Politik, Protest, Forschung

Politik, Protest, Forschung

Wie entstand die Friedensforschung in der BRD?

von Lisa Bogerts, Stefan Böschen und Christoph Weller

Bevor uns Erinnerungen und Erfahrungen der GründerInnen-Generation der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland endgültig verloren gehen, erscheint eine Auseinandersetzung mit den Anfängen der deutschen Friedensforschung angebracht. Welche Einsichten sich aus einer Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung der Friedens- und Konfliktforschung in der BRD in ihrer ersten Phase gewinnen lassen, beschreibt dieser Artikel anhand erster Ergebnisse eines entsprechenden Forschungsprojekts.

Friedensforschung – nicht selten wird man komisch angeschaut, wenn man erzählt, man arbeite auf diesem Gebiet. Kann man zu Frieden »forschen«? Oder vielleicht sogar dafür? Frieden gilt als anerkanntes Ziel der Politik und ist deshalb häufig Legitimationsressource staatlichen Handelns. Die Debatten darüber sind immer politisch und zum Teil höchst normativ, weshalb sich schnell die Frage stellt, wie sich das wissenschaftliche Neutralitätsgebot und andere Standards auf so einen Gegenstand beziehen können. Und wie kann ein einzelnes Forschungsgebiet zu etwas arbeiten, was eigentlich eine gesamtgesellschaftliche oder letztlich globale Aufgabe ist?

Offensichtlich ist Frieden kein Forschungsgegenstand wie jeder andere. Es gibt ja Klischees, wie die von FriedensforscherInnen als romantische Hippies oder »Gutmenschen« (letzteres wurde jüngst zum »Unwort« des Jahres 2015 gekürt), die sich einbilden, die Welt retten zu können. Andere Vorurteile gehen in die umgekehrte Richtung und vermuten eine bestimmte Art von Kriegsforschung hinter dem positiv klingenden Begriff. Auf jeden Fall stellt sich die Frage nach den Besonderheiten der Friedensforschung und ihrer VertreterInnen. Sind FriedensforscherInnen also eher politisch engagierte Menschen mit einem akademischen Hintergrund, VertreterInnen einer pazifistischen Position in gesellschaftlichen Debatten oder BeraterInnen der Politik in Friedensfragen, wo es dann um Krisenprävention und Rüstungskontrolle, aber auch um Militäreinsätze und dergleichen geht?

Sucht man nach den Anfängen der deutschen Friedensforschung und betrachtet hierfür ihre Entstehungsphase in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1950er Jahre, wird ein Spannungsfeld ganz unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Interessen sichtbar. Hinzu kommen die zeithistorischen Umstände, die nicht nur den Kontext bildeten, sondern eine wesentliche Rolle spielten: Atomzeitalter, Ost-West-Konflikt, Studentenbewegung und eine politische Aufbruchsstimmung mit der ersten sozial-liberalen Bundesregierung Ende der 1960er Jahre. Viele verschiedene Einflüsse, Akteure und Dynamiken waren hier am Werk; diese gilt es aufzuschlüsseln.

Es ist also sowohl wissenschaftssoziologisch und wissenschaftshistorisch, aber auch für das Selbstverständnis der Friedensforschung aufschlussreich, zu rekonstruieren, unter welchen Bedingungen sich die Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland etablieren konnte und welche sozialen, politischen, institutionellen und wissenschaftlich-disziplinären Einflussfaktoren dabei wirksam waren.1 In diesem Beitrag gehen wir aufgrund der Fokussierung unserer bisherigen Forschung vor allem auf die Phase vom Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre ein.2

Viele Quellen für die Friedensforschung

Bereits in den 1950er Jahren hatten die »Ohne mich«-Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die »Kampf dem Atomtod«-Bewegung gegen kriegerische Aktivitäten und atomare Bewaffnung protestiert; in den 1960er Jahren entwickelte sich dann die Studentenbewegung, deren Kritik sich nicht nur gegen den »Muff von 1000 Jahren«, sondern auch gegen verkrustete und autoritäre Strukturen der westdeutschen Gesellschaft und deren Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit richtete. Die Proteste betrafen dann bald auch den Vietnamkrieg und das atomare Wettrüsten, also auch friedenspolitische Themen.

Tatsächlich gab es eine Reihe vonWissenschaftlerInnen, die sich schon früh der Friedensforschung zurechneten und dabei einen engen Zusammenhang zu friedenspolitischen Aktivitäten herstellten. Theodor Ebert zum Beispiel promovierte 1965 zu gewaltfreien Methoden des Aufstands als Alternative zum Bürgerkrieg und orientierte sich dabei an den Konzepten Mahatma Gandhis. Ebert gehörte zu den SozialwissenschaftlerInnen, die es als ihre Aufgabe ansahen, die Bewegung mit Hintergrundwissen zu »unterfüttern«, d.h. ihren MitstreiterInnen Wissen zur Verfügung zu stellen, das für ihr politisches Engagement bedeutsam sein konnte.3 Sehr einflussreich wurde sein Buch zum gewaltfreien Aufstand,4 das v.a. für Kriegsdienstverweigerer zur Basislektüre in der Vorbereitung auf die damals üblichen Gewissensprüfungen wurde. WissenschaftlerInnen waren aber auch in einer ganz anderen Domäne aktiv, die noch viel näher an den Prozessen politischen Entscheidens angelagert war: In bilateralen und multilateralen Gesprächsforen, wie etwa der deutsch-britischen Königswinter-Konferenz oder dem Deutsch-Polnischen Forum, in denen sich hohe DiplomatInnen, PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und VertreterInnen aus Wirtschaft und Journalismus verschiedener Länder über Probleme im Rahmen des Ost-West-Konflikts austauschten, wurden politische Anliegen und wissenschaftliches Wissen verbunden.

Neben diesen politisch motivierten Domänen der Friedensbewegung und der Friedensdiplomatie kamen aus der Wissenschaft selbst unterschiedliche Entwicklungsimpulse: Zunächst entfaltete sich eine ethische Diskursdomäne. Das Atomzeitalter, vor allem die Angst vor atomarer Bedrohung im Kalten Krieg, war ein Motiv, das viele einflussreiche Personen der Friedensforschung in der Anfangszeit prägte. Deshalb überrascht es wenig, dass viele dieser Persönlichkeiten NaturwissenschaftlerInnen waren. Einer der Pioniere war Carl-Friedrich von Weizsäcker. Er war Kernphysiker und gehörte während des Zweiten Weltkriegs dem deutschen »Uranprojekt« zur Nutzung der Atomenergie an. Dass PhysikerInnen Kompetenz über Frieden zugeordnet wurde, hing damit zusammen, dass sie mit ihrem Sachverstand die damals viel debattierte Gefahr durch Kernwaffen erklären konnten. Sie konnten mit großer Autorität sprechen, da sie z.T. selbst an der Entwicklung von Grundlagenwissen beteiligt waren und nun durch ihre Distanzierung das moralische Problem sichtbar machten. Diese moralisch-ethischen Fragen waren auch für die Kirchen von großer Bedeutung, weshalb für die entstehende Friedensforschung auch Stimmen relevant waren, welche durch Bezug auf die Religion grundlegende ethische Fragen mithilfe wissenschaftlicher Expertise behandeln konnten.

Darüberhinaus etablierten sich in der Wissenschaft verschiedene eigenständige Forschungslinien, die sich auch mit Friedensfragen beschäftigten, etwa die Zukunftsforschung. Diese »Futurologie« hatte schon damals wenig mit Science-Fiction oder »Trendforschung« zu tun, in der medienwirksam spektakuläre zukünftige Entwicklungen »vorausgesagt« werden. Vielmehr sollten mögliche technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen untersucht und auf dieser Grundlage in eine bestimmte,verantwortbare Richtung gesteuert werden.5

Auch in Kerngebieten der Politikwissenschaft, insbesondere in deren Teildisziplin Internationale Beziehungen (IB), etablierte sich die Friedensforschung als Diskursdomäne. Als bedeutsam für die Entwicklung in Deutschland kann angesehen werden, dass viele Gründungspersönlichkeiten der deutschen Friedensforschung, wie z.B. Dieter Senghaas, Ekkehart Krippendorff oder Karl Kaiser, längere Forschungsaufenthalte an US-amerikanischen Universitäten verbrachten. Damit wurden inhaltliche Verbindungen zum US-amerikanischen IB-Diskurs geschaffen, und ein bemerkenswerter Wissenstransfer kam zustande, der große Wirkung in der deutschen Politikwissenschaft entfaltete.6

Die Breite der Forschung, die sich Ende der 1960er Jahre mit Friedens-Fragen beschäftigte, dokumentierten Karl Kaiser und Reinhard Meyers mit ihrer Studie zur Lage der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland.7 Darin beschreiben sie ein sowohl politisch wie disziplinär außerordentlich breites Feld von WissenschaftlerInnen, Instituten und Initiativen, die alle für sich beanspruchten, »Friedensforschung« zu betreiben, und damit auch die Erwartung hegen konnten, im Falle einer besonderen Unterstützung der Friedensforschung ggf. an deren finanzieller Förderung partizipieren zu können. Die Breite des Feldes zeigte sich insbesondere an der Spannung zwischen den sogenannten »strategic studies«, die sicherheits- bzw. verteidigungspolitisch ausgerichtet waren, und einer Friedensforschung, welche die Abschreckungspolitik als „organisierte Friedlosigkeit“ kritisierte.8 Verbunden mit Johan Galtungs Beiträgen zu »struktureller Gewalt« und einem »positiven Friedensbegriff« entwickelte sich daraus die »Kritische Friedensforschung«,9 die von Anfang an der Kritik vornehmlich konservativer ForscherInnen ausgesetzt war, welche von einem militärischen Gleichgewicht als Kriegsverhinderungsstrategie überzeugt waren.10

Entwicklung durch Vernetzung und Institutionalisierung

Auffällig für die Entwicklung der Friedensforschung in der BRD ist, dass einerseits von Anfang an eine Fülle von Foren die unterschiedlichen Perspektiven zu verbinden versuchten und es andererseits auch mehrere Persönlichkeiten verstanden, die unterschiedlichen »Lager« an einen Tisch zu bringen. Es war gerade die geteilte Erfahrung des »Atomzeitalters«, welche viele gesellschaftliche Initiativen, die zu Friedensfragen arbeiteten, in einem erstaunlich engen Zeitfenster gleichzeitig mobilisierte.

Bereits 1957/58 wurde in Heidelberg die durch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) finanzierte Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) eingerichtet, als „die vehementen Auseinandersetzungen um die Einrichtung der Militärseelsorge und um eine mögliche atomare Bewaffnung der Bundeswehr die Kirche zu spalten [drohten]“.11 Leiter der FEST wurde der Religionsphilosoph Georg Picht, der neben seinem zweibändigen Werk »Hier und Jetzt – Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima«12 weitere viel beachtete Beiträge zur Friedensforschung leistete. 1959 gründete sich der Sozialwissenschaftliche Studienkreis für Internationale Probleme (SSIP) in Bonn und richtete Arbeitsgruppen zur Konfliktforschung sowie zur Zukunfts- und Friedensforschung ein.13 Ebenfalls 1959 wurde die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) gegründet. Die Gründungsmitglieder – größtenteils Physiker – waren zwei Jahre zuvor als »Göttinger Achtzehn« bekannt geworden, als sie sich in ihrer »Göttinger Erklärung« gegen die atomare Bewaffnung der BRD aussprachen. Eine der Aufgaben der VDW, „das Bewusstsein der in der Wissenschaft Tätigen für ihre Verantwortung an den Auswirkungen ihrer Arbeiten auf die Gesellschaft wachzuhalten und zu vertiefen“,14 sollte für die Friedensforschung der Anfangsjahre prägend sein.

Gleichzeitig gab es erste Pläne für die Errichtung eines deutschen Friedensforschungsinstituts. Der Physiker Lothar Schulze etwa arbeitete daran und rief 1964 die Gesellschaft zur Förderung von Zukunfts- und Friedensforschung (GFZFF) ins Leben. Aus dem Nachlass der Physikerin und Pazifistin Freda Wuesthoff wurde 1958 die Forschungsgesellschaft für Friedenswissenschaft in Genf gegründet, deren deutscher Zweig in München von Christel Küpper als Studiengesellschaft für Friedensforschung geführt wurde. Um die »Theorie und Didaktik der Erziehung zum Frieden« umzusetzen, hatte sie schon 1958 einen »Arbeitsplan zur Friedensforschung« und 1962 einen Plan für einen deutschen Verein für Friedensforschung erstellt.15

Parallel zu dieser ersten Institutionalisierung erfolgte auch eine breite Vernetzung. Mitte der 1960er Jahre wurden erste Tagungen explizit zu Fragen der Friedensforschung organisiert, so u.a. von Klaus Gottstein 1966 das VDW-Kolloquium »Fragen des Übergangs in die Weltordnung des Atomzeitalters« und 1967 die VDW-Fachtagung »Soziale Verteidigung«. Auch politische Stiftungen veranstalteten Tagungen, beispielsweise die Friedrich-Naumann-Stiftung, die1968 eine Arbeitstagung zum Thema »Der geplante Frieden« ausrichtete.16 Hierbei spielte der Rechtswissenschaftler und Psychologe Peter Menke-Glückert eine wichtige Rolle, und er kann wohl als einer der wichtigsten Netzwerker der frühen Friedensforschung bezeichnet werden. Er trug wesentlich dazu bei, die einzelnen Initiativen zusammenzuführen, und verfolgte hierbei auch die Idee zur Gründung eines Vereins, der die wissenschaftlichen Initiativen auf dem Gebiet der Friedensforschung bündeln sollte.17

Für die Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) im Juni 1968 gelang es Menke-Glückert schließlich, WissenschaftlerInnen ganz unterschiedlicher disziplinärer und politischer Couleur zusammenzubringen.18 Neben ihm selbst gehörten zu den AFK-Gründungsmitgliedern u.a. Lothar Schulze (GFZFF), Christel Küpper (Studiengesellschaft für Friedensforschung), Klaus Gottstein (VDW), Helga Haftendorn (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik), Gerhard Wettig (Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien), Paulus Engelhardt (Pax Christi) sowie Theodor Ebert (Berlin), Dieter Senghaas (Frankfurt a.M.), Ernst-Otto Czempiel (Marburg) und Gerda Zellentin (Köln). Schnell entwickelte die AFK vielfältige Aktivitäten, geriet darüber aber auch bald in den „ersten Richtungsstreit“19 zwischen traditioneller und kritischer Friedensforschung.

Die Auseinandersetzungen zwischen den AnhängerInnen einer politisch eher links orientierten Friedensforschung und den »affirmativen«, eher »konservativen« ForscherInnen prägten viele Debatten zu Beginn der 1970er Jahre. Dabei spielte der damalige gesellschaftspolitische Kontext eine wesentliche Rolle: Die sozial-liberale Koalition, welche ab Oktober 1969 herrschte, stützte sich auf eine in Gesellschaft und Politik vorhandene Aufbruchsatmosphäre und bestärkte diese. Die »neue Ostpolitik« von Willy Brandt und Egon Bahr brachte zudem Bewegung in die ideologischen Fronten, indem sie die bis dahin gängige Konfrontationspolitik der Westmächte infrage stellte.20 Schon im März 1969 war Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt worden und betonte in seiner Amtsantrittsrede den „Ernstfall Frieden“ und die Bedeutung der Friedensforschung, die seiner Meinung nach gefördert werden müsse. Bundeskanzler Brandt kündigte in seiner Regierungserklärung an, er werde die Initiative Heinemanns aufgreifen und die Friedensforschung unterstützen – „ohne die Unabhängigkeit dieser Arbeit zu beeinträchtigen“ –, um „damit einen deutschen Beitrag für die Befriedung der von Krisen und Kriegen zerrissenen Welt [zu] leisten“.21

Tatsächlich wurde 1970 unter der Schirmherrschaft von Heinemann die »Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung« (DGFK) als Institution zur finanziellen Förderung der Friedens- und Konfliktforschung eingerichtet. Dem folgten weitere Institutionalisierungen: 1970 wurde das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt unter von Weizsäckers Leitung in Starnberg eingerichtet, das neben der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK, ebenfalls 1970 gegründet) und dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH, 1971) zu den großen Friedensforschungsinstituten der Bundesrepublik zählte. 1971 gründete der Physiker Georg Zundel die Berghof Stiftung für Konfliktforschung, die mit dem Stiftungsratsvorsitzenden Dieter Senghaas für die Friedensforschung und die Friedenspädagogik zur wichtigsten privaten Fördereinrichtung wurde.

Die DGFK verband nun durch ihre Förderung die unterschiedlichen Strömungen, Disziplinen und ideologischen Ausrichtungen der Friedensforschung. Doch dies konnte über die mit staatlicher Finanzierung der Friedensforschung einhergehenden Herausforderungen nicht hinwegtäuschen. Karl Kaiser, Vorsitzender des zweiten AFK-Vorstandes, hatte zum Thema »Friedensforschung und politische Durchsetzung« bereits Anfang 1970 formuliert: „Friedensforschung ist eine der Durchsetzung des Friedens verpflichtete Wissenschaft. […] Eine Friedensforschung, die sich zum gefügigen Instrument der raison d’etat eines Nationalstaats machen lässt, ist ein Widerspruch in sich. Friedensforschung braucht, gerade weil sie in der Nähe der Politik operiert, eine kritische Distanz.“22 Und 1971 wurde bei einer wissenschaftlichen Tagung »Zum Stand kritischer Friedensforschung« eine »Erklärung zur Friedenforschung« angenommen, die sich intensiv mit der politischen Umsetzung der Forschungsergebnisse beschäftigte: „Kritische Friedensforscher lehnen eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung ab. Indem sie helfen, politische Apathie zu überwinden, die Fixierung auf Freund-Feind-Bilder abzubauen sowie verdeckte oder ideologisch verschleierte gesellschaftliche Konflikte bewußt zu machen, tragen sie dazu bei, emanzipatorische Lernprozesse in Gang zu setzen und eine nicht manipulierbare, politisch handlungsfähige Öffentlichkeit herzustellen.“23 Doch diese Unabhängigkeit der Forschung und ihre politischen Ansprüche stießen nicht auf uneingeschränkte Zustimmung, gerade bei politischen Akteuren, die sich an der Finanzierung der DGFK beteiligten: 1979 erklärte die Bayerische Staatsregierung ihren Austritt aus der DGFK.

Entwicklung trotz Gegenwind

Der »kurze Sommer« der Institutionalisierung der Friedensforschung endete vorerst 1983 mit der Auflösung der DGFK, welche durch den Mittelentzug Bayerns unabwendbar geworden war. Auffällig für die Entwicklung der Friedensforschung aber ist, dass dieser Wegfall einer zentralen Institution nicht zum Ende der Friedensforschung führte. Hierfür lassen sich verschiedene Gründe erkennen: Eine beträchtliche Zahl von WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen an verschiedenen Orten identifizierte sich inzwischen mit dieser Forschungsrichtung. Sie waren vernetzt (u.a. über die AFK), und zugleich hatten sich zwischenzeitlich mehrere Institute etabliert (FEST, HSFK, IFSH), sodass eine institutionelle Basis vorhanden war. Doch schon in dieser Phase zeigte sich sehr deutlich auch die Prekarität politisch relevanter Forschung: Gelingt keine ausreichende, politisch unabhängige Institutionalisierung, kann die wissenschaftliche Arbeit leicht ins Hintertreffen geraten gegenüber der institutionellen Existenzsicherung und wird davon möglicherweise sogar inhaltlich beeinflusst.

Neben dieser »äußeren« Gefahr lauert aber auch eine »innere«. Als ein politisiertes Forschungsfeld bleibt der Friedensforschung ihre eigene Geschichte immer eingeschrieben. Vielleicht war ja deshalb das Erschrecken der Kernphysiker so groß und entsprechend ihr Engagement in der Friedensforschung, weil es für sie gleichsam einen undenkbaren Fall darstellte, so direkt für die eigene Geschichte verantwortlich gemacht werden zu können. Das stellt sich für die Friedensforschung anders dar, weil sie von Anfang an dezidiert politisch wirksame Forschung sein wollte und immer noch sein will. Doch wie dies im Wandel der Problemstellungen, politischer und gesellschaftlicher Kontexte und institutioneller Rahmenbedingungen gelingen kann, erfordert ständige erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Reflexion sowie eine fortlaufende Rekonstruktion der eigenen Geschichte.

Dazu wollen wir mit diesem Beitrag anregen und zugleich alle FriedensforscherInnen einladen, sich an dieser Rekonstruktion zu beteiligen. Als Kontaktadresse fungiert der Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg, E-mail: LST-weller@phil.uni-augsburg.de.

Anmerkungen

1) Wie sich diese Fragen bearbeiten lassen, ist Gegenstand der Pilotstudie »Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik Deutschland: Entstehung und Entwicklung eines problemorientierten Forschungsfeldes«, die 2014/2015 von der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) gefördert wurde und an der Universität Augsburg durchgeführt wird. Im Zuge dieser Studie wurden u.a. Interviews mit Beteiligten an dieser Anfangsphase der Friedensforschung geführt, Archivarbeiten durchgeführt und schriftliche Dokumente und Materialien analysiert.

2) Die schöne Studie »Geschichte der deutschen Friedensforschung« von Ulrike Wasmuht (1998, Münster: Agenda) behandelt die Zeit bis zum »dritten Richtungsstreit« in der deutschen Friedensforschung Anfang der 1990er Jahre.

3) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

4) Theodor Ebert (1968): Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg i. Br.: Rombach.

5) Zur Zukunftsforschung vgl. Elke Seefried (2015): Zukünfte – Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980. Berlin: de Gruyter Oldenbourg.

6) Auch in anderen Teilen Europas gab es bereits erste Friedensforschungseinrichtungen, wie das 1959 von Johan Galtung gegründete Peace Research Institute Oslo (PRIO) und das 1966 gegründete Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). 1964 gründete der niederländische Rechtswissenschaftler Bert Röling in Groningen die International Peace Research Association (IPRA), in der die deutsche Friedensforschung in den Anfangsjahren von Klaus Gottstein, einem Physiker, vertreten wurde.

7) Karl Kaiser (1970): Friedensforschung in der Bundesrepublik. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

8) Dieter Senghaas (1969): Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt.

9) Vgl. den zentralen Band »Kritische Friedensforschung«, 1971 herausgegeben von Dieter Senghaas (Frankfurt a.M.: Suhrkamp), in dem auch der zunächst 1969 im Journal of Peace Research erschienene Beitrag »Gewalt, Frieden und Friedensforschung« von Johan Galtung in deutscher Sprache veröffentlicht wurde.

10) Vgl. z.B. Erhard Forndran (1971): Abrüstungund Friedensforschung. Kritik an E. Krippendorff, D. Senghaas und Th. Ebert. Düsseldorf: Bertelsmann-Universitätsverlag; oder Gerhard Wettig: MBFR: Motor der Aufrüstung oder Instrument der Friedenssicherung? Aus Politik und Zeitgeschichte B 24/73.

11) FEST: Historie; fest-heidelberg.de.

12) Georg Picht (1980/81): Hier und Jetzt – Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima. Stuttgart: Klett-Cotta.

13) Belege in: Archivquellen Institut für Zeitgeschichte München (Dok. ED 702/100).

14) VDW: Geschichte und Ziele; vdw-ev.de.

15) Belege in: Archivquellen Institut für ZeitgeschichteMünchen (Dok. ED 702/57).

16) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

17) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

18) Dass sowohl die GründerInnen der AFK als auch kurze Zeit später der DGFK die Selbstbezeichnung »Friedensund Konfliktforschung« wählten, kann als Teil der politischen Integrationsbemühungen in einem heterogenen Feld gesehen werden.

19) Vgl. Ulrike C. Wasmuht (1998): Geschichte der deutschen Friedensforschung. Münster: Agenda, S.165ff.

20) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

21) Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag in Bonn am 28. Oktober 1969.

22) Karl Kaiser (1970), op. cit., S.52 und 55.

23) Veröffentlicht in: Dieter Senghaas (Hrsg.) (1971): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S.417.

Lisa Bogerts ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Stefan Böschen ist Senior Research Scientist am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT, seit 2014 Co-Leiter des Forschungsbereichs »Wissensgesellschaft und Wissenspolitik« des ITAS. Christoph Weller leitet den Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg und ist Mitglied des Vorstands der AFK. Die AutorInnen arbeiten gemeinsam in der DSF-Pilotstudie »Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik Deutschland: Entstehung und Entwicklung eines problemorientierten Forschungsfeldes«.

Ein bisschen Frieden?

Ein bisschen Frieden?

Bestandsaufnahme zur Friedensforschung in Deutschland und den USA

von Volker Franke und Lina Tuschling

Aus der Innen-Perspektive erscheinen die gewohnten Strukturen und Inhalte eines Feldes oft selbstverständlich und alternativlos. Dies mag auch für unsere Sicht auf die deutsche Friedensforschung zutreffen, so dass Besonderheiten, durch die sie sich von der Friedensforschung in anderen Ländern unterscheidet, möglicherweise zu wenig Beachtung erfahren. Diesem Manko versucht der folgende Artikel mit einem Vergleich aus Sicht der US-amerikanischen Friedensforschung abzuhelfen. Die beiden AutorInnen nehmen dabei eine informierte Außen-Perspektive ein: Beide sind als ForscherInnen in den USA verankert, haben aber im Laufe von Studium bzw. wissenschaftlicher Arbeit Erfahrungen in der deutschen Friedensforschung gesammelt.

