Geist gegen Gewalt
Geist gegen Gewalt
Der Antimilitarist Heinrich Mann
von Karlheinz Lipp
Vielen ist der Autor Heinrich Mann durch seinen berühmten Roman »Der Untertan« bekannt. Doch sein antimilitaristisches, sein kriegskritisches und sein versöhnendes Wirken reichte weiter als nur in die Literatur. Mann war aufrechter Kritiker der Kriegstüchtigkeit und politisch lauter Beobachter seiner Zeit, er war Konferenzorganisator und stellte seinen ganzen Geist gegen die Gewalt. Dieser Beitrag zeichnet sein Wirken nach.
Heinrich Mann zeigte sich bereits im Kaiserreich als Antimilitarist, so etwa in seinem treffsicheren Roman »Der Untertan«, der nur noch teilweise vor 1914 erscheinen konnte. Die Zensur der kaiserlichen Kriegspropaganda verhinderte eine weitere Veröffentlichung, so dass der Roman vollständig erst nach Kriegsende erscheinen konnte. Diederich Heßling, die männliche Hauptfigur, ist Mitglied des Kriegervereins (vgl. Rohkrämer 1990, Dülffer und Holl 1986) und unterstützt damit die soziale Militarisierung der wilhelminischen Gesellschaft – ein kriegstüchtiger Untertan einer kriegstüchtigen Nation auf dem katastrophalen Weg in den Krieg. Heinrich Mann vertrat dagegen eine kriegskritische und friedensfähige Position. Er zählte zu den wenigen Personen des literarischen Spektrums, die von Beginn an den Ersten Weltkrieg strikt ablehnten.
Erster Weltkrieg
Im November 1915 veröffentlichte Mann seinen langen und positiven Essay »Zola«: Mitten im Ersten Weltkrieg würdigt ein deutscher Autor einen engagierten, demokratischen Schriftsteller aus dem Land des angeblichen »Erzfeindes« Frankreich. Der Artikel erschien in der Zeitschrift »Die Weißen Blätter« des elsässischen Pazifisten René Schickele (vgl. Noe 1986, Lipp 2021). In »Zola« zeigt sich Manns leicht versteckte Kritik an der nationalistisch-militaristischen Regierung und den Befürwortern dieses Systems – einschließlich seines jüngeren Bruders Thomas, der diese Position mit seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« (1918) vertrat.1
Manns Notizbücher der Jahre 1916 bis 1918, oft basierend auf Berichten aus deutschen und französischen Presseorganen, zeigen die ablehnende Haltung des Autors zum Krieg sowie die Kritik an der kaiserlichen Regierung und den Lügen der Kriegspropaganda. Bernhard Veitenheimer, der diese Quelle auswertete, bemerkt: „Die Eintragungen in den vier Notizbüchern unterscheiden sich in Form und Gehalt voneinander. Viele im ersten, zweiten und vierten Notizbuch erscheinen wie ideen- und mentalitätsgeschichtliche Bausteine zu einer resümierenden Anklageschrift, einer historischen Psychologie des deutschen Irrtums. Sie sind eine Abrechnung mit der Kriegspolitik und den herrschenden Ideologien im Deutschen Reich und mit der Klasse, die sie zu verantworten hat, dem Bürgertum. Sie sind eine Abrechnung mit dem Kaiserreich insgesamt, in immer gewisser werdender Erwartung seines Endes, und sie sind auch ein Appell für eine europäische Demokratie, die allein nur Frieden ermöglicht. […] Der Vorwurf der Lügenhaftigkeit zieht sich wie ein Leitmotiv durch die ersten beiden Notizbücher und betrifft nicht nur die offiziellen deutschen Kundgebungen im Krieg, sondern auch seine Vorgeschichte und schließlich die ganze Epoche: ‚Die Grundlüge‘ – ‚Die Lüge der Macht‘ – ‚Die Lüge des Burgfriedens‘ – ‚Die Lügenpriester‘ – ‚Das grosse Lügenmaul‘ – ‚Deutsche Lügen‘: so sind einige Notierungen überschrieben.“ (Veitenheimer 2014, S. 11, 15; Hervorh. im Original)2
