Krieg und Frieden jenseits »Großer Männer«

Krieg und Frieden jenseits »Großer Männer«

Eine feministische Kritik populärwissenschaftlicher Geschichtszeitschriften

von Dorothée Goetze

Populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften orientieren sich in Themenwahl und Präsentation an einem männlichen Publikum. Dies erklärt einerseits die inhaltliche Fokussierung auf Krieg und Konflikt sowie andererseits die auf »Große Männer« und deren Taten ausgerichtete Darstellung. Feministische Perspektiven können durch differenziertere Darstellungen nicht nur zu einer Neuausrichtung der Themenwahl durch die stärkere Berücksichtigung von Frieden beitragen, sondern dadurch gleichzeitig die Entwicklung von für ein diverseres Publikum attraktiven Präsentationsformen fördern.

History sells – Geschichte lässt sich gut vermarkten. Das ist bekannt und die Vielzahl medialer Formate, die einem breiten Publikum historische Inhalte vermitteln wollen, belegt das eindrücklich. Neben Radiosendungen, Podcasts, Filmen, Fernsehformaten und den sogenannten sozialen Medien sind hier auch populärwissenschaftliche Zeitschriften zu nennen. Diese haben eine lange Tradition. Das führende englischsprachige Magazin »History Today« erscheint seit 1951. Die älteste deutsche populärwissenschaftliche Geschichtszeitschrift »Damals« ist nur acht Jahre jünger. Einen wahren Boom erlebt das Genre seit Anfang der 2000er Jahre. Seitdem ist die Anzahl der verschiedenen Zeitschriften sehr stark angestiegen, eben weil Medienmacher*innen erkannt haben, dass man mit Geschichte Geld verdienen kann.

Ihrem Anspruch nach präsentieren diese Geschichtsmagazine einem breiten Publikum aktuelle Ergebnisse der historischen Forschung zu relevanten Themen. Untersuchungen zu den Konsument*innen von populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften zeigen jedoch, dass deren Leserschaft nicht so vielfältig ist, wie der Begriff »breites Publikum« zunächst annehmen lässt. Diese Geschichtsmagazine werden vor allem von älteren und gut gebildeten Männern gelesen. Dies gilt nicht nur für den deutschsprachigen Raum, sondern wird durch Studienergebnisse etwa aus Großbritannien bestätigt (De Groot 2016, S. 59). Geschichtsdidaktische Forschungsergebnisse lassen noch weiterreichendere Aussagen zu: Populärwissenschaftliche Geschichtsjournale vermitteln kein gleichgestelltes Geschichtsbild; Frauen werden weder als Individuum noch als Gruppe sichtbar, während Männer überrepräsentiert sind und in ihrer Darstellung stereotyp auf gewaltvolle Eigenschaften reduziert werden (Lundqvist 2016, S. 1). Meist wird auf »Große Männer« fokussiert, deren Leben eine Verbindung zu einem wichtigen zeitgenössischen Ereignis aufweist. Über alle Länder hinweg dominieren Krieg und Konflikt die dargestellten Inhalte, deren Auswahl ist allerdings von nationalen Geschichtsschreibungen geprägt (Schumann, Popp und Hannig 2015, S. 16). Diese Befunde spiegeln sich deutlich auf den Titel­blättern von Geschichtszeitschriften wider.

Wenn also Krieg und Konflikt den thematischen Schwerpunkt populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine bilden und sich deren Darstellung an einer gut ausgebildeten männlichen Leserschaft orientiert, stellt sich die Frage, wie sich diese Darstellung mit einer weiblichen oder feministischen Perspektive verändert.

Frauen im Krieg: Die Zeitschrift »Historiskan«

Frauen werden in populärwissenschaftlichen Geschichtsmagazinen selten thematisiert – und falls doch, dann in der Regel nicht im Kontext von Krieg und Frieden; von nicht binär gelesenen Personen ganz zu schweigen. Es ist durchaus bemerkenswert, dass sich bei der Vorbereitung dieses Textes kein einziges deutschsprachiges Geschichtsmagazin ermitteln ließ, das sich dezidiert an Frauen und/oder nicht-männliche Personen richtet, obwohl es gleichzeitig einen fast unüberschaubaren Markt an Frauenzeitschriften und zahlreiche explizit feministische (politische) Magazine gibt. Ist Geschichte also etwa ein rein männliches Thema?

In Schweden gibt es seit 2015 mit der Zeitschrift »Historiskan« (Übersetzung: Die Historikerin) ein Geschichtsmagazin, das Frauen und ihre Rolle in der Geschichte in den Fokus stellt und sich als ein Beitrag zu mehr Gleichstellung in der Geschichtsschreibung versteht.1 Diese Zeitschrift steht somit nicht in der Tradition eines feministischen, sondern eines geschlechtergeschichtlichen Zugangs zu Geschichte. Doch folgen gerade in den ersten Jahren der Zeitschrift die Titelblätter stark den oben beschriebenen Mustern bei Titelseiten anderer populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine, indem sie – wie ihre an Männer gerichteten Pendants – bekannte Frauenpersönlichkeiten in den Fokus rücken; obgleich der erste Titel zur Geschichte der weiblichen Brust mit einem Gemäldeausschnitt, der einen Busen zeigt, wohl zu Recht als programmatisch in Bild und Inhalt bezeichnet werden kann. Auf insgesamt sechs der inzwischen 31 erschienen Ausgaben (Stand: Dezember 2022) sind analog zu »Großen Männern« bedeutende Frauen abgebildet. Gezeigt wurden Königin Christina von Schweden (3/2016), Frida Kahlo (4/2016), Königin Marie-Antoinette (1/2017), Hilma af Klint (3/2017), Bernadette Devlin (4/2017) und Königin Margarethe I. von Dänemark (1/2020). Das legt den Schluss nahe, dass sich die Zeitschrift in der Frühphase stärker an der Bildsprache konventioneller Geschichtsmagazine orientierte, ehe sie eine eigene Ausdrucksform entwickelte. Unterscheidet sich die Auswahl der Persönlichkeiten zumindest insofern, als dass sie sich nicht auf Militärs und Politiker*innen beschränkt, sondern Herrscher*innen, Künstler*innen und politische Aktivist*innen repräsentiert, so handelt es sich jedoch auch hier um Einzelpersonen, denen eine herausgehobene Position zugeschrieben wird. Es wird also auch hier mit Personalisierung und Heroisierung gearbeitet.

Auf den ersten Blick scheinen Krieg und Frieden lediglich eine nachrangige Position auf der Themenliste in »Historiskan« einzunehmen. So zeigen nur zwei Titelseiten Bilder mit Kriegsbezug: Heft 2/2018 wählte als Aufmacher »Auf Leben und Tod. Suffragettenkrankenhäuser in London retteten Soldaten während des Ersten Weltkrieges«.2 Bildlich repräsentiert wird das Thema durch die Abbildung eines Gemäldes, das fünf Ärztinnen in OP-Kleidung zeigt, die einen Mann medizinisch versorgen. Die vierte Ausgabe des Jahres 2019 titelte »Im Schatten des Todes. 1939 errichteten die Nazis das einzige Frauenkonzentrationslager. Das Leben in Ravensbrück war geprägt von harter Arbeit und Grausamkeit«.3 Auf der Titelseite ist das Foto von befreiten Häftlingen des Konzentrationslagers Ravensbrück abgedruckt.

Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass bereits auf den Titelseiten der Zeitschrift Hinweise auf weitere Beiträge aus dem Bereich Krieg und Konflikt als Marginalien gesetzt werden. Darüber hinaus finden sich in den einzelnen Zeitschriftenausgaben immer wieder auch Texte, die Krieg thematisieren, ohne dass sie auf dem Titel beworben werden. In den Artikeln wird Krieg epochal breit gefächert, aber dennoch innerhalb eines durch andere Geschichtsmagazine bereits etablierten Kanons behandelt, von der Wikingerzeit (z.B. Historiskan 4/2017) bis zum 20. Jahrhundert (z.B. Historiskan 2/2017). Dabei werden unterschiedliche Facetten von Kriegserleben aufgegriffen. So gibt es etwa in Heft 1/2017 einen Artikel zum ersten russischen Frauenbataillon, das 1917 aufgestellt wurde (S. 58-63). Ausgabe 2/2017 enthält einen zehnseitigen Beitrag zum englischen Rosenkrieg, in dem Frauen als politische Akteurinnen dem blutigen Schlachtgeschehen und mächtigen Männern gegenübergestellt werden. Das nachfolgende Heft enthält eine Serie mit Aufnahmen der Fotografin Mia Green (1870-1949), die die Zeit des Ersten Weltkrieges in Haparanda bildlich dokumentiert hat, das als Grenzstadt zwischen dem neutralen Schweden und dem zum russischen Reich gehörenden Großfürstentum Finnland direkt vom Krieg betroffen war (Historiskan 3/2017, S. 44-49). Zudem ist im gleichen Heft ein Artikel zur Teilnahme von Frauen an den mittelalterlichen Kreuzzügen publiziert (Historiskan 3/2017, S. 57-61).

»Historiskan« folgt somit letztlich dem etablierten Narrativ der Heroisierung, das aus anderen populärwissenschaftlichen Geschichtszeitschriften bekannt ist, die stark mit den aufeinander bezogenen Mitteln der Heroisierung und Dämonisierung arbeiten; nur dass der Fokus verschoben wird und statt männlichen eben weibliche Heldinnen gewählt werden. Es erfolgt jedoch keine Anpassung der Erzählstrategien. Vielmehr wird ein etabliertes (männliches) Erzähl-Muster auf ein weibliches Publikum übertragen. Die Anpassung an die veränderte Zielgruppe erfolgt somit nicht durch die Art der Darstellung, sondern in erster Linie durch die Wahl der Protagonistinnen. Dabei folgt »Historiskan« fast ausnahmslos der Perspektive der weißen heterosexuellen Mittelschichtsfrau (Lundqvist 2016, S. 38).

Mit der Betonung von Krieg und Konflikt folgen populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften nicht der Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Forschung, die sich seit etwa 2010 verstärkt Fragen von Friedensdenken, -findung und -wahrung zuwendet, obwohl sie den Anspruch formulieren, am Puls der Forschung zu sein und aktuelle Ergebnisse zu präsentieren. Als Erklärung dafür, warum aktuelle Forschung und populäre Darstellungen in diesem Punkt unterschiedliche Pfade beschreiten, kann Joachim Krügers Befund zur Ausstellbarkeit von Frieden in Museen auf populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften übertragen werden: „Krieg ist verglichen mit Frieden […] konkreter und leichter fassbar“ (Krüger 2019, S. 381). Dabei böten gerade populärwissenschaftliche Geschichtszeitschriften (anders als Museen, die auf Ausstellungsobjekte angewiesen sind) die Möglichkeit, Frieden erzählbar zu machen.

Feministische Perspektive: ein Weg zum Frieden

Eine Voraussetzung dafür ist ein grundlegender Perspektivwechsel. Feministische Ansätze, wie sie in der (politikwissenschaftlichen) Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen fest etabliert sind (z.B. Smith und Yoshida 2022), können dafür die notwendigen Grundlagen schaffen. Eine feministische Perspektive hinterfragt die bislang dominierende und im Fall populärwissenschaftlicher Geschichtsmagazine auf weiße männliche Helden und Mittelschichtsfrauen ausgerichtete Erzählstrategie und strebt danach, bislang marginalisierte Akteur*innen zu berücksichtigen. Diese Perspektivverschiebung geht einher mit einer Reflexion etablierter Machtstrukturen und ermöglicht zugleich die Berücksichtigung von Alltagserleben und unterschiedlichen Wahrnehmungen. Das nimmt den Fokus weg von »Großen Männern« und Eliten, ohne diese jedoch in ihrer Wirkmächtigkeit (und eben auch Gewalt) zu negieren. Vielmehr werden diese unterschiedlichen Akteur*innen zueinander ins Verhältnis gesetzt. Dadurch können Inklusions- und Exklusionsmechanismen sichtbar gemacht werden. Es geht also nicht darum, eine eindimensionale Perspektive durch eine andere zu ersetzen, wie das im Fall der Zeitschrift »Historiskan« durch den Austausch der Protagonist*innen geschehen ist, sondern Krieg in seiner Komplexität sichtbar zu machen.

Dieser umfassende und integrative Zugriff feministischer Ansätze trägt nicht nur dazu bei, ein differenziertes Bild von Krieg jenseits von Held*innen zu zeichnen, sondern schafft die methodischen und theoretischen Voraussetzungen dafür, Frieden zu erzählen. Dies ist umso wichtiger, da, wie Christoph Kampmann betont, bislang die Schwierigkeit besteht, Friedenshandeln im gleichen Maße wie Krieg und Konflikt zu personalisieren und zu heroisieren (Kampmann 2019, S. 434). Dadurch ist Frieden bislang mit den Präsentationsstrategien populärwissenschaftlicher Geschichtsdarstellungen nicht oder zumindest nur schwer greifbar, wie sich im Kontext von Geschichtsmagazinen gezeigt hat. Eine feministische Perspektive würdigt die Komplexität von Friedenshandeln, -denken, -finden und -bewahren. Sie bedarf der »Großen Männer« nicht. Wichtiger sind Fragen danach, ob und welche anderen Gruppen sich nach Frieden gesehnt haben und sich diesen vorgestellt haben; auf welche Weise sie darin inbegriffen oder davon ausgenommen waren und ihn selbst durch ihr Handeln im Rahmen der bestehenden Machtverhältnisse herbeigeführt oder abgelehnt haben. Dadurch wird das Wechselspiel zwischen politischen Eliten, politischen Friedensbauer*innen sowie anderen Akteur*innen jenseits der sichtbaren politischen Bühne deutlich und der Beitrag der letztgenannten zu Frieden anerkannt. Das Einbeziehen ihrer (­Exklusions- und Diskriminierungs-)Erfahrungen trägt dazu bei, die Komplexität von Frieden zu erfassen, und verdeutlicht, warum Friedenfinden aber auch die Implementierung und das Bewahren von Frieden so schwer sind. Frieden wird damit nicht länger zum bloßen Ende von Kriegen reduziert, sondern als eigenständige und komplexe Leistung anerkannt und gewürdigt.

Bislang fehlt eine feministische Form populärwissenschaftlicher Geschichtserzählungen jedoch. Dieser Beitrag versteht sich daher als Anregung für eine kritische Reflexion populärer Geschichtsvermittlung und deren notwendige Weiterentwicklung. Eine solche (selbst-)emanzipierende Perspektive trägt nicht nur zu einem differenzierteren Bild von Geschichte jenseits etablierter Schubladen bei, sondern kann darüber hinaus einen wichtigen in die Zukunft gerichteten Beitrag zu gesellschaftlich relevanten Fragen und Problemstellungen leisten: Wenn Frieden auch historisch lesbar wird, können wir gegenwärtige Tendenzen der Militarisierung, der Heroisierung, der Maskulinisierung hinterfragen und wirksamer kritisch begleiten.

Anmerkungen

1) Die Zeitschrift ist online zu finden unter: historiskan.se

2) Schwedischer Originaltitel: »På liv och död. Suffragettsjukhus i London räddade soldater under första världskriget« (Historiskan 2/2018).

3) Schwedischer Originaltitel: »I dödens skugga. 1939 öppnades nazisternas enda koncentrationsläger avsett för kvinnor. Livet i Ravensbrück präglades av hårt arbete och grymhet« (Historiskan 4/2019).

Literatur

De Groot, J. (2016): Consuming History – Historians and heritage in contemporary popular culture. 2. Aufl. London/New York: Routledge.

Historiskan 3–4/2016, 1–4/2017, 2/2018, 4/2019, 1/2020

Kampmann, Ch. (2019): Westfälischer Frieden und frühneuzeitliche Friedensgeschichte: Überlegungen zu Forschungsperspektiven und Forschungstransfer. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg.): Warum Friedenschließen so schwer ist – Frühzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. Münster: Aschendorff, S. 433-438.

Krüger, J. (2019): Krieg und Frieden in der Perspektive des Museums. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg.): Warum Friedenschließen so schwer ist – Frühzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. Münster: Aschendorff, S. 377-394.

Lundqvist, C. (2016): Kvinnors historia: Mer än vårt kön – En intersektionell studie av tidskriften Historiskan. Examensarbeit im Studiengang Lehramt Geschichte, Universität Karlstad, online-Publikation: urn:nbn:se:kau:diva-42929.

Smith, S.; Yoshida, K. (2022): Feminist conversations on peace. Bristol: Bristol University Press.

Schumann, J.; Popp, S.; Hannig, M. (2015): EHISTO – European History Crossroads as pathways to intercultural and media education. A report about the EU project (2012–2014). In: Popp, S.; Schumann, J.; Hannig, M. (Hrsg.): Commercialised History – Popular History Magazines in Europe. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 14-39.

Dr. Dorothée Goetze arbeitet als Lektorin für Geschichte an der Mittuniversitetet Sundsvall (Schweden). In ihrer Forschung untersucht sie u. a. Fragen der frühneuzeitlichen Historischen Friedensforschung und der Public History.

Der Himmel gewähre uns Zeit!

Der Himmel gewähre uns Zeit!

Thomas Mann als Friedensdenker im Kalten Krieg

von Karlheinz Lipp

Die Politik des Kaiserreiches, auch im Ersten Weltkrieg, unterstützte Thomas Mann rückhaltlos. Diese Überzeugung änderte er nach 1918 deutlich. So kritisierte der Schriftsteller den Aufstieg der NSDAP bis 1933 mit klaren Worten. Aus dem kalifornischen Exil attackierte Mann den NS-Staat und den Zweiten Weltkrieg in seinen Radiosendungen. Seine ablehnende Haltung zum Militarismus, zur Aufrüstung und zu einem deutschen Hegemoniestreben änderte sich auch im Zeitalter des Kalten Krieges nicht. Mann war kein Kommunist und kein Antikommunist – sehr zum Unwillen konservativer Kreise in der Bundesrepublik.

Thomas Mann erlebte und kommentierte den Zweiten Weltkrieg aus dem Exil in Kalifornien. Wie würde er die neue politische Phase des Kalten Krieges und die damit verbundenen Probleme sehen und beurteilen? Nach dem Ende des Krieges stellte sich für die Menschen, die ab 1933 durch den NS-Staat ins Exil vertrieben wurden, die Frage, ob sie nach Deutschland zurückkommen sollten. Einige machten dies, andere nicht. Wie würde sich der sehr bekannte Autor mit internationalem Renommee und Gegner des Nationalsozialismus entscheiden? Thomas Mann wurde bereits am 8. August 1945 von Walter von Molo aufgefordert, nach Deutschland zurückzukehren. Der Literaturnobelpreisträger von 1929 antwortete in einem Offenen Brief am 12. Oktober »Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe«. Mann betonte besonders folgende Gründe für seine Entscheidung: den mangelnden Widerstand im Jahre 1933, die tiefe Verletzung durch die Politik des NS-Staates sowie die Tatsache, dass er inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden sei. So hatte der Schriftsteller eine lange freundschaftliche Beziehung zum Präsidenten Roosevelt.1

Suspekt erschienen Mann große Teile des deutschen Volkes auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus.2 So notierte er am 7. Januar 1947 in sein Tagebuch: „Käme Hitler wieder, 60-80 % würden ihn mit offenen Armen empfangen.“ 3 Eine geplante Reise nach Deutschland, zwei Monate später, wurde von der Tochter Erika vehement und erfolgreich abgelehnt. So fuhr Mann im Frühjahr in europäische Länder (England, Schweiz, Italien und Holland) – aber nicht in die vier Besatzungszonen.

Jedoch publizierte Thomas Mann eine »Botschaft an das deutsche Volk«, diese erschien am 24. Mai 1947. „Das deutsche Volk kann nicht von außen her umerzogen werden. Jede wirksame Umerziehung muß von innen heraus wachsen. Die beste Umerziehung wird eine allgemeine Aufwärtsentwicklung der Welt mit sich bringen, die dem deutschen Volk klar macht, daß es keine Aussicht auf einen neuen Krieg hat, die es überzeugt, daß die Welt einen Stand erreicht hat, in dem alle nationalistischen, nazistischen und militaristischen Ideen sinnlos geworden sind.“ 4

Mit Roosevelt hoffte Mann auf die Vereinten Nationen – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Die bipolare Welt und der Kalte Krieg ließen auch Mann einen neuen Krieg befürchten. Im Koreakrieg (1950-1953) zeigte sich schon recht bald eine entsprechende, militärische Realität.

Beginnende Distanz zu den USA

Seine positive Einstellung zu seinem Gastland USA änderte Mann sukzessive. Wesentlichen Anteil daran hatte der besonders schroffe Antikommunismus in der US-Außenpolitik (Präsident Truman, der Nachfolger Roosevelts, verschärfte durch seine Doktrin von 1947 den Kalten Krieg) sowie in der US-Innenpolitik durch die Jagd auf reale und vermeintliche Anhänger des Kommunismus, maßgeblich vorangetriebenen durch den republikanischen Senator Joseph McCarthy. Diese geschürte Massenhysterie missfiel Thomas Mann zunehmend. Ferner schmerzte den Schriftsteller die Tatsache, dass es die USA waren, die eine Remilitarisierung der Bundesrepublik gezielt vorantrieben. Skeptisch beäugte Mann die Rolle der Rüstungsindustrie beim Aufbau einer deutschen Armee – hatte er doch in der Weimarer Republik die Bedeutung der Großindustrie beim Aufstieg der NSDAP in unguter Erinnerung.5

Skepsis gegenüber der NATO

Am 4. April 1949 wurde die NATO gegründet. Thomas Mann gehörte zu den Unterzeichner*innen eines Offenen Briefes an den amerikanischen Kongress vom 11. April, der sich gegen eine überstürzte Ratifizierung des Paktes richtete. Die Nachrichtenagentur Reuters meldete: „500 Personen, darunter der deutsche Schriftsteller Thomas Mann und der Pianist Artur Schnabel, haben den amerikanischen Kongreß in einem Offenen Brief zur Ablehnung des Atlantikpaktes aufgefordert. Die Unterzeichner fordern Präsident Truman zu direkten Verhandlungen mit der Sowjet­union zur Beilegung der bestehenden Differenzen auf. In dem Schreiben […] heißt es u.a., der Pakt würde den Wiederaufbau Westeuropas verzögern und unausweichlich zu einer fatalen ‚Zwei-Welten-Politik‘ führen.6

Und die schwedische Zeitung Svenska Dagbladet schrieb am 20. Mai: „Auf die Frage nach der Distanzierung vom Atlantikpakt antwortete Thomas Mann, er sei der Auffassung, daß Bündnisse zu erschreckend an das erinnern, was früher in den schlechten alten Zeiten geschehen war. Es hat sich gezeigt, daß Machtkonzentrationen dieser Art zu Entladungen geführt haben, selbst wenn sie defensiv geplant waren.7

Hin zu einem Weltföderalismus

Mann unterstützte daher das Projekt des Vereinigten Weltföderalismus, dessen Vorsitzender sein Schwiegersohn Antonio Borgese, verheiratet mit der jüngsten Tochter Elisabeth, war. Sie übernahm nach dem Tod ihres Ehemannes die Leitung. Thomas Manns globale, föderale Position, von der er überzeugt war, dass sie den Krieg überwinden könne, zeigt sich deutlich in der Erklärung »Eine Welt oder keine« im schwedischen Rundfunk vom 5. September 1949 anlässlich des Dritten Internationalen Kongresses der Weltföderationsbewegung in Stockholm.

