Der Pazifist Erasmus von Rotterdam

Der Pazifist Erasmus von Rotterdam

von Till Bastian

Pazifismus steht derzeit nicht hoch im Kurs – weder in Deutschland noch weltweit (siehe dazu W&F 1-2017). Dies ist um so bedauerlicher, als es gerade in Mitteleuropa eine Tradition des pazifistischen Argumentierens gibt, die seit 500 Jahren nicht abgerissen ist. Eröffnet wurde sie mit der Friedensschrift des Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1517. Gerade im »Reformationsjahr 2017« ist dieses Traktat des Erinnerns wert und würdig – nicht zuletzt wegen der heftigen Auseinandersetzung des Erasmus mit Martin Luther, der sich zu der Frage von Krieg und Frieden auf recht fragwürdige Art und Weise geäußert hat.

Erasmus Desiderius, genannt Erasmus von Rotterdam, ist – so sein Biograph Stefan Zweig – „unter allen Schreibenden und Schaffenden des Abendlandes der erste bewusste Europäer, der erste streitbare Friedensfreund“ gewesen.1 Geboren wurde er in Rotterdam, vielleicht auch in Gouda, vermutlich im Jahre 1466 (aber auch das steht nicht zweifelsfrei fest) als Sohn der Arzttochter Margarete Rogers und eines Priesters, war also ein uneheliches Kind. Gestorben ist er 1536 in Basel.

Seine pazifistische Haltung wurde von ihm schon früh kundgetan: In sein erstes Buch, die anno 1500 in Paris erschienenen »Adagia« (eine ausführlich kommentierte Sammlung griechischer und römischer Sprichworte, zweite Auflage Venedig 1508) reihte er in die dritte Auflage von 1515 die Redensart „Dulce bellum inexpertis“ (frei übersetzt „Süß ist der Krieg nur für den, der ihn nicht kennt“ ) ein und schrieb dazu, im Krieg verhielten sich die Menschen schlimmer als die Tiere, die ja nur für Nahrung oder zur Verteidigung ihrer Jungen kämpften, während sich die Menschen von Ehrgeiz, Zorn, Lust oder anderen extremen Gefühlen zur Gewalttätigkeit verleiten ließen.

Erasmus hielt sich während der Arbeit an diesem Text noch in England auf, wurde aber von der Kriegsbereitschaft des jungen Königs Heinrich VIII., der im Sommer 1512 zu einem Feldzug nach Frankreich aufgebrochen war, zunehmend verstört. „Der Krieg, für den man hier rüstet, hat plötzlich den Geist dieser Insel verändert“, hatte er schon im Frühjahr 1514 in einem Brief an den Abt von Saint-Omer geschrieben. Im Sommer 1514 verließ er England, um nach Basel zu reisen; eine zweite Reise rheinaufwärts im Sommer 1515 schloss sich an. Wichtig war ihm vor allem der Kontakt mit dem Drucker Froben, bei dem im Februar 1516 seine lateinische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments erschien – ein Foliant von über tausend Seiten, der in 1.200 Exemplaren gedruckt worden war.

Nur wenig später wurde der bereits erwähnte Abschnitt der »Adagia« von 1515 unter dem Titel »Der Krieg ist süß allein dem Unerfahrenen« als erster Text des Erasmus überhaupt von Ulrich Varnbühler, einem kaiserlichen Rat am Reichskammergericht (damals noch in Worms ansässig), ins Deutsche übersetzt (Basel: Cratander 1519; Straßburg: Schürer 1520). In diesen Jahren avancierte Erasmus zum meistgedruckten Autor in deutscher Sprache nach Martin Luther.

Die »Querela pacis« – Klage des Friedens

Bereits ein Jahr nach der Abfassung des Textes zu »Dulce bellum inexpertis« arbeitete Erasmus an seiner »Querela pacis« (Klage des Friedens), einer Auftragsarbeit für den burgundischen Kanzler Jean Le Sauvage (1455-1518). Anlass war ein für 1517 geplanter Friedenskongress in Cambrai, auf dem sich die Könige Maximilian I. (Heiliges Römisches Reich), Franz I. (Frankreich) und Heinrich VIII. (England) hätten miteinander versöhnen sollen; das Treffen kam allerdings nie zustande. Erasmus schickte am 5. Oktober 1517 ein handschriftliches Exemplar des Textes an den Bischof von Utrecht, Philipp von Burgund (1464-1524); gedruckt erschien das Werk im Dezember 1517, wiederum bei Johannes Froben in Basel; zwei deutsche Übersetzungen wurden 1521 veröffentlicht. Während er an der »Querela pacis« arbeitete, hielt sich Erasmus in Brabant auf, zunächst in Brüssel und Antwerpen, dann ab Juni 1517 in Löwen.

Auch in seiner »Querela pacis« betont Erasmus, dass Krieg der außermenschlichen Natur fremd, mithin Menschenwerk sei: „Der Eber stößt seine mörderischen Zähne nicht in einen Eber, der Luchs hat Frieden mit dem Luchs, die Schlange versehrt nicht die Schlangen, die Eintracht der Wölfe ist sogar sprichwörtlich.“ 2 Und weiter: „Die Tiere setzen auch nur zum Kampf an, wenn sie durch Hunger oder durch Sorge um die Jungen in Erregung geraten. Welches Unrecht ist dagegen den Christen zu gering, um nicht als geeignete Kriegsgelegenheit betrachtet zu werden?“ 3 An diese allgemeinen Betrachtungen schließt sich eine scharfe Kritik der damals herrschenden Zustände an: „Falls man sich nun früherer Kriege nicht erinnert, vergegenwärtige sich, wer will, die im Zeitraum der letzten zwölf Jahre geführten Kriege, möge er die Ursachen prüfen, er würde erfahren, daß alle um der Fürsten willen unternommen und mit großem Unheil für das Volk geführt wurden, obwohl sie das Volk gewiß nicht das geringste angingen.“ 4

Freilich kritisiert Erasmus ebenso scharf wie die Fürstenwillkür auch den zu seiner Zeit bereits aufkommenden Nationalismus (im Kölner Reichstagsabschied von 1512 war erstmals die Redewendung vom »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« benutzt worden): „Um dem Haß Nahrung zu geben, werden die Namen der Gebiete missbraucht. Und die einflussreichen Größen nähren diesen Irrtum des dummen Volkes, und auch einige Priester nähren ihn, um des eigenen Vorteils willen. Der Engländer ist dem Franzosen feind, aus keinem anderen Grund, als weil er Franzose ist. Dem Schotten zürnt der Brite aus keiner anderen Ursache, als daß er ein Schotte ist. Der Deutsche ist mit dem Franzosen zerfallen, der Spanier mit den beiden. O Verrücktheit, bringt der bloße Name eines Ortes auseinander, warum mögen nicht eher so viele verbinden? Du willst als Brite dem Franzosen übel. Warum willst Du als Mensch nicht lieber dem Menschen wohl? Als Christ dem Christen? Warum kann eine unbedeutende Sache bei diesen da mehr bewirken als so viele Knüpfungen der Natur?“ 5

In diesen Sätzen klingt das Weltbürgertum des Erasmus an, das dieser fünf Jahre nach der Niederschrift der »Querela pacis« ausdrücklich beim Namen nannte. Denn im Jahre 1522 bot der Reformator Ulrich Zwingli (1484-1531) dem damals in Basel lebenden Erasmus als dem berühmtesten Gelehrten seiner Zeit das Bürgerrecht der Stadt Zürich an, wo Zwingli als Geistlicher am Großmünster soeben eine Kirchenreformation eingeleitet hatte. Erasmus lehnte dieses Angebot in einem Brief an Zwingli ab, in dem er unter anderem schrieb: „Ich danke dir sehr für deine Zuneigung und die deiner Stadt. Ich wünsche, ein Bürger der Welt zu sein, allen gemeinsam, oder besser, für alle ein Fremder.“ 6

Der berühmteste Satz aus der »Querla pacis« des Erasmus ist aber wohl dieser: „Kaum kann je ein Friede so ungerecht sein, dass er nicht besser wäre als selbst der gerechteste Krieg.“ 7

Die Mahnrede des Erasmus – heute so aktuell wie eh und je – hat das bis 1945 andauernde Blutvergießen in Europa nicht zu verhindern vermocht, aber sie verhallte auch nicht ungehört. Schon 1518 erschien in Basel die zweite Auflage; es folgten Publikationen unter anderen in Krakau (1518), Venedig (1518), Florenz (1519), Straßburg (1522), Paris (1525). In den folgenden 150 Jahren wurde die »Querela pacis« in 35 Ausgaben in lateinischer Sprache veröffentlicht.8 Die beiden deutschen Übersetzungen von 1521 wurden schon erwähnt. 1520 erschien die erste Übersetzung ins Spanische, 1559 ins Englische, 1567 ins Niederländische. Dass Erasmus sich auf gefährliches Terrain gewagt hatte, zeigte sich in Frankreich: Lous de Berquin (um 1485-1529), der frühere Sekretär des Königs Franz I., hatte den Text ins Französische übertragen und wurde 1529 in Paris als rückfälliger Ketzer und Parteigänger Luthers öffentlich verbrannt; schon 1525 war sein Manuskript der Erasmus-Übersetzung auf Geheiß der theologischen Fakultät der Sorbonne den Flammen übergeben worden.

Jedenfalls wurde Erasmus mit seiner Friedensschrift zum Geburtshelfer einer pazifistischen Literaturtradition,9 die seit 1517 aus der europäischen Geistesgeschichte nicht mehr zu vertreiben war.10

Ein Jahr nach der »Querela pacis« lancierte Erasmus die anonyme Schrift »Dialogus, Julius exclusus e coelis« (Dialog, Der aus dem Himmel ausgeschlossene Julius), die 1518 gedruckt bei Dirk Martens in Löwen erschien (die erste deutsche Übersetzung wurde 1521 veröffentlicht).11 Den Papst Julius II. hatte Erasmus bei seinem Aufenthalt in Italien erlebt, als der »Kriegerpapst« am 11. November 1508 in vollem Harnisch mit seinen Truppen in Bologna eingezogen war. Im genannten Dialog will Petrus den Papst, der mit einem Schwert bewaffnet ist, nicht ins Himmelreich einlassen. Nach einem längeren Zwiegespräch fragt Julius: „Du schließt mir also nicht auf?“ Petrus antwortet: „Jedem Beliebigen eher als solch einer Pestgestalt. Denn wir sind ja alle von dir exkommuniziert. Aber willst du einen guten Rat? Du hast eine Schar tüchtiger Männer, du hast unermessliche Geldmittel, du selbst bist ein guter Bauherr. Errichte dir ein neues Paradies, aber befestige es gut, damit es nicht von den Dämonen erobert werden kann.12

Erasmus’ Pazifismus und das »Reformationsjahr 2017«

Trotz aller Kritik am Kriegspapst Julius, der 1513 gestorben war – zur Reformation hatte Erasmus ein zwiespältiges Verhältnis: Zwar teilte er die Kirchenkritik Luthers und anderer Reformatoren durchaus und nahm den Wittenberger mehrfach in Schutz (aus alledem erwuchs später die Redensart, Erasmus habe das Ei ausgebrütet, aus dem Luther geschlüpft sei),13 aber Luthers cholerisches Wesen, das er für Aufrührertum hielt, stieß ihn ab. Hier ist wohl seinem Biographen Willehad Paul Eckert zuzustimmen, wenn dieser schreibt: „Die von beiden Parteien in gleicher Weise geübte Intoleranz, die Verfolgung der Andersgläubigen mit Geldstrafen, Gefängnis und Hinrichtungen mißbilligt der Rotterdamer; nach seiner Überzeugung mußte sich die Zugehörigkeit zur unbekannten Kirche keineswegs mit der Zugehörigkeit zur sichtbaren, institutionellen Kirche decken. Auch Menschen, die außerhalb der Institution stehen, können zur unsichtbaren Kirche gehören, Ketzer und fromme Heiden.“ 14

Es wäre schade, wenn im »Reformationsjahr 2017«, das aus naheliegenden Gründen sehr stark auf Martin Luther und seinen »Thesenanschlag« (ebenfalls Oktober 1517) fokussiert, der pazifistische Beitrag des Erasmus zur europäischen Geschichte in den Hintergrund gedrängt würde. Dies insbesondere deshalb, weil Erasmus in der Frage von Krieg und Frieden sehr viel eindeutiger gewesen ist als der in dieser Hinsicht recht ambivalente Luther – man denke nur an dessen Schrift zur Bauernerhebung, »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«, darin unter anderem der Satz: „So wunderliche Zeiten sind jetzt, daß sich ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann, besser als andere mit Beten […]“. Von ähnlicher Gewaltbereitschaft zeugt auch Luthers Empfehlung an den christlichen Söldner: „Willst du darauf den Glauben und ein »Vaterunser« sprechen, magst du es tun und lasse damit genug sein. Und befiehl damit Leib und Seele in Seine Hände und zeuch dann vom Leder und schlage drein in Gottes Namen.“ (»Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können«, 1526) Wie Brigitte Hannemann angemerkt hat, ist ein größerer Kontrast kaum denkbar als der zwischen diesen Luther-Sätzen und des Erasmus’ „eindringlicher Auseinandersetzung mit dem Vaterunser-betenden Soldaten“.15

Hierüber mögen sich Leserin und Leser ihr jeweils ganz persönliches Urteil bilden. Sicher ist jedenfalls, dass es sich – auch, ja, gerade im »Reformationsjahr 2017« – durchaus lohnt, sich der von Erasmus von Rotterdam begründeten pazifistischen Tradition zu erinnern und ebenso seiner so erstaunlich aktuellen, ein halbes Jahrtausend alten Friedensschrift aus dem Jahr 1517.

Anmerkungen

1) Zweig, S. (1935/2016): Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Köln: Anaconda, S. 9.

2) Die »Querela pacis« wird zitiert nach Hannemann, B. (Hrsg. und Übersetzerin) (1985): Erasmus von Rotterdam – die Klage des Friedens. München und Zürich: Piper, hier S. 50. Die Herausgeberin hat dem Text des Erasmus ein sehr lesenswertes Vorwort vorangestellt. Der Band wurde 2017 bei Diogenes (Zürich) neu aufgelegt, die Neuauflage lag dem Autor bei Drucklegung allerdings noch nicht vor.

3) Ibid., S. 73.

4) Ibid.

5) Ibid., S. 87

6) Zitiert nach Ribhegge, W. (2010): Erasmus von Rotterdam. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 121 f.
Zum Thema Erasmus von Rotterdam und Weltbürgertum siehe auch den Essay des Verfassers (2017): Das Erbe des Erasmus – Von der Ächtung des Krieges und der Hoffnung auf Weltbürgertum. Isny. Zu beziehen über ­t.bastian@wollmarshoehe.de.

7) Hannemann, op.cit., S. 80.

8) Die Angaben nach Hannemann, op.cit.

9) Zur Rezeption der »Querla pacis« während des Dreißigjährigen Krieges siehe Schwarz, A.-L.: „Des armen Manns sehnliche Klag“ – Friendensvisionen im Dreißigjährigen Krieg. W&F 1-2017.

10) Für das Studium dieses Traditionsstranges verdanke ich viel dem Buch von Kurt v. Raumer (1953): Ewiger Friede – Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. München: Alber. Die Freude an der Lektüre des verdienstvollen Werkes wird allerdings geschmälert, wenn man berücksichtigt, dass der Verfasser 1933 bis 1945 überzeugter Nationalsozialist war, was man – bei genauerem Hinsehen – seinem Text zwischen den Zeilen, bisweilen aber auch in den Zeilen durchaus anmerkt.

11) Der Text zirkulierte wohl schon vorher in europäischen Humanistenkreisen, denn im März 1517 schrieb Erasmus in einem Brief an Thomas Morus in London: „Jener Dialog über Julius und Petrus befindet sich, soviel ich weiß, bereits in den Händen des Kanzlers [Jean le Sauvage, T.B.]. Er gefällt ihm sehr.“ Zitiert nach Ribhegge, W. (2010): Erasmus von Rotterdam. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 94.

12) Ribhegge, op.cit., S. 95

13) Zuerst wohl geäußert von Hieronymus Aleander (1480-1542) in dessen Bericht vom Wormser Reichtag 1521.

14) Eckert, W.P. (1983): Erasmus von Rotterdam. In: Humanismus, Renaissance und Reformation. Forscher und Philosophen. Exempla historica – Epochen der Weltgeschichte in Biographien, Band 23. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 60.

15) Hannemann, op.cit., S. 28.

Dr. Till Bastian, Arzt und Friedensforscher, ist langjähriges Vorstandsmitglied der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW). Er arbeitet an einer Fachklinik in der Nähe von Ravensburg.

Eine kleine Chronik des Pazifismus

Eine kleine Chronik des Pazifismus

von Corinna Hauswedell und Jürgen Nieth

Gedanken des Pazifismus finden wir in fast allen Religionen und in den philosophischen Denktraditionen seit der Antike. Zahlreiche Werke belegen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Krieg und das Streben nach Alternativen zum militärischen Umgang mit Konflikten. Cicero (106-43 vor unserer Zeitrechnung) beispielsweise wird das Zitat zugeschrieben: „Der ungerechteste Friede ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“

Die ersten organisatorischen Zusammenschlüsse, die einen Dienst mit der Waffe ablehnten, hatten eine religiöse Basis. Sie bildeten sich innerhalb der Orden der Franziskaner und Waldenser im 12. Jhd., der Hussiten (15. Jhd.), der Hutterer und Mennoniten (16. Jhd.). Um 1650 entstanden in England die Quäker, die als Religionsgemeinschaft geschlossen den Kriegsdienst ablehnen und bis heute in den Friedensbewegungen vieler Länder aktiv sind.

Die folgende Chronologie pazifistischer Akteure, Bewegungen und Diskurse ist notwendig selektiv und unvollständig und legt einen Schwerpunkt auf den deutschen Kontext.

1795 Immanuel Kant verfasst die Abhandlung »Zum ewigen Frieden«, in der er u.a. die Entwicklung eines vertraglich abgesicherten universellen Völkerrechts vorschlägt.

1815 Nach der Niederlage Napoleons bilden sich die ersten Friedensgesellschaften: 1815 die »Massachusetts Peace Society«, 1816 die europäische Friedensgesellschaft »London Peace Society«, 1821 die »Sociéte de la Morale Chrétienne« in Frankreich, 1828 die »American Peace Society«, 1830 die »Société de la Paix« in Genf, 1841 das »Comité de la Paix« in Frankreich.

1843 Erster Internationaler Friedenskongress in London. Es folgen internationale Kongresse in Brüssel 1848, Paris 1849, Frankfurt 1850, Manchester 1852 und Edinburgh 1853.

1845 Der Franzose J.B. Richard de Radonvillers setzt sich für die Etablierung des Wortes »Pazifismus« ein, für ein „System der Befriedung, des Friedens; alles, was den Frieden zu stiften und zu bewahren bestrebt ist“. Vorherrschend bleibt zunächst jedoch die Verwendung von Begriffen wie »Friedensfreunde« oder »Friedensbewegung«.

1850 Gründung der »Königsberger Friedensgesellschaft«, die aber bereits 1851 verboten wird.

1886 Gründung eines Friedensvereins in Frankfurt/Main. Es folgen schnell weitere in anderen deutschen Städten.

1889 Mit einem Weltfriedenskongress in Paris wird die 1853 unterbrochene Tradition internationaler Friedenskongresse wieder aufgenommen.

1892 Gründung der »Deutschen Friedensgesellschaft« (DFG).

1897 Bertha von Suttner begründet mit ihrem Antikriegsroman »Die Waffen nieder« den deutschen bürgerlichen Pazifismus.
Im gleichen Jahr Weltfriedenskongress in Hamburg.

1899 und 1907 Haager Friedenskonferenzen mit dem Ziel internationaler Abrüstung und nichtmilitärischer Regelung internationaler Konflikte.

1901 Henri Dunant (Gründer des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes) und Frédéric Passy (Gründer der »Société française pour l'arbitrage entre nations«) erhalten den ersten Friedensnobelpreis.

1901 Der französische Präsident der »Ligue internationale de la Paix et de la Liberté«, Emile Arnaud, setzt sich für den Begriff »Pazifist« ein, da er aussagestärker als »Friedensfreund« sei: „Wir sind nicht nur friedlich, wir sind nicht nur friedfertig, wir sind nicht nur friedensstiftend. Wir sind alles zusammen und noch mehr: Wir sind, in einem Wort, Pazifisten.“
Im gleichen Jahr plädiert auch der Vorsitzende der »Deutschen Friedensgesellschaft«, Alfred Hermann Fried, in Abstimmung mit Bertha von Suttner dafür, den Begriff »Friedensfreund« durch »Pazifist« zu ersetzen, um sich von „anderen platonischen Freunden des Friedens“ zu unterscheiden.

1905 Bertha von Suttner erhält als erste Frau den Friedensnobelpreis.

1907 Der Kongress der II. Internationale (mit Delegierten aus 23 Ländern) beschließt in Stuttgart eine Resolution, die die Arbeiter aller Länder aufruft, mit allen Mitteln gegen Militarismus und Kriegsgefahr zu kämpfen. Pazifistische Konzepte erreichen die Arbeiter- und sozialistische Bewegung.

1908 A.H. Fried propagiert einen »wissenschaftlichen Pazifismus« (vielfach auch »revolutionärer Pazifismus« genannt), um stärker die Ursachen der Gewalt (Kriege) ins Visier zu nehmen. Er kritisiert damit auch die Position Bertha von Suttners, die zu stark auf Gefühl und Moral setze.

1910 Der Kongress der II. Internationale in Kopenhagen bekräftigt die Beschlüsse des Stuttgarter Kongresses von 1907 gegen Militarismus und Kriegsgefahr und ruft alle sozialdemokratischen Parteien auf, sich für eine allgemeine Abrüstung und obligatorische Schiedsgerichte zur Lösung internationaler Konflikte einzusetzen.

1910 Mahatma Gandhi wird zum politischen Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Der von ihm propagierte gewaltfreie Widerstand, verbunden mit Aktionen des zivilen Ungehorsams und Hungerstreiks, führt 1947 zur Unabhängigkeit Indiens.

1913 Ein Außerordentlicher Kongress der II. Internationale bestätigt in Basel die Antikriegspositionen der beiden vorhergegangen Kongresse und ruft die Sozialisten aller Länder auf, „der kapitalistischen Welt der Ausbeutung und des Massenmordes die proletarische Welt des Friedens und der Verbrüderung der Völker“ entgegenzustellen.

1914 Auf dem Deutschen Friedenskongress setzt sich Ludwig Quidde für eine Verbindung der Positionen des »wissenschaftlichen Pazifismus« mit denen des »moralischen Pazifismus« ein.
Nach der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich verlässt die deutsche Sozialdemokratie die Antkriegsposition der früheren internationalen Kongresse und stimmt am 4. August den Kriegskrediten zu. Bei einer zweiten Abstimmung im November beugt sich Karl Liebknecht nicht mehr der Parteidisziplin und stimmt als einziger Abgeordneter dagegen.

1918 Rechtsextreme Kräfte werfen den Pazifisten nach dem Ersten Weltkrieg Landesverrat vor. Kurt Eisner (1919), Hans Paasche (1920), Alexander Futran (1920) u.a. werden ermordet, einige entgehen nur knapp Attentaten.

1920 Kurt Hiller gründet die Gruppe »Revolutionärer Pazifisten«, der auch Kurt Tucholsky beitritt.

1922 Zusammenschluss von 13 deutschen Friedensorganisationen zum »Deutschen Friedenskartell«, das 1928 rund 100.000 Mitglieder repräsentiert.

