Friedenskongress anders als ein Hof: Er war von zeitlich begrenzter Dauer und wurde nicht von einer*m Herrscher*in mit Hofstaat dominiert. Alles gesellschaftliche Leben musste erst organisiert werden, die zeremoniellen Regeln des Miteinanders ausverhandelt werden. Das heißt, auch die informellen Räume und Kommunikationskanäle mussten erst gefunden werden.

Diplomatengattinnen spielten bei der Schaffung und Gestaltung dieser informellen Kommunikationswege eine wichtige Rolle. Der portugiesische Gesandte Sousa Coutinho beispielsweise beklagte die Abwesenheit seiner Ehefrau, weil diese ihm Kontaktmöglichkeiten zu den Ehefrauen der niederländischen Gesandten eröffnet hätte.6

Das Mittagessen als Ort diplomatischer Konflikte

Wie wichtig solche informellen Kontakte waren und wie sie funktionierten, zeigt das Beispiel des kaiserlichen Gesandten Johann Maximilian Graf von Lamberg und des kurbrandenburgischen Gesandten Johann VIII. Graf von Sayn-Wittgenstein. Deren Ehefrauen Judith Rebecca Eleonore Gräfin von Lamberg und Anna Augusta Gräfin zu Waldeck waren eng befreundet. Lamberg notierte regelmäßig, dass sich die Ehepaare gegenseitig zum Essen besuchten.7

Was bei diesen gemeinsamen Mahlzeiten besprochen wurde, ist nicht überliefert. In Einzelfällen lässt sich aber der Kontext rekonstruieren. Im Januar 1646 etwa speisten Lambergs bei Sayn-Wittgensteins, wobei sich die Herren heftig über die schwedischen Gebietsforderungen stritten. Lamberg selbst notierte dieses Treffen in seinem Diarium ohne weitere Anmerkungen. Von dem Streit erfahren wir aus Berichten Dritter.8

Die Anwesenheit der Ehefrauen gab der Situation einen informellen Anstrich, der es ermöglichte, Dinge zu sagen, die in einem anderen Kontext vielleicht einen Affront dargestellt hätten. Gleichzeitig sicherten sie den Kontakt: Die Gräfin Sayn-Wittgenstein speiste nur wenige Tage später bei Lambergs und auch Graf Lamberg selbst war bald wieder beim Ehepaar Sayn-Wittgenstein zu Gast.9 Natürlich gab es auch andere Möglichkeiten, solche Räume der Informalität herzustellen, z.B. bei Gratulations- und Kondolenzbesuchen, bei Kirchgängen oder Ausflügen in die Umgebung.10 Wie diese verschiedenen informellen Settings zusammenspielten, ist noch zu untersuchen.

Diplomatengattinnen als Interessenvermittlerinnen

Wiederholt wurden Diplomatengattinnen als Vermittlerinnen eingeschaltet. Wenn die üblichen Wege, die eigenen Interessen vorzubringen und durchzusetzen, erschöpft schienen, wandten sich die Gesandten mitunter an die Ehefrauen ihrer Verhandlungspartner. Gerade wenn deren Ehemänner sich als unzugänglich erwiesen und etwa einen Gesprächstermin verweigerten, boten die Ehefrauen eine Kontaktmöglichkeit.

Deutlich zeigt sich dies anhand von Anne Geneviève de Bourbon-Condé Duchesse de Longueville, Ehefrau des französischen Gesandten Henri d’Orléans Duc de Longueville11, die zudem als Mitglied des französischen Königshauses die ranghöchste Person überhaupt am Kongress war und entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zog (siehe Abbildung 2). Der Bischof von Osnabrück wandte sich mit der Bitte an sie, sich für den Erhalt dreier Hochstifte und gegen deren Säkularisierung bei ihrem Mann einzusetzen, was diese auch tat.

Inwieweit die Intervention der Ehefrauen sich tatsächlich auf das Verhandlungsgeschehen auswirkte, ist meist den Quellen nicht zu entnehmen. Klar ist aber, dass sie durchaus in das Verhandlungsgeschehen einbezogen waren und an informellen Gesprächen ihrer Ehemänner teilnahmen, wie bei gemeinsamen Mahlzeiten.