„Noch immer gibt es Militärbündnisse, Rüstungen und sich widersprechende nationale Interessen. Immer noch können wir, die einfachen Bürger dieser Welt, in einen Krieg verwickelt werden, den wir nicht wollen und der das furchtbarste Unglück wäre. Laßt euch etwas sagen, wovon ich zutiefst überzeugt bin: Wer dauernden Frieden will, muß die Weltregierung wollen. Denn solange wir kein Weltgesetz haben und keine Weltpolizei, wohl aber Mißhelligkeiten und Zerwürfnisse zwischen den Menschen, bleibt Krieg am Ende der einzige Ausweg. Glaubt bitte nicht, daß die Weltregierung gleichbedeutend wäre mit dem Verlust eurer nationalen Unabhängigkeit. Nichts soll euch genommen werden als die Verpflichtung, auf Befehl eurer Regierung in den Krieg zu ziehen. Im übrigen wird die Weltregierung sich nicht einmischen in die Angelegenheiten der Länder. Wenn wir die Weltregierung wollen, so müssen wir hinarbeiten auf unser Ziel.“ 8

Verständigung über Blockgrenzen hinweg

Mann weigerte sich stets, Nationalsozialismus und Kommunismus auf eine Ebene zu stellen. Im Juni 1951 entstand ein Brief Manns an Walter Ulbricht. Gekürzt erschien das Schreiben 1963, vollständig erst 1990. Eine Antwort Ulbrichts existiert nicht. In seinem Brief führt Mann zunächst seine Friedensüberzeugung an, um sich dann, in einer humanistisch begründeten Verständigung über Blockgrenzen hinweg, aktiv an einer frühen Form der Entspannungspolitik zu versuchen:

„Wenn auch der Kommunismus den Frieden will – und ich glaube, daß er ihn will –, so sollte er alles tun, um einem Humanismus Vorschub leisten und Rechtfertigung zu gewähren, der, ohne an das kommunistische Credo gebunden zu sein, sich dem militanten Anti-Kommunismus verweigert und für den Frieden einsteht, indem er es der Zeit […] anheimgibt, die Gegensätze auszugleichen und zu höherer Einheit aufzuheben, die heute in scheinbarer Unversöhnlichkeit zwischen den Welthälften klaffen, während doch die sie bewohnenden Völker im Grunde alle den gleichen Problemen und Aufgaben verpflichtet sind. Der Kommunismus, sage ich, sollte alles tun, diesem friedenswilligen Humanismus Hilfe zu leihen und so weit nur immer möglich alles vermeiden, was seinen Einfluß lähmen könnte.“ 9

Es ist dann Thomas Mann selbst, der in den folgenden Abschnitten seines Briefes an Ulbricht ein konkretes Beispiel für den angesprochenen Humanismus aufzeigt. Im sächsischen Waldheim kam es ein Jahr zuvor, von April bis Juni 1950, zu Schauprozessen. Ungefähr 3.000 Personen, die zuvor einige Jahre in Lagern der Sowjetischen Besatzungszone interniert waren, wurden der Zusammenarbeit mit dem NS-Staat angeklagt und verurteilt – ohne Rechtsbeistand, ohne entlastende Zeugen und ohne eine Aussicht auf ein Berufungsverfahren. Mann vergleicht diese Rechts­praxis mit dem »Volksgerichtshof« unter Roland Freisler. Damit wollte der Autor darauf hinweisen, dass es bei politischen Prozessen in der DDR keine unabhängige Justiz gab. Der Schriftsteller nennt einige konkrete Namen von Menschen, die abgeurteilt worden sind, und bittet um Gnade für sie. Am Ende seines Briefes verknüpft Mann die Waldheimer Prozesse mit der Bipolarität des Kalten Krieges und plädiert für eine Entspannung sowie Versöhnung zwischen den Machtblöcken.

Glauben Sie nicht mit mir, daß alles, was auch nur indirekt dazu beitragen könnte, diese verhängnisvolle Spannung herabzusetzen, die vergiftete Atmosphäre zu verbessern, Haß und Furcht zu mindern und das Bild der einen Seite der anderen weniger bedrohlich erscheinen zu lassen, – daß jede Geste der Milde und Menschlichkeit heute eine Tat für den Frieden, Trost und Unterstützung für alle wäre, die den Frieden wollen?“ 10

Manns Haltung zu Massenvernichtungswaffen

Mitte März 1950 beschlossen 150 Delegierte des kommunistischen Weltfriedenskomitees ein absolutes Verbot von Atomwaffen. Dieser Stockholmer Appell wurde weltweit von ca. 500 Millionen Menschen unterschrieben, davon zwei Millionen in der Bundesrepublik. Ob Thomas Mann den Aufruf unterzeichnet hat, ist umstritten.11 Im April 1954 gab der Schriftsteller dem Journalisten Guido Nozzoli ein Interview, der daraus einen Artikel für die Zeitung L‘Unità (Organ der Kommunistischen Partei Italiens) fertigte. Der Beitrag erschien am 3. Mai 1954 und behandelte auch Aspekte des Friedens und der atomaren Bedrohung desselben. In der Bundesrepublik wurde dieses Interview erst viele Jahre nach Manns Tod publiziert. Dies zeigt sehr bezeichnend, dass Thomas Mann zwar als Schriftsteller anerkannt wurde, jedoch nicht als friedenspolitischer Mahner im Kalten Krieg.

„Was denkt Thomas Mann über den Alarmzustand, in den sich alle Nationen durch die unkontrollierbare Wirkung der neuen Bombe [Wasserstoffbombe] versetzt sehen? Wenn man seinen Standpunkt kennt, ist die Frage mehr als überflüssig. […] ‚Der Krieg‘, sagt er [Mann], ‚und besonders ein Atomkrieg wäre nur ein zerstörerisches Unternehmen. Ideen sind um den Preis eines Massakers nicht aufrechtzuerhalten. Auch ein Krieg, den man für richtig hält, kann die Menschheit nur niederdrücken und zurückwerfen. Und bei einem Zusammenprall gäbe es keinen Sieger.‘[…]

‚Sie halten es also für richtig‘, frage ich weiter, ‚daß der friedliche Kampf der Völker gegen die Bedrohung durch die atomare Geißel fortgeführt wird?‘ Auch diese Frage beantwortet Thomas Mann ohne zu zögern. ‚Ja, das ist sicherlich eine gute Sache, und jeder muß zu ihrem Erfolg beitragen. Man darf nicht den Kommunisten allein die Verteidigung des Friedens überlassen. Es mag ihnen befremdlich erscheinen, daß ich das Ihnen, einem Kämpfer der Kommunistischen Partei sage, doch das ist meine Meinung. Ich halte es für eine Pflicht eines jeden Menschen und vor allem eines jeden Intellektuellen, alles Menschenmögliche zu tun, um die Spannung zu entschärfen, um das zu erreichen, was wir mit einem deutschen Wort ‚Entspannung‘ nennen. Um das gegenseitige Verständnis zu fördern, meine ich, daß man die kulturellen Beziehungen und den wirtschaftlichen Austausch erweitern müßte: auf diesen Ebenen ist es leichter, sich zu verstehen.“ 12

Keine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik

Die außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik kritisierte unterdessen weiterhin vehement den Aufrüstungskurs der Regierung Adenauer. Einen Höhepunkt bildete dabei der Zeitraum von Herbst 1954 bis zum Frühjahr 1955.13 Am 23. Oktober 1954 erschien in der französischen Zeitschrift L‘Express unter dem Titel »Thomas Mann lance un message« (Thomas Mann sendet eine Botschaft) ein Beitrag zur Frage der westdeutschen Wiederbewaffnung. Maßgeblichen Anteil an der Entstehung dieses Artikels hatte die Tochter Erika. Das Neue Deutschland druckte am 30. Oktober eine fragmentarische, deutsche Rückübersetzung ab. In der Bundesrepublik erschien Manns Stellungnahme erst 1974.

Der Schriftsteller skizziert zunächst die angespannte weltpolitische Lage des Kalten Krieges und das drohende Potential eines möglichen heißen Krieges. Danach zitiert Mann sehr zustimmend einige Passagen des »Essener Vorschlages«, eines Friedensprogramms von SPD-Mitgliedern.14 Besonders schätzt Mann dabei folgende Aspekte: Frieden als oberstes Ziel angesichts seiner akuten Bedrohung; eine Politik der Freundschaft und Verständigung gegenüber allen Völkern im Westen und Osten – unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsordnung; Verzicht auf eine Machtpolitik angesichts der historischen Erfahrung des Militarismus; Kritik an den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, die ihre Macht missbraucht hätten, um den deutschen Militarismus zu fördern sowie eine Völkerverhetzung zu etablieren; Räumung des gesamten deutschen Territoriums von ausländischen Truppen; Verzicht auf eine deutsche Armee und auf Massenvernichtungsmittel – eine starke Polizei sei ein ausreichender Garant für die Sicherheit.

Besonders betont Mann die deutsch-französische Zusammenarbeit sowie den wichtigen Kulturaustausch (Theater, Musik, Literatur) der beiden Länder. „Mir scheint, die letzten Reste des Mythos vom ‚Erbfeind im Westen‘ sind abgestorben. Schon Hitlers Schwindel-Eroberung Galliens vor vierzehn Jahren hat nicht entfernt den Stolz, das nationale Hochgefühl ausgelöst wie der Sukzeß von 1870/71. Heute ist eher eine gewisse Gêne [Unbehagen] zu beobachten über den Siegesplunder von 1940, ein Achselzucken über den Waffenruhm, mit dem man so äußerst ernüchternde Erfahrungen gemacht hat. Dies Volk, seiner großen Mehrheit nach, will nichts wissen von Krieg und Kriegsgeschrei. Es will leben, arbeiten, aufbauen – und sich ohne ‚Machtpolitik‘ das Maß von Macht wieder zuwachsen lassen, welches das natürliche und legitime Ergebnis der Aktivität, des Fleißes und ehrlicher Tüchtigkeit ist. Es ersehnt sich Zeit und ist nicht ohne berechtigte Hoffnung, daß sie ihm und der Welt gewährt sein möge. Die Hydrogenbombe sollte den Frieden sichern –, was ihn in Wahrheit fristet, ist die Tatsache, daß Rußland sie auch hat, und ich müßte mich ganz und gar irren, wenn nicht verbreitete Befriedigung über diesen Sachverhalt unter den Deutschen herrschte. […] Die Zeit ist ein kostbares Geschenk, uns gegeben, damit wir in ihr klüger, besser, reifer, vollkommener werden. Sie ist der Friede selbst, und Krieg ist nichts als das wilde Verschmähen der Zeit, das Ausbrechen aus ihr in sinnloser Ungeduld. Der Himmel gewähre uns Zeit! In ihr wird sich dem Letzten noch der bloße Gedanke an einen dritten Krieg als der selbstmörderische und kriminelle Wahnsinn erweisen, der er ist.15

In die weiteren Debatten um die Wiederbewaffnung und den Kalten Krieg griff Thomas Mann bis zu seinem Tod am 12. August 1955 im Alter von 80 Jahren allerdings nicht mehr ein. Bereits am 9. Mai traten die BRD der NATO und die DDR am 14./15. Mai dem gerade gegründeten Warschauer Pakt bei. Doch es wäre auch anders gegangen: Die Republik Österreich, ein dritter Nachfolgestaat des NS-Regimes, ist seit dem 26. Oktober 1955 nach dem Abzug aller Besatzungstruppen offiziell ein neutraler Staat – vielleicht ganz im Sinne Thomas Manns?

Anmerkungen

1) Zur deutschen Diskussion um die Remigration Manns vgl. Hermand, J.; Lange, W. (1999): „Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?“ Deutschland und die Emigranten. Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt, S. 7-55.

2) Mann versuchte ab 1940 mit seinen BBC-Rundfunkansprachen »Deutsche Hörer« zu erreichen, um sie für den Widerstand gegen den NS-Staat zu aktivieren. Vgl.: Mann, Th (2004): Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940-1945. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag; Valentin, S. (2015): „Steine in Hitlers Fenster“. Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! (1940-1945). Göttingen: Wallstein.

3) Mann, Th. (1989): Tagebücher 28.5.1946-31.12.1948. Hrsg. von Inge Jens. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, S. 85.

4) Mann, Th. (1990): Gesammelte Werke, Band XIII. Nachträge, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, S. 789.

5) Vgl. Sontheimer, K. (2002): Thomas Mann und die Deutschen. München: Langen Müller, S. 167ff.

6) Hansen, V.; Heine, G. (Hrsg.) (1983): Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909-1955. Hamburg: Knaus Verlag, S. 290, Anmerkung 4.

7) Ebd., S. 292.

8) Mann, Th. (1990): Gesammelte Werke, Band XIII, a.a.O., S. 799f.

9) Mann, Th (1992): Essays. Band 6. Meine Zeit 1945-1955. Hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, S. 211ff.

10) Ebd., S. 217.

11) Vgl. Heine, G.; Schommer, P. (2004): Thomas Mann Chronik. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann Verlag, S. 474.

12) Hansen, V.; Heine, G. (1983): Frage und Antwort. a.a.O., S. 379ff.

13) Für einen Überblick vgl. Lipp, K. (2021): Chronologie der Friedensinitiativen in den beiden deutschen Staaten von 1945 bis 1955. Norderstedt: BoD, S. 61-94.

14) Zu den Positionen der SPD von 1945 bis 1955 vgl. Butterwegge, Ch.; Hofschen, H-G (1984): Sozialdemokratie, Krieg und Frieden. Die Stellung der SPD zur Friedensfrage von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine kommentierte Dokumentation. Heilbronn: Distel Literaturverlag, S. 246-291.

15) Mann, Th. (1990): Gesammelte Werke, Band XIII, a.a.O., S. 812f.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker mit dem Schwerpunkt Historische Friedensforschung.

Die Kinderschlacht bei Acosta-ñu

Die Kinderschlacht bei Acosta-ñu

Der Tripelallianz-Krieg und die Rolle von Kindersoldaten

von Jörg Becker

Der Krieg der Tripelallianz gegen Paraguay von 1864-1870 ist gut aufgearbeitet, wenn auch in Europa wenig bekannt. Das Ende fand dieser Krieg mit einem Kampf, der als Kinderschlacht bei Acosta-ñu bekannt wurde. Sie ist eine der ersten dokumentierten Einsätze von Kindersoldaten auf einer größeren Maßstabsebene. Aus diesem historischen Beispiel zeigen sich Herausforderungen der Fassung von Kindern als Täter*innen, die noch heute thematisiert werden: die Freiwilligkeit des Handelns, die Tat an sich und der Umgang mit minderjährigen Kombattant*innen.

Von 1864 bis 1870 gab es in Südamerika einen sehr langen und besonders grausamen Krieg. Die drei Mächte Brasilien, Argentinien und Uruguay kämpften gegen Paraguay. Im historischen und gegenwärtigen Bewusstsein in Europa ist dieser Krieg kaum vorhanden. Das ist in Südamerika völlig anders. Zahlreiche Bücher aus allen vier an diesem Krieg beteiligten Ländern haben die Kriegsursachen, den Kriegsverlauf, das Kriegsende und die Kriegsfolgen für Paraguay, das diesen Krieg verlor, gut aufgearbeitet.1 Von deutschsprachiger Seite liegen zu diesem Krieg erst jüngst Arbeiten von Ralph Rotte (2011) und Barbara Potthast (2005) vor.

Kriegsursachen und Verlauf

Es gab mehrere Kriegsursachen: eine ­Divide-et-Impera-Politik von sowohl Großbritannien als auch den USA, territoriale Konflikte, innere Unruhen, für deren Beruhigung ein Ablenken auf äußere Feinde sinnvoll erschien, und ein starkes Modernisierungsgefälle zwischen einem modernen Paraguay und den rückständigen und halbfeudalen Republiken Argentinien und Uruguay sowie dem Kaiserreich Brasilien.

Im Laufe des Krieges war das kleine Paraguay im Oktober 1866 schon derartig geschwächt, dass die Armee „schließlich die gesamte männliche Bevölkerung in Anspruch“ nahm. „17-jährige Jungen dienten als Ochsenkarrenfahrer und Unter-14-Jährige sollten im öffentlichen Dienst die eingezogenen Männer ersetzen. Im März 1867 wurde die Mobilisierung aller 13- bis 16-Jährigen befohlen und im Mai wurden sogar Leprakranke eingezogen. Nach dem Fall von Humaitá, einer paraguayischen Kleinstadt, die nach dem Krieg an Brasilien fiel, wurden mangels Ersatz 14-Jährige zu Unteroffizieren befördert und 70-Jährige als Offiziere eingestellt. […] [Seit 1868] leisteten paraguayische Frauen nicht nur freiwillige Hilfsdienste im Heer, sondern nahmen bisweilen auch an den Kämpfen teil – insbesondere an der Seite ihrer minderjährigen Söhne. Hunderte Frauen sollen dabei getötet worden sein.“ (Rotte 2011, S. 175f.).

Paraguay war nicht nur bezüglich seiner Einwohner*innen völlig am Boden, sondern außerdem auch infrastrukturell. Epidemien, Hungersnöte und Krankheiten hatten das Land in die Knie gezwungen. Von allen Seiten umzingelt und vom Außenhandel abgeschlossen, musste Paraguay alles selbst produzieren: Kugeln für Geschütze, Gewehre, Kanonen und andere Waffen.

Kinder spielten in diesem Krieg und auf allen Seiten eine Rolle. Bei allen Truppen zogen »vivandières« mit, also Weinverkäuferinnen und Kellnerinnen der Feldküchen. Bei ihnen waren auch Kinder, deren Väter unbekannt waren. Es kam durchaus auch vor, dass Kinder mitten in einer Schlacht geboren wurden. Man nannte diese Kinder »regimental children« oder Truppenkinder. Sie wurden oft in kleine Uniformen gesteckt. Sie halfen ihren Müttern oder den Soldaten bei ihrer Arbeit.

Die Kinderschlacht von Acosta-ñu

Den Höhepunkt und das Ende des Tripel-Allianz-Krieges bildete die sogenannte Kinderschlacht von Acosta-ñu (auch »Campo Grande« oder »Los Niños«) am 16. August 1869 in Paraguay. Dafür hatte der in Europa als liberal und fortschrittlich angesehene brasilianische Kaiser Dom Pedro II. als Kriegsminister und Befehlshaber auf brasilianischer Seite Herzog Caxias, Luís Alves de Lima e Silva (1803-1880) ernannt, einen rücksichtslosen Militär. Dieser hatte verkündet, man müsse im Krieg gegen Paraguay „sogar den Fötus einer Frau im Mutterleib töten“ und danach trachten, „die gesamte paraguayische Bevölkerung in Rauch und Staub umzuwandeln“ (Chiavenatto 1979, S. 154).

Bei der Schlacht von Acosta-ñu stand auf der Seite des Dreierbündnisses eine gestandene und gut ausgebildete Armee aus 20.000 erwachsenen Männern – auf der Seite Paraguays standen 3.500 Kindersoldaten im Alter von neun bis fünfzehn Jahren, angeführt von 500 älteren Veteranen (siehe Abbildung 2). Die Kinder hatten sich zur Tarnung Bärte auf ihre Backen gemalt. Als sie in einem Kreis zusammenstanden, wurden sie von allen Seiten angegriffen.

„Entsetzte Kinder von sechs bis acht Jahren klammerten sich in der Hitze des Kampfes an die Beine der brasilianischen Soldaten, weinten und baten sie, sie nicht zu töten. Und sie wurden sofort geköpft. Die Mütter versteckten sich im nahen Dschungel und beobachteten, wie sich der Kampf abspielte. Einige von ihnen erhoben Speere und führten sogar den Widerstand der Kindertruppen an. (Chiavenatto 1979, S. 158)

Bei dieser Schlacht starben auf paraguayischer Seite 2.000 Soldaten und 1.400 wurden verwundet oder kamen in Gefangenschaft. Auf der Seite der brasilianisch-argentinischen Armee unter Leitung von Prinz Gaston von Orleans (1842-1922), einem Schwiegersohn des brasilianischen Kaisers Dom Pedro II., starben 182 Soldaten und 420 wurden verwundet. Nach dieser grausamen Kinderschlacht war der Tripel-Allianz-Krieg 1870 zu Ende.

Der Tripel-Allianz-Krieg war für das besiegte Paraguay verheerend. Für Paraguay war dieser Krieg ein „totaler Krieg“ gewesen, so die Bewertung von Rotte (2011, S. 170). Neben den Landabtretungen an Brasilien (Teile von Mato Grosso) und Argentinien (Region Misiones und Teile der Chaco-Region) war die zentrale verheerende Konsequenz, dass die gesamte Gesellschaft in Paraguay nach zehn Jahren des Krieges traumatisiert zurückblieb. Paraguay mit seiner kleinen Einwohnerzahl von 0,5 Mio. Menschen hatte etwa die Hälfte seiner Bevölkerung verloren – nicht wenige davon waren Kinder.2

Nicht nur ist dieser Krieg gut erforscht. Er ist außerdem fotografisch gut dokumentiert, war es doch nach dem Krim-Krieg (1853-1856) und dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) der erst dritte Krieg, an dem die neue Technologie aktiv zum Einsatz kam. Berühmt für diesen Tripel-Allianz-Krieg wurde die »Carte de visite«. Das war ein in einem eleganten Foto-Studio hergestelltes Porträtfoto auf Hartpappe. Im Mittelpunkt steht jeweils ein Offizier in Galauniform und mit Orden und Säbel. Eine Reihe dieser Fotos zeigen Offiziere zusammen mit Truppenkindern (vgl. Abbildung 1). Gegenüber diesen Reputationsfotos gibt es auch einige wenige Fotos aus dem realen Kriegsgeschehen (siehe erneut Abbildung 2).

Altes Bild – Kindersoldat und Soldat

Abbildung 1: »Carte de visite«

Altes Bild – Kindersoldaten im Gefecht

Abbildung 2: Kindersoldat im Gefecht (Quelle der Bilder: Nationalbibliothek, Montevideo)

Friedenswissenschaftliche Überlegungen zum Einsatz von Kindersoldat*innen

Vor dem Hintergrund dieses Krieges steht nun natürlich die Frage, wie der Einsatz der Kindersoldat*innen zu bewerten ist. Inwiefern sind diese Kinder Täter*innen? Kann ihrem kriegerischen Handeln, den Taten, die sie begehen, das gleiche Verständnis von Täter*innen zugrunde gelegt werden wie bei Erwachsenen?