Und weiter: „Im zweiten Notizbuch hat Heinrich Mann – etwa Ende Juni 1916 – die fatale deutsche Grundmentalität in den Begriff des ‚Widergeistes‘ gefasst. Der Begriff des ‚Widergeistes‘ umfasst die ‚Zustände‘ des negierten Geistes: ‚Ungerechtigkeit, Lüge, Verwilderung‘. Die ‚innere moralische Verwilderung‘ ist ein Folgezustand; kennzeichnend für sie ist die gesellschaftlich ausagierte Verbindung von Habsucht und Sadismus, wie sie im Wucher, im grassierenden Denunziantentum und im Antisemitismus zu Tage tritt. Geist wird ganz offiziell durch Verbote und Zensur bekämpft, und fast alle Geistigen fügen sich nicht nur, sie danken öffentlich ab (hier nennt Heinrich Mann den als ‚Manifest der 93‘ bekannten, im Oktober 1914 von 93 deutschen Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern publizierten Aufruf an die Kulturwelt).“ (ebd., 20f., Hervorh. im Original)
Nach »Der Untertan« und »Die Armen« beendete Mann seine Kaiserreich-Trilogie mit »Der Kopf« (1925) erst Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser Roman, an dem der Autor sieben Jahre gearbeitet hatte, passt hervorragend in seine antimilitaristischen Überlegungen (vgl. Kraske und Lellau 1984; Schneider und Stark 2012). Mann kennzeichnet und kritisiert darin die Gruppen, die aus seiner Sicht für den Krieg verantwortlich waren: Machtpolitiker, Militärs, Großindustrielle, Rüstungsfabrikanten und Intellektuelle. Die Großindustrie profitierte besonders und paktierte direkt mit den Militärs und indirekt mit der Regierung. Selbst noch während des Krieges blühte das Geschäft dadurch, dass kriegswichtige Güter (z.B. Stahl) an das gegnerische Ausland verkauft wurden. Durch den Krieg konnten auch innenpolitische Probleme mit Gewerkschaften und dem Proletariat überwunden werden. Selbst bei einer Kriegsniederlage bedeutete der Wiederaufbau die große Chance eines sozialen Friedens, die Arbeitenden würden mit ihren Forderungen schon still halten. Und natürlich heißt Krieg im Zeitalter des Imperialismus die militärische Eroberung neuer Märkte und neuer Rohstoffe in einem globalen Rahmen. Die Geld- und Machtgier ist ein signifikantes Kennzeichen des kaiserlichen Bürgertums. Der Glaube an eine gewisse Auserwähltheit der eigenen Nation ebnete den Weg für Feindbilder, außenpolitisch (Frankreich, Großbritannien) wie auch im eigenen Land (Judentum, Proletariat), so Heinrich Mann.
Kritisch beurteilt Mann in diesem Roman den gesellschaftlichen Beitrag von Intellektuellen an der Vorbereitung des Krieges, dargestellt an den Herren Mangolf und Terra. Mangolf möchte unbedingt Erfolg haben und unterstützt den Weg zum Krieg. Er glaubt äußerst naiv, dass ein Krieg der Durchsetzung von Ideen, z.B. der Einigung Europas dienen könne. Hier benutzt Heinrich Mann direkt Passagen aus dem Aufsatz »Friedrich und die große Koalition« (1915) seines Bruders Thomas und kritisiert ihn dadurch. Die Figur des Terra hinterfragt zwar das System der Gewalt, bleibt aber ein Außenseiter, kämpft vergeblich und endet durch Suizid. Eine wichtige Rolle lässt Heinrich Mann dem Aristokraten und Reichskanzler Lannas (eine Anspielung auf Bernhard Graf von Bülow, der von 1900 bis 1909 als Reichskanzler wirkte) zukommen. Dieser Politiker möchte die Macht der Großindustriellen brechen und sie wieder der Aristokratie übertragen, scheitert aber. Damit zeigt Mann ebenso seine Kritik an der monarchistischen Überzeugung, dass nur alles wieder in Ordnung käme, wenn nur der Adel wieder an der Macht sei.