1927 Ludwig Quidde erhält zusammen mit Ferdinand Buisson, Mitbegründer der Französischen Liga für Menschenrechte, den Friedensnobelpreis.

1933 Die DFG wird bereits im Februar verboten und die Pazifisten gehören im Dritten Reich neben Kommunisten und Sozialdemokraten zur Gruppe der politisch Verfolgten. Viele von ihnen – wie Carl von Ossietzky, Kurt Hiller, Paul von Schoenaich und Gerhard Seger – werden inhaftiert. Andere, wie Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Ludwig Quidde, Helene Stöcker, können sich der Verfolgung nur durch Exil entziehen.

1935 Kurt Tucholsky fordert aus dem schwedischen Exil eine entschlossenere Haltung der Westmächte gegenüber dem deutschen Faschismus: „Boykott. Blockade. Innere Einmischung in diese Barbarei, ohne Krieg zu führen.?
Der Friedensnobelpreis wird an Carl von Ossietzky verliehen.

1939-45 Der Zweite Weltkrieg zerstört alle Hoffnungen auf friedliche Konfliktbeilegung; die Niederlage Nazi-­Deutschlands und der Achsenmächte ­öffnet den Weg zur Gründung der Vereinten Nationen. Die Charta der Vereinten Nationen setzt erstmals die Sicherung des Weltfriedens als ein anerkanntes Völkerrechtssubjekt auf die Agenda.

1945 Der Atombombeneinsatz der US-Führung auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki wird zum Fanal für den Beginn der Anti-Atombewegung (Atompazifismus) und eröffnet zugleich eine neue Front: den Ost-West-Konflikt in Gestalt des Kalten Krieges.

1947 Gründung der »Internationale der Kriegsdienstgegner« (IdK) als deutschen Zweig der »War Resisters' International« (1921). Die antimilitaristische Organisation fusionierte 1968 mit der »Deutschen Friedensgesellschaft« zur DFG-IdK und diese 1974 mit dem »Verband der Kriegsdienstverweigerer« (VK) zur DFG-VK.

1952 Willi Agatz, Manfred von Brauchitsch, Wilhelm Elfes, Edith Menge u.a. gründen einen Ausschuss für die Durchführung einer Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland. Die Initiative wird von der Bundesregierung verboten.

1956 Parallel zur Bildung der Bundeswehr und zur Einführung der Wehrpflicht entsteht die »Ohne-mich«-Bewegung, getragen vor allem von den Kriegsdienstverweigern. Im gleichen Jahr setzt Zukunftsforscher Robert Jungk mit seinem Werk »Heller als Tausend Sonnen – Das Schicksal der Atomforscher« ein Signal für die Friedensverantwortung der Wissenschaftler.

1957 Die »Göttinger 18«, eine Gruppe Atomforscher aus der BRD – unter ihnen Carl Friedrich von Weizsäcker und die Nobelpreisträger Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg –, wenden sich in einem Appell gegen die beabsichtigte Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen (Kontroverse um zivile vs. militärische Nutzung). Es folgen erste größere Aktionen im Rahmen der Bewegung »Kampf dem Atomtod«.

1955 Russell-Einstein-Manifest gegen die Folgen der Nuklearrüstung; Grundstein für die Pugwash-Konferenzen.

1958 Erster Ostermarsch der britischen »Campaign for Nuclear Disarmament« (CND) von London zum Atomforschungszentrum Aldermaston.

1960 Angelehnt an das britische Vorbild findet in der BRD der erste Ostermarsch gegen die atomare Bedrohung statt. In den Folgejahren kommen als Themen der Kampf gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze dazu. Die Tradition der deutschen Ostermärsche wird 1969 unterbrochen; im Zuge der Entspannungspolitik unter Willy Brandt kommt es Ende der 1970er Jahre zu einer Wiederbelebung mit vielfältigen weiteren Aktionen, die sich gegen ein erneutes Wettrüsten im Kalten Krieg wenden (u.a. gegen die Neutronenbombe und den »NATO-Doppelbeschluss« von 1979).

1980 Verabschiedung des »Krefelder Appell« gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa. Zu den Initiatoren zählen Martin Niemöller, Helmut Ridder, Gösta von Uexküll, Petra Kelly und Gert Bastian (bis 1983 über sechs Millionen Unterschriften).1980-1983 – Die Atomrüstung und die Abschreckungslogik des Kalten Krieges dominieren die außen- und innenpolitische Debatte; Westeuropa und USA erleben die breiteste Friedensbewegung mit Großdemonstrationen in Bonn, Amsterdam, New York u.a. (Teilnehmerzahlen zwischen 300.000 und eine Million). Es entstehen neue Protestformen des Zivilen Ungehorsams (Menschenketten, Blockaden, Sitzstreiks); pazifistische Positionen auch in Gestalt eines (internationalen) friedenswissenschaftlichen »Gegenexpertentums« (Pugwash, Naturwissenschaftler-, Mediziner-, Juristen-, Pädagogen- und andere Initiativen) werden gesellschaftlich relevant und politisch zeitweise mehrheitsfähig.
Die sozialliberale Bundesregierung scheitert an der Raketenfrage, die Grünen ziehen in den Bundestag ein, die neue Kohl-Genscher-Regierung setzt im Herbst 1983 die Raketenstationierung gegen die öffentliche Meinung durch.

1985 Die »Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW) erhalten den Friedensnobelpreis.

1987-90 Mit der Unterzeichnung des Mittelstreckenvertrages (INF) im Dezember 1987 wird, durch weitreichende Zugeständnisse des sowjetischen Generalsekretärs Michael Gorbatschow vorbereitet, eine wichtige Forderung der Friedensbewegung späte Realität und ein Ende der Blockkonfrontation eingeleitet; die Charta von Paris (1990) besiegelt eine Ära der Hochrüstung und zugleich eines rational neu begründeten Pazifismus.

Seit den 1990er Jahren mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, besonders seit dem Kosovokrieg 1999 und dem Völkermord in Ruanda 1994, sind Fragen des Menschenrechtsschutzes und der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt zu einer neuen Herausforderung internationaler Politik geworden.

Mit dem Erstarken des transnationalen Terrorismus und dem »war on ­terror«, wie er seit 2001 unter US-Führung etabliert wurde, erleben wir sowohl eine Erosion des Völkerrechts als auch Versuche einer neuen Normensetzung (u.a. durch die »Responsibility to Protect/Schutzverantwortung«). Im Gefolge so genannter »neuer Kriege« nach dem Kalten Krieg wurden aber auch neue Erfahrungen mit Friedensschlüssen gemacht.

Pazifistinnen und Pazifisten sind gefragt, in diese Kontexte kreative Impulse einer zivilen Streit(beilegungs)­kultur einzubringen.

Zusammengestellt von Corinna Hauswedell und Jürgen Nieth

„Deß armen Manns sehnliche Klag“

„Deß armen Manns sehnliche Klag“

Friedensvisionen im Dreißigjährigen Krieg

von Anna Lisa Schwartz

Beim Stichwort »Pazifismus« denken wir wohl kaum an das 17. Jahrhundert, zu weit scheint diese Zeit entfernt für ein Konzept, das vermeintlich eher modern ist. Dieser Eindruck trügt. In dem Wort steckt das lateinische »pax«, Frieden, und die Friedenssehnsucht der Menschen ist eine Konstante der Geschichte. Das war im Dreißigjährigen Krieg nicht anders. Diese Sehnsucht schlug sich in den zeitgenössischen Quellen nieder, aus denen wir einiges über die Situation in dieser Zeit erfahren können.

Der Dreißigjährige Krieg erschütterte nicht nur erstmals gleichzeitig große Teile Zentraleuropas, sondern erfasste insbesondere auch alle Bevölkerungsschichten. Die großen Truppenkontingente im Deutschen Reich belasteten sowohl die städtische als auch die ländliche Bevölkerung. Kein Bild zeugt so deutlich von den Gräueltaten des Krieges wie Jaques Callots 18 Radierungen umfassende Serie »Die großen Schrecken des Krieges« von 1633. Besonders »die Gehängten« findet sich noch heute in vielen Geschichtsbüchern und Abhandlungen zum Dreißigjährigen Krieg.

Auch zeitgenössische Quellen lassen die desaströse Situation der Reichsbevölkerung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erahnen. So schildert ein anonymer Bericht die Situation während des Zusammentreffens schwedischer und kaiserlicher Truppen in Norddeutschland im Januar 1632: „Es wird […] berichtet, daß […] daselbst einen Mann erstochen, einen erschossen […] und sonst die Ordinanz gehabt, alle Bauern niederzumachen, alle Weibsbilder, alt und jung, die angetroffen sind, geschändet, der ganze Flecken ausgeplündert, […] allen Vorrat an Getreide, Bier, Wein und andern Victualien verzehrt oder hinweg genommen.“ (Jessen 1963, S. 280-281)

Die Klage des »gemeinen Mannes«

Wie allein die nahezu unüberschaubare Menge an Flugblättern aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts zeigt,1 dominieren Friedenssehnsüchte in Bild und Text die Medien der Zeit. Besonders in den 1630er Jahren formiert sich eine pazifistische Strömung innerhalb der Bevölkerung: Es stehen nicht mehr die konfessionellen und politischen Spannungen im Vordergrund, sondern die schlechten Lebensbedingungen der Menschen. Diese Schwerpunktverlagerung zeigt die Radierung »EUROPA QUERULA ET VULNERATA / Klage der Europen« von 1631 deutlich (Abb. 1). Die personifizierte Europa steht im Mittelpunkt und trennt die Darstellung in zwei Hälften: Links ist eine Gruppe Menschen zu sehen, rechts befinden sich Soldaten, die »Europa« mit Pfeilen beschießen. Andreas Wang identifizierte einen der Männer als Jesuiten und somit die Gruppe links als katholisch (Harms Bd. II, S. 392), der Text wird diesbezüglich aber nicht konkret. In der zweiten Textspalte wird weder die Protestantische Union noch die Katholische Liga angesprochen, sondern die Unfähigkeit der Obrigkeit und des Volkes. Da klagt »Europa«: „Wo ist die Einigkeit? Denn wo dieselbe wohnet / mit Unglück Raht und That man wird verschonet.“

Auch wenn die Verwendung des Kontinentnamens sich eigentlich nur auf die politische Mächtekonstellation, insbesondere auf das Deutsche Reich, bezieht (Tschopp 2004, S. 33-36), ist das Vorbild für den Flugblatttitel eindeutig. 1517 verfasste Erasmus von Rotterdam seine »Querela pacis« (Klage des Friedens), in der die Friedensgöttin »Pax« zu einer neuen Friedenszeit in Europa aufruft. Anlass der Schrift war eine geplante Friedenskonferenz, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich, in Cambrai, die allerdings nie stattfand. Erasmus von Rotterdams Klagerede des Friedens aber gilt noch heute als Beginn eines humanistisch geprägten Pazifismus im vormodernen Europa. Umso mehr Bedeutung verleiht es dem Flugblatt von 1631, dass der Verfasser im Titel Bezug auf die erasmische Grundlagenschrift nimmt.

Was auf dem Flugblatt von 1631 lediglich im Text anklingt, konkretisieren weitere Beispiele aus der Zeit auch im Bild. Das Blatt »Deß armen Manns sehnliche Klag / gegen dem grossen KriegsGott/ über das verderbliche Kriegswesen / und umb Abwendung desselben« von 1636 (Abb. 2) greift abermals das Motiv der Klage auf, nun aber jenseits politischer und religiöser Handlungsbereiche. Vor dem Prospekt einer brennenden Stadt und eines kämpfenden Heeres sind Vertreter verschiedener Stände zu sehen. Sie richten ihre Bitten direkt an »Mars«, der als Kontrahent des Friedens in voller Rüstung und mit Kriegsgerät an einem Baum sitzt: „Sieh an das Leyd / Auch die Elendn In allen Ständn.“ Auch »Pax«, hier nach christlicher Symbolik als Lamm wiedergegeben, bittet um Frieden im Namen der unterschiedlichen Berufsstände. Weitere Personen auf dem Blatt sind ein Kaufmann (Nr. 3), ein Städter (Nr. 4) und ein betender Bauer (Nr. 5), die ihr Wort an den Kriegsgott richten. Im Text wird die Szene genauer ausgelegt: Nur im Streben nach einem sündenfreien christlichen Leben könne durch göttliche Hand Frieden gewahrt bleiben.

Neue Friedensmotive ab 1648

Der Verweis auf verschiedene Ständegruppen bleibt bis zur Aushandlung des Westfälischen Friedens als Thematik solcher Flugblätter erhalten und diente u.a. der Festigung eines bestimmten Motivkanons. Ein Beispiel dafür ist der Holzschnitt »Neuer Auß Münster vom 25. deß Weinmonats im Jahr 1648. abgefertigter Freud- und Friedenbringender Postreuter« (1648) (Abb. 3), der in mehr als der Hälfte des Textes schon nicht mehr die Folgen des Krieges, sondern die Segnungen des Friedens thematisiert. Der Postreiter zählt zu den bekanntesten Darstellungen des Westfälischen Friedens, was vor allem damit zusammenhängt, dass die Postwege im Rahmen der Gesandtenkongresse in Osnabrück und Münster besonders ausgebaut werden mussten und die Nachricht vor allem auf diesem Weg kommuniziert wurde (Fleitmann 1974). Die einleitenden Zeilen lassen den Reiter zu Wort kommen, der die Botschaft aus den beiden Kongressstädten in die Welt hinausträgt und explizit die Hauptstädte der beteiligten Vertragsmächte nennt. Im Anschluss nimmt der anonyme Verfasser ausführlich Bezug auf die einzelnen Berufe und somit die Stände des Reiches, die durch die neu angebrochene Friedenszeit wieder erfolgreich produktiv werden könnten. Dabei wird besonders der zu erwartende Wohlstand und Aufschwung des Handels betont, der durch die Unterzeichnung der Friedensverträge nun wieder florieren könne: „Der Schuster wird sein Geldt vor Schuh nicht können zehlen / Den Schneider wird das Volck umb neue Kleider quelen.“

Die Realität gestaltete sich komplexer: Auch noch nach 1648 befinden sich große Truppenkontingente im Reichsgebiet und belasteten die Bevölkerung, bis im Rahmen des Nürnberger Exekutionskongresses ein Plan zum Abzug der Truppen festgelegt wurde (Oschmann 1991, S. 418-435). Wie im Flugblatt zuvor schließt die Schilderung des Postreiters nicht, ohne den Grund für die Wiederherstellung des Friedens zu benennen: Es danct alles Gott / es danct Ihm frü und spat / was kreucht / fleugt / lebt und schwebt / und was nur Odem hat.“

Frieden schafft Wachstum

Die Wurzeln des Friedensmotivs liegen zwar nicht in einer völkischen Friedensbewegung im Dreißigjährigen Krieg, seine Verwendung hatte aber zu der Zeit Hochkonjunktur. Als Quelle fungierten antike Autoren, deren Stücke durch frühneuzeitliche Emblembücher wieder aufgegriffen wurden. Tibull und Ovid schrieben unter anderem über die unmittelbaren Folgen des Friedens, zu denen sie vor allem den Aufschwung von Handel, Landwirtschaft usw. zählen. Unter ein Motto – »ex pace urbertas« (aus Frieden Fruchtbarkeit) – wurden sie erst in Andrea Alciatis Emblembuch von 1531 gestellt (Kaulbach 1998).

Die Untersuchung verschiedener Friedensbilder im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg hat bisher gezeigt, dass solche Embleme häufig aus ihrer eigentlichen Struktur – bestehend aus Motto, Bild und Epigramm – herausgelöst und auf den Bildinhalt reduziert in die Friedensdarstellungen Eingang finden. Gleiches gilt für das zuvor genannte Motto in Alciatis Publikation. Das Aufblühen der verschiedenen wirtschaftlichen Tätigkeiten bleibt nach 1648 gängiges Motiv für viele Friedensdarstellungen, im Bild häufig durch einen kleinen ackerpflügenden Bauern im Hintergrund symbolisiert. Auch im Blatt des Postreiters taucht das Motiv bereits auf: „Ihr Bauren spannet an die starcken AckerPferde / klatscht mit der Peitschen scharff / die Pflugschar in die Erde.“

Warum wurde das Motiv, aus antiken Quellen bekannt und durch Embleme vermittelt, nicht bereits früher im Rahmen von Friedensdarstellungen verwendet? Das mag zum einen daran liegen, dass der Westfälische Friede erstmals ganz Europa und alle Medien und materiellen Kulturen erfasste. Die Einbindung der Ständeklage dürfte jedoch dazu geführt haben, dass sich gerade die Vorstellung einer aufblühenden Landwirtschaft, eines Handelsaufschwungs und des reichen Kaufmanns etablieren konnte. Auch wenn die Kriegsführung des 18. Jahrhunderts – teilweise aufgrund ihrer Verlagerung auf See – weniger die Bevölkerung in Mitleidenschaft zog als in der Mitte des 17. Jahrhunderts, blieb das Motiv des ackerpflügenden Bauern und der Verbesserung der Lebenszustände weiterhin erhalten. Eine Medaille auf den Frieden von Utrecht 1713 zeigt einen Bauer hinter »Britannia« (Abb. 4). Zusätzlich symbolisieren ein Sämann und eine Flotte zur See den Wohlstand, den England durch den Friedensvertrag mit Frankreich erwarten kann. Auf der Vorderseite der Medaille befindet sich ein Porträt von Königin Anna, in deren Regierungszeit die Vereinigung von Schottland und England fiel (Ohm 2015, S. 214, Nr. II.1.1). Zusammen mit den Verträgen von Rastatt und Baden beendete der Frieden von Utrecht den Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) und somit einen Konflikt zwischen mehreren europäischen Großmächten.

Diese Friedensikonographie etablierte sich in Folge des Westfälischen Friedens vor allem aufgrund der Betroffenheit der Bevölkerung, blieb danach aber von ­diesem Kontext losgelöst noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erhalten.

Anmerkung

1) Eine unvergleichliche Zusammenstellung, vor allem wegen der detaillierten Kommentare zu den Flugblättern, bildet die federführend von Wolfgang Harms herausgegebene Reihe (1980-2005): Deutsche und illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. 7 Bde., Tübingen: Max Niemeyer.

Literatur

Fleitmann, W. (1974): Postverbindungen für den Westfälischen Friedenskongreß 1643 bis 1648. Archiv für deutsche Postgeschichte 7, Heft 1, S. 3-48.

Griffiths, A. (1998): Callot – Miseries of war. In: Malbert, R.; Griffiths, A. (eds.): Disasters of war – Callot, Goya, Dix. Katalog einer Ausstellung, die 1998 u.a. in Kelvingrove Art Gallery and Museum in Glasgow gezeigt wurde; Manchester: National Touring Exhibitions, S. 11–24.

Harms, W. (Hrsg.) (1980-2005): Deutsche und illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. 7 Bde, Tübingen: Max Niemeyer.

Hannemann, B. (Hrsg.) (1985): Die Klage des Friedens von Erasmus von Rotterdam. München: Piper.

Jessen, H. (Hrsg.) (1963): Der Dreißigjährige Krieg in Augenzeugenberichten. Düsseldorf: Rauch.

Kaulbach, H.-M. (1998): Das Bild des Friedens – vor und nach 1648. In: Bußmann, K.; Schilling H. (Hrsg.): 1648 – Krieg und Frieden in Europa. Bd. 2, Kunst und Kultur. Ausstellungskatalog des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Münster, des Kulturgeschichtlichen Museums sowie der Kunsthalle Dominikanerkirche Osnabrück 1998–1999 (26. Europarat-Ausstellung). München: Bruckmann, S. 593-603.

Ohm, M. (2015): Am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges – Medaillen auf die Friedensschlüsse in Utrecht, Rastatt und Baden (1713/1714). In: Bayerische Numismatische Gesellschaft (Hrsg.): Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 65. München: R. Pflaum, S. 211-232.

Oschmann, A.S. (1991): Der Nürnberger Exekutionstag 1649-1650 – Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland. Dissertation an der Universität Bonn von 1988. Münster: Aschendorff, Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte Bd. 17.

Tschopp, S.S. (2004): Gegenwärtige Abwesenheit – Europa als politisches Denkmodell des 17. Jahrhunderts? In: Bußmann, K.; Werner E.A. (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert – Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart: Franz Steiner, S. 25-36.

Anna Lisa Schwartz M.A. ist Kunsthistorikerin. Sie promoviert an der Universität Trier zu den visuellen Repräsentationen des Friedens von Aachen (1748) in der niederländischen Republik und arbeitet im Projekt »Dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen – Repräsentationen des Friedens im vormodernen Europa« im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.

Friedenskonzepte im Wandel

Friedenskonzepte im Wandel

Analyse der Vergabe des Friedensnobelpreises von 1901 bis 2015

von Susanne Reitmair-Juárez

In jüngerer Zeit wird häufig kriti­siert, die Entscheidungen des Friedensnobelkomitees hätten mit dem Vermächtnis von Alfred Nobel wenig zu tun und es würden zu oft falsche Preisträgerentscheidungen getroffen. Selten wird die Logik hinter der Entscheidung für bestimmte Preisträger*innen beleuchtet. Dieser Beitrag stellt erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes am Demokratiezentrum Wien vor, das untersucht, welche Friedenskonzepte bei der Vergabe des Friedensnobelpreises zugrunde gelegt wurden und wie diese sich im Laufe der Jahre 1901-2015 verändert bzw. ausgeweitet haben. Um das herauszufinden, wurden die Reden des norwegischen Nobelkomitees bei der Vergabe des Preises sowie die Dankesreden der Preisträger*innen analysiert.

In seinem Testament stellte der 1895 verstorbene Alfred Nobel sein gesamtes Vermögen für jährlich zu vergebende Preise zur Verfügung, darunter ein Friedenspreis, der an die Person gehen solle, die im vergangenen Jahr die meiste oder die beste Arbeit für die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere sowie für die Abhaltung und Förderung von Friedenskongressen geleistet hat“. In der praktischen Umsetzung arbeitete das Nobelkomitee bestimmte Friedenskonzepte heraus, die es für preiswürdig erachtete.

Frieden durch Recht

Seit 1901, der ersten Verleihung des Friedensnobelpreises, steht die Überzeugung des Nobelkomitees im Vordergrund, Frieden könne durch eine fortschreitende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen erreicht werden. Dadurch soll das Handeln der Staaten gegenüber anderen Staaten beschränkt und allgemein gültigen Regeln unterworfen werden. Krieg soll verboten und bei Verstoß bestraft werden. Das »Recht« zu militärischen Aktionen soll nicht mehr bei einzelnen Staaten, sondern bei einer internationalen Organisation liegen (wie es 1945 in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben wurde – mit Ausnahme des Rechts auf Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs, das den Staaten weiterhin zusteht). Schiedsgerichte, völkerrechtliche Verträge und internationale Organisationen bieten in dieser Konzeption den notwendigen internationalen Rahmen für weltweiten Frieden. Auch wachsende Interdependenz durch intensive Handelsbeziehungen und Verträge in immer mehr Politikbereichen ist Teil dieses Friedensverständnisses. Als vorläufig letzte Vertreterin dieses Konzepts wurde 2012 die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Insgesamt gab es im Untersuchungszeitraum 41 Auszeichnungen für Bemühungen, Frieden durch Recht zu schaffen oder zu stärken.

Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsarbeit

Humanitäre Hilfe, vor allem die Arbeit mit Flüchtlingen, steht bei 16 Preisträger*innen im Zentrum der Aktivitäten. Ziel ist es, Kriege »menschlicher« zu machen, sie Regeln zu unterwerfen und das Leid der Menschen (sowohl der Soldat*innen als auch der Zivilist*innen) zu lindern. Dies ist das einzige Friedenskonzept, für das Akteure mehrfach ausgezeichnet wurden, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz gar drei Mal (1917, 1944, 1963).