Dass der Einsatz von Kindersoldaten in einem Krieg damals wie heute problematisch ist, lässt sich übereinstimmend festhalten. Außerhalb ethischer Bedenken steht zunächst einmal das reine Effizienzdenken: Der Einsatz von Kindersoldat*innen ist oft verlustreich, ohne entsprechende Erfolgsaussichten. Das Beispiel der Kinderschlacht von Acosta-ñu verdeutlicht das wie kaum eine andere Auseinandersetzung. Über 2.000 Kinder starben in dieser Schlacht, der politische Hass der Gegner auf die Paraguayer*innen scheint alle »moralischen« Bedenken überdeckt zu haben, diese Kinder nicht zu töten. Der schiere Umstand, dass so wenige erwachsene Soldaten zur Verfügung standen, dass tatsächlich Kinder rekrutiert wurden, muss über die ideologische Rahmung des »totalen Krieges«, wie oben erwähnt, verstanden werden. Der Effizienzgedanke stand für Paraguay nicht zur Frage, da die Rahmung der »Existenzfrage« alle Mittel zu rechtfertigen schien. Die Schlacht macht deutlich: Stehen sich ungleiche Kriegsgegner*innen gegenüber – hier also Erwachsene versus Kinder – dann verlieren die Kinder. Für die weitere Forschung zum Einsatz von Kindersoldaten muss aber auch gefragt werden können: Wie ungleich sind die Verhältnisse, wenn kleine Menschen schneller laufen können als große Menschen, wenn die Kleinen skrupelloser als die Großen sind? In vielen Kontexten im 20. Jahrhundert stellt sich diese Frage direkt und mit erschreckender Konkretion.

Nicht zu vernachlässigen ist die Ebene der Ökonomie des Einsatzes von Kindersoldat*innen. Kindersoldat*innen erhalten einen kleineren Sold als erwachsene Soldat*innen – wenn sie überhaupt einen erhalten. Besonders beim Einsatz von Söldner*innen – im Dreißigjährigen Krieg genauso wie jetzt beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik (CAR) – kommen den »warlords«, die die Söldner bezahlen müssen, Kindersoldat*innen billiger als erwachsene Soldat*innen. Das ist wichtig bei der Betrachtung der Gründe für die Anwesenheit von Kindersoldat*innen – diese sind keineswegs alle oder auch nur zu einem großen Teil aus eigenen niederen Motiven in diese Kriege eingetreten. Die Verpflichtung von Kindern geschieht auch oft aus schlicht ökonomischen Motiven. Dies scheint im Kontext von Acosta-ñu eine weniger bedeutsame Dimension gewesen zu sein.

Nicht zuletzt steht noch der schwierige Punkt der Moral im Raum. Auch wenn es zeit-, raum- und kulturübergreifend keine Einigkeit darüber gibt, ob Kinder schützenswertere Menschen seien als Erwachsene, so kann man aber normativ sagen, dass heute in einer globalisierten Welt eine solche Moral anzustreben ist. Ausfluss einer solchen globalen Moralvernunft ist die UN-Kinderrechtskonvention von 1989, die mit ihren Fakultativprotokollen den Einsatz von Menschen unter 18 Jahren verbietet. Eine interkulturelle Kommunikation ist nur dann friedensstiftend, wenn vor einer Kritik an Zuständen in anderen Ländern eine Selbstkritik zuhause vorangeht. So äußerte sich 2014 der UN-Kinderrechtsausschuss besorgt darüber, dass in Deutschland Jugendliche ab 17 Jahren eine militärische Ausbildung bei den Streitkräften beginnen können. Aber die Bundesregierung wies sämtliche Bedenken der UN zurück. Wer diese Kritik an Deutschland formuliert, kann sich in einem zweiten Schritt kritisch mit dem Brasilianer Luís Alves de Lima e Silva auseinandersetzen. Dieser Oberbefehlshaber der Kinderschlacht von Acosta-ñu aus Brasilien war ein ausgesprochen brutaler Militärbefehlshaber, der sich außerdem nach der Schlacht auf einem riesengroßen Ölgemälde hoch zu Ross verherrlichen ließ und das noch heute im Museu Nacional de Belas Artes in Rio de Janeiro einen herausragenden Platz einnimmt.

Dass Kinder in ihrem Tun – wie alle Menschen überhaupt – Opfer struktureller Bedingungen (Gewalt, Ausbeutung, staatlicher Zwang usw.) sind, versteht sich von selbst. Doch diese banal richtige analytische Einordnung kann die Verantwortung für individuelles Handeln nicht unberücksichtigt lassen. Selbstverständlich unterscheidet das Strafrecht zwischen der Schuld von Erwachsenen und Kindern nach Altersgrenzen. Gleichzeitig kennt die Pädagogik durchaus das Konzept von verantwortungsbewusstem Handeln auch bei Kindern. Verstöße gegen diese Verantwortung werden durch eine pädagogisch orientierte »Grenzziehung« ausgeglichen und schlimmstenfalls auch bestraft. Besser als Strafe ist Resozialisierung, aber Kindersoldat*innen sind (auch) Täter*innen – ihre Taten dürfen sozial und individuell nicht folgenlos bleiben.

Für Paraguay bedeutete dieser Krieg, dass das Land in vielen Dimensionen weit zurückgeworfen wurde. Das einst so moderne und früh industrialisierte Paraguay schneidet noch heute wegen dieses desaströsen Kriegs vor 150 Jahren auf dem Human Development Index sehr viel schlechter ab als die anderen kriegführenden Länder.

Die gesellschaftliche Dimension dieses Krieges war durchweg traumatisierend – für die Bewohner*innen Paraguays wie auch die hier beschriebenen Kinder. Niemals sollte vergessen werden, welche dramatischen Folgen ein Kriegseinsatz auf die psychische Gesundheit der Kinder hat – doch ebenso sollten die hier aufgeworfenen Fragen nach dem Handeln und den Hintergründen des Einsatzes von Kindersoldaten bei der Täter*innen-Forschung nicht ausgeblendet werden.

Was bleibt? Eine positive friedenswissenschaftliche Konsequenz aus dem Tripelallianz-Krieg und der Kinderschlacht zog der paraguayische Historiker Andrés Aguirre (Aguirre und Samaniego 1979). Ihm ist es zu verdanken, dass der 16. August jeden Jahres in Paraguay feierlich als »Tag des Kindes« begangen wird.

Anmerkungen

1) Ich danke María La Manna aus Montevideo für ihre Hilfe, mir diesen Krieg verständlich zu machen. In der Nationalbibliothek von Uruguay in Montevideo konnte ich Anfang Oktober 2019 viele originale Kindersoldatenfotos aus dem Tripel-Allianz-Krieg einsehen. Dieses mir unvergessliche Erlebnis verdanke ich den Archivarinnen Anilán Nievas, Adriana De León und Carla Fusaro. Gerade ihnen sei an dieser Stelle herzlich für ihre Hilfe gedankt und dafür, dass Fotos aus diesem Krieg kostenfrei veröffentlicht werden dürfen. Geisa Fernandes aus Rio de Janeiro danke ich für die Übersetzung des Kinderkriegskapitels aus dem Buch von Julio José Chiavenatto aus dem Portugiesischen ins Deutsche. Zu diesem Krieg sind vor allem die folgenden Bücher zu studieren: Chiavenatto, J. J. (1979): Genocídio americano: A Guerra do Paraguai. 5. Aufl., São Paulo: Ed. Brasiliense; Cuarterolo, M. A. (2000): Soldades de la Memoria. Imagenes y Hombres de la Guerra del Paraguay. Buenos Aires: Planeta.; Pino Menck, A., et al. (Hrsg.) (2008): La guerra del Paraguay en fotografías. Montevideo: Biblioteca Nacional; Esposito, G. (2017): Armies of the War of the Triple Alliance War 1864-1870. Oxford: Ospreys.

2) Anekdoten berichten, dass der Erzbischof von Asunción nach Kriegsende die Vielehe erlaubt haben soll, da es keine erwachsenen Männer mehr gab und die Obrigkeit soll ferner den Frauen Paraguays erlaubt haben, Männer auf im Hafen von Asunción einlaufenden Schiffen zu vergewaltigen. Anekdoten können – aber sie müssen es nicht – einen Kern von Wahrheit enthalten.

Literatur

Aguirre, A.; Samaniego, M. (1979): Acosta-ñu, epopeya de los siglos, Asunción: Municipalidad de Eusebio Ayala.

Chiavenatto, J. J. (1979): Genocídio americano: A guerra do Paraguai. 5. Aufl., São Paulo: Ed. Brasiliense.

Potthast, B. (2005): Niños soldados y niñas famélicas en la guerra del Paraguay. In: Potthast, B.; Carreras, S. (Hrsg.): Entre familia, sociedad y estado: Niños y jóvenes en América Latina (siglos XIX y XX), Madrid: Iberoamericana, S. 89-114; dem Autor stand das deutsche Originalmanuskript zu Verfügung.

Rotte, R. (2011): Paraguays „Großer Krieg“ gegen die Tripel-Allianz, 1864-1870. Österreichische Militärische Zeitschrift, Nr. 2/2011, S. 170-179.

Jörg Becker, Mitglied im Beirat von W&F, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg und lebt im Ruhestand in Solingen. Früher als Kommunikationswissenschaftler tätig, arbeitet er seit langem als Historiker.

It’s a man’s world?


It’s a man’s world?

Diplomatengattinnen auf dem Westfälischen Friedenskongress

von Lena Oetzel

Auf den ersten Blick erscheint der Westfälische Friedenskongress (1643–1649) als eine reine Männerveranstaltung. Viele der Gesandten wurden aber von ihren Ehefrauen begleitet. Diese eröffneten informelle Kommunikationswege und trugen so zum Funktionieren des Kongresses bei.

Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster

Abbildung 1: Beschwörung der Ratifikation des Friedens von Münster am 15. Mai 1648, Gerard ter Borch, 1648, Rijksmuseum Amsterdam. Quelle: Wikimedia Commons.

Diplomatie und insbesondere Friedensverhandlungen in der Frühen Neuzeit erscheinen zunächst als eine reine Männerwelt; diesen Eindruck vermitteln gerade auch die zeitgenössischen bildlichen Darstellungen zum Westfälischen Friedenskongress. Gerard ter Borchs bekanntes Gemälde vom niederländisch-spanischen Friedensschluss etwa zeigt ausschließlich Männer (siehe Abbildung 1).

Auch unter den Gesandtenportraits, die für die Rathäuser von Münster und Osnabrück zur Erinnerung angefertigt wurden, finden sich nur Männer. Lediglich unter den Portraits der Herrschenden sind zwei Frauen vertreten: Königin Christina von Schweden und Landgräfin Anna Amalia von Hessen-Kassel, die als Regentin für ihren minderjährigen Sohn auftrat. Alle offiziellen Gesandten in Münster und Osnabrück waren jedoch Männer.1

Friedensverhandlungen als Männerveranstaltung?

Sie waren nach Westfalen geschickt worden, um die Konflikte, die als Dreißigjähriger Krieg bekannt sind, beizulegen.2 Fast ganz Europa – Frankreich, Spanien, Schweden, die Niederlande, der Kaiser und die Reichsstände, um nur die Hauptverhandlungsparteien zu nennen – war in diesen ursprünglich reichsinternen Konflikt verwickelt. Alle Versuche, nur zwischen einzelnen Konfliktparteien Frieden zu schließen, waren gescheitert. Der Westfälische Friedenskongress war der erste internationale Gesandtenkongress dieser Größenordnung und damit diplomatisches Neuland.

Aber handelte es sich bei dem Kongress wirklich um eine reine Männerveranstaltung? Die Forschung hat in den letzten Jahren gezeigt, dass frühneuzeitliche Diplomaten nicht nur ausführende Organe ihrer jeweiligen Dienstgeber*innen waren, sondern eigenständige Akteure. Sie hatten eigene Interessen, waren u.a. auch Ehemänner und Väter. Als solche wurden viele Gesandte von ihren Ehefrauen und Kindern nach Westfalen zu den Friedensverhandlungen begleitet.

Diese fehlen jedoch auf den diplomatischen »Familienbildern« des 17. Jahrhunderts. Für das Verständnis der Verhandlungssituation und des Kongresses in seiner Funktionsweise sind sie aber wichtig. Nicht zuletzt, weil die meisten anwesenden Gesandten mehrere Jahre von zu Hause fort waren. Dabei war zu Beginn des Kongresses nicht klar, wie lange es dauern würde und ob er nicht, wie frühere Versuche, scheitern würde. Wenn die Gesandten also nicht von ihren Familien begleitet wurden, waren sie von ihren Ehefrauen und Angehörigen getrennt, was sich durchaus auf ihr Wohlbefinden auswirkte.

Der kurbrandenburgische Gesandte Johann Friedrich von Löben etwa beklagte sich bei seinem Patron am Berliner Hof: „Die andern Abgesandten haben meistlich alle ihre Eheschätze bei sich. […] Ich aber weiß kein Rhatt, bin zwar schoen bei Jharen, empfinde doch gleichwhol zu Zeitten ein Verlangen nach der meinigen. Im Sommer gehet es noch hin, aber im Wintter wirdts zu kalt sein, alleine zu schlaffen.3

Frauen als informelle Akteurinnen

Die Rolle der Diplomatengattinnen beschränkte sich allerdings nicht nur auf die der Begleiterin, die für das Wohlbefinden ihres Ehemannes sorgte und an den gesellschaftlichen Aktivitäten teilnahm. Eine solche Betrachtungsweise greift zu kurz und blendet die Bedeutung informeller Akteur*innen aus.

Die Forschungen der letzten Jahre hat für den Hof gezeigt, dass Fürsten und Fürstinnen sowie Diplomaten und ihre Ehefrauen zumeist als Arbeitspaare agierten.4 Den Frauen standen oft andere (weiblich dominierte) Netzwerke zur Verfügung als ihren Ehemännern, z. B. zu den Fürstinnen. Gerade die informelle Natur ihrer Handlungsmöglichkeiten erlaubte es, etwa Angelegenheiten unverbindlich vorzubringen, bevor offizielle Verhandlungen eingeleitet wurden.5

Der Westfälische Friedens­kongress als besonderer Handlungsraum

Nun funktionierte aber ein Friedenskongress anders als ein Hof: Er war von zeitlich begrenzter Dauer und wurde nicht von einer*m Herrscher*in mit Hofstaat dominiert. Alles gesellschaftliche Leben musste erst organisiert werden, die zeremoniellen Regeln des Miteinanders ausverhandelt werden. Das heißt, auch die informellen Räume und Kommunikationskanäle mussten erst gefunden werden.

Diplomatengattinnen spielten bei der Schaffung und Gestaltung dieser informellen Kommunikationswege eine wichtige Rolle. Der portugiesische Gesandte Sousa Coutinho beispielsweise beklagte die Abwesenheit seiner Ehefrau, weil diese ihm Kontaktmöglichkeiten zu den Ehefrauen der niederländischen Gesandten eröffnet hätte.6

Das Mittagessen als Ort diplomatischer Konflikte

Wie wichtig solche informellen Kontakte waren und wie sie funktionierten, zeigt das Beispiel des kaiserlichen Gesandten Johann Maximilian Graf von Lamberg und des kurbrandenburgischen Gesandten Johann VIII. Graf von Sayn-Wittgenstein. Deren Ehefrauen Judith Rebecca Eleonore Gräfin von Lamberg und Anna Augusta Gräfin zu Waldeck waren eng befreundet. Lamberg notierte regelmäßig, dass sich die Ehepaare gegenseitig zum Essen besuchten.7

Was bei diesen gemeinsamen Mahlzeiten besprochen wurde, ist nicht überliefert. In Einzelfällen lässt sich aber der Kontext rekonstruieren. Im Januar 1646 etwa speisten Lambergs bei Sayn-Wittgensteins, wobei sich die Herren heftig über die schwedischen Gebietsforderungen stritten. Lamberg selbst notierte dieses Treffen in seinem Diarium ohne weitere Anmerkungen. Von dem Streit erfahren wir aus Berichten Dritter.8

Die Anwesenheit der Ehefrauen gab der Situation einen informellen Anstrich, der es ermöglichte, Dinge zu sagen, die in einem anderen Kontext vielleicht einen Affront dargestellt hätten. Gleichzeitig sicherten sie den Kontakt: Die Gräfin Sayn-Wittgenstein speiste nur wenige Tage später bei Lambergs und auch Graf Lamberg selbst war bald wieder beim Ehepaar Sayn-Wittgenstein zu Gast.9 Natürlich gab es auch andere Möglichkeiten, solche Räume der Informalität herzustellen, z.B. bei Gratulations- und Kondolenzbesuchen, bei Kirchgängen oder Ausflügen in die Umgebung.10 Wie diese verschiedenen informellen Settings zusammenspielten, ist noch zu untersuchen.

Diplomatengattinnen als Interessenvermittlerinnen

Wiederholt wurden Diplomatengattinnen als Vermittlerinnen eingeschaltet. Wenn die üblichen Wege, die eigenen Interessen vorzubringen und durchzusetzen, erschöpft schienen, wandten sich die Gesandten mitunter an die Ehefrauen ihrer Verhandlungspartner. Gerade wenn deren Ehemänner sich als unzugänglich erwiesen und etwa einen Gesprächstermin verweigerten, boten die Ehefrauen eine Kontaktmöglichkeit.

Deutlich zeigt sich dies anhand von Anne Geneviève de Bourbon-Condé Duchesse de Longueville, Ehefrau des französischen Gesandten Henri d’Orléans Duc de Longueville11, die zudem als Mitglied des französischen Königshauses die ranghöchste Person überhaupt am Kongress war und entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zog (siehe Abbildung 2). Der Bischof von Osnabrück wandte sich mit der Bitte an sie, sich für den Erhalt dreier Hochstifte und gegen deren Säkularisierung bei ihrem Mann einzusetzen, was diese auch tat.

Inwieweit die Intervention der Ehefrauen sich tatsächlich auf das Verhandlungsgeschehen auswirkte, ist meist den Quellen nicht zu entnehmen. Klar ist aber, dass sie durchaus in das Verhandlungsgeschehen einbezogen waren und an informellen Gesprächen ihrer Ehemänner teilnahmen, wie bei gemeinsamen Mahlzeiten.

Wie verbreitet diese Einflussnahme von Diplomatengattinnen auf Friedenskongressen war, über welche weiteren Handlungsmöglichkeiten sie verfügten und wie sich diese von denen am Hof unterschieden, bedarf weiterer Forschungen. Hierfür müssen auch spätere Friedenskongresse untersucht werden. Während die (diplomatischen) Handlungsspielräume von Frauen am Hof immer mehr Aufmerksamkeit erhalten, fehlen ähnliche Untersuchungen für Friedenskongresse fast vollständig. Bereits jetzt ist aber klar, dass sie wesentlich dazu beitrugen, informelle Räume und Kontaktmöglichkeiten zu schaffen. Sie wurden als alternative Mittlerinnen angesprochen und waren als solche informeller Teil des Verhandlungsgeschehens.

Der Westfälische Friedenskongress mag zwar zunächst als Männerwelt erscheinen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass es eine Welt war, in die Frauen eingebunden waren und in der sie eine wesentliche Rolle spielten auf dem mühsamen Weg der Friedensfindung.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht auf »fernetzt. Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte«, URL: univie.ac.at/fernetzt/20210515/.

Anmerkungen

1) Vgl. Duchhardt, H;Kaster, K. G. (Hrsg.) (1996):, „… zu einem stets währenden Gedächtnis“. Die Friedenssäle in Münster und Osnabrück und ihre Gesandtenporträts: anlässlich des Jubiläums 350 Jahre Westfälischer Frieden von Münster und Osnabrück im Jahre 1998, Bramsche: Rasch.

2) Einführend jüngst: Burkhardt, J. (2018): Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart: Klett-Cotta; Schmidt, G. (2018): Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München: C.H.Beck.

3) Löben an Konrad von Burgsdorf, Osnabrück, den 18./28. April [1645], in: Meinardus, O. (Hrsg.) (1893): Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rates aus der Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Bd. 3: Vom Januar 1645 bis Ende August 1647, Osnabrück, Nr. 59, S. 102.

4) Vgl. Wunder, H. (1992): Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit, München: C.H.Beck.

5) Bastian, C. u.a. (Hrsg.) (2014): Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Köln Weimar Wien: Böhlau; Sluga, G.; James, C. (Hrsg.) (2015): Women, diplomacy and international politics since 1500, London: Routledge; von Thiessen, H. (2020): Die Gender-Perspektive in der Geschichte der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen: Frauen in einer Männerdomäne? In: Schnelling-Reinicke, I.; Brockfeld, S. (Hrsg.): Karrieren in Preußen – Frauen in Männerdomänen, Berlin: Duncker & Humblot, S. 291–304.

6) Croxton, D. (2013): Westphalia. The last Christian peace, Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 172.

7) Vgl. Brunert, M.-E. (2001): „… ich hatte ja auch luxaugen sowohl als andere“. Der Augenzeugenbericht eines Teilnehmers am Westfälischen Friedenskongress über den Wallfahrtsort Rulle. Osnabrücker Mitteilungen 106, S. 127-143, hier S. 142f.

8) Vgl. 08.01.1646, 02.02.1646, in: Acta Pacis Westphalicae. Serie III Abteilung C: Diarien, Bd. 4: Diarium Lamberg 1645–1649 (APW III C 4), bearb. von Herta Hageneder, Münster 1986, S. 107, 110; Verhandlungen der Pommerschen Gesandten auf dem Westphälischen Friedenscongreß, in: Baltische Studien V.1 (1838), S. 1–130, hier S. 4f; Brunert 2001, S. 142f.

9) Vgl. 10.01.1646, in: Diarium Lamberg, APW III C 4, S. 107.

10) Vgl. z. B. Oetzel, L. (2019): Die Leiden des alten T. Krankheit und Krankheitsdiskurse auf dem Westfälischen Friedenkongress. In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg): Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Münster: Aschendorff, S. 323–340, bes. S. 329–331.

11) Maria-Elisabeth Brunert gibt mit ihrer Studie einen ersten wichtigen Einblick in die Bedeutung von Diplomatengattinnen für die Verhandlungen: Brunert, M.-E. (2019): Interzession als Praktik. Zur Rolle von Diplomatengattinnen auf dem Westfälischen Friedenskongress In: Goetze, D.; Oetzel, L. (Hrsg): Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Münster: Aschendorff, S. 209–225.

Lena Oetzel ist Historikerin am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes (ÖAW/Wien) und an der Universität Salzburg. Sie forscht u.a. zu frühneuzeitlichen Friedenskongressen.

Keine Taler für den Krieg


Keine Taler für den Krieg

August Bebel und Wilhelm Liebknecht als Kritiker des Krieges von 1870/71

von Karlheinz Lipp

Das Deutsche Kaiserreich (1871-1918) wurde als Ergebnis des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 im Spiegelsaal von Versailles »von oben« gegründet. Somit hatte Preußen-Deutschland in wenigen Jahren erfolgreich drei Kriege geführt (zuvor bereits 1864 gegen Dänemark und 1866 gegen Österreich-Ungarn). Diese Siege stabilisierten einen Militarismus in Deutschland, der von weiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen wurde (Wette 2011). Umso wichtiger ist es, auf jene Stimmen hinzuweisen, die diesen Militarismus kritisch hinterfragten.

Die im 19. Jahrhundert entstehende proletarische Bewegung beschäftigte sich u.a. mit dem Phänomen des Militärs. Der Beschluss der 1. Internationale (3.-8. September 1866) in Genf lautete dahingehend, dass stehende Heere abgeschafft und stattdessen Volksheere aufgebaut werden sollten.