Friedensforschung wird häufig als der Teil der Konfliktforschung eingestuft, der die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden analysiert. Dazu werden die unterschiedlichen Interessen, Bedürfnisse und Forderungen der involvierten Staaten, Gruppen oder Individuen gegeneinander abgewogen und politische Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, die einen nachhaltigen Frieden, den Schutz von Menschenrechten und manchmal auch die Überwindung von Unterentwicklung ermöglichen. Dieser Einstufung liegt jedoch die Annahme zugrunde, dass Unfrieden – im extremsten Falle Krieg – die Norm, Frieden hingegen die Ausnahme ist. Denn sonst wäre ja umgekehrt die Konfliktforschung Teil der Friedensforschung. Friedensforschung wird in der Regel interdisziplinär und handlungsorientiert betrieben, z.B. von Historikern, Anthropologen, Soziologen, Psychologen, Politologen , Wirtschaftswissenschaftlern und/oder Naturwissenschaftlern, um der Forderung nach Frieden nicht nur akademisch, sondern auch pragmatisch und praxisrelevant gerecht werden zu können.

Vor über 40 Jahren konstatierte der SPIEGEL (1972), „daß die deutsche Friedensforschung trotz erheblicher Anstrengungen […] noch immer den internationalen Standard nicht erreicht hat. Zumal die amerikanische Friedensforschung ist der deutschen weit voraus. nicht zuletzt wegen der in den USA bevorzugten analytischen Methoden.“ [sic!] Wie sieht es mit dieser recht düsteren Einschätzung heute aus, da die deutsche Friedensforschung ihren Kinderschuhen entwachsen sein sollte? Dieser Frage beabsichtigen wir im Folgenden nachzugehen. Dabei werden wir Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Friedensforschung in Deutschland und in den USA aufzeigen sowie Hinweise für die Weiterentwicklung der Friedenswissenschaften generell, speziell aber in Deutschland geben.

Friedensforschung oder Sicherheitsstudien?

Wie wir »Frieden« wissenschaftlich konzipieren, hängt großenteils davon ab, welchen Stellenwert Sicherheitsdenken einnimmt. Um die Friedensforschung in Deutschland und den USA vergleichend analysieren zu können, ist daher vorab eine Abgrenzung der verwandten Felder Friedens- und Konfliktforschung und Sicherheitsstudien angebracht.

Friedensforschung zielt auf einen positiven Frieden, was nach Galtung (1971) nicht nur die Abwesenheit von Krieg an sich, sondern auch von direkter und struktureller Gewalt bedeutet. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise in den wissenschaftlichen Ansätzen des Liberalen Idealismus oder des Konstruktivismus die systematische Analyse von Konflikten auch Variablen wie Kultur, Identität und Religion mitberücksichtigt. Sicherheitsstudien (security studies) bedienen sich typischerweise der einen oder anderen Variante der realistischen Theorie der Internationaler Beziehungen und ihrer gedanklichen Ableger (z.B. Institutionalismus). Sie nehmen daher standardmäßig die Sicht eines spezifischen Akteurs ein, zumeist die des Staates. Dies führt nicht nur zu unzureichenden Analysen und reduktionistischen Handlungsempfehlungen. Es entspricht auch immer weniger einer sich zunehmend diversifizierenden weltpolitischen Sicherheitslage, die in wachsendem Maße von Individuen, Nichtregierungsorganisationen sowie nicht-staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren geprägt wird.

Da staatliche Entscheidungen zumeist reaktiv sind, d.h. in der Regel auf vorangegangene Ereignisse antworten oder ähnlichen Auswirkungen zukünftig präventiv vorbeugen wollen, basieren Entscheidungsprozesse fast zwangsläufig auf dem Streben nach einem negativen Frieden. Dieser Tatbestand spiegelt sich in der Finanzierung friedenswissenschaftlicher Studien wieder. In Deutschland, wesentlich mehr noch als in den USA, sind die Regierung selbst oder regierungsnahe Institutionen typische Auftrag- und Arbeitgeber für friedens- bzw. sicherheitsrelevante Studien. Dies erklärt sicherlich zum Teil, warum viele Studien den Erhalt oder die Herbeiführung von negativem Frieden – auch unter Einsatz militärischer Mittel, jedenfalls aber mit dem Staat als primärem Handlungsträger – in den Mittelpunkt rücken. Dies spiegelt sich nicht nur in den Themen der »Friedensgutachten« der letzten Jahre wider, sondern auch in den aktuellen Forschungsprogrammen, beispielsweise der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung oder des German Institute for Global and Area Studies in Hamburg.

Während in Deutschland Friedens- und Sicherheitsforschung dennoch recht eng miteinander verwoben sind, wie die Beispiele des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg oder des Internationalen Konversionszentrums in Bonn zeigen, sind beide Bereiche in den USA traditionell stärker getrennt. Dies lässt sich zum einen auf die Schwerpunktsetzung während des Kalten Krieges zurückführen, waren damals doch die Aufgabenbereiche der beiden Felder deutlich unterschiedlich definiert: Sicherheitsforschung beschäftigte sich fast ausschließlich mit militärischen Überlegungen und der Messung von Waffenkapazitäten, während die Friedensforschung auf Dialog und Diplomatie sowie auf den Versuch ausgerichtet war, über die Mitgliedschaft der staatlichen Konfliktparteien in internationalen Regimen Frieden zu institutionalisieren. Obgleich deutsche Forschungseinrichtungen traditionell beide Ansätze voranzutreiben suchen – vielleicht auch, weil man wegen der besseren Finanzierungsmöglichkeiten von sicherheitspolitischen Studien Friedensforschung oft nur als Nebenprodukt »mitbetreiben« kann –, stehen in Deutschland sicherheitspolitische Forschungsansätze oftmals im Vordergrund.

In den USA ist die Diversität an privaten sicherheits- und friedenspolitischen Zentren sowie Studienprogrammen deutlich größer. Die traditionelle Friedensforschung hat hier ihren Ursprung im nichtstaatlichen Bereich und ist insbesondere an kirchennahen und privaten Universitäten und Colleges angesiedelt, wie am Kroc Institute for International Peace Studies an der katholischen Notre Dame University, dem Center for Justice and Peacebuilding der Eastern Mennonite University, dem Program for the Advancement of Research on Conflict and Collaboration der privaten Syracuse University oder auf Bachelor-Ebene dem Baker Institute for Peace & Conflict Studies am Juniata College in Pennsylvania. Neben theologischen und philosophischen Aspekten werden in diesen Einrichtungen u.a. auch die Möglichkeiten gewaltlosen sozialen und politischen Wandels und strategische Friedensprozessarbeit wissenschaftlich analysiert. Gleichzeitig bringen diese Einrichtungen ihre Forschungsergebnisse unter anwendungsorientierten Gesichtspunkten in eine praxisrelevante Ausbildung ein.

In Deutschland widmen sich zwei kirchennahe Einrichtungen, nämlich das Institut für Theologie und Frieden und die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, speziell der Friedensforschung. Des Weiteren gibt es neben etablierten friedensorientierten Masterstudiengängen in Darmstadt/Frankfurt, Hamburg, Magdeburg, Marburg und Tübingen zwar an diversen Forschungseinrichtungen und Universitäten die Möglichkeit zur Promotion, jedoch nicht wie in den USA strukturierte Doktoranten-Programme. Der friedenswissenschaftliche Nachwuchs in Deutschland hat es also wesentlich schwerer. Dies gilt sowohl im Hinblick auf akademische Interdisziplinarität als auch bezüglich der finanziellen Unterstützung. Ein interdisziplinäres und anwendungsorientiertes Doktorandenprogramm, wie etwa International Conflict Management an der Kennesaw State University, sucht man in Deutschland vergeblich.

Konvergenz der beiden Forschungsfelder

Mit dem Ende des Kalten Krieges und einer zunehmenden Fokussierung auf nachhaltige friedensschaffende Maßnahmen nach Bürgerkriegen und internen Gewaltkonflikten verwischte die Abgrenzung zwischen Friedens- und Sicherheitsforschung auch in den USA. Die beiden Bereiche wurden um neue, praxisorientierte Felder, wie Conflict Management und Conflict Resolution, ergänzt. Trotz der immer deutlicher werdenden Notwendigkeit, nachhaltige Lösungen durch umfassende Friedensarbeit zu finden, bleibt die Annäherung der beiden Felder jedoch ein langwieriger und schwieriger Prozess. Die Kluft zwischen Friedensforschung und Sicherheitsstudien ist weiterhin größer als in Deutschland; so gibt es z.B. zwischen den Sektionen für Peace Studies und für Security Studies der International Studies Association nur wenig Überschneidungen. Obgleich beide Bereiche ein gemeinsames intellektuelles Interesse verfolgen sollten, nämlich Konzepte zur Herbeiführung nachhaltigen Friedens zu entwickeln, besteht hier erstaunlich wenig Kommunikation, geschweige denn Zusammenarbeit. Wie sollen denn Lösungen für positiven Frieden erarbeitet werden, wenn noch nicht einmal diejenigen, die über solche Lösungen nachdenken, miteinander kommunizieren? Hier sind die Forscher in Deutschland ihren amerikanischen Kollegen um einiges voraus.

Ein Blick in das jährlich von fünf deutschen Friedensforschungsinstituten herausgegebene »Friedensgutachten« verdeutlicht das enge Verhältnis zwischen Friedensforschung und Sicherheitsstudien in Deutschland. Das »Friedensgutachten 2015« beispielsweise geht der Frage nach, wie eine verantwortungsbewusste deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die dem Frieden dient, mit Blick auf gegenwärtige Krisen und Kriege sowie regionale Herausforderungen (Beispiel Ebola in Westafrika) praktisch und normativ auszugestalten ist. Hier kommen Friedens- und Sicherheitsforscher zusammen, um gemeinsam Strategien für die deutsche Politik auf internationaler Ebene zu diskutieren. Ein solches Zusammentreffen von Experten zu Fragestellungen von militärischen Einsätzen und neuen Sicherheitsbedrohungen, wie dem »Islamischen Staat«, bis hin zu nicht-traditionellen Sicherheitsthemen, wie Geschlechtergerechtigkeit und Entwicklungszusammenarbeit, findet man vereinzelt zwar auch in den USA (bspw. Franke und Dorff 2012 und 2013), allerdings nicht in einem regelmäßigen und institutionell verankerten Rahmen. Wo also in Deutschland bewusst Raum für interdisziplinären Austausch geschaffen wird, trifft man in den USA noch häufig auf getrennte Welten.

Förderung der Friedensforschung

In einem weiteren Aspekt unterscheidet sich die deutsche Friedenswissenschaft deutlich von der US-amerikanischen: in puncto staatlicher und privater Drittmittelförderung. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung stellt zur Finanzierung von Großprojekten bis zu 175.000 Euro und für Kleinprojekte bis zu 20.000 Euro zur Verfügung – bei einer jährlichen Gesamtförderung von deutlich unter einer Million Euro. Hingegen erhielt allein das vom US-Kongress finanzierte Institute of Peace im Jahr 2014 Fördermittel in Höhe von 37 Mio. US$; im Jahr 2015 waren es 35,3 Mio. US$. Das Institut ist in einem brandneuen und architektonisch herausstechenden Nobelbau im Herzen der Hauptstadt Washington angesiedelt und beschäftigt derzeit mehr als 300 Mitarbeiter. Hinzu kommen Think-Tanks wie die Brookings Institution, das Center for Strategic and International Studies oder das Carnegie Endowment for International Peace sowie eine Vielzahl äußerst finanzkräftiger Stiftungen, wie Ford, Mellon, MacArthur oder Gates, die Forschungsprojekte an der Schnittstelle zwischen Frieden, Sicherheit und Entwicklung unterstützen. Von der US-Regierung werden sicherheitsrelevante Forschungsprojekte in deutlich größerem Ausmaß als in Deutschland direkt finanziert. So wurden beispielsweise 2008 vom amerikanischen Verteidigungsministerium im Rahmen seiner »Minerva Initiative« 50 Mio. US$ Fördergelder bereit gestellt, „um dem Verteidigungsministerium zu einem besseren Grundverständnis zu verhelfen, welche sozialen, kulturellen, verhaltensbedingten und politischen Kräfte die Regionen der Welt gestalten, die für die USA von strategischem Interesse sind“ (DoD 2015). Aus diesem Fördertopf wurden bislang mehr als 70 vorwiegend zu sicherheitspolitischen Themen arbeitende Forscher unterstützt. Von solchen Fördermitteln wie auch von der Vielfalt förderungswürdiger Themen können deutsche Friedenswissenschaftler nur träumen. Da sind bessere Kommunikation und engere Zusammenarbeit von Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschern nur ein schwacher Trost.

Gemeinsame Friedensthemen

Thematisch nehmen die Herausforderungen für die Friedensforschung an Komplexität zu. Seit Ende des Kalten Krieges wurde der Begriff »Sicherheit« neu definiert und um Schnittstellenbegriffe, wie »Sicherheitssektorreform«, »menschliche Sicherheit« oder »nachhaltige Entwicklung«, erweitert. Sicherheitsstudien beschäftigen sich heute nicht mehr nur mit militärischen Aspekten, sondern auch mit Sachverhalten, die einen positiven Frieden stärken und fordern (Croll und Franke 2007; Debiel und Franke 2008). Menschenrechte sind längst ein wichtiges Thema für Friedens- wie für Sicherheitsforscher. Umweltschutz, Klimawandel oder Ernährungssicherheit sind zu akzeptierten Friedensforschungsbereichen herangereift, ebenso die Rolle von Nichtregierungsorgansiationen und der Wiederaufbau sozialer und politischer Infrastrukturen nach Konflikten.

Dies ist eine logische Folge der Globalisierung, die zur stetigen Verminderung der Souveränität von Staaten und zum zunehmenden Einfluss neuer Akteure führt. Auch stellt die rasende »Überjüngung« der ärmeren Weltgesellschaft ein Entwicklungs- und Sicherheitsproblem mit zunehmender Tragweite dar. In vielen Post-Konfliktländern des Globalen Südens ist knapp die Hälfte der Bevölkerung unter 15 Jahre alt, und das bei noch immer erschreckend niedrigem Bildungs-, Gesundheits- und Einkommensstand (Weltbank 2015). In dieser Dynamik besteht das vielleicht größte Konfliktpotenzial der Zukunft, sowohl in politischer und sozialer Hinsicht als auch im Hinblick auf Ressourcenverteilung und -verwaltung. Gerade hier sind präventive, interdisziplinäre Lösungsansätze gefragt. Hier muss nicht nur im Sinne des negativen Friedens an der Verhinderung der Kriseneskalation gearbeitet werden, sondern Friedens- und Sicherheitsforscher in Deutschland wie in den USA sind gefordert, gemeinsam Ansätze zu erarbeiten, die den Ärmsten und Ausgegrenzten Hoffnung auf ein besseres, friedvolles Leben geben, ganz im Sinne eines von Johan Galtung propagierten positiven Friedens.

Fazit

Wie sieht es also aus mit der Friedensforschung in Deutschland im Vergleich zu den Vereinigten Staaten? Frieden, Sicherheit und Entwicklung gehören zusammen, wenn nachhaltig Konflikte gelöst und friedvolle Strukturen geschaffen werden sollen. Die Bedrohungen für den Frieden sind global, massiv und vielschichtig. Deshalb müssen die Lösungsvorschläge interdisziplinär, unprätentiös und anwendungsorientiert sein. Obwohl Kriesberg bereits 2002 eine Annäherung zwischen Sicherheits- und Friedenswissenschaften forderte, besteht in den USA noch immer eine intellektuelle Kluft zwischen den beiden Feldern, wohingegen sie in Deutschland enger miteinander verwoben sind. Vielleicht liegt dies auch an den weitaus begrenzteren Fördermöglichkeiten und infolgedessen engeren Zusammenarbeit in Deutschland. Allerdings ist die Interdisziplinarität in den USA deutlich ausgeprägter.

Genau in diesem Bereich sollte die deutsche Friedensforschung ihr Potential abrufen und zielgerichtet die nächste Generation von Friedenswissenschaftlern interdisziplinär, praxisbezogen und orientiert am Konzept des positiven Friedens ausbilden. Obgleich sie finanziell keineswegs mit der in den USA Schritt halten kann, besteht ihr »Wettbewerbsvorteil« darin, dass sie Friedens- und Sicherheitsforschung bereits sehr erfolgreich integriert und daher geradezu prädestiniert dazu sein könnte, eine Modellfunktion zur Erarbeitung anwendungsorientierter Lösungsansätze zu übernehmen. Allerdings bedarf es hierzu eines erheblich stärkeren Engagements von Sponsorenseite. Gerade für Grundlagenforschung wird in Deutschland nur relativ selten Geld bereitgestellt, da die Entscheidungsträger hauptsächlich an konkret umsetzbaren Handlungsempfehlungen interessiert sind. Die intensive Forschung, die dafür erforderlich ist, wird allerdings nur in den wenigsten Fällen finanziell gefördert. Dies führt zum einen zu Produkten, denen zu oft der nötige wissenschaftliche Unterbau fehlt, zum anderen zu einer »Inselforschung«, die die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse auf andere Sachverhalte schwierig macht.

Weiterhin entsteht durch die recht geringe Anzahl von Instituten, die sich der Schnittstelle zwischen Friedens-, Sicherheits- und Entwicklungsforschung verschrieben haben, ein elitärer Kreis, der wiederholt und fast automatisch von einem ebenfalls überschaubaren Kreis von Drittmittelgebern gefördert wird. Hier könnte Deutschland von den Vereinigten Staaten lernen und (hoffentlich steigende) Fördermittel diversifizierter verteilen und zugleich neue und innovative Initiativen und Forschungs- sowie Studienprogramme initiieren. Heute, so sollte dieser Beitrag zeigen, ist die deutsche Friedensforschung in einigen Bereichen durchaus wettbewerbsfähig, hinkt in anderen aber noch immer der US-amerikanischen hinterher. Allerdings fällt das Fazit des Vergleichs längst nicht mehr so negativ aus wie 1972 im SPIEGEL beschrieben.

Literatur

H. Peter Croll und Volker Franke. (2007): Globale menschliche Sicherheit – Schnittstellen zwischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. eins – Entwicklungspolitik Information Nord-Süd, Heft 15/16 2007, S.33-37.

Tobias Debiel und Volker Franke (2008): Auf tönernen Füßen? Zur normativen Begründbarkeit menschlicher Sicherheit. In: Cornelia Ulbert und Sascha Werthes (Hrsg.): Menschliche Sicherheit – Globale Herausforderungen und regionale Perspektiven. Baden-Baden: Nomos, S.66-77.

Department of Defence (2015): The Minerva Initiative – Program History & Overview; minerva.dtic.mil.

Volker Franke und Robert H. Dorff (2012): Conflict Management and »Whole of Government« – Useful Tools for U.S. National Security Strategy? Carlisle, PA: U.S. Army War College, Strategic Studies Institute.

Volker Franke und Robert H. Dorff (2013): Conflict Management and Peacebuilding: – Pillars of a new American Grand Strategy? Carlisle, PA: U.S. Army War College, Strategic Studies Institute.

Johan Galtung (1971): A Structural Theory of Imperialism. Journal of Peace Research, Jg. 8, Nr. 2, S.81-117.

Louis Kriesberg (2002): Convergence Between International Security Studies and Peace Studies. In: Michael Brecher und Frank P. Harvey (eds.): Conflict, Security, Foreign Policy, and International Political Economy – Past Paths and Future Directions in International Studies. Ann Arbor: University of Michigan Press, S.584-597.

DER SPIEGEL: Kultur ist gewaltsam. In: Der Spiegel 52/1972, S.97-98.

Weltbank (2015): Populations between 0-14 (% of total); data.worldbank.org.

Dr. Volker Franke ist Professor für Konfliktmanagement an der Kennesaw State University in der Nähe von Atlanta/Georgia, USA. Lina Tuschling ist Doktorandin in International Conflict Management an der Kennesaw State University.

Außenpolitik deutscher Kanzler seit der Einheit

Außenpolitik deutscher Kanzler seit der Einheit

von Stephan Klecha

Das starke Engagement des Bundeskanzlers in der Außenpolitik ist eines der prägenden Merkmale der deutschen Kanzlerdemokratie (Niclauß 2004, S.67ff). Kanzlerdemokratie ist analytisch eng mit dem Amtsverständnis Konrad Adenauers verbunden. Auch wenn sich die Kanzlerdemokratie seither transformiert haben mag, so fällt das besondere außenpolitische Engagement des Kanzlers doch weiterhin auf. Es ist eng mit den zentralen Weichenstellungen deutscher Politik seit der Gründung der Bundesrepublik 1949 verbunden. Die Westbindung nebst NATO-Mitgliedschaft wäre jedenfalls ohne Konrad Adenauer wohl genauso undenkbar gewesen wie die Ostpolitik ohne Willy Brandt wohl kaum zum Signum der sozialliberalen Ära geworden wäre.

Obwohl das Außenministerium seit 1955 von einem eigenen Minister geführt wird und trotz der Tatsache, dass seit 1966 der kleinere Koalitionspartner dieses Amt stets für sich reklamierte und es oftmals bewusst mit der Vizekanzlerschaft verband, besitzt der Bundeskanzler in der Außenpolitik einen beträchtlichen Handlungsspielraum. Seine Richtlinienkompetenz wird im deutschen Verbundföderalismus und im Koalitionsalltag zwar verschiedentlich gebrochen oder begrenzt (Klecha 2012, S.84ff; Klecha 2010, S.42f), auch setzt das erreichte Maß an internationaler Koordination Grenzen; dennoch stellt die Außenpolitik ein genuines Handlungsfeld für jeden Bundeskanzler dar, in dem er erhebliche Spielräume besitzt und in denen er nur begrenzt an die Prärogative der Legislative gebunden ist.

Das Ringen um gesamtdeutsche Souveränität

Was die Bundeskanzler in der Außenpolitik bis 1990 umtrieb, war gleichwohl in zwei zentrale Axiome deutscher Politik insgesamt eingebunden. Die Bundesrepublik war zum einen bis zur Deutschen Einheit nur teilsouverän. Alle Fragen, die Deutschland in Gänze betrafen, standen seinerzeit unter alliiertem Vorbehalt. Mithin war deutsche Außenpolitik immer darauf gerichtet, die Spielräume deutscher Handlungsfähigkeiten zu erweitern. In Anbetracht des Anteils, den Deutschland an der Entfesselung der beiden Weltkriege hatte, schien es zielführend, deutsche Außenpolitik berechenbar werden zu lassen. Die enge Einbindung in den Westen ist Folge dieser Überlegungen und führte am Ende dazu, den „langen Weg nach Westen“ (Winkler 2005) zu beschreiten. Die damit verbundenen Entscheidungen stellten ein Novum in der deutschen Politik dar: Sie brachten es mit sich, dass die Bundesrepublik bewusst ihre Souveränitätsrechte limitierte, um sich überhaupt erst politische Handlungsoptionen zu eröffnen.

Zum anderen vollzog sich deutsche Politik unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Die Bundesrepublik befand sich an der Nahtstelle zwischen Ost und West und sah sich latent durch den Ostblock bedroht. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der Zuordnung des Ostteils des Landes zum sowjetischen Einflussbereich war sie aber auch darauf angewiesen, an der Verständigung mit dem Osten mitzuwirken. Das Ziel der Deutschen Einheit war letztlich nur bei Überwindung des Kalten Krieges zu erreichen und bestimmte entsprechend die deutsche Außenpolitik (siehe bspw. Vorländer 2009, S.121; Wolfrum 2007, S.118).

Die deutsche Außenpolitik zielte also darauf ab, die Selbstbestimmung und Souveränität der Bundesrepublik zu konsolidieren beziehungsweise auszuweiten. Eine hegemoniale Politik war wegen der historischen Erfahrungen und wegen der Dominanz der Supermächte weder wünschenswert noch möglich. Außen- und verteidigungspolitisch war die Bundesrepublik damit ein Randakteur, konnte aber – vielleicht gerade deswegen – ihr ökonomisches Potenzial voll entfalten. Besonders deutlich wurde das Anfang der 1950er Jahre während des Koreakrieges, als die westdeutschen Produktionsreserven das durch die militärischen Ausgaben der USA absorbierte Potenzial teilweise ersetzten.

Die Verknüpfung aus wirtschaftlichen Interessen und einer auf Einbindung gerichteten Außenpolitik wurde besonders bei den europäischen Integrationsbemühungen deutlich, welche 1957 in die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einmündeten.

Als 1990 die alliierten Vorbehalte endeten und die Konfrontation mit dem Osten fürs Erste endete, war die Westbindung gleichsam ein Erfolgsfaktor auf dem Weg zur deutschen Einheit gewesen. Sie wurde daher vonseiten der Bundesrepublik nicht infrage gestellt. Und auch die Sorge vor einem wiedererstarkten Deutschland ließ sich bei den westlichen Alliierten durch die Fortführung der engen Allianz beseitigen. Das beförderte wiederum Vorbehalte auf sowjetischer Seite, und so wurde diese Frage zum zentralen Streitpunkt in den Verhandlungen zur deutschen Einheit (Winkler 2005, S.577ff). Bundeskanzler Helmut Kohl ließ unterdessen keinen Zweifel zu, dass es ein Zurück zur deutschen Pendelposition des 19. Jahrhunderts nicht geben würde, was im Ergebnis auch die sowjetische Seite beruhigte (Klecha 2012, S.163ff).