Wichtige friedenschaffende ­Akteure kommen aus der nicht-staatlichen, zivilgesellschaftlichen ebenso wie aus der supranationalen Sphäre und üben häufig deutliche Kritik an Staaten, die ihre politischen und rechtlichen Verpflichtungen nicht genügend wahrnehmen.

Abrüstung

In der Geschichte des Friedensnobelpreises wurden 22 Auszeichnungen für Verdienste um die Abrüstung vergeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand atomare Abrüstung im Vordergrund. Obwohl im Bereich Abrüstung eindeutig die Staaten die dominanten Akteure sind – schließlich müssen sie ihre Waffenarsenale reduzieren –, wurden vorwiegend nichtstaatlich aktive Akteure ausgezeichnet.

Wie beim Konzept »Frieden durch Recht« ging es dem Nobelkomitee auch hier darum, das Sicherheitsdilemma der internationalen Beziehungen abzu­schwächen: Rüstet ein Staat auf, so fühlen sich andere Staaten bedroht und rüsten nach, dadurch fühlt sich wiederum der erste Staat bedroht; je stärker die Staaten hochgerüstet sind, desto wahrscheinlicher wird der Krieg.

Frieden durch Entwicklung

Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird vom Nobelkomitee auch die gleiche und gleichberechtigte sozio­ökonomische Entwicklung aller Staaten und aller Menschen als Weg zum Frieden definiert. Nur wenn ein gewisses Maß an Wohlstand und Gleichheit erreicht würde, könne es Frieden geben. Der Gerechtigkeitsbegriff wird als Kategorie eingeführt. Die Preisträger*innen lenken die Aufmerksamkeit weg vom negativen Friedensbegriff hin zur Qualität des Friedens. Gerechtigkeit bzw. gleiche Entwicklungschancen oder gleicher Wohlstand müssten auf beiden Ebenen erreicht werden: sowohl innerhalb (gesellschaftliche Ebene) als auch zwischen den Staaten (internationale Ebene). Damit wird die »Black Box« Staat geöffnet und gesellschaftliche Strukturen innerhalb einzelner Staaten kommen in den Blick. Durch die Konzeptualisierung von Ungleichheit als Keim von Konflikt wird auch der Gegenbegriff zum Frieden ausgeweitet: vom Krieg hin zum Konflikt, und zwar Konflikt auf allen Ebenen sozialer Organisation.

Staaten und internationale Organisationen sind weiterhin wichtige Akteure, sie haben bei der Entwicklung und Herstellung von Gerechtigkeit zentrale Handlungsmöglichkeiten und -macht. Friedensrelevant ist in diesem Feld aber nicht die Außen-, sondern die Innenpolitik, konkreter die Sozial-, Wirtschafts-, Bildungs- und Verteilungspolitik. Gleichzeitig rücken die Juror*innen bei »Frieden durch Entwicklung« die Eigenverantwortung des Individuums bzw. der Zivilgesellschaft in den Blick: Jede*r könne zu einem gesunden, gerechten (und damit friedlichen) Zusammenleben beitragen.

Beilegung regionaler Konflikte

Mehrmals wurde die Bearbeitung oder Beilegung regional begrenzter Konflikte oder Kriege mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, z.B. die Klärung des deutsch-französischen Verhältnisses (Preise 1925-1927), Nordirland (1976, 1998), Ost-Timor (1996), Südafrika (1960, 1984, 1993), Nahost (1950, 1978, 1994), Vietnam (1973), Zentral­amerika (1987).

Eine Gemeinsamkeit dieser Friedensnobelpreise ist, dass konkrete gewaltsame Konflikte als Hindernis für eine insgesamt friedliche Welt verstanden werden – einerseits, weil ein Konflikt sich geografisch ausdehnen könne, andererseits, weil Frieden unteilbar sei: Niemand könne tatsächlich in Frieden leben, wenn es irgendwo auf der Welt Krieg oder Gewalt gebe (so Lutuli 1960, al-Sadat 1978). Einige Konflikte standen im Laufe der Zeit mehrmals im Fokus, teils um explizit einen bestehenden und vielleicht noch fragilen Friedensprozesses zu fördern (drei Friedensnobelpreise zu Südafrika, drei zum Nahost-Konflikt, zwei zu Nord­irland). Darüber hinaus ist eine wichtige Gemeinsamkeit, dass verschiedene Ebenen oder Rollen in einem Konflikt ausgezeichnet und somit ins Zentrum der Weltöffentlichkeit gerückt wurden: die politische wie die zivilgesellschaftliche. Es braucht einerseits eine politische Einigung, formelle Friedensprozesse, Abkommen und politische Strukturen, um eine friedliche Konfliktbeilegung zu ermöglichen (z.B. Mandela/de Klerk in Südafrika, Hume/Trimble in Nordirland, Chamberlain/Dawes und Stresemann/Briand für die deutsch-französische Aussöhnung, Ramos-Horta in Ost-Timor), andererseits kann eine Top-down-Lösung nicht ausreichen, besonders, wenn es um innerstaatliche Konflikte geht. Die Überzeugung von Individuen oder sozialen Bewegungen, dass ein Konflikt gewaltfrei bearbeitet werden muss, ist zentral für eine nachhaltige Konfliktlösung (Lutuli/Tutu in Südafrika, Buisson/Quidde für die deutsch-französische Aussöhnung, Williams/Corrigan für Nordirland, Belo in Ost-Timor).

In den Reden von Nobelkomitee und Preisträger*innen wird der Friedensbegriff inhaltlich qualifiziert: Es müssten die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen im Sinne von mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Mitbestimmung verbessert werden. Dies wird am besten in demokratischen Staaten erreicht. Frieden braucht demnach Demokratie, um einen gewaltfreien Interessens­ausgleich gestalten und institutionalisieren zu können.

Kodifizierung der Menschen­rechte und Demokratisierung

Ein weiteres Friedenskonzept sieht die Formulierung, Kodifizierung und Umsetzung der Menschenrechte in Kombination mit Demokratisierungsprozessen als wichtigsten Weg zum Frieden. Dafür wurden 29 Preise vergeben. Es wurden zwei Teilmodelle unterschieden, die auf unterschiedlichen (politischen) Ebenen ansetzen: einerseits die Kodifizierung und Einforderung der Menschenrechte auf einer allgemeinen (internationalen) Ebene (so wurde Cassin 1968 für seine Rolle bei der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausgezeichnet); andererseits wurden einige Preisträger*innen für ihr Engagement für die tatsächliche Umsetzung und Einhaltung dieser Rechte in konkreten politischen Systemen ausgezeichnet (z.B. Liu Xiaobo 2010). Ebenso wurden mehrere Dissident*innen sozialistischer oder diktatorischer Regime ausgezeichnet. Gemeinsam ist den Preisträger*innen das Prinzip der Gewaltlosigkeit.

1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet; schon 1951 wird Leon Jouhaux für seinen Einsatz für Menschenrechte mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Dieses Friedenskonzept nennt mehrere Akteure als wesentlich zur Erreichung des Friedens: Individuen und die (organisierte) Zivilgesellschaft sollen ihre eigenen Rechte selbstbewusst (aber gewaltfrei) einfordern. Ein wesentlicher Handlungsauftrag richtet sich direkt an die Staaten. Diese müssen die Menschenrechte garantieren und selbst einhalten, Verstöße dagegen abstellen. Als Korrektiv von staatlichem Handeln oder Unterstützung dafür dienen wiederum internationale Strukturen (z.B. Gerichtshöfe) und völkerrechtliche Abkommen. Frieden baut nun gewissermaßen auf der Abwesenheit direkter Gewalt auf und versucht, die Qualität des menschlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft zu verbessern: Die Menschenrechte begrenzen das staatliche Handeln einerseits und unterwerfen es andererseits gewissen Pflichten. Nachdem in anderen Friedenskonzepten die Begrenzung souveränen staatlichen Handelns nach außen – gegenüber anderen Staaten – im Zentrum stand, ist nun die Begrenzung staatlichen Handelns (und somit der nationalen Souveränität) nach innen zentral. Damit verschiebt sich die relevante Handlungsebene vom Staat hin zum Individuum. Ziel allen politischen Handelns sollen persönliche Freiheit, politische Mitbestimmung und das Wohlergehen der Menschen sein.

Es ist auffallend, dass Preisträger*innen, die sich für die Umsetzung von Menschenrechten in konkreten politischen Systemen einsetzen, großteils nicht aus Europa oder Nordamerika kommen, wohingegen bei allen anderen Friedenskonzepten sowie generell in der Geschichte des Friedensnobelpreises diese beiden Regionen stark dominieren.

Klimawandel und
Umweltschutz

Die jüngste Weiterentwicklung des Friedenskonzepts seitens des Nobelkomitees ist zweifelsfrei die Berücksichtigung der ökologischen Dimension. 2004 wird Wangari Muta Maathai aus Kenia für die Gründung des Green Belt Movement ausgezeichnet. 2007 erhalten Al Gore und das International Panel on Climate Change (IPCC) den Preis für ihren Kampf gegen den Klimawandel bzw. für entsprechende Bewusstseinsbildung in Politik und Gesellschaft. Alle drei Preisträger*innen verknüpfen ganz bewusst die Ökologie und die Umwelt mit Konflikt­ursachen und dem Friedensbegriff. Das Nobelkomitee erklärte ausdrücklich, dass es seinen ohnehin schon breiten Friedensbegriff nochmals erweitert habe (Rede des Komitees 2004). Es wird eine breite Palette an Akteuren benannt, die für Frieden arbeiten müssen: Die Individuen und Gesellschaften müssten sich der Auswirkungen des Klimawandels (und des eigenen Beitrags dazu) bewusst werden und ihre eigenen Handlungen überdenken; die Staaten müssten politische Maßnahmen ergreifen, sowohl innerstaatlich als auch auf internationaler Ebene. Jede*r habe Möglichkeiten, einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Auch hier ist Frieden eng mit dem Begriff der Gerechtigkeit verbunden.

Entwicklungslinien

Aus der Analyse der Friedenskonzepte lassen sich einige Entwicklungslinien herausarbeiten, die im Folgenden kurz umrissen werden. Eine interessante Entwicklung ist die Positionierung der Preisträger*innen selbst, sowohl in geografischer und sozioökonomischer wie in politischer Hinsicht. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden verstärkt Personen und Organisationen aus Regionen, Religionen und Kulturen außerhalb Europas und Nordamerikas ausgezeichnet (z.B. Dalai Lama, Aung San Suu Kyi, Shirin Ebadi, Mohammad ElBaradei). Auch die gesellschaftliche und sozioökonomische Stellung der Preisträger*innen hat sich verbreitert und ist nicht mehr auf Eliten beschränkt.

Eine Öffnung ist auch hinsichtlich der Art der Konflikte oder Problematiken zu verzeichnen, die bei der Auszeichnung berücksichtigt wurden: Während in der Frühzeit des Preises die Verhinderung eines weiteren (europäischen) Krieges bzw. die Bearbeitung der »Erbfeindschaft« zwischen den europäischen Großmächten Frankreich und Deutschland im Zentrum stand, weitet sich das Themen­spektrum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, bis hin zu Entwicklungsfragen, Kinder- und Frauenrechten und Umweltschutz.

Selbst bei den Akteuren, die als Friedensstifter angesehen werden, lassen sich qualitative Veränderungen beobachten. Zwar bleibt der Staat zentraler Akteur für die Frage von Krieg und Frieden, es hat sich aber die relevante Handlungsebene verschoben, vom Handeln zwischen Staaten zum staatlichen Handeln gegenüber Bürger*innen. Der Wirkungsbereich der nationalen Souveränität wird damit wie oben erläutert durch die Menschenrechte nach innen und außen eingeschränkt.

Von Beginn an sollte durch die Verleihung eines Nobelpreises die internationale/supranationale Ebene als Koordinatorin, Kontrolleurin und Helferin gestärkt werden, etwa durch Würdigung von Schlichtungsverträgen, internatio­nalen Gerichten und Verträgen. Das Verständnis der Rolle der supranationalen Akteure hat sich nicht wesentlich verändert: Sie sollen einen rechtlichen Rahmen für staatliches Handeln bieten und dieses dadurch begrenzen.

Gewandelt hat sich hingegen das Selbstverständnis der Zivilgesellschaft: In den ersten Jahrzehnten wird die Zivilgesellschaft häufig als eine Art innerstaatliches Korrektiv der eigentlichen Akteure, also der Staaten, gesehen, und diese Rolle kommt ihnen bis heute zu. Allerdings hat sich ihre Position gegenüber dem Staat verschoben: Regierungen werden nicht mehr um etwas gebeten, sondern es werden bestehende Rechte eingefordert. Besonders die arabischen und afrikanischen Preisträger*innen im 21. Jahrhundert sagen sehr selbstbewusst, dass sie nicht um Frieden, um Hilfe oder Entwicklung bitten, sondern dass sie ihre Menschenrechte einfordern – von ihren Regierungen (z.B. Dankesrede von Tawakkol Karman 2011).

Auf verschiedenen Ebenen lassen sich also Veränderungen im Friedensverständnis, in der Konzeptualisierung einzelner Akteure und in den für Frieden relevanten Themenbereichen feststellen, meist im Sinne einer Öffnung. Allerdings verlaufen diese Entwicklungsprozesse weder linear noch chronologisch oder exklusiv. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird mal das eine, mal das andere Konzept mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Weiteres Forschungsvorhaben

Im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts werden zu den jeweiligen Friedenskonzepten vertiefende Fallstudien zu einzelnen Friedensnobelpreisträger*innen erarbeitet. Darüber hinaus erfolgt eine geopolitische und friedenswissenschaft­liche Kontextualisierung dieser Fallstudien, die Gender-Frage wird beleuchtet (es gibt nur 16 Frauen unter 129 Preisträger*innen), und postkoloniale Theorien werden berücksichtigt.

Susanne Reitmair-Juárez M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Demokratiezentrum Wien. Ihr Studium der Politikwissenschaft absolvierte sie an der Universität Salzburg, einen Forschungsaufenthalt in Guatemala. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Themenfelder Politische Bildung, Instrumente direkter und partizipativer Demokratie, Migration sowie Friedensforschung.

Frauen und Frieden nach 1945

Frauen und Frieden nach 1945

Eine Annäherung an den Diskurs in Ost- und Westdeutschland

von Helke Dreier

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges organisierten sich viele Frauen in Frauenausschüssen und -organisationen. Neben der Linderung der sozialen Not waren die Aktivitäten dieser Gruppen geprägt vom Thema »Frieden«, und ihre Aktionen galten dem Aufbau eines friedlichen und demokratischen Deutschlands. Ihr Beitrag dazu sollte die politische Bildung der Frauen sein. Dabei thematisierten sie einen Pazifismus, der stark an ihre Geschlechtsidentität und die damit verbundenen Kriegserfahrungen geknüpft war. Der sich verschärfende Ost-West-Konflikt und seine ideologischen Auseinandersetzungen hatten auch Konsequenzen für die friedenspolitische Diskussion innerhalb der Frauenorganisationen. Die Forschung dazu lässt bislang aber noch viele Fragen offen.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird häufig als eine Zeit des Politikverdrusses verstanden. Nach Krieg und Faschismus sei den Deutschen das Interesse für die Politik abhanden gekommen und ihr Leben vom mühsamen Nachkriegsalltag bestimmt gewesen. Lenkt man den Blick auf die Arbeit und die Aktivitäten der Frauen und ihrer Organisationen in dieser Zeit, kommt man allerdings zu einer anderen Einschätzung. Unmittelbar nach Kriegsende organisierten sich viele Frauen in den in allen vier Besatzungszonen entstehenden Frauenausschüssen und in anderen Frauenorganisationen, wie dem Frankfurter Frauenverband (gegründet als Zusammenschluss der hessischen Frauenausschüsse im Januar 1947), dem Wilmersdorfer Frauenverband (WFB, gegründet im Juli 1947, der Vorläufer des Berliner Frauenbundes/BFB), der Notgemeinschaft 1947 (gegründet im Januar 1948, später Deutscher Staatsbürgerinnen-Verband) oder dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD, gegründet im März 1947), um nur ein paar Organisationen zu nennen.

Ihr soziales und fürsorgerisches Engagement zur Linderung der sozialen Not der Nachkriegszeit verstanden diese Frauenorganisationen als politische Aufgabe: „[…] Wir Frauendelegierten erkennen, daß unsere Arbeit nicht auf soziale Aufgaben beschränkt sein darf. Wir müssen den deutschen Frauen bei der Überwindung der faschistischen Ideologie Wegweiser und Helfer sein und sie zu verantwortlichen Mitarbeiterinnen gewinnen im Sinne des Friedens, der Völkerversöhnung, der Demokratie und des Aufbaues. Die Frauen werden lernen, politisch zu denken, damit sie klar erkennen, wo die Ursachen unserer heutigen Notlage liegen und mit uns den Ausweg aus der Not lindern, der in unserer eigenen Arbeit liegt.“ Aus diesem Auszug aus der Resolution der ersten Delegiertenkonferenz der Frauenausschüsse im Juli 1946 wird deutlich, dass das politische Engagement der Frauen friedenspolitisch geprägt war. Die Frauenorganisationen der Nachkriegszeit, die sich nicht explizit als Friedensorganisationen verstanden, sahen in der Sicherung des Friedens und dem Aufbau einer friedlichen und demokratischen Gesellschaft in Deutschland ihre zentrale Aufgabe.

Neben diesen sich allerorts gründenden Frauenausschüssen, -gruppen und -organisationen entstanden immer mehr Zusammenschlüsse, die sich direkt als Frauenfriedensorganisationen gründeten. Sie unterschieden sich in ihrer Größe und Organisationsform. Einige waren lokal aktiv, wie der von der Physikerin Freda Wüsthoff 1946 ins Leben gerufene Stuttgarter Friedenskreis, eine Arbeitsgemeinschaft von Frauen zur Förderung des »dauernden« Friedens, der viele namhafte Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung angehörten, u.a. Gertrud Bäumer, Theanolte Bähnisch, Dorothee von Velsen, Elly Heuss-Knapp, Agnes von Zahn-Harnack, Marie Elisabeth Lüders und Clara von Simson (Hauser 1996). Andere, wie die im Juni 1948 unter der Leitung von Magda Hoppstock-Huth gegründete Deutschlandzentrale der Weltorganisation der Mütter aller Nationen (World Organization of Mothers of all Nations, W.O.M.A.N.), arbeiteten überregional.

Verantwortung der Frauen für den Frieden

Die politischen Aktivitäten der Frauen(friedens)gruppen und -organisationen der Nachkriegszeit waren von Kampagnen für den Frieden bestimmt. Die in allen vier Besatzungszonen stattfindenden Frauenkongresse und Gründungsveranstaltungen der verschiedenen Organisationen machten das Thema Frieden zu ihrem Leitmotiv. So z.B. die erste Frauenkonferenz der Westzonen in Bad Boll im Mai 1947, auf der Freda Wüsthoff und Agnes Zahn-Harnack zu den Themen Frieden und Völkerverständigung sprachen. Auch die hier verabschiedete Resolution stellte den Frieden ins Zentrum (Stoehr und Schmidt-Harzbach 1996, S. 232; Hervé und Nödinger 1995, S. 132). In der Sowjetischen Besatzungszone fand der Gründungskongress des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) unter dem Titel »Frauenkongreß für den Frieden« statt (Demokratische Frauenbund Deutschlands 1947). Es war auch dieser Frauenverband, der 1948 die Friedenskampagne »Für das Verbot der Atombombe« initiierte (Stoehr und Schmidt-Harzbach 1996, hier vor allem S. 233/234).1

Auf die Gefahren der atomaren Rüstung wiesen die Frauengruppen und -organisationen aller vier Besatzungszonen schon sehr bald nach Kriegsende in Vorträgen und auf Kongressen hin. Beispielhaft seien hier die Aktivitäten der Physikerin Freda Wüsthoff genannt, die eine breite Aufklärungsarbeit durch Reden und Vorträge vor allem in den westlichen Besatzungszonen und auch in Berlin entfaltete. Sie warnte früh vor den Gefahren von Atomwaffen, u.a. in ihrem im Januar 1948 gehaltenen Festvortrag »Atomenergie und Frieden« auf der Gründungsveranstaltung der Notgemeinschaft 1947.

Mit ihrem Engagement für den Frieden reihten sich die Frauengruppen und -organisationen in eine politische Oppositionsbewegung ein, die in der Forschung auch als »Ohne mich«-Bewegung zusammengefasst wird (Werner 2006). Die Motive dieser Gruppen für ihr friedenspolitisches Engagement waren vielfältig. Sie reichten von einem grundsätzlichen Pazifismus über antimilitaristische oder antikapitalistische Positionen bis hin zu einer Ablehnung der Westintegration des westlichen Teil Deutschlands, weil diese eine Wiedervereinigung erschwere (Wette 2008, S. 14).

All diese Motive finden sich auch bei den Frauenorganisationen, allerdings kam hier ein weiteres, geschlechtsbezogenes Motiv hinzu: Sie sprachen der Frau in ihrer Funktion als »Lebensgeberin« eine besondere Verantwortung für den Frieden zu. Indem sie männlich mit kriegerisch und zerstörerisch, weiblich dagegen mit friedliebend und lebensspendend gleichsetzten, machten sie Weiblichkeit bzw. Frau-Sein zum Synonym für friedlich und Frieden und somit zum Kernanliegen von Frauenpolitik. „Das erste, was wir Frauen und Mütter daher fordern, das ist eine Sicherung des Friedens“, hieß es denn auch im ersten Aufruf des Zentralen Frauenausschusses im November 1945 (zit. nach Stoehr und Schmidt-Harzbach 1996, S. 231).

Doch auch wenn die Sicherung des Friedens und der Aufbau einer friedlichen Gesellschaft die einigende Klammer für die politische Arbeit waren, gab es Unterschiede in der politischen Grundhaltung der einzelnen Frauen(friedens)­gruppen und folglich unterschiedliche Meinungen darüber, wie der Weg dahin aussehen sollte und welche Mittel zum Ziel führen. Einige der Frauenorganisationen standen den Zielen und Idealen der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD) nahe (z.B. der Demokratische Frauenbund Deutschlands, DFD), andere sprachen sich für eine parlamentarisch-repräsentative Demokratie aus (z.B. der Deutsche Frauenring, DFR).

Viele offene Fragen

Immer stärker wurde der friedenspolitische Diskurs der Frauen(friedens)­organisationen geprägt von den ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges. Welchen Einfluss dies auf das Friedens- und Pazifismusverständnis der Frauenorganisationen hatte, darüber gibt es bislang kaum Untersuchungen. Die Arbeiten aus den Reihen der Historischen Frauen- und Geschlechterforschung über die Frauenorganisationen im Nachkriegsdeutschland haben durchgehend einen starken Westbezug und legen den Schwerpunkt vor allem auf die Geschichte dieser Frauenorganisationen und die Biographien ihrer Protagonistinnen (Hervé 1979; Brändle-Zeile 1983; Riesenberger 1983; Maltry 1993; Hervé 2001). Die Arbeiten aus den Reihen der Historischen Friedensforschung greifen die Ergebnisse der Genderforschung auf und stellen die Aktivitäten der Frauenorganisationen stärker in den gesellschaftlichen Rahmen ihrer Zeit (u. a. Canning 2002; Stoehr 2002; Davy 2002 u. 2005; Bald und Wette 2008; Dunkel 2015; Hertrampf 2006; Stoehr 2012).