Zwei Jahre später verfasste Wilhelm Liebknecht (1826-1900) die Resolution des 5. Vereinstages der Arbeitervereine in Nürnberg. Darin heißt es u.a.: „Das System der stehenden Heere, wie es sich in fast allen Ländern Europas entwickelt hat, ist eine der Hauptursachen der gegenwärtigen Geschäftsstockungen. Indem es den Völkern insgesamt ungeheure Lasten auferlegt, die Steuern mit den Staatsschulden von Tag zu Tag erhöht, einen großen Teil der Bevölkerung in den besten und kräftigsten Lebensjahren ihrem Berufe und der Produktion entzieht, ist es zugleich eine wesentliche Ursache der herrschenden sozialen Not und Massenverarmung.

Indem es ferner den Fürsten die Macht gibt, gegen den Willen und das Interesse der Völker Krieg zu führen, überhaupt den Willen der Völker zu mißachten , ist das stehende Heer die Quelle beständiger Kriegsgefahr, das Mittel dynastischer Eroberungskriege nach außen und der Unterdrückung von Recht und Freiheit nach innen.“ (zitiert nach Butterwegge und Hofschen 1984, S. 29) Auch dieser Vereinstag forderte die Abschaffung stehender Heere.

Vordergründig wurde der deutsch-­französische Krieg durch die »Emser Depesche« ausgelöst; bei ihr ging es um die Thronfolge in Spanien. Kaiser Napoleon III. wollte die Einsetzung des Hohenzollernprinzen Leopold auf den spanischen Thron verhindern und forderte daher den preußischen König Wilhelm I. auf zu erklären, dass die Dynastie der Hohenzollern auf den spanischen Thron verzichten werde. Dies wurde abgelehnt und zwar in einer Depesche, die von Bismarck absichtlich in verkürzter Form der Presse zugespielt wurde. Napoleon III. fühlte sich brüskiert und erklärte am 19. Juli 1870 den Krieg. Die »Emser Depesche« ist ein treffsicheres Beispiel für die geschickte Manipulation von Medien, um einen Krieg gezielt zu entfesseln. August Bebel (1840-1913) kritisierte Bismarcks Urheberschaft des deutsch-französischen Krieges in zwei Artikeln in der sozialdemokratischen Zeitung »Der Volksstaat« (Nr. 73 und 74, 1873), und Liebknecht publizierte 1891 seine Schrift »Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht werden« (Nürnberg: Verlag Wörlein & Comp).

Stimmenthaltung bei Beginn des deutsch-französischen Krieges

Kein Krieg ohne Geld. Um den Krieg zu finanzieren – die wahre Geschichte der »Emser Depesche« war noch unbekannt, die Pariser Arbeiterinnen und Arbeiter hatten auf einer Versammlung bereits gegen einen Krieg gestimmt –, wurde im Reichstag des Norddeutschen Bundes der Antrag auf Kriegsanleihen in Höhe von 120 Millionen Taler gestellt. Eine parlamentarische Debatte gab es nicht. Alle Abgeordneten stimmten am 21. Juli 1870 für die Anleihen, nur Liebknecht und Bebel, Sozialdemokraten der »Eisenacher Richtung«, enthielten sich der Stimme – de facto zwei Nein-Stimmen. In einem »motivierten Votum« begründeten die beiden Abgeordneten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) ihr Abstimmungsverhalten:

„Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg , unternommen im Interesse der Dynastie Bonaparte wie der Krieg von 1866 im Interesse der Dynastie Hohenzollern.

Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat. Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern, denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefaßt werden.

Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozialrepublikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiter­assoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbunde zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung , indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas , durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel zu beseitigen.“ (zitiert nach Liebknecht 1986, S. 37 f.)

Die bürgerlich-konservativen Parteien zeigten sich entsetzt; auch der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein distanzierte sich von Bebel und Liebknecht. Differenzen existierten ferner zwischen den beiden Kritikern und dem Braunschweiger Ausschuss, dem Parteivorstand der SDAP. Bebel und Liebknecht wurden in ihrem Wohnort Leipzig auf offener Straße belästigt, Fenster in Liebknechts Wohnung mit Steinen demoliert.

Die Stimmenthaltung von Liebknecht und Bebel darf keineswegs gering geachtet werden. Eine Friedensbewegung existierte zu dieser Zeit in Deutschland nicht einmal ansatzweise, anders als etwa in den USA, Großbritannien und Frankreich.

Exkurs: Entstehung einer Friedensbewegung in Deutschland

Erst im Jahre 1850 wurde in Deutschland eine lokale Friedensorganisation gegründet, in Königsberg – eine Spätfolge von Immanuel Kants wegweisender Friedensschrift »Zum ewigen Frieden« von 1795. Dort hatte sich Kant sehr kritisch zu stehenden Heeren geäußert. Die Gründer der Königsberger Gruppe, die Ärzte Johann Jacoby und Robert Motherby, der ehemalige Pfarrer Julius Rupp (Großvater von Käthe Kollwitz) sowie der Arbeiterführer Friedrich Grünhagen vertraten einen pazifistischen Nonkonformismus. Die reaktionären preußischen Behörden observierten diese Gründung voller Misstrauen, und bereits 1851 – nach nur einem Jahr – wurde der Friedensverein in Königsberg auf Anordnung der Behörden wieder aufgelöst.

Auch nach 1870/71 blieb Deutschland friedenspolitisch ein Entwicklungsland. Es konnte daher nicht überraschen, dass der Versuch einer Aktivierung von außen erfolgte. Der britische Pazifist Hodgson Pratt unternahm im Jahre 1884 eine Werbetour durch Deutschland, um Friedensorganisationen aufzubauen. Nur in Frankfurt am Main gelang eine Gründung, die von Dauer war. Schließlich gründeten Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried 1892 die Deutsche Friedensgesellschaft, die noch heute existiert (Holl 1988, S. 26-32; Riesenberger 1985, S. 24-36).

Das Nein zu den neuen Kriegsgeldern

Nach der Schlacht bei Sedan Anfang September 1870 trat der deutsch-französische Krieg in eine neue Phase. Bebel sah dies in seinen Lebenserinnerungen so. „Doch der Krieg wütete weiter. Die Gefangennahme Napoleons bei Sedan beantwortete Paris mit der Erklärung der Republik, ein Ereignis, das namentlich im deutschen Hauptquartier sehr unangenehm berührte. Um Frankreich zu einer Republik zu machen , dafür hätte man den Krieg nicht begonnen. Man fürchtete das böse Beispiel, wie sich gezeigt hat, ohne Grund. […]

Aber auch im Braunschweiger Ausschuß hatte die Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen und einen starken Gesinnungswechsel hervorgerufen. Jetzt waren mit einem Schlage alle Differenzen zwischen uns beseitigt. Sofortiger Friedensschluß mit der französischen Republik, Ersatz aller Kriegskosten, aber Verzicht auf jede Annexion waren die Forderungen, die wir jetzt gemeinsam erhoben. Aus dem Verteidigungskrieg war mittlerweile der Eroberungskrieg geworden.“ (Bebel 1997, S. 313)

Die Reaktion des Militärs folgte umgehend. Auf Befehl des Generals Vogel von Falckenstein wurde der komplette Braunschweiger Ausschuss am 9. September 1870 gesetzeswidrig verhaftet und bis zum 30. März 1871 auf der Festung Boyen bei Lötzen (Ostpreußen) inhaftiert.

Die Fortsetzung des Krieges verlangte weitere Summen; jetzt handelte es sich um 100 Millionen Taler. Liebknecht und Bebel enthielten sich nun nicht mehr der Stimme, sondern sprachen sich im Reichstag des Norddeutschen Bundes am 26. November 1870 gegen die Bewilligung der Gelder aus und stimmten zwei Tage später gegen die Finanzierung des Krieges. Ihre Position spiegelte sich im folgenden Antrag:

„In Erwägung, daß der am 19. Juli von Louis Bonaparte, damals Kaiser der Franzosen, erklärte Krieg durch die Gefangennahme Louis Bonapartes und die Niederwerfung des französischen Kaiserreiches tatsächlich sein Ende erreicht hat;

in Erwägung, daß nach den eignen Erklärungen des Königs von Preußen in der Thronrede am 19. Juli und der Proklamation an das französische Volk vom 11. August der Krieg deutscherseits nur ein Verteidigungskrieg und kein Krieg gegen das französische Volk sei;

in Erwägung, daß der Krieg, welcher trotzdem seit dem 4. September geführt wird, im schroffsten Widerspruch mit dem königlichen Wort nicht ein Krieg gegen die kaiserliche Regierung und die kaiserliche Armee, welche nicht mehr existieren, sondern ein Krieg gegen das französische Volk ist, nicht ein Verteidigungskrieg, sondern ein Eroberungskrieg, nicht ein Krieg für die Unabhängigkeit Deutschlands, sondern ein Krieg für die Unterdrückung der edlen französischen Nation […],

beschließt der Reichstag, die verlangte Geldbewilligung für die Kriegführung abzulehnen, und fordert den Bundeskanzler [des Norddeutschen Bundes] auf, dahin zu wirken , daß unter Verzichtleistung auf jede Annexion französischen Gebietes mit der französischen Republik schleunigst Frieden geschlossen werde.“ (zitiert nach Liebknecht 1986, S. 52 f.)

Nach den Reden der Verweigerer der Kriegskredite kam es im Parlament zu Tumulten. In der Folgezeit attackierten konservative Presseorgane in einer Kampagne die beiden Abgeordneten der SDAP. Zustimmung erfuhren Liebknecht und Bebel in Schreiben von Ortsvereinen. Am 17. Dezember wurden die zwei Sozialistenführer verhaftet und blieben zunächst bis zum 28. März 1871 inhaftiert. Der Sieg Preußens im Bündnis mit den süddeutschen Staaten gegen Frankreich führte schließlich zur Proklamation des Deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 in Versailles. Dies war ein großer Triumph für den Militarismus und von Bismarcks aggressiver Politik.

Keine Annexion von Elsass-Lothringen

Bei den erstmals abgehaltenen Reichstagswahlen am 3. März 1871 gewann Bebel ein Mandat. Er hielt im Deutschen Reichstag am 25. Mai eine Rede gegen die Annexion Elsass-Lothringens. Süffisant kommentiert der Sozialist, dass er in dieser Annexion wenigstens einen einzigen Vorteil erkennen könne – und verknüpft dies mit einer interessanten europapolitischen Komponente:

„Täuschen Sie sich nicht, meine Herren, wenn einmal die Annexion unabänderlich ist – und wir wenige können sie ja beim besten Willen nicht rückgängig machen gegen die Macht, die uns gegenübersteht –, dann ist der einzige Vorteil, den ich in der Annexion von Elsaß-Lothringen erblicke, der, daß gerade diese revolutionären und republikanischen Tendenzen, die meiner Überzeugung nach in einem großen Teil der Bevölkerung von Elsaß-Lothringen leben, jetzt nach Deutschland mit hinübergenommen werden und daß Elsaß-­Lothringen so den Keil bildet, der es uns mit möglich machen wird, nach einiger Zeit das gesamte monarchische Deutschland aus den Fugen zu treiben .

Ich von meinem Standpunkte aus protestiere entschieden gegen die Annexion, weil ich sie für ein Verbrechen gegen das Völkerrecht halte, weil ich sie für einen Schandfleck in der deutschen Geschichte halte. Ich hoffe, daß die elsässische Bevölkerung, ihrer freiheitlichen Mission sich bewußt, den freiheitlichen Kampf mit uns in Deutschland aufnehmen wird, damit endlich die Zeit kommt, wo die europäischen Bevölkerungen ihr volles Selbstbestimmungsrecht erlangen können, was sie aber nur bekommen können, wenn die Völker Europas in der republikanischen Staatsform das Ziel ihrer Bestrebungen erblicken.“ (Bebel 1979, S. 150 f.)

Ferner bekannte sich Bebel in dieser Rede im Namen der SDAP zur Pariser Kommune.

Der Prozess wegen angeblichen Hochverrats 1872

Vom 11. bis 23. März 1872 fand in Leipzig der Prozess wegen angeblichen Hochverrats gegen Bebel, Liebknecht und Adolf Hepner, einem Redakteur der Zeitung »Der Volksstaat«, statt (siehe dazu Friedländer 2008, S- 23-47; Wette 2004; Enzensberger 1973, S. 125-143). Die ursprüngliche Intention der kaiserlichen Justiz, nämlich die Sozialisten für ihre verweigerte Zustimmung zu den Kriegskrediten öffentlich abzustrafen, war in diesem Prozess kein Thema mehr. Im Mittelpunkt stand nun der Vorwurf, die Angeklagten würden als Mitglieder einer revolutionären Bewegung den Sturz des Staates anstreben.

Insbesondere Bebel und Liebknecht nutzten die Tribüne des Gerichts, um ihre sozialistische und antimilitaristische Position gegenüber der Anklage, den Geschworenen (ein Rittergutsbesitzer, ein Oberförster, einige Kaufleute und Gutsbesitzer), dem Publikum des Prozesses sowie der politischen Öffentlichkeit ausführlich darzulegen.

So führte Liebknecht u.a. aus: „Die Erfolge von 1870/71 haben mich in meinen Ansichten nicht erschüttern können. Im Gegenteil, die »glorreichen« Siege des preußisch-französischen Krieges haben mich in meiner Anschauung nur bestärkt. Sie haben den starren Militarismus befestigt, das bürgerliche Element noch mehr, als es vorher der Fall war, zurückgedrängt und dadurch die Reformfähigkeit des Staats, falls sie noch vorhanden gewesen sein sollte, vollends aufgehoben .

Seit 1866 steht die Existenz Preußens auf der Spitze des Schwerts. Die Schlacht von Königgrätz verloren, und Preußen hatte als Großmacht aufgehört. Eine entscheidende Niederlage in Frankreich, und Preußen war von der Landkarte Europas gestrichen. Ein Staat wie Preußen kann aber des Krieges nicht entbehren, vom Kriege sich nicht emanzipieren, und für jeden Erobererstaat, von dem die Geschichte uns Kunde gibt, ist noch der Moment gekommen, wo der Krieg keine Siege brachte. Und nicht siegen ist für einen Erobererstaat gleichbedeutend mit Untergang.

Ein Staat wie das Bismarcksche Preußen-Deutschland ist durch seinen Ursprung mit fatalistischer Notwendigkeit dem gewaltsamen Untergang geweiht. Das Schicksal des französischen Empire, dessen sklavische, jedenfalls nicht verbesserte Kopie es ist, kündet ihm seine Zukunft. Auf dem Schlachtfeld geboren, das Kind des Staatsstreichs des Krieges und der Revolution von oben, muß es ruhelos von Staatsstreich zu Staatsstreich , von Krieg zu Krieg eilen und entweder auf dem Schlachtfeld zerbröckeln oder der Revolution von unten erliegen. Das ist Naturgesetz .“ (zitiert nach Leidigkeit 1960, S. 256 f.; Hervorhebung im Original)

Bebel und Liebknecht wurden zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, die sie absaßen; Hepner wurde freigesprochen. Nach dem Prozess kam es in mehreren deutschen Städten zu Solidaritätskundgebungen mit den Verurteilten. In einem weiteren Prozess wegen angeblicher Majestätsbeleidigung wurde Bebel zu neunmonatiger Haft verurteilt.

In der Haft genossen Bebel und Liebknecht als politische Gefangene einige Privilegien. Die Parteiarbeit konnten die beiden ansatzweise weiterführen. Bebel übersetzte im Gefängnis eine Schrift der Franzosen Yves Guyot und Sigismond Lacroix ins Deutsche, die 1876 unter dem Titel »Die wahre Gestalt des Christentums. Uebersetzt von einem deutschen Sozialisten« erschien. Im gleichen Jahr publizierte Bebel »Der deutsche Bauernkrieg mit Berücksichtigung der hauptsächlichsten sozialen Bewegungen des Mittelalters«.

Im Gothaer Programm, das auf dem Vereinigungskongress der sozialdemokratischen Richtungen 1875 beschlossen wurde, heißt es u.a.:

„Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen des Staates: […]
2. Direkte Gesetzgebung durch das Volk. Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk.
3 . Allgemeine Wehrhaftigkeit. Volksheer anstelle der stehenden Heere.“
(zitiert nach Butterwegge und Hofschen 1984, S. 34)

Die Debatten in der SPD über die friedenspolitischen Positionen hielten in den nächsten Jahren an. Im Sommer 1914 stimmte die Fraktion im Reichstag für die Kriegskredite und vertrat den Kurs eines Burgfriedens. Diese Entwicklung beschleunigte die innerparteiliche Auseinandersetzung während des Ersten Weltkrieges über die Friedensfrage, – und es kam immer stärker zu einer inhaltlichen und organisatorischen Spaltung der Partei. So erfolgte die Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die antimilitaristische Position seines Vaters setzte der Sohn, Karl Liebknecht, konsequent fort.

Literatur

Abendroth, W. (1974): August Bebels Kampf gegen Militarismus und Krieg. In: ders. u.a. (Hrsg.): Sozialdemokratie und Sozialismus – August Bebel und die Sozialdemokratie heute. Köln: Pahl-Rugenstein, S. 29-51.

Bebel, A. (1970): Ausgewählte Reden und Schriften. Ba nd 1: 1863 bis 1878. Hrsg. von Rolf Dlubek und Ursula Herrmann unter Mitarbeit von Dieter Malik. Berlin: Dietz, S. 150f.

Bebel, A. (1997): Aus meinem Leben. Bonn: J.H.W. Dietz, S. 313. Die zweite Auflage der Originalfassung erschien in drei Bänden zwischen 1911 und 1914.

Butterwegge, C.; Hofschen, H.-G. (1984): Sozialdemokratie, Krieg und Frieden Die Stellung der SPD zur Friedensfrage von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine kommentierte Dokumentation. Heilbronn: Distel. Die Rechtschreibung bei den Zitaten folgt dem Original.

Enzensberger, H. M. (Hrsg. (1973): Freisprüche – Revolutionäre vor Gericht. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Friedländer, H. (2008): Mörder, Verräter, Attentäter – Gerichtsreportagen aus dem Kaiserreich. Hrsg. von Gideon Botsch und Christoph Kopke. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg. Die Originalausgabe erschien 1912.

Holl, K. (1988): Pazifismus in Deutschland. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Leidigkeit, K.-H. (Hrsg.) (1960): Der Leipziger Hochverratsprozeß vom Jahre 1872. Berlin: Rütten & Loening.

Liebknecht, W. (1986): Gegen Militarisierung und Eroberungskrieg – Aus Schriften und Reden. Berlin: Dietz.

Riesenberger, D. (1985): Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland – Von den Anfängen bis 1933. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Schmidt, J. (2013): August Bebel – Kaiser der Arbeiter. Zürich: Rotpunkt.

Weitershaus, F.W. (1976): Wilhelm Liebknecht – Das unruhige Leben eines Sozialdemokraten. Gütersloh und Gießen: Selbstverlag.

Wette, W. (2004): August Bebel und Wilhelm Liebknecht : Die Sozialistenführer als Gegner des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. In: Krämer, H.; Wette, W. (Hrsg.): Recht ist, was den Waffen nützt – Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert. Berlin: Aufbau, S. 100-108.

Wette, W. (2011): Militarismus in Deutschland – Geschichte einer kriegerischen Kultur. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker mit dem Schwerpunkt Historische Friedensforschung.

Streit um den Frieden

Streit um den Frieden

Die alte Bundesrepublik zwischen Krieg und Frieden

von Claudia Kemper

Ein halbes Jahrhundert im Frieden … Im Vergleich zur deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich vor allem für die Bundesrepublik eine Erfolgsgeschichte konstatieren – einerseits. Andererseits erlebte die Bevölkerung in beiden deutschen Staaten viele Phasen als einen weder ganz friedlichen, noch kriegerischen Zustand. So warf der Zweite Weltkrieg einen langen Erinnerungsschatten auf beide deutsche Nachkriegsgesellschaften und erstreckte sich in Überresten als Ordnungsmuster zum Teil bis weit in die Zeit nach 1945. Gleichzeitig trat ein
neues Ordnungsmodell hinzu: der Kalte Krieg.

Die Neuere Militärgeschichte integriert in ihren mehrdimensionalen Arbeiten zum Krieg Erkenntnisse der Gewaltsoziologie, sodass auch Gewalterfahrungen und Gewaltordnungen jenseits kriegerischer Operationen in den Blick rücken (Kühne und Ziemann 2000; Ziemann 2002). Aus beiden Forschungsrichtungen inspiriert und kulturgeschichtlich erweitert kann auch der Kalte Krieg als eine global wirksame Gewaltordnung definiert werden. Diese schrieb nicht nur in Form der Rüstungsspirale einen totalen Krieg als Zukunftsoption fest, sondern sie drang mit ihren kriegerischen
Unterscheidungskategorien von Freund/Feind und Sieg/Niederlage oder mit dem Anspruch auf technische und gesellschaftliche Überlegenheit tief in die gesellschaftlichen Poren ein. In seiner totalen Konfrontationslogik lässt sich der Kalte Krieg auch als Simulation eines Krieges verstehen, bei dem der Einbildungskraft der Menschen Gewalt angetan wurde (Bernhard, Nehring und Rohstock 2012, S. 14; Geyer 1990).

Der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 markiert den Überschneidungspunkt des alten und neuen Krieges. Entwicklung und Bau der Hiroshima-Bombe folgten unmittelbar den Dynamiken im Zweiten Weltkrieg, ihr Abwurf beeinflusste dessen Ende im Pazifik aber kaum. Vielmehr lässt sich für das internationale Mächteverhältnis der Beginn des Kalten Krieges auf diesen August datieren, allein weil die Sowjetunion schon längst damit beschäftigt war, ebenfalls eine Atombombe zu bauen. In der deutsch-deutschen Wahrnehmung begann der Kalte Krieg vor allem in Form zunehmender
Drohgebärden am Grenzzaun. Dort wurde die Spannung zwischen sowjetischen und US-Besatzern mit konventionellen Waffen und geschlossenen Toren demonstriert – die erste Berlinkrise 1948/49 war hierfür zentral.

Enger Bezug von Demilitari­sierung und Aufrüstung

In der unmittelbaren Nachkriegsphase, als die Alliierten noch eine gemeinsame Politik gegenüber dem besiegten Aggressor vertraten, setzten sie eine nahezu vollständige Abrüstung in Deutschland durch. Die berühmten fünf Ds, darunter »disarmament« (Entwaffnung) und »demilitarization« (Entmilitarisierung), mit denen die westlichen Besatzungszonen überzogen wurden, waren Maßnahmen, um Gewalt zu beenden und neue zu vermeiden (Benz 1989, S. 30 f.). Im November 1945 wurde in Deutschland jede militärische Ausbildung verboten; im August 1946 folgte die offizielle Auflösung der
Wehrmacht1; im Dezember 1946 wurden Herstellung, Einfuhr oder Ausfuhr von Kriegsmaterial verboten. Die während der Kriegszeit etablierten »Waffenschmieden« wurden in Ostdeutschland meist komplett demontiert und in Westdeutschland auf zivile Güterproduktion umgestellt (Bontrup und Zdrowomyslaw 1988, S. 129 ff.). All dies sollte zur vollständigen De-Militarisierung beitragen.