Die Wechselseitigkeit der Bündnisverpflichtungen

Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes veränderte sich die geopolitische Lage aber auch für die Amerikaner, die ihrerseits nun andere Anforderungen an ihre Bündnispartner stellten. Nachdem die USA bis dahin einen wesentlichen Teil des Verteidigungsaufwands für die westliche Welt getragen hatte, sollte die Konversionsdividende nicht alleine Europa oder gar allein der Bundesrepublik zugute kommen.

Würde der Weltfrieden an einer anderen Stelle der Welt bedroht werden oder würde ein anderer Bündnispartner des Westens in Schwierigkeiten geraten, so würde die Zeit kommen, an der sich die Deutschen revanchieren könnten. Genau dieser Fall trat im Golfkrieg 1991 ein. Truppen mochte Bundeskanzler Helmut Kohl seinerzeit zur Befreiung Kuwaits, die immerhin von den Verteinten Nationen mandatiert war, nicht entsenden, wohl aber wurde ein üppig dotierter Scheck ausgestellt, um die Kriegskosten der Amerikaner zu mindern (Görtemaker 1999, S.783).

Für Kohl spielten dabei drei Aspekte eine Rolle. Erstens musste die Bundesrepublik in der Tat beweisen, dass sie zum Bündnis mit den USA auch dann steht, wenn nicht sie selbst, sondern ein Dritter Profiteur der Strukturen wurde. Zweitens war die Bundeswehr für einen internationalen Konflikt zu diesem Zeitpunkt kaum gerüstet. Sie war bis dahin nur mit der Verteidigung des eigenen Landes betraut. Obendrein waren gemäß der Bedingungen des Zwei-plus-Vier-Vertrags im Zuge der Einheit die Truppenkontingente zu reduzieren, während zugleich Teile der Nationalen Volksarmee der DDR in die Bundeswehr zu integrieren waren. Drittens gab es für Kohl eine biographische Erfahrung, nämlich den Tod seines älteren Bruders im Zweiten Weltkrieg sowie die traumatischen Erfahrungen seines Vaters in den beiden Weltkriegen (Klecha 2012, S.137ff). Insofern lag es im persönlichen Interesse des Kanzlers, Deutschland aus internationalen Konflikten herauszuhalten. Eine reine Stärkung der Diplomatie – an welche die Regierung Kohl zunächst glaubte, weswegen auch aus dem KSZE-Prozess heraus die OSZE gegründet wurde -, stieß Anfang der 1990er Jahre in Europa jedoch an ihre Grenzen und stellte die militärische Absenz infrage. Insbesondere auf dem Balkan wurden in den 1990er Jahren in der Auflösung Jugoslawiens mündende Kriege geführt, die sich mit den tradierten Konfliktlösungsmechanismen nicht beilegen ließen.

Gerade durch diese Konfrontation, begleitet von Vertreibungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sah sich die Bundesrepublik zum Handeln herausgefordert (Pfetsch 2003, S.395). Auch über militärische Optionen zur Beendigung des Jugoslawienkonflikts oder zur Stabilisierung nach einer Befriedung wurde debattiert. In der Bundesrepublik versuchten die Parteien mit unterschiedlichen Akzenten und Haltelinien Bedingungen zu formulieren, unter denen auch der Einsatz der Bundeswehr legitim sein sollte. International stand überdies die Frage im Raum, ob die Deutschen die mit diesen Einsätzen verbundenen Risiken zu tragen bereit wären. Eine historisch durchaus wohlbegründete Zurückhaltung Deutschlands stand dem zunächst entgegen, aber die internationale Arbeitsteilung in der NATO hatte dazu geführt, dass die Deutschen über einige benötigte Spezialqualifikationen verfügten; die Überwachung des Balkanluftraums durch AWACS-Flugzeuge war so ein Bereich. Die Debatte über diesen Einsatz veränderte die Sichtweise auf die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr.

Der Logik folgend, dass Bündnisverpflichtungen wechselseitig gelten, räumten die von Kohl geführten Bundesregierungen Zug um Zug ihre Bereitschaft ein, stärker internationale Verantwortung zu übernehmen. Am Ende dieses fast zehnjährigen Prozesses stand das Mandat zur Intervention im Kosovo, um das 1998 noch die Regierung Kohl den Bundestag ersucht hatte und das die Regierung Schröder dann 1999 exekutierte (Pfetsch 2003, S.384f).

Nutzung der Souveränität

In Kohls Fall schwang stets die Attitüde mit, die Bundesrepublik habe sich demütig um eine Rolle auf der internationalen Eben zu bemühen. Diese Position negierte die Regierung seines Amtsnachfolgers Gerhard Schröder recht entschieden. Die erste Bundesregierung, in der sowohl der Kanzler als auch der Vizekanzler vollständig im Nachkriegsdeutschland sozialisiert worden waren, interpretierte die Möglichkeiten der Souveränität gänzlich anders. Deutschland sollte nicht nur seine wirtschaftliche Rolle ausspielen, sondern auch seine Interessen in anderen Politikfeldern offensiv vertreten (Pfetsch 2003, S.381).

So war die Vertiefung der internationalen Kooperation durchaus selbstverständlicher, aber keineswegs uneigennütziger Bestandteil deutscher Europapolitik (Ostheim 2003; Gareis 2010, S.229). Schröder und Fischer warben vehement für die EU-Osterweiterung, unterstützten Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei und plädierten für eine Reform der Institutionen. Sie zielten in erster Linie darauf ab, die wirtschaftliche Dynamik zu nutzen und zu verstärken, von der Deutschland wie kaum ein zweites Land in der EU profitierte.

Die Motivation zur verstärkten Integration war stark von nationalen Interessen geprägt, selbst dort, wo auf den ersten Blick die Interessen anderer Länder im Vordergrund standen. Deswegen wurde der Start des Euros (als Buchwert 1999, als Bargeld 2002) nicht infrage gestellt, sondern auch für die Länder forciert, die größere Schwierigkeiten hatten, die 1992 vereinbarten Vorgaben des Maastricht-Vertrags zu erfüllen.1 Schließlich sank durch die Euro-Einführung das Zinsniveau in Südeuropa, was die Nachfrage ankurbeln würde, von der letztendlich auch Deutschland profitieren könnte. Damit wurde ein Teil jener Spirale in Gang gesetzt, die gegenwärtig in der Schuldenkrise kulminiert.

Während die wirtschaftlichen Zielsetzungen der EU forciert wurden, gelang es nicht, den Prozess der Europäischen Integration in anderen Punkten substanziell voranzubringen. Die soziale Union blieb im Wesentlichen bei dem stecken, was unter Kommissionspräsident Jacques Delors bis 1994 zur Flankierung des Binnenmarktprozesses auf den Weg gebracht worden war. Die Befriedung des Balkans war ohne die militärische Absicherung durch die Vereinigten Staaten nicht möglich. Die Abstimmungsprozesse innerhalb der EU wurden nicht erst nach dem Beitritt weiterer zehn Länder im Jahr 2004 zäh. Konnte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der sechs Gründungsländer noch mit Einstimmigkeit funktionieren, standen die Reformprozesse der EU in den 2000er Jahren im Spannungsfeld zwischen Demokratisierung und Etablierung von Mehrheitsregularien einerseits und der Bewahrung der staatlichen Souveränität andererseits. Diese Debatte voranzubringen, war ein zentraler Pfeiler der deutschen Europapolitik, die insbesondere Joschka Fischer als Außenminister beförderte (Ostheim 2003, S.369).

Die nordatlantischen Bündnisverpflichtungen belasteten die Arbeit der rot-grünen Regierungskoalition unter Schröder und stellten die Koalition ein ums andere Mal vor die Schwierigkeit, ihre eigene Mehrheitsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Dabei resultierte am Ende genau daraus ein Zugewinn an deutschem Selbstbewusstsein. Die Regierung Schröder demonstrierte ihre Bündnisbereitschaft 1999 mit den Kampfeinsätzen im Kosovo und dem Bekenntnis zur uneingeschränkten Solidarität mit den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001, das in den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr einmündete (Klecha 2012, S.195). Die Bundesrepublik griff nunmehr selbst aktiv mit Truppen ein, soweit sie dazu personell und logistisch in der Lage war. Doch den Zuwachs an Verantwortung deutete die Regierung im Zuge der erneuten Irakkrise in einen Zugewinn an Entscheidungsfreiheit um. Wo weder die NATO noch die Vereinten Nationen zu einer gemeinsamen Position gelangten, entschied die Bundesrepublik vor dem Hintergrund ihrer eigenen Interessen. Entsprechend verweigerte die Bundesregierung den USA die Gefolgschaft, als diese 2003 militärisch im Irak intervenierten, um Saddam Hussein zu stürzen. Man sei zu keinen Abenteuern bereit, formulierte Schröder, der in dieser Frage das Primat des Kanzlers in der Außenpolitik betonte und seine Position 2002 offensiv im Wahlkampf vertrat.

Die volle Souveränität, die Deutschland 1990 erlangt hatte, verstand die Regierung Kohl eher als Bürde, die Regierung Schröder erkannte darin zusätzliche Handlungsoptionen, die auch mit wachsenden Ansprüchen einhergingen. Der zuvor eher zaghaft vorgetragene Wunsch nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat wurde nun mit einiger Verve vorgebracht. In den internationalen Organisationen sollten deutsche Fachleute auf Spitzenpositionen gelangen. Schröders Regierung ging bei der Erreichung solcher Ziele phasenweise mit einer beträchtlichen Härte vor.

Ernüchterte Realpolitik

Während Schröder somit die Veränderungen aus dem Ende des Ost-West-Konflikts beherzt nutzte, um ausgehend von der weiterhin unbestrittenen Westbindung die erweiterten Spielräume zu nutzen, zeichnet sich Angela Merkels Außenpolitik durch ein tentatives Suchen nach Optionen aus. Zwar wird der amtierenden Kanzlerin zugeschrieben, die Dinge von ihrem Ende her zu denken (Roll 2009, S.52), doch ihr Agieren auf dem europäischen wie dem internationalen Parkett ist stark auf kurzzeitige Erfordernisse angelegt.

Dabei hatte Merkel sich in der Rolle der polyglotten – Merkel parliert im Gegensatz zu ihren beiden Vorgängern überaus passabel fremdsprachig – Aktivistin zum Wohle der Menschheit eingeführt. Sie korrigierte zunächst behutsam den von nationalen Interessen geprägten Kurs, den ihr Vorgänger eingeschlagen hatte (Gareis 2010, S.233). Klimaschutz, Frieden, Freiheit oder transatlantische Beziehungen waren die Themen, ehe 2008 das Thema Weltwirtschaft dann alles andere überlagerte und damit in verschiedener Hinsicht eine Wende der Merkelschen Außenpolitik einläutete.

Hatte Merkel bis dahin lange Linien prestigeträchtiger Themen verfolgt, war fortan die Rettung der Weltfinanzordnung das zentrale Thema ihrer Kanzlerschaft. Einen Masterplan gab und gibt es dazu nicht, mithin auch keine erkennbare Konzeption. Merkels Außenpolitik steht vielleicht auch deswegen nicht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition oder zwischen den Regierungsparteien. Eine wirkliche substanzhaltige Kontroverse, gar eine gesellschaftliche Debatte um ihren außenpolitischen Kurs hat es seit ihrem Amtsantritt nie gegeben, wiewohl Merkel die Diskussion um die Militäreinsätze zumindest mit dem »Weißbuch 2006« zu strukturieren versuchte (Gareis 2010, S.239). Darin unterscheidet sich Merkel erkennbar von ihren Vorgängern, die gerade in der Außenpolitik harte Debatten provozierten.

Ein Grund für das erstaunliche Einvernehmen liegt im wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik, der seinerseits Grundlage der Popularität Merkels ist. Die Bundesrepublik hat im Nachgang zur Krise 2008 einige Probleme der Vergangenheit, wie Haushaltsdefizite oder Arbeitslosigkeit, quasi nebenbei vermindern können, während andere Länder mit gravierenden Strukturanpassungen zu kämpfen haben beziehungsweise sich diese in der Folge des deutschen Wachstumsmodell sogar eher verschärften.

An dieser Stelle gereicht Merkel sozusagen zum Problem wie zum Nutzen, was in den 2000er Jahren an institutionellen Reformen in Europa versäumt wurde. Die Bundesrepublik befindet sich in der Rolle der wirtschaftlichen und politischen Zugmaschine Europas. Dies war nicht das originäre Ziel der Politik der drei Kanzler seit 1990, wohl aber ihr Resultat. Kein anderes großes Land in der EU weist derartige Stabilität auf und verfügt über eine derartige ökonomische Potenz. Zugleich gibt es keine Notwendigkeiten für Deutschland, dieses Vermögen in Europa zu kollektivieren. Die Bundesrepublik braucht die anderen Staaten in der EU nicht mehr, um ihre Interessen wirksam durchzusetzen, obgleich sie auf die Europäische Union in wirtschaftlicher Hinsicht ja angewiesen ist. Was bei Schröder noch ein wenig hemdsärmelig als nationales Interesse zur Leitmaxime avancierte, ist bei Merkel eher der Not der Verhältnisse geschuldet. Die EU ist nämlich augenblicklich nicht in der Lage, die verschiedenen Interessen der Einzelstaaten wirksam zu kanalisieren, indem sie diese einer gemeinsamen Leitidee unterordnet. Die Bundesrepublik ist mit der schwindenden Bereitschaft zur weiteren Integration jedenfalls dazu übergegangen, die eigenen Interessen recht prononciert zu vertreten.

Kohl und Schröder hatten ihrerseits verschiedentlich versucht, eine solche Position zu vermeiden. Merkel glaubt offenkundig aber nicht an den Erfolg eines Prozesses der weiteren Integration, nachdem die Verabschiedung einer gemeinsamen europäischen Verfassung gescheitert ist und Vertragsänderungen sich als ausgesprochen schwierig erwiesen haben. Auch die Resultate der gemeinsamen Integrationsbemühungen seit den 2000er Jahren fallen eher dürftig aus: Die Verwerfungen innerhalb der Eurozone zeugen von der missglückten Konvergenz der Volkswirtschaften. Die Krise in der Ukraine zeigt an, dass die europäische Sicherheitsarchitektur der vergangenen 25 Jahre ebenfalls brüchig ist. Der gegenwärtige Flüchtlingsstrom nach Europa schließlich belegt, wie wenig die EU als solidarische Wertegemeinschaft funktioniert. Merkel hat diesbezüglich also Grund, ernüchtert zu sein, was die Handlungsfähigkeit der EU betrifft. Sie sieht die Bundesrepublik daher weder in der Pflicht noch gegenwärtig in der Lage, die europäische Kohäsion voranzubringen, sondern geht eher in Ermangelung anderer plausibler Alternativen dazu über, den eigenen Nutzen zu maximieren.

Vom Souveränitätszuwachs zur politischen Ernüchterung

Deutschlands Bundeskanzler haben nach 1990 den Souveränitätszuwachs in unterschiedlicher Weise genutzt. Kohl musste noch die Wechselseitigkeit der Bündnisverpflichtungen betonen und die Einbindung der Bundesrepublik in die europäischen wie transatlantischen Beziehungen herausstellen. Damit schrieb er die vorherige bundesdeutsche Außenpolitik fort und wollte die Bundesrepublik in Systemen kollektiver Sicherheit und gemeinsamer wirtschaftlicher Verantwortung halten. Dass damit bestimmte Spielräume in die eine oder andere Richtung verbunden waren, wurde erst von der Regierung Schröder umfassend erkannt. Doch auch bei ihm stand die Idee einer partnerschaftlichen, kodifizierten und institutionalisierten Zusammenarbeit über den nationalen Interessen, weil dieses letztlich im nationalen Interesse lag. Das Scheitern einer umfassenden Reform der Institutionen, ja die Krise der internationalen Organisationen bei der Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen hat Merkels Regierungen unabhängig vom jeweiligen Koalitionspartner zu einer außenpolitischen Konzeption veranlasst, die nationalen Maximen folgt, da übergeordnete transnationale Zielperspektiven nicht mehr durchsetzbar erscheinen.

Die fast schon postmoderne Außenpolitik der Regierung Merkel orientiert sich somit vordergründig weiterhin an den Rahmendaten und institutionellen Bedingungen, welche aus den Entscheidungen in der deutschen Außenpolitik bis 1990 resultieren. Dahinter liegt indes ein gewachsenes Funktionsdefizit dieser Institutionen. Für die Bundeskanzlerin ergeben sich dadurch größere Spielräume, die ihre Stellung in der Außenpolitik eher stärken. Anders als in der Vergangenheit sind damit aber bislang keine wesentlichen Richtungsentscheidungen verbunden.

Anmerkung

1) Entgegen späterer Relativierungen sah das seinerzeit auch Oskar Lafontaine so; siehe dazu Oskar Lafontaine und Christa Müller 1998, S.99.

Literatur

Sven Bernhard Gareis (2010): Die Außen- und Sicherheitspolitik der Großen Koalition. In: Sebastian Bukow und Wenke Seemann (Hrsg.): Die Große Koalition. Regierung – Politik – Parteien 2005-2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.228-243.

Manfred Görtemaker (1999): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Von der Gründung bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main/Wien: Büchergilde Gutenberg.

Stephan Klecha (2010): Minderheitsregierungen in Deutschland. Hannover: Friedrich-Ebert-Stiftung – Landesbüro Niedersachsen.

Stephan Klecha (2012): Bundeskanzler in Deutschland – Grundlagen, Funktionen, Typen Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich.

Oskar Lafontaine und Christa Müller (1998): Keine Angst vor Globalisierung – Wohlstand und Arbeit für alle. Bonn.

Karl-Heinz Niclauß (2004): Kanzlerdemokratie – Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder. Paderborn: Schoeningh.

Tobias Ostheim (2003): Praxis und Rhetorik deutscher Außenpolitik. In:Christoph Egle, Tobias Ostheim und Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt – Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2003. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.351-380.

Frank R. Pfetsch (2003): Die rot-grüne Außenpolitik. In: Christoph Egle, Tobias Ostheim und Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt – Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2002. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.381-399.

Evelyn Roll (2009): Die Kanzlerin – Angela Merkels Weg zur Macht, Berlin: Ullstein, 2. Auflage.

Hans Vorländer (2009): Die Geschichte der Bonner Republik – erfolgreich und abgeschlossen? In: Tilman Mayer und Volker Kronenberg (Hrsg.): Streitbar für die Demokratie – »Bonner Perspektiven« der Politischen Wissenschaft und Zeitgeschichte 1959-2009. Bonn: Bouvier, S.113-127.

Heinrich August Winkler (2005): Der lange Weg nach Westen II – Deutsche Geschichte 1933-1990. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Edgar Wolfrum (2007): Die geglückte Demokratie – Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Dr. Stephan Klecha ist Sozialwissenschaftler und Habilitant am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Rüstung für deutsche Weltmachtpolitik

Rüstung für deutsche Weltmachtpolitik

von Michael Gaigalat

Die Jahre zwischen 1890 und 1914 gelten als eine der massivsten Hochrüstungsphasen der deutschen Geschichte. In dieser Zeit wurden die rüstungswirtschaftlichen und waffentechnischen Voraussetzungen geschaffen, die den Ersten Weltkrieg als industrialisierten Krieg erst möglich machten. Großen Anteil an dieser Entwicklung hatte das von den Montankonzernen dominierte rheinisch-westfälische Industriegebiet, das vor dem Ersten Weltkrieg das Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie war. Auch im Ersten Weltkrieg wurde die Rhein-Ruhr-Region ihrem Ruf als Waffenschmiede des Deutschen Reiches mehr als gerecht.

In der rüstungspolitischen Planung des deutschen Reiches spielte lange Zeit eine personell gut ausgestattete Armee die wichtigste Rolle. Wie gut oder schlecht hingegen der Soldat technisch ausgerüstet war, ob er mit veralteten oder modernen Waffen in den Krieg zog, wurde in den Militärreformen bis Anfang der 1890er Jahre weitgehend ignoriert. Dies hatte unterschiedliche Gründe: Zum einen fehlten die finanziellen Mittel, um für die Armee stets die neuesten Waffen im nötigen Umfang zu beschaffen. Zum andern begriff sich das überwiegend aristokratisch geprägte Militär als »Staat im Staat«, der sich gegen die privatwirtschaftlichen Einflüsse der modernen kapitalistischen Gesellschaft abschirmen musste. Demzufolge ließ die preußische Armee bis Ende des 19. Jahrhunderts die laufend benötigten Ersatzbeschaffungen in staatlichen Heereswerkstätten produzieren, die noch überwiegend handwerklich organisiert waren.

Trotz der Bedenken gegen die meist sehr viel leistungsfähigere private Rüstungsindustrie bahnten sich in diesem Zeitraum erste Geschäftsbeziehungen zwischen der Militärverwaltung und einzelnen Firmen an. Gerade aus den von Preußen in den 1860er Jahren geführten Einigungskriegen ergab sich ein deutlich höherer Bedarf an Kriegsmaterial, als die staatlichen Rüstungsbetriebe liefern konnten. Deshalb war die preußische Armee gezwungen, Rüstungsaufträge zunehmend an Privatfirmen zu vergeben, um den außer- und überplanmäßigen Bedarf zu decken. Die kriegsbedingte Nachfrage nach Waffen und Munition stärkte langfristig das Ansehen und das Gewicht der privaten Rüstungsunternehmen, allen voran das der Firma Krupp in Essen.

Noch größer wurde die Bedeutung privater Rüstungsunternehmen für die nationale Waffenproduktion, als der preußische Kriegsminister von Verdy und Reichskanzler Caprivi mit den Militärgesetzen von 1890 und 1893 die preußisch-deutsche Armee materiell deutlich verstärkten. Das Heer wurde stark vergrößert und zugleich mit neuen Waffen ausgestattet. Dies geschah vor dem Hintergrund einer veränderten deutschen Außenpolitik nach der Entlassung Bismarcks. Die neue Reichsregierung war nicht mehr an der bisherigen Stabilisierungspolitik bismarckscher Prägung interessiert, sondern ging zu den europäischen Nachbarn auf Konfrontationskurs.

Neue Waffentechnologie, Kaiser und Krupp

Neben diesen politisch-militärischen Motiven gaben grundlegende Neuerungen in der Waffentechnologie den Ausschlag für eine rüstungspolitische Neuorientierung. Von herausragender Bedeutung war das praktisch rauchfreie Nitrocellulosepulver, welches das Schwarzpulver ablöste und die Wirkung von Geschossen enorm steigerte. 1891 brachte die Firma Krupp das Nickelstahlrohr für Geschütze auf den Markt; erst dieser neue Stahl war zäh und fest genug, den Druck des wirksameren Nitropulvers auszuhalten.

Infolge dieser Veränderungen wurden private Unternehmen allmählich stärker in das laufende Rüstungsgeschäft eingebunden und zu festen Partnern der Militärbürokratie. Bis zur Jahrhundertwende konnte die Privatindustrie ihren Anteil an der gesamten Heeresrüstung derart steigern, dass sie um 1900 erstmals mehr produzierte als die staatlichen Heereswerkstätten. Auch wenn viele Militärs noch immer die Verlagerung der Rüstungsproduktion in den privatwirtschaftlichen Sektor missbilligten, war ihnen doch bewusst, dass allein der industrielle Großbetrieb in der Lage war, die rasante waffentechnologische Entwicklung im großen Stil produktionstechnisch umzusetzen.

Von der rüstungspolitischen Wende Anfang der 1890er Jahre profitierte vor allem die Firma Krupp in Essen. Schon in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten hatte sie sich stets als verlässlicher Rüstungspartner des Deutschen Reiches erwiesen, wenn die staatlichen Heereswerkstätten mit der Waffen- und Munitionsproduktion nicht nachkamen. Trotz der schwankenden Nachfrage hatte sich bereits unter der Ägide von Alfred Krupp eine Art politisch-industrielle Symbiose zwischen der Essener Gussstahlfabrik, dem Kaiser und den Militärbehörden herausgebildet.

Die Firma Krupp genoss das besondere Wohlwollen des Kaisers, der von der Qualität des kruppschen Kanonenstahls fest überzeugt war. Gleichgültig, ob es um Geschützbestellungen, Artillerievorführungen oder finanzielle Probleme ging, Krupp konnte jederzeit auf die Fürsprache des Monarchen hoffen. In finanziellen Nöten forderten Alfred Krupp und seine Nachfolger selbstbewusst ihr Recht auf gewaltige staatliche Finanzspritzen ein. Im Gegenzug rühmte sich die Firma Krupp, stets im vaterländischen Interesse zu handeln und dem Deutschen Reich die modernsten Waffen zu liefern.

Vor allem Alfred Krupps Sohn, Friedrich Alfred Krupp, wusste gut auf der Klaviatur persönlicher Beziehungen zum Kaiser und zu hohen Militärs zu spielen. Die neue Anforderung an die Firma Krupp, künftig regelmäßig für das Um- und Aufrüstungsprogramm der preußischen Armee zu produzieren, machte Krupp für das Deutsche Reich unentbehrlich. Dies bedeutet aber nicht, dass es sich nach 1890 um eine konfliktfreie Partnerschaft zwischen Staat und Militär sowie Krupp gehandelt hätte. Streitpunkte gab es viele: Krupps Exklusivanspruch als alleiniger Geschützhersteller und die entsprechend hohen Preise für Waffen wurden immer wieder öffentlich kritisiert.