Zum Pazifismusverständnis der Frauenorganisationen gibt es kaum Untersuchungen, und die wenigen Ansätze, die es gibt, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während Ingrid Schmidt-Harzbach noch von einem einigenden und übereinstimmenden Friedensbegriff der Frauenorganisationen für die erste Zeit nach Kriegsende ausgeht – Annette Kuhn, die zu den ersten gehörte, die sich mit diesem Thema befassten, sprach gar von einem feministischen Pazifismus dieser Zeit (Kuhn 1986, S. 27) –, ist Irene Stoehr der Meinung, dass es diese Übereinstimmung nie gegeben habe, sondern bereits unmittelbar mit der Gründung der ersten Frauenorganisationen die Gräben sichtbar wurden (Stoehr und Schmidt-Harzbach 1996).

Ob und in welchem Kontext das Argument, Frauen seien qua Geschlecht, als Lebensspenderin und Mutter, schon von Natur aus das friedlichere Geschlecht, von allen Frauen(friedens)organistionen aufgegriffen wurde, bleibt genauer zu untersuchen. Ebenso ist zu fragen, wie die zunehmende Einbindung der west- und ostdeutschen Frauenorganisationen in die ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges den friedenspolitischen Diskurs dieser Organisationen bestimmte.

Erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes am Archiv der deutschen Frauenbewegung (addf-kassel.de/projekte/forschung/friedensdiskurs/) legen die Vermutung nahe, dass einige Organisationen am Topos der friedfertigen Frau festhielten und dies zu ihrem zentralen Argument machten, z.B. die Weltorganisation der Mütter aller Nationen (W.O.M.A.N.), während sich andere Frauenorganisationen auf die politische und gesellschaftliche Gleichstellung der Frau beriefen. Durch die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen am politischen Leben sollten zukünftige Kriege verhindert und der Frieden gesichert werden (so z.B. die Notgemeinschaft 1947). Als weitere These aus der bisherigen Arbeit dieses Projektes lässt sich formulieren, dass der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) beide Argumentationsstränge miteinander verknüpfte. Sowohl die besondere Disposition der Frau für den Frieden qua Geschlecht als auch ihre gesellschaftliche und politische Gleichstellung bildeten die Basis für den friedenspolitischen Diskurs. Welchen Einfluss das sozialistische Friedensverständnis auf den Friedensbegriff und das Pazifismusverständnis dieser Organisation hatte, bleibt zu klären. Ebenso bleibt zu untersuchen, ob die Überlegungen zur gleichberechtigten Stellung der Frau in der Gesellschaft und ihrer daraus erwachsenden Verantwortung für den Frieden dem Frauenbild des Sozialismus entsprangen oder doch noch stärker den Ideen der alten Frauenbewegung verbunden waren.

Beim derzeitigen Stand der Quellenerschließung drängt sich der Eindruck auf, dass der Friedensdiskurs maßgeblich vom Osten bestimmt wurde. Es scheint so zu sein, dass das Friedensthema in den Publikationsorganen der Frauenorganisationen des Westens einen weniger prominenten Platz einnahm. Diese Dominanz des östlich bestimmten, sozialistischen Friedensdiskurses in den Frauenorganisationen (aber nicht nur dort) könnte eine Erklärung dafür liefern, warum Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten im Westen in den späteren Jahren oft unter »Kommunismusverdacht« gerieten.

Anmerkung

1) Diese Kampagne diente zur Unterstützung der sowjetischen Delegation bei den Vereinten Nationen, die diese Forderung dort stellte. Der DFD sammelte damals 5,5 Millionen Unterschriften für das Verbot der Atombombe. Dreihunderttausend davon stammten aus den Westzonen.

Literatur

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Helke Dreier, Historikerin, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel. ­Zurzeit arbeitet sie dort im Forschungsprojekt »Der Friedensdiskurs der west- und ostdeutschen Frauenorganisationen von 1945 bis 1955«.

Weltordnungskriege im Ost-West-Konflikt?

Weltordnungskriege im Ost-West-Konflikt?

von Jost Dülffer

Kommunismus versus Kapitalismus oder Demokratie versus Diktatur? Wenn das die einzigen Ordnungsmuster der Weltpolitik über fast fünfzig Jahre gewesen wären, könnte man sich den folgenden Beitrag sparen. Gezeigt werden soll vielmehr, dass Kriege dieser Zeit (und danach) komplexeren Mustern auf mehreren Ebenen folgten. Nur so kann man zu annähernd hinreichenden Erklärungen kommen.

Der »Kalte Krieg« wurde im Laufe der Jahre zunehmend zum globalen Krieg. Er machte sich nicht nur im Norden, sondern auch im Globalen Süden in allen Bereichen von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur bemerkbar. Die Entwicklungen, deren Dynamiken durch die bipolare Konfliktordnung des Kalten Krieges überlagert und bisweilen erst auf Dauer gestellt wurden, wiesen aber auch eine eigene lokale und regionale Logik auf, und zwar keineswegs nur im Globalen Süden. Dies traf bereits seit den imperialen Eroberungen des 19. Jahrhunderts zu, galt aber auch für die Dekolonisation nach den beiden Weltkriegen.

Eine längerfristige Sicht auf die regionalen Konflikte im 20. Jahrhundert könnte lohnend sein, die diese genuinen und z.T. verdeckt gehaltenen Strukturen internationaler Subsysteme in den Blick nimmt und damit auch die Möglichkeit schafft, die in den letzten Jahrzehnten wichtig gewordenen Konflikte und Kriege als neue Erscheinung älterer Problemlagen zu erkennen. Es könnte sein, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die einen entscheidenden Ausgangspunkt und Austragungsort in Europa hatten, so in längerer Perspektive weniger wichtig erscheinen und den bislang üblichen Blick von der nördlichen Halbkugel in den Süden verschieben.

Die beiden Weltführungsmächte USA und Sowjetunion und ihre Verbündeten trafen 1945 nur als Folge des sonst nicht zu stoppenden deutschen Hegemonial- und Rassenkrieges mitten in Europa aufeinander und schufen so die Voraussetzungen für die Entwicklung zum Kalten Krieg. Dieser Ost-West-Konflikt führte zur Bildung zweier Integrationsblöcke mit sehr unterschiedlichen Strukturen: „Das eine Imperium […] entstand durch Einladung, das andere durch Auferlegung“, formulierte John Lewis Gaddis.1 Zugleich luden beide Seiten mit zumindest propagandistischer moralischer Disqualifikation die jeweils andere Seite als »Reich des Bösen« auf – nicht erst durch Ronald Reagan.

Ich ziehe es vor, diese jahrzehntelange Auseinandersetzung (die sich, wenn auch in gewandelter Form, nach 1991 weiter beobachten lässt) als »Ost-West-Konflikt« zu bezeichnen, weil so dessen Intensivphasen mit dem Eindruck hoher Kriegsgefahr deutlicher hervortreten. Er beschränkte sich nicht auf Europa, sondern erstreckte sich von Beginn an auch auf Südost- und Ostasien (z.B. Indochina); in diesem Rahmen gab es etliche heiße Konflikte. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass zu einer Zeit, als man einen großen Krieg befürchtete, die eigentlichen »Kalten Kriege« an anderer Stelle stattfanden. Sie umfassten die Berlin-Blockade und den Koreakrieg 1948 bis 1951 – letzterer ein »heißer Krieg«, der auf Europa überzugreifen drohte –, die Berlin- und Kuba-Krisen 1959-1962 sowie die »Nachrüstungskrise« zwischen 1979 und 1984.2

Der Ost-West-Konflikt

Worum ging es im Ost-West-Konflikt, der von zahlreichen interpendenten Konfliktfeldern auf den Achsen Ost-West und Nord-Süd durchzogen war? Es war sicher ein ideologischer Konflikt, er lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Umfassendere Interpretationen3 betonen zwei Modernisierungsstrategien, die sich in Ost und West verschiedener Methoden des Werbens und der aggressiven Ausbreitung bedienten. Fasst man unter die Ausbreitung auch Bereiche wie Wirtschaft, Kultur, Technologie und vor allem die militärische Aufrüstung, lässt sich annähernd das gesamte (in sich pluralistische) Muster von Lebensweisen erfassen.

Weitere Differenzierungen sind angebracht, um den vielschichtigen, ordnungsrelevanten Konfliktlagen näher zu kommen. Erstens verfolgte die Länder des »Westens«, voran die USA, das umfassende Ziel, die Weltwirtschaft zu rekonstruieren und zum eigenen Vorteil zu organisieren. Aber das multinationale Wirtschafts- und Finanzsystem, das immer stärker die globalen Strukturen der Welt bestimmte, wurde nur noch bedingt durch staatliche Institutionen gestaltet oder gar kontrolliert.4 Transnationalität auch zivilgesellschaftlicher Provenienz entwickelte sich quer zu den bisherigen staatlichen Ordnungen, wurde aber auch zum Vehikel der Durchdringung von »Zweiter« und »Dritter Welt« durch die »Erste«.5 Zweitens waren die USA und die Sowjetunion zwar die entscheidenden internationalen Mächte, im Westen gab es aber mit den ehemaligen Kolonialmächten, allen voran Großbritannien und Frankreich, zwei Subzentren, die sich – zumal in Fragen der Dekolonisierung – nur mühsam den tendenziell antikolonialen USA unterordneten. Die Sowjetunion wiederum hatte seit den späten 1950er Jahren mit der massiven Konkurrenz der Volksrepublik China zu rechnen, die sich seither in allen regionalen Konflikten des Südens bemerkbar machte. Die relative Autonomie der Regionalmächte zeigte sich schon bei den Konflikten um Griechenland und Jugoslawien 1944 bis 1949.

Daher muss man bei vielen Konflikten, die nach 1945 zu Kriegen führten, die verschiedenen Akteure auf unterschiedlichen Ebenen und ihr Verhältnis zueinander berücksichtigen. Dazu zählten neben lokalen, ggf. ethnischen Gruppen, vor Ort auch Nachbarländer in der jeweiligen Region mit eigenen Führungsansprüchen und bisweilen auch die weltpolitischen Ordnungsmächte.6 Einer seriösen Forschung zum Ost-West-Konflikt sollte es also darum gehen, Konflikte und Kriege in einem Mehrebenensystem7 zu verorten und die darin enthaltenen divergenten Binnenlogiken in den Blick zu nehmen.

Verlagerung der Konflikte in den Globalen Süden

Im Ost-West-Konflikt fanden konventionelle Kriege ganz überwiegend im Globalen Süden statt, wobei zwischenstaatliche und innerstaatliche Kriegsformen sehr häufig ineinander übergingen.8 Zwischen 1945 und 1990 gab es etwa 20 Millionen kriegsbedingte Tote, 99 % davon in der »Dritten Welt«.9 Der Globale Norden – von »nur« ca. 200.000 Kriegsverlusten betroffen – muss im Vergleich damit als relativ friedlich gelten Die Gründe lassen sich hier nur anreißen: Die Teilung Europas entwickelte sich langsam, in der Regel situativ und ungeplant. Auf der einen Seite gab es die Tendenz, die auch nach 1945 weiter bestehenden lokalen und europäischen Gewaltkonflikte im Osten der Sowjetunion zu überlassen.10 So ließ der Westen die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR 1953 zu und entlarvte die noch im US-Wahlkampf 1952 vertretene Politik des »Roll back«, der Befreiung, als Illusion. Diese Akzeptanz der militärischen Herrschaftssicherung im gegnerischen Block setzte sich 1956 in Ungarn/Polen und 1968 in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) fort, führte jedoch bereits 1980/81 nicht mehr zur militärischen Niederschlagung der polnischen Solidarnosc-Bewegung.

Was sich schon im Zweiten Weltkrieg abgezeichnet hatte und von Winston Churchill und Josef Stalin informell anerkannt worden war, nämlich die Abgrenzung von Interessensphären, sicherte letztlich den Frieden in Europa. Am Verhandlungstisch wurden Entscheidungen getroffen, die einen weiteren großen Krieg nach den Verlusten des Zweiten Weltkrieges verhinderten. Spätestens mit dem atomaren Patt der frühen 1960er Jahre stabilisierte die Gefahr eines bewusst herbeigeführten Nuklearkrieges auf beiden Seiten den weiter aggressiv aufgeladenen Konflikt. Das war die europäische Ordnung des Kalten Krieges, die kriegsvermeidend wirkte.11 Weder die Sowjetunion noch die USA akzeptierten jedoch Parität im rüstungstechnischen Sinne, was ein groteskes Wettrüsten mit Trägersystemen und nuklearen Sprengköpfen zur Folge hatte; sie beachteten aber den territorialen Status quo.12 Die USA und die Sowjetunion machten Politik unter der Prämisse, dass ein notwendig eskalierender Nuklearkrieg nicht zu führen sei, drohten dennoch wiederholt verbal, zumal in der Doppelbeschlusskrise der 1980er Jahre, mit Krieg, was mehrmals zu fast fatalen Fehlinterpretationen führte. Die Methoden der Auseinandersetzung blieben daher auf die – im Osten und Westen je andere – Subversion und medial-kulturelle Einflussnahme beschränkt; es war aber gerade die westliche, auch an Menschenrechten orientierte Informations- und Kulturpolitik, die nachhaltig subversiv wirkte.

Die drohenden und akuten Kriege selbst verlagerten sich seit den 1950er Jahren stärker in die »Dritte Welt«. Dieser Terminus – ursprünglich einer des Aufbruchs13 – entwickelte sich bis heute zur Metapher für Abhängigkeit, Zerstörung und fortgesetzte Ausbeutung. Die Modernisierungsstrategien der »Ersten« und »Zweiten Welt« konkurrierten nun auch in diesen »Entwicklungsländern«, die geographisch nur zum Teil in der südlichen Hemisphäre liegen. Hier waren die Kalte-Kriegs-Imperien nicht schroff voneinander abgegrenzt, und hier engagierte sich die Sowjetunion wesentlich häufiger als im Norden »durch Einladung«, die USA stärker »durch Auferlegung«. Die USA, teilweise in Kooperation, häufig aber auch in Konkurrenz zu den (vormaligen) Kolonialmächten bzw. in deren Nachfolge, hatten sich zugleich mit ihrem Bestreben, die Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wieder anzukurbeln und sich Rohstoffquellen, vor allem Öl, zu erschließen, frühzeitig zum Aufbau eines Kranzes von maritimen Stützpunkten entschlossen, die ihnen starke Positionsvorteile einbrachten.14 Die Sowjetunion konnte sich demgegenüber auf in ihrem Sozialismus angelegte antiimperialistische Strategien stützen, die in der Dekolonisierung zum Wettbewerb mit der westlich-demokratischen Unterstützung (post-) kolonialer Eliten führte.

Es gab nur einen Krieg, in dem die Sowjetunion und die USA zwar unabhängig voneinander, aber unisono die antiimperialistische Karte zogen: Das war der 1956 von Frankreich, Großbritannien und Israel angezettelte Suezkrieg gegen Ägypten. Bei einem anderen, dem indisch-pakistanischen Krieg von 1966, agierte die Sowjetunion gar als von den USA erwünschter Friedensvermittler.15

Zumeist waren Konflikte weitaus antagonistischer. Sie begannen 1946 um den Iran oder die türkischen Meerengen und eskalierten erstmals im Koreakrieg 1950 bis 1953. Schon hier kann man kaum von einem »Stellvertreterkrieg« oder einem Krieg um die Weltordnung sprechen, andernfalls müsste der geographisch-hegemoniale Aspekt stärker betont werden. Der Koreakrieg hatte mehrfache Ursachen. So etablierten die beiden Großmächte nach 1945 zunächst sowjet- bzw. US-freundliche Machthaber im Norden bzw. Süden der Halbinsel, deren Alleinvertretungsanspruch von den Führungsmächten zunächst im Zaum gehalten wurde. Erst nach dem Sieg Mao Zedongs im chinesischen Bürgerkrieg 1949 erhielt der nordkoreanischen Präsident Kim Il-sung die sowjetische und zugleich die chinesische Unterstützung. Das war der Punkt, als die USA primär aus geostrategischen Gründen intervenierten und mit einem Mandat der Vereinten Nationen eine große »Koalition der Willigen« zustande brachten.16 Der hier und später noch oft gebrauchte Begriff des »Stellvertreterkrieges« trifft den Kriegsanlass und -grund nur unzureichend. Vielmehr müsste der geographisch-hegemoniale Aspekt stärker betont werden, wenn man von einem Ordnungskrieg sprechen will. Die USA erwogen in Korea mehrfach den Einsatz von Atomwaffen, stimmten aber letzlich im Juli 1953 einem ( bis heute anhaltender) Waffenstillstand auf der territorialen Basis der damaligen Kampflinien zu.

Lösungen nach Kriegen

Nach drei wichtigen kriegerischen Konflikten mit nachfolgender Teilung der Länder zeigten sich unterschiedliche nationale Friedenslösungen.

1. In Korea überdauerte die Existenz zweier Staaten das Ende des bisherigen Ost-West-Konflikts auch deshalb, weil die Volksrepublik China ein Interesse an der Stützung der spätkommunistischen Diktatur bewahrte. China hatte sich von einer weltrevolutionären Führungsmacht zu einer politisch-militärischen Weltmacht entwickelt, welche sich in den regionalen wie generellen Konflikten der Gegenwart auch als Militärmacht artikuliert. Ebenso wichtig wie dieser regionale Rahmen erscheint die Etablierung zweier sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Organisationsformen, von denen sich der Norden seither mit offenen, auch nuklearen, Kriegsrüstungen und -drohungen seiner Existenz versichert.

2. In der deutschen Frage, an der gefährlichsten Nahtstelle des Kalten Krieges angesiedelt und mit einer sonst kaum erreichten Militärdichte in beiden deutschen Staaten, fiel mit dem Entzug der sowjetischen Unterstützung und damit der Preisgabe eines wesentlichen Elements bisherigen hegemonialen Einflusses in Osteuropa die Teilung weg und führte zur Vereinigung von 1990 mit den bekannten Folgen bis heute.

3. In Indochina erlangte Frankreich 1945 seine Kolonialherrschaft militärisch zurück, konnte sich jedoch trotz US-Hilfe nicht überall im Lande durchsetzen, sodass das Land nach der französischen militärischen Niederlage von 1954 bis 1975 in Vietnam geteilt war (daneben gehören Laos und Kambodscha zu Indochina). Trotz des Pariser Friedensvertrages von 1973 mussten sich die USA zwei Jahre später schmachvoller als zuvor bereits die Franzosen geschlagen geben. Das war singulär und führte zur Wiedervereinigung beider Teile Vietnams. Der Vietnamkrieg folgte der Logik nationaler Befreiungskriege und wurde, obwohl von der Sowjetunion und der Volksrepublik China unterstützt, entscheidend von der Regionalmacht selbst gegen das US-geführte Bündnis gewonnen.17 Nach einigen regionalen Anschlusskriegen zur Erlangung eine regionalen Machtbalance konsolidierte sich das vom Norden her vereinigte Vietnam, das inzwischen guten Austausch mit dem Westen pflegt.

Die Entwicklung dieser drei durch Krieg geteilten Staaten gibt also drei unterschiedliche Verlaufsformen wieder: erstens eine andauernde feindliche Teilung, zweitens den friedlichen Kollaps einer Seite und drittens einen siegreichen Vereinigungskrieg. Man wird daher nicht von einer »Ordnung« des Kalten Krieges sprechen können.

Gegenüber der »Dritten Welt« verfolgten Westen und Osten unterschiedliche Entwicklungspfade, die sie z.T. militärisch unterstützten. Gerade die USA ließen sich dabei von einer Strategie der Glaubwürdigkeit tragen und intervenierten bisweilen nur, um künftige Vorteile der Gegenseite auszuschließen. Die von der Eisenhower-Administration für Südostasien entwickelte Domino-Theorie bildete ein Modell, das angesichts einer weltweit wahrgenommenen kommunistischen Gefahr auf viele Konflikte übertragen wurde. Auf sowjetischer Seite gab es bisweilen ähnliche Perzeptionen18 oder zumindest verbreitete sie propagandistisch Feindbilder von US-imperialistischen Verschwörungen, die bis zu einem bedrohlichen westdeutschen Neofaschismus reichten. Das sowjetische Äquivalent für die US-Niederlage in Vietnam wurde der Afghanistankrieg von 1979 bis 1989. Er wurde von Moskau nicht als Expansionskrieg für eigenen Einfluss und Ordnung geführt, sondern aus einer grundsätzlich defensiven Position, um nicht jeden Einfluss in der Region zu verlieren – mit dem bekannten negativen Resultat.19

Befreiungs- und Staatenbildungskriege im Globalen Süden

Die Kriege im Globalen Süden waren in der Zeit des Ost-West-Konflikts zumeist Befreiungs- und postkoloniale Staatsbildungskriege. Die USA wie die Sowjetunion boten den vielfach europäisch sozialisierten Eliten mit der Berufung auf liberalkapitalistische oder sozialrevolutionäre Ansätze einen Referenzrahmen für eigene politische Programme, die ihrerseits dazu dienten, die jeweilige Unterstützung der Supermächte in regionalen Kriegen zu erlangen. Walt W. Rostows »Stages of Economic Growth« von 1960 trug bereits den Untertitel »An Anticommunist Manifesto«. Er konstruierte im Hinblick auf die »Dritte Welt« fünf Stufen normativ gedachter Entwicklung im westlichen Sinn bis hin zum sich selbst tragenden Wachstum. Rostow stieg in den späten 1960er Jahren im politischen Apparat bis zum Nationalen Sicherheitsberater der Vereinigten Staaten auf, seine »ordnende« Blaupause scheiterte aber schon in ihren Ansätzen bei den Aufbauprogrammen für Vietnam, die – da von Anfang an militärisch begleitet – die USA letztlich in den Krieg schlittern ließen.20

Tatsächlich verlief die Konkurrenz der zwei von den Weltmächten betriebenen Entwicklungspfade chaotisch, gewaltförmig und letztlich kontraproduktiv für ihre jeweiligen Ziele. Wie der Krieg um die Unabhängigkeit des Belgischen Kongo zeigte, reichte noch 1960/61 die sowjetische militärische Unterstützung der Regierung Lumumba nicht zu deren Absicherung, was die Ermordung Lumumbas im belgischen Interesse mit CIA-Unterstützung ermöglichte. Danach und vor allem seit den 1970er Jahren intensivierte sich aber das sowjetische Engagement in afrikanischen Kriegen von der Unterstützung in Stellvertreterkriegen bis hin zu direktem militärischem Eingreifen.

Am Horn von Afrika sowie in Mo­zambique und Angola wurden Kriege unterschiedlicher Befreiungsbewegungen von der Sowjetunion wie vom Westen auch militärisch durch Berater, Geld und Soldaten unterstützt. Bei der jeweils durchaus vorhandenen Absicht, die soziale Lage der Bevölkerung zu verbessern, ging es primär um die Ausweitung des Einflusses, nicht um territoriale Gewinne.21 Hinzu kam, dass sich die Volksrepublik China z.B. in Angola seit den 1970er Jahren gegen die Sowjetunion militärisch positionierte. Da die USA unter der Reagan-Administration intensiver gegen den sowjetischen Einfluss überall auf der Welt vorgingen, nahmen besonders die afrikanischen Kriege an Zerstörungskraft zu. „Es sieht so aus, dass Afrika unter dem hohen geopolitischen Einsatz der Supermächte und ihrer ideologischen Konfrontation gegen Ende des Kalten Krieges schwere Kollateralschäden erleiden musste.“ 22 Das scheint mir jedoch eine Beschreibung zu sein, die eher für die in Kauf genommenen Folgen als für die gezielten Absichten der Sowjetunion23 und/oder der USA galten.