Die westdeutsche Nachkriegszeit wäre womöglich deutlich anders verlaufen, u.a. mit einer weitaus früher einsetzenden Aufarbeitung der NS-Verbrechen, wenn sich im Ost-West-Konflikt nicht sogleich eine neue Kriegsordnung herausgebildet hätte. Die CDU unter Konrad Adenauer ließ keinen Zweifel daran, wie sich der so bedrohte Frieden auf eine „wehrhafte Demokratie“ zu stützen habe, die im Kern antikommunistisch ausgerichtet sein musste (Schildt 2015, S. 78 ff.): „Ein Staat, der keine Wehrmacht hat, ist machtlos. Da kann man sagen, was man will. Und Demokratie hin,
Demokratie her, wenn Leute da sind, die gegen
die Demokratie angehen, und die Demokratie hat nichts, was sie schützt, als ihr Prinzip, dann ist sie eben verloren!“2

Darauf folgte die Phase der »Westernisierung« im Zeichen des Antikommunismus – ein Narrativ, das mit Blick auf den Konflikt um den »inneren Frieden« stärker differenziert werden muss. Denn während der »bedrohte Frieden« seinen Feind im Kommunismus ausmachte, musste der »innere Frieden« vor allem bewahrt werden zur „Stabilisierung einer bestimmten Gesellschaftsordnung bzw. erwünschter Geschlechts- und Geschichtsbilder“ (Rigoll 2014, S. 40). Die Anfeindung, politische Ausgrenzung und Marginalisierung von Pazifistinnen und Pazifisten, Friedensbewegten oder
antimilitaristischen Intellektuellen – nicht zuletzt auch eines Bundesinnenministers Gustav Heinemann –, die sich gegen die Wiederbewaffnung einsetzten, zeigten, wie mit dem Label »kommunistische Bedrohung« von offizieller Seite auch sachliche innergesellschaftliche Konflikte übertüncht und stillgelegt werden konnten.

Bei aller antikommunistischen Propaganda wirkten vor allem die Niederschlagung des Aufstands in Ostdeutschland 1953 und der Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn 1956 auf die öffentliche Meinung zugunsten eines bewaffneten Westdeutschlands. Mit der Berlin-Krise 1961, als sich sowjetische und US-amerikanische Panzer am Checkpoint Charlie gegenüberstanden, und der Kuba-Krise 1962 sollte sich die Mehrheitsmeinung für eine bewaffnete Bundesrepublik endgültig verfestigten. Kurz zuvor noch stand die Bevölkerung konkreten Plänen zur Gründung der Bundeswehr 1955 und der Debatte über ihre atomare
Bewaffnung 1957/58 ambivalent gegenüber. Alle Umfrageergebnisse zeigten, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung während dieser Zeit zwar gegen die Bedingungen aussprach, unter denen ein deutsches Militär wieder eingeführt werden sollte, aber gleichzeitig einer konservativen Regierung ihre Stimme gab, die sich explizit für die Gründung der Bundeswehr und für die Bündnispflichten in einem westlichen Militärbündnis aussprach (Geyer 2001).

Die Ablehnung einer westdeutschen Armee lag nur zu einem geringeren Teil in der konkreten Ablehnung von Gewaltausübung begründet. Ein größeres Motiv lag in den mehr oder weniger öffentlich diskutierten Regierungsplänen, eine neue Armee fest einzubinden in ein westliches Militärbündnis: Das war bis 1954/55 eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft und, nach deren Scheitern, ab 1955 die NATO. In beiden Fällen war der Preis für die Einrichtung einer westdeutschen Armee der Verzicht auf die Souveränitätsrechte über diese Armee. Die Bundesrepublik hätte keine eigene Armee gründen können, wenn
diese nicht auch unter westlicher Aufsicht stand – Beschränkungen, die in der westdeutschen Öffentlichkeit sehr unpopulär waren. Ein Teilnehmer einer Umfrage von 1951 formulierte es so: „Den Dussel möchte ich sehen, der sich jetzt für Ami oder Iwan totschießen lässt. […] Wir haben in einem neuen Krieg nichts zu gewinnen. Für fremde Mächte kämpfen wir nicht. Adenauer etc. sollen sich doch einmal die Köpfe vollhauen. (Geyer 2001, S. 287)

Ambivalentes Sicherheitsbedürfnis

Neben den militärpolitischen Neuerungen mit Eintritt in die NATO spielte Mitte der 1950er Jahre vor allem eine neue Form der medialen Berichterstattung über die atomare Bedrohung eine Rolle (Augustine 2012). 1954 verbreitete sich die Nachricht über den außer Kontrolle geratenen Atomwaffentest »Castle Bravo« im Pazifik. Etwa 160 Kilometer vom Bikini-Atoll entfernt und außerhalb der Sperrzone ging auf das japanische Fischerboot »Glücklicher Drache« ein ­Fallout nieder, der die Besatzung verstrahlte. Die Nachricht vom Unglück verbreitete sich in Japan und auch in Europa und
Deutschland. Das Unglück weckte zum ersten Mal Besorgnis, der Umgang mit Atombomben berge ­unkontrollierbare Gefahren.

Das national gedachte Souveränitäts- und Sicherheitsbedürfnis prägte die Deutschen in den 1950er Jahren auch, als es um die Frage ging, die frisch gegründete Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten. 1956 machte dieses Gerücht die Runde, schon bald bestätigt von Bundeskanzler Adenauer. Die eruptive Mobilisierung gegen diese Pläne verband vor allem der atomare Schrecken, denn etwa zur gleichen Zeit begann eine umfassende Rezeption der Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki und ihrer Folgen. Die atomare Bedrohung blieb im deutschen Kontext abstrakt, stand für eine generelle Furcht vor dem
»Atomtod« und wurde nicht zum Anlass genommen, konkrete verteidigungspolitische Prämissen in Frage zu stellen (Schildt 2009). Auch wenn sich in dieser Phase die Friedenswissenschaft zu formieren begann, ärgerten ihre kritischen Beiträge zur fatalen Logik der atomaren Abschreckung vor allem die politischen Eliten, stimulierten aber noch nicht in der breiten Öffentlichkeit. Erst mit den veränderten politischen und sozialen Rahmenbedingungen während der 1970er Jahre fanden der friedenswissenschaftliche Diskurs zum Ordnungssystem des Kalten Krieges und neue soziale Bewegungen zusammen.

Ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis bei gleichzeitiger Abwehr militärischer Einrichtungen: Die neu etablierte Friedensordnung der Bundesrepublik wurde mit sehr unterschiedlichen Erfahrungsschichten und Erwartungshorizonten ausgestattet, verband sich mit der unmittelbaren Kriegserfahrung, mit dem Bombenkrieg und den Gewalterfahrungen bei Kriegsende und danach und gleichzeitig mit einem wachsenden Verständnis für die atomare Waffentechnologie.

Für die Frage, unter welchen Bedingungen Friedensideen und Friedenspolitik die Bundesrepublik prägten, darf zudem nicht vergessen werden, dass die Rüstungsindustrie (in beiden deutschen Staaten) seit den 1950er Jahren wieder Fahrt aufnahm, in Westdeutschland vor allem im Rahmen des europäischen Wirtschaftsaufbauprogramms. In Europa hatte im Wesentlichen nur die britische und schwedische Rüstungsindustrie den Krieg überdauert. Nun profitierte die gesamte europäische Rüstungsindustrie von der amerikanischen Unterstützung, die nach dem Ausbruch des Korea-Krieges in Gang gesetzt wurde und auch
in Deutschland wirkte. „Der Traum jedes europäischen Herstellers war es, einen Teil des großen amerikanischen Marktes zu erobern. (Kaldor 1977, S. 49) Wurden in der Bundesrepublik bis 1955 überwiegend Textilien, optische Geräte und Fernmeldeeinrichtungen produziert, kamen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre und mit Gründung der Bundeswehr »harte Rüstungsgüter« hinzu, die per Lizenz in Deutschland hergestellt werden konnten (Geyer 2001, S. 211). Bis 1973 folgten technisch komplexe Lizenzproduktionen, darunter der Starfighter F-104G, und erste Eigenproduktionen.
Bis Mitte der 1980er Jahre schloss die deutsche Rüstungsindustrie mit der Entwicklung komplexer Waffensysteme in Eigenregie an das internationale Waffenniveau an (Leopard II, Kampfflugzeuge MRCA-Tornado, Panzerabwehrwaffen Milan, Hot, Roland) (Wenzke und Zündorf 2008, S. 106 u. 114 ff.; Kollmer 2002).

Stabilisierung und Unfriede

Die atomare Kriegsordnung zog noch weitere Kreise: Seit der atomaren Waffengleichheit zwischen den USA und der Sowjetunion Anfang der 1950er Jahre war klar war, dass Atombomben keine Siege herbeiführen würden, wie man sie aus konventionellen Kriegen kannte. Deshalb mussten der anderen Seite von nun an zwei Dinge glaubhaft vor Augen geführt werden: die permanente Einsatzbereitschaft atomarer Waffen sowie die eigene Fähigkeit, auf allen, auch konventionellen Ebenen, verteidigungsbereit zu sein. Alle Verteidigungskonzepte – von »massive retaliation« bis »flexible response« –
kalkulierten mit der Atombombe und werteten gleichzeitig die konventionellen Streitkräfte wieder auf. Letztlich waren die deutsche Rüstungsindustrie und die Bundeswehr auch ohne atomare Ausstattung von Beginn an ein dynamischer Teil des Wettrüstens und der Bedrohungslagen im Kalten Krieg.

Dies sollte im Hinterkopf behalten, wer auf die Stabilisierung des Ost-West-Konflikts durch die atomaren Waffenarsenale verweist. Die Zeit des Kalten Krieges als „langen Frieden“ (John Lewis Gaddis) zu bezeichnen, ist längst umstritten, teils obsolet, sowohl was die außenpolitische und militärische Bedrohungskonstellation anging als auch die innere Beschaffenheit einer Gesellschaft in ständiger Alarmbereitschaft. Zeitgenössische Kritiker, wie Karl W. Deutsch (Deutsch und Kaiser 1971) oder Dolf Sternberger (1986), prägten Einschätzungen, die auch einer zu stark an binären Codes
orientierten Zeitgeschichtsschreibung zu denken geben könnten: „[…] wir wollen den Zustand der Kampflosigkeit bei gleichzeitiger Hochrüstung nicht als einen Zustand des Friedens, eher schon, wie man gesagt hat, des »Schreckensfriedens« oder des »Zitterfriedens«, aber gewiss ebenso wenig als einen Zustand des Krieges bezeichnen, sondern als einen solchen des Unkrieges, wenn die Prägung erlaubt sei; sie entspricht und antwortet dem älteren und vertrautem Wort »Unfriede«.3

Auf der Makroebene entfaltete sich der Kalte Krieg als eine »Kriegsführungs-Abschreckung«, die sich vorrangig auf den abgestuften Gebrauch von Atomwaffen stützte und schließlich in Wissenschaft, Kultur und öffentlicher Rede fortsetzte: Weder begrenzte Ziele noch begrenzte Mittel bestimmten das strategische Denken (Senghaas 2003, S. 309). Diese brisante Konstellation retrospektiv als Stabilität zu bezeichnen, offenbart eine geradezu den Atem verschlagende geschichtspolitische Hybris.

Friedensordnungen nach 1945

Nicht nur für die unmittelbare Nachkriegszeit und nicht nur mit Blick auf die Friedensbewegung muss gefragt werden: „Wie veränderte sich durch die Erfahrung des Krieges [und seiner Gewalt, CK] das Gefühl für den Zustand des Friedens?“ (Wolfrum 2003, S. 31) Die Sicherheitsbedenken in Ost und West und das Ziel, eine kalkulierbare geostrategische Situation einzurichten, reichen jedenfalls nicht aus, um den zeitgenössischen Begriff des Friedens in Europa und in der Bundesrepublik zu erklären. In der Tat hätte es keinen westdeutschen Staat gegeben ohne eine strikte
friedenspolitische Festlegung (Niedhardt 2000, S. 184). Aber im Reden über die eigene Friedlichkeit drückten sich in der Bundesrepublik von Beginn an sowohl die kaum zu hintergehenden außenpolitischen Verpflichtungen im westlichen Bündnis als auch die verfassungsgemäße Selbstvergewisserung angesichts der kriegerischen Vergangenheit aus. In dieser logischen Doppelhelix konnte der „Friedenstreiber“ (Niedhardt 2000, S. 183) Bundesrepublik wieder mit Militär und Waffen ausgestattet und in die NATO integriert werden.

Das bundesrepublikanische Friedensnarrativ wurde durch den Umstand gestärkt, dass die alte Bundesrepublik eine außerordentliche, zeitliche begrenzte Rolle in der internationalen Politik einnahm. Die Friedensordnung der Bundesrepublik hing von der historisch spezifischen Situation nach 1945 ab, die aber keineswegs einen Normalzustand darstellte. Hieraus konnte sich eine Art Traumblase immerwährender autarker Friedlichkeit bilden, wodurch der Blick auf die immer existente gewalttätige und kriegerische Kehrseite des zivilen Lebens nur langsam frei wurde.

Diese Deutung stellt die faktische Kraft von Friedensnormen keineswegs in Abrede, die aber an anderer Stelle wirkten als vordergründig angenommen werden könnte. In ganz Westeuropa verbanden sich nach 1945 mit den Friedensideen die politischen Ziele persönliche Freiheit sowie materielle und soziale Sicherheit (Nehring und Pharo 2008, S. 291). Ein solches Friedensverständnis prägte das gesellschaftliche Zusammenleben nach 1945, individualisierte und naturalisierte sich zunehmend und wirkte wiederum auf gesellschaftliche Normen zurück. Materielle Sicherheit als Grundlage für politische
Stabilität war wiederum eine Idee, die bis in die 1930er Jahre zurückreichte und seitdem den Konsumerismus zum Markstein für gute Regierungsfähigkeit und inneren Frieden (good governance) auswies. Neben der sozialen setzte sich eine politische Dimension des Friedens durch, denn der langsame Übergang in ein demokratisches Gemeinwesen, das Einüben demokratischer Praktiken in Form von Wahlen, Einhaltung des Presserechts oder Durchsetzung von Gleichberechtigungsgesetzen festigten die Überzeugung, Frieden könne sich nur in einer Demokratie entwickeln. In gewohnter Dynamik stellte diese in der
Bundesrepublik eben jene Freiräume bereit, in denen dann ausgiebig über den Frieden gestritten wurde, wodurch sich wiederum das demokratische Gemeinwesen veränderte.

Auch der anti-atomare Friedenskonsens wies schon während der Hochphase der Friedensbewegung in den 1980er Jahren deutliche Risse auf: Erstens erlebte die Debatte um Frieden und Sicherheit eine bis dahin nicht gekannte Verwissenschaftlichung, vorangetrieben von regierungsunabhängigen Expert*innen aus Natur- und Sozialwissenschaften. Zweitens wirkte die durch die Deutsche Kommunistische Partei und die Deutsche Friedens-Union mitten in die Bewegung hineingetragene DDR-Friedensrhetorik stark zerrüttend auf den überparteilichen Friedenskonsens. Drittens bot Letzterer genug Stoff, um die atomare
Bedrohung zum Bunsenbrenner unter einem neuen deutschen Nationalismus werden zu lassen, stand doch ganz Deutschland vermeintlich vor der Apokalypse. Viertens stand die Gewaltfrage unvermindert im Raum. Auch wenn die Großdemonstrationen friedlich verliefen und der gewaltlose Widerstand zur bevorzugten Protestform wurde, bedeutete dies keineswegs Einigkeit in der Sache. Zum einen musste sich seit der Zersplitterung der außerparlamentarischen Opposition im Jahrzehnt zuvor jeder Protest mit dem eigenen Verständnis von Gewalt auseinandersetzen. Zum anderen war die Gewaltfrage in der
Friedensbewegung Ausdruck eines Generationenkonflikts: Jüngere, militante oder autonome Protestierer*innen sahen sich keineswegs vom Stil und Vorgehen der Mehrheitsbewegung repräsentiert (Balz 2015).

Friedensproteste in der Bundesrepublik können somit als Teil von Sicherheitsdiskursen, als Prozesse gesellschaftlicher Selbstanerkennung oder als Abgrenzungsversuche innerhalb des Bündnissystems gedeutet werden. Im Protest gegen Aufrüstung und Krieg kommt in der Regel so viel zusammen, dass sich die verschiedenen Beteiligten selten darüber einig sind, wofür das Friedenszeichen eigentlich stehen soll.

Fazit

Das Narrativ einer alten Bundesrepublik im Frieden muss nicht aufgegeben werden, um es kritisch zu hinterfragen. In einer solchen Annäherung gehören atomare Bedrohung, Militär, Rüstung, demokratische Praxis, Friedensbewegung und Streit um Friedenspolitik zusammen. Außerdem barg der Ost-West-Konflikt vor allem aus deutscher Sicht die Gefahr, wieder zum konventionellen Krieg zu führen. Bedrohung allerorten: Die junge Bundesrepublik rekurrierte deshalb nicht nur auf einen von außen bedrohten Frieden, sondern auch auf das Ideal eines inneren Friedens.

Aus der generellen Angst, zum Opfer in einem fremdbestimmten Krieg zu werden, entwickelte sich in der Bundesrepublik die Präferenz, eine sichere Option im militärischen Westbündnis zu favorisieren. Die Angst vor einem konventionellen Krieg nahm ab, aber keineswegs die vor einer gewalttätigen Vernichtung. Die Akzeptanz einer militärischen Ausstattung der Bundesrepublik stieg, aber nicht die für militärische Einsätze. Ähnlich ambivalent zeigte sich die Bevölkerung lange Zeit hinsichtlich der militärischen und zivilen Nutzung der Atomenergie. Erst in den 1970er und 1980er Jahren wurden dieser
Spagat, die Komplexität und die inneren Zusammenhänge einer höchst ambivalenten »Friedenspolitik« thematisiert. Alles in allem dürften sich mit einer stärkeren Berücksichtigung des Streits um den Frieden einige Narrative zur Bundesrepublik differenzieren. Pragmatisch empfohlen sei bei der gesamten Frage nach Krieg und Frieden in der Bundesrepublik, die Erzählung weniger eindeutig, sondern mit einem beherzten »Dazwischen« zu beginnen.

Anmerkungen

1) Die entsprechende (offizielle) Auflösung der Wehrmacht erfolgte durch das Kontrollratsgesetz Nr. 34 vom 20. August 1946. Die militärische Ausbildung wurde durch das Gesetz Nr. 8 vom 30. November 1945 untersagt.

2) Geyer 2001, S. 269; zitiert nach Buchstab, G. (1989): Adenauer: „Wir haben wirklich etwas geschaffen“ – Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1953 bis 1957. Düsseldorf: Droste, S. 469.

3) Sternberger, D. (1986), S. 13, zitiert nach Wolfrum 2003, S. 16.

Literatur

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Dr. phil. habil. Claudia Kemper ist Zeithistorikerin aus Hamburg.

Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des Aufsatzes »Alles so schön friedlich hier!? Die Geschichte der Bundesrepublik zwischen Krieg und Frieden«. In: Bajohr, F.; Doering-Manteuffel, A.; Kemper, C.; Siegfried, D. (Hrsg.) (2016): Mehr als eine Erzählung – Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Göttingen: Wallstein, S. 361-375.

Ein Wegbereiter der Friedensbewegung

Ein Wegbereiter der Friedensbewegung

Vor 50 Jahren starb Friedrich Siegmund-Schultze

von Karlheinz Lipp

Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland – über mehrere Jahrzehnte und in äußerst unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen – engagierte sich Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) sehr intensiv in verschiedenen Organisationen für den Frieden und für soziale Fragen. Wie sah dieses Engagement aus?

Die Zweite Haager Friedenskonferenz von 1907 beflügelte einige christliche Gruppen in Deutschland und Großbritannien in ihrem Friedensengagement. Besonders gegenseitige Besuche, beginnend im Frühjahr 1908, sollten Vorurteile ab- und freundschaftliche Beziehungen aufbauen. Friedrich Siegmund-Schultze erhielt von seinem Patenonkel, dem Hofprediger Ernst von Dryander, direkt nach dem theologischen Examen den Auftrag, diese Reisen zu organisieren – und wirkte bis 1914 als Sekretär des Vereinigten Kirchlichen Komitees zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen
zwischen Großbritannien und Deutschland. Bereits in dieser frühen Lebensphase entwickelte er ein großes Interesse an internationalen Fragen und Konzepten der Verständigung. Dies prägte Siegmund-Schultze entscheidend, und er unterschied sich dadurch von vielen deutschnationalen und militaristischen Pfarrern und Theologen.

Im Jahre 1910 heiratete der Bürgerliche die adlige Maria von Maltzahn; beide überwanden dadurch soziale Schranken. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Im gleichen Jahr referierte Siegmund-Schultze in der Sektion »Die Religion und der Friede« auf dem Fünften Weltkongress für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt in Berlin.

Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost und die Zeitschrift »Die Eiche«

Das Jahr 1911 bedeutete für Siegmund-Schultze eine tiefe Zäsur. Nach nur einem Jahr (1910/11) als Pfarrer an der Potsdamer Friedenskirche verließen seine Frau und er das bürgerliche Ambiente und siedelten um in das proletarische Armutsviertel im Osten Berlins. Dort erfolgte die Gründung der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, einer Nachbarschaftssiedlung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Studierenden nach dem Vorbild des englischen Settlements Toynbee Hall, welches der Theologe 1908 bei einem Besuch in London kennengelernt hatte. Sukzessive wurde dieses Projekt zur Versöhnung der
Klassen erweitert. So kamen in den nächsten Jahren eine Frauenkolonie, eine Volkshochschule, eine Jugendgerichts­hilfe, Ferienkolonien, ein Kinderheim sowie eine Heilerziehungsstätte für psychisch auffällige Kinder auf dem Ulmenhof (Berlin-Wilhelmshagen) hinzu. Dieses Projekt leitete Siegmund-Schultze bis zur Zerstörung durch den NS-Staat im Jahre 1933.

Das soziale Engagement des Theologen zeigt sich auch in der Gründung des Akademisch-Sozialen Vereins (1912) sowie in seiner Funktion als Sekretär des Christlichen Studentenweltbundes für Sozialarbeit und Ausländermission (1912-1914).

Im Januar 1913 erschien erstmals die Zeitschrift »Die Eiche«, die von Friedrich Siegmund-Schultze herausgegeben wurde. Der US-amerikanische Millionär und pazifistische Mäzen Andrew Carnegie unterstützte das Erscheinen der ersten Jahrgänge finanziell. In den Anfangsjahren führte dieses Organ den aussagekräftigen Untertitel »Vierteljahresschrift zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Grossbritannien und Deutschland«. Bis zum Verbot durch den NS-Staat im Jahre 1933 gehörte »Die Eiche« zu den wichtigsten deutschsprachigen Zeitschriften im Bereich der internationalen und
pazifistischen Ökumene.

Erster Weltkrieg

Anfang August 1914 fand in Konstanz eine internationale kirchliche Friedenskonferenz statt, die Siegmund-Schultze organisierte. Zweck dieser Tagung sollte die Zusammenführung verschiedener Kirchengemeinschaften und Völker sein, um die Bedeutung des Friedens zu betonen und die Kriegsgefahr zu bannen. Ca. 120 Delegierte aus 30 Ländern nahmen an dieser Konstanzer Veranstaltung teil, die wegen des Beginns des Ersten Weltkrieges bereits am 2. August beendet werden musste. Gleichwohl bedeutete die Tagung de facto den Beginn der Arbeit des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen.
Siegmund-Schultze blieb dieser Organisation bis 1948 als Schriftführer eng verbunden.