Brückenbauer zwischen Deutschland und Frankreich
Die deutsch-französische Verständigung lag Heinrich Mann, der fließend Französisch sprach und schrieb, ganz besonders am Herzen.3 Über fast 60 Jahre seines Lebens kann von einer intensiven Beziehung Manns zu Frankreich gesprochen werden.
Seine Kontakte mit der antimilitaristischen Szene Frankreichs verstärkten sich nach dem Kriegsende, so etwa mit Henri Barbusse und Romain Rolland, die sich bereits von 1914 bis 1918 sehr kritisch zum Krieg äußerten (vgl. Lindner-Wirsching 2004). Barbusses Roman »Le Feu« (Das Feuer) von 1916 erlangte als Abrechnung mit dem Krieg große Bedeutung und wurde sogar mit dem Prix Goncourt, dem höchsten französischen Literaturpreis ausgezeichnet – noch 1916! Rolland und Barbusse gründeten 1919 die Clarté-Bewegung – eine Friedensbewegung demokratischer Intellektueller. Mann sprach schon am 12. Dezember 1919 in einem Vortrag positiv über diese Organisation – er verfolgte diese Entwicklungen also offenbar sehr genau.
Das Jahr 1927 gibt einen Eindruck von der vielfältigen Verständigungsarbeit, die Mann leistete: So hielt er in der zweiten Maihälfte des Jahres in Zürich, Bern und Fribourg den Vortrag »Die Literatur und die deutsch-französische Verständigung«. Am 7. Oktober sprach der Schriftsteller in Magdeburg über »Die geistige Verständigung mit Frankreich«. In Anspielung auf den Locarno-Pakt (1925), der für eine Entspannungspolitik steht, sind Manns Reden »Ein geistiges Locarno« in Berlin am 19. Oktober sowie »Un Locarno intellectuel« in Paris am 2. Dezember an der Sorbonne sowie am 12. Dezember (auf Einladung der französischen Frauenvereinigung für den Völkerbund) und am 14. Dezember (auf Einladung der französischen Liga für Menschenrechte) zu verstehen. Am 16. Dezember folgte vor ca. 5.000 Personen Manns Beitrag zum 150. Geburtstag von Victor Hugo, dem engagierten Vorkämpfer für Frieden und Völkerverständigung.
Am 4. Oktober 1931 hielt Mann eine Rede im Berliner Admiralspalast auf der dortigen Kundgebung zur deutsch-französischen Verständigung. Unter dem Titel »Zwei Völker – ein Gedanke« beschwor der Autor die Gemeinsamkeiten der beiden Länder.