Sicherung der Einflusssphären

Ein »grand design« zur Ausbreitung der eigenen Ordnungen durch Krieg spielte eine geringere Rolle als das Bestreben, nur nicht an Einfluss zu verlieren, gestützt durch den Glauben an die je eigene welthistorische Überlegenheit und ökonomische Interessen. Dabei gerieten die Supermächte häufig in ein regionales Machtsystem, das sie mit ihrem militärischen Führungsanspruch zu überwinden oder doch zumindest nach dem eigenem Sieg von der Sinnhaftigkeit von Krieg zu überzeugen hofften. Das ging und geht bis heute fast immer schief – unter den krachenden Misserfolgen der G.W. Bush-Administration zur Etablierung einer solchen Ordnung24 leidet nicht nur der Mittlere Osten bis heute.

Anmerkungen

1) Gaddis, J.L. (1997): We Now Know – Rethinking Cold War History. Oxford: Oxford University Press, S. 52.

2) Dülffer, J. (2004): Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991. München: Oldenbourg.

3) Westad, O.A. (2005): The Global Cold War – Third World Interventions and the Making of Our Time. Cambridge: Cambridge University Press. Auch insgesamt im Folgenden zum Globalen Süden.

4) Ferguson, N. et al. (ed.) (2011): The Shock of the Global – The 1970ies in Perspective. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

5) Iriye, A. et al. (2012): The Human Rights Revolution – An International History. Oxford: Oxford University Press.
ders.; Osterhammel, J. (Hrsg.) (2013): Geschichte der Welt 1945 bis heute – Die globalisierte Welt. München: C.H. Beck.

6) Für andere Zeiten entwickelt bei: Dülffer, J. u. a. (1986): Inseln als Brennpunkte internationaler Politik – Konfliktbewältigung im Wandel des internationalen Systems 1890-1984: Kreta, Korfu, Zypern. Köln: Wissenschaft und Politik.

7) Damit ist etwas anderes als das viel diskutierte Mehrebenensystem der europäischen Integration gemeint.

8) Typisierungen m Anschluss an Istvan Kende: Gantzel, K.J.; Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1992 – Daten und Tendenzen. Münster: LIT.

9) Painter, D.S. (1995): Explaining U.S. Relations with the Third World. In: Diplomatic History 19, Nr. 3, S. 525-548, hier S. 525.

10) Lowe, K. (2014): Der wilde Kontinent – Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950. Stuttgart: Klett-Cotta.

11) Das ist der Sinn des Titels von Gaddis, J.L. (1987): The Long Peace – Inquiries in the History of the Cold War. Oxford: Oxford University Press.

12) Maddock, S. (2010): Nuclear Apartheid – The Quest for American Atomic Supremacy from World War II to the Present. Chapel Hill: The University of North Carolina Press.

13) Dinkel, J. (2015): Die Bewegung Bündnisfreier Staaten – Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin/München/Boston: De Gruyter Oldenbourg.

14) Leffler, M.P. (1991): A Preponderance of Power – National Security, the Truman Administration and the Cold War. Stanford: Stanford University Press.
Als Einstieg zu Öl u.a.: Painter, D.S. (2010): Oil, Resources and the Cold War, 1945-1962. In: Leffler, M.P.; Westad, O.A. (eds.): The Cambridge History of the Cold War. Cambridge: Cambridge University Press, 3 Bände, hier I, S. 486-507.

15) Dülffer, J. (2006): »Self-sustained conflict« – Systemerhaltung und Friedensmöglichkeiten im Ost-West-Konflikt 1945-1991. In: Hauswedell, C. (Hrsg.): Deeskalation von Gewaltkonflikten seit 1945. Essen: Klartext, S. 33-60; für den indisch-pakistanischen Krieg S. 55-59.

16) Stueck, W.S. (2002): Rethinking the Korean War – A New Diplomatic and Strategic History. Princeton: Princeton University Press.

17) Frey, M. (2004): Die Geschichte des Vietnamkrieges. München: C.H. Beck, 7. Auflage.

18) Hilger, A. (Hrsg.) (2009): Die Sowjetunion und die Dritte Welt – UdSSR, Staatssozialismus und Antikolonialismus im Kalten Krieg 1945–1991. München: De Gruyter Oldenbourg.

19) Kalinovsky, A. (2011): A Long Goodbye – The Soviet Withdrawal from Afghanistan. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

20) Rostow, W.W. (1960): The Stages of Economic Growth – An Anticommunist Manifesto. Cambridge, Mass.: Cambridge University Press.

21) Westad, O.A. (Fußnote 4), S. 5.

22) Byrne, J.J. (2013): Africa’s Cold War. In: Robert McMahon (ed.) (2013): The Cold War in the Third World. Oxford: Oxford University Press, S. 101-123, hier S. 115.

23) Hilger, A. (Fußnote 18).

24) The White House (2002/2006): The National Security Stategy of the United States of America. Washington, D.C.

Prof. Dr. Jost Dülffer lehrte als Professor für Internationale Geschichte und Historische Friedens-und Konfliktforschung an der Universität zu Köln.

Der Autor dankt Claudia Kemper und Gottfried Niedhart für anregende Diskussionen zu diesem Beitrag.

Politik, Protest, Forschung

Politik, Protest, Forschung

Wie entstand die Friedensforschung in der BRD?

von Lisa Bogerts, Stefan Böschen und Christoph Weller

Bevor uns Erinnerungen und Erfahrungen der GründerInnen-Generation der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland endgültig verloren gehen, erscheint eine Auseinandersetzung mit den Anfängen der deutschen Friedensforschung angebracht. Welche Einsichten sich aus einer Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung der Friedens- und Konfliktforschung in der BRD in ihrer ersten Phase gewinnen lassen, beschreibt dieser Artikel anhand erster Ergebnisse eines entsprechenden Forschungsprojekts.

Friedensforschung – nicht selten wird man komisch angeschaut, wenn man erzählt, man arbeite auf diesem Gebiet. Kann man zu Frieden »forschen«? Oder vielleicht sogar dafür? Frieden gilt als anerkanntes Ziel der Politik und ist deshalb häufig Legitimationsressource staatlichen Handelns. Die Debatten darüber sind immer politisch und zum Teil höchst normativ, weshalb sich schnell die Frage stellt, wie sich das wissenschaftliche Neutralitätsgebot und andere Standards auf so einen Gegenstand beziehen können. Und wie kann ein einzelnes Forschungsgebiet zu etwas arbeiten, was eigentlich eine gesamtgesellschaftliche oder letztlich globale Aufgabe ist?

Offensichtlich ist Frieden kein Forschungsgegenstand wie jeder andere. Es gibt ja Klischees, wie die von FriedensforscherInnen als romantische Hippies oder »Gutmenschen« (letzteres wurde jüngst zum »Unwort« des Jahres 2015 gekürt), die sich einbilden, die Welt retten zu können. Andere Vorurteile gehen in die umgekehrte Richtung und vermuten eine bestimmte Art von Kriegsforschung hinter dem positiv klingenden Begriff. Auf jeden Fall stellt sich die Frage nach den Besonderheiten der Friedensforschung und ihrer VertreterInnen. Sind FriedensforscherInnen also eher politisch engagierte Menschen mit einem akademischen Hintergrund, VertreterInnen einer pazifistischen Position in gesellschaftlichen Debatten oder BeraterInnen der Politik in Friedensfragen, wo es dann um Krisenprävention und Rüstungskontrolle, aber auch um Militäreinsätze und dergleichen geht?

Sucht man nach den Anfängen der deutschen Friedensforschung und betrachtet hierfür ihre Entstehungsphase in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1950er Jahre, wird ein Spannungsfeld ganz unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Interessen sichtbar. Hinzu kommen die zeithistorischen Umstände, die nicht nur den Kontext bildeten, sondern eine wesentliche Rolle spielten: Atomzeitalter, Ost-West-Konflikt, Studentenbewegung und eine politische Aufbruchsstimmung mit der ersten sozial-liberalen Bundesregierung Ende der 1960er Jahre. Viele verschiedene Einflüsse, Akteure und Dynamiken waren hier am Werk; diese gilt es aufzuschlüsseln.

Es ist also sowohl wissenschaftssoziologisch und wissenschaftshistorisch, aber auch für das Selbstverständnis der Friedensforschung aufschlussreich, zu rekonstruieren, unter welchen Bedingungen sich die Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland etablieren konnte und welche sozialen, politischen, institutionellen und wissenschaftlich-disziplinären Einflussfaktoren dabei wirksam waren.1 In diesem Beitrag gehen wir aufgrund der Fokussierung unserer bisherigen Forschung vor allem auf die Phase vom Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre ein.2

Viele Quellen für die Friedensforschung

Bereits in den 1950er Jahren hatten die »Ohne mich«-Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die »Kampf dem Atomtod«-Bewegung gegen kriegerische Aktivitäten und atomare Bewaffnung protestiert; in den 1960er Jahren entwickelte sich dann die Studentenbewegung, deren Kritik sich nicht nur gegen den »Muff von 1000 Jahren«, sondern auch gegen verkrustete und autoritäre Strukturen der westdeutschen Gesellschaft und deren Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit richtete. Die Proteste betrafen dann bald auch den Vietnamkrieg und das atomare Wettrüsten, also auch friedenspolitische Themen.

Tatsächlich gab es eine Reihe vonWissenschaftlerInnen, die sich schon früh der Friedensforschung zurechneten und dabei einen engen Zusammenhang zu friedenspolitischen Aktivitäten herstellten. Theodor Ebert zum Beispiel promovierte 1965 zu gewaltfreien Methoden des Aufstands als Alternative zum Bürgerkrieg und orientierte sich dabei an den Konzepten Mahatma Gandhis. Ebert gehörte zu den SozialwissenschaftlerInnen, die es als ihre Aufgabe ansahen, die Bewegung mit Hintergrundwissen zu »unterfüttern«, d.h. ihren MitstreiterInnen Wissen zur Verfügung zu stellen, das für ihr politisches Engagement bedeutsam sein konnte.3 Sehr einflussreich wurde sein Buch zum gewaltfreien Aufstand,4 das v.a. für Kriegsdienstverweigerer zur Basislektüre in der Vorbereitung auf die damals üblichen Gewissensprüfungen wurde. WissenschaftlerInnen waren aber auch in einer ganz anderen Domäne aktiv, die noch viel näher an den Prozessen politischen Entscheidens angelagert war: In bilateralen und multilateralen Gesprächsforen, wie etwa der deutsch-britischen Königswinter-Konferenz oder dem Deutsch-Polnischen Forum, in denen sich hohe DiplomatInnen, PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und VertreterInnen aus Wirtschaft und Journalismus verschiedener Länder über Probleme im Rahmen des Ost-West-Konflikts austauschten, wurden politische Anliegen und wissenschaftliches Wissen verbunden.

Neben diesen politisch motivierten Domänen der Friedensbewegung und der Friedensdiplomatie kamen aus der Wissenschaft selbst unterschiedliche Entwicklungsimpulse: Zunächst entfaltete sich eine ethische Diskursdomäne. Das Atomzeitalter, vor allem die Angst vor atomarer Bedrohung im Kalten Krieg, war ein Motiv, das viele einflussreiche Personen der Friedensforschung in der Anfangszeit prägte. Deshalb überrascht es wenig, dass viele dieser Persönlichkeiten NaturwissenschaftlerInnen waren. Einer der Pioniere war Carl-Friedrich von Weizsäcker. Er war Kernphysiker und gehörte während des Zweiten Weltkriegs dem deutschen »Uranprojekt« zur Nutzung der Atomenergie an. Dass PhysikerInnen Kompetenz über Frieden zugeordnet wurde, hing damit zusammen, dass sie mit ihrem Sachverstand die damals viel debattierte Gefahr durch Kernwaffen erklären konnten. Sie konnten mit großer Autorität sprechen, da sie z.T. selbst an der Entwicklung von Grundlagenwissen beteiligt waren und nun durch ihre Distanzierung das moralische Problem sichtbar machten. Diese moralisch-ethischen Fragen waren auch für die Kirchen von großer Bedeutung, weshalb für die entstehende Friedensforschung auch Stimmen relevant waren, welche durch Bezug auf die Religion grundlegende ethische Fragen mithilfe wissenschaftlicher Expertise behandeln konnten.

Darüberhinaus etablierten sich in der Wissenschaft verschiedene eigenständige Forschungslinien, die sich auch mit Friedensfragen beschäftigten, etwa die Zukunftsforschung. Diese »Futurologie« hatte schon damals wenig mit Science-Fiction oder »Trendforschung« zu tun, in der medienwirksam spektakuläre zukünftige Entwicklungen »vorausgesagt« werden. Vielmehr sollten mögliche technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen untersucht und auf dieser Grundlage in eine bestimmte,verantwortbare Richtung gesteuert werden.5

Auch in Kerngebieten der Politikwissenschaft, insbesondere in deren Teildisziplin Internationale Beziehungen (IB), etablierte sich die Friedensforschung als Diskursdomäne. Als bedeutsam für die Entwicklung in Deutschland kann angesehen werden, dass viele Gründungspersönlichkeiten der deutschen Friedensforschung, wie z.B. Dieter Senghaas, Ekkehart Krippendorff oder Karl Kaiser, längere Forschungsaufenthalte an US-amerikanischen Universitäten verbrachten. Damit wurden inhaltliche Verbindungen zum US-amerikanischen IB-Diskurs geschaffen, und ein bemerkenswerter Wissenstransfer kam zustande, der große Wirkung in der deutschen Politikwissenschaft entfaltete.6

Die Breite der Forschung, die sich Ende der 1960er Jahre mit Friedens-Fragen beschäftigte, dokumentierten Karl Kaiser und Reinhard Meyers mit ihrer Studie zur Lage der Friedensforschung in der Bundesrepublik Deutschland.7 Darin beschreiben sie ein sowohl politisch wie disziplinär außerordentlich breites Feld von WissenschaftlerInnen, Instituten und Initiativen, die alle für sich beanspruchten, »Friedensforschung« zu betreiben, und damit auch die Erwartung hegen konnten, im Falle einer besonderen Unterstützung der Friedensforschung ggf. an deren finanzieller Förderung partizipieren zu können. Die Breite des Feldes zeigte sich insbesondere an der Spannung zwischen den sogenannten »strategic studies«, die sicherheits- bzw. verteidigungspolitisch ausgerichtet waren, und einer Friedensforschung, welche die Abschreckungspolitik als „organisierte Friedlosigkeit“ kritisierte.8 Verbunden mit Johan Galtungs Beiträgen zu »struktureller Gewalt« und einem »positiven Friedensbegriff« entwickelte sich daraus die »Kritische Friedensforschung«,9 die von Anfang an der Kritik vornehmlich konservativer ForscherInnen ausgesetzt war, welche von einem militärischen Gleichgewicht als Kriegsverhinderungsstrategie überzeugt waren.10

Entwicklung durch Vernetzung und Institutionalisierung

Auffällig für die Entwicklung der Friedensforschung in der BRD ist, dass einerseits von Anfang an eine Fülle von Foren die unterschiedlichen Perspektiven zu verbinden versuchten und es andererseits auch mehrere Persönlichkeiten verstanden, die unterschiedlichen »Lager« an einen Tisch zu bringen. Es war gerade die geteilte Erfahrung des »Atomzeitalters«, welche viele gesellschaftliche Initiativen, die zu Friedensfragen arbeiteten, in einem erstaunlich engen Zeitfenster gleichzeitig mobilisierte.

Bereits 1957/58 wurde in Heidelberg die durch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) finanzierte Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) eingerichtet, als „die vehementen Auseinandersetzungen um die Einrichtung der Militärseelsorge und um eine mögliche atomare Bewaffnung der Bundeswehr die Kirche zu spalten [drohten]“.11 Leiter der FEST wurde der Religionsphilosoph Georg Picht, der neben seinem zweibändigen Werk »Hier und Jetzt – Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima«12 weitere viel beachtete Beiträge zur Friedensforschung leistete. 1959 gründete sich der Sozialwissenschaftliche Studienkreis für Internationale Probleme (SSIP) in Bonn und richtete Arbeitsgruppen zur Konfliktforschung sowie zur Zukunfts- und Friedensforschung ein.13 Ebenfalls 1959 wurde die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) gegründet. Die Gründungsmitglieder – größtenteils Physiker – waren zwei Jahre zuvor als »Göttinger Achtzehn« bekannt geworden, als sie sich in ihrer »Göttinger Erklärung« gegen die atomare Bewaffnung der BRD aussprachen. Eine der Aufgaben der VDW, „das Bewusstsein der in der Wissenschaft Tätigen für ihre Verantwortung an den Auswirkungen ihrer Arbeiten auf die Gesellschaft wachzuhalten und zu vertiefen“,14 sollte für die Friedensforschung der Anfangsjahre prägend sein.

Gleichzeitig gab es erste Pläne für die Errichtung eines deutschen Friedensforschungsinstituts. Der Physiker Lothar Schulze etwa arbeitete daran und rief 1964 die Gesellschaft zur Förderung von Zukunfts- und Friedensforschung (GFZFF) ins Leben. Aus dem Nachlass der Physikerin und Pazifistin Freda Wuesthoff wurde 1958 die Forschungsgesellschaft für Friedenswissenschaft in Genf gegründet, deren deutscher Zweig in München von Christel Küpper als Studiengesellschaft für Friedensforschung geführt wurde. Um die »Theorie und Didaktik der Erziehung zum Frieden« umzusetzen, hatte sie schon 1958 einen »Arbeitsplan zur Friedensforschung« und 1962 einen Plan für einen deutschen Verein für Friedensforschung erstellt.15

Parallel zu dieser ersten Institutionalisierung erfolgte auch eine breite Vernetzung. Mitte der 1960er Jahre wurden erste Tagungen explizit zu Fragen der Friedensforschung organisiert, so u.a. von Klaus Gottstein 1966 das VDW-Kolloquium »Fragen des Übergangs in die Weltordnung des Atomzeitalters« und 1967 die VDW-Fachtagung »Soziale Verteidigung«. Auch politische Stiftungen veranstalteten Tagungen, beispielsweise die Friedrich-Naumann-Stiftung, die1968 eine Arbeitstagung zum Thema »Der geplante Frieden« ausrichtete.16 Hierbei spielte der Rechtswissenschaftler und Psychologe Peter Menke-Glückert eine wichtige Rolle, und er kann wohl als einer der wichtigsten Netzwerker der frühen Friedensforschung bezeichnet werden. Er trug wesentlich dazu bei, die einzelnen Initiativen zusammenzuführen, und verfolgte hierbei auch die Idee zur Gründung eines Vereins, der die wissenschaftlichen Initiativen auf dem Gebiet der Friedensforschung bündeln sollte.17

Für die Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) im Juni 1968 gelang es Menke-Glückert schließlich, WissenschaftlerInnen ganz unterschiedlicher disziplinärer und politischer Couleur zusammenzubringen.18 Neben ihm selbst gehörten zu den AFK-Gründungsmitgliedern u.a. Lothar Schulze (GFZFF), Christel Küpper (Studiengesellschaft für Friedensforschung), Klaus Gottstein (VDW), Helga Haftendorn (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik), Gerhard Wettig (Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien), Paulus Engelhardt (Pax Christi) sowie Theodor Ebert (Berlin), Dieter Senghaas (Frankfurt a.M.), Ernst-Otto Czempiel (Marburg) und Gerda Zellentin (Köln). Schnell entwickelte die AFK vielfältige Aktivitäten, geriet darüber aber auch bald in den „ersten Richtungsstreit“19 zwischen traditioneller und kritischer Friedensforschung.

Die Auseinandersetzungen zwischen den AnhängerInnen einer politisch eher links orientierten Friedensforschung und den »affirmativen«, eher »konservativen« ForscherInnen prägten viele Debatten zu Beginn der 1970er Jahre. Dabei spielte der damalige gesellschaftspolitische Kontext eine wesentliche Rolle: Die sozial-liberale Koalition, welche ab Oktober 1969 herrschte, stützte sich auf eine in Gesellschaft und Politik vorhandene Aufbruchsatmosphäre und bestärkte diese. Die »neue Ostpolitik« von Willy Brandt und Egon Bahr brachte zudem Bewegung in die ideologischen Fronten, indem sie die bis dahin gängige Konfrontationspolitik der Westmächte infrage stellte.20 Schon im März 1969 war Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt worden und betonte in seiner Amtsantrittsrede den „Ernstfall Frieden“ und die Bedeutung der Friedensforschung, die seiner Meinung nach gefördert werden müsse. Bundeskanzler Brandt kündigte in seiner Regierungserklärung an, er werde die Initiative Heinemanns aufgreifen und die Friedensforschung unterstützen – „ohne die Unabhängigkeit dieser Arbeit zu beeinträchtigen“ –, um „damit einen deutschen Beitrag für die Befriedung der von Krisen und Kriegen zerrissenen Welt [zu] leisten“.21

Tatsächlich wurde 1970 unter der Schirmherrschaft von Heinemann die »Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung« (DGFK) als Institution zur finanziellen Förderung der Friedens- und Konfliktforschung eingerichtet. Dem folgten weitere Institutionalisierungen: 1970 wurde das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt unter von Weizsäckers Leitung in Starnberg eingerichtet, das neben der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK, ebenfalls 1970 gegründet) und dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH, 1971) zu den großen Friedensforschungsinstituten der Bundesrepublik zählte. 1971 gründete der Physiker Georg Zundel die Berghof Stiftung für Konfliktforschung, die mit dem Stiftungsratsvorsitzenden Dieter Senghaas für die Friedensforschung und die Friedenspädagogik zur wichtigsten privaten Fördereinrichtung wurde.

Die DGFK verband nun durch ihre Förderung die unterschiedlichen Strömungen, Disziplinen und ideologischen Ausrichtungen der Friedensforschung. Doch dies konnte über die mit staatlicher Finanzierung der Friedensforschung einhergehenden Herausforderungen nicht hinwegtäuschen. Karl Kaiser, Vorsitzender des zweiten AFK-Vorstandes, hatte zum Thema »Friedensforschung und politische Durchsetzung« bereits Anfang 1970 formuliert: „Friedensforschung ist eine der Durchsetzung des Friedens verpflichtete Wissenschaft. […] Eine Friedensforschung, die sich zum gefügigen Instrument der raison d’etat eines Nationalstaats machen lässt, ist ein Widerspruch in sich. Friedensforschung braucht, gerade weil sie in der Nähe der Politik operiert, eine kritische Distanz.“22 Und 1971 wurde bei einer wissenschaftlichen Tagung »Zum Stand kritischer Friedensforschung« eine »Erklärung zur Friedenforschung« angenommen, die sich intensiv mit der politischen Umsetzung der Forschungsergebnisse beschäftigte: „Kritische Friedensforscher lehnen eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung ab. Indem sie helfen, politische Apathie zu überwinden, die Fixierung auf Freund-Feind-Bilder abzubauen sowie verdeckte oder ideologisch verschleierte gesellschaftliche Konflikte bewußt zu machen, tragen sie dazu bei, emanzipatorische Lernprozesse in Gang zu setzen und eine nicht manipulierbare, politisch handlungsfähige Öffentlichkeit herzustellen.“23 Doch diese Unabhängigkeit der Forschung und ihre politischen Ansprüche stießen nicht auf uneingeschränkte Zustimmung, gerade bei politischen Akteuren, die sich an der Finanzierung der DGFK beteiligten: 1979 erklärte die Bayerische Staatsregierung ihren Austritt aus der DGFK.