Die Erinnerung der Tochter Elisabeth Hesse zeigt, dass dieses Friedensenga­ge­ment nicht unproblematisch war: „Mein Vater hatte nämlich, getreu seiner Glaubensüberzeugung, einen pazifistischen Quäkeraufsatz 1914 nach Ausbruch des Weltkrieges verbreitet und wurde von einem Mitglied der Kirchenbehörde bei den Militärs denunziert. Ein Verfahren wegen Hoch- und Landesverrat wurde eingeleitet. Ein Schreiben, das den Dank des Kaisers für den Quäkeraufsatz durch seinen Kabinettschef übermittelte, rettete meinen Vater vor der Füsilierung.“
(Siegmund-Schultze 1990, S. 401)

Die Position des Theologen schwankte während des Ersten Weltkrieges zunächst zwischen Patriotismus und christlichem Pazifismus. Bei Beginn dieses Krieges meldeten sich viele männliche Studierende und Helfer der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost freiwillig zum Kriegsdienst. Siegmund-Schultze kommentierte dies positiv. Im November 1914 wurde der Theologe Mitglied der Friedensorganisation Bund Neues Vaterland. Ende dieses Jahres zählte Siegmund-Schultze zu den führenden Mitbegründern der Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland (Caritas inter arma).
Die Arbeit dieser Organisation erstreckte sich auf die gesamte Dauer des Ersten Weltkrieges.

Im Frühjahr 1915 aber zog Siegmund-Schultze eine ernüchternde Bilanz des ersten Kriegshalbjahres. Die Klassengegensätze seien nicht, wie er noch 1914 gehofft hatte, überwunden – im Gegenteil, sie hätten sich durch den Krieg verschärft. Ferner entlarvte der Theologe die Mythen und Lügen der kaiserlichen Propaganda. Ebenfalls 1915 wurde Siegmund-Schultze Obmann der englischen Gefangenenseelsorge in Deutschland (bis 1919) und Mitarbeiter der Bewegung für Praktisches Christentum (bis 1938).

Im Jahre 1916 kritisierte Siegmund-Schultze die zunehmende, kriegsbedingte Verwahrlosung von (männlichen) Jugendlichen. Sein Konzept, wonach Studierende die Berufs- und Arbeitswelt des Proletariats näher erleben sollten, bedeutete für ihn während des Krieges auch, die Arbeit in der Rüstungsindustrie kennenzulernen. Ebenfalls 1916 trat Siegmund-Schultze jeweils den neuen pazifistischen Organisationen Zentralstelle Völkerrecht und Vereinigung Gleichgesinnter bei.

Sein großes Engagement im Sozialbereich fand während des Krieges seinen Ausdruck in der Berufung zum ersten Direktor des Berliner Jugendamtes (1917/18), zum Vorsitzenden des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen sowie als Präsident des Internationalen Kongresses für Heilpädagogik (1918-1933).

Weimarer Republik und Friedenssonntag

Auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigte sich die internationale und ökumenische Offenheit von Siegmund-Schultze. So arbeitete er von 1919 bis 1932 als Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes (Deutscher Zweig), von 1920 bis 1937 als Mitglied eines Ausschusses der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, von 1921 bis 1930 als Geschäftsführer des Deutschen Komitees der Internationalen Volkshochschule in Helsingör (Dänemark) sowie von 1921 bis 1939 als internationaler Schriftführer des Kirchenkomitees für die Minoritäten der baltischen und südosteuropäischen Länder.

Im Jahre 1925 organisierte Erzbischof Nathan Söderblom (Friedensnobelpreis 1930), der Siegmund-Schultze nach Kriegsende kennengelernt und ihn zu Vorträgen nach Schweden eingeladen hatte, in Stockholm eine Weltkirchenkonferenz der nicht-römisch-katholischen Kirchen. Ein geplanter Vortrag von Siegmund-Schultze über »Die Erziehung zu brüderlicher Gesinnung im eigenen Volk und unter den Völkern« konnte nicht gehalten werden, da die deutsche Delegation ein solches Thema ablehnte und entsprechend blockierte. Auch hier zeigte sich das Aufeinandertreffen einer konservativen, nationalistischen
Position und einer weltoffenen Überzeugung. Im gleichen Jahr übernahm Siegmund-Schultze eine Honorar-Professur an der Universität zu Berlin (Jugendkunde und Jugendwohlfahrt, später: Sozialpädagogik und Sozialethik).

Sehr große Sympathien brachte Siegmund-Schultze der Realisierung eines Friedenssonntages entgegen. Ein solcher höchst symbolischer Feiertag fand in Deutschland erstmals 1908 in der Freien Evangelischen Gemeinde Königsberg statt. Am 7. Dezember 1913 folgte erstmals (und bis heute letztmals) die Feier eines Friedenssonntages in einer Landeskirche, nämlich der Landeskirche Elsass-Lothringens.

In der Weimarer Republik versuchten religiös-sozialistische Pfarrer sowie Geistliche des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen einen Friedenssonntag in Deutschland zu eta­blieren. Nachdem ein erwartetes positives Echo auf den Aufruf des Weltbundes für einen Friedenssonntag ausblieb, versuchte es Siegmund-Schultze in der Endphase der Weimarer Republik eigenständig mit einem erneuten Anlauf. In den Jahren 1930 bis 1932 veröffentlichte er in seinem Organ »Die Eiche« Artikel über den Friedenssonntag, sammelte akribisch ­Feiern von Friedenssonntagen im In- und
Ausland und publizierte diese in seiner Zeitschrift. Die intensiven Bemühungen Siegmund-Schultzes brachten nur sehr geringe Erfolge. Im Jahre 1938 scheiterte er im Schweizer Exil nochmals mit dem Versuch, einen Friedenssonntag abzuhalten.

Exil in der Schweiz und die Zeit nach 1945

Im Frühjahr 1933 engagierte sich Siegmund-Schultze für ein Internationales Hilfskomitee für deutsche Auswanderer jüdischer Abstammung. Kurz vor der geplanten Gründung verhaftete die Gestapo den Theologen und zwang ihn am 23. Juni 1933 zur Flucht in die Schweiz. In seiner neuen Heimat wirkte er als Berater für Studierende der Züricher Hochschule (bis 1937), schloss sich (bis 1939) als Geschäftsführer dem Internationalen Kirchenkomitee für Flüchtlingshilfe an und arbeitete als Gastprofessor in verschiedenen Ländern. Im Jahre 1941 führte er Friedensverhandlungen für den deutschen Widerstand
(Kreis um den Leipziger Oberbürgermeister Carl-Friedrich Goerdeler) mit den Alliierten.

Die Tochter Elisabeth erinnert sich: „Vor dem Krieg und auch noch während des Krieges traf sich mein Vater bei Konferenzen und zu Hause in Zürich mit führenden Leuten des Widerstandes. Von Goerdeler bekam meine Mutter ein wunderschönes Alpenveilchen geschenkt, das sie jahrelang immer wieder zum Blühen brachte. Der Vater teilte die Ansicht Goerdelers, einen Tyrannenmord nicht verantworten zu können. Er teilte ebenso die Ansicht des Kreisauer Kreises, auch Kommunisten an den Plänen für den Aufbau nach dem verlorenen Krieg zu beteiligen.“
(Siegmund-Schultze 1990, S. 407)

Im Jahre 1946 erfolgte ein Ruf auf eine Professur für Sozialethik und Sozialpädagogik an die Berliner Humboldt-Universität, die Siegmund-Schultze jedoch ablehnte mit dem Verweis auf die Unmöglichkeit einer Fortsetzung der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost. Ein Jahr später nahm er eine Honorarprofessur an der Universität Münster an und übernahm die Leitung der sozialpädagogischen Abteilung der Forschungsstelle dieser Universität mit Sitz in Dortmund. Ebenfalls in dieser Stadt des Ruhrgebiets gründete Siegmund-Schultze eine Jugend-Wohlfahrtsschule und blieb bis 1954
dortiger Direktor. Generell gilt aber, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die sozialpädagogische Arbeit des Exilanten in Wissenschaft und Praxis kaum rezipiert wurde.

Im Bereich der Friedensarbeit erreichte er allerdings Bedeutung. Schon 1946 veröffentlichte Siegmund-Schultze seine grundlegende Schrift »Die Überwindung des Hasses«. Hier zeigt er anhand von Beispielen aus der griechisch-römischen Welt, der Renaissance und Aufklärung, des Hinduismus, des Judentums und des Christentums Wege zur Überwindung des Hasses auf. Auch ein Denken jenseits von Klassen- und Rassenhass wird thematisiert.

In der praktischen Friedensarbeit blieb Siegmund-Schultze weiterhin aktiv. So beteiligte er sich an den Vorarbeiten zum Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“), wurde u.a. Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände sowie Vorsitzender der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Diese Funktion wurde umso dringlicher, da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung immer mehr zu einem angeblichen Ausnahmerecht degradiert wurde.
Er unterstützte Gustav Heinemanns Notgemeinschaft für den Frieden Europas und kritisierte die Wiederaufrüstung der jungen Bundesrepublik durch Kanzler Adenauer.

Siegmund-Schultze baute das umfangreiche Ökumenische Archiv in Soest auf, das inzwischen Teil des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin ist – eine formidable Fundgrube zur Geschichte der (christlichen) Friedensbewegung. Sein Schüler und Mitarbeiter Klaus Rehbein äußerte sich zu dem Ökumenischen Archiv so: „Aus der reichen Erfahrung eines konfliktreichen Lebens hatte Siegmund-Schultze ein tiefes Mißtrauen gegen ausschließlich staatliche oder kirchlich verwaltete Institute und Institutionen. Er wollte bis zuletzt selbst über die Zugangsmöglichkeiten zu seinem
Material bestimmen können. Die Freigabe
für die Verwaltung Dritter sollte erst dann erfolgen, wenn das Material geordnet und dokumentiert war. Und ein zweites kam hinzu. Es gelang Siegmund-Schultze, sein Soester Archiv noch einmal zu einem Zentrum ökumenischer Begegnung zu machen. Alte Freunde und Weggefährten trafen sich mit einer neuen Generation.“ (Siegmund-Schultze 1990, S. 422)

Nach Friedrich Siegmund-Schultze benannte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung einen Preis für gewaltfreies Handeln (ab 2018 Evangelischer Friedenspreis), der seit 1994 verliehen wird.

Quellen und Literatur

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Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.

Frieden nach dem Ersten Weltkrieg


Frieden nach dem Ersten Weltkrieg

Chancen und Grenzen

von Jost Dülffer

Am 11. November 1918 schwiegen die Waffen zwischen dem Deutschen Reich und den alliierten und assoziierten Nationen, allen voran Großbritannien, Frankreich und USA. Dieser Erste Weltkrieg hatte annähernd zehn Millionen Menschen das Leben gekostet, doppelt so viele waren verwundet und kehrten physisch, oft auch psychisch für ihr weiteres Leben gezeichnet in der Folgezeit zurück. Dieser 11. November hat sich seither als der entscheidende Tag des Kriegsendes ins historische Gedächtnis eingebrannt und wird zumal in den USA, Frankreich und Großbritannien bis heute jedes Jahr intensiv gefeiert. Es ist eine klassische, aber naive und daher falsche Vorstellung, dass nach dem Ende der Kampfhandlungen »nur« noch ein Frieden ausgehandelt werden musste, den man dann normativ bewerten kann.

Was sich seit 1945 verfestigte, traf schon 1918 zu: Die Rechtsakte formaler Verträge wurden zum Teil eines länger andauernden, komplexen und umfänglichen Friedensprozesses, der auch die mentale Versöhnung einschließen musste. Oder anders gesagt: Während für die eine oder die andere Region Friedensverträge geschlossen wurden, gingen an anderer Stelle Kämpfe, ja sogar langwierige Kriege weiter. Das dauerte mindestens bis 1923. Der Weltkrieg fand in sehr unterschiedlichen Gewalträumen statt, in denen jeweils unterschiedliche Strategien zur Befriedung verfolgt wurden.

Neue Dimensionen: Untergang einer Stadt und Aufbegehren gegen Rassismus

Zentral waren die Ereignisse um Waffenstillstände und das Aushandeln von Friedensverträgen, daneben es gab aber noch ganz andere wichtige und langfristig wirkende Faktoren. Zwei Beispiele erläutern dies.

  • Smyrna (heute Izmir) war eine multiethnische Stadt an der Ägäis, u.a. von Türken, Griechen und Armeniern bewohnt. Sie wurde 1919 im Einvernehmen mit den Westmächten von griechischen Truppen besetzt, um einem befürchteten italienischen (!) Eingreifen zuvorzukommen. Im Zuge des türkischen revolutionären Krieges unter Mustafa Kemal rückten türkische Truppen im September 1922 in die Stadt ein. Der orthodoxe Bischof wurde brutal ermordet; die zusätzlich von griechischen Flüchtlingen überfüllte Stadt fiel Raub, Mord, Vergewaltigungen anheim und wurde gezielt in Brand gesetzt. Von britischen Schiffen vor der Stadt und damit von der Weltöffentlichkeit beobachtet ging die Stadt unter; man schätzt, dass 30.000 Menschen bei diesen Massakern ums Leben kamen (Gerwarth 2017; Immig 2008; Milton 2008).1 Es gab also intensive Kriege noch nach dem Ende des »eigentlichen« Weltkrieges.
  • Im Februar 1919 stellte die japanische Delegation auf der Friedenskonferenz in Paris den Antrag, in die Satzung der neuen Weltorganisation, des Völkerbundes, einen Artikel aufzunehmen, der sich gegen rassische Diskriminierung wendet. Der Antrag griff auch Erfahrungen aus Afrika und anderen asiatischen Ländern auf, wurde in einer entsprechenden Kommission diskutiert und mit einer deutlichen Mehrheit von 17 zu 11 Stimmen angenommen. Allein Sitzungsleiter Woodrow Wilson, der US-Präsident, bürstete das Ganze mit Verfahrenstricks ab. Weltweite Empörung war die Folge, doch es blieb dabei: Die Ablehnung der USA, Frankreichs und Großbritanniens, die aufgrund eigener Rassensegregation oder Kolonialherrschaft entsprechende Vereinbarungen gefährlich fanden, setzte sich durch.2 Hier wurde erstmals ein mögliches dauerhaftes Friedenselement formuliert, das damals nicht konsensfähig war.

Weil die Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg so komplex war, werden im Folgenden exemplarisch zwei allgemeinere Aspekte herausgegriffen, die in der Gegenwart öffentliche Diskussion versprechen:3 die Rolle Deutschlands im Spiegel des Versailler Vertrags und globale Entwicklungen in der Folge des Weltkriegs.

Der Frieden von Versailles mit dem Deutschen Reich

Die Verteufelung des Versailler Vertrages gehört seit den Tagen der Unterzeichnung im Juni 1919 zu den zentralen Geschichtsaussagen in Deutschland. Man kann argumentieren, dass sich erst im fast nationsweiten Protest gegen das »Schanddiktat« die Gesellschaft der entstehenden Weimarer Demokratie konstituierte – nur die Unabhängigen Sozialdemokraten fanden an diesem kapitalistischen Frieden nicht viel Schlimmes (Dülffer 2002). Der Protest setzte sich in den 1920er Jahren fort und bot Stoff für die zugkräftigsten nationalsozialistischen Kampfparolen. Erst einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sich der Blick um: Wenn – so die Argumentation im Zuge der vom Historiker Fritz Fischer (1961) ausgelösten Kontroverse – Deutschland den Krieg angezettelt hatte, dann hatte es den harten Frieden auch verdient. Rückhalt fand diese Sicht in dem »Kriegsschuldartikel« 231 des Vertrages, in dem Deutschland zu Reparationen in noch festzulegender Höhe verpflichtet wurde (Dülffer 2017). In jüngerer Zeit machte die US-Historikerin Isabel Hull (2014) mit dem Verweis auf angeblich singuläre deutsche Völkerrechtsverletzungen Furore und heizte die Schulddebatte erneut an.

Mit 100-jährigem Abstand vom Friedensvertrag sollte man jedoch jenseits aller juristischen oder moralischen Empörung die schwierige Lage der Friedensmacher und die objektiv keineswegs unerträglich demütigende Situation des Deutschen Reiches angemessen einzuordnen suchen. Historisch gesehen ging es nie allein darum, einen Frieden der Gerechtigkeit und des Ausgleichs nach den Vorstellungen des bereits genannten US-Präsidenten Wilson zu schaffen, etwa auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Letzteres war zwar eine regulative Größe, aber niemand konnte damals sagen, welche Bevölkerungsgruppe jeweils welche Selbstbestimmung ausüben soll oder darf (Fisch 2010; Dülffer 2011) – US-Außenminister Robert Lansing war denn auch auch einer der klarsten Gegner dieses Prinzips. Es gab in der Folge Gebietsverschiebungen allein aus politischen Gründen; lagen diese nicht vor, fanden in Mitteleuropa auch Volksabstimmungen zur Neuordnung statt.

Wichtiger aber war: Alle beteiligten Mächte wollten nicht mit einem »Unentschieden« aus dem Krieg ausscheiden, sondern suchten – auch aus innenpolitischen Gründen –, sich für die eigene Rolle in der Zukunft schadlos zu halten. Am markantesten für diese Einstellung war der mit Kriegsende obsolet gewordene deutsche Frieden von Brest-Litowsk, im Frühjahr 1918 separat mit der Ukraine und Sowjetrussland geschlossen: Er legte den Grundstein für geplante Vasallenstaaten, aus denen dann die Lebensraumidee Hitlers u.a. erwuchs. Auch die europäischen Alliierten hatten zuvor ihre Bevölkerung und ihre materiellen Ressourcen mit der Maßgabe mobilisiert, dass der Sieg sie sowohl entschädigen als auch auf Dauer gegen einen neuen Krieg schützen sollte. Daraus resultierten die moralischen Elemente im Vertrag, vor allem aber die materiellen Verpflichtung aller Verliererstaaten zu Reparationen, deren Umfang erst nach mehreren Jahren festgelegt und im Laufe der Jahre modifiziert wurde. Das war ein zwischen den USA und den Alliierten mühsam ausgehandelter Kompromiss.

Die entscheidende Aussage zum Versailler Vertrag muss allerdings lauten: Die mentale Empörung beruhte auf einer kollektiven Realitätsverweigerung der meisten Deutschen, erklärlich durch den scheinbar bis zum Schluss noch günstigen Kriegsverlauf, verstärkt durch eine gezielte Propaganda der Reichsregierung, allen voran des Außenministers Graf Brockdorff-Rantzau. Die Bestimmungen von »Versailles« waren hart, boten aber bei besonnener Deutung Chancen für einen Wiederaufstieg des Deutschen Reiches zu einer europäischen Großmacht im Rahmen einer europäischen Friedensordnung. Der gegen viele innenpolitische Widerstände begonnene Weg der Vertragserfüllung und -revision setzte auf die Wirtschaftskraft des Reiches und zeitigte bis Mitte der 1920er Jahre unter Außenminister Gustav Stresemann gute Erfolge, bekam aber in der aufkommenden Weltwirtschaftskrise nicht genügend Zeit, um in einer europäischen Friedensordnung volle Wirkung zu entfalten (Niedhart 1989, 2006).

Im Gegensatz zu diesem zentralen geschichtlichen Befund zeigen sich in der Gegenwart erneut Ansätze zur Revision. Revision ist an sich ein legitimer wissenschaftlicher Prozess der Überprüfung liebgewonnener Urteile, sie hat aber in der Absicht und in der Funktion auch eine Rolle in der politischen Gegenwartsdiagnose. Da ist zum einen die ausführliche Darlegung, dass die Alliierten ab 1916 alle deutschen Friedensbemühungen abwiesen. Zum anderen wird der Gedanke entfaltet, militärisch hätten die Deutschen noch mindestens ein halbes Jahr durchhalten können, dann wäre der Frieden ganz anders ausgefallen. Sodann wird die Versailler Inszenierung der Alliierten bei der Übergabe der Friedensbedingungen gelegentlich als ein nie dagewesener Akt der Demütigung aufgefasst (Afflerbach 2018, Krumeich 2017; Platthaus 2018a und 2018b). Und schließlich finden die zeitgenössischen Grafiken der Reichskarte mit – inhaltlich zutreffender – Abtretung von Gebieten, inklusive Angabe der Prozente an verloren gegangener Bevölkerung, Industrie- oder Rohstoffproduktion sowie der weitgehenden Entmilitarisierung (bei Veranschaulichung der Truppenstärken der Nachbarn) bis in die Gegenwart hinein Anwendung, so etwa in der großen Ausstellung »Frieden. Von der Antike bis heute«4 im Westfälischen Landesmuseum Münster): An die Stelle der heutigen analytischen Deutung wurde auch hier die propagandistische Inszenierung der 1920er Jahre gesetzt.

Globale Friedenskonferenz in Paris5

Auch wenn die oben erwähnten japanischen Bemühungen zur Ächtung von Rassismus auf der Pariser Friedenskonferenz keinen unmittelbaren Erfolg hatten, so fanden sie doch in vielen Teilen der Welt direkten Widerhall, u.a. in den USA bei den Vertretern der Schwarzen, darunter W.E.B. Du Bois. Er hatte das »negro problem« schon 1906 als zentrale Frage der Zukunft bezeichnet und damit einen Auftakt zur Emanzipationsbewegung der Schwarzen in den USA markiert (Berg 2005). Gewiss, China unterstützte Japan in Paris bei seinem Antrag, doch andere Vertreter von »nations of color«, wie man früher sagte, hatten keinen Staat, für den sie sprechen konnten, und suchten daher ihre Anliegen am Rande der Konferenz als Lobbyist*innen zur Geltung zu bringen.

Komplementär zur Friedenskonferenz fand in der französischen Hauptstadt daher der erste »Pan African Congress« statt. Neben Afrikaner*innen nahmen auch bürgerschaftlich engagierte Politiker aus Großbritannien und den USA teil, darunter auch Du Bois. Zwar erreichten sie mit ihrem Anliegen eines zentralafrikanischen Staats nichts, aber das Thema war formuliert. Personen wie ein junger Exil-Vietnamese, der später unter dem Namen Ho Chi Minh bekannt wurde, und Delegierte des Jüdischen Weltkongresses oder des arabischen Fürstentums der Hedschas signalisierten weitere Ansprüche und Aufbrüche aus der außereuropäischen Welt.