Das persönliche Verhältnis zwischen Friedrich A. Krupp und Kaiser Wilhelm II., das den Geschäftsbeziehungen zwischen dem Essener Unternehmen und dem Deutschen Reich eine besondere Qualität verlieh, war der Grund dafür, dass Krupp bis etwa zur Jahrhundertwende unliebsame Konkurrenten vom nationalen Rüstungsmarkt fernhalten konnte. Dies änderte sich mit dem Aufstieg der Firma Rheinische Metallwaaren- und Maschinenfabrik-Actiengesellschaft, kurz Rheinmetall, die 1889 von dem Ingenieur Heinrich Ehrhardt in Düsseldorf gegründet worden war und binnen weniger Jahre Krupp im Geschützbau technologisch überholte. Ihre Gründung verdankte sie einem staatlichen Geschossauftrag. Wenig später produzierte das junge Unternehmen mit großem Erfolg Stahlhüllen für das Feldschrapnell C/91, die nach dem patentierten ehrhardtschen Press- und Ziehverfahren als nahtlose Hohlkörper hergestellt wurden.

In direkte Konkurrenz zu Krupp trat Rheinmetall mit der Entwicklung des Rohrrücklaufgeschützes. Dieser damals modernste Typ eines Schnellfeuergeschützes war den kruppschen Geschützen deutlich überlegen. Mit der hydropneumatischen Brems- und Vorholvorrichtung für das Geschützrohr sprang das Geschütz nicht mehr wie früher durch den Rückstoß zurück, sondern blieb beim Abschuss ruhig stehen. Damit entfiel das ständige Neuausrichten des Geschützes, und die Feuergeschwindigkeit stieg erheblich.

Trotz dieses waffentechnischen Quantensprungs entschied sich die deutsche Militärverwaltung 1896 für die Einführung des Federsporngeschützes kruppscher Bauart: ein Geschütz, in dem das Rohr nach wie vor starr in der Lafette gelagert war, und das sich trotz eines ausklappbaren Sporns am hinteren Ende des Lafettenschwanzes bei jedem Schuss aufbäumte und aus der Richtung geriet. Aufgrund der engen Geschäftsbeziehungen mit Krupp lehnten die deutschen Militärbehörden die Beschaffung des ehrhardtschen Rohrrücklaufgeschützes zunächst noch ab. Im Ausland aber konnte Rheinmetall seine neuartigen Feldgeschütze in großer Zahl verkaufen. Unterdessen arbeitete auch die Firma Krupp an der Entwicklung von Feldkanonen mit langem Rohrrücklauf und bot ab 1902 solche Geschütze an. Das Deutsche Reich kaufte bei der nächsten großen Heeresumrüstung 1905 Geschütze mit hydraulischer Rücklaufbremse zu gleichen Teilen in Essen und Düsseldorf. Den Markt für leichte und mittlere Artilleriewaffen mussten sich die beiden Konkurrenten künftig teilen. Nur die schwere Artillerie blieb weiterhin eine Domäne der Essener Waffenschmiede.

Die meisten Waffengeschäfte wurden auch damals schon auf dem internationalen Markt getätigt. Selbst Krupp verdiente sein Geld vor allem mit Exportgeschäften. Von 1875 bi 1891 setzte Krupp nur 18 Prozent seiner Rüstungsproduktion im Inland ab, 82 Prozent waren Bestellungen ausländischer Militärverwaltungen. Nur durch diese Aufträge gelang es, die vorhandenen Produktionsanlagen voll auszulasten, da der eigene Staat häufig zu wenig Kriegsmaterial orderte. Das Deutsche Reich wiederum duldete die Ausfuhr von Waffen, um die Leistungsfähigkeit der privaten Rüstungsindustrie zu erhalten und die waffentechnische Entwicklung zu fördern.

Trotz seiner großen Bedeutung für den nationalen und internationalen Waffenmarkt war Krupp – anders als die englischen und französischen Hersteller Vickers, Armstrong und Schneider-Creusot – nie ein reiner Rüstungskonzern. Außer in Hochrüstungsjahren machte die Herstellung von Kriegsmaterial bei Krupp in aller Regel nicht mehr als 40 Prozent des Gesamtumsatzes aus.

»Krieg der Fabriken« – der industrialisierte Krieg

„Das ist das Material. […] Ja, dort hinten wird es gefügt und geschmiedet in den peinlich geregelten Arbeitsgängen einer riesenhaften Produktion, und dann rollt es auf den großen Verkehrswegen an die Front als eine Summe von Leistung, als gespeicherte Kraft, die sich vernichtend gegen den Menschen entlädt. Die Schlacht ist ein furchtbares Messen der Industrien und der Sieg der Erfolg einer Konkurrenz, die schneller und rücksichtsloser zu arbeiten versteht. Hier deckt das Zeitalter, aus dem wir stammen, seine Karten auf.“ 1

Was Ernst Jünger nach dem Ersten Weltkrieg beschrieb, war der »Krieg der Fabriken«, in dem sich Produktionsanlagen in Kampfstätten verwandelt hatten. Sowohl die Zunahme technisch hoch entwickelter Waffen als auch die großindustriellen Produktionsbedingungen hatten diese Entwicklung stark befördert. Über Sieg und Niederlage entschied zunehmend eine gut funktionierende »Kriegsmaschinerie«.

Dieses sich gegenseitig bedingende Verhältnis von technischem Fortschritt und Kriegführung hatten im August 1914 weder die deutschen Politiker und Militärs noch die Industriellen in seiner vollen Tragweite erkannt. In der Überzeugung eines schnellen deutschen Sieges wurde ein kurzer, rein militärisch geführter Krieg erwartet. Von vornherein schloss die deutsche Reichsführung die Möglichkeit eines lang anhaltenden Wirtschaftskrieges ebenso aus wie eine auf den Bedarf von Materialschlachten ausgerichtete Kriegswirtschaft. Die Mobilmachungspläne sahen lediglich vor, dass die private Rüstungsindustrie die Ausrüstung des planmäßig auszuhebenden Kriegsheeres sicherstellen sollte. Daher war nur ein auf wenige Wochen berechneter Vorrat für den Nachschub an Waffen und Munition angelegt worden. Infolgedessen griff der Staat nach Kriegsbeginn zunächst auch nur in geringem Maße in die bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse und Strukturen ein. Die Reichsregierung verzichtete auf staatsdirigistische Maßnahmen, fest davon überzeugt, die deutsche Friedenswirtschaft sei leistungsfähig genug, sich den Erfordernissen des Krieges anzupassen.

Doch bereits mit der Marneschlacht im Herbst 1914 wurde offenkundig, dass der Krieg nicht nur wenigen Wochen dauern würde. Der Einsatz der vor 1914 neu entwickelten, modernen Vernichtungswaffen ließ die Fronten schnell erstarren. Der Stellungs- und Grabenkrieg, der von nun an das Kampfgeschehen beherrschte, verlangte ständig und massenhaft nach neuen Waffen und vor allem nach neuer Munition. Binnen weniger Wochen wurden die etablierten und bedeutenden Rüstungsfirmen, allen voran Krupp und Rheinmetall, zu reinen »Weltkriegs«-Konzernen umgewandelt. In der Essener Gussstahlfabrik wurden die ohnehin schon sehr großen Werkstätten für Kriegsmaterial auf das Zweieinhalbfache ausgebaut. Krupp lieferte während des Ersten Weltkriegs etwa ein Drittel aller in Deutschland hergestellten Geschütze und zehn Prozent der Munition.

Da selbst Rüstungsfirmen wie Krupp und Rheinmetall nicht einmal unter äußerster Anspannung ihrer Produktionskapazitäten den notwendigen Nachschub an Waffen und Munition sicherstellen konnten, leisteten nach und nach die meisten schwerindustriellen Unternehmen in der Rhein-Ruhr-Region ihren Beitrag zum Krieg. So stellte einer der größten Montankonzerne jener Jahre, die Gutehoffnungshütte in Oberhausen, ihre zivile Produktion ab Ende 1914 teilweise auf die Fertigung von Kriegsmaterial um.

Dahinter steckte freilich mehr als das gerne öffentlich zur Schau gestellte Bekenntnis, ganz im Sinne des vaterländischen Interesses zu handeln. Spätestens seit der Jahrhundertwende hatten führende Ruhrindustrielle Pläne entwickelt, den europäischen Wirtschaftsraum neu zu ordnen. Nach Kriegsbeginn sahen sie sich dem Ziel ein Stück näher, ihre handfesten ökonomischen Interessen an neuen Rohstoffbasen und Absatzmärkten auch gewaltsam durchsetzen zu können. In mehreren Denkschriften formulierten vor allem die Industriellen an Rhein und Ruhr weitreichende Gebietsansprüche: ganz Belgien, im Westen das gesamte lothringische Eisenerzbecken und im Osten Polen und die baltischen Staaten. Russland sollte politisch und wirtschaftlich dauerhaft geschwächt werden. Und schließlich machten die wirtschaftlichen »Allmachtsphantasien« der Ruhrindustriellen auch nicht vor Teilen des kolonialen Afrikas halt.

Der Kriegsverlauf ließ solche imperialen Träume in weite Ferne rücken. Die großen Materialschlachten des Sommers 1916 in Verdun und an der Somme hatten in aller Schärfe gezeigt, dass dieser Krieg nur noch mit Hilfe einer nationalen, die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft erfassenden Rüstungsproduktion zu gewinnen war. Anders formuliert: Die Bedingungen des »neuen«, materialintensiven Maschinenkrieges, wie er sich seit Ende 1914 herausgebildet hatte, erforderten ein gewaltig gesteigertes Beschaffungsprogramm für Munition und Waffen und erzwangen eine bis dahin unbekannte Industrialisierung der Kriegführung.

Um die Pattsituation auf dem Schlachtfeld doch noch siegreich zu überwinden, stellte die Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff im September 1916 ein ehrgeiziges Waffen- und Munitionsprogramm auf, das so genannte Hindenburg-Programm. In enger Zusammenarbeit mit Vertretern der Eisen- und Stahlindustrie entstanden, sah das Programm vor, die Produktion von Munition und Minenwerfern in einem halben Jahr – rechtzeitig zur nächsten Frühjahrsoffensive – zu verdoppeln, diejenige von Geschützen und Maschinengewehren gar zu verdreifachen. Unter diesem Druck einer materialintensiven Kriegführung stellte die rheinisch-westfälische Eisen- und Stahlindustrie ihre Produktionsanlagen nahezu vollständig auf die Herstellung von »hartem« Kriegsmaterial um und teilte sich fortan den heimischen Rüstungsmarkt mit den bis dahin privilegierten Rüstungsfirmen. So errichtete beispielsweise die August Thyssen AG Ende 1916 eine eigene Geschossfabrik und begann neben der Kohle- und Stahlproduktion mit der Herstellung von Waffen und Munition.

Die Bereitschaft der Eisen- und Stahlunternehmen an Rhein und Ruhr, ihre Produktionsanlagen für die Herstellung von Rüstungsgütern umzustellen, hatte jedoch ihren Preis. Sie beanspruchten und erhielten schließlich auch die privatwirtschaftliche Kontrolle über die Kriegsproduktion, und dies trotz des Anspruchs der verschiedenen Kriegswirtschaftsorganisationen, von staatlicher Seite lenkend einzugreifen. Dafür sicherte die Industrie dem Generalstab zu, soviel Kriegsmaterial wie irgend möglich herzustellen und zu liefern. So löste die kriegsbedingte Aufrüstung eine Hochkonjunktur aus und sorgte bei den Unternehmen für hohe Kriegsgewinne. Diese investierten sie in die Modernisierung und den Ausbau ihrer Betriebe, um ihre wirtschaftliche Ausgangslage nach dem Krieg zu verbessern.

Anmerkungen

1) Ernst Jünger (1925/1978-1983): Feuer und Blut – Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht. Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung, Sämtliche Werke in 18 Bänden, ergänzt durch vier Supplement-Bände; hier Band 1, S . 449.

Literatur

Heinz-J. Bontrup und Norbert Zdrowomyslaw (1988): Die deutsche Rüstungsindustrie – Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Ein Handbuch. Heilbronn: Distel Literaturverlag.

Günter Bouwer (1985): Rüstungsproduktion und Rüstungskonversion in Deutschland, 1883–1956. In: Reiner Steinweg (Red.): Rüstung und Soziale Sicherheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Friedensanalysen Bd. 20, S.193-226.

Gerald D. Feldman (1985): Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Berlin: J.H.W. Dietz Nachf.

Michael Geyer (1984): Deutsche Rüstungspolitik 1860-1980. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Zdençk Jindra (1986): Der Rüstungskonzern Fried. Krupp AG – Die Kriegsmateriallieferungen für das deutsche Heer und die deutsche Marine. Prag: Univerzita Karlova Praha.

Stefanie van de Kerkhof (2006): Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft – Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Essen: Klartext.

Joachim Schaier und Daniel Stemmrich (Red.) (1997): Schwerindustrie. Ausstellungskatalog. Essen: Landschaftsverband Rheinland, Rheinisches Industriemuseum Oberhausen Schriften Bd. 13.

Michael Gaigalat leitet die Abteilung Sammlungsdienste im LVR-Industriemuseum des Landschaftsverbandes Rheinland in Oberhausen.

Frauen in Krieg und Frieden 15-45-15

Frauen in Krieg und Frieden 15-45-15

Ausstellung im Frauenmuseum Bonn

von Heide Schütz

Mit seiner aktuellen Ausstellung, die noch bis Anfang November läuft, unternimmt das Frauenmuseum den Versuch, darzustellen, dass Krieg genauso Sache der Frauen wie der Männer ist, und so das gängige Geschichtsbild zu korrigieren.

100 Jahre Beginn des Ersten Weltkriegs – dieses Momentum nutzten im Jahr 2014 viele Museen, um Rückschau zu halten, seien es kleine Stadtmuseen oder die großen Ausstellungshallen der Bundesrepublik. Im Zentrum standen eindeutig die Männer. Nun gibt es die komplementäre Ausstellung mit dem Fokus auf die Frauen, denn „das komplexe Leben der Frauen im Krieg blieb auf der Strecke, und die Männer unter sich, – auch 2015“ (Vorwort zum Katalog, Marinanne Pitzen).

Mit der Ausstellung »Frauen in Krieg und Frieden 15-45-15. Geschichte, Dokumente, zeitgenössische Kunst« ist es dem Frauenmuseum Bonn (das den Untertitel »Kunst, Kultur, Forschung« trägt) gelungen, die andere, sehr komplexe Realität der Frauen in verschiedenen Kriegen, nicht nur im Ersten Weltkrieg, dem »Großen Krieg», als Korrektur des gängigen Geschichtsbildes zu zeigen. Einbezogen werden also auch der Zweite Weltkrieg, dessen Ende sich in diesem Jahr zum 70. Male jährt, und die Kriege der heutigen Zeit, die von 2015.

Auf zwei weitläufigen Ebenen breiten sich in ungeheurer Fülle die Exponate und Beiträge aus, wie immer eine gelungene Mischung aus historischer Recherche, Dokumentation von in der Öffentlichkeit weithin unbekannten Tatsachen und Zusammenhängen sowie künstlerischer Umsetzung Hier hängt nicht Bild an Bild, wie gemeinhin üblich. 55 Künstlerinnen gestalteten das Thema auf ihre eigene, sehr individuelle Weise mit unterschiedlichsten Materialien und Installationen. Dabei floss z.T. ihre Familiengeschichte mit ein.

Dargestellt wird aber auch die Anonymität des Todes im Krieg, so in der Installation »Momento Mori« von Tina Schwichtenberg: 60 liegende Skulpturen, mit Leintüchern umhüllt, mit Knochenleim getränkt, verändern ihre Form und Farbe, werden zu Mumien und sind Abbild aller Opfer von Kriegen und Gewalt, Aufschrei und Trauer zugleich. Ein Ausrutscher dagegen die Bildinstallation von Erika Johanna Lomberg mit dem Titel »Die dicke Bertha«. Gemeint und dargestellt sind Bertha Krupp, die nach ihr »Dicke Bertha« genannte Kanone aus dem Hause Krupp und Bertha von Suttner. Die abstruse Namenskombination ist m.E. total misslungen, zumal sich durch die gesamte Bildinstallation auch noch Reihen mit Friedenstauben, weißen Holzkreuzen und Pickelhauben ziehen.

Es ist lohnend, sich auf diese Ausstellung einzulassen, dabei die eigenen Interpretationsräume auszuloten, Gefühle zuzulassen und gleichzeitig den unterschiedlichen Haltungen und Rollen der Frauen nachzugehen: den Krankenschwestern, Müttern, Bräuten, Munitionsfabrikarbeiterinnen, bestellten Briefeschreiberinnen für die Frontsoldaten, Frauen im Widerstand, Spioninnen, Kämpferinnen an der Front oder hinter der Front. Aber auch Friedensfrauen werden dokumentiert; so gibt es u.a. ein Porträt Bertha von Suttners oder eine ausführliche Dokumentation des internationalen Kongresses der 1.300 Frauen, die sich im April 1915, mitten im Krieg, unter schwierigsten Bedingungen in Den Haag trafen und ihre Forderungen und Grundsätze für eine Friedenslogik formulierten, die bis heute ihre Gültigkeit hat und doch nur in einigen Ansätzen umgesetzt wurde.

Ein wichtiges und erhellendes Segment zum Thema ist der Blick über den nationalen Tellerrand. Beispiele von Frauen im Krieg aus Frankreich, England, Polen, Serbien, Österreich sind vertreten. Nicht zu vergessen die Fotos zu den neuen Tätigkeiten, die Frauen an der »Heimatfront« ausführen durften und wollten, weil die Männer fehlten: Schornsteinfegerin, Barbierin, Polizistin, Laternenanzünderin, beim U-Bahn-Bau, in den Munitionsfabriken… Z.T. mussten extra dafür neue Kleidervorschriften geschaffen werden!

Ein großes, ambitioniertes Projekt, diese Ausstellung, und sehr zu empfehlen, ebenso der umfangreiche Katalog.

Die Ausstellung ist geöffnet bis zum 1.11.2015, Di-Sa 14-18 Uhr, So 11-18 Uhr; Eintritt 4,50 Euro / 3,00 Euro.

Der Katalog umfasst 184 Seiten und kostet 25 Euro.

Heide Schütz ist Vorsitzende des Frauennetzwerk für Frieden e.V.

Panzer

Panzer

Im Ersten Weltkrieg und heute

von Lutz Unterseher

Die Geschichte des modernen Kampfpanzers, hier einfach »Panzer«, beginnt 1911 mit dem Entwurf eines »Motorgeschützes«, den das Kriegsministerium in Wien aus Unverständnis ablehnte. Der Designer: Günther Burstyn, Oberleutnant im k.u.k.-Eisenbahnregiment. Es ging um ein geschütztes Kettenfahrzeug mit einer Kanone in einem Drehturm – also das, was auch heute den Panzer noch wesentlich ausmacht. Wenige Jahre später hielt der Panzer dennoch seinen Einzug auf dem Schlachtfeld und spielt in militärischen Kalkülen bis heute eine – wechselnde – Rolle.

Der erste große Auftritt kam im Großen Krieg, nachdem das Geschehen an der französischen Front erstarrt war. Zu stark war die Defensive durch die Feuerkraft der Maschinengewehre und der neuartigen Feldgeschütze mit hoher Schussfolge (Rapidgeschütze), als dass die übliche Angriffsmethode der Infanterie (Vorgehen auf breiter Front nach Artillerievorbereitung) größere Durchbrüche hätte erbringen können. So entstand die Idee eines Vehikels, das sich auch über Gräben hinweg bewegen und seiner Mannschaft unter Panzerschutz den Waffengebrauch ermöglichen würde.

Anfang 1915 wurde in England das »landships committee« gegründet und ein Prototyp entwickelt: noch unbewaffnet, klobig, aber funktionstauglich. Er wurde »Little Willie« getauft, was eigentlich »kleiner Penis« bedeutet und damals auch der Spottname für den deutschen Kronprinzen war.

Auf »Little Willie« folgte der bereits für die Feldverwendung vorgesehene »Mark I«, genannt »mother«, der im Sommer 1916 an die Front kam. Zur Täuschung feindlicher Spionage wurde er als »tank« bezeichnet – der Begriff setzte sich im englisch- und russischsprachigen Raum durch. Das Fahrzeug war viel größer als sein Vorgänger und nicht kastenförmig, sondern rhomboid. Mit seiner langen Basis und der vorderen, schrägen Führung der Ketten schien es für das Überwinden von Gräben gut geeignet. »Mark I« hatte keinen Drehturm. Deswegen wurde er – nicht sonderlich rationell – mit »doppelter« Bewaffnung ausgestattet: mit Maschinengewehren und leichten Kanonen, die in beiden Flanken installiert waren.

Das Fahrzeug galt mit 30 Tonnen als schwer, wog aber – obwohl größeren Volumens – nur etwa halb so viel wie heutige Panzer. Schutz bot »Mark I« nur gegen Infanteriewaffen; mit der Entwicklung spezieller Panzerabwehrwaffen wurde nicht unmittelbar gerechnet. Im Zuge der Serienproduktion wurde dieser Panzer bis 1918 mehrmals verbessert.

In Frankreich hatte es mittlerweile ähnliche Bemühungen gegeben. Die beiden ersten französischen Produkte fielen in die Kategorie »mittelschwer« und erschienen etwas später auf dem Gefechtsfeld, da technische Anfangsschwierigkeiten die Serienproduktion verzögert hatten. Diese beiden Typen besaßen ebenfalls keinen Drehturm. Ihre Geländegängigkeit war geringer als die des britischen Modells.

Bald wurde die Fertigung der mittelschweren französischen Typen aufgegeben, denn es kam zu einer Arbeitsteilung: Die Briten sollten weiterhin die »Mark«-Reihe bauen (später noch den neuen, mittelschweren »Whippet«), während die Franzosen sich auf die Produktion leichter Panzer konzentrierten. 1917 war nämlich der leichte Panzer »Renault FT-17« serienreif geworden. Dieser besaß einen Drehturm mit Kanone und ähnelte einer späten Realisierung des Entwurfs von Burstyn.

Von der »Mark«-Reihe wurden bis Ende 1918 ca. 1.300 Fahrzeuge gebaut, von den »Whippets« einige Hundert. Die mittelschweren französischen Modelle kamen auf je 400 Exemplare, und die Zahl der Renaults lag bei 3.000 (Zetschwitz 1938). Zum Vergleich: Deutschland produzierte nur 20 turmlose, schwere Panzer des Typs »A7V«, die sich für den Einsatz im Übrigen als zu kompliziert erwiesen (Unterseher 2014, S.75 ff.).

Überwindung des Stellungskrieges

Frankreich und Großbritannien bauten also in guter Arbeitsteilung etwa 5.500 Panzer, Deutschland eine kaum nennenswerte Zahl. Das ist erklärungsbedürftig.

Nicht befriedigen kann der Hinweis, Deutschland sei damals am Ende seiner Ressourcen gewesen und sein Heer hätte sich deshalb keine Panzerrüstung leisten können. Das Ressourcenproblem bestand nämlich vor allem, weil die Kriegsmarine enorme Mittel beanspruchte: für den Weiterbau von Großkampfschiffen (mit denen die Durchbrechung der britischen Seeblockade letztlich auch nicht gelang) und für den unsinnigen Ausbau der U-Boot-Flotte (deren Aktivitäten die USA schließlich zum Kriegseintritt bewegten). Konkret: Mit dem für ein einziges Großkampfschiff benötigten Stahl hätten sich über 3.000 leichte Panzer bauen lassen.

Neben der falschen strategischen Ausrichtung führte auch die Geisteshaltung der Heeresführung zur Entscheidung, nicht auf Panzer zu setzen. Beide gegnerische Seiten standen in Frankreich vor dem Problem, den Stellungskrieg zu überwinden, um sich wieder Siegeschancen zu verschaffen. Doch wie ließ sich der Krieg am besten »in Bewegung setzen«? Die deutsche Seite entschied sich für die Kombination der Wunderwaffe »Gas«, eines zur eigenen Hybris passenden »Götterwindes«, mit neuen Taktiken. Mit ihrer Hilfe sollte der Durchbruch in die Tiefe der gegnerischen Verteidigung gelingen.

Bei den Taktiken ging es um zweierlei: ein neues Verfahren, die Artillerie aller Kaliber schlagartig auf die vorgesehene Durchbruchsstelle zu konzentrieren und dann der angreifenden Infanterie mit ihrem Feuer zügig voranzurollen, sowie das Sturmtruppenkonzept, das den Frontalangriff von Fußsoldaten durch fluide Bewegungen von Elitetrupps ersetzte: auf einen Durchbruchspunkt konzentriert, Schwachstellen des Verteidigers nutzend, in die gegnerische Tiefe zielend, etwaiger Flankenbedrohung nicht achtend und aus der eigenen Tiefe fortlaufend durch Reserven genährt.

Diese Fokussierung auf Taktik wurzelte in der Doppelnatur des preußisch-deutschen Militärs: einerseits hochprofessionell, andererseits zutiefst antibürgerlich. Zwar wurde manch technische Neuerung in ihrer Wirksamkeit durchaus anerkannt, dennoch blieb die Heeresleitung gegenüber der »bürgerlich« konnotierten Welt der Maschinen auf Distanz: Eine Maschine sollte keine taktischen Probleme lösen.