Entwicklung trotz Gegenwind

Der »kurze Sommer« der Institutionalisierung der Friedensforschung endete vorerst 1983 mit der Auflösung der DGFK, welche durch den Mittelentzug Bayerns unabwendbar geworden war. Auffällig für die Entwicklung der Friedensforschung aber ist, dass dieser Wegfall einer zentralen Institution nicht zum Ende der Friedensforschung führte. Hierfür lassen sich verschiedene Gründe erkennen: Eine beträchtliche Zahl von WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen an verschiedenen Orten identifizierte sich inzwischen mit dieser Forschungsrichtung. Sie waren vernetzt (u.a. über die AFK), und zugleich hatten sich zwischenzeitlich mehrere Institute etabliert (FEST, HSFK, IFSH), sodass eine institutionelle Basis vorhanden war. Doch schon in dieser Phase zeigte sich sehr deutlich auch die Prekarität politisch relevanter Forschung: Gelingt keine ausreichende, politisch unabhängige Institutionalisierung, kann die wissenschaftliche Arbeit leicht ins Hintertreffen geraten gegenüber der institutionellen Existenzsicherung und wird davon möglicherweise sogar inhaltlich beeinflusst.

Neben dieser »äußeren« Gefahr lauert aber auch eine »innere«. Als ein politisiertes Forschungsfeld bleibt der Friedensforschung ihre eigene Geschichte immer eingeschrieben. Vielleicht war ja deshalb das Erschrecken der Kernphysiker so groß und entsprechend ihr Engagement in der Friedensforschung, weil es für sie gleichsam einen undenkbaren Fall darstellte, so direkt für die eigene Geschichte verantwortlich gemacht werden zu können. Das stellt sich für die Friedensforschung anders dar, weil sie von Anfang an dezidiert politisch wirksame Forschung sein wollte und immer noch sein will. Doch wie dies im Wandel der Problemstellungen, politischer und gesellschaftlicher Kontexte und institutioneller Rahmenbedingungen gelingen kann, erfordert ständige erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Reflexion sowie eine fortlaufende Rekonstruktion der eigenen Geschichte.

Dazu wollen wir mit diesem Beitrag anregen und zugleich alle FriedensforscherInnen einladen, sich an dieser Rekonstruktion zu beteiligen. Als Kontaktadresse fungiert der Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg, E-mail: LST-weller@phil.uni-augsburg.de.

Anmerkungen

1) Wie sich diese Fragen bearbeiten lassen, ist Gegenstand der Pilotstudie »Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik Deutschland: Entstehung und Entwicklung eines problemorientierten Forschungsfeldes«, die 2014/2015 von der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) gefördert wurde und an der Universität Augsburg durchgeführt wird. Im Zuge dieser Studie wurden u.a. Interviews mit Beteiligten an dieser Anfangsphase der Friedensforschung geführt, Archivarbeiten durchgeführt und schriftliche Dokumente und Materialien analysiert.

2) Die schöne Studie »Geschichte der deutschen Friedensforschung« von Ulrike Wasmuht (1998, Münster: Agenda) behandelt die Zeit bis zum »dritten Richtungsstreit« in der deutschen Friedensforschung Anfang der 1990er Jahre.

3) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

4) Theodor Ebert (1968): Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg i. Br.: Rombach.

5) Zur Zukunftsforschung vgl. Elke Seefried (2015): Zukünfte – Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980. Berlin: de Gruyter Oldenbourg.

6) Auch in anderen Teilen Europas gab es bereits erste Friedensforschungseinrichtungen, wie das 1959 von Johan Galtung gegründete Peace Research Institute Oslo (PRIO) und das 1966 gegründete Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). 1964 gründete der niederländische Rechtswissenschaftler Bert Röling in Groningen die International Peace Research Association (IPRA), in der die deutsche Friedensforschung in den Anfangsjahren von Klaus Gottstein, einem Physiker, vertreten wurde.

7) Karl Kaiser (1970): Friedensforschung in der Bundesrepublik. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

8) Dieter Senghaas (1969): Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt.

9) Vgl. den zentralen Band »Kritische Friedensforschung«, 1971 herausgegeben von Dieter Senghaas (Frankfurt a.M.: Suhrkamp), in dem auch der zunächst 1969 im Journal of Peace Research erschienene Beitrag »Gewalt, Frieden und Friedensforschung« von Johan Galtung in deutscher Sprache veröffentlicht wurde.

10) Vgl. z.B. Erhard Forndran (1971): Abrüstungund Friedensforschung. Kritik an E. Krippendorff, D. Senghaas und Th. Ebert. Düsseldorf: Bertelsmann-Universitätsverlag; oder Gerhard Wettig: MBFR: Motor der Aufrüstung oder Instrument der Friedenssicherung? Aus Politik und Zeitgeschichte B 24/73.

11) FEST: Historie; fest-heidelberg.de.

12) Georg Picht (1980/81): Hier und Jetzt – Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima. Stuttgart: Klett-Cotta.

13) Belege in: Archivquellen Institut für Zeitgeschichte München (Dok. ED 702/100).

14) VDW: Geschichte und Ziele; vdw-ev.de.

15) Belege in: Archivquellen Institut für ZeitgeschichteMünchen (Dok. ED 702/57).

16) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

17) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

18) Dass sowohl die GründerInnen der AFK als auch kurze Zeit später der DGFK die Selbstbezeichnung »Friedensund Konfliktforschung« wählten, kann als Teil der politischen Integrationsbemühungen in einem heterogenen Feld gesehen werden.

19) Vgl. Ulrike C. Wasmuht (1998): Geschichte der deutschen Friedensforschung. Münster: Agenda, S.165ff.

20) Belege: Interview-Transkripte der Pilotstudie (siehe Fn. 1).

21) Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag in Bonn am 28. Oktober 1969.

22) Karl Kaiser (1970), op. cit., S.52 und 55.

23) Veröffentlicht in: Dieter Senghaas (Hrsg.) (1971): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S.417.

Lisa Bogerts ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Stefan Böschen ist Senior Research Scientist am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT, seit 2014 Co-Leiter des Forschungsbereichs »Wissensgesellschaft und Wissenspolitik« des ITAS. Christoph Weller leitet den Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg und ist Mitglied des Vorstands der AFK. Die AutorInnen arbeiten gemeinsam in der DSF-Pilotstudie »Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik Deutschland: Entstehung und Entwicklung eines problemorientierten Forschungsfeldes«.

Ein bisschen Frieden?

Ein bisschen Frieden?

Bestandsaufnahme zur Friedensforschung in Deutschland und den USA

von Volker Franke und Lina Tuschling

Aus der Innen-Perspektive erscheinen die gewohnten Strukturen und Inhalte eines Feldes oft selbstverständlich und alternativlos. Dies mag auch für unsere Sicht auf die deutsche Friedensforschung zutreffen, so dass Besonderheiten, durch die sie sich von der Friedensforschung in anderen Ländern unterscheidet, möglicherweise zu wenig Beachtung erfahren. Diesem Manko versucht der folgende Artikel mit einem Vergleich aus Sicht der US-amerikanischen Friedensforschung abzuhelfen. Die beiden AutorInnen nehmen dabei eine informierte Außen-Perspektive ein: Beide sind als ForscherInnen in den USA verankert, haben aber im Laufe von Studium bzw. wissenschaftlicher Arbeit Erfahrungen in der deutschen Friedensforschung gesammelt.

Friedensforschung wird häufig als der Teil der Konfliktforschung eingestuft, der die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden analysiert. Dazu werden die unterschiedlichen Interessen, Bedürfnisse und Forderungen der involvierten Staaten, Gruppen oder Individuen gegeneinander abgewogen und politische Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, die einen nachhaltigen Frieden, den Schutz von Menschenrechten und manchmal auch die Überwindung von Unterentwicklung ermöglichen. Dieser Einstufung liegt jedoch die Annahme zugrunde, dass Unfrieden – im extremsten Falle Krieg – die Norm, Frieden hingegen die Ausnahme ist. Denn sonst wäre ja umgekehrt die Konfliktforschung Teil der Friedensforschung. Friedensforschung wird in der Regel interdisziplinär und handlungsorientiert betrieben, z.B. von Historikern, Anthropologen, Soziologen, Psychologen, Politologen , Wirtschaftswissenschaftlern und/oder Naturwissenschaftlern, um der Forderung nach Frieden nicht nur akademisch, sondern auch pragmatisch und praxisrelevant gerecht werden zu können.

Vor über 40 Jahren konstatierte der SPIEGEL (1972), „daß die deutsche Friedensforschung trotz erheblicher Anstrengungen […] noch immer den internationalen Standard nicht erreicht hat. Zumal die amerikanische Friedensforschung ist der deutschen weit voraus. nicht zuletzt wegen der in den USA bevorzugten analytischen Methoden.“ [sic!] Wie sieht es mit dieser recht düsteren Einschätzung heute aus, da die deutsche Friedensforschung ihren Kinderschuhen entwachsen sein sollte? Dieser Frage beabsichtigen wir im Folgenden nachzugehen. Dabei werden wir Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Friedensforschung in Deutschland und in den USA aufzeigen sowie Hinweise für die Weiterentwicklung der Friedenswissenschaften generell, speziell aber in Deutschland geben.

Friedensforschung oder Sicherheitsstudien?

Wie wir »Frieden« wissenschaftlich konzipieren, hängt großenteils davon ab, welchen Stellenwert Sicherheitsdenken einnimmt. Um die Friedensforschung in Deutschland und den USA vergleichend analysieren zu können, ist daher vorab eine Abgrenzung der verwandten Felder Friedens- und Konfliktforschung und Sicherheitsstudien angebracht.

Friedensforschung zielt auf einen positiven Frieden, was nach Galtung (1971) nicht nur die Abwesenheit von Krieg an sich, sondern auch von direkter und struktureller Gewalt bedeutet. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise in den wissenschaftlichen Ansätzen des Liberalen Idealismus oder des Konstruktivismus die systematische Analyse von Konflikten auch Variablen wie Kultur, Identität und Religion mitberücksichtigt. Sicherheitsstudien (security studies) bedienen sich typischerweise der einen oder anderen Variante der realistischen Theorie der Internationaler Beziehungen und ihrer gedanklichen Ableger (z.B. Institutionalismus). Sie nehmen daher standardmäßig die Sicht eines spezifischen Akteurs ein, zumeist die des Staates. Dies führt nicht nur zu unzureichenden Analysen und reduktionistischen Handlungsempfehlungen. Es entspricht auch immer weniger einer sich zunehmend diversifizierenden weltpolitischen Sicherheitslage, die in wachsendem Maße von Individuen, Nichtregierungsorganisationen sowie nicht-staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren geprägt wird.

Da staatliche Entscheidungen zumeist reaktiv sind, d.h. in der Regel auf vorangegangene Ereignisse antworten oder ähnlichen Auswirkungen zukünftig präventiv vorbeugen wollen, basieren Entscheidungsprozesse fast zwangsläufig auf dem Streben nach einem negativen Frieden. Dieser Tatbestand spiegelt sich in der Finanzierung friedenswissenschaftlicher Studien wieder. In Deutschland, wesentlich mehr noch als in den USA, sind die Regierung selbst oder regierungsnahe Institutionen typische Auftrag- und Arbeitgeber für friedens- bzw. sicherheitsrelevante Studien. Dies erklärt sicherlich zum Teil, warum viele Studien den Erhalt oder die Herbeiführung von negativem Frieden – auch unter Einsatz militärischer Mittel, jedenfalls aber mit dem Staat als primärem Handlungsträger – in den Mittelpunkt rücken. Dies spiegelt sich nicht nur in den Themen der »Friedensgutachten« der letzten Jahre wider, sondern auch in den aktuellen Forschungsprogrammen, beispielsweise der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung oder des German Institute for Global and Area Studies in Hamburg.

Während in Deutschland Friedens- und Sicherheitsforschung dennoch recht eng miteinander verwoben sind, wie die Beispiele des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg oder des Internationalen Konversionszentrums in Bonn zeigen, sind beide Bereiche in den USA traditionell stärker getrennt. Dies lässt sich zum einen auf die Schwerpunktsetzung während des Kalten Krieges zurückführen, waren damals doch die Aufgabenbereiche der beiden Felder deutlich unterschiedlich definiert: Sicherheitsforschung beschäftigte sich fast ausschließlich mit militärischen Überlegungen und der Messung von Waffenkapazitäten, während die Friedensforschung auf Dialog und Diplomatie sowie auf den Versuch ausgerichtet war, über die Mitgliedschaft der staatlichen Konfliktparteien in internationalen Regimen Frieden zu institutionalisieren. Obgleich deutsche Forschungseinrichtungen traditionell beide Ansätze voranzutreiben suchen – vielleicht auch, weil man wegen der besseren Finanzierungsmöglichkeiten von sicherheitspolitischen Studien Friedensforschung oft nur als Nebenprodukt »mitbetreiben« kann –, stehen in Deutschland sicherheitspolitische Forschungsansätze oftmals im Vordergrund.

In den USA ist die Diversität an privaten sicherheits- und friedenspolitischen Zentren sowie Studienprogrammen deutlich größer. Die traditionelle Friedensforschung hat hier ihren Ursprung im nichtstaatlichen Bereich und ist insbesondere an kirchennahen und privaten Universitäten und Colleges angesiedelt, wie am Kroc Institute for International Peace Studies an der katholischen Notre Dame University, dem Center for Justice and Peacebuilding der Eastern Mennonite University, dem Program for the Advancement of Research on Conflict and Collaboration der privaten Syracuse University oder auf Bachelor-Ebene dem Baker Institute for Peace & Conflict Studies am Juniata College in Pennsylvania. Neben theologischen und philosophischen Aspekten werden in diesen Einrichtungen u.a. auch die Möglichkeiten gewaltlosen sozialen und politischen Wandels und strategische Friedensprozessarbeit wissenschaftlich analysiert. Gleichzeitig bringen diese Einrichtungen ihre Forschungsergebnisse unter anwendungsorientierten Gesichtspunkten in eine praxisrelevante Ausbildung ein.

In Deutschland widmen sich zwei kirchennahe Einrichtungen, nämlich das Institut für Theologie und Frieden und die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, speziell der Friedensforschung. Des Weiteren gibt es neben etablierten friedensorientierten Masterstudiengängen in Darmstadt/Frankfurt, Hamburg, Magdeburg, Marburg und Tübingen zwar an diversen Forschungseinrichtungen und Universitäten die Möglichkeit zur Promotion, jedoch nicht wie in den USA strukturierte Doktoranten-Programme. Der friedenswissenschaftliche Nachwuchs in Deutschland hat es also wesentlich schwerer. Dies gilt sowohl im Hinblick auf akademische Interdisziplinarität als auch bezüglich der finanziellen Unterstützung. Ein interdisziplinäres und anwendungsorientiertes Doktorandenprogramm, wie etwa International Conflict Management an der Kennesaw State University, sucht man in Deutschland vergeblich.

Konvergenz der beiden Forschungsfelder

Mit dem Ende des Kalten Krieges und einer zunehmenden Fokussierung auf nachhaltige friedensschaffende Maßnahmen nach Bürgerkriegen und internen Gewaltkonflikten verwischte die Abgrenzung zwischen Friedens- und Sicherheitsforschung auch in den USA. Die beiden Bereiche wurden um neue, praxisorientierte Felder, wie Conflict Management und Conflict Resolution, ergänzt. Trotz der immer deutlicher werdenden Notwendigkeit, nachhaltige Lösungen durch umfassende Friedensarbeit zu finden, bleibt die Annäherung der beiden Felder jedoch ein langwieriger und schwieriger Prozess. Die Kluft zwischen Friedensforschung und Sicherheitsstudien ist weiterhin größer als in Deutschland; so gibt es z.B. zwischen den Sektionen für Peace Studies und für Security Studies der International Studies Association nur wenig Überschneidungen. Obgleich beide Bereiche ein gemeinsames intellektuelles Interesse verfolgen sollten, nämlich Konzepte zur Herbeiführung nachhaltigen Friedens zu entwickeln, besteht hier erstaunlich wenig Kommunikation, geschweige denn Zusammenarbeit. Wie sollen denn Lösungen für positiven Frieden erarbeitet werden, wenn noch nicht einmal diejenigen, die über solche Lösungen nachdenken, miteinander kommunizieren? Hier sind die Forscher in Deutschland ihren amerikanischen Kollegen um einiges voraus.

Ein Blick in das jährlich von fünf deutschen Friedensforschungsinstituten herausgegebene »Friedensgutachten« verdeutlicht das enge Verhältnis zwischen Friedensforschung und Sicherheitsstudien in Deutschland. Das »Friedensgutachten 2015« beispielsweise geht der Frage nach, wie eine verantwortungsbewusste deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die dem Frieden dient, mit Blick auf gegenwärtige Krisen und Kriege sowie regionale Herausforderungen (Beispiel Ebola in Westafrika) praktisch und normativ auszugestalten ist. Hier kommen Friedens- und Sicherheitsforscher zusammen, um gemeinsam Strategien für die deutsche Politik auf internationaler Ebene zu diskutieren. Ein solches Zusammentreffen von Experten zu Fragestellungen von militärischen Einsätzen und neuen Sicherheitsbedrohungen, wie dem »Islamischen Staat«, bis hin zu nicht-traditionellen Sicherheitsthemen, wie Geschlechtergerechtigkeit und Entwicklungszusammenarbeit, findet man vereinzelt zwar auch in den USA (bspw. Franke und Dorff 2012 und 2013), allerdings nicht in einem regelmäßigen und institutionell verankerten Rahmen. Wo also in Deutschland bewusst Raum für interdisziplinären Austausch geschaffen wird, trifft man in den USA noch häufig auf getrennte Welten.

Förderung der Friedensforschung

In einem weiteren Aspekt unterscheidet sich die deutsche Friedenswissenschaft deutlich von der US-amerikanischen: in puncto staatlicher und privater Drittmittelförderung. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung stellt zur Finanzierung von Großprojekten bis zu 175.000 Euro und für Kleinprojekte bis zu 20.000 Euro zur Verfügung – bei einer jährlichen Gesamtförderung von deutlich unter einer Million Euro. Hingegen erhielt allein das vom US-Kongress finanzierte Institute of Peace im Jahr 2014 Fördermittel in Höhe von 37 Mio. US$; im Jahr 2015 waren es 35,3 Mio. US$. Das Institut ist in einem brandneuen und architektonisch herausstechenden Nobelbau im Herzen der Hauptstadt Washington angesiedelt und beschäftigt derzeit mehr als 300 Mitarbeiter. Hinzu kommen Think-Tanks wie die Brookings Institution, das Center for Strategic and International Studies oder das Carnegie Endowment for International Peace sowie eine Vielzahl äußerst finanzkräftiger Stiftungen, wie Ford, Mellon, MacArthur oder Gates, die Forschungsprojekte an der Schnittstelle zwischen Frieden, Sicherheit und Entwicklung unterstützen. Von der US-Regierung werden sicherheitsrelevante Forschungsprojekte in deutlich größerem Ausmaß als in Deutschland direkt finanziert. So wurden beispielsweise 2008 vom amerikanischen Verteidigungsministerium im Rahmen seiner »Minerva Initiative« 50 Mio. US$ Fördergelder bereit gestellt, „um dem Verteidigungsministerium zu einem besseren Grundverständnis zu verhelfen, welche sozialen, kulturellen, verhaltensbedingten und politischen Kräfte die Regionen der Welt gestalten, die für die USA von strategischem Interesse sind“ (DoD 2015). Aus diesem Fördertopf wurden bislang mehr als 70 vorwiegend zu sicherheitspolitischen Themen arbeitende Forscher unterstützt. Von solchen Fördermitteln wie auch von der Vielfalt förderungswürdiger Themen können deutsche Friedenswissenschaftler nur träumen. Da sind bessere Kommunikation und engere Zusammenarbeit von Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschern nur ein schwacher Trost.

Gemeinsame Friedensthemen

Thematisch nehmen die Herausforderungen für die Friedensforschung an Komplexität zu. Seit Ende des Kalten Krieges wurde der Begriff »Sicherheit« neu definiert und um Schnittstellenbegriffe, wie »Sicherheitssektorreform«, »menschliche Sicherheit« oder »nachhaltige Entwicklung«, erweitert. Sicherheitsstudien beschäftigen sich heute nicht mehr nur mit militärischen Aspekten, sondern auch mit Sachverhalten, die einen positiven Frieden stärken und fordern (Croll und Franke 2007; Debiel und Franke 2008). Menschenrechte sind längst ein wichtiges Thema für Friedens- wie für Sicherheitsforscher. Umweltschutz, Klimawandel oder Ernährungssicherheit sind zu akzeptierten Friedensforschungsbereichen herangereift, ebenso die Rolle von Nichtregierungsorgansiationen und der Wiederaufbau sozialer und politischer Infrastrukturen nach Konflikten.

Dies ist eine logische Folge der Globalisierung, die zur stetigen Verminderung der Souveränität von Staaten und zum zunehmenden Einfluss neuer Akteure führt. Auch stellt die rasende »Überjüngung« der ärmeren Weltgesellschaft ein Entwicklungs- und Sicherheitsproblem mit zunehmender Tragweite dar. In vielen Post-Konfliktländern des Globalen Südens ist knapp die Hälfte der Bevölkerung unter 15 Jahre alt, und das bei noch immer erschreckend niedrigem Bildungs-, Gesundheits- und Einkommensstand (Weltbank 2015). In dieser Dynamik besteht das vielleicht größte Konfliktpotenzial der Zukunft, sowohl in politischer und sozialer Hinsicht als auch im Hinblick auf Ressourcenverteilung und -verwaltung. Gerade hier sind präventive, interdisziplinäre Lösungsansätze gefragt. Hier muss nicht nur im Sinne des negativen Friedens an der Verhinderung der Kriseneskalation gearbeitet werden, sondern Friedens- und Sicherheitsforscher in Deutschland wie in den USA sind gefordert, gemeinsam Ansätze zu erarbeiten, die den Ärmsten und Ausgegrenzten Hoffnung auf ein besseres, friedvolles Leben geben, ganz im Sinne eines von Johan Galtung propagierten positiven Friedens.

Fazit

Wie sieht es also aus mit der Friedensforschung in Deutschland im Vergleich zu den Vereinigten Staaten? Frieden, Sicherheit und Entwicklung gehören zusammen, wenn nachhaltig Konflikte gelöst und friedvolle Strukturen geschaffen werden sollen. Die Bedrohungen für den Frieden sind global, massiv und vielschichtig. Deshalb müssen die Lösungsvorschläge interdisziplinär, unprätentiös und anwendungsorientiert sein. Obwohl Kriesberg bereits 2002 eine Annäherung zwischen Sicherheits- und Friedenswissenschaften forderte, besteht in den USA noch immer eine intellektuelle Kluft zwischen den beiden Feldern, wohingegen sie in Deutschland enger miteinander verwoben sind. Vielleicht liegt dies auch an den weitaus begrenzteren Fördermöglichkeiten und infolgedessen engeren Zusammenarbeit in Deutschland. Allerdings ist die Interdisziplinarität in den USA deutlich ausgeprägter.

Genau in diesem Bereich sollte die deutsche Friedensforschung ihr Potential abrufen und zielgerichtet die nächste Generation von Friedenswissenschaftlern interdisziplinär, praxisbezogen und orientiert am Konzept des positiven Friedens ausbilden. Obgleich sie finanziell keineswegs mit der in den USA Schritt halten kann, besteht ihr »Wettbewerbsvorteil« darin, dass sie Friedens- und Sicherheitsforschung bereits sehr erfolgreich integriert und daher geradezu prädestiniert dazu sein könnte, eine Modellfunktion zur Erarbeitung anwendungsorientierter Lösungsansätze zu übernehmen. Allerdings bedarf es hierzu eines erheblich stärkeren Engagements von Sponsorenseite. Gerade für Grundlagenforschung wird in Deutschland nur relativ selten Geld bereitgestellt, da die Entscheidungsträger hauptsächlich an konkret umsetzbaren Handlungsempfehlungen interessiert sind. Die intensive Forschung, die dafür erforderlich ist, wird allerdings nur in den wenigsten Fällen finanziell gefördert. Dies führt zum einen zu Produkten, denen zu oft der nötige wissenschaftliche Unterbau fehlt, zum anderen zu einer »Inselforschung«, die die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse auf andere Sachverhalte schwierig macht.