Wie verbreitet diese Einflussnahme von Diplomatengattinnen auf Friedenskongressen war, über welche weiteren Handlungsmöglichkeiten sie verfügten und wie sich diese von denen am Hof unterschieden, bedarf weiterer Forschungen. Hierfür müssen auch spätere Friedenskongresse untersucht werden. Während die (diplomatischen) Handlungsspielräume von Frauen am Hof immer mehr Aufmerksamkeit erhalten, fehlen ähnliche Untersuchungen für Friedenskongresse fast vollständig. Bereits jetzt ist aber klar, dass sie wesentlich dazu beitrugen, informelle Räume und Kontaktmöglichkeiten zu schaffen. Sie wurden als alternative Mittlerinnen angesprochen und waren als solche informeller Teil des Verhandlungsgeschehens.

Der Westfälische Friedenskongress mag zwar zunächst als Männerwelt erscheinen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass es eine Welt war, in die Frauen eingebunden waren und in der sie eine wesentliche Rolle spielten auf dem mühsamen Weg der Friedensfindung.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht auf »fernetzt. Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte«, URL: univie.ac.at/fernetzt/20210515/.

Anmerkungen

1) Vgl. Duchhardt, H;Kaster, K. G. (Hrsg.) (1996):, „… zu einem stets währenden Gedächtnis“. Die Friedenssäle in Münster und Osnabrück und ihre Gesandtenporträts: anlässlich des Jubiläums 350 Jahre Westfälischer Frieden von Münster und Osnabrück im Jahre 1998, Bramsche: Rasch.

2) Einführend jüngst: Burkhardt, J. (2018): Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart: Klett-Cotta; Schmidt, G. (2018): Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München: C.H.Beck.

3) Löben an Konrad von Burgsdorf, Osnabrück, den 18./28. April [1645], in: Meinardus, O. (Hrsg.) (1893): Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rates aus der Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Bd. 3: Vom Januar 1645 bis Ende August 1647, Osnabrück, Nr. 59, S. 102.

4) Vgl. Wunder, H. (1992): Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit, München: C.H.Beck.

5) Bastian, C. u.a. (Hrsg.) (2014): Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Köln Weimar Wien: Böhlau; Sluga, G.; James, C. (Hrsg.) (2015): Women, diplomacy and international politics since 1500, London: Routledge; von Thiessen, H. (2020): Die Gender-Perspektive in der Geschichte der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen: Frauen in einer Männerdomäne? In: Schnelling-Reinicke, I.; Brockfeld, S. (Hrsg.): Karrieren in Preußen – Frauen in Männerdomänen, Berlin: Duncker & Humblot, S. 291–304.

6) Croxton, D. (2013): Westphalia. The last Christian peace, Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 172.

7) Vgl. Brunert, M.-E. (2001): „… ich hatte ja auch luxaugen sowohl als andere“. Der Augenzeugenbericht eines Teilnehmers am Westfälischen Friedenskongress über den Wallfahrtsort Rulle. Osnabrücker Mitteilungen 106, S. 127-143, hier S. 142f.

8) Vgl. 08.01.1646, 02.02.1646, in: Acta Pacis Westphalicae. Serie III Abteilung C: Diarien, Bd. 4: Diarium Lamberg 1645–1649 (APW III C 4), bearb. von Herta Hageneder, Münster 1986, S. 107, 110; Verhandlungen der Pommerschen Gesandten auf dem Westphälischen Friedenscongreß, in: Baltische Studien V.1 (1838), S. 1–130, hier S. 4f; Brunert 2001, S. 142f.

9) Vgl. 10.01.1646, in: Diarium Lamberg, APW III C 4, S. 107.

10) Vgl. z. B. Oetzel, L. (2019): Die Leiden des alten T. Krankheit und Krankheitsdiskurse auf dem Westfälischen Friedenkongress. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg): Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Münster: Aschendorff, S. 323–340, bes. S. 329–331.

11) Maria-Elisabeth Brunert gibt mit ihrer Studie einen ersten wichtigen Einblick in die Bedeutung von Diplomatengattinnen für die Verhandlungen: Brunert, M.-E. (2019): Interzession als Praktik. Zur Rolle von Diplomatengattinnen auf dem Westfälischen Friedenskongress In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg): Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Münster: Aschendorff, S. 209–225.

Lena Oetzel ist Historikerin am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes (ÖAW/Wien) und an der Universität Salzburg. Sie forscht u.a. zu frühneuzeitlichen Friedenskongressen.