Ganz anders die auch im Hinblick auf ihre Heere eher bürgerlich geprägten Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien. Dort wurde die Maschine, der »tank«, wesentliches Vehikel für die geplanten Durchbruchsoperationen. Die gelangen aber auch nicht im gewünschten Sinne. Die Entente-Mächte setzten Panzer zwar in immer größerer Zahl ein (1916 an der Somme waren es 50, 1917 bei Cambrai bereits 500), blieben aber der alten Taktik des schematischen Frontalangriffes verhaftet. Dennoch: Panzeroperationen kamen in Serie, und ihre Abwehr trug zur Auszehrung des Deutschen Heeres und damit zu dessen Niederlage erheblich bei.

Ironie der Geschichte: Das deutsche Militär hatte im Frühjahr 1918 einen letzten groß angelegten Durchbruchsversuch gemacht. Die neue Taktik schien gut zu funktionieren – es kam dennoch bald das Ende: Koordinations- und Führungsfehler sowie die Zähigkeit der Verteidigung waren die Gründe. Zwischen den beiden Weltkriegen dann entwickelten »fortschrittliche« Militärkreise einiger europäischer Länder die Idee, Panzertruppen nach dem Muster der neuen deutschen Infanterietaktik zu führen, womit das Konzept weitreichender, offensiver Operationen schwerer Verbände geboren war. Exemplarisch ist hier ein Mann zu nennen, der diese Entwicklung in seinem Soldatenleben widerspiegelt: Erwin Rommel, Führer von Sturmtruppen im Ersten und von Panzerverbänden im Zweiten Weltkrieg (Rommel 1990).

Ein zählebiges Ding

Der Panzer ist ein seltsames Ding. Schon bald nach der Premiere auf dem Gefechtsfeld wurde ihm eine eher kurze Lebensdauer prognostiziert. In der Zeit nach dem »Großen Krieg« gab es nämlich konzeptionelle Unsicherheit und frustrierende Debatten über den optimalen Einsatz der neuen Waffe, außerdem traten die durch die Neuerung in ihrer Bedeutung geschmälerten Truppengattungen zum bürokratischen sowie publizistischen Gegenangriff an. Hinzu kam die Entwicklung spezialisierter Panzerabwehrmittel, die das neue Gerät verletzlich werden ließen. So breitete sich Skepsis aus, ob dem Panzer überhaupt eine Zukunft beschieden sei.

Doch im Zweiten Weltkrieg kam der Durchbruch der neuen Waffe. Der europäische Schauplatz war wesentlich vom Panzerkampf geprägt. Den Anfang machte Nazideutschland. Dieses verdankte seine frühen Erfolge vor allem der Tatsache, dass sich dort eher als anderswo die Auffassung durchgesetzt hatte, dass Panzer dann ein gutes Mittel für weitreichende Angriffsoperationen sind, wenn sie »artgemäß« eingesetzt werden: nach dem Muster der Sturmtruppen des Ersten Weltkrieges. Im Übrigen war auch erkannt worden, dass Panzertruppen, wenn sie vorankommen wollen, der unmittelbaren Unterstützung durch Jagdbomber, bewegliche Infanterie und Artillerie bedürfen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Panzer und die von Panzern geprägten Großverbände zur harten Währung der Ost-West-Konfrontation. So gehörte es zu den NATO-Stereotypen, aus der großen Zahl an Panzern und gepanzerten Divisionen, über die der Warschauer Pakt verfügte, auf dessen konventionelle Überlegenheit zu schließen. Dies wiederum schien eine besondere Rolle für taktische Atomwaffen in der Defensive nahe zu legen. Ausgeblendet wurden dabei die qualitativen Vorteile des Westens sowie die großen Schwierigkeiten der Sowjetunion, ihre Panzerreserven aus der Tiefe des Raumes zeitgerecht in Mitteleuropa wirksam werden zu lassen (Chalmers/Unterseher1987).

In den 1990er Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, schien sich für die Länder des westlichen Bündnisses eine neue Welt aufzutun: die Verflüchtigung der (angeblichen) Bedrohung aus dem Osten und eine mutmaßliche Zunahme von Turbulenzen an der Peripherie Europas sowie in der »Dritten« Welt. Die politischen Eliten etlicher europäischer Staaten sahen nun ihr Militär, im Verbund mit Nachbararmeen, als Ordnungsfaktor. Die Idee multinationaler Interventionstruppen blühte, und die gewichtigeren Staaten wollten – schon aus Statusgründen – dabei sein. Es kam zu einer veritablen »Interventionitis« und zu einem Neuzuschnitt der Heere.

Die Verwendung großer Panzerverbände, wie sie noch im Zweiten und Dritten Golfkrieg wirkungsvoll geschah, erschien bald kaum mehr erforderlich. Hatten jene Kriege noch den Charakter konventioneller zwischenstaatlicher Zusammenstöße, schienen nun eher Truppenkontingente für stabilisierende Eingriffe in unkonventionelle innerstaatliche Konflikte erforderlich. Dazu aber wollten Panzer nicht so recht passen. So schafften die Niederlande ihre Panzertruppe ganz ab. Und das Deutsche Heer, das 1990 noch über mehr als 5.000 Panzer verfügt hatte, reduzierte die Zahl schrittweise auf ca. 350. Der Schwerpunkt liegt nun auf leichteren Kräften, die zügig über lange Strecken verlegbar und vor Ort für effektive, weiträumige Kontrollfunktionen einsetzbar sind.

Geht damit das Leben dieses seltsamen Dings schließlich doch zu Ende? Wohl kaum.

Die große Mehrzahl der Streitkräfte dieser Welt verfügt weiterhin über Panzer. In 19 Ländern sind es jeweils über 1.000 Stück. Dabei stechen Russland, die USA, China, Indien, die Türkei, Ägypten, Israel und Nordkorea hervor: Diese besitzen jeweils über 3.000 Panzer, einige sogar erheblich mehr (IISS 2012/13). Die Panzerflotten von gut der Hälfte der erwähnten 19 Länder sind zwar tendenziell veraltet, gleichwohl werden sie beibehalten, für alle Fälle. Doch es gibt auch modernes oder modernisiertes Gerät: Army-technology.com listet 29 Modelle auf, die weltweit relevant sind. Wird diese Liste um bloße Modellvarianten bereinigt, bleiben immer noch 15 Typen übrig.

Überdies wurden seit dem Jahr 2000 in folgenden Ländern Neuentwicklungen bzw. »Totalrenovierungen« von Panzern realisiert oder begonnen: China, Indien, Iran, Israel, Japan, Polen, Südkorea, Türkei. Auch von russischen Bemühungen wurde in der Fachpresse berichtet, diese sind freilich nicht belegt. In den USA fährt man nach Fehlschlägen mit großem Aufwand fort, Fahrzeuge zu entwickeln, die die üblichen Panzer an Schutz, Beweglichkeit und Kampfkraft übertreffen, aber signifikant leichter sein sollen und sich dadurch für die rasche Machtprojektion besser eignen würden.

Rund um die Welt, mit Ausahme von Südamerika, sind viele politische Eliten nicht der europäischen Linie gefolgt. Sie denken nach wie vor in den Kategorien des herkömmlichen zwischenstaatlichen Krieges, manchmal sogar aus gutem Grund. Oder es soll schlicht der große »Knüppel« disziplinierender Machtprojektion nicht aufgegeben werden. Ein weiteres – mitunter wohl ausschlaggebendes – Motiv, Panzerflotten beizubehalten, ja sogar neue Typen zu entwickeln, mag darin liegen, dass die rasselnden Ungetüme als einprägsame Symbole staatlicher Souveränität gesehen werden und ein neuer »nationaler« Panzer als Ausweis für die Leistungsfähigkeit der Industrie des Landes gilt.

Panzer als Gespenster

Frühjahr 2014: Deutsche Medien berichteten, russische Söldner, womöglich sogar »Reguläre«, seien in die Ostukraine eingefallen, hätten Kämpfer angeheuert, die sich als »Separatisten« bezeichnen. Und es gebe üppige Unterstützung: an Logistik, Waffen und anderem Gerät. Vor allem auch Panzer neueren, russischen Typs sollen in erklecklicher Zahl geliefert worden sein. Es wird spekuliert, Russland könnte auch mit größeren, regulären Verbänden nach einem Teil der Ukraine greifen, und man fragt, was denn die NATO, die als Nothelfer Kiews imaginiert wird, militärisch zu bieten hätte. Und schon landet man wieder beim Vergleich der Panzerflotten und ihrer numerischen Stärke. Und kommt zum Ergebnis, dass Russland gar viel, die europäischen NATO-Mitglieder aber kläglich wenig zu bieten hätten. Die Vergangenheit wirft also ihren Schatten.

Literatur

Malcolm Chalmers and Lutz Unterseher (1987): Is there a Tank Gap? A Comparative Assessment of the Tank Fleets of NATO and the Warsaw Pact. Bradford: School of Peace Studies, University of Bradford, Peace Research Report Nr. 19.

International Institute for Strategic Studies (IISS) (2012/13): The Military Balance. London: IISS.

Erwin Rommel (1990): Infantry Attacks (engl. Übersetzung der dt. Erstausgabe von 1937, »Infanterie greift an«). London: Greenhill.

Gerhard Peter von Zetschwitz (1938): Heigl's Taschenbuch der Tanks, Teil II (Panzererkennungsdienst G-Z, Panzerzüge und Panzerdraisinen) und III (Der Panzerkampf). München: J.P. Lehmanns.

Lutz Unterseher (2014): Der Erste Weltkrieg. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Lutz Unterseher, Dr. habil., Soziologe, Organisations- und Politikwissenschaftler, lehrt an der Universität Münster Internationale Beziehungen und ist unabhängiger Berater in Verteidigungsfragen.

Physiker im Ersten Weltkrieg

Physiker im Ersten Weltkrieg

Die Verlobung von moderner Wissenschaft, Industrie und Militär

von Götz Neuneck

Der Erste Weltkrieg 1914-1918 war der erste große »industrialisierte Krieg«. Er wurde nicht nur mit Massenarmeen geführt, sondern auch mit den Mitteln der damaligen Wissenschaft. Nobelpreisträger und Wissenschaftler beider Seiten wurden mobilisiert oder meldeten sich freiwillig, um ihr Wissen zur Verfügung zu stellen. Daher wird der Erste Weltkrieg als »Krieg der Ingenieure und Chemiker« bezeichnet, aber auch Physiker und andere Naturwissenschaftler nahmen teilweise aktiv an dem Geschehen teil. Was taten sie insbesondere in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA vor und während des Krieges, welche Beiträge haben sie geleistet?

Der Beginn des 20. Jahrhunderts war von großem Fortschrittsoptimismus, industriellem Aufbruch und einem fundamentalen Umbruch des physikalischen Weltbildes gekennzeichnet. Die klassische Physik wurde zwischen 1895 und 1914 revolutioniert: 1895 entdeckte W.C. Röntgen die X-Strahlung, M. Planck führte 1900 das Quantenkonzept ein, E. Rutherford präsentierte 1911 das Planetenmodell des Atoms, und A. Einstein veröffentlichte 1905 seine spezielle Relativitätstheorie. Die Industrie entwickelte neue Transportmittel, Automobile, Eisenbahnen und Flugzeuge. Telegraphie und Transatlantikkabel sorgten für weltweite Kommunikation. Vor dem Ersten Weltkrieg fand parallel auch ein Wettrüsten zwischen der Entente und den Mittelmächten statt, das später von L.F. Richardson, Quäker und Vater der quantitativen Friedensforschung, mathematisch beschrieben wurde.

Die Gruppe der Naturforscher und -wissenschaftler war zu der Zeit nicht groß und kooperierte kollegial wie international. Der Physiologe E. du Bois-Reymond sagte 1878 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften anlässlich des Geburtstags des Kaisers: „Allein die Wissenschaft ist ihrem Wesen nach weltbürgerlich […] Am Ausbau der Wissenschaft beteiligen sich alle Kulturvölker in dem Maße wie sie diesen Namen verdienen.“ (zit. nach Wolff 2001, S.4) Die Wissenschaft wurde in diesem »Zeitalter der Extreme« aber auch ein Instrument im Wettstreit der Nationen. Bis heute werden die Nobelpreise den jeweiligen Ursprungsländern zugeordnet. Es ist kaum verwunderlich, dass der Geist von Kooperation, Freundschaft und Internationalität mit Beginn des Ersten Weltkrieges abrupt endete.

Die Mobilisierung der Wissenschaft kann grob in vier Phasen eingeteilt werden (MacLeod 2009, S.39ff): Zwischen 1914 und 1915 führt das von 93 deutschen Intellektuellen verfasste nationalistische Manifest »An die Kulturwelt« zum Bruch zwischen deutschen und alliierten Wissenschaftlern. Ab Frühling 1915 werden Wissenschaftler für kriegswichtige Arbeiten mobilisiert oder melden sich freiwillig, um ihre Kenntnisse einzubringen. Ab 1917 beginnen auch US-Wissenschaftler, mit Kollegen anderer alliierter Länder zusammenzuarbeiten. Und nach Kriegsende schließlich werden deutsche Wissenschaftler fast zehn Jahre von internationalen wissenschaftlichen Organisationen ausgeschlossen bleiben (MacLeod 2009, S.39ff).

Der »Krieg der Geister« und das Ende des »Goldenen Zeitalters«

Noch am 1. August 1914 veröffentlichten neun englische Professoren, darunter der Physiker J.J. Thomson und der Chemiker W. Ramsey, eine Erklärung, in der sie vor einem Kriegseintritt Großbritanniens warnten. Sie hoben dabei „Deutschlands Führungsrolle in Kunst und Wissenschaft“ hervor (Wollff 2001, S.6). Als das Kaiserreich völkerrechtswidrig die territoriale Integrität Belgiens verletzte und England am 4. August in den Krieg eintrat, zerfiel die Welt der befreundeten Wissenschaftler schnell in verfeindete Lager. Angesichts der nationalen Kriegsaufwallungen vergaßen viele Wissenschaftler ihre Bekenntnisse zu Internationalität und Zusammenarbeit. Mit Kriegseintritt Englands gaben einige deutsche Wissenschaftler sogar ihre englischen Auszeichnungen zurück.

Mit nahezu religiöser Inbrunst wurden zu Kriegsbeginn an vielen deutschen Universitäten Kundgebungen organisiert, und Professoren wurden zu Kriegstreibern. Es gab aber auch Ausnahmen. A. Einstein war im Frühjahr 1914 nach Berlin gekommen und schrieb angesichts der Kriegsbegeisterung in Berlin am 1. August an H.A. Lorentz: „Wenn ein Haufen Menschen an einem Kollektivwahn erkrankt ist, so soll man diese Menschen jeglichen Einflusses berauben; aber Hass und Erbitterung können große und sehende Menschen für die Dauer nicht beherrschen, sie seien denn selbst krank.“ (Pais 1995, S.218) Seinem Freund P. Ehrenfest schrieb er: „Unglaubliches hat nun in Europa in seinem Wahn begonnen. In solcher Zeit sieht man, welch trauriger Viehgattung man angehört.“ (Nathan/Norden 2004, S.20) Der Erste Weltkrieg bestärkte Einstein in seiner Ablehnung des Kriegs – seine wissenschaftlich fruchtbarsten Jahre hatte er aber in seiner Berliner Zeit.

In der sonstigen Wissenschaftswelt verschärften sich die Spannungen, als am 4. Oktober 1914 der Aufruf »An die Kulturwelt« 93 führender deutscher Gelehrter und Künstler veröffentlicht wurde, darunter 15 Naturwissenschaftler, sechs gar Nobelpreisträger: M. Planck, W.C. Röntgen, W. Ostwald, W. Wien, E. Fischer und A. von Baeyer. Die »Erklärung der 93« war, obwohl als „Protest gegen die Lügen und Verleumdungen“ von „Deutschlands Feinden“ gedacht, ein Schlüsseldokument arroganter deutscher Überheblichkeit (Rüdiger vom Bruch 2005).Die Unterzeichner, von denen einige nicht einmal den genauen Text kannten, handelten nicht nur außerordentlich pathetisch, sondern politisch naiv, uninformiert und offensiv. Im Wesentlichen übernahm das Manifest die Position des deutschen Militärs und sprach von einem Defensivkrieg, einem „aufgezwungenen, schweren Daseinskampf“.

Die Wirkung im Ausland war verheerend und kontraproduktiv. Insbesondere kleine und neutrale Staaten waren nach der Völkerrechtsverletzung aufgrund des deutschen Einmarschs ins neutrale Belgien und der Zerstörung der Bibliothek der alten Universitätsstadt Leiden durch deutsche Truppen alarmiert. 117 englische Gelehrte, darunter W.H. Bragg, Lord Raleigh und J.J. Thomson, reagierten am 21. Oktober mit einer Gegenerklärung, die den Kampf gegen das „militaristische Deutschland“ nun als notwendig und den englischen Kriegseintritt als „Verteidigungskrieg, ein Krieg für Freiheit und Frieden“ deklarierte. Während einige Physiker, wie J. Stark, dankbar gegen England polemisierten („überflüssige Engländerei“), versuchte M. Planck mit den englischen Kollegen Kontakt zu halten und auszugleichen (Wolff 2001, S.15). Der Physiker W. Wien hingegen entwarf eine „Aufforderung“ an 21 prominente Kollegen, meist Lehrstuhlinhaber, das Zitieren englischer Kollegen einzuschränken, nicht in englischen Zeitschriften und nur in deutscher Sprache zu publizieren (Wolff 2001, S.17).

Nun ging es auch um die Vorherrschaft in der Wissenschaft. Der Historiker S. Wolff folgerte: „Im einzelnen ging es darum, den deutschen Physikern im Wettbewerb mit England Prestige und gesellschaftliche Anerkennung zu sichern.“ (Wolff 2001, S.34) Die wissenschaftliche Gemeinschaft zerfiel in kurzer Zeit in verfeindete Lager. Der US-Physiker M. Pupin schrieb an den Astronomen G.E. Hale: „Wissenschaft ist der höchste Ausdruck einer Zivilisation. Die Wissenschaft der Alliierten unterscheidet sich daher grundlegend von der Wissenschaft der Teutonen.“ (Cornwell 2003, S.59) Die anderen Kriegsmächte standen der deutschen Polemik und Hetze kaum nach. Die französischen Akademien machten ebenso mobil wie die Royal Society. Der Philosoph H. Bergson sagte bereits am 8. August 1914 auf der Sitzung der Académie des Sciences Morales et Politique: „Der engagierte Kampf gegen Deutschland ist gleichermaßen ein Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei.“ (von Ungern-Sternberg 1996, S.55) Nach dem ersten deutschen Giftgasangriff im April 1915 schlossen die französischen und belgischen Akademien deutsche Mitglieder aus. Die Berliner Akademie stimmte mit knapper Stimmenmehrheit gegen eine Vergeltung. Auch in der Royal Society konnten sich die Scharfmacher nicht durchsetzen. Hermann Hesse kommentierte dennoch scharfsichtig, dass nun „der Krieg in die Studierstuben“ getragen worden sei. Die Wissenschaftler begannen, ihr Wissen dem Militär aktiv zur Verfügung zu stellen: „Der Krieg wurde nun zu einem Wettstreit der Köpfe genauso wie der Maschinen.“ (MacLeod 2014) Die Royal Society in London und die Académie des Sciences in Paris gründeten in verschiedenen Fachbereichen »War Committees«, um symbolisch ihre Unterstützung zu zeigen und die Kriegsforschung aufzunehmen.

»Soldaten der Wissenschaft« und »kriegsphysikalische Arbeiten«

Das kaiserliche Deutschland setzte nach Kriegsbeginn zunächst auf seine industrielle Stärke und gab der Kriegsproduktion den Vorrang. In der Folge wurden zunehmend Ingenieure und Chemiker in die industrielle Kriegsproduktion einbezogen. Aber auch zahlreiche Physiker beteiligten sich aktiv an konkreten Projekten. Insbesondere der erstarrte Stellungskrieg veranlasste manche berühmte Köpfe, dem Militär neue Ideen und Technologien zu präsentieren. Ein bekanntes Beispiel ist F. Haber, der zunächst mit dem Haber-Bosch-Verfahren die Herstellung von Ammoniak für Kunstdünger und Sprengstoff ermöglichte und schließlich mit der Herstellung und dem Einsatz der tödlichen Kampfgase Phosgen und Chlor im Jahre 1915 den Gaskrieg etablierte (Walker 2014). Haber (privat ein enger Freund des Pazifisten Einstein) machte aus seiner patriotischen Gesinnung keinen Hehl: „Der Gelehrte gehört im Kriege wie jedermann dem Vaterland, im Frieden aber gehört er der Menschheit.“ (Kammasch 2009, S.1).

Fritz Habers Gruppe war direkt am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie in Berlin angesiedelt, das zu einer „Gaskampfforschungsanstalt“ umfunktioniert wurde (Rasch 1991). Dort wurden u.a. Giftgas und Gasmasken entwickelt und getestet. Beim Chlorgaseinsatz in Ypern waren neben Haber auch die jungen Wissenschaftler O. Hahn und J. Franck beteiligt. Zu den Berliner Wissenschaftlern gehörten auch G. Hertz, H. Geiger und W. Westphal. Lise Meitner war als Röntgenschwester im Kriegseinsatz.

Der Physikochemiker W. Nernst, Initiator der bis heute durchgeführten Solvay-Konferenzen für Physik und Chemie, posierte noch 1913 mit E. Rutherford und J.J. Thomson für ein gemeinsames Photo. Nach Kriegsbeginn stellte er begeistert sein Automobil zu Verfügung, meldete sich als 50-Jähriger freiwillig zum Kriegsdienst (Bartel 2014) und nahm als Meldefahrer des Kaiserlichen Freiwilligen Automobil-Corps am Vormarsch auf Paris und an der Marne-Schlacht teil. Der preußische Kriegsminister von Falkenhayn hatte angesichts des Stellungskriegs neue offensive Chemiewaffen und Reizstoffe gefordert, um den Gegner kampfunfähig zu machen. Zur Lösung des Problems wurde Nernst im Oktober1914 der Artillerieprüfkommission und später dem Minenwerfer-Bataillon I zugeordnet. Nernst stellte den Kontakt zu C. Duisberg her, dem Generaldirektor der F. Bayer & Co. aus Leverkusen, und unternahm Schießversuche in Köln-Wahn. Das Ergebnis der »Nernst-Duisberg-Kommission« war eine Granate mit einer so genannten Ni-Pulvermischung, die Augen und Atemwege reizte. Sie wurde am 27. Oktober 1914 in Neuve-Chapelle eingesetzt (Details siehe Bartel 2014). Aufgrund des ausbleibenden Erfolges wurden die Chemiker E. Fischer und F. Haber einbezogen, und Falkenhayn forderte Chemiewaffen mit anhaltender und tödlicher Wirkung. Nernst arbeitete nun an der Prüfung von ballistischen Geschossen, Gasgranaten und pneumatischen Minenwerfern und nahm am Gaskrieg in leitender Stellung teil. Ab 1916 bemühte er sich erfolglos um eine Kriegsbeendigung. Er verlor zwei seiner Söhne im Krieg. Einstein attestierte in seinem Nachruf, Nernst sei weder ein Nationalist noch ein Militarist gewesen (Bartel 2014:53).

R. Ladenburg machte im Rahmen der Artillerieprüfkommission den Vorschlag, in Berlin eine Gruppe von Physikern zur Schallortung gegnerischer Artillerie einzurichten, zu der später M. Born, A. Landé, F. Reiche und E. Madelung stießen. Mittels optischer, akustischer und seismischer Messungen sollte die Position eines feuernden Geschützes bestimmt werden (Details siehe Schirrmacher 2014, S.44).

In Göttingen wurde der Physiker L. Prandtl bereits 1909 Leiter der Aerodynamischen Versuchsanstalt, die sich mit Strömungsforschung beschäftigte. Sie wurde zum »Forschungsinstitut für Heer und Marine« umgewandelt und beschäftigte sich neben ballistischen Experimenten u.a. mit dem Abwurf von Bomben aus Flugzeugen. Für Studenten und Wissenschaftler war hier die Möglichkeit gegeben, dem Fronteinsatz zu entkommen und weiter Wissenschaft zu betreiben (Schirrmacher 2014, S.45). Einige Wissenschaftler habilitierten sich während der Kriegszeit. M. Born wird die Aussage zugeschrieben, dass „die Physik nicht für den Krieg arbeiten muss, sondern der Krieg muss für die Physik arbeiten“. Zusätzliche Gelder und Unterstützung für die Physik waren also willkommen.

Um eine zentrale Instanz für die deutsche Kriegsforschung zu etablieren, wurde bereits 1911 die Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft gegründet, die mit einer Privatspende des jüdischen Bankiers L. Koppel zustande kam (Details Rasch 1991) Die Gemeinschaftsinitiative der chemischen Industrie, einiger Bürokraten, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Fritz Habers etablierte Ende 1916 sechs Fachausschüsse mit prominenten Leitern aus den Naturwissenschaften: E. Fischer (Rohstoffe), W. Nernst (Ballistik, Telegraphie), F. Haber (Spreng- und Kampfstoffe). Drei weitere technische Ausschüsse widmeten sich dem „Landverkehr, der Luftfahrt und dem Metall“. A. Sommerfeld arbeitete u.a. an der Kreiseltheorie und „günstigen Antennenformen“, A. Wehnelt an „drahtloser Verständigung in Schützengräben“ (Schirrmacher 2014).