Auch vor dem Kontakt mit der Politik schreckte Mann nicht zurück, wenn es um Fragen der Verständigung ging. Der französische Außenminister Aristide Briand (Friedensnobelpreisträger mit Gustav Stresemann im Jahr 1926) empfing Mann beispielsweise am 3. Juni 1931 in seinem Pariser Arbeitszimmer. Nach dem Tode Briands am 7. März 1932 würdigte Mann diesen Politiker als wichtigen Motor der deutsch-französischen Verständigung. Auf Briand kam Mann auch in seinen Ausführungen »Der zweite Schritt zur Verständigung« bei einem Abend im PEN-Club am 12. Mai 1932 zu sprechen. Da dieser Text sowohl Manns Verständnis von Briand und Stresemann, als auch sein geteiltes Friedensverständnis und seine Hoffnung auf (nicht nur wirtschaftliche) Integration spiegelt, wird dieser hier etwas länger zitiert:
„Die deutsch-französische Verständigung war zuerst eine Forderung des Gewissens, noch bevor in die Augen fiel, daß sie eine tatsächliche Notwendigkeit ist. Ungefähr fünf Jahre nach dem Kriege leiteten Intellektuelle auf beiden Seiten sie ein. […] Der erste Schritt zur Verständigung war die Werbung der Intellektuellen in den ihn zugänglichen Teilen beider Völker und der allmählich anwachsende Schrei: Nie wieder Krieg! Die Kriegsteilnehmer selbst waren es, die ihn ausstießen. Ihre blutige Erfahrung unterstützte unsere Erkenntnis, die auch nur stark ist, wenn sie im Herzblut entsteht. Die mächtigste und ergreifendste Stimme, die den Schrei ‚Nie wieder Krieg!‘ weitergetragen hatte, hieß Briand. […] Er vereinigte in seiner Person alles, das Volksempfinden, die Staatsmacht und die Ansprüche des Geistes. Das ist das seltenste Zusammentreffen, und es bleibt der Ruhm seines Landes, daß es sich so viele Jahre durch ihn vertreten ließ. Auch Deutschland behält die Ehre, daß während schwieriger Zeiten sein großer Friedensminister, Stresemann, in seinem Namen handeln durfte.
Wenn Stresemann und Briand vor ganz Europa mit einander verhandelten, ging es keineswegs immer glatt. Der eine sagte: ‚Meine Generäle verlangen dies‘, der andere: ‚Meine Parteien.‘ Die Verhandlungen standen mehr als einmal vor dem Abbruch. Sie kamen dennoch jedesmal zum Abschluß, weil beide Männer sich darauf besannen, daß sie Freunde waren, es bleiben mußten, und daß es zuletzt nur eines gab: Nie wieder Krieg! So haben sie den Krieg zu liquidieren und seine Wiederholung unmöglich zu machen versucht.
Das konnten sie indes noch nicht. Es ist den nächsten Schritten zur Verständigung vorbehalten, und diese waren ihnen nicht mehr vergönnt. Ihre Tat war, allen das Ziel einzuprägen. Briand sah auch schon den Weg; er sprach das Wort aus: Zollunion. Zweifellos sah er auch voraus, welche Kämpfe das kosten mußte, denn er sprach das Wort aus: den Friedenorganisieren. Damit sagte er, daß bis jetzt nur der Krieg organisiert sei, die ganze Welt, besonders aber Frankreich und Deutschland, seien eigentlich für den Krieg eingerichtet. Der Friede hat zu lange nur als Raum zwischen den Kriegen gegolten. Während jeder Friedenszeit wurde hauptsächlich an den nächsten Krieg gedacht.“ (Mann 2009, S. 296f. Hervorh. im Original.)4
In einer Hinsicht wollte Mann jedoch gar keine deutsch-französische Verständigung, nämlich was die Zusammenarbeit von chauvinistischen und faschistischen Kräften beiderseits des Rheins angeht.