Weiterhin entsteht durch die recht geringe Anzahl von Instituten, die sich der Schnittstelle zwischen Friedens-, Sicherheits- und Entwicklungsforschung verschrieben haben, ein elitärer Kreis, der wiederholt und fast automatisch von einem ebenfalls überschaubaren Kreis von Drittmittelgebern gefördert wird. Hier könnte Deutschland von den Vereinigten Staaten lernen und (hoffentlich steigende) Fördermittel diversifizierter verteilen und zugleich neue und innovative Initiativen und Forschungs- sowie Studienprogramme initiieren. Heute, so sollte dieser Beitrag zeigen, ist die deutsche Friedensforschung in einigen Bereichen durchaus wettbewerbsfähig, hinkt in anderen aber noch immer der US-amerikanischen hinterher. Allerdings fällt das Fazit des Vergleichs längst nicht mehr so negativ aus wie 1972 im SPIEGEL beschrieben.

Literatur

H. Peter Croll und Volker Franke. (2007): Globale menschliche Sicherheit – Schnittstellen zwischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. eins – Entwicklungspolitik Information Nord-Süd, Heft 15/16 2007, S.33-37.

Tobias Debiel und Volker Franke (2008): Auf tönernen Füßen? Zur normativen Begründbarkeit menschlicher Sicherheit. In: Cornelia Ulbert und Sascha Werthes (Hrsg.): Menschliche Sicherheit – Globale Herausforderungen und regionale Perspektiven. Baden-Baden: Nomos, S.66-77.

Department of Defence (2015): The Minerva Initiative – Program History & Overview; minerva.dtic.mil.

Volker Franke und Robert H. Dorff (2012): Conflict Management and »Whole of Government« – Useful Tools for U.S. National Security Strategy? Carlisle, PA: U.S. Army War College, Strategic Studies Institute.

Volker Franke und Robert H. Dorff (2013): Conflict Management and Peacebuilding: – Pillars of a new American Grand Strategy? Carlisle, PA: U.S. Army War College, Strategic Studies Institute.

Johan Galtung (1971): A Structural Theory of Imperialism. Journal of Peace Research, Jg. 8, Nr. 2, S.81-117.

Louis Kriesberg (2002): Convergence Between International Security Studies and Peace Studies. In: Michael Brecher und Frank P. Harvey (eds.): Conflict, Security, Foreign Policy, and International Political Economy – Past Paths and Future Directions in International Studies. Ann Arbor: University of Michigan Press, S.584-597.

DER SPIEGEL: Kultur ist gewaltsam. In: Der Spiegel 52/1972, S.97-98.

Weltbank (2015): Populations between 0-14 (% of total); data.worldbank.org.

Dr. Volker Franke ist Professor für Konfliktmanagement an der Kennesaw State University in der Nähe von Atlanta/Georgia, USA. Lina Tuschling ist Doktorandin in International Conflict Management an der Kennesaw State University.

Außenpolitik deutscher Kanzler seit der Einheit

Außenpolitik deutscher Kanzler seit der Einheit

von Stephan Klecha

Das starke Engagement des Bundeskanzlers in der Außenpolitik ist eines der prägenden Merkmale der deutschen Kanzlerdemokratie (Niclauß 2004, S.67ff). Kanzlerdemokratie ist analytisch eng mit dem Amtsverständnis Konrad Adenauers verbunden. Auch wenn sich die Kanzlerdemokratie seither transformiert haben mag, so fällt das besondere außenpolitische Engagement des Kanzlers doch weiterhin auf. Es ist eng mit den zentralen Weichenstellungen deutscher Politik seit der Gründung der Bundesrepublik 1949 verbunden. Die Westbindung nebst NATO-Mitgliedschaft wäre jedenfalls ohne Konrad Adenauer wohl genauso undenkbar gewesen wie die Ostpolitik ohne Willy Brandt wohl kaum zum Signum der sozialliberalen Ära geworden wäre.

Obwohl das Außenministerium seit 1955 von einem eigenen Minister geführt wird und trotz der Tatsache, dass seit 1966 der kleinere Koalitionspartner dieses Amt stets für sich reklamierte und es oftmals bewusst mit der Vizekanzlerschaft verband, besitzt der Bundeskanzler in der Außenpolitik einen beträchtlichen Handlungsspielraum. Seine Richtlinienkompetenz wird im deutschen Verbundföderalismus und im Koalitionsalltag zwar verschiedentlich gebrochen oder begrenzt (Klecha 2012, S.84ff; Klecha 2010, S.42f), auch setzt das erreichte Maß an internationaler Koordination Grenzen; dennoch stellt die Außenpolitik ein genuines Handlungsfeld für jeden Bundeskanzler dar, in dem er erhebliche Spielräume besitzt und in denen er nur begrenzt an die Prärogative der Legislative gebunden ist.

Das Ringen um gesamtdeutsche Souveränität

Was die Bundeskanzler in der Außenpolitik bis 1990 umtrieb, war gleichwohl in zwei zentrale Axiome deutscher Politik insgesamt eingebunden. Die Bundesrepublik war zum einen bis zur Deutschen Einheit nur teilsouverän. Alle Fragen, die Deutschland in Gänze betrafen, standen seinerzeit unter alliiertem Vorbehalt. Mithin war deutsche Außenpolitik immer darauf gerichtet, die Spielräume deutscher Handlungsfähigkeiten zu erweitern. In Anbetracht des Anteils, den Deutschland an der Entfesselung der beiden Weltkriege hatte, schien es zielführend, deutsche Außenpolitik berechenbar werden zu lassen. Die enge Einbindung in den Westen ist Folge dieser Überlegungen und führte am Ende dazu, den „langen Weg nach Westen“ (Winkler 2005) zu beschreiten. Die damit verbundenen Entscheidungen stellten ein Novum in der deutschen Politik dar: Sie brachten es mit sich, dass die Bundesrepublik bewusst ihre Souveränitätsrechte limitierte, um sich überhaupt erst politische Handlungsoptionen zu eröffnen.

Zum anderen vollzog sich deutsche Politik unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Die Bundesrepublik befand sich an der Nahtstelle zwischen Ost und West und sah sich latent durch den Ostblock bedroht. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der Zuordnung des Ostteils des Landes zum sowjetischen Einflussbereich war sie aber auch darauf angewiesen, an der Verständigung mit dem Osten mitzuwirken. Das Ziel der Deutschen Einheit war letztlich nur bei Überwindung des Kalten Krieges zu erreichen und bestimmte entsprechend die deutsche Außenpolitik (siehe bspw. Vorländer 2009, S.121; Wolfrum 2007, S.118).

Die deutsche Außenpolitik zielte also darauf ab, die Selbstbestimmung und Souveränität der Bundesrepublik zu konsolidieren beziehungsweise auszuweiten. Eine hegemoniale Politik war wegen der historischen Erfahrungen und wegen der Dominanz der Supermächte weder wünschenswert noch möglich. Außen- und verteidigungspolitisch war die Bundesrepublik damit ein Randakteur, konnte aber – vielleicht gerade deswegen – ihr ökonomisches Potenzial voll entfalten. Besonders deutlich wurde das Anfang der 1950er Jahre während des Koreakrieges, als die westdeutschen Produktionsreserven das durch die militärischen Ausgaben der USA absorbierte Potenzial teilweise ersetzten.

Die Verknüpfung aus wirtschaftlichen Interessen und einer auf Einbindung gerichteten Außenpolitik wurde besonders bei den europäischen Integrationsbemühungen deutlich, welche 1957 in die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einmündeten.

Als 1990 die alliierten Vorbehalte endeten und die Konfrontation mit dem Osten fürs Erste endete, war die Westbindung gleichsam ein Erfolgsfaktor auf dem Weg zur deutschen Einheit gewesen. Sie wurde daher vonseiten der Bundesrepublik nicht infrage gestellt. Und auch die Sorge vor einem wiedererstarkten Deutschland ließ sich bei den westlichen Alliierten durch die Fortführung der engen Allianz beseitigen. Das beförderte wiederum Vorbehalte auf sowjetischer Seite, und so wurde diese Frage zum zentralen Streitpunkt in den Verhandlungen zur deutschen Einheit (Winkler 2005, S.577ff). Bundeskanzler Helmut Kohl ließ unterdessen keinen Zweifel zu, dass es ein Zurück zur deutschen Pendelposition des 19. Jahrhunderts nicht geben würde, was im Ergebnis auch die sowjetische Seite beruhigte (Klecha 2012, S.163ff).

Die Wechselseitigkeit der Bündnisverpflichtungen

Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes veränderte sich die geopolitische Lage aber auch für die Amerikaner, die ihrerseits nun andere Anforderungen an ihre Bündnispartner stellten. Nachdem die USA bis dahin einen wesentlichen Teil des Verteidigungsaufwands für die westliche Welt getragen hatte, sollte die Konversionsdividende nicht alleine Europa oder gar allein der Bundesrepublik zugute kommen.

Würde der Weltfrieden an einer anderen Stelle der Welt bedroht werden oder würde ein anderer Bündnispartner des Westens in Schwierigkeiten geraten, so würde die Zeit kommen, an der sich die Deutschen revanchieren könnten. Genau dieser Fall trat im Golfkrieg 1991 ein. Truppen mochte Bundeskanzler Helmut Kohl seinerzeit zur Befreiung Kuwaits, die immerhin von den Verteinten Nationen mandatiert war, nicht entsenden, wohl aber wurde ein üppig dotierter Scheck ausgestellt, um die Kriegskosten der Amerikaner zu mindern (Görtemaker 1999, S.783).

Für Kohl spielten dabei drei Aspekte eine Rolle. Erstens musste die Bundesrepublik in der Tat beweisen, dass sie zum Bündnis mit den USA auch dann steht, wenn nicht sie selbst, sondern ein Dritter Profiteur der Strukturen wurde. Zweitens war die Bundeswehr für einen internationalen Konflikt zu diesem Zeitpunkt kaum gerüstet. Sie war bis dahin nur mit der Verteidigung des eigenen Landes betraut. Obendrein waren gemäß der Bedingungen des Zwei-plus-Vier-Vertrags im Zuge der Einheit die Truppenkontingente zu reduzieren, während zugleich Teile der Nationalen Volksarmee der DDR in die Bundeswehr zu integrieren waren. Drittens gab es für Kohl eine biographische Erfahrung, nämlich den Tod seines älteren Bruders im Zweiten Weltkrieg sowie die traumatischen Erfahrungen seines Vaters in den beiden Weltkriegen (Klecha 2012, S.137ff). Insofern lag es im persönlichen Interesse des Kanzlers, Deutschland aus internationalen Konflikten herauszuhalten. Eine reine Stärkung der Diplomatie – an welche die Regierung Kohl zunächst glaubte, weswegen auch aus dem KSZE-Prozess heraus die OSZE gegründet wurde -, stieß Anfang der 1990er Jahre in Europa jedoch an ihre Grenzen und stellte die militärische Absenz infrage. Insbesondere auf dem Balkan wurden in den 1990er Jahren in der Auflösung Jugoslawiens mündende Kriege geführt, die sich mit den tradierten Konfliktlösungsmechanismen nicht beilegen ließen.

Gerade durch diese Konfrontation, begleitet von Vertreibungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sah sich die Bundesrepublik zum Handeln herausgefordert (Pfetsch 2003, S.395). Auch über militärische Optionen zur Beendigung des Jugoslawienkonflikts oder zur Stabilisierung nach einer Befriedung wurde debattiert. In der Bundesrepublik versuchten die Parteien mit unterschiedlichen Akzenten und Haltelinien Bedingungen zu formulieren, unter denen auch der Einsatz der Bundeswehr legitim sein sollte. International stand überdies die Frage im Raum, ob die Deutschen die mit diesen Einsätzen verbundenen Risiken zu tragen bereit wären. Eine historisch durchaus wohlbegründete Zurückhaltung Deutschlands stand dem zunächst entgegen, aber die internationale Arbeitsteilung in der NATO hatte dazu geführt, dass die Deutschen über einige benötigte Spezialqualifikationen verfügten; die Überwachung des Balkanluftraums durch AWACS-Flugzeuge war so ein Bereich. Die Debatte über diesen Einsatz veränderte die Sichtweise auf die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr.

Der Logik folgend, dass Bündnisverpflichtungen wechselseitig gelten, räumten die von Kohl geführten Bundesregierungen Zug um Zug ihre Bereitschaft ein, stärker internationale Verantwortung zu übernehmen. Am Ende dieses fast zehnjährigen Prozesses stand das Mandat zur Intervention im Kosovo, um das 1998 noch die Regierung Kohl den Bundestag ersucht hatte und das die Regierung Schröder dann 1999 exekutierte (Pfetsch 2003, S.384f).

Nutzung der Souveränität

In Kohls Fall schwang stets die Attitüde mit, die Bundesrepublik habe sich demütig um eine Rolle auf der internationalen Eben zu bemühen. Diese Position negierte die Regierung seines Amtsnachfolgers Gerhard Schröder recht entschieden. Die erste Bundesregierung, in der sowohl der Kanzler als auch der Vizekanzler vollständig im Nachkriegsdeutschland sozialisiert worden waren, interpretierte die Möglichkeiten der Souveränität gänzlich anders. Deutschland sollte nicht nur seine wirtschaftliche Rolle ausspielen, sondern auch seine Interessen in anderen Politikfeldern offensiv vertreten (Pfetsch 2003, S.381).

So war die Vertiefung der internationalen Kooperation durchaus selbstverständlicher, aber keineswegs uneigennütziger Bestandteil deutscher Europapolitik (Ostheim 2003; Gareis 2010, S.229). Schröder und Fischer warben vehement für die EU-Osterweiterung, unterstützten Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei und plädierten für eine Reform der Institutionen. Sie zielten in erster Linie darauf ab, die wirtschaftliche Dynamik zu nutzen und zu verstärken, von der Deutschland wie kaum ein zweites Land in der EU profitierte.

Die Motivation zur verstärkten Integration war stark von nationalen Interessen geprägt, selbst dort, wo auf den ersten Blick die Interessen anderer Länder im Vordergrund standen. Deswegen wurde der Start des Euros (als Buchwert 1999, als Bargeld 2002) nicht infrage gestellt, sondern auch für die Länder forciert, die größere Schwierigkeiten hatten, die 1992 vereinbarten Vorgaben des Maastricht-Vertrags zu erfüllen.1 Schließlich sank durch die Euro-Einführung das Zinsniveau in Südeuropa, was die Nachfrage ankurbeln würde, von der letztendlich auch Deutschland profitieren könnte. Damit wurde ein Teil jener Spirale in Gang gesetzt, die gegenwärtig in der Schuldenkrise kulminiert.

Während die wirtschaftlichen Zielsetzungen der EU forciert wurden, gelang es nicht, den Prozess der Europäischen Integration in anderen Punkten substanziell voranzubringen. Die soziale Union blieb im Wesentlichen bei dem stecken, was unter Kommissionspräsident Jacques Delors bis 1994 zur Flankierung des Binnenmarktprozesses auf den Weg gebracht worden war. Die Befriedung des Balkans war ohne die militärische Absicherung durch die Vereinigten Staaten nicht möglich. Die Abstimmungsprozesse innerhalb der EU wurden nicht erst nach dem Beitritt weiterer zehn Länder im Jahr 2004 zäh. Konnte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der sechs Gründungsländer noch mit Einstimmigkeit funktionieren, standen die Reformprozesse der EU in den 2000er Jahren im Spannungsfeld zwischen Demokratisierung und Etablierung von Mehrheitsregularien einerseits und der Bewahrung der staatlichen Souveränität andererseits. Diese Debatte voranzubringen, war ein zentraler Pfeiler der deutschen Europapolitik, die insbesondere Joschka Fischer als Außenminister beförderte (Ostheim 2003, S.369).

Die nordatlantischen Bündnisverpflichtungen belasteten die Arbeit der rot-grünen Regierungskoalition unter Schröder und stellten die Koalition ein ums andere Mal vor die Schwierigkeit, ihre eigene Mehrheitsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Dabei resultierte am Ende genau daraus ein Zugewinn an deutschem Selbstbewusstsein. Die Regierung Schröder demonstrierte ihre Bündnisbereitschaft 1999 mit den Kampfeinsätzen im Kosovo und dem Bekenntnis zur uneingeschränkten Solidarität mit den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001, das in den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr einmündete (Klecha 2012, S.195). Die Bundesrepublik griff nunmehr selbst aktiv mit Truppen ein, soweit sie dazu personell und logistisch in der Lage war. Doch den Zuwachs an Verantwortung deutete die Regierung im Zuge der erneuten Irakkrise in einen Zugewinn an Entscheidungsfreiheit um. Wo weder die NATO noch die Vereinten Nationen zu einer gemeinsamen Position gelangten, entschied die Bundesrepublik vor dem Hintergrund ihrer eigenen Interessen. Entsprechend verweigerte die Bundesregierung den USA die Gefolgschaft, als diese 2003 militärisch im Irak intervenierten, um Saddam Hussein zu stürzen. Man sei zu keinen Abenteuern bereit, formulierte Schröder, der in dieser Frage das Primat des Kanzlers in der Außenpolitik betonte und seine Position 2002 offensiv im Wahlkampf vertrat.

Die volle Souveränität, die Deutschland 1990 erlangt hatte, verstand die Regierung Kohl eher als Bürde, die Regierung Schröder erkannte darin zusätzliche Handlungsoptionen, die auch mit wachsenden Ansprüchen einhergingen. Der zuvor eher zaghaft vorgetragene Wunsch nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat wurde nun mit einiger Verve vorgebracht. In den internationalen Organisationen sollten deutsche Fachleute auf Spitzenpositionen gelangen. Schröders Regierung ging bei der Erreichung solcher Ziele phasenweise mit einer beträchtlichen Härte vor.

Ernüchterte Realpolitik

Während Schröder somit die Veränderungen aus dem Ende des Ost-West-Konflikts beherzt nutzte, um ausgehend von der weiterhin unbestrittenen Westbindung die erweiterten Spielräume zu nutzen, zeichnet sich Angela Merkels Außenpolitik durch ein tentatives Suchen nach Optionen aus. Zwar wird der amtierenden Kanzlerin zugeschrieben, die Dinge von ihrem Ende her zu denken (Roll 2009, S.52), doch ihr Agieren auf dem europäischen wie dem internationalen Parkett ist stark auf kurzzeitige Erfordernisse angelegt.

Dabei hatte Merkel sich in der Rolle der polyglotten – Merkel parliert im Gegensatz zu ihren beiden Vorgängern überaus passabel fremdsprachig – Aktivistin zum Wohle der Menschheit eingeführt. Sie korrigierte zunächst behutsam den von nationalen Interessen geprägten Kurs, den ihr Vorgänger eingeschlagen hatte (Gareis 2010, S.233). Klimaschutz, Frieden, Freiheit oder transatlantische Beziehungen waren die Themen, ehe 2008 das Thema Weltwirtschaft dann alles andere überlagerte und damit in verschiedener Hinsicht eine Wende der Merkelschen Außenpolitik einläutete.

Hatte Merkel bis dahin lange Linien prestigeträchtiger Themen verfolgt, war fortan die Rettung der Weltfinanzordnung das zentrale Thema ihrer Kanzlerschaft. Einen Masterplan gab und gibt es dazu nicht, mithin auch keine erkennbare Konzeption. Merkels Außenpolitik steht vielleicht auch deswegen nicht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition oder zwischen den Regierungsparteien. Eine wirkliche substanzhaltige Kontroverse, gar eine gesellschaftliche Debatte um ihren außenpolitischen Kurs hat es seit ihrem Amtsantritt nie gegeben, wiewohl Merkel die Diskussion um die Militäreinsätze zumindest mit dem »Weißbuch 2006« zu strukturieren versuchte (Gareis 2010, S.239). Darin unterscheidet sich Merkel erkennbar von ihren Vorgängern, die gerade in der Außenpolitik harte Debatten provozierten.

Ein Grund für das erstaunliche Einvernehmen liegt im wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik, der seinerseits Grundlage der Popularität Merkels ist. Die Bundesrepublik hat im Nachgang zur Krise 2008 einige Probleme der Vergangenheit, wie Haushaltsdefizite oder Arbeitslosigkeit, quasi nebenbei vermindern können, während andere Länder mit gravierenden Strukturanpassungen zu kämpfen haben beziehungsweise sich diese in der Folge des deutschen Wachstumsmodell sogar eher verschärften.

An dieser Stelle gereicht Merkel sozusagen zum Problem wie zum Nutzen, was in den 2000er Jahren an institutionellen Reformen in Europa versäumt wurde. Die Bundesrepublik befindet sich in der Rolle der wirtschaftlichen und politischen Zugmaschine Europas. Dies war nicht das originäre Ziel der Politik der drei Kanzler seit 1990, wohl aber ihr Resultat. Kein anderes großes Land in der EU weist derartige Stabilität auf und verfügt über eine derartige ökonomische Potenz. Zugleich gibt es keine Notwendigkeiten für Deutschland, dieses Vermögen in Europa zu kollektivieren. Die Bundesrepublik braucht die anderen Staaten in der EU nicht mehr, um ihre Interessen wirksam durchzusetzen, obgleich sie auf die Europäische Union in wirtschaftlicher Hinsicht ja angewiesen ist. Was bei Schröder noch ein wenig hemdsärmelig als nationales Interesse zur Leitmaxime avancierte, ist bei Merkel eher der Not der Verhältnisse geschuldet. Die EU ist nämlich augenblicklich nicht in der Lage, die verschiedenen Interessen der Einzelstaaten wirksam zu kanalisieren, indem sie diese einer gemeinsamen Leitidee unterordnet. Die Bundesrepublik ist mit der schwindenden Bereitschaft zur weiteren Integration jedenfalls dazu übergegangen, die eigenen Interessen recht prononciert zu vertreten.

Kohl und Schröder hatten ihrerseits verschiedentlich versucht, eine solche Position zu vermeiden. Merkel glaubt offenkundig aber nicht an den Erfolg eines Prozesses der weiteren Integration, nachdem die Verabschiedung einer gemeinsamen europäischen Verfassung gescheitert ist und Vertragsänderungen sich als ausgesprochen schwierig erwiesen haben. Auch die Resultate der gemeinsamen Integrationsbemühungen seit den 2000er Jahren fallen eher dürftig aus: Die Verwerfungen innerhalb der Eurozone zeugen von der missglückten Konvergenz der Volkswirtschaften. Die Krise in der Ukraine zeigt an, dass die europäische Sicherheitsarchitektur der vergangenen 25 Jahre ebenfalls brüchig ist. Der gegenwärtige Flüchtlingsstrom nach Europa schließlich belegt, wie wenig die EU als solidarische Wertegemeinschaft funktioniert. Merkel hat diesbezüglich also Grund, ernüchtert zu sein, was die Handlungsfähigkeit der EU betrifft. Sie sieht die Bundesrepublik daher weder in der Pflicht noch gegenwärtig in der Lage, die europäische Kohäsion voranzubringen, sondern geht eher in Ermangelung anderer plausibler Alternativen dazu über, den eigenen Nutzen zu maximieren.