Physiker an der Front: Erdtelegraphie, Schallortung im Schützengraben und der Tod

Die anfängliche Kriegsbegeisterung erfasste auch junge Studenten und Professoren. M. Born, der bei J.J. Thomson studiert hatte und gerade eine Professur an der Berliner Universität erhalten hatte, schrieb im November 1914 an seinen Freund R. Ladenburg: „Wie jämmerlich komme ich mir vor, der ich noch immer zu Hause sitze. Ich denke mir, es muss doch noch ein anderes, stolzes Gefühl sein, als wissenschaftliche Entdeckungen zu machen, wenn man durch einen kühnen Ritt der Armee einen Dienst leistet.“ (Schirrmacher 2014, S.43) Der »Physikerrekrut« Born war als Asthmatiker nicht fronttauglich und stieß zur Gruppe von M. Wien, einem Spezialisten für Hochfrequenztechnik. W. Gerlach, der im April 1916 habilitiert wurde, kam ebenfalls zu den Funktruppen und entwickelte zusammen mit dem im Krieg verwundeten G. Hertz Funk- und Radiogeräte. Er kämpfte in Flandern, im Artois und in der Champagne. Der Göttinger Mathematiker R. Courant kämpfte in Belgien. Die Hälfte seiner Kameraden starben bei einem Angriff der Engländer, als die Funkverbindung zum Hinterland abbrach – es wird angenommen, dass rund 20 Prozent des deutschen Physikernachwuchses im Krieg an der Front starben. Nach einer Verwundung aus dem Kriegsdienst entlassen, begann Courant in Göttingen an der so genannten Erdtelegraphie zu arbeiten. Er rekrutierte C. Runge, P. Debye und P. Scherer, die das Verfahren an der Front ausprobierten. Es kam bei der Schlacht an der Somme zum Einsatz.

In Frankreich, das durch den deutschen Angriff wichtige Industrieanlagen verloren hatte, begannen die Pariser Laboratorien ihre Kriegsarbeiten zu koordinieren. Ab 1915 wurden Absolventen der naturwissenschaftlichen Studiengänge von der Front abgezogen und in der Munitionsproduktion beschäftigt (MacLeod 2009). Schon der Untergang der Titanic 1912 hatte Wissenschaftler weltweit animiert, an der Seekommunikation und der Unterwasserortung zu arbeiten. M. de Broglie arbeitete für die Marine an drahtloser Nachrichtenübertragung und sein Bruder L. als Nachrichtenoffizier in der telegraphischen Station auf dem Eiffelturm. Insbesondere das Aufkommen der U-Boote ab 1905 machte diese Verfahren auch attraktiv für die Seekriegführung. Der französische Physiker P. Langevin entwickelte mit C. Chilowsky 1916 das erste Echolot für die französische Marine, fußend auf der Pieoelektrizität. Der Mathematiker P. Painlevé, der dem Kabinett Briand angehörte, gründete in Toulon die »Direction des inventions«, die von J. Perrin geleitet wurde. In der Folge entwickelte man Hydrophone zur Unterwasserortung (Juhel 2005).

Dabei kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit mit den englischen Alliierten. Anders als Deutschland präferierte die britische Regierung von Kriegsbeginn an die Einbindung der Wissenschaft in die Kriegsforschung. Die Admiralität gründete das Board of Inventions and Research, das von W. Bragg geleitet wurde und dem auch E. Rutherford angehörte. 1916 wurde für die naturwissenschaftliche Grundlagen- und Industrieforschung das Department of Scientific and Industrial Research geschaffen. Premier Llyod George leitete die Gründung des Allied Submarine Detection Investigation Committee ein (Juhel 2005).Das War Office vergab Verträge auch an britische Universitäten. Nach MacLeod (2009, S.42) arbeitete die Hälfte aller zivil beschäftigten britischen Wissenschaftler an kriegsrelevanten Projekten, und er folgert: „Großbritannien wurde zu einem gigantischen militärisch-akademisch-industriellen Komplex.“ 1918 hob der Munitionsminister Winston Churchill ausdrücklich den Beitrag der Wissenschaftler hervor. Er sollte dies im Zweiten Weltkrieg erneut aufgreifen.

Obgleich die Vereinigten Staaten erst am 6. April 1917 offiziell in den Krieg eintraten, wurde die US-Wissenschaft aufgrund des U-Boot Krieges schon frühzeitig für Kriegszwecke mobilisiert. Es wurden das War Industries Board und der National Research Council geschaffen. Als der britische Passagierdampfer Lusitania im Mai 1915 durch ein U-Boot der kaiserlichen Marine versenkt wurde, beauftragte Marineminister Daniels den berühmten Th. Edison, die „schärfsten und einfallsreichsten Köpfe“ zusammenzubringen, um eine Verteidigungsmöglichkeit gegen U-Boote auszuarbeiten. Der Astrophysiker G.E. Hale bot US-Präsident Wilson die Hilfe der National Academy of Science an. Ihm ging es im Wesentlichen darum, die seiner Ansicht nach in den USA recht unterentwickelte physikalische Forschung zu beschleunigen. Berühmte Wissenschaftler wie K. Compton, J. Conant und A. Trowbridge forcierten mit eigenen Beiträgen die alliierte Zusammenarbeit. Bemerkenswert ist die Reise einer Gruppe von US-Wissenschaftlern in das kriegsgeschüttelte Europa. Sie trafen nicht nur alliierte Kollegen, sondern besuchten auch die Front. Der Physiker J. Ames hebt in seinem Bericht »Science at the Front« hervor, es gäbe keinen Bereich der Wissenschaft, der nicht für den Krieg nutzbar gemacht wurde (Ames 1918, S.93). Kevles zufolge erbrachten diese Arbeiten erstmalig eine „beispiellose und fruchtbare Zusammenarbeit“ zwischen Wissenschaftlern aus Universitäten und der amerikanischen Industrie mit dem Militär. Er resümiert: „Die Wissenschaftler des Rates entwickelten unzählige Waffen, Geräte und Technologien für das Militär.“ (Kevles 1968, S.431) Der Waffenstillstand 1918 enttäuschte die Wissenschaftler fast etwas, denn so konnten sie nicht mehr zeigen, wie wichtig die US-Wissenschaft für den Krieg sein könnte.

Nach Kriegsende wurden deutsche Wissenschaftler zehn Jahre lang von internationalen Tagungen ausgeschlossen. Auf englisches und französisches Betreiben wurden die deutschen Akademien für mehrere Jahre boykottiert (von Ungern-Sternberg 1996, S.97). Die Wissenschaftssprache Deutsch wurde durch das Englische ersetzt. Damit gehörte die deutsche Wissenschaft ebenfalls zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs.

Die Wissenschaft nach dem Krieg: Ächtung – und Fortsetzung folgt

Der »Große Krieg« brachte eine bisher nicht gekannte Mobilisierung und damit Militarisierung der gerade entstehenden modernen Wissenschaft mit sich. Die Wissenschaftler hatten vielfältige Motive, sich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen: Patriotismus und Nationalismus, das Einbringen eigener Fähigkeiten in den Krieg oder die Flucht vor dem Einsatz an der Front, politische Naivität und der Versuch, zusätzliche Forschungsmittel zu bekommen. Bemerkenswert ist, dass manche Initiativen im Rahmen patriotischer Pflichterfüllung von Wissenschaftlern selbst ausgegangen sind, denn das Militär war zunächst an den Wissenschaftlern nicht sehr interessiert.

Der Erste Weltkrieg gilt als erster moderner industrieller Krieg, in dem Grundlagen- und angewandte Forschung eine größere Rolle spielten als je zuvor. Insbesondere bei der Kommunikation, der Schallortung, der Ballistik, aber auch bei der Munition, der medizinischen Versorgung und der Industrieproduktion kamen neue Erkenntnisse zur Anwendung. Die Nutzung der Kenntnisse ziviler Wissenschaftler für den Krieg hat die Kriegsführung verändert, den Krieg aber eher verlängert und fürchterlicher gemacht (MacLeod 2014, S.3). Herfried Münkler resümiert: „Der Erste Weltkrieg war der Brutkasten, in dem fast alle Technologien, Strategien und Ideologien entwickelt wurden, die sich seitdem im Arsenal politischer Akteure befinden.“ (Münkler 1913, S.9)

Damit wurde insbesondere in den USA, Großbritannien und Deutschland die Grundlage für die weitere Zusammenarbeit von Wissenschaft, Industrie und Militär gelegt, der im Zweiten Weltkrieg in Form von Großprojekten (Atomwaffenentwicklung im Manhattan-Projekt, Raketenentwicklung in Peenemünde, Kryptographie etc.) eine noch weitaus größere Bedeutung zukommen sollte. Der Erste Weltkrieg wird daher auch als Präludium zum Zweiten Weltkrieg gesehen, der das Ausmaß an Zerstörung und Leid ins Unermeßliche steigern sollte. Wissenschaft und Technik, insbesondere die Physik, sollten daran entscheidenden Anteil haben. (Neuneck 2011)

Literatur

Joseph S. Ames: Science at the Front. The Atlantic Monthly, January 1918, S.90-100.

Lawrence Badash: British and American Views of the German Menace in World War One. Notes and Records of the Royal Society of London, Vol. 34, No. 1, July 1979, S.91-121.

Hans-Georg Bartel: Ein Geheimrat im Militärdienst. Walther Nernst im Spannungsfeld von Kriegsforschung und Friedensbemühungen – aus Anlass seines 150. Geburtstags am 25. Juni 2014. Physik Journal 13 (2014), Nr.7, S.49.

John Cornwell (2003): Hitler’s Scientists. Science, War, and the Devil’s Pact. New York: Viking.

Rudolf Heinrich und Hans-Reinhard Bachmann (Hrsg.) (1989): Walter Gerlach. Physiker – Lehrer – Organisator. Dokumente aus seinem Nachlaß. München: Deutsches Museum.

Pierre Juhel (2005): Histoire de L’Acoustique Sous-Marine. Paris: Vuibert.

Daniel J. Kevles (1977): The Physicists. The History of a Scientific Community in Modern America: Cambridge/Mass.: Harvard University Press.

Daniel J. Kevles: George Ellery Hale, the First World War, and the Advancement of Science in America, ISIS, Vol. 59, No. 4, Winter 1968, S.427-437.

Roy MacLeod: The Scientists Go to War. Revisiting Precept and Practice, 1914-1919. Journal of War and Culture Studies, 2(1), 2009, S.37-51.

Roy MacLeod: Mobilmachung der Forscher. Physik Journal 13 (2014) Nr. 7, S.3.

Herfried Münkler (2013): Der Grosse Krieg. Die Welt 1914-1918. Berlin: Rowohlt.

Otto Nathan, Heinz Norden (Hrsg.) (2004): Frieden – Weltordnung oder Weltuntergang. Dokumentation aller erreichbaren und erhalten gebliebenen Schriften Einsteins zum Thema Frieden und Abschaffung des Krieges. Köln: Parkland Verlag.

Götz Neuneck: Frieden und Naturwissenschaft. In: Hans J. Gießmann und Bernhard Rinke (Hrsg.) (2011): Handbuch Frieden. Wiesbaden:VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.459-474.

Manfred Rasch: Wissenschaft und Militär. Die Kaiser Wilhelm Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen Nr.49, 1991, Militärgeschichtliches Forschungsamt, S.73-120.

Arne Schirrmacher: Die Physik im Großen Krieg. Physik Journal 13 (2014) Nr. 7, S.43.

Rüdiger vom Bruch (2006): Geistige Kriegspropaganda. Der Aufruf von Wissenschaftlern und Künstlern an die Kulturwelt. In: Clio Online – Themenportal Europäische Geschichte.

Rüdiger vom Bruch: Professoren als Kriegstreiber. Der Tagespiegel, 4. Juni 2014.

Jürgen von Ungern-Sternberg und Wolfgang von Ungern-Sternberg (1996): Der Aufruf an die Kulturwelt! Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart: Franz-Steiner Verlag, Historische Mitteilungen – Beiheft Bd. 18.

Paul F. Walker: Chemiewaffen – Vom Ersten Weltkrieg zur weltweiten Abschaffung. W&F 1-2013, S.30-32.

Stefan L. Wolff (2001): Physiker im »Krieg der Geister«. München: Deutsches Museum, Arbeitspapier, Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte.

Prof. Dr. Götz Neuneck ist Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Pazifismus vor 1914

Pazifismus vor 1914

Die Vorläufer der Zukunft als Quelle der Inspiration

von Peter van den Dungen

Der folgende Text ist ein Auszug aus einem Referat, das der Autor bei der 11. Strategiekonferenz der Kooperation für den Frieden, «1914-2014: 100 Jahre Krieg, 100 Jahre Pazifismus und Friedensbewegung«, im Februar 2014 hielt. In seinem Referat fokussierte er vor allem darauf, wie und mit welchen Themen die Friedensbewegung die zahlreichen Gedenkveranstaltungen in Europa und der übrigen Welt nutzen könne, um für ihre Agenda zu werben und diese voranzubringen. Die Dokumentation der Strategiekonferenz steht unter koop-frieden.de.

Bisher wurde weitgehend ignoriert, dass es eine Antikriegs- und Friedensbewegung schon vor 1914 gab. Die Friedensbewegung setzte sich damals zusammen aus Individuen, anderen politischen und sozialen Bewegungen sowie Organisationen und Institutionen, die die vorherrschenden Ansichten über Krieg und Frieden nicht teilten. Sie strebten ein System an, in dem Krieg kein akzeptables Instrument zur Lösung von Konflikten zwischen Staaten mehr ist.

Eigentlich begehen wir 2014 nicht nur den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges, sondern auch den 200. der Friedensbewegung. Mit anderen Worten: Schon 100 Jahre vor Kriegsbeginn hatte sich die Friedensbewegung dafür eingesetzt, die Menschen über die Gefahren und Leiden des Kriegs aufzuklären und ihnen die Vorteile und Möglichkeiten des Friedens vor Augen zu führen. In ihrem ersten Jahrhundert, vom Ende der Napoleonischen Kriege bis zum Ersten Weltkrieg, war die Friedensbewegung – anders als gemeinhin behauptet – durchaus erfolgreich. Zwar konnte sie die Katastrophe des »Großen Krieges« nicht abwenden, das mindert aber in keinster Weise ihre Bedeutung und ihre Verdienste. Bislang wurde dieses 200. Jubiläum nirgendwo erwähnt – als hätte die Bewegung gar nicht existiert oder verdiene es nicht, ihrer zu gedenken.

Die Friedensbewegung entstand in der Zeit unmittelbar nach den Napoleonischen Kriegen, sowohl in Großbritannien, als auch in den USA. Die Bewegung verbreitete sich nach und nach über ganz Europa und darüber hinaus. Sie legte den Grundstein für viele Institutionen und Innovationen der internationalen Diplomatie, die sich erst später im Jahrhundert, teilweise erst nach dem Ersten Weltkrieg, entfalten konnten, darunter die Idee von Schiedsgerichtsverfahren als gerechtere und rationalere Alternative zur brachialen Gewalt. Weitere Vorschläge der Friedensbewegung waren Abrüstung, föderale Union, Europäische Union, Völkerrecht, internationale Organisationen, Dekolonisierung und Frauenemanzipation. Viele dieser Vorschläge wurden im Nachgang der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen, und manche wurden auch verwirklicht, zumindest zum Teil.

Philanthrop Andrew Carnegie

Die Friedensbewegung war in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg besonders produktiv, als ihre Agenda auf höchster Regierungsebene aufgegriffen wurde, was u.a. zu den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 führte. Diesen beispiellosen Konferenzen war der Appell Zar Nikolaus’ II. vorausgegangen, das Wettrüsten zu stoppen und den Krieg durch friedliche Schlichtung zu ersetzen. Als direktes Ergebnis der Konferenzen wurde 1913 in Den Haag der Friedenspalast eröffnet, der seit 1946 Sitz des Internationalen Gerichtshofes der Vereinten Nationen ist. Den Friedenspalast verdankt die Welt der Großzügigkeit von Andrew Carnegie, dem schottisch-amerikanischen Stahlmagnaten, der zum Pionier der modernen Philanthropie wurde und leidenschaftlicher Gegner des Krieges war. Wie kein anderer unterstütze er großzügig Institutionen, die sich dem Streben nach Weltfrieden widmeten – viele von ihnen existieren bis heute.

Während der Friedenspalast mit dem Internationalen Gerichtshof seine wichtige Aufgabe, nämlich den Krieg durch den Rechtsweg zu ersetzen, weiterhin treu erfüllt, hat sich Carnegies großzügigstes Vermächtnis für den Frieden, die Stiftung »Carnegie Endowment for International Peace«, ausdrücklich vom Credo seines Gründers, der Abschaffung des Krieges, abgewandt. Dadurch wurde die Friedensbewegung um dringend benötigte Finanzmittel gebracht. Das ist vielleicht eine Erklärung dafür, dass die Bewegung nie zu einer Massenbewegung wurde, die wirksamen Druck auf Regierungen ausüben kann. Es lohnt sich, kurz darüber nachzudenken: Im Jahr 1910 gründete Carnegie, damals der berühmteste Friedensaktivist der USA und der reichste Mann der Welt, seine Friedensstiftung und stattete sie mit zehn Millionen US$ aus. Diese Summe entspricht heute 3,5 Milliarden US$. Stellen Sie sich mal vor, wie die Friedensbewegung bzw. die Bewegung für die Abschaffung des Krieges heute aussehen würde, wenn sie Zugang zu einer solchen Summe gehabt hätte, oder auch nur zu einem Bruchteil davon. Carnegie wollte mit seiner Stiftung eine Interessensvertretung und Aktivismus fördern, die Treuhänder seiner Stiftung legten den Schwerpunkt aber leider auf die Forschung. Schon 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, schlug einer der Treuhänder sogar vor, die Stiftung in »Carnegie Endowment for International Justice« umzubenennen.

Als die Stiftung kürzlich ihr 100. Jubiläum feierte, sprach die Stiftungspräsidentin, Jessica T. Mathews, vom „ältesten Think-Tank für internationale Angelegenheiten in den USA“. Ziel der Stiftung sei es in den Worten ihres Gründers, „die Abschaffung des Krieges, des widerlichsten Schandflecks unserer Zivilisation, zu beschleunigen“. Dann fügte sie aber hinzu: „[D]ieses Ziel war schon immer unerreichbar“.1 Eigentlich wiederholte sie damit nur das, was der damalige Stiftungspräsident in den 1950er und 1960er Jahren bereits sagte. Ein kürzlich von der Stiftung selbst veröffentlichter historischer Rückblick auf die Stiftungstätigkeit beschreibt, dass Joseph E. Johnson, zuvor Beamter im US-Außenministerium, als Präsident „den Schwerpunkt der Stiftung verschob, weg von ihrer unbeirrbaren Unterstützung für die Vereinten Nationen und weitere internationale Instanzen“. Weiter heißt es dort: „[…] zum ersten Mal bezeichnete ein Präsident des Carnegie Endowment die Friedensvision Andrew Carnegies mehr als Artefakt eines vergangenen Zeitalters denn als Inspiration für die Gegenwart. Jede Hoffnung auf dauerhaften Frieden sei eine Illusion“.2 Der Erste Weltkrieg zwang Carnegie zwar, seinen optimistischen Glauben zu überdenken, dass der Krieg „in naher Zeit als für den zivilisierten Menschen beschämend verworfen“ werden würde, es ist aber kaum anzunehmen, dass er die Vision der Abschaffung des Krieges komplett aufgab. Enthusiastisch unterstützte er US-Präsident Woodrow Wilsons Konzept für eine internationale Organisation und war hocherfreut, als der Präsident den von ihm vorgeschlagenen Namen »Völkerbund« akzeptierte. Er war voll Hoffnung, als er 1919 starb. Was würde er heute wohl über diejenigen sagen, die seine großartige Friedensstiftung auf einen ganz anderen Weg brachten, weit entfernt von seiner Hoffnung und seiner Überzeugung, dass der Krieg abgeschafft werden kann und muss? Und die damit auch der Friedensbewegung entscheidende Mittel für die Verwirklichung ihres großen Ziels entzogen haben? UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat Recht, wenn er immer wieder betont: „Die Welt ist überbewaffnet, und der Frieden ist unterfinanziert.“ Der weltweite Aktionstag gegen Militärausgaben, der ursprünglich vom Internationalen Friedensbüro vorgeschlagen wurde und am 14. April dieses Jahres zum vierten Mal begangen wird, beschäftigt sich genau mit dieser Thematik.3

Bertha von Suttner und Alfred Nobel

Ein weiteres Vermächtnis der internationalen Friedensbewegung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist mit dem Namen eines erfolgreichen Geschäftsmannes, Friedensaktivisten und Philanthropen verbunden, der zugleich ein bemerkenswerter Wissenschaftler war: der schwedische Erfinder Alfred Nobel. Der Friedensnobelpreis, erstmals verliehen im Jahr 1901, ist vor allem seiner engen Zusammenarbeit mit Bertha von Suttner zu verdanken. Die österreichische Baronin war sogar einmal seine Sekretärin in Paris – allerdings nur eine Woche lang.

Von Suttner wurde, als 1889 ihr Bestseller »Die Waffen nieder!« erschien, zur unangefochtenen Anführerin der Friedensbewegung. Sie blieb es bis zu ihrem Tod 25 Jahre später, am 21. Juni 1914, eine Woche vor den Schüssen von Sarajevo. Dieses Jahr gedenken wir ihres hundertsten Todestages und des 125. Jahrestages der Veröffentlichung ihres berühmten Romans. Lew Tolstoi. Autor des Romans »Krieg und Frieden«, schrieb ihr im Oktober 1891: „Ich schätze ihr Werk sehr hoch, und ich glaube, dass die Veröffentlichung Ihres Romans ein glückliches Vorzeichen ist. Die Abschaffung der Sklaverei wurde durch das berühmte Buch einer Frau, Mme. Beecher-Stowe, vorbereitet. Gebe Gott, dass die Abschaffung des Krieges durch das Ihre bewirkt wird!“.4 Keine Frau hat wohl mehr zur Verhinderung von Krieg getan als Bertha von Suttner.5

Man kann wohl behaupten, dass »Die Waffen nieder!« das Buch hinter der Stiftung des Friedensnobelpreises ist. Bertha von Suttner wurde selbst im Jahr 1905 als erste Frau mit dem Preis ausgezeichnet. Dieser Preis war im Wesentlichen ein Preis für die gesamte Friedensbewegung, wie sie von Bertha von Suttner vertreten wurde. Dass der Friedensnobelpreis in Zukunft wieder für entsprechende Aktivitäten und für Abrüstung vergeben wird, dafür setzt sich seit Jahren nachdrücklich der norwegische Rechtsanwalt und Friedensaktivist Fredrik Heffermehl ein.6

Weitsichtige Prognosen: Norman Angell und Jan Bloch

Einige führende Köpfe der Friedenskampagnen aus der Zeit vor 1914 versuchten alles Menschenmögliche, um ihre Mitbürger vor der Gefahr eines künftigen Weltkrieges zu warnen, und drängten darauf, dass dieser um jeden Preis verhindert werden müsse. Der britische Journalist Norman Angell argumentierte in seinem 1910 erschienenen Bestseller»The Great Illusion. A Study of the Relation of Military Power in Nations to their Economic and Social Advantage «,7 aufgrund der komplexen ökonomischen und finanziellen Verflechtungen sei Krieg zwischen den kapitalistischen Staaten irrational und kontraproduktiv, er würde zu großen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen führen. Sowohl während als auch nach dem Krieg war »Desillusionierung« das vorherrschende Gefühl bezüglich des Krieges – eine klare Bestätigung für Angells These. Die Art der Kriegsführung und die Konsequenzen des Krieges unterschieden sich deutlich von dem, was allgemein erwartet worden war, nämlich ein »war as usual«. Dies spiegelte sich im kurz nach Kriegsbeginn beliebten Spruch wider: „Bis Weihnachten sind die Jungs wieder aus den Schützengräben und zu Hause.“ Gemeint war natürlich Weihnachten 1914. Es kam aber anders: Diejenigen, die die Massenschlächtereien überlebten, kamen erst vier Jahre später tatsächlich nach Hause zurück.

Einer der Hauptgründe für die Fehleinschätzungen und falschen Vorstellungen über den Krieg war die mangelnde Vorstellungskraft derjenigen, die den Krieg planten und führten.8 Sie sahen nicht voraus, dass durch die Fortschritte in der Waffentechnik – insbesondere die Erhöhung der Feuerkraft durch das Maschinengewehr – traditionelle Infanteriegefechte hinfällig und Geländegewinne auf dem Schlachtfeld dadurch fast unmöglich wurden. Vielmehr verschanzten sich die Truppen in Schützengräben, es kam zum Patt. Wie Krieg sich zum industrialisierten Massenmord entwickelte, wurde erst im Verlauf des Krieges erkannt (und selbst dann lernten die Feldherren nur langsam, wie im Falle des britischen Oberbefehlshabers, General Douglas Haig, gut dokumentiert ist).

Dabei hatte der polnisch-russische Unternehmer und Pionier der modernen Friedensforschung, Jan Bloch (auch Johann von Bloch, 1836-1902), bereits im Jahr 1898, also schon 15 Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges, in seiner prophetischen sechsbändigen Studie über den Krieg der Zukunft erklärt, dass dieser Krieg vollkommen anders sein würde. „Vom nächsten großen Krieg kann man als von einem Rendez-vous des Todes sprechen!“, schrieb er im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Mammutwerks »Der Krieg«.9 Er begründete und bewies, warum ein solcher Krieg „unmöglich“ geworden sei – unmöglich, es sei denn um den Preis des Selbstmords. Und als genau das erwies sich der Krieg dann auch: als Selbstmord der europäischen Zivilisation, der zum Zerfall des Österreichisch-Ungarischen, des Osmanischen, des Romanovschen und des Wilhelminischen Reiches führte. Das Kriegsende brachte auch das Ende der Welt, die die Menschen bis dahin kannten. Das brachte der Titel der erschütternden Memoiren eines Autors, der „über dem Kampf stand“, auf den Punkt: Stefan Zweigs »Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers« (postum 1942 in Stockholm erschienen).