Internationale Tagungen gegen den Krieg
Im Mai 1932 konstituierte sich ein Initiativkomitee, dem u.a. Rolland, Barbusse, Maxim Gorki, Upton Sinclair, Sun Zhonghsan (Witwe von Sun Yat-sen), Theodore Dreiser, Albert Einstein, Paul Langevin, John Dos Passos, Frans Masereel und Heinrich Mann angehörten. Diese Personen des internationalen antimilitaristischen Spektrums riefen mit einer »Kriegserklärung gegen den Neuen Weltkrieg!« zu einer internationalen Tagung in Genf am 1. August auf. Darin heißt es u.a.: „Während in Genf seit Monaten die Abrüstungskonferenz des Völkerbundes tagt, tobt im Osten ein blutiger Krieg. Der japanische Raubtierkrieg gegen China dauert fort, Fliegerbomben und Granaten haben tausende chinesische Arbeiter und Bauern, wehrlose Greise, Frauen und Kinder zerfetzt. […] Die Rüstungsbudgets steigen zu fantastischen Höhen, die Kriegsrüstungen aller Staaten gehen ins Ungemessene, es wächst die Produktion in den Betrieben der Rüstungs- und chemischen Industrie in Frankreich (Schneider-Creusot, Renault, Kuhlmann), im Ruhrgebiet, in der Tschechoslowakei (Skoda), in Rumänien und Polen. Die Vernichtung ganzer Kontinente mit den furchtbarsten Mitteln des chemischen Luftkrieges wird vorbereitet. Ein neuer Weltkrieg droht! […] Die unterzeichneten Frauen und Männer sind fest entschlossen, alles zu tun, um dieses Kriegsverbrechen zu verhindern und sind tief überzeugt, daß kein frei denkender Mensch bei dieser drohenden Weltkatastrophe abseits stehen kann, sondern sich einreihen muß in die Front derjenigen, die bereits begonnen haben, den Kampf gegen den Krieg zu organisieren.“ (Mann 2009, S. 454f. Hervorh. im Original bleiben unberücksichtigt)
In Amsterdam fand vom 27. bis zum 29. August 1932 ein Kongress gegen den imperialistischen Krieg statt (siehe Schumann 1985). Heinrich Mann arbeitete seit April im Weltkomitee dieser Tagung mit. Seine Erklärung wurde verlesen, denn Mann kam nicht in die niederländische Metropole – vielleicht wollte er sich vom sowjetischen Kurs dieses Kongresses distanzieren? Gedruckt erschien die Stellungnahme des Autors am 11. September unter dem Titel »Der Schriftsteller und der Krieg«. Mann schrieb u. a.:
„Der Krieg bedroht abermals die Welt – und dies nach allem, was wir versucht haben, um ihn zu verhindern! Diesmal ist den Schriftstellern, denen, die mit Recht dafür angesehen werden, kein Vorwurf zu machen; sie haben seit der vorigen Katastrophe wirklich das Ihre getan. Es gibt kein erfolgreiches und erst recht kein wertvolles Kriegsbuch in Europa, das den Krieg beschönigt. […] Schriftsteller und Kriegsteilnehmer, oft ein und diesselbe Person, was früher selten vorkam, sie haben im Namen aller, aus der Erinnerung aller und ganz und gar aus der Masse heraus gesprochen. So war das sonst nicht.
Die Masse indes verändert sich schnell, weil sie sich verjüngt. Das neue Geschlecht kommt und bringt mit sich: erstens Unwissenheit; dann Widerspenstigkeit; dann Mut und Lust auf Abenteuer; und dann die gewohnten schlechten Instinkte, auf die von den Anstiftern des Krieges auch 1914 mit Erfolg gerechnet werden konnte. […]
Für den Frieden arbeiten, heißt alle Kriegsursachen erkennen und sie bekämpfen, die alten wie die neuen, die Zölle, die Krise, die Not, die irrsinnige Herrschsucht der politischen Betrüger, die nicht weniger krankhafte Nachgiebigkeit der Betrogenen und Geopferten. Wer für den Frieden arbeitet, hält sich heute nicht mehr bei Ermahnungen auf, sondern fängt selbst an, ihn zu organisieren. Wir werden helfen, die Zollunion durchzusetzen in Europa, zuerst die deutsch-französische. Wir werden mit unseren Kräften einstehen für einen internationalen Wirtschaftsplan, denn einen anderen kann es nicht geben. Kein Land ist für sich allein lebensfähig, Europa wird fortdauern nur als Einheit, oder es hört auf, zu zählen in der Welt. Die europäische Einheit ist geistig schon da; alle Europäer empfinden dieselbe Lebensgefahr für ihren Kontinent; sie fühlen sich zueinander gedrängt; sie bereuen ihre Zerwürfnisse und sind nicht weit entfernt, sie als Verrat an Europa anzusehen. […] Das ist dann das Ende des Krieges, wenn auch vorläufig nur für Europa; – aber Europa, wohlverstanden gibt es nur einschließlich Rußlands! Der Ausschluß Rußlands, an den Nationalisten denken, wäre dagegen so gut wie die sofort eintretende Kriegserklärung! […]
Friedensliebe verpflichtet zur Härte gegen uns selbst, und die Erreichung des wahren Friedens wird nicht nur der einzig gerechte, es wird auch der schwerste und ein niemals endgültig entschiedener Krieg sein. Denn es ist ein Krieg des Geistes gegen die Gewalt.“ (Mann 2009, S. 337f.)