Vom Souveränitätszuwachs zur politischen Ernüchterung

Deutschlands Bundeskanzler haben nach 1990 den Souveränitätszuwachs in unterschiedlicher Weise genutzt. Kohl musste noch die Wechselseitigkeit der Bündnisverpflichtungen betonen und die Einbindung der Bundesrepublik in die europäischen wie transatlantischen Beziehungen herausstellen. Damit schrieb er die vorherige bundesdeutsche Außenpolitik fort und wollte die Bundesrepublik in Systemen kollektiver Sicherheit und gemeinsamer wirtschaftlicher Verantwortung halten. Dass damit bestimmte Spielräume in die eine oder andere Richtung verbunden waren, wurde erst von der Regierung Schröder umfassend erkannt. Doch auch bei ihm stand die Idee einer partnerschaftlichen, kodifizierten und institutionalisierten Zusammenarbeit über den nationalen Interessen, weil dieses letztlich im nationalen Interesse lag. Das Scheitern einer umfassenden Reform der Institutionen, ja die Krise der internationalen Organisationen bei der Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen hat Merkels Regierungen unabhängig vom jeweiligen Koalitionspartner zu einer außenpolitischen Konzeption veranlasst, die nationalen Maximen folgt, da übergeordnete transnationale Zielperspektiven nicht mehr durchsetzbar erscheinen.

Die fast schon postmoderne Außenpolitik der Regierung Merkel orientiert sich somit vordergründig weiterhin an den Rahmendaten und institutionellen Bedingungen, welche aus den Entscheidungen in der deutschen Außenpolitik bis 1990 resultieren. Dahinter liegt indes ein gewachsenes Funktionsdefizit dieser Institutionen. Für die Bundeskanzlerin ergeben sich dadurch größere Spielräume, die ihre Stellung in der Außenpolitik eher stärken. Anders als in der Vergangenheit sind damit aber bislang keine wesentlichen Richtungsentscheidungen verbunden.

Anmerkung

1) Entgegen späterer Relativierungen sah das seinerzeit auch Oskar Lafontaine so; siehe dazu Oskar Lafontaine und Christa Müller 1998, S.99.

Literatur

Sven Bernhard Gareis (2010): Die Außen- und Sicherheitspolitik der Großen Koalition. In: Sebastian Bukow und Wenke Seemann (Hrsg.): Die Große Koalition. Regierung – Politik – Parteien 2005-2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.228-243.

Manfred Görtemaker (1999): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Von der Gründung bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main/Wien: Büchergilde Gutenberg.

Stephan Klecha (2010): Minderheitsregierungen in Deutschland. Hannover: Friedrich-Ebert-Stiftung – Landesbüro Niedersachsen.

Stephan Klecha (2012): Bundeskanzler in Deutschland – Grundlagen, Funktionen, Typen Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich.

Oskar Lafontaine und Christa Müller (1998): Keine Angst vor Globalisierung – Wohlstand und Arbeit für alle. Bonn.

Karl-Heinz Niclauß (2004): Kanzlerdemokratie – Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder. Paderborn: Schoeningh.

Tobias Ostheim (2003): Praxis und Rhetorik deutscher Außenpolitik. In:Christoph Egle, Tobias Ostheim und Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt – Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2003. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.351-380.

Frank R. Pfetsch (2003): Die rot-grüne Außenpolitik. In: Christoph Egle, Tobias Ostheim und Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt – Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2002. Opladen: Westdeutscher Verlag, S.381-399.

Evelyn Roll (2009): Die Kanzlerin – Angela Merkels Weg zur Macht, Berlin: Ullstein, 2. Auflage.

Hans Vorländer (2009): Die Geschichte der Bonner Republik – erfolgreich und abgeschlossen? In: Tilman Mayer und Volker Kronenberg (Hrsg.): Streitbar für die Demokratie – »Bonner Perspektiven« der Politischen Wissenschaft und Zeitgeschichte 1959-2009. Bonn: Bouvier, S.113-127.

Heinrich August Winkler (2005): Der lange Weg nach Westen II – Deutsche Geschichte 1933-1990. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Edgar Wolfrum (2007): Die geglückte Demokratie – Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Dr. Stephan Klecha ist Sozialwissenschaftler und Habilitant am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Rüstung für deutsche Weltmachtpolitik

Rüstung für deutsche Weltmachtpolitik

von Michael Gaigalat

Die Jahre zwischen 1890 und 1914 gelten als eine der massivsten Hochrüstungsphasen der deutschen Geschichte. In dieser Zeit wurden die rüstungswirtschaftlichen und waffentechnischen Voraussetzungen geschaffen, die den Ersten Weltkrieg als industrialisierten Krieg erst möglich machten. Großen Anteil an dieser Entwicklung hatte das von den Montankonzernen dominierte rheinisch-westfälische Industriegebiet, das vor dem Ersten Weltkrieg das Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie war. Auch im Ersten Weltkrieg wurde die Rhein-Ruhr-Region ihrem Ruf als Waffenschmiede des Deutschen Reiches mehr als gerecht.

In der rüstungspolitischen Planung des deutschen Reiches spielte lange Zeit eine personell gut ausgestattete Armee die wichtigste Rolle. Wie gut oder schlecht hingegen der Soldat technisch ausgerüstet war, ob er mit veralteten oder modernen Waffen in den Krieg zog, wurde in den Militärreformen bis Anfang der 1890er Jahre weitgehend ignoriert. Dies hatte unterschiedliche Gründe: Zum einen fehlten die finanziellen Mittel, um für die Armee stets die neuesten Waffen im nötigen Umfang zu beschaffen. Zum andern begriff sich das überwiegend aristokratisch geprägte Militär als »Staat im Staat«, der sich gegen die privatwirtschaftlichen Einflüsse der modernen kapitalistischen Gesellschaft abschirmen musste. Demzufolge ließ die preußische Armee bis Ende des 19. Jahrhunderts die laufend benötigten Ersatzbeschaffungen in staatlichen Heereswerkstätten produzieren, die noch überwiegend handwerklich organisiert waren.

Trotz der Bedenken gegen die meist sehr viel leistungsfähigere private Rüstungsindustrie bahnten sich in diesem Zeitraum erste Geschäftsbeziehungen zwischen der Militärverwaltung und einzelnen Firmen an. Gerade aus den von Preußen in den 1860er Jahren geführten Einigungskriegen ergab sich ein deutlich höherer Bedarf an Kriegsmaterial, als die staatlichen Rüstungsbetriebe liefern konnten. Deshalb war die preußische Armee gezwungen, Rüstungsaufträge zunehmend an Privatfirmen zu vergeben, um den außer- und überplanmäßigen Bedarf zu decken. Die kriegsbedingte Nachfrage nach Waffen und Munition stärkte langfristig das Ansehen und das Gewicht der privaten Rüstungsunternehmen, allen voran das der Firma Krupp in Essen.

Noch größer wurde die Bedeutung privater Rüstungsunternehmen für die nationale Waffenproduktion, als der preußische Kriegsminister von Verdy und Reichskanzler Caprivi mit den Militärgesetzen von 1890 und 1893 die preußisch-deutsche Armee materiell deutlich verstärkten. Das Heer wurde stark vergrößert und zugleich mit neuen Waffen ausgestattet. Dies geschah vor dem Hintergrund einer veränderten deutschen Außenpolitik nach der Entlassung Bismarcks. Die neue Reichsregierung war nicht mehr an der bisherigen Stabilisierungspolitik bismarckscher Prägung interessiert, sondern ging zu den europäischen Nachbarn auf Konfrontationskurs.

Neue Waffentechnologie, Kaiser und Krupp

Neben diesen politisch-militärischen Motiven gaben grundlegende Neuerungen in der Waffentechnologie den Ausschlag für eine rüstungspolitische Neuorientierung. Von herausragender Bedeutung war das praktisch rauchfreie Nitrocellulosepulver, welches das Schwarzpulver ablöste und die Wirkung von Geschossen enorm steigerte. 1891 brachte die Firma Krupp das Nickelstahlrohr für Geschütze auf den Markt; erst dieser neue Stahl war zäh und fest genug, den Druck des wirksameren Nitropulvers auszuhalten.

Infolge dieser Veränderungen wurden private Unternehmen allmählich stärker in das laufende Rüstungsgeschäft eingebunden und zu festen Partnern der Militärbürokratie. Bis zur Jahrhundertwende konnte die Privatindustrie ihren Anteil an der gesamten Heeresrüstung derart steigern, dass sie um 1900 erstmals mehr produzierte als die staatlichen Heereswerkstätten. Auch wenn viele Militärs noch immer die Verlagerung der Rüstungsproduktion in den privatwirtschaftlichen Sektor missbilligten, war ihnen doch bewusst, dass allein der industrielle Großbetrieb in der Lage war, die rasante waffentechnologische Entwicklung im großen Stil produktionstechnisch umzusetzen.

Von der rüstungspolitischen Wende Anfang der 1890er Jahre profitierte vor allem die Firma Krupp in Essen. Schon in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten hatte sie sich stets als verlässlicher Rüstungspartner des Deutschen Reiches erwiesen, wenn die staatlichen Heereswerkstätten mit der Waffen- und Munitionsproduktion nicht nachkamen. Trotz der schwankenden Nachfrage hatte sich bereits unter der Ägide von Alfred Krupp eine Art politisch-industrielle Symbiose zwischen der Essener Gussstahlfabrik, dem Kaiser und den Militärbehörden herausgebildet.

Die Firma Krupp genoss das besondere Wohlwollen des Kaisers, der von der Qualität des kruppschen Kanonenstahls fest überzeugt war. Gleichgültig, ob es um Geschützbestellungen, Artillerievorführungen oder finanzielle Probleme ging, Krupp konnte jederzeit auf die Fürsprache des Monarchen hoffen. In finanziellen Nöten forderten Alfred Krupp und seine Nachfolger selbstbewusst ihr Recht auf gewaltige staatliche Finanzspritzen ein. Im Gegenzug rühmte sich die Firma Krupp, stets im vaterländischen Interesse zu handeln und dem Deutschen Reich die modernsten Waffen zu liefern.

Vor allem Alfred Krupps Sohn, Friedrich Alfred Krupp, wusste gut auf der Klaviatur persönlicher Beziehungen zum Kaiser und zu hohen Militärs zu spielen. Die neue Anforderung an die Firma Krupp, künftig regelmäßig für das Um- und Aufrüstungsprogramm der preußischen Armee zu produzieren, machte Krupp für das Deutsche Reich unentbehrlich. Dies bedeutet aber nicht, dass es sich nach 1890 um eine konfliktfreie Partnerschaft zwischen Staat und Militär sowie Krupp gehandelt hätte. Streitpunkte gab es viele: Krupps Exklusivanspruch als alleiniger Geschützhersteller und die entsprechend hohen Preise für Waffen wurden immer wieder öffentlich kritisiert.

Das persönliche Verhältnis zwischen Friedrich A. Krupp und Kaiser Wilhelm II., das den Geschäftsbeziehungen zwischen dem Essener Unternehmen und dem Deutschen Reich eine besondere Qualität verlieh, war der Grund dafür, dass Krupp bis etwa zur Jahrhundertwende unliebsame Konkurrenten vom nationalen Rüstungsmarkt fernhalten konnte. Dies änderte sich mit dem Aufstieg der Firma Rheinische Metallwaaren- und Maschinenfabrik-Actiengesellschaft, kurz Rheinmetall, die 1889 von dem Ingenieur Heinrich Ehrhardt in Düsseldorf gegründet worden war und binnen weniger Jahre Krupp im Geschützbau technologisch überholte. Ihre Gründung verdankte sie einem staatlichen Geschossauftrag. Wenig später produzierte das junge Unternehmen mit großem Erfolg Stahlhüllen für das Feldschrapnell C/91, die nach dem patentierten ehrhardtschen Press- und Ziehverfahren als nahtlose Hohlkörper hergestellt wurden.

In direkte Konkurrenz zu Krupp trat Rheinmetall mit der Entwicklung des Rohrrücklaufgeschützes. Dieser damals modernste Typ eines Schnellfeuergeschützes war den kruppschen Geschützen deutlich überlegen. Mit der hydropneumatischen Brems- und Vorholvorrichtung für das Geschützrohr sprang das Geschütz nicht mehr wie früher durch den Rückstoß zurück, sondern blieb beim Abschuss ruhig stehen. Damit entfiel das ständige Neuausrichten des Geschützes, und die Feuergeschwindigkeit stieg erheblich.

Trotz dieses waffentechnischen Quantensprungs entschied sich die deutsche Militärverwaltung 1896 für die Einführung des Federsporngeschützes kruppscher Bauart: ein Geschütz, in dem das Rohr nach wie vor starr in der Lafette gelagert war, und das sich trotz eines ausklappbaren Sporns am hinteren Ende des Lafettenschwanzes bei jedem Schuss aufbäumte und aus der Richtung geriet. Aufgrund der engen Geschäftsbeziehungen mit Krupp lehnten die deutschen Militärbehörden die Beschaffung des ehrhardtschen Rohrrücklaufgeschützes zunächst noch ab. Im Ausland aber konnte Rheinmetall seine neuartigen Feldgeschütze in großer Zahl verkaufen. Unterdessen arbeitete auch die Firma Krupp an der Entwicklung von Feldkanonen mit langem Rohrrücklauf und bot ab 1902 solche Geschütze an. Das Deutsche Reich kaufte bei der nächsten großen Heeresumrüstung 1905 Geschütze mit hydraulischer Rücklaufbremse zu gleichen Teilen in Essen und Düsseldorf. Den Markt für leichte und mittlere Artilleriewaffen mussten sich die beiden Konkurrenten künftig teilen. Nur die schwere Artillerie blieb weiterhin eine Domäne der Essener Waffenschmiede.

Die meisten Waffengeschäfte wurden auch damals schon auf dem internationalen Markt getätigt. Selbst Krupp verdiente sein Geld vor allem mit Exportgeschäften. Von 1875 bi 1891 setzte Krupp nur 18 Prozent seiner Rüstungsproduktion im Inland ab, 82 Prozent waren Bestellungen ausländischer Militärverwaltungen. Nur durch diese Aufträge gelang es, die vorhandenen Produktionsanlagen voll auszulasten, da der eigene Staat häufig zu wenig Kriegsmaterial orderte. Das Deutsche Reich wiederum duldete die Ausfuhr von Waffen, um die Leistungsfähigkeit der privaten Rüstungsindustrie zu erhalten und die waffentechnische Entwicklung zu fördern.

Trotz seiner großen Bedeutung für den nationalen und internationalen Waffenmarkt war Krupp – anders als die englischen und französischen Hersteller Vickers, Armstrong und Schneider-Creusot – nie ein reiner Rüstungskonzern. Außer in Hochrüstungsjahren machte die Herstellung von Kriegsmaterial bei Krupp in aller Regel nicht mehr als 40 Prozent des Gesamtumsatzes aus.

»Krieg der Fabriken« – der industrialisierte Krieg

„Das ist das Material. […] Ja, dort hinten wird es gefügt und geschmiedet in den peinlich geregelten Arbeitsgängen einer riesenhaften Produktion, und dann rollt es auf den großen Verkehrswegen an die Front als eine Summe von Leistung, als gespeicherte Kraft, die sich vernichtend gegen den Menschen entlädt. Die Schlacht ist ein furchtbares Messen der Industrien und der Sieg der Erfolg einer Konkurrenz, die schneller und rücksichtsloser zu arbeiten versteht. Hier deckt das Zeitalter, aus dem wir stammen, seine Karten auf.“ 1

Was Ernst Jünger nach dem Ersten Weltkrieg beschrieb, war der »Krieg der Fabriken«, in dem sich Produktionsanlagen in Kampfstätten verwandelt hatten. Sowohl die Zunahme technisch hoch entwickelter Waffen als auch die großindustriellen Produktionsbedingungen hatten diese Entwicklung stark befördert. Über Sieg und Niederlage entschied zunehmend eine gut funktionierende »Kriegsmaschinerie«.

Dieses sich gegenseitig bedingende Verhältnis von technischem Fortschritt und Kriegführung hatten im August 1914 weder die deutschen Politiker und Militärs noch die Industriellen in seiner vollen Tragweite erkannt. In der Überzeugung eines schnellen deutschen Sieges wurde ein kurzer, rein militärisch geführter Krieg erwartet. Von vornherein schloss die deutsche Reichsführung die Möglichkeit eines lang anhaltenden Wirtschaftskrieges ebenso aus wie eine auf den Bedarf von Materialschlachten ausgerichtete Kriegswirtschaft. Die Mobilmachungspläne sahen lediglich vor, dass die private Rüstungsindustrie die Ausrüstung des planmäßig auszuhebenden Kriegsheeres sicherstellen sollte. Daher war nur ein auf wenige Wochen berechneter Vorrat für den Nachschub an Waffen und Munition angelegt worden. Infolgedessen griff der Staat nach Kriegsbeginn zunächst auch nur in geringem Maße in die bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse und Strukturen ein. Die Reichsregierung verzichtete auf staatsdirigistische Maßnahmen, fest davon überzeugt, die deutsche Friedenswirtschaft sei leistungsfähig genug, sich den Erfordernissen des Krieges anzupassen.

Doch bereits mit der Marneschlacht im Herbst 1914 wurde offenkundig, dass der Krieg nicht nur wenigen Wochen dauern würde. Der Einsatz der vor 1914 neu entwickelten, modernen Vernichtungswaffen ließ die Fronten schnell erstarren. Der Stellungs- und Grabenkrieg, der von nun an das Kampfgeschehen beherrschte, verlangte ständig und massenhaft nach neuen Waffen und vor allem nach neuer Munition. Binnen weniger Wochen wurden die etablierten und bedeutenden Rüstungsfirmen, allen voran Krupp und Rheinmetall, zu reinen »Weltkriegs«-Konzernen umgewandelt. In der Essener Gussstahlfabrik wurden die ohnehin schon sehr großen Werkstätten für Kriegsmaterial auf das Zweieinhalbfache ausgebaut. Krupp lieferte während des Ersten Weltkriegs etwa ein Drittel aller in Deutschland hergestellten Geschütze und zehn Prozent der Munition.

Da selbst Rüstungsfirmen wie Krupp und Rheinmetall nicht einmal unter äußerster Anspannung ihrer Produktionskapazitäten den notwendigen Nachschub an Waffen und Munition sicherstellen konnten, leisteten nach und nach die meisten schwerindustriellen Unternehmen in der Rhein-Ruhr-Region ihren Beitrag zum Krieg. So stellte einer der größten Montankonzerne jener Jahre, die Gutehoffnungshütte in Oberhausen, ihre zivile Produktion ab Ende 1914 teilweise auf die Fertigung von Kriegsmaterial um.

Dahinter steckte freilich mehr als das gerne öffentlich zur Schau gestellte Bekenntnis, ganz im Sinne des vaterländischen Interesses zu handeln. Spätestens seit der Jahrhundertwende hatten führende Ruhrindustrielle Pläne entwickelt, den europäischen Wirtschaftsraum neu zu ordnen. Nach Kriegsbeginn sahen sie sich dem Ziel ein Stück näher, ihre handfesten ökonomischen Interessen an neuen Rohstoffbasen und Absatzmärkten auch gewaltsam durchsetzen zu können. In mehreren Denkschriften formulierten vor allem die Industriellen an Rhein und Ruhr weitreichende Gebietsansprüche: ganz Belgien, im Westen das gesamte lothringische Eisenerzbecken und im Osten Polen und die baltischen Staaten. Russland sollte politisch und wirtschaftlich dauerhaft geschwächt werden. Und schließlich machten die wirtschaftlichen »Allmachtsphantasien« der Ruhrindustriellen auch nicht vor Teilen des kolonialen Afrikas halt.

Der Kriegsverlauf ließ solche imperialen Träume in weite Ferne rücken. Die großen Materialschlachten des Sommers 1916 in Verdun und an der Somme hatten in aller Schärfe gezeigt, dass dieser Krieg nur noch mit Hilfe einer nationalen, die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft erfassenden Rüstungsproduktion zu gewinnen war. Anders formuliert: Die Bedingungen des »neuen«, materialintensiven Maschinenkrieges, wie er sich seit Ende 1914 herausgebildet hatte, erforderten ein gewaltig gesteigertes Beschaffungsprogramm für Munition und Waffen und erzwangen eine bis dahin unbekannte Industrialisierung der Kriegführung.

Um die Pattsituation auf dem Schlachtfeld doch noch siegreich zu überwinden, stellte die Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff im September 1916 ein ehrgeiziges Waffen- und Munitionsprogramm auf, das so genannte Hindenburg-Programm. In enger Zusammenarbeit mit Vertretern der Eisen- und Stahlindustrie entstanden, sah das Programm vor, die Produktion von Munition und Minenwerfern in einem halben Jahr – rechtzeitig zur nächsten Frühjahrsoffensive – zu verdoppeln, diejenige von Geschützen und Maschinengewehren gar zu verdreifachen. Unter diesem Druck einer materialintensiven Kriegführung stellte die rheinisch-westfälische Eisen- und Stahlindustrie ihre Produktionsanlagen nahezu vollständig auf die Herstellung von »hartem« Kriegsmaterial um und teilte sich fortan den heimischen Rüstungsmarkt mit den bis dahin privilegierten Rüstungsfirmen. So errichtete beispielsweise die August Thyssen AG Ende 1916 eine eigene Geschossfabrik und begann neben der Kohle- und Stahlproduktion mit der Herstellung von Waffen und Munition.

Die Bereitschaft der Eisen- und Stahlunternehmen an Rhein und Ruhr, ihre Produktionsanlagen für die Herstellung von Rüstungsgütern umzustellen, hatte jedoch ihren Preis. Sie beanspruchten und erhielten schließlich auch die privatwirtschaftliche Kontrolle über die Kriegsproduktion, und dies trotz des Anspruchs der verschiedenen Kriegswirtschaftsorganisationen, von staatlicher Seite lenkend einzugreifen. Dafür sicherte die Industrie dem Generalstab zu, soviel Kriegsmaterial wie irgend möglich herzustellen und zu liefern. So löste die kriegsbedingte Aufrüstung eine Hochkonjunktur aus und sorgte bei den Unternehmen für hohe Kriegsgewinne. Diese investierten sie in die Modernisierung und den Ausbau ihrer Betriebe, um ihre wirtschaftliche Ausgangslage nach dem Krieg zu verbessern.

Anmerkungen

1) Ernst Jünger (1925/1978-1983): Feuer und Blut – Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht. Stuttgart: Cotta’sche Buchhandlung, Sämtliche Werke in 18 Bänden, ergänzt durch vier Supplement-Bände; hier Band 1, S . 449.

Literatur

Heinz-J. Bontrup und Norbert Zdrowomyslaw (1988): Die deutsche Rüstungsindustrie – Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Ein Handbuch. Heilbronn: Distel Literaturverlag.

Günter Bouwer (1985): Rüstungsproduktion und Rüstungskonversion in Deutschland, 1883–1956. In: Reiner Steinweg (Red.): Rüstung und Soziale Sicherheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Friedensanalysen Bd. 20, S.193-226.

Gerald D. Feldman (1985): Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Berlin: J.H.W. Dietz Nachf.

Michael Geyer (1984): Deutsche Rüstungspolitik 1860-1980. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Zdençk Jindra (1986): Der Rüstungskonzern Fried. Krupp AG – Die Kriegsmateriallieferungen für das deutsche Heer und die deutsche Marine. Prag: Univerzita Karlova Praha.

Stefanie van de Kerkhof (2006): Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft – Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Essen: Klartext.

Joachim Schaier und Daniel Stemmrich (Red.) (1997): Schwerindustrie. Ausstellungskatalog. Essen: Landschaftsverband Rheinland, Rheinisches Industriemuseum Oberhausen Schriften Bd. 13.

Michael Gaigalat leitet die Abteilung Sammlungsdienste im LVR-Industriemuseum des Landschaftsverbandes Rheinland in Oberhausen.