Diese Pazifisten, (zu denen Zweig gehörte, auch wenn er sich nie aktiv an der Friedensbewegung beteiligte), die die Zerstörung ihrer Länder durch einen Krieg verhindern wollten, waren echte Patrioten. Sie wurden aber häufig verhöhnt und als naive Idealisten, Utopisten, Feiglinge und sogar Verräter abgestempelt. Das waren sie aber keineswegs. Zu Recht nannte Sandi E. Cooper ihre Studie zur Friedensbewegung vor dem Ersten Weltkrieg »Patriotic Pacifism: Waging War on War in Europe, 1815-1914« (1991, Oxford University Press). Hätte die Welt besser zugehört, was diese Menschen zu sagen hatten, wäre die große Katastrophe vermutlich vermeidbar gewesen. Karl Holl, der Doyen der deutschen Friedenshistoriker, beschrieb das im Vorwort zu seinem grandiosen Handbuch über die Friedensbewegung im deutschsprachigen Europa so: „[…] den Skeptikern mag manche Information über die historische Friedensbewegung vor Augen führen, wieviel Leid Europa erspart geblieben wäre, wären die Warnungen der Pazifisten auf weniger taube Ohren gestoßen und hätten praktische Initiativen und Vorschläge des organisierten Pazifismus Eingang in die offizielle Politik und Diplomatie gefunden“.10

Die Vorläufer der Zukunft als Quelle der Inspiration

Wenn einerseits, wie Holl wohl zu Recht behauptet, die Erkenntnis über die Existenz und die Arbeit der organisierten Friedensbewegung vor dem Ersten Weltkrieg deren Kritiker mit einem gewissen Maß an Demut erfüllen sollte, so sollte sie zugleich den heutigen Nachfolgern dieser Bewegung als Ermutigung dienen. Um noch einmal Holl zu zitieren: „Die Gewissheit, auf den Schultern von Vorgängern zu stehen, die ungeachtet der Feindseligkeit oder der Gleichgültigkeit ihrer Zeitgenossen unbeirrbar an ihrer pazifistischen Überzeugung festhielten, mag die Friedensbewegung von heute manche Anfechtung von Mutlosigkeit besser bestehen lassen.“ 11 Doch diesen „Vorläufern der Zukunft“ (wie es Romain Rolland treffend ausdrückte) wurde nie der ihnen gebührenden Respekt zuteil. Wir erinnern uns nicht an sie; sie sind nicht Teil unserer Geschichte, wie sie in den Lehrbüchern steht; es gibt keine Denkmäler für sie, und es sind auch keine Straßen nach ihnen benannt. Was für eine einseitige Sicht auf Geschichte vermitteln wir den nächsten Generationen! Es ist hauptsächlich den Bemühungen von Historikern wie Karl Holl und seinen Kollegen aus dem Arbeitskreis Historische Friedensforschung zu verdanken, dass in jüngerer Zeit das ganz »andere Deutschland« offengelegt wurde.

In diesem Kontext möchte ich gerne dem vom Bremer Friedenshistoriker Helmut Donat gegründeten Verlag meine Hochachtung aussprechen. Ihm ist es zu verdanken, dass wir heute über eine stetig wachsende Sammlung von Biographien und weiteren Studien über die Geschichte der deutschen Friedensbewegung aus der Zeit vor 1914 und der Zwischenkriegszeit verfügen.12

Auch anderswo, vor allem in den USA, schlossen sich Friedenshistoriker (mobilisiert durch den Vietnamkrieg) in den letzten 50 Jahren zusammen, sodass die Geschichte der Friedensbewegung zunehmend besser dokumentiert ist. So wird nicht nur die Geschichte von Krieg und Frieden präziser, ausgewogener und wahrheitsgemäßer dargestellt, sondern sie dient den heutigen Friedens- und Antikriegsaktivisten zugleich als Quelle der Inspiration. Ein Meilenstein in diesem Unterfangen ist das »Biographical Dictionary of Modern Peace Leaders«.13, das Friedenspersönlichkeiten von 1800 bis 1980 aus der ganzen Welt vorstellt.

Gedenken und Kriegsgegner ehren

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass wir uns bei den Gedenkveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg auch derjenigen erinnern und sie ehren sollten, die sich in den Jahrzehnten vor 1914 intensiv bemühten, eine Welt zu schaffen, aus der die Institution Krieg verbannt wäre. Mehr Bewusstsein und Unterricht in Friedensgeschichte sind nicht nur wünschenswert, ja, sogar unerlässlich, für Schüler, Studierende und andere junge Menschen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Daher darf bei den Gedenkveranstaltungen für die Kriegsopfer auf den zahllosen Schlachtfeldern Europas und weltweit die Möglichkeit zur ausgewogeneren Darstellung der Geschichte – und insbesondere zur Ehrung der Kriegsgegner – nicht fehlen.

„Niemand beging einen größeren Fehler als jener, der nichts tat, nur weil er nur wenig tun konnte“. (Edmund Burke)

Anmerkungen

1) Siehe ihr Vorwort in: David Adesnik (2011): 100 Years of Impact – Essays on the Carnegie Endowment for International Peace. Washington, D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, S.5.

2) David Adesnik (2011), op.cit.

3) Siehe demilitarize.org.

4) Bertha von Suttner (1965): Memoiren. Bremen: Verlag C. Schünemann.

5) Siehe dazu Caroline E. Playne (1936): Bertha von Suttner and the struggle to avert the World War. London: George Allen & Unwin. Siehe insbesondere auch: Bertha von Suttner (1917): Der Kampf um die Vermeidung des Weltkriegs. Randglossen aus zwei Jahrzehnten zu den Zeitereignissen vor der Katastrophe. (1892-1900, 1907-1914). Zwei Bänder, herausgegeben von Dr. A.H. Fried. Zürich: Orell Fuessli.

6) Fredrik Heffermehl (2010): The Nobel Peace Prize: What Nobel Really Wanted. Santa Barbara, CA: Praeger-ABC-CLIO.

7) Norman Angell (1910): The Great Illusion. A Study of the Relation of Military Power in Nations to their Economic and Social Advantage. London: William Heinemann. Das Buch wurde mehr als eine Million Mal verkauft und in 25 Sprachen übersetzt. Auf deutsch erschienen 1911 unter dem Titel »Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein?«. Berlin: Vita Deutsches Verlagshaus.

8) Siehe z.B. Paul Fussell (1975): The Great War and Modern Memory. New York: Oxford University Press, S.12-13.

9) Johann von Bloch (1899): Der Krieg. Übersetzung des russischen Werkes des Autors: Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung«. Berlin: Puttkammer und Mühlbrecht, hier Band I, S. XV; online unter archive.org/details/derkrieg05blocgoog. Siehe dazu Jürgen Scheffran: Der unmögliche Krieg. Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs. W&F 2-2014, S.38-42.

10) Helmut Donat und Karl Holl (Hrsg.) (1983): Die Friedensbewegung: Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Hermes Handlexikon. Düsseldorf: ECON Taschenbuchverlag, S.14.

11) Ibid.

12) Die Geschichte von »Donat Verlag und Antiquariat« ist interessant. Helmut Donat konnte in den 1980er Jahren keinen Verleger für seine Biographie über Hans Paasche finden – einem bemerkenswerten Marine- und Kolonialoffizier, der zu einem vehementen Kritiker der deutschen Kultur der Gewalt wurde und 1920 von nationalistischen Soldaten ermordet wurde. Also gründete Donat seinen eigenen Verlag und brachte das Buch dort heraus.

13) Harold Josephson (1985) (ed.): Biographical Dictionary of Modern Peace Leaders . Westport, Connecticut: Greenwood Pub Group.

Dr. Peter van den Dungen ist Visiting Fellow am Department of Peace Studies der University of Bradford (UK). Der Friedenshistoriker ist Gründer und seit 1992 General Coordinator ehrenhalber des International Network of Museums for Peace (inmp.net), dessen Sekretariat im Bertha-von-Suttner-Haus in Den Haag angesiedelt ist.

Engagement im Lied

Engagement im Lied

Liedermacher und die Friedensbewegung

von Jürgen Nieth

Das politische Lied ist in Deutschland seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eng mit der deutschen Friedensbewegung verbunden: Singend wurde auf der Straße und von der Bühne Solidarität gefordert und postuliert; die politischen Zustände wurden kritisiert und Alternativen formuliert. Und es wurde – manchmal agitatorisch, manchmal mit eher verschlüsselten Texten – zum Nachdenken und Handeln aufgefordert. Ein Rückblick.

Parallel zu der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der 50er, den Ostermärschen der 60er und dem Protest gegen die »Nach«-Rüstung der 80er Jahre wurden zu allen relevanten friedens- oder gesellschaftspolitischen Themen Lieder gedichtet, vertont, umgetextet oder wieder neu entdeckt. Beispiele sind die »auf der Straße zu singenden Lieder« von Gerd Semmer, Fasia Jansen und Hannes Stütz, die »agitatorischen« Chansons von Dieter Süverkrüp, die nachdenklichen Balladen von Franz Josef Degenhardt, die (so Pressestimmen) „brachial-sinnlichen“ Songs von Konstantin Wecker. Zum Repertoire von Hannes Wader gehörten neben seinen gesellschaftskritischen Liedern auch zahlreiche Übersetzungen sowie zwischendurch vergessene antifaschistische, Arbeiter- und Revolutionslieder.

Bewegung gegen die Remilitarisierung

Die Friedensbewegung,die sich seit den frühen 50er Jahren gegen die Remilitarisierung und die Gründung der Bundewehr formte, wurde in der BRD trotz staatlicher Repression zur Massenbewegung. Zu ihren Aktionsformen gehörten Unterschriftensammlungen und Massendemonstrationen genauso wie Aktionen des Zivilen Ungehorsams. Proteste, Blockaden und Besetzungsaktionen richteten sich u.a. gegen die Nutzung Helgolands als Bombenabwurfplatz der britischen Luftwaffe, gegen Truppenübungsplätze der USA und Großbritanniens, gegen die Nutzung deutscher Häfen für Waffentransporte und gegen die Anlage von Sprengschächten an Autobahnen oder dem Loreleyfelsen.

Das Liedgut dieser Bewegung knüpfte vor allem an die 20er Jahre an. Es dominierten Lieder für eine bessere, gerechtere Gesellschaftsordnung, Lieder des spanischen Bürgerkriegs und des antifaschistischen Widerstands oder auch alte Freiheitslieder, wie »Die Gedanken sind frei«. Neue Texte und Melodien wurden von der westdeutsche Friedensbewegung (oder für sie) in dieser Zeit nicht geschrieben. Ganz anders in der DDR, wo die Künstler an die Tradition der 20er Jahre anknüpften. Kein Zufall also, dass auch das bekannteste Lied, das sich auf konkrete Protestaktionen bezieht, von einem Ostberliner geschrieben wurde.

Anlässlich einer Protestaktion an der Loreley und vor dem Hintergrund des Koreakrieges schrieb Ernst Busch 1950:

Was ist unser Leben wert,
wenn allein regiert das Schwert
und die ganze Welt zerfällt in toten Sand?
Aber dies wird nicht gescheh’n,
denn wir wolln nicht untergeh’n,
und so rufen wir durch unser deutsches Land:

Refrain:
Go home, Ami, Ami go home!
Spalte für den Frieden dein Atom!
Sag’ »good bye« dem Vater Rhein,
rühr’ nicht an sein Töchterlein,
Loreley, solang du siegst, wird Deutschland sein.

Clay und Cloy aus USA
sind für die Etappe da:
»Soll’n die German Boys verrecken in dem Sand!«
Noch sind hier die Waffen kalt,
doch der Friede wird nicht alt,
hält nicht jeder schützend über ihn die Hand!
Go home, Ami, Ami go home […]

Kampf dem Atomtod

Mit der »Ohne-mich«-Bewegung nach Einführung der Wehrpflicht und der Bewegung gegen den Atomtod bekam ein Lied der Sozialistischen Jugend aus den 20er Jahren neue Aktualität:

Nie, nie woll‘n wir Waffen tragen,
nie, nie woll‘n wir wieder Krieg.
Lasst die hohen Herrn sich selber schlagen,
wir machen einfach nicht mehr mit.

Erst die Ostermärsche der 60er Jahre setzten starke Impulse für neue politische Lieder in der BRD.

Unüberhörbar ist zu Beginn die Inspiration durch die Anti-Atombewegung in Großbritannien und durch »Folksinger« aus den USA. »We shall overcome« war wohl das meistgesungene Lied der Ostermärsche. Unter den deutschen LiedermacherInnen war eine Stimme nicht zu überhören: die von Fasia Jansen. Sie machte die von Gerd Semmer bearbeitete Fassung des englischen Aldermaston-Songs populär.

Hörst du nicht H-Bombendonner?
Denkst du dir denn nichts dabei?
Menschen müssen langsam sterben,
ist es dir denn einerlei?
Willst du, dass die kleinen Kinder
elend dran zugrunde gehen,
und die Nachbarn und die Freunde –
willst du sie verbrennen seh’n?

Refrain:
Bombe weg für alle Zeiten
ist jetzt oberstes Gebot.
Einig sein in diesem Ziele,
oder wir sind morgen tot.

[…]
Nur an deiner Stimme liegt es,
ob die Welt zu Asche wird.
Nur an deinem Handeln sieht man,
ob Vernunft dein Herz regiert.
Darum musst du mit uns gehen,
denn es ist noch nicht zu spät.
Dein Gewissen muss jetzt sprechen,
dass die Erde fortbesteht.

Inhaltlich ging es bei den neuen deutschen Protestsongs zu Beginn der 60er Jahre vor allem um den Kampf gegen die Atombombe. Dafür stehen Lieder wie der »Weltuntergangsblues«, »Die Höllenbombe« und »Strontium 90« (Semmer/Dallas):

Jeder neue H-Bombenversuch
ist ein Fetzen mehr für dein Leichentuch.
Komm, sei nicht müde, du musst etwas tun,
es geht um die kommende Generation:
Strontium 90, Strontium 90
fällt auf die ganze Welt.
Strontium 90, Strontium 90
vergiftet Flur und Feld.

Zum Ostermarsch 1964 schrieb Hannes Stütz mit »Unser Marsch ist eine gute Sache« auch eine Antwort auf die Verleumdungskampagne der Regierenden, nach der die Bewegung »vom Osten« gesteuert sei.

Unser Marsch ist eine gute Sache
weil er für eine gute Sache geht.
Wir marschieren nicht aus Haß und Rache
wir erobern kein fremdes Gebiet.
Unsre Hände sind leer,
die Vernunft ist das Gewehr,
und die Leute versteh’n uns’re Sprache:

Refrain:
Marschieren wir gegen den Osten? Nein!
Marschieren wir gegen den Westen? Nein!
Wir marschieren für die Welt
die von Waffen nichts mehr hält.
Denn das ist für uns am besten.

[…]
Du deutsches Volk, du bist fast immer
für falsche Ziele marschiert,
am Ende waren nur Trümmer.
Weißt du heute, wohin man dich führt?
Nimm dein Schicksal in die Hand,
steck den Kopf nicht in den Sand
und laßt euch nicht mehr verführen!

Vor allem Gerd Semmer bezieht sich in diesen Jahren in seinen Texten immer wieder auf die aktuelle politische Entwicklung in der BRD. Als 1963/64 die Bundesregierung eine Luftschutzkampagne startete, die von einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung als Verharmlosung der wirklichen Kriegsgefahren abgelehnt wurde, karikiert er diese Politik in seinem »Luftschutzlied« (Musik Dieter Süverkrüp):

Leute greift zur Feuerpatsche,
stellt den Tütensand bereit,
ohne dass ihr es beachtet,
ist schon wieder Luftschutzzeit.

Wieder müsst ihr Vorrat hamstern:
Selterswasser, Haferschleim,
Luftmatratzengruft mit Kerzen –
schmückt den Keller wie das Heim.

Mut in Pillen, Luft in Dosen,
schlau bedacht ist alles hier.
Wenn die Luft euch aber wegbleibt,
dann seid doch die Dummen ihr.

Schwarze Herrenschokolade,
wenn ihr reinbeisst, wenn es kracht,
sollt ihr wissen: schwarze Herren
haben dies für euch vollbracht.

Wieder müsst ihr euch luftschützen:
Himmel blau – und plötzlich rot;
ohne dass sie es beachten,
sind schon zehn Millionen tot.

Mitte der 60er Jahre wurden Pläne bekannt, einen Atomminengürtel entlang der Grenze zur DDR zu legen. Es entstand »Verbrannte Erde in Deutschland« (Semmer/Jansen):

Feuer, Vorsicht, man legt Feuer,
ein Atomminengürtel wird geplant.
Geht auf die Straße und schreit Feuer!
Feuer, unsere Erde wird verbrannt.

Annemarie Stern schrieb in einem Vorwort zu »Politische Lieder ’67« über die Texte dieser Zeit: „Es sind politische Lieder und keine Protestschnulzen. Das Argument überwiegt die Emotion, die Verständlichkeit die so genannte Poesie. Reines kulinarisches Kunstvergnügen ist also nicht beabsichtigt, weil dann die Argumentation in die Binsen ginge.“

Neue Schwerpunkte der Ostermärsche

Mitte der 60er Jahre änderten sich die politischen Schwerpunkte der Ostermärsche. Zum Protest gegen die Bombe kam der Widerstand gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze. Das spiegelte sich auch in den Liedern wider. Dieter Süverkrüp agitierte gegen die Zustimmung der SPD zu den Notstandsgesetzen mit seinem »An alle schon jetzt – oder demnächst – enttäuschten SPD Wähler; nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze zu singen«. Fast alle LiedermacherInnen schrieben gegen den Vietnamkrieg. Unvergessen bleibt Degenhardts »P. T. aus Arizona«, gewidmet einem amerikanischen »GI«, der sich in Kaiserslautern seinem Vietnameinsatz entzog und nach Frankreich desertierte. Dieter Süverkrüp verfasste einen ganzen Vietnamzyklus, und Fasia Jansen textete »An meinen amerikanischen Brieffreund Jonny«. Von der Düsseldorfer Skiffle-Gruppe »Die Conrads« stammt »Für Vietnam«:

Vielleicht wird die Bombe schon scharf gemacht.
Vielleicht, doch was ist schon dabei?
Und ein Reisbauer wird wieder umgebracht –
denn so macht man Reisbauern frei.

Vielleicht schreit ein Kind jetzt, von Phosphor verbrannt.
Vielleicht predigt ein Pfarrer von Gott,
Und der Mörder des Kindes bleibt ungenannt,
denn ein Christ kennt genau sein Gebot.

Und sie brennen im Namen des Abendlands
einem Volk ihren Stempel ins Fleisch.
Und sie liefern der Freiheit den Totenkranz,
doch einst zahlen sie dafür den Preis.

Die Entwicklung des politischen Liedes wurde von vielen Faktoren bestimmt. Bei den Ostermärschen traten u.a. Joan Baez und der Kanadier Perry Friedmann auf. Beide knüpften an die Tradition nordamerikanischer Arbeiterlieder à la Woody Guthrie und Pete Seeger an. Von 1964 bis 1968 trafen sich auf der Burg Waldeck Tausende zum jährlichen Songfestival »Chansons, Folklore International«. Prägend dabei: Franz Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch, Fasia Jansen, Hein und Oss Kröher, Reinhard Mey, Walter Moosmann, Dieter Süverkrüp und Hannes Wader. Der Einfluss des französischen Chanson und des politischen Kabarett ist bei Degenhardt und Süverkrüp nicht zu überhören, Hüsch war selbst politischer Kabarettist. Dementsprechend zeichnen sich viele Werke der drei durch einen beißenden Spott aus.

Auch musikalisch gab es eine Weiterentwicklung. In den 50er und 60er Jahren dominierte die Gitarre, bei den Ostermärschen manchmal ergänzt durch Banjo, Mundharmonika und Rhythmusinstrumente. Ende der 60er trat Dieter Süverkrüp zusammen mit der Kölner Rockband »Floh de Cologne« auf, Franz Josef Degenhardt spielte ebenfalls mit Band. Zu Konstantin Wecker, der in den 70ern dazu kommt, gehört das Klavier. Dazu kommen »Ton, Steine, Scherben«, »Die Schmetterlinge«, »Lokomotive Kreuzberg« und andere Rockgruppen mit linken politischen Texten.

Die 80er Jahre

Degenhardt, Hüsch, Süverkrüp, Wader und Wecker – sie alle liehen ihre Ideen und ihre Stimme auch der Friedensbewegung der 80er Jahre, traten insbesondere bei Protesten gegen die nukleare »Nach«-Rüstung vor Hunderttausenden auf. An den vier Konzerten der »Künstler für den Frieden« zwischen 1981 und 1983 beteiligten sich hunderte KünstlerInnen. Zu den fast 200 Mitwirkenden bei dem größten dieser vier Konzerte, 1982 in Bochum, zählte neben den oben genannten viel internationale »Prominenz«, darunter auch deutsche KünstlerInnen, die bis dahin nicht für politisches Engagement bekannt waren, wie Bill Ramsey, Gitte und Katja Ebstein.

Das war eine Ausnahmesituation: Nie zuvor war der Einfluss des politischen Liedes so groß, wie in diesen Jahren, und nie zuvor hatte die BRD eine solche Massenbewegung für den Frieden erlebt.

In dieser Zeit entstanden auch viele unmittelbar aktionsbezogene Lieder. So wandte sich Gerda Heuer gegen »Frauen in die Bundeswehr«:

Schon seit vielen Jahren
gibt’s die Bundeswehr
und nun soll’n auch Frauen
in das Männerheer.

Jetzt soll’n auch Frauen kämpfen
für Macht und Militär
wir lassen uns nicht knechten
wir setzen uns zur Wehr.

Die Frauen in unserem Staate
hab’n nichts damit im Sinn,
sie halten ihre Köpfe nicht
für solchen Unsinn hin.

Ekkes Frank protestierte gegen die öffentlichen Gelöbnisse der Bundeswehr mit einer Neufassung von »Wenn die Soldaten«:

Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren,
schließen Demokraten Fenster und Türen,
Ei warum? Ei darum!
Ei, schon mal wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Wenn die Demokraten dagegen protestieren,
dann darf die Polizei ihnen die Fresse polieren.
Ei warum? Ei darum!
Ei, nur wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Wenn man mich fragt, ob mir denn nicht klar ist,
wozu die Bundeswehr denn eigentlich da ist,
dann frag ich: Ei warum?
Dann sag ich: Ei warum?
Wohl nur wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Denn wenn eines Tages, dann wirklich ein Krieg kommt,
dann ist heute schon klar, dass da keiner zum Sieg kommt.
Ei warum? Ei darum!
Da hilft dann auch kein Dschingdarassa,
da macht es nur noch – – – Bumm.

Zu einer Art Hymne der Friedensbewegung wurde in den 80er Jahren das Lied »Aufstehn« der niederländischern Gruppe »Bots«, das in Variation auch bei vielen anderen emanzipatorischen Aktionen gesungen wurde:

Alle die nicht gerne Instant-Brühe trinken, sollen aufstehn
Alle, die nicht schon im Hirn nach Deo-Spray stinken, sollen aufstehn
Alle, die noch wissen, was Liebe ist
Alle, die noch wissen, was Hass ist
und was wir kriegen sollen, nicht das ist, was wir wollen,
sollen aufstehn […]

Alle, die gegen Atomwaffen sind […]
Alle Frauen für den Frieden sollen aufstehn […]
Alle Menschen, die ein besseres Leben wollen, sollen aufstehn […]

Die Stimmung der Straße erfasste ein anderes Lied, das die »Bots« populär machten: »Das weiche Wasser« (frei nach Brecht von Lerryn/Sanders):

Europa hatte zweimal Krieg
der dritte wird der letzte sein
gib bloß nicht auf, gib nicht klein bei
das weiche Wasser bricht den Stein

Die Bombe, die kein Leben schont
Maschinen nur und Stahlbeton
hat uns zu einem Lied vereint
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain:
Es reißt die schwersten Mauern ein
und sind wir schwach und sind wir klein
wir wollen wie das Wasser sein
das weiche Wasser bricht den Stein

Raketen steh’n vor unsrer Tür
die soll’n zu unserm Schutz hier sein
auf solchen Schutz verzichten wir
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain
Die Rüstung sitzt am Tisch der Welt
und Kinder, die vor Hunger schrei’n
für Waffen fließt das große Geld
doch weiches Wasser bricht den Stein

Refrain
Komm feiern wir ein Friedensfest
und zeigen, wie sich‘s leben läßt
Mensch! Menschen können Menschen sein
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain

Und heute?

Der Aufschwung des politischen Liedes in den 60ern war sehr zeitspezifisch. Er hing zusammen mit der unmittelbaren Bedrohungssituation und der Aufbruchstimmung in der Gesellschaft, die schließlich zu »68« führten. Die LiedermacherInnen der 80er Jahre wiederum hatten ihren Resonanzboden in einer bis dahin beispiellosen Massenbewegung gegen nukleare Rüstung.