Zur internationalen Dimension von Manns Antimilitarismus gehörte auch seine Unterschrift unter das »Manifest gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend« vom Oktober 1930. Ferner unterschrieben u.a.: Albert Einstein, Sigmund Freud, Selma Lagerlöf, Thomas Mann, Ludwig Quidde, Henriette Roland-Holst, Bertrand Russell, Freiherr Paul von Schoenaich, Upton Sinclair, Rabindranath Tagore, Herbert George Wells und Stefan Zweig (vgl. Mann 2009, S. 448ff.).
Frieden und Menschenrechte
Heinrich Mann gehörte der Deutschen Liga für Menschenrechte an, die 1922 aus dem pazifistischen Bund Neues Vaterland von 1914 hervorgegangen war (vgl. Schütrumpf 2023).5 Der Schriftsteller verknüpfte die Aspekte Frieden und Menschenrecht, wie mehrere Beispiele zeigen.
Am 2. Februar 1931 sprach Mann auf einer Veranstaltung dieser Liga gegen das Aufführungsverbot des antimilitaristischen Films »Im Westen Nichts Neues« (Regie: Lewis Milestone) nach dem berühmten Roman von Erich Maria Remarque in deutschen Kinos. Die Uraufführung des Films fand in den USA im Mai 1930 statt, die deutsche Premiere sollte im Dezember stattfinden. Joseph Goebbels, der nationalsozialistische Gauleiter Berlins attackierte den Film massiv, unterstützt von konservativen, nationalistischen und militaristischen Verbänden. Diese Kampagne führte schließlich in Deutschland und Österreich zum Verbot des Films – ein Erfolg für die NSDAP.
Mann kommentierte zunächst das Verbot des Films durch die Filmoberprüfstelle am 11. Dezember 1930 und führte gegen Ende seiner Rede eine interessante Anekdote aus einem Pariser Kino im Zusammenhang mit einer Filmszene an: „Das unschuldige Treiben des Deutschen [Soldaten], der die Hand nach einem Falter ausstreckt, wird ihn [den französischen Soldaten] nicht abhalten, er muß losdrücken. In diesem Augenblick hat bei der Pariser Vorführung eine Kinobesucherin laut gerufen: ‚Schieß nicht!‘ Ne tirez pas! Schieß nicht! Das ist der Schrei des Herzens. Ihrem eigenen Landsmann rief die Frau zu, und er war doch im Begriff einen der ihren zu rächen. Sie will nicht, daß getötet, will nicht, daß gehaßt wird, und die Wirklichkeit und die Wahrheit des Films ‚Im Westen nichts Neues‘, wodurch wird sie bewiesen? Wir alle ausnahmslos – sobald wir auf unsere besten Regungen hören, stimmen wir ein in den Schrei.“ (Mann 2009, S. 121)
Mann protestierte ferner gegen das skandalöse Urteil einer rechtslastigen Justiz im Prozess gegen den Pazifisten und Leiter der Zeitschrift »Die Weltbühne«, Carl von Ossietzky, der am 23. November 1931 wegen angeblichen Landesverrats zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt wurde (vgl. ebd., S. 454). Der Schriftsteller kritisierte aber auch schon im Oktober 1930 in einem »Protest gegen den Blutterror« die Methoden Stalins. Den Hintergrund bildete die Erschießung von 48 Sowjetmenschen der Volkskommissariate für Handel und Finanzen im September (vgl ebd., S. 451).