Formal galt, dass nur die offiziell am Krieg beteiligten Staaten an der Friedenskonferenz teilnahmen, dennoch waren etliche außereuropäische Staaten vertreten, darunter vor allem die wichtigsten Staaten des British Commonwealth, wie Australien, Neuseeland, Canada und Südafrika. Dies verdankten sie nicht zuletzt der Tatsache, dass Kontingente ihrer Truppen an zentralen Kriegsschauplätzen gekämpft hatten, sowohl an der Westfront in Europa als auch im Nahen Osten. Beim Kampf um die Dardanellen 1915 waren australische Truppen zentral, sodass man geradezu von einer Konstituierung der australischen Nation durch den Ersten Weltkrieg sprechen kann. In Mesopotamien hatten 700.000 z.T. gut ausgebildete indische Truppen von Bagdad aus gekämpft; Inder waren darüber hinaus u.a. an der Somme in Frankreich, an den Dardanellen und in Ostafrika eingesetzt. Indien wurde in Paris bei der Unterzeichnung des Friedensvertrages durch den britischen Indienminister und den kurz zuvor zum Lord Ganga Singh ernannten Maharadscha von Bikaner repräsentiert – während gleichzeitig britische Truppen in Amritsar ein Massaker an Hunderten protestierenden Indern anrichteten (Kulke/Rothermund 2018). Dies alles stellte die Vorherrschaft des »Weißen Mannes« ersichtlich in Frage.

Mandatssystem des Völkerbunds

Institutionalisiert wurde dieses Gefüge durch das Mandatssystem des Völkerbundes, mit dem ehemalige Kolonien unter die abgestufte Oberhoheit anderer Kolonialmächte gestellt wurden, vordergründig aufgrund der Unfähigkeit Deutschlands zu deren Verwaltung. Daraus wurde in der Folge eine »Kolonialschuldlüge« gestrickt.

Auch wenn dies – insbesondere bei der Übernahme pazifischer Gebiete durch Japan oder von »Deutsch-Südwest« durch Südafrika – auf Annexion hinauslief, war hier das Prinzip der Vorbereitung auf Eigenverantwortung wichtig, zwar kolonialistisch formuliert, aber dennoch zukunftsweisend (Pedersen 2014). Dieses Prinzip griff, wie gleich zu zeigen ist, auch im Nahen Osten.

Auflösung von Großreichen

Nach dem 11. November 1918 und während der gesamten Pariser Friedenskonferenz gingen in mehreren Gewaltzonen die Kämpfe weiter. Die Auflösung dreier Großreiche – des Osmanischen, des Habsburgischen, des Russischen –, zum Teil auch des Deutschen Reiches (Polen!), schuf Probleme, die mit der regulativen Idee neuer Nationalstaaten nur bedingt und oft erst Jahre später gelöst werden konnten.

Sowjetrussland war an den Friedensverhandlungen in Paris nicht beteiligt. Der russische Bürgerkrieg, der zugleich eine breite Intervention bedeutete, ließ vorläufig keinen Frieden zu. Der polnisch-sowjetische Krieg um Grenzen und Einflussbereiche endete im März 1921 mit dem bilateralen Frieden von Riga; Sowjetrussland benannte sich Ende 1922 in Sowjetunion um.

Die zweite große fortdauernde Kampfzone bildete der Vordere Orient. Anders als die Friedensverträge der Alliierten mit dem Deutschen Reich, Österreich, Ungarn und Bulgarien trat der im August 1920 geschlossene Vertrag mit dem Osmanischen Reich nie in Kraft. In fortdauernden Kämpfen – von Smyrna war bereits die Rede – emanzipierte sich vor allem die von nun an nationalstaatliche Türkei. Die arabischen Territorien südlich der Türkei hingegen gerieten in prekäre Mandatsverhältnisse zu Frankreich und Großbritannien, die auf eine neue Kolonisierung hinausliefen. Immerhin schuf der Vertrag von Lausanne, der die Grenzen der Türkei insbesondere gegenüber Griechenland festgelegte, im Juli 1923 auch eine vorübergehende völkerrechtliche Grundlage zur externen Lösung der Palästinafrage (Roshwald 2000).

Wie bereits angedeutet, nahm neben den konkreten Friedensverträgen mit territorialen und materiellen Verpflichtungen die Frage nach der künftigen Weltordnung und der neuen Institution des Völkerbundes eine zentrale Rolle ein. In den meisten kriegführenden Staaten hatte es vielfältige Überlegungen für die Ordnung nach dem „Krieg, der alle Kriege beenden wird“ (Wells 1914), gegeben, die nun alle zusammengebracht werden mussten. Deshalb wurde es keineswegs ein reiner »Wilson-Frieden«, den man sich im Deutschen Reich in unterschiedlichen Versionen zusammenfantasierte, sondern ein Kompromiss. In diesen gingen viel mehr Komponenten der alten Großmacht- und Kolonialordnung ein, als sich die progressive Geschichtsdeutung des völkerrechtlichen Fortschritts gern zugesteht. Vielmehr ließen die Interessen der Großmächte, allen voran das Interesse am Zusammenhalt des britischen Empires, das der Südafrikaner Jan Smuts wirkmächtig einzubringen verstand, einen recht hybriden Völkerbund entstehen (Mazower 2009).

Bilanz

Da sich die USA aus innenpolitischen Gründen aus der Unterzeichnung wie der Umsetzung des Völkerbundes zurückzogen (mit ihrem Beobachterstatus aber dennoch die Gestaltungsmöglichkeiten der stärksten kapitalistischen Weltmacht weiter nutzten) und weitere zentrale Akteure, wie die Sowjetunion oder Deutschland, zunächst fehlten, blieb die Wirkung der Pariser Friedensverhandlungen deutlich begrenzt. Eine entscheidende Weltmachtfrage, die Verhinderung eines künftigen Wettrüstens zur See, wurden 1921/22 auf der Washingtoner Seemächtekonferenz vorläufig geregelt (Ziebura 1984).6 Überdies waren die Verhandlungen von»„weißen« Vorstellungen geprägt, wie ein dauerhafter Frieden aussehen sollte. Aus dem Krieg, der, wie oben zitiert, alle Kriege beenden sollte, war für viele ein Friedensschluss geworden, der wahren Frieden gerade unmöglich machte.7

Im Rückblick kam es bei der Pariser Friedenskonferenz nur zu einem Kompromiss – einem Kompromiss „zwischen enttäuschten Siegern und nicht zwischen Siegern und Besiegten“ (Leonhard 2014, S. 967). Die Ordnung selbst war damit kaum konsolidiert, die Verantwortung für eine permanente Fortsetzung von Friedensprozessen blieb. Unter den Bedingungen fortgesetzter Großmachtpolitik, weltwirtschaftlicher Rivalitäten und sich voll entfaltender Globalisierung sowie stärker denn je ideologisch aufgeladener Gegensätze wurden die Staaten dieser Verantwortung nur ansatzweise gerecht. Es ist gleichwohl erstaunlich, wieviele Regelungen, ob temporär pazifizierend oder neue Konflikte schaffend, die Friedensmacher damals zustande brachten.

Anmerkungen

1) Eine gute Auflistung der unterschiedlichen Deutungen findet sich unter en.wikipedia.org/wiki/Great_fire_of_Smyrna (10.10.2018).

2) Der Antrag forderte „allen fremden Staatsbürgern von Mitgliedschaften des Völkerbundes in jeder Hinsicht gleiche und gerechte Behandlung zukommen zu lassen, keine Unterscheidung, sei es durch Gesetze oder in der Realität, zu machen, was ihre Rasse oder Nationalität betrifft“; siehe dazu Shimazu 2002; Lissner 2014; Lauren 2003.

3) Die für den Herbst 2018 in Deutschland erschienenen umfängliche Monographien von Eckart Conze, Gerd Krumeich, Jörn Leonhard und Klaus Schwabe sind nach Abfassung dieses Beitrags erschienen. Bereits im Sommer 2018 erschien Payk 2018.

4) Siehe ausstellung-frieden.de; zur Ausstellung wurde ein mehrbändiger Katalog vorgelegt.

5) Auch vor den Neuerscheinungen Herbst 2018 zum Rahmen: Leonhard, J. (2014): Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München: C. H. Beck, S. 894-938; Krumeich, G. (2001): Versailles. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung. Essen: Klartext.

6) Ziebura (1984) unterschied demgemäß nur leicht überspitzt ein Versailler und ein Washingtoner System.

7) In Anlehnung an den auf den Nahen Osten gemünzten Titel »A Peace to End all Peace« von Fromkin (2009).

Literatur

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Ziebura, G.(1984): Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24-1931 – Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch. Frankfurt: Suhrkamp.

Professor Dr. Jost Dülffer lehrt Mittlere und Neuere Geschichte am Historischen Institut der Unversität zu Köln.

1618 – 1648 – 2018


1618 – 1648 – 2018

Zur Aktualität des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens

von Michael Rohrschneider

Am 23. Mai 2018 jährte sich zum 400. Mal der berühmte Prager Fenstersturz, der den Auftakt des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) markierte. Die aktuellen Diskussionen in Wissenschaft und breiterer Öffentlichkeit über dieses bedeutende Ereignis gehen oftmals einher mit der Frage, ob und inwiefern man aus dem »Großen Krieg« und dem Westfälischen Frieden (24. Oktober 1648) im Hinblick auf die gegenwärtigen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten etwas lernen könne. Der Autor führt in die Geschichte der Jahre 1618 bis 1648 ein und zeigt auf, dass die Erforschung von Krieg und Frieden im 17. Jahrhundert durchaus Potenziale bietet, um aktuelle Konfliktlagen besser verstehen zu können.

Am 23. Mai 1618 ereignete sich in Prag etwas Außergewöhnliches. Eine Abordnung der protestantischen böhmischen Stände drang in die königliche Burg auf dem Hradschin und warf die beiden katholischen Statthalter Martinitz und Slawata sowie deren Sekretär Fabricius aus dem Fenster. Die drei »Defenestrierten« überlebten den Sturz aus großer Höhe. Die katholische Seite führte dies auf das rettende Eingreifen der Gottesmutter Maria zurück, wohingegen die protestantische Propa­ganda vermeldete, sie hätten überlebt, weil sie auf einem Misthaufen gelandet seien.

Anlass dieses spektakulären „Mordanschlag[s] auf Mitglieder der kaiserlichen Regierung“ (Gotthard 2016, S. 77) war die Zuspitzung konfessionspolitischer Differenzen zwischen den protestantischen Ständen und ihrem katholischen Landesherren, dem Habsburger Ferdi­nand von Innerösterreich, der 1617 König von Böhmen geworden war. Hinter diesen konfessionellen Spannungen stand jedoch die viel ältere und grundsätzlichere Frage der politischen Machtverteilung zwischen der Krone und den böhmischen Oberschichten, die nun gewaltsam ausgetragen wurde (Repgen 1998, S. 292). Die explosive Mischung aus konfessionellen und politischen Konflikten entfesselte einen dreißig lange Jahre währenden Krieg, der katastrophale Folgen hatte und erst nach mehrjährigen Friedensverhandlungen 1648 auf einem multilateralen „Kongress der Superlative“ (Kampmann 2008, S. 152) in Münster und Osnabrück zu großen Teilen beendet werden konnte.

Worum ging es im Dreißigjährigen Krieg?

Versucht man, den verworrenen Kriegsverlauf der Jahre 1618 bis 1648 zu strukturieren, dann lassen sich folgende generelle Aspekte hervorheben: Einerseits war der Dreißigjährige Krieg ein »teutscher« Krieg. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war Hauptkriegsschauplatz, und zahlreiche Konflikte in wichtigen Fragen der deutschen Reichsverfassung wurden damals mit großer Erbitterung ausgetragen: Sollte sich das Reich zu einer eher zentralisierten Monarchie mit dem Kaiser als entscheidendem Machtfaktor entwickeln oder zu einem tendenziell föderalen Verband von vergleichsweise selbständig agierenden Gliedern? Und wie würden sich zukünftig die Beziehungen zwischen den Konfessionen in politischer und verfassungsrechtlicher Hinsicht gestalten, wenn beispielsweise auf den Reichstagen konfessionelle Streitfragen beraten und entschieden würden?

Das war aber nur die eine Seite der Medaille. Denn das Ringen um die Verfasstheit des »teutschen« Reiches war unauflöslich mit Konflikten zwischen den europäischen Mächten verwoben. Insbesondere die Konkurrenz um die Vorherrschaft in Europa zwischen den österreichischen und spanischen Habsburgern einerseits und dem aufstrebenden Frankreich andererseits war hierbei von außerordentlicher Bedeutung. Auch die Auseinandersetzungen in Nordosteuropa um die Vorherrschaft in dieser Region spielte mit in das Geschehen hinein. Zudem überschattete die immer wieder greifbare Gefahr eines neuerlichen Krieges gegen das Osmanische Reich die Politik der europäischen Höfe wie ein Damoklesschwert. Nahezu ganz Europa war somit betroffen, nicht nur das Heilige Römische Reich. Dass der Dreißigjährige Krieg so außerordentlich lange währte, hängt zweifellos mit dieser doppelten Problematik zusammen: Einerseits war er ein »teutscher« Krieg, andererseits manifestierten sich in jenen Jahren tief verwurzelte Konflikte zwischen den in Entstehung begriffenen frühmodernen »Staaten« Europas. Beides lässt sich nicht trennscharf differenzieren.

Den Versuch, die komplexen und wechselnden Kriegsabläufe mit ihren zahllosen Schlachten und Feldzügen kurz und knapp darzustellen, sollte man erst gar nicht unternehmen. Zu disparat war das langjährige Kriegsgeschehen, als dass man es mit wenigen Worten umreißen könnte. Einen guten Zugang zum Gesamtverlauf des Krieges ermöglicht jedoch folgende Beobachtung: Immer dann, wenn die Habsburger (Spanien und der Kaiser) militärisch eindeutig zu dominieren drohten, trat eine neue auswärtige Macht offen auf antihabsburgischer Seite in den Krieg ein (1625 Dänemark, 1630 Schweden und 1635 Frankreich). Am Ende des sehr wechselhaften dreißigjährigen Ringens wurde schließlich eine Friedensordnung vereinbart, die Europa erklärtermaßen einen christlichen, allgemeinen und ewigen Frieden bringen sollte (»Pax sit christiana, universalis et perpetua«).

Die drei Friedensschlüsse des Jahres 1648

Nach langjährigen Verhandlungen in den beiden Kongressstädten Münster und Osnabrück wurden im Jahr 1648 drei Friedensverträge unterzeichnet. Zunächst erfolgte am 30. Januar die Unterzeichnung des spanisch-niederländischen Sonderfriedens von Münster. Dieser Friedensschluss setzte dem so genannten Achtzigjährigen Krieg (1568-1648) ein Ende. König Philipp IV. von Spanien erkannte nun die aus einem Aufstand gegen das spanische Mutterland hervorgegangene Republik der Vereinigten Niederlande als völkerrechtlich unabhängigen und souveränen Staat an (Poelhekke 1948).

Von diesem Separatfriedensschluss, der für die Entstehung des heutigen niederländischen Staates einen wichtigen Markstein darstellt, ist der Friedensschluss vom 24. Oktober 1648 strikt zu unterscheiden, für den sich die Bezeichnung »Westfälischer Frieden« eingebürgert hat. Bei diesem Frieden handelt es sich um zwei Teilfriedensschlüsse, die vertragsrechtlich gesehen allerdings eine Einheit bilden: Der Kaiser schloss – unter Hinzuziehung der Reichsstände – zum einen mit dem König von Frankreich und zum anderen mit der Königin von Schweden Frieden. Geregelt werden sollten mit diesem Friedensschluss sowohl zahlreiche Streitpunkte der internationalen Beziehungen als auch die politischen, konfessionellen, wirtschaftlichen und verfassungsrechtlichen Probleme im Heiligen Römischen Reich.

Ein weiterer Krieg konnte auf dem Westfälischen Friedenskongress allerdings nicht beendet werden. Die seit 1635 währende militärische Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Spanien wurde, trotz intensiver Verhandlungen in Münster, noch elf weitere Jahre bis zum so genannten Pyrenäenfrieden (7. November 1659) fortgesetzt. Insofern war das ursprüngliche Ziel des Westfälischen Friedenskongresses 1648 gescheitert: die Schaffung eines allgemeinen Friedens der Christenheit (Rohrschneider 2007).

Der Westfälische Frieden ist zweifellos der am besten erforschte Friedensschluss der gesamten Frühen Neuzeit (ca. 1500-1800). Dies hängt unmittelbar damit zusammen, dass Forscher*innen für diesen Friedensschluss auf eine herausragende Materialgrundlage zurückgreifen können. Allein im Rahmen der historisch-kritischen Edition der inzwischen am Zentrum für Historische Friedensforschung der Universität Bonn angesiedelten »Acta Pacis Westphalicae« (APW) sind bis heute 48 stattliche Bände erschienen, dazu ein elektronisches Supplement. 40 Bände der »Acta Pacis« liegen seit einiger Zeit zudem auch digital vor und können jederzeit kostenlos abgerufen werden (»APW digital«). Die Historische Friedens- und Konfliktforschung hat von dieser wegweisenden Aktenedition in den vergangenen Jahrzehnten ungemein profitiert (Lanzinner 2014).

400 Jahre nach dem Prager Fenstersturz

Der 400. Jahrestag des Prager Fenstersturzes fand in Wissenschaft und Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit. Zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen erschienen zu diesem Anlass, Funk und Fernsehen berichteten ausführlich, und im Internet wurde fleißig gebloggt. Das Jahr 2018 wird allerdings noch mit einem komplementären Gedenktag aufwarten: Am 24. Oktober jährt sich zum 370. Mal die Unterzeichnung des Westfälischen Friedens, der zuletzt im Jahre 1998 mit einem großen Jubiläum bedacht wurde, an dem sich u.a. zahlreiche europäische Staatsoberhäupter persönlich beteiligten. Die Bedeutung der beiden Jahreszahlen 1618 und 1648 ist evident. Sie sind als Chiffren frühneuzeitlicher Bellizität einerseits und Friedensfähigkeit andererseits nicht nur feste Bestandteile der Geschichtswissenschaft, sondern als »Lieux de Mémoire« zweifellos Marksteine im kollektiven deutschen und europäischen Gedächtnis.“ (Rohrschneider/Tischer 2018, S. 2) Zwar ist nicht ansatzweise zu erwarten, dass die mediale Aufmerksamkeit zum »kleinen« Jubiläum des Westfälischen Friedens so groß sein wird wie der »runde« Jahrestag des Prager Fenstersturzes. Gleichwohl zeigen bereits die zum Gedenkjahr 2018 publizierten Monographien, Sammelbände und Aufsätze, dass die gegenwärtige wissenschaftliche Diskussion über den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden an einem Thema kaum vorbeikommt: der Frage nach der Aktualität der Beschäftigung mit dem Geschehen der Jahre 1618 bis 1648.

Die Geschichte als »Lehrmeisterin des Lebens«?

Historiker*innen streiten gerne über die Frage, ob und inwiefern der auf Cicero zurückgehende Topos von der Geschichte als »Lehrmeisterin des Lebens« (»historia magistra vitae«) seine Berechtigung hat (Koselleck 2000). Immer wieder wird in diesem Zusammenhang mit guten Gründen auf das dringende Erfordernis verwiesen, bei Vergleichen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Phänomenen mit außerordentlicher Behutsamkeit vorzugehen. Vor vorschnellen Analogieschlüssen, unreflektierten Gleichsetzungen und anachronistischen Parallelisierungen wird sehr zu Recht nachdrücklich gewarnt. Andererseits ermöglichen gerade Vergleiche und Analogien – je nach Untersuchungsgegenstand – erhebliche Erkenntnisgewinne, denkt man etwa an die reizvollen Gedankenspiele kontrafaktischer (der Realität widersprechender) Geschichtsschreibung (Evans 2014).

In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion über den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden findet man im Hinblick auf diese Problematik bemerkenswerte Diskrepanzen. Drei Beispiele hierfür seien genannt. So liest man in der 2017 erschienenen Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges aus der Feder des Politologen Herfried Münkler folgende Einschätzung: „Es scheint also, als könne man aus der Westfälischen Ordnung nichts mehr lernen. Dafür aber lässt sich umso mehr aus dem Dreißigjährigen Krieg lernen, dessen Formen der Kriegführung im großen Stil in die Praxis der Kriege zurückgekehrt sind.“ (Münkler 2017, S. 817-818) In Georg Schmidts neuer Geschichte des Dreißigjährigen Krieges heißt es dagegen: „Die Lektüre des Westfälischen Friedensvertrages vermittelt vor allem die Einsicht, dass Alternativen zu den üblichen Wegen eine Lösung sein können.“ (Schmidt 2018, S. 694) Und die jüngste Monographie Johannes Burkhardts endet mit dem pointierten Schlusssatz: „Der Krieg der Kriege konnte […] schließlich doch beendet werden, und wer schon weiß, wie das möglich war, könnte es in vergleichbaren Fällen vielleicht schneller schaffen.“ (Burkhardt 2018, S. 265) Ein von der Universität Cambridge (»Forum on Geopolitics«) und der Körber-Stiftung betriebenes Forschungsprojekt widmet sich genau dieser so kontrovers diskutierten Frage nach der Anwendbarkeit des Westfälischen Friedens auf die heutige Zeit (von Hammerstein/Milton 2018).

Dieser fachwissenschaftliche Diskurs ist insofern von außerordentlicher Relevanz, als vonseiten der Politik derzeit explizit nach dem Potenzial gefragt wird, das die Erforschung des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens für die Konfliktlagen der gegenwärtigen Staatenwelt bereithält. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind die beiden Reden, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier noch während seiner Amtszeit als Außenminister im Jahr 2016 hielt (Steinmeier 2016a; Steinmeier 2016b). Steinmeier gab ausdrücklich die Frage zu bedenken, ob man nicht aus dem Westfälischen Frieden etwas zur Lösung des Syrien-Krieges lernen könne. Kann es also einen – wie auch immer gearteten – »Westfälischen Frieden« für den Mittleren Osten geben?

Je länger der Krieg in Syrien dauert, umso deutlicher werden strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der aktuellen dortigen Lage und dem Dreißigjährigen Krieg. Dies fordert Fragen nach Parallelen und Analogien förmlich heraus. Drei Aspekte treten hierbei besonders in den Vordergrund: Sowohl der Dreißigjährige Krieg als auch der gegenwärtige Krieg in Syrien waren bzw. sind (1.) asymmetrische Konflikte. Es handelt sich hierbei nicht um »klassische« Staatenkonflikte, bei denen fest institutionalisierte und zentral organisierte Staaten gegeneinander Krieg führen, sondern um Auseinandersetzungen, die in hohem Maße durch die Konfrontation rebellierender und/oder nichtstaatlicher Akteure mit der Landesherrschaft respektive dem amtierenden Machthaber geprägt waren bzw. sind.

Ferner ist (2.) auf die außerordentliche Bedeutung des Faktors Religion hinzuweisen. Die für uns Westeuropäer heutzutage selbstverständliche Trennung von Staat und Kirche bzw. Politik und Religion kann für das 17. Jahrhundert (noch) keine Gültigkeit beanspruchen. So war es für frühneuzeitliche Herrscher vollkommen klar, dass sie sich als gläubige Christen nicht nur um ihr eigenes Seelenheil, sondern auch um das ihrer Untertanen zu sorgen hatten. Die Parallelen zum Nahen und Mittleren Osten liegen auf der Hand, denn auch dort ist die Gemengelage durch die enge Verflechtung von politischen und religiösen Interessen gekennzeichnet.

Schließlich ist (3.) auf die – mehr oder weniger offene – Einmischung auswärtiger Mächte in den Dreißigjährigen Krieg und den Krieg in Syrien aufmerksam zu machen. Allerdings wird in diesem Zusammenhang auch ein substanzieller Unterschied deutlich: Während der Syrienkonflikt auch und gerade Züge eines Stellvertreterkriegs trägt, verhielt es sich im Dreißigjährigen Krieg anders. Alle damals kriegführenden Parteien hatten konkrete Eigeninteressen und agierten nicht primär als Marionetten anderer Mächte. Das konnte zwar in der Sache durchaus auch vorkommen; ein solches Vorgehen war aber keineswegs ein Strukturprinzip.

Was können wir aus dem Westfälischen Frieden lernen?

Mögliche Analogien und Vergleiche zwischen den Verhältnissen der Jahre 1648 und 2018 liefern keine tagespolitisch konkret nutzbaren Handlungsanweisungen. Ein Beispiel dafür ist die so genannte »Normaljahrsregel«, die im Westfälischen Frieden zur Beilegung der konfessionellen Konflikte etabliert wurde. Derzufolge markierte ein Stichdatum (1. Januar 1624) den Status quo des religiösen Besitzstands: Was an diesem Tag katholisch war, sollte katholisch, was protestantisch war, sollte protestantisch bleiben – allerdings mit zahlreichen Ausnahmen, die friedensvertraglich festgeschrieben wurden (Fuchs 2010). Könnte eine solche Regelung ein Vorbild für die Lösung gegenwärtiger Konflikte sein? Nein, sicher nicht! Dennoch können wir aus dem Prinzip des Normaljahrs etwas lernen. Denn wie verfuhren die Väter des Westfälischen Friedens in diesem höchst umstrittenen Verhandlungspunkt? Sie transferierten einen religiös-theologischen Konflikt auf eine politische Ebene und klammerten dabei die religiöse Wahrheitsfrage komplett aus, denn man konnte und wollte offenbar nicht entscheiden, wer theologisch gesehen Recht hat und wer nicht: Katholiken, Lutheraner oder Calvinisten? Und das war die entscheidende Voraussetzung dafür, dass es am Ende doch noch gelang, den gordischen Knoten der konfessionellen Auseinandersetzungen zu durchtrennen, nämlich mittels der Konstituierung einer politischen Lösung für ein religiös-konfessionelles Problem. Eine solche Vorgehensweise wäre sicherlich eine denkbare Option, um in Syrien Verständigungsfortschritte zu erreichen.

Darüber hinaus kann man anhand des Westfälischen Friedens lernen, welche Verhandlungsinstrumente in der Vergangenheit mit Erfolg angewendet wurden und welche Schwierigkeiten damit üblicherweise einhergehen. So zeigen etwa die westfälischen Friedensverhandlungen eindrücklich die Möglichkeiten und Grenzen von institutionalisierter Friedensvermittlung auf, die damals vom päpstlichen Legaten und dem venezianischen Botschafter geleistet wurde. Eine Lehre ist aus der Geschichte jedenfalls ganz klar zu ziehen: Friedensvermittlung ist kein Allheilmittel. Es kommt stets sehr auf die Unparteilichkeit und individuellen Fähigkeiten der Mediatoren an. Aber selbst noch so gute Vermittler können einen Friedensschluss nicht herbeizaubern, zumal wenn die Rahmenbedingungen für erfolgreiche Verhandlungen nicht gegeben sind.

Ein weiterer Gesichtspunkt hängt mit der Verhandlungstechnik der Mediation eng zusammen: Wie verfährt man, wenn die Konfliktparteien gar nicht bereit sind, sich mit dem Kontrahenten an einen Verhandlungstisch zu setzen? Man schafft zwei Verhandlungsorte! Der Friedenskongress von Münster und Osnabrück zeigt, dass ein solches Prozedere in der Vergangenheit mit Erfolg umgesetzt werden konnte – obwohl die beiden westfälischen Städte damals kommunikationstechnisch gesehen eine Tagesreise auseinanderlagen. Gerade angesichts moderner Kommunikationsmittel sollten getrennte Verhandlungsorte eigentlich kein Problem sein.

Auch eine internationale Garantie der Einhaltung des für Syrien zu schließenden Friedens ist sicherlich unerlässlich, wie schwierig dies im Einzelnen auch sein mag. Und warum nicht nach dem Vorbild des Westfälischen Friedens? Das hieße dann, dass alle Signatarmächte den Frieden garantieren, sodass das Friedensabkommen auf einem breiten, soliden Fundament gründen könnte.

Bei aller gebotenen Zurückhaltung gegenüber der Bedeutung, die dem Prinzip der Geschichte als »Lehrmeisterin des Lebens« in der konkreten politischen Praxis zukommt: Aus dem Dreißigjährigen Krieg und dem Westfälischen Frieden kann man durchaus etwas lernen – zwar nicht im Sinne von konkreten Handlungsanweisungen, aber die Historische Friedens- und Konfliktforschung kann zweifellos dabei helfen, Strukturen gewaltsamer Konflikte anhand einer Analyse von historischen Phänomenen mit größerer Tiefenschärfe zu verstehen und somit auf Grundlage gesicherten Wissens Orientierung zu vermitteln. Gerade in einer Zeit, in der »Fake News« zu einem langfristigen Strukturproblem avancieren, ist dies wichtiger denn je.

Literatur

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Burkhardt, J. (2018): Der Krieg der Kriege – Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Repgen, K. (1998): Dreißigjähriger Krieg. Wiederabdruck in: Repgen, K.: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede – Studien und Quellen. Paderborn [u.a.]: Schöningh, S. 291-318.

Rohrschneider, M.: (2007): Der gescheiterte Frieden von Münster – Spaniens Ringen mit Frankreich auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643-1649). Münster: Aschendorff.

Rohrschneider, M.; Tischer, A. (2018): Dreißigjähriger Krieg und historischer Wandel – Einführende Überlegungen. In: Rohrschneider, M.; Tischer, A. (Hrsg.): Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts. Münster: Aschendorff, S. 1-10.

Schmidt, G. (2018): Die Reiter der Apokalypse – Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. München: C.H.Beck.

Steinmeier, F.-W. (2016a): Der Westfälische Frieden als Denkmodell für den Mittleren Osten – Rede bei den Osnabrücker Friedensgesprächen (12. Juli 2016); auswaertiges-amt.de.

Steinmeier, F.-W. (2016b): Rede zur Eröffnung des 51. Deutschen Historikertages (20. September 2016); auswaertiges-amt.de.

Michael Rohrschneider ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte sowie Leiter des Zentrums für Historische Friedensforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Historisches Vorbild


Historisches Vorbild

Bertha von Suttner und die Frauen für Frieden

von Anne Bieschke

Wichtiger Bestandteil der Bewegungsarbeit der Friedensfrauen war immer auch die Erarbeitung und Bewusstmachung der eigenen Geschichte. Sie stellen sich in die Tradition früherer Aktivistinnen und Bewegungen und knüpfen an sie an. So werden die historischen Vorläuferinnen zu wichtigen Bestandteilen der eigenen Identität. Selbst ohne personelle oder strukturelle Kontinuitäten gelingt dies vor allem anhand der Themen und Argumente, durch ähnliche Aktionsformen, die Übernahme von Ritualen oder Feiertagen und das Gedenken an berühmte Frauen, die sich um den Frieden verdient gemacht hatten. Bertha von Suttner ist hierbei wohl die hervorragendste Persönlichkeit.

Die Frauenfriedensbewegung kann inzwischen auf eine etwa 150-jährige Geschichte zurückblicken, die teils von Kriegen unterbrochen wurde, teils Zeiten der Latenz erfuhr, ohne jedoch ganz abzubrechen. Auch für sie gilt die Erkenntnis: „Kaum ein Thema gegenwärtiger sozialer Bewegungen ist wirklich neu. […] Rückblickend ist festzustellen, dass soziale Bewegungen ihre Geschichte und Vorgeschichte immer wieder aufs Neue entdecken und in gewisser Weise »erfinden«.“ (Roth 2008, S. 21) Das Geschlecht ist für die Frauenfriedensbewegung dabei das wichtigste verbindende Element und ausschlaggebend für das Gefühl einer Zusammengehörigkeit über Generationen hinweg. Daneben fungieren »Vorfahrinnen« der Frauenfriedensbewegung bis heute als wichtige Vorbilder und als Quellen des Empowerment auf emotionaler Ebene. Es ist möglich, aus der Geschichte Mut zu schöpfen, die eigene Argumentation zu prüfen und von den früheren Theoretikerinnen zu lernen oder gegebenenfalls deren Fehler und Misserfolge zu reflektieren.1

Die Erarbeitung der eigenen Geschichte durch die Frauenfriedensbewegung wirkt jedoch nicht nur nach innen. Nach außen sind Aktionen, die Bezug auf die Geschichte und auf in der breiten Öffentlichkeit bekannte Personen nehmen, ein Mittel, die Sichtbarkeit und die Wirksamkeit der eigenen Aktionen zu erhöhen. Der Geschichtswissenschaft geben genau diese Aneignungen der eigenen Geschichte Auskunft über die innere Verfasstheit und das Selbstverständnis der Frauenfriedensbewegung.

Wohl am häufigsten wurde und wird, wenn es um weibliches Friedensengagement geht, Bezug genommen auf Leben und Werk Bertha von Suttners. Bertha von Suttner, österreichische Pazifistin, geboren 1843, erarbeitete in ihren Schriften nicht nur Grundlagen des (weiblichen) Friedensengagements, sondern war auch Mitbegründerin der Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde (1891) und der Deutschen Friedensgesellschaft (1892). Vor allem durch ihren Roman »Die Waffen nieder!« ist Bertha von Suttner vielen ein Begriff. Der Roman, den sie im Jahr 1889 zunächst in kleiner Auflage veröffentlichte, wurde eines der erfolgreichsten Antikriegsbücher seiner Zeit. 1905 erhielt sie als erste Frau den Friedensnobelpreis – eine Auszeichnung, zu der sie selbst einige Jahre zuvor Alfred Nobel angeregt hatte. Für viele Friedensfrauen ist sie ein Vorbild, weil sie sich dezidiert als Frau für den Frieden einsetzte und dies in einer Zeit, in der die Handlungsspielräume von Frauen im »öffentlichen Raum« sehr begrenzt waren (Hausen 1976).

Die »Westdeutsche Frauenfriedensbewegung«

In den 1950er Jahren wurde Bertha von Suttner zum ersten Mal dezidiert als historisches Vorbild rezipiert, und zwar durch die 1951 gegründete Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). Zeit ihres Bestehens zeigte die WFFB sich geschichtsbewusst und stellte sich ausdrücklich in die Tradition Bertha von Suttners (Notz 2015) und der alten Frauenbewegung, wie die beiden Mitbegründerinnen Ingeborg Küster und Elly Steinmann betonten: „Durch die Westdeutsche Frauenbewegung ist die deutsche Frauenbewegung fortgeführt worden, die Tradition jener Frauen, die zu ihrer Zeit bereit gewesen sind, unter schwierigen Bedingungen das Notwendige zu tun.“ (Küster/Steinmann 1990, S. 233)

Die Frauen gaben sich das Motto „Wir sind Hüterinnen, Wachen ist unser Auftrag, unser Amt ist der Friede“ (Faßbinder 1956, S. 3), das den besonderen Bezug des weiblichen Geschlechtes zum Frieden, aber auch zur Wahrung von Traditionen hervorhob.

Ihre Hauptziele waren die Verhinderung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und deren Einbindung in ein westliches Militär- oder Verteidigungsbündnis. Daneben setzten sich die Frauen auch für eine Verbesserung der Beziehungen zur DDR ein. 1952 protestierten etwa 1.600 Frauen in Bonn gegen den Deutschlandvertrag, 1954 demonstrierten sie gegen die allgemeine Wehrpflicht, 1955 gegen die Pariser Verträge und 1964 gegen eine multilaterale Atomstreitmacht – hierzu beteiligten sich ca. 700 Frauen der WFFB an einer Demonstration in Den Haag, einer der Wirkungsstätten von Bertha von Suttner. Ab Mitte der 1960er Jahre engagierte die WFFB sich vornehmlich gegen den Vietnamkrieg. Das Ende der WFFB wurde von der Aufgabe ihrer Frauenzeitschrift »Frau und Frieden« eingeläutet, die bis 1974 erschien (Küster/Steinmann 1990). Zu diesem Zeitpunkt ließen auch die übrigen Tätigkeiten der WFFB immer weiter nach und versiegten schließlich ganz.

Die Frauenfriedensbewegung der 1980er Jahre

Während die WFFB sich dezidiert in der Tradition der Vorgängerbewegung sah, war die Frauenfriedensbewegung der 1980er Jahre ein Kind der Neuen Frauenbewegung. Als Teil dieser sowie der Friedensbewegung verstand sie sich durchaus auch als eigenständige Bewegung, die gegen Aufrüstung (NATO-Doppelbeschluss) protestierte und sich für einen Frieden stark machte, der die Gleichberechtigung der Geschlechter einschließt.

Eine erste Welle des Protests und die Bildung neuer Frauengruppen lösten Ende der 1970er Jahre die u.a. von Verteidigungsminister Apel in den Raum gestellte Frage aus, ob Frauen auch zum Wehrdienst verpflichtet werden sollten. Die Diskussion blieb nicht auf die Frauen- und Frauenfriedensbewegung beschränkt, sondern wurde durchaus ein gesamtgesellschaftliches Thema. Zu Beginn der Debatte waren es vor allem Aktivistinnen der Initiative »Frauen in die Bundeswehr? Wir sagen Nein!«, gegründet im Mai 1979, die mit Demonstrationen und so genannten »Verweigerungsaktionen« an die Öffentlichkeit traten. Die Frauen wurden aufgerufen, vorsorglich bei der zuständigen Behörde schriftlich jede Form des Kriegseinsatzes, von einem möglichen Wehrdienst bis hin zu medizinischen Hilfeleistungen, zu verweigern und gegen eine mögliche Frauenwehrpflicht zu protestieren.

Eine Internationalisierung der Frauenfriedensbewegung wurde mit dem im Februar 1980 in Dänemark initiierten Aufruf »Frauen für den Frieden« (zit. in Quistorp 1982, S. 20) ab Anfang der 1980er Jahre erreicht, in dem unter anderem Abrüstung und der Stopp des Wettrüstens zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion gefordert wurden. Auch die westdeutschen Frauen beteiligten sich an der internationalen Unterschriftenaktion und begleitenden Aktionen.2

Einen Bezug zu ihren historischen Vorfahrinnen mussten sich die Aktivistinnen der 1980er Jahre oft erst erarbeiten, dann jedoch nutzten sie ihn umso expliziter für die Herstellung der eigenen Identität als Bewegung und für die Darstellung nach außen. Wie wichtig diese Traditionslinien auch für die »neue« Frauenfriedensbewegung waren, zeigt das Vorwort von Eva Quistorp zum Band »Frauen für den Frieden – Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Frauenfriedensbewegung«:

„Viele Probleme, die heute aufgegriffen werden, waren bereits Themen früherer Frauenfriedensbewegungen. Ideen und Energien jener Bewegungen setzen sich bis heute fort – wenn auch oft unbewußt. […] »Frauen für Frieden« knüpfen an eine […] Tradition an – die Tradition einer Widerstand leistenden Minderheit von Pazifistinnen wie Bertha von Suttner, Lydia [sic!]Gustava Heymann und Virginia Woolf, von Kommunistinnen wie Clara Zetkin, libertären Anarchistinnen wie Emma Goldmann, Sozialistinnen wie Rosa Luxemburg, Christinnen wie Dorothy Day und Luise Rinser. Ohne diese Geschichte wäre die Stärke und Vielfalt der neuen Frauenfriedensbewegung kaum denkbar.“ (Quistorp 1982, S. 9)

Auch hier waren es oft Bertha von Suttner und ihr Werk, an die bei zahlreichen Aktionen erinnert wurde: Im März 1981 benannten Friedensfrauen in Berlin in einer ihrer Aktionen die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Bertha-von-Suttner-Gedächtniskirche um. Sie fanden Nachahmerinnen an vielen weiteren Orten, wobei die Frauen nicht nur Kirchen, sondern – wie zum Beispiel in Düsseldorf – auch Platz- oder Straßennamen veränderten (Balistier 1996). Die Berufung auf ein historisches Vorbild unterstrich die Legitimität der eigenen Ziele. Die Friedensfrauen zeigten sich selbst und der Öffentlichkeit, dass ihre Forderungen auch schon Jahrzehnte früher aktuell waren. Dabei war auch der Verweis auf vergangenes Scheitern Bestandteil der Aktion und diente als Warnung an sich selbst und an die Öffentlichkeit. Die Gewalterfahrungen und Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts seien schließlich auch eine Folge der Nichtbeachtung weiblichen Friedensengagements gewesen. Darum sei es nun an der neuen Generation Frauenfriedensbewegung, dafür zu sorgen, dass ihre Anliegen ernst genommen würden.

Frauen für den Frieden heute

Mit der Thematisierung von Krieg und Frieden bei der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) und ihren nationalen Vorbereitungs- und Nachfolgekonferenzen hat sich das Engagement der Frauenfriedensorganisationen wieder stärker auf eine institutionalisierte Ebene verlagert. Getragen wird dies zum Beispiel von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), gegründet 1915, die beratenden Status bei verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen hat.3

Spätestens seit dem Jahr 2001 und der vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, ist die besondere Betroffenheit von Frauen von Krieg und seinen Folgen, wie Flucht, Vertreibung und (sexuelle) Gewalt an Zivilist*innen, international anerkannt.4 Anerkannt ist ebenfalls, dass Frauen aufgrund dieser Betroffenheit auch an Friedensprozessen beteiligt sein müssen. Die Umsetzung der Resolution geht jedoch nur schleppend voran. Hier sind nun wieder Frauen gefragt, die sich engagieren, Gruppen gründen und aktiv werden, um auf nationaler und internationaler Ebene die Umsetzung der Resolution zu überwachen und einzufordern.

Ein weiteres Beispiel ist das Frauennetzwerk für Frieden e.V., das seit 1996 besteht und als zentralen Wert eine Friedenskultur anstrebt, die „die Realisierung von Gerechtigkeit, die insbesondere auch das Ende der Gewalt gegen Frauen und die Implementierung der Geschlechtergerechtigkeit für Frauen, Männer und Transgeschlechtlichkeiten einschließt“ (Frauennetzwerk für Frieden o.J.). Die Netzwerkorganisation FriedensFrauen Weltweit wiederum, die aus der Initiative »1000 Frauen für den Friedensnobelpreis« im Jahr 2003 hervorgegangen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, „die Vernetzung zwischen Friedensstifterinnen zu stärken, ihre Arbeit mit praktischen Tools zu unterstützen und ihr Engagement sichtbar zu machen.“ (FriedensFrauen Weltweit o.J.)

Eines der wichtigsten solcher »Tools« ist der Hinweis auf die eigene Geschichtlichkeit. Die IFFF verweist auf ihrer Webseite dezidiert auf Bertha von Suttner und würdigt ihr Leben und Werk als einen wichtigen Beitrag weiblichen Friedensengagements. Ganz ähnlich wie die Frauenfriedensbewegung in den 1980er Jahren arbeitet das Frauennetzwerk für Frieden e.V. ganz praktisch mit der historischen Person Bertha von Suttner. Das Frauennetzwerk hatte jahrelang darauf hingewirkt, dass für Bertha von Suttner in Bonn ein Denkmal errichtet würde. Nach jahrelanger Öffentlichkeitsarbeit, Spendensammlungen und Überzeugungsarbeit gegenüber der Stadt Bonn ziert nun seit 2013 eine Stele der finnischen Künstlerin Sirpa Masalin den Bertha-von-Suttner-Platz in Bonn. 2016 gründete sich innerhalb des Frauennetzwerkes zusätzlich eine eigene »Bertha-AG«, die sich dem Andenken an von Suttner verschrieben hat und „den Geist Bertha von Suttners in Bonn präsent“ halten möchte (Frauennetzwerk für den Frieden o.J.).

Die Beispiele zeigen, wie wichtig die eigene Geschichte für das Selbstverständnis der Frauenfriedensbewegung und ganz allgemein für soziale Bewegungen ist. Die aktive Aneignung dieser Geschichte ist dabei ebenso wichtig wie ihre Verwendung als Vehikel für die eigenen Botschaften. Dabei muss bedacht werden, dass die Geschichtsarbeit sozialer Bewegungen stets selektiv ist und eben dazu dient, ein bestimmtes Bild von der eigenen Bewegung zu zeichnen. Die „Erfindung von Tradition“ kann die „Legitimation und das politische Gewicht der eigenen Mobilisierung verstärken“ (Roth/Rucht 2008, S. 21).

Anmerkungen

1) Vgl. zum Nutzen der Reflexion und Bewahrung der eigenen Geschichte für Neue Soziale Bewegungen, respektive der (neuen) Frauenbewegung, Wenzel 2013, S. 183.

2) Zur Geschichte der Frauenfriedensbewegung in der Bundesrepublik zu Beginn der 1980er Jahre ausführlich Bieschke 2018 (im Erscheinen).

3) Women’s International League for Peace and Freedom, WILPF; wilpf.org.

4) Zur Wirkung der Resolution 1325 vgl. Weiß (2016). Zur Resolution 1325 siehe außerdem die Artikel von Ruth Seifert und Heidi Meinzolt in diesem Heft.

Literatur

Balistier, T. (1996): Straßenprotest – Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1979 und 1989. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Bieschke, A. (2018): Die unerhörte Friedensbewegung – Frauen, Krieg und Frieden in der Nuklearkrise (1979-1983). Essen: Klartext (im Erscheinen).

Faßbinder, K.M. (1956): Fünf Jahre Velbert. Frau und Frieden Nr. 10, S. 3.

Frauennetzwerk für Frieden e.V. (o.J.); ­frauennetzwerk-fuer-frieden.de.

FriedensFrauen Weltweit (o.J.); 1000peacewomen.org.

Hausen, K. (1976): Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, W. (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas – Neue Forschungen. Stuttgart: Klett, S. 363-393.

Küster, I.; Steinmann, E. (1990): Die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). In: Hervé, F. (Hrsg.): Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Köln: PapyRossa, 4. Auflage, S. 224-234.

Notz, G. (2015): Klara Marie Faßbinder (1890-1974) und die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). In: Dunkel, F.; Schneider, C. (Hrsg.): Frauen und Frieden? Zuschreibungen – Kämpfe – Verhinderungen. Leverkusen-Opladen: Budrich academic, S. 87-102.

Roth, R.; Rucht, D. (Hrsg.) (2008): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 – Ein Handbuch. Frankfurt/New York, campus, S. 21.

Quistorp, E. (Hrsg.) (1982): Frauen für den Frieden – Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Friedensbewegung, Bensheim: Päd-­extra-Buchverlag.

Weiß, N. (2016): Frauen, Frieden und Sicherheit – was hat Resolution 1325 gebracht? Potsdam: Universitätsverlag Potsdam.

Wenzel, C. (2013): Springen, Schreiten, Tanzen – Die Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung. In: Bacia, J.; Wenzel, C. (Hrsg.): Bewegung bewahren – Freie Archive und die Geschichte von unten. Berlin: Hirnkost, S. 179-196.

Dr. Anne Bieschke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim und Historikerin. In ihrer Dissertation untersuchte sie die Geschichte der Frauenfriedensbewegung in der Bundesrepublik in der Nuklearkrise (1979-1983).