Und heute? Hannes Wader und Konstantin Wecker gehen noch regelmäßig auf Tournee, ihre Texte sind nach wie vor aktuell. Aber nur wenige »Jüngere«, wie Kai Degenhardt, widmen sich den (neuen) friedenspolitischen Themen. Ihre Zuhörerzahlen gehen selten in den vierstelligen Bereich – am Mangel an Themen liegt das sicherlich nicht. 1986 warb die Friedensbewegung zu ihrer letzten großen Demonstration gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in den Hunsrück; die Losung lautete »Frieden braucht Bewegung«. Ohne (Massen-) Bewegung bleibt auch für das politische Lied nur die Nische.

Nachbemerkung

Ich habe hier aus Platzgründen nur wenige Lieder im vollen Wortlaut zitiert und dafür Lieder ausgewählt, die damals mitgesungen wurden, die politische Schwerpunkte der Bewegung spiegeln und die inzwischen drohen, in Vergessenheit zu geraten. Franz Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader, Konstantin Wecker u.a. wurden nur sparsam zitiert, weil bei ihnen reinhören möglich ist – und sehr empfehlenswert.

Konstantin Weckers Lieder liegen alle auf CD vor, und von Hannes Wader kommen jetzt auch die »Pläne Jahre 1979-2007«, die es bisher nur auf Platte gab, auf CD heraus (Universal). »Süverkrüps Liederjahre, 1963 bis 1985 ff« sind in einer Box mit vier CDs versammelt (Conträr, 2002) sowie als Textbuch (Grupello, 2002). Von Franz Josef Degenhardt sind »Gehen unsere Träume durch mein Lied. Ausgewählte Lieder 1963 bis 2008« ebenfalls auf vier CDs erhältlich (Koch Universal Music, 2011).

Unter dem Titel »Fasia – geliebte Rebellin« ist von Marina Achenbach et. al. eine Biographie über Fasia Jansen erschienen, der auch eine CD mit 22 Songs beiliegt (Asso Verlag, 2004).

Jürgen Nieth ist Vorstandsmitglied von W&F. Er ist seit der Anti-Atombewegung Ende der 1950er Jahre in der Friedensbewegung aktiv.

Kunst und Krieg 1914-18

Kunst und Krieg 1914-18

von Steffen Bruendel

Es gehört zu den bis heute verstörenden Phänomenen des Ersten Weltkrieges, dass die damalige kulturelle Elite – Maler, Bildhauer und Dichter1 – bei Kriegsbeginn 1914 in Jubel ausbrach: anerkannte Repräsentanten der etablierten Kunstrichtungen ebenso wie hervorragende Vertreter der künstlerischen und literarischen Avantgarden. Sie verewigten das Erlebte mit Pinsel und Feder, porträtierten sich in Uniform, formulierten ihre »Gedanken im Kriege« (Thomas Mann) und verfassten patriotische Gedichte. Viele meldeten sich sogar freiwillig. Was bewog sie dazu? Wie erlebten sie den Krieg? Wie wirkte er sich auf ihren künstlerischen Ausdruck aus? Dieser Beitrag beleuchtet die damalige Ideenwelt sowie die Erwartungen, die mit dem Krieg verbunden wurden und schon nach kurzer Zeit bitter enttäuscht werden sollten. Was als apokalyptische Neuerung von vielen ersehnt worden war, entpuppte sich in der Realität als so zerstörerisch, dass Künstler und Dichter um einen angemessenen Ausdruck rangen.

Käthe Kollwitz schrieb am 13. August 1914 folgende Worte in ihr Tagebuch: „Die Männer[,] die in den Krieg gehn, hinterlassen meist Frau und Kinder, ihr Herz ist geteilt. Die Jungen sind in ihrem Herzen ungeteilt. Sie geben sich mit Jauchzen. Sie geben sich wie eine reine schlackenlose Flamme, die steil zum Himmel steigt.“ 2

Kurz zuvor hatte sie ihren Mann gebeten, der freiwilligen Gestellung ihres 18-jährigen Sohnes Peter zuzustimmen. Das war ihr nicht leicht gefallen, aber es war der sehnlichste Wunsch ihres Jüngsten gewesen, noch vor seiner Einberufung dabei zu sein. „Das Vaterland braucht dich noch nicht, sonst hätte es dich schon gerufen“, so Karl Kollwitz zu Peter, woraufhin dieser entgegnet habe: „Das Vaterland braucht meinen Jahrgang noch nicht, aber mich braucht es.“ Diese unbedingte Vaterlandsliebe beeindruckte Käthe Kollwitz, obgleich sie, der Sozialdemokratie nahe stehend, zwiespältige Gefühle hegte. Wie viele andere hatte aber auch sie den Kriegsbeginn als „ein Neu-Werden“ empfunden: „Als ob nichts der alten Werteinschätzungen noch standhielte, alles neu geprüft werden müsste.“ Sie erlebte, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute, „die Möglichkeit des freien Opfers“.3

Jener Mischung aus Opferbereitschaft und Vaterlandsliebe, welche zahlreiche junge Männer dazu bewog, sich im Sommer 1914 freiwillig zum Kriegseinsatz zu melden, hat der Dichter Heinrich Lersch nach Kriegsbeginn besonders prägnant Ausdruck verliehen:

„Laß mich gehn, Mutter, laß mich gehn! All das Weinen kann uns nichts mehr nützen, denn wir gehn das Vaterland zu schützen! Laß mich gehn, Mutter, laß mich gehn. Deinen letzten Gruß will ich vom Mund dir küssen: Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!“ 4

Mit diesen Zeilen beginnt sein Gedicht »Soldatenabschied«. Als Schriftsteller war der Kesselschmied Lersch Autodidakt. Wie Käthe Kollwitz stand er sozialistischen Gedanken nahe und ließ sich wie sie in seinem Werk von der Arbeitswelt inspirieren. Bei Kriegsbeginn 25 Jahre alt, meldete er sich freiwillig. Auch der bis dato noch unbekannte Dichter Ernst Lissauer strebte an die Front, wurde aber aus gesundheitlichen Gründen abgewiesen. Mit seinem wenig später veröffentlichten »Haßgesang gegen England« sollte er über Nacht berühmt werden. Aber selbst arrivierte Künstler engagierten sich. In München meldete sich mit 36 Jahren der Maler Albert Weisgerber freiwillig und schrieb seiner Frau, er hoffe, die Landung in England als „Höhepunkt des Krieges“ mitzuerleben. Und auch den 51-jährigen Richard Dehmel, damals einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker, zog es an die Front.5

Wie ist diese Stimmung zu erklären? Wie erlebten die Dichter und Künstler den Krieg, und wie wirkte er sich auf ihr Werk aus? Um Antworten zu finden, wird zunächst die politisch-soziale Ausgangslage dargestellt und dann die Ideenwelt der Künstler und Dichter skizziert. Anschließend wird das so genannte »Augusterlebnis« beschrieben und mit der Desillusionierung kontrastiert, die aufgrund der Fronterfahrungen einsetzte.

Wohlstand, Reformstau und Krisen

Seit der Jahrhundertwende erfuhr das Deutsche Reich einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg. Die Zeit von 1895 bis 1913 gilt als erstes deutsches Wirtschaftswunder, durch das Deutschland zu den führenden Industrienationen aufstieg. 1913 wurden das 25-jährige Thronjubiläum Kaiser Wilhelms II. sowie das 100-jährige Jubiläum der siegreichen Befreiungskriege gegen Napoleon gefeiert. Mittlerweile war Deutschland die drittgrößte europäische Kolonialmacht und besaß die zweitstärkste Flotte der Welt. Das Wissenschaftssystem genoss höchstes Ansehen. Zwischen 1901 und 1918 erhielten 21 Deutsche den Nobelpreis.6 Diese glanzvolle Entwicklung war aber nur eine Seite des Reichs.

Die andere Seite war durch vielfältige Defizite der politisch-sozialen Entwicklung gekennzeichnet. So gab es in Preußen und anderen deutschen Staaten restriktive Klassenwahlrechte sowie Wahlkreiszuschnitte, welche die Arbeiter benachteiligten. Zwar war das Reichstagswahlrecht demokratisch, aber der Reichskanzler nicht dem Parlament, sondern dem Kaiser verantwortlich. Der Ausschluss der Parteien von einer verantwortlichen Mitbestimmung führte dazu, dass sie in parteipolitischen Streitereien verharrten. Konservative Kreise, Unternehmer und die Regierung diskriminierten die Sozialdemokraten als Klassen- und Reichsfeinde. Zwar war die SPD bei den Reichstagswahlen 1912 stärkste Partei geworden, aber es gelang ihr kaum, Wähler außerhalb des Arbeitermilieus zu gewinnen. Sie hielt am Marxismus fest, war aber institutionell in das politische System integriert. Allerdings war die politische Kultur durch eine ideologische Polarisierung gekennzeichnet: Dem transnationalen Sozialismus der Arbeiterschaft stand ein übersteigerter bürgerlicher Nationalismus gegenüber.7 Es kennzeichnet das Kaiserreich, dass es fortschrittliche Elemente ebenso aufwies wie rückständige.

Neben dem Zwiespalt zwischen sozialem Wohlstand und politischem Reformstau prägten auch außenpolitische Krisen die Wahrnehmung der Künstler und Dichter, zumal sich die Mächtekonstellation zu Ungunsten Deutschlands verschob. Die für Deutschland unbefriedigenden Ergebnisse der beiden Marokkokrisen von 1905/06 und 1911 zeigten, wie isoliert das Reich war. Allerdings wurden diese Krisen ebenso wie der 1908 durch die österreichische Annexion Bosniens provozierte Konflikt friedlich beigelegt. Bis 1914 gab es keine kriegerische Auseinandersetzung unter den europäischen Großmächten, wohl aber zwei lokal begrenzte Kriege auf dem Balkan 1912/13. Dass die latente Kriegsgefahr künstlerisch verarbeitet wurde, veranschaulichen z.B. Georg Heyms Gedicht »Der Krieg« von 1911 sowie Franz Marcs 1913 gemaltes Gemälde »Die Wölfe (Balkankrieg)«.8

Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus

Die Ideenwelt der Vorkriegszeit war durch das paradoxe Nebeneinander von Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus gekennzeichnet. Die auf die Industrialisierung folgende Elektrifizierung und der zunehmende Verkehr vermittelten ein Gefühl des Aufbruchs und der Beschleunigung. Nervosität war ein Charakteristikum der Zeit. Zugleich wurde die Euphorie gebremst durch Naturkatastrophen wie die Erdbeben von San Francisco 1906 und Messina 1908 sowie durch technische Katastrophen wie den Untergang der Titanic 1912. Sie führten zu einem Gefühl des Niedergangs von Zivilisation und Kultur. Neue Wissenschaftszweige wie die Soziologie, die Kriminologie und die Psychoanalyse verstärkten das Krisenbewusstsein, weil ihre Forschungsfelder – Kriminalität, Sexualität, Prostitution und Neurosen – als Ausdruck gesellschaftlicher Dekadenz galten. Beeinflusst vom Darwinismus glaubte man, dass auch Nationen im Überlebenskampf stünden und sich die stärkere, gesündere durchsetze. Rassehygiene und Eugenik sollten der vermeintlichen Degeneration des Volkes vorbeugen.9

Das kulturelle Unbehagen führte zur Modernitätskritik. Statt der individualistischen Gesellschaft erstrebte man eine tiefere Gemeinschaft. Materialismus, Kommerzialisierung und Verweltlichung galten als negative Begleiterscheinungen der Moderne, deren Inbegriff die Großstadt war. Laut, hektisch, überfüllt, schmutzig und unhygienisch verkörperte sie mit ihren Warenhäusern und Amüsiertempeln, dem Straßenverkehr und den Menschenmassen das Gegenteil all dessen, was als gesund, rein und fromm galt. Die Lebensreform-, die Freikörperkultur- und die Jugendbewegung wollten Zivilisationsschäden durch Naturnähe heilen. Tier- und Landschaftsbilder illustrierten die Stadtflucht der künstlerischen Avantgarde. Künstlergruppen wie die »Brücke« (1905) und »Der Blaue Reiter« (1912) verhalfen dem Expressionismus zum Durchbruch, der das subjektive Empfinden des Künstlers in den Mittelpunkt rückte und sich durch einen freien Umgang mit Farbe und Form auszeichnete.10

Insgesamt herrschten apokalyptische Vorstellungen vor, die aus einem Überdruss an der bürgerlichen Gesellschaft resultierten: Mit dem Untergang der alten, verdorbenen Welt werde eine neue, vollkommene entstehen. So notierte Georg Heym 1910, es sei „so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts […] Dieser Friede ist so faul, ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“ Es solle endlich etwas passieren, und sei es, „dass man einen Krieg begänne, er kann auch ungerecht sein“. Die Auffassung vom Krieg als Reinigung und Neubeginn beruhte auch darauf, dass keiner der Künstler und Dichter eine realistische Vorstellung davon hatte, was ein moderner Krieg bedeuten sollte. Otto Dix betonte rückblickend, er habe in den Krieg ziehen müssen, um „alles ganz genau [zu] erleben“. Der Begriff des Erlebnisses war seit der Jahrhundertwende populär und bezeichnete ein unmittelbares Erfassen der Wirklichkeit sowie eine Sehnsucht nach Tiefe und Ganzheit. Das Erlebnis, so war man überzeugt, verhelfe zu besonderer Erkenntnis.11

Kriegsbeginn und Augusterlebnis

Im Kriegsbeginn erblickten Künstler und Dichter das ersehnte Erlebnis. „Da mich’s nicht länger zu Hause hält“, schrieb der junge Maler Hermann Stenner seinen Eltern am 7. August 1914, „habe ich mich heute als Kriegsfreiwilliger gestellt“. Max Beckmann, als freiwilliger Krankenpfleger in Ostpreußen dienend, schrieb seiner Frau am 14. September, er hoffe, „noch viel zu erleben“. Und Oskar Kokoschka notierte im September, dass er sich freiwillig melden wolle, weil es eine „ewige Schande“ wäre, „zu Hause gesessen zu haben“. Die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten am 4. August vermittelte ein Gefühl kollektiver Vergemeinschaftung und begründete einen politischen »Burgfrieden«, das heißt die Zurückstellung innenpolitischer Konflikte für die Kriegszeit. Diese neue Einstellung wurde als »Geist von 1914« bezeichnet und trug zur – als »Augusterlebnis« verklärten und später als gesamtgesellschaftliche »Kriegsbegeisterung« fehlgedeuteten – Mobilisierungseuphorie bei.12

Diese Euphorie spiegelte sich in vielen Werken der Kunst und der Literatur. Liebermann, Beckmann und Barlach skizzierten die Stimmung zu Kriegsbeginn, Dix posierte in Uniform als Kriegsgott Mars, und Richard Dehmel schrieb in seinem »Lied an alle«: „Sei gesegnet, ernste Stunde, die endlich stählern eint.“ Bis Ende 1914 wurden 235 Kriegslyrikbände großer und kleinerer Talente registriert. Dieser Produktivität lag nicht nur Patriotismus zugrunde, sondern auch wirtschaftliches Kalkül: Patriotische Werke verkauften sich gut. Außerdem erblickten gerade avantgardistische Dichter im Krieg die Gelegenheit, sich durch die Erschließung neuer Leserkreise besser im literarischen Feld zu positionieren und zugleich ihre gesellschaftliche Außenseiterposition zu überwinden. Das galt analog für die künstlerische Avantgarde. So war Kollwitz, Lersch und Lissauer gemeinsam, dass sie den politisch marginalisierten Gruppen angehörten: als Frau, als Arbeiter, als Jude. Der Krieg suggerierte die Möglichkeit, durch Engagement gesellschaftliche Anerkennung zu finden.13

Wer den Enthusiasmus nicht teilte, schwieg – nicht zuletzt auch wegen der Zensur. So stellte Erich Mühsam seine pazifistische Zeitschrift »Kain« am 1. August 1914 ein, weil er nur sagen könne, was zur Zeit niemand hören wolle, wie er seinen Lesern mitteilte. Und Heinrich Manns »Untertan«, seit Januar 1914 als Fortsetzungsroman vorab publiziert, wurde am 13. August gestoppt, weil sich satirische Kritik an Deutschland im Kriege verböte. Der schwierigen Lage, als bikulturell geprägte Elsass-Lothringer gegen Frankreich kämpfen zu müssen, entzogen sich die jungen Expressionisten Hans Arp und Iwan Goll durch Emigration in die Schweiz. Anders als sein Bruder mochte Thomas Mann nicht schweigen. Mit ärztlichem Attest vom Kriegsdienst befreit, wollte er „[s]oldatisch leben, aber nicht als Soldat“ und zur geistigen Mobilmachung beitragen. Seine patriotisch-kriegsbejahenden »Gedanken im Kriege« vom November 1914 führten zum Bruch mit dem Bruder.14

Fronterlebnis und Desillusionierung

Wer an den Fronten zum Einsatz kam, wurde rasch mit der brutalen Wirklichkeit des Krieges konfrontiert. „Ich war ja von vornherein auf das Schlimmste gefasst“, schrieb Hermann Stenner seinen Eltern schon am 30. September 1914, „aber alles das ist nichts gegen die furchtbare Wirklichkeit“. Am 5. Dezember fiel er in Polen. Georg Trakl erlebte als Sanitätsleutnant die besonders brutale Schlacht bei Gródek in Galizien. Nach ihr benannte er sein erschütterndes Gedicht »Grodek«, das die berühmte Zeile enthält: „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.“ Es wurde sein letztes lyrisches Werk. Trakl starb im November 1914 in einem Krakauer Garnisonsspital nach einem Selbstmordversuch.15

Die psychische Belastung war enorm. 1915 wurden Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner und Heinrich Lersch aus gesundheitlichen Gründen aus dem Militärdienst entlassen. Immerhin überlebten sie, was vielen ihrer Kameraden – darunter Franz Marc, August Macke und Albert Weisgerber – nicht vergönnt war. Das Erlebte künstlerisch auszudrücken, schien kaum möglich. „Entsetzlich. Ich habe kein Wort“, vermerkte der Dichter August Stramm nach seinen ersten Fronterfahrungen an der Westfront im Frühjahr 1915, wenige Monate vor seinem Tod. Verschlug es den literarischen Expressionisten die Sprache, vermochte die bildende Kunst noch eher, das Erlebte abzubilden. So verewigte Otto Dix die Kriegsrealität in rund 600 Zeichnungen und Gouachen, seinem eigentlichen expressionistischen Werk. Wilhelm Lehmbruck, seit 1914 in einem Berliner Lazarett eingesetzt und zunehmend depressiv, veranschaulichte die gewandelte Einstellung zum Krieg mit seiner 1916 vollendeten Bronzeplastik »Der Gestürzte«, die einen nackten, sterbenden Mann darstellt. Hans Arp und andere Exilanten suchten in Zürich nach neuen Ausdrucksformen und begründeten 1916 die Stilrichtung »Dada«. Die Dekonstruktion der Sprache durch sinnlose Wortkompositionen sowie die neuen Techniken der Collage und Montage spiegelten die unfassbaren Zerstörungen wider.16

Resümee und Ausblick

Das trotz allgemeinen Wohlstands verbreitete Krisenbewusstsein, das Nebeneinander von Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus sowie anachronistische Vorstellungen vom Krieg prägten die Ideenwelt der Künstler und Dichter, die im Kampf eine apokalyptische Erneuerung erblickten. Das als Gemeinschaft stiftend wahrgenommene »Augusterlebnis« 1914 suggerierte gerade der Avantgarde die Möglichkeit, durch persönlichen und künstlerischen Kriegseinsatz gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Überdies verkauften sich patriotische Werke im Krieg gut, was einen zusätzlichen Anreiz darstellte, sich mit Pinsel oder Feder entsprechend auszudrücken. Viele Künstler und Dichter strebten sogar an die Front. Aber ob sie im Sanitätsdienst eingesetzt wurden oder kämpften: Die meisten von ihnen wurden desillusioniert. Im Ringen um die angemessene Darstellung des Erlebten entstanden neue Kunstrichtungen. Denn nun blickte die Avantgarde entweder mit einem erneuerten Realismus auf das Kriegsgeschehen – in den 1920er Jahren als »Neue Sachlichkeit« bezeichnet – oder führte es dadaistisch ad absurdum.

Allerdings sollten viele Frontkämpfer fallen. Unter ihnen war auch Peter Kollwitz. Schon am 30. Oktober 1914 erhielt seine Mutter die offizielle Benachrichtigung. Zutiefst erschüttert beschloss Käthe Kollwitz, Peter ein Denkmal zu errichten. Sie sollte 18 Jahre daran arbeiten, weil es ihr schwer fiel, den richtigen Ausdruck zu finden. Schließlich schuf sie zwei Steinfiguren aus hellem Granit: die trauernden »Eltern«. Aufgestellt wurden sie 1932 auf einem deutschen Soldatenfriedhof in Flandern. Als Stein gewordene Trauer um die Toten des Weltkriegs gelten sie bis heute als beeindruckendes Mahnmal gegen den Krieg.17

Anmerkungen

1) Im Fokus dieses Beitrags stehen die wehrpflichtigen, also männlichen Repräsentanten der Kunst.

2) Käthe Kollwitz (2012): Die Tagebücher 1908-1943. Berlin: Siedler, S.153f.

3) Ebd., S.151f. Vgl. auch: Dietrich Schubert (2013): Künstler im Trommelfeuer des Krieges 1914-18. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, S.39ff.

4) Heinrich Lersch (1965): Gedichte. Düsseldorf, Köln: Eugen Diederichs, S.56f.

5) Steffen Bruendel, Steffen (2014a): Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg. München: Herbig, S.63f. (Weisgerber-Zitat 63.), 70f.

6) Hans-Ulrich Wehler (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, München: Beck, S.493ff., 610ff.

7) Ebd., S.1045–1050, 1063–1085.

8) Steffen Bruendel (2014b): „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“. Künstler und Dichter zwischen Kulturpessimismus und Erlebnissehnsucht. In: Vurcu Dogramaci und Friederike Weimar (Hrsg.): Sie starben jung! Künstler und Dichter, Ideen und Ideale vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin: Gebr. Mann, S.15-25, hier 16f.

9) Ebd., S.18ff. Barbara Beßlich (2000): Wege in den Kulturkrieg. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S.16. Hermann Glaser (2002): Kleine Kulturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München: Beck, S.34ff. Käthe Springer (22011): Eine Romantik der Nerven – Das literarische Fin de Siècle. In: Christian Brandstätter (Hrsg.): Wien 1900. Kunst und Kultur. Fokus der europäischen Moderne. München: DTV, S.321-333.

10) Glaser (2002), S.48–56. Uwe M. Schneede (2010): Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von der Avantgarde bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck, S.37-41. Kathrin Klingsöhr-Leroy (2014): „Die Welt aber will rein werden“. Kunst und Krieg im Spiegel des Almanachs »Der Blaue Reiter«. In: Dogramaci/Weimar (2014), S.27-38. Franz Marc Museumsgesellschaft (Hrsg.) (2013): 1913. Bilder vor der Apokalypse. München: Sieveking, S.42-59. Wolfgang J. Mommsen (1994): Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 bis 1918. Frankfurt/M.: Ullstein.

11) Beßlich (2000), S.17. Bruendel (2014a), S.40 (Heym-Zitat), 42 (Dix-Zitat). Manfred Hettling (2003): Kriegserlebnis. In: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz. Paderborn u. a.: Schöningh, S.638–639, hier 638.

12) David Riedel (2014): „Noch einen Sommer intensives Schaffen …“. Hermann Stenners Werk vor dem Ersten Weltkrieg. In: Dogramaci/Weimar (2014), S.47-58, hier 52f.. Schubert (2013), S.280ff. Bruendel (2014a), S.63-68 (Zitate 63, 65, 68). Matthias Schöning (2009): Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–33. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, S.39-48.

13) Schubert (2013), S.47f.. Bruendel (2014a), S.7, 77ff. (Dehmel-Zitat 78), 81. Helmut Fries (1995): Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter, Bd. 2. Konstanz: Verlag am Hockgraben, S.20-23.

14) Bruendel (2014a), S.62, 83ff. (Mann-Zitat 84).

15) Riedel (2014), S.53ff. Schubert (2013), S.463 (Zitat ebd.). Bruendel (2014a), S.114 (Stenner-Zitat), 112f.. Frank Krause (2014): „Über zerbrochenem Männergebein/Die stille Mönchin“. Krieger und Kriege im lyrischen Werk Georg Trakls. In: Dogramaci/Weimar (2014), S.59-67, hier 63ff.

16) Schubert (2013), S.295-301, 364-368, 456, 463f.. Bruendel (2014a), S.113f., 124-129. Andreas Kramer (2014): „Alles so widersprüchig“. Kriegserlebnis und Sprache bei August Stramm. In: Dogramaci/Weimar (2014), S.93-101, hier 94-99 (Zitat 96).

17) Schubert (2013), S.41-44.

Dr. Steffen Bruendel ist Forschungsdirektor des Forschungszentrums für Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der politischen Ideen im 20. Jahrhundert sowie die Geschichte des Ersten Weltkrieges und der europäischen Nachkriegsordnung unter besonderer Berücksichtigung der Künstler und Intellektuellen. Wichtigste Veröffentlichungen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die »Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin: Oldenburg Akademieverlag (2003) und Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg. München: Herbig (2014).