Nationalismus und Nationalsozialismus führen zum Krieg
Mann hatte auch schon früh ein intensives Verständnis von der Konsequenz der Politik der NSDAP entwickelt. Die NSDAP vertrat eine rabiate Innenpolitik gegen ihre Gegner und eine aggressive Außenpolitik, besonders um »Lebensraum im Osten« zu gewinnen. Am 13. September 1930, also nur einen Tag vor dem Wahlerfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen, veröffentlichte Mann seinen Aufruf »Wir wählen Arbeit und Frieden: und retten uns selbst«. Darin heißt es über die NSDAP: „Keine auswärtige Macht, die über Vernichtungsmittel verfügt, hätte von dem Dritten Reich etwas anderes zu erwarten, als die demütigste Unterwerfung. […] Wir wollen keinen Krieg und wollen nicht, daß an dem verächtlichen Rauschgift des Nationalismus noch einmal die Millionen sterben oder Bettler werden.“ (ebd., S. 50f., Hervorh. im Original bleiben unberücksichtigt)
In seinem Essay »Die lebensnotwendige Demokratie« vom 16. April 1932 schreibt der Autor: „Der Faschismus kann nur den Krieg organisieren, denn durch ihn ist er in die Welt gekommen und soll an ihm auch zugrunde gehen. Die Demokratie ändert, wenn sie überhaupt bestehen will, den Sinn und die Richtung des Geschehens um. Sie bricht mit den Einrichtungen, die nur für den nächsten Krieg da sind: Zölle und Massenhunger, militärische Geheimnisse und die öffentliche Unsicherheit, die sie bewirken. Besonders räumt sie auf mit nationalistischen Bewegungen. Wer Nationalismus sagt, ob er es will oder nicht: er sagt Krieg!“ (ebd., S. 273)
Im Dezember 1932 erschien Manns letzter Essay, den er in Deutschland verfasste. In diesem »Bekenntnis zum Übernationalen« betont der Autor die wichtige Bedeutung der Völkerverständigung und richtet sich erneut gegen den Nationalismus. „Ich habe den alten Macht- und Nationalstaat verlassen, weil sein sittlicher Inhalt ihm ausgetrieben ist. Er erhält sich nur noch in Haß und Verwilderung, und der unsittliche Zwang, den er anwenden muß, ist die Ursache aller Verbrechen, von denen es in ihm wimmelt, auch der scheinbar privaten. Der nationalistischen Lüge wird das Menschentum geopfert. Ich bin es gründlich satt, die freche Lüge zu hören, daß nicht der Kampf um das Menschentum der höhere Beruf ist, sondern der Kampf dagegen. Die Verehrer des kriegerischen Daseins würden ihr Lebensziel noch am anständigsten erreichen, wenn sie Selbstmord begingen, anstatt daß Millionen unfreiwillig mit ihnen sterben.“ (ebd., S. 383)
Im Februar 1933 verließ Mann Deutschland für immer und flüchtete zunächst nach Frankreich. Von Nizza aus beteiligte sich der Autor an der Bildung einer Volksfront gegen die NS-Diktatur und warnte französische Stellen eindringlich vor der Gefahr eines deutschen Überfalls, jedoch vergeblich (vgl. Mann 1977; zur Volksfront siehe Langkau-Alex 2004-2005). Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Paris 1940 flüchtete Mann weiter in die USA, wo er 1950 starb.
Anmerkungen
1) Zu Thomas Mann und dessen Friedensaktivismus in späteren Lebensjahren, siehe Lipp 2022.
2) Zur Friedensbewegung im Ersten Weltkrieg, vgl. Lipp (2004).
3) vgl. zu Manns Beziehung zu Frankreich u.a. Kantorowicz (1972) und Flügge (2013).
4) Zu den Friedensnobelpreisen der Jahre 1926 und 1927 für die deutsch-französische Verständigung an Briand und Stresemann sowie an Buisson und Quidde, vgl. Lipp (2011).
5) Zur Friedensbewegung in der Weimarer Republik vgl. Holl und Wette (1981) sowie Lütgemeier-Davin (1982).
Literatur
Dülffer, J.; Holl, K (Hrsg.) (1986): Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Flügge, M. (2013): Traumland und Zuflucht. Heinrich Mann und Frankreich. Berlin: Insel.
Holl, K.; Wette, W. (Hrsg.) (1981): Pazifismus in der Weimarer Republik. Paderborn: Schöningh.
Kantorowicz, A. (1972): Unser natürlicher Freund. Heinrich Mann als Wegbereiter der deutsch-französischen Verständigung. Lübeck: Amt f. Kultur der Hansestadt Lübeck.
Klein, W. (2016): „Eine Schande, unter der ein Kulturmensch erbebt.“ Heinrich Mann über den Krieg. In: Heinrich Mann-Jahrbuch, 34 (2016), S. 29-54.
Kraske, B.M.; Lellau, G. (1984): „Der Kopf“ – ein Antikriegsroman: In: Wolff, R. (Hrsg.): Heinrich Mann. Werk und Wirkung. Bonn: Bouvier Verlag, S. 24-52;
Langkau-Alex, U. (2004-2005): Deutsche Volksfront 1932-1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau. 3 Bände. Berlin: Akademie-Verlag.
Lindner-Wirsching, A. (2004): Französische Schriftsteller und ihre Nation im Ersten Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer Verlag.
Lipp, K. (2004): Pazifismus im Ersten Weltkrieg. Ein Lesebuch. Herbolzheim: Centaurus Verlag.
Lipp, K. (2011): Die Friedensnobelpreise von 1926 und 1927. W&F 4/2011, S. 41-43.
Lipp, K. (2021): Alexander Moritz Frey – ein Regimentskamerad Adolf Hitlers im Ersten Weltkrieg und Autor pazifistischer Belletristik. In: Kreutz, W.; Raasch, M.; Ruppert, K. (Hrsg.): Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft. Band 28 (2021), S. 53-80.
Lipp, K. (2022): Der Himmel gewähre uns Zeit! Thomas Mann als Friedensdenker im Kalten Krieg. W&F 1/2022, S. 44-46.
Lütgemeier-Davin, R. (1982): Pazifismus zwischen Kooperation und Konfrontation. Das Deutsche Friedenskartell in der Weimarer Republik. Köln: Pahl-Rugenstein Verlag.
Mann, H. (1977): Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays. Hg. von Werner Herden. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag.
Mann, H. (2009): Essays und Publizistik, Band 5, 1930 bis Februar 1933. Hrsg. von Volker Riedel. Bielefeld: Aisthesis Verlag.
Martin, A. (2022): Zeittafel. In: Bartl, A.; Martin, A.; Whitehead, P. (Hrsg.): Heinrich Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin und Heidelberg: J.B. Metzler, S. 561-584.
Noe, H. (1986): Die literarische Kritik am Ersten Weltkrieg in der Zeitschrift „Die Weißen Blätter“: René Schickele, Annette Kolb, Max Brod, Andreas Latzko, Leonhard Frank. Zürich: Univ. Dissertation.
Rohkrämer, Th. (1990): Der Militarismus der „kleinen Leute“. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914. München: Oldenbourg Verlag.
Schneider, P.-P.; Stark, M. (2012): Psychopathen an der Macht. Zur Studienausgabe von Heinrich Manns Roman Der Kopf. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 30 (2012), S. 207-232.
Schumann, R. (1985): Amsterdam 1932. Der Weltkongreß gegen den imperialistischen Krieg. Berlin: Dietz.
Schütrumpf, J. (2023): Deutsche mit Anstand. Der „Bund Neues Vaterland“ wird „Deutsche Liga für Menschenrechte“. Hamburg: VSA.
Veitenheimer, B (2014): „Der Bürger und sein Krieg“ – zu Heinrich Manns Notizen 1916-1918. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 32 (2014), S. 9-31.
